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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-03-23 19:21:03 -0700
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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 ***
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+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+
+ Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
+ herausgegeben von Moeller van den Bruck
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+ Übertragen von E. K. Rahsin
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+ Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band
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+ F. M. Dostojewski
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+ Helle Nächte
+
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+ Vier Novellen
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
+
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
+ Siebentes bis zwölftes Tausend
+
+
+ Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
+ Verlag in München
+
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+
+
+ Inhalt
+
+
+ Einleitung VII
+ Vorbemerkung XV
+ Helle Nächte 1
+ Das junge Weib 99
+ Ein schwaches Herz 243
+ Ein Roman in neun Briefen 317
+
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+
+ Dostojewski, Petersburg und die Schönheit der Stadt
+
+
+Die hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem Lichte, in der
+geisternden Unwirklichkeit des finnischen Sumpfes, dort, wo Norden und
+Osten sich treffen, hat Peter seine Stadt gegründet. Und in dem Od
+dieser Stadt hat Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger
+Menschen, die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie als Russen
+wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen sind. Es ist nicht das
+Licht des reinen Nordens, das vom Pol kommt und in der Arktis seine
+harten elektrischen Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht
+der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel stehen und unter dem
+von einem großen Magus das Buch von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist
+auch nicht das Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den
+bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm in Ehrfurcht
+bewundern lernte. Es ist vielmehr die Macht der finnischen Zauberer, die
+Kalews Söhne durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer
+weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe zwischen
+Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen wurde. Es ist das
+Stadtlicht einer Halbhelle, in der die Menschen unsicher gehen, wie
+Schatten auftauchen, wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur
+einmal Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten
+Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen
+alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte.
+
+Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit seiner Menschen.
+Die finnische Urbevölkerung scheint in grauen und unscheinbaren
+Verkümmerungen fortzuleben. Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse
+mißlang und in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein
+Bastardgeschlecht erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben in naturlosem
+Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck wird noch gesteigert durch
+den Gegensatz, daß so viel fade und verdächtige Hübschheit sich
+hineinmischt, Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß
+welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren verweichlichten
+Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz kleiner spitzer glatter Züge,
+die doppelt widerlich am Manne ist und über die auch der selbstgefällige
+Bart eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag. Wohl sieht man
+auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen Entrassung. Im Wagen oder
+Schlitten fährt eine glücklichere Gesellschaft vorüber, die in
+russischer Ungebundenheit gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die
+Menge ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den Straßen
+sieht man allenthalben diese leidenden Menschen mit dem Ausdruck von
+Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen: Menschen, denen man alle Laster
+zutraut, worunter Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen
+Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des russischen Staates im
+Volke, noch die gewöhnlichsten und von beinahe bürgerlicher
+Selbstverständlichkeit sind. Nirgendwo sonst gibt es diese mageren
+rachitischen Gestalten, diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert
+durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen Mienen von
+Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug eines schlechten und doch
+gleichgültigen Gewissens auf einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes
+und schlechtentlohntes Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen
+und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene sind da, von denen man
+nicht weiß, ob es Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder
+Zuchthäusler in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein Fluch über
+dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung auf unsicherem Grunde zu
+sein, in Entwurzelung und Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums
+und Verhängnisses, daß es in Rußland nie eine petrinische Nachfolge in
+Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer wieder warf das Land seine
+Menschen in diese Stadt, Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden,
+Popensöhne, die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten zu enden. Man
+glaubt sie noch herauszukennen, diese Generation der zuletzt
+Angekommenen. Und an einem Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen
+herrlichen Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen
+ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der Würde von Königen
+die Gesellschaft über den Newskij fahren, erkennt man plötzlich, was
+Rasse auch hier ist, großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich,
+eigentümlich, ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in Rußland.
+
+In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen und doch schon
+frühalten Stadtbevölkerung, die Peter aufeinander angewiesen hatte und
+die seitdem von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder
+großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während sie selbst
+vorwiegend durch Betrug mit sich und dem Staate auskam – in ihr
+entdeckte Dostojewski den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den
+romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling mit skeptischen
+und ironischen, aber auch mit heroischen und enthusiastischen Zügen, der
+freilich der Gesellschaft, nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit
+Gestalten der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft, der
+Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski dagegen entdeckte den
+seelischen Menschen, die Tragödie der Unscheinbarkeit, die im
+Unbemerkten, in einem Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte,
+daß er voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten war. Er tat
+es moralisch, mit einer leisen Beinote des Sozialen, in seinen
+Jugendwerken, von den „Armen Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und
+Beleidigten“, und schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische
+Zeit mit den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates
+zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung von allen
+russischen und petersburgischen Leiden erlebt hatte, in den
+Heilandgestalten seiner großen Romane. Er tat es wohl auch humoristisch,
+indem er zu der Allmenschlichkeit, mit der er diesen Leiden in Güte
+begegnete, die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit fügte, die
+versöhnend in den Menschen selbst lag, oder die er hineinlegte. Und er
+tat es schließlich lyrisch, mit einer Behutsamkeit der tiefen
+Empfindung, aber auch der schwebenden Form, indem er die beseligte und
+beseligende Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in der Armut seiner
+Geschicke und in der Häßlichkeit seiner Umgebung von innen erleuchtete.
+Die Menschen selbst wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge
+erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit
+zurück. Und ein paar Alte bekamen die würdige Schönheit von Philemon und
+Baucis. Es war nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern
+russische und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv der Gefühle
+unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug, auf die Farbe des
+Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit der Gestalt. Es war nicht
+moralische Schönheit im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend
+gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol des Sittlich-Guten,
+das man erst mit dem Verstande erfassen muß, ehe man es am Menschen
+entdecken kann. Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege,
+ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in Worten und
+Handlungen.
+
+Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg. Puschkin
+hatte ihr Pathos besungen, die Stadt des ehernen Reiters, die Nadel der
+Admiralität, den Granit der Newakais, die schreckende Nähe der
+Peterpaulsfeste, in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der kriegerischen
+Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in der Dynastie und die Taten des
+Heeres donnernd über den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön,
+solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und Dostojewski lag
+die Entwicklung von der Residenz, die auch in ihren Furchtbarkeiten und
+Geheimnissen noch vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt, in
+der die Menge die weiten Straßenzüge und hohen Mietshäuser zu füllen
+begann. Nun mußte die weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und
+vibrierende Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen, die
+Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker empfand. Er hat
+Petersburg wohl auch mit harten, mit verfluchenden Worten bedacht. Aber
+er hat die Stadt doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die
+Tatsache, daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit, wurde
+durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr Stil, den er an ihr so
+liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt, gar nicht bemerkt zu haben.
+Dostojewskis Liebe zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel.
+Die majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der Zaren in dieser
+Stadt bleiben, werden niemals erwähnt, und nichts deutet darauf hin, daß
+er überhaupt wußte, daß Petersburg die Stadt eines großartigen
+Klassizismus und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin ist.
+Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus geliebt und geliebkost.
+Er scheint mit allen vertraut und befreundet gewesen zu sein, und mit
+den unscheinbarsten am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der
+„Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen Weise
+bunter russischer Märchen, wie in einer Straße, durch die ihn sein Weg
+des öfteren führt, jedes einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes
+Schicksal erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie mit den
+Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser menschlich, gab ihnen
+eine seelische Schönheit, wie es seelische Leidenschaften waren, in
+denen er seine Menschen leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit
+doppelt, wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen Weibe“
+geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche und sinnliche
+Leidenschaft, wenn Menschen von Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen
+Meere sich in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren. Dann
+verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der Dithyrambos
+einer dunkleren Romantik klingt in die helle Lyrik dieser
+nordisch-phantastischen Überwirklichkeit. Dann wird Petersburg zu
+Rußland, und auf den Straßen, die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen
+seine Völker heran, um sich in dieser einsamen grausamen frierenden
+Schönheit von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem kalten Lichte
+aufnimmt und die doch eine so innige Schönheit ist, daß ihr Dichter die
+Häuser und die Herzen mit der gleichen Liebe umfangen kann.
+
+ M. v. d. B.
+
+
+
+
+ Vorbemerkung
+
+
+Der Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen, die
+Dostojewski nach dem großen Erfolge der „Armen Leute“ zu Ende der
+vierziger Jahre geschrieben hat und die in der literarischen Zeitschrift
+„Vaterländische Annalen“ erschienen.
+
+Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman in neun Briefen“
+hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen Nächte“ mit entstand: als das
+erste Stück Prosa mit komischem Unterton, in dem sich Dostojewski
+versuchte, und das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren
+Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“, den der folgende
+Band der Ausgabe bringt.
+
+ E. K. R.
+
+
+
+
+ Helle Nächte
+
+
+ Ein empfindsamer Roman
+ aus den Erinnerungen eines Träumers
+
+
+ „... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine
+ Weile lang Deinem Herzen nah zu sein? ...“
+
+ Iwan Turgenjeff.
+
+
+ Die erste Nacht.
+
+Es war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie wir sie vielleicht nur
+sehen, wenn wir jung sind, mein lieber Leser. Der Himmel war so tief und
+nachthell, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte,
+ob denn wirklich unter einem solchen Himmel böse und launische Menschen
+leben können? Das ist nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen
+Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein lieber Leser! Doch
+möge der Herr sie öfter in Ihrer Seele erwecken! ... Während ich noch in
+dieser Weise an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich
+unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung an diesem Tage
+erinnern. Schon vom Morgen an hatte mich eine wunderliche Stimmung
+bedrückt. Ich hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame, von
+allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen. Natürlich hat
+jetzt ein jeder das Recht, mich zu fragen: ja, wer sind denn diese
+„alle“? Lebe ich doch bereits das achte Jahr in Petersburg und habe
+trotzdem noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen
+verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte? Ich bin sowieso schon mit
+ganz Petersburg bekannt. Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle
+mich verließen, als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um in die
+Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich, allein zu bleiben,
+und drei Tage lang strich ich tief bekümmert in der Stadt umher,
+entschieden unfähig zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem Newskij,
+im Sommergarten, an den Kais war kein einziges von den Gesichtern zu
+sehen, denen ich tagtäglich zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu
+begegnen pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich nicht, aber ich
+– ich kenne sie. Ich kenne sie sogar ganz genau: ich habe ihre
+Physiognomien studiert und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle
+mich verstimmt, wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen, daß ich
+einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte: das war mit einem alten
+kleinen Herrn, dem ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zur selben
+Stunde an der Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige,
+nachdenkliche Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer, ganz so als
+kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte ein wenig und in der rechten
+Hand hatte er einen langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch er
+hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil an mir. So bin ich
+überzeugt, daß er, wenn er mich einmal nicht zur gewohnten Stunde an der
+gewohnten Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls
+entschieden verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn auch nicht viel,
+daß wir uns grüßten, namentlich wenn wir beide bei guter Laune waren.
+Vor kurzem noch, als wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und
+dann einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon beinahe an
+die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum Glück noch rechtzeitig, ließen
+die Hände sinken und gingen mit sichtlich anteilnehmender
+Zuvorkommenheit aneinander vorüber.
+
+Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich so gehe, dann ist es, als
+laufe jedes, sobald es mich erblickt, ein paar Schritte aus der Front
+und sehe mich aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten Tag,
+hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich bin, Gott sei Dank, ganz
+frisch und munter, aber im Mai wird man mir noch ein Stockwerk
+aufsetzen.“ Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich werde
+morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir gab’s Feuer und ich wäre um ein
+Haar niedergebrannt – ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so weiter:
+in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich meine Lieblinge, sogar
+gute Freunde. Eines von ihnen will sich in diesem Sommer von einem
+Architekten operieren lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da
+unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund nicht etwa
+vollkommen umbringt! Gott behüte ihn davor! ... Doch niemals werde ich
+die Geschichte mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen
+vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen, so freundlich sah es
+mich immer an und so stolz war es auf seine Reize unter den plumpen
+Nachbarn, daß mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging.
+Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die Straße einbiege und nach
+meinem kleinen Liebling hinsehe – höre ich ein jammervolles Wehklagen:
+„Man tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter! Nichts hatten
+sie verschont. Weder die Pfeiler noch die Karniese! Mein kleiner Freund
+war in der Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran, vor Ärger
+selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig machte mich der Fall, und bis
+jetzt bin ich noch nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen
+entstellten armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in der Farbe des
+Reichs der Mitte angestrichen haben.
+
+Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein verehrter Leser, auf
+welche Weise ich mit ganz Petersburg bekannt bin.
+
+Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine seltsame Unruhe quälte,
+bis ich endlich ihre Ursache erriet. Auf der Straße fühlte ich mich
+nicht wohl (der eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte
+und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben sein?“) – und auch
+zu Hause fühlte ich mich so anders, daß ich mich selbst kaum
+wiedererkannte. Zwei Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was
+mir nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte. Warum fühlte ich
+mich mit einem Male so unbehaglich im Zimmer? Prüfend schaute ich mir
+meine grünen, verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der
+Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete, besah mir meine
+Einrichtung, insbesondere jeden Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob
+nicht hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur ein Stuhl nicht
+so steht, wie er gestern stand, dann bin ich nicht mehr ich selbst). Ich
+blickte nach dem Fenster – doch alles war umsonst ... mir ward deshalb
+nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken, Matrjona zu
+rufen und ihr in väterlichem Tone einen gelinden Vorwurf wegen des
+Spinngewebes und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen; aber sie
+sah mich nur verwundert an und ging fort, ohne ein Wort zu erwidern, so
+daß das Spinngewebe auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt.
+Erst heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. Also: sie
+zogen ja alle in die Sommerfrische und ließen mich im Stich! – das
+war’s: sie kniffen aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war mir
+in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck zu tun ... Es
+hatte doch wirklich alles, was in Petersburg lebte, die Stadt bereits
+verlassen, oder verließ sie noch täglich und stündlich. Wenigstens
+verwandelte sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem Äußeren,
+der sich in eine Droschke setzte, in einen ehrwürdigen Familienvater,
+der nach den alltäglichen Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den
+Rest des Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder Mensch auf
+der Straße hatte jetzt ein völlig anderes Aussehen, eines, das jedem
+etwa sagen zu wollen schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze
+Zeit hier, in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“ Oder
+öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben zuerst schlanke, weiße
+Fingerchen getrommelt, und beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen
+Mädchens hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen, – da stellte ich
+mir vor, daß diese Blumen auch „nur so“ von ihr gekauft wurden und
+durchaus nicht deshalb, um sich an diesem Blumentopf mit den paar
+Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling in der dumpfen Stube zu
+erfreuen, und daß sehr bald alle die Stadt verlassen und auch die Blumen
+mitnehmen würden. Doch damit noch nicht genug, ich machte vielmehr in
+meinem neuen Entdeckerberuf solche Fortschritte, daß ich bald schon
+allein nach dem Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen
+Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der fashionablen
+Inseln[1] oder der Villen an der Peterhofstraße zeichneten sich durch
+auserlesene Eleganz sowohl im Gang und in jeder Geste, wie in den
+Sommerkostümen und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen, in denen
+sie zur Stadt gefahren kamen. Die Einwohner von Pargolowo und dort
+weiter hinaus „imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre
+vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel durch ihre
+unverwüstlich heitere Gemütsverfassung. Traf es sich, daß ich einer
+langen Prozession von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der
+Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen
+Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen, Betten, Stühlen,
+türkischen und nichttürkischen Diwans schaukelten und auf deren Gipfel
+oft noch eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte, oder auch,
+wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche Gut mit Argusaugen
+bewachte, damit nur ja nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich
+auf der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät beladene Boote
+nach den Inseln oder stromaufwärts nach der Tschornaja-rjetschka ziehen,
+– die Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich in meinen
+Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt sich auf und ziehe in
+Karawanen hinaus, und als verwandle Petersburg sich in eine Wüste, so
+daß ich mich zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte,
+und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte keine Möglichkeit
+und wohl auch keinen Grund, in die Sommerfrische hinauszuziehen. Und
+doch war ich bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem Herrn,
+der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren; aber nicht einer von
+ihnen, kein einziger forderte mich dazu auf. Es war, als hätten sie mich
+plötzlich alle vergessen, als wäre ich ihnen allen im Grunde doch
+vollkommen fremd.
+
+Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner Gewohnheit gemäß
+wieder einmal vergessen hatte, wo ich eigentlich ging, bis ich mich
+schließlich an der Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich
+zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging weiter zwischen den
+besäten Feldern und Wiesen, ohne Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber,
+daß mir eine Last von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir
+vorüberfuhren, sahen mich so freundlich an, daß es fast wie ein Gruß
+war; alle schienen sie über irgend etwas froh zu sein. Und auch ich
+wurde so froh, wie ich noch nie in meinem Leben gewesen ...
+
+Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien – so mächtig wirkte die
+Natur auf mich, den halbkranken Städter, der zwischen den Häusermauern
+fast schon erstickt war.
+
+Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn
+sie im Frühling erwacht und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle
+ihre vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie sich mit jungem
+weichem Laub umhüllt und mit bunten Blumen und zarten Blüten schmückt
+... Dann erinnert sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf das
+man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer seltsam mitleidigen Liebe
+blickt oder das man zuweilen auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber
+plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft, nahezu märchenhaft
+schön wird, so schön, daß man bestürzt und berauscht vor ihr steht und
+sich verwundert fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten
+Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut in ihre bleichen
+abgezehrten Wangen getrieben und läßt nun diese zarten Züge tiefe
+Leidenschaft widerspiegeln? Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so
+plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des armen Mädchens
+gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt und zu sprühendem Lachen
+fähig wird? Und man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man
+beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick ist vergänglich und
+vielleicht morgen schon werden wir wieder dem zerstreuten, verträumten
+Blick begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse Gesicht
+wahrnehmen und dieselbe Ergebung und Schüchternheit in den Bewegungen
+und sogar so etwas wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers und
+Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es tut einem leid, daß die
+Schönheit so schnell und unwiderruflich verwelkt ist, daß sie so
+trügerisch und vergeblich vor einem geleuchtet hat – leid, weil man
+nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ...
+
+Und doch war meine Nacht noch schöner als der Tag.
+
+Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es schlug bereits zehn, als
+ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu
+dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen ist. Freilich lebe
+ich auch in einem sehr stillen entlegenen Stadtteil. Ich ging und sang,
+denn wenn ich glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich
+hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder Freunde noch gute
+Bekannte hat, noch einen Menschen, mit dem er seine frohen Augenblicke
+teilen kann. Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein
+überraschendes Abenteuer.
+
+Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in Frauenkleidern: sie
+stand und stützte die Ellbogen auf das Geländer des Kais und sah, wie es
+schien, aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug ein
+entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine schwarze Mantille.
+„Das ist ein junges Mädchen und sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich.
+Sie schien meine Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht,
+als ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem Herzen an ihr
+vorüberging. „Sonderbar!“ dachte ich, „jedenfalls muß sie ganz in
+Gedanken versunken sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb
+wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ... Ja! ich täuschte
+mich nicht: das junge Mädchen weinte – nach einer Weile klang es wieder
+wie ein Aufschluchzen, und dann wieder. Mein Gott! Das Herz krampfte
+sich mir zusammen. Wie befangen ich auch sonst Frauen gegenüber bin,
+diesmal – es waren aber auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich
+entschloß mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt
+„Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese
+Anrede in allen russischen Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise
+schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein hielt mich davon
+ab. Doch während ich noch nach einer passenden Anrede suchte, kam das
+junge Mädchen wieder zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die
+Augen nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr sogleich, was
+sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ den Kai, überschritt die
+Straße und ging auf dem anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr
+dorthin zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen Vogel. Da kam
+mir ein Zufall zu Hilfe.
+
+Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe meiner Unbekannten ein
+Herr auf – ein Herr in zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer
+Gangart, die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging
+wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das junge Mädchen
+schritt indes gesenkten Blicks weiter, ohne sich umzusehen, und so
+schnell, wie es alle jungen Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand
+sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach Hause zu
+begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch niemals eingeholt, wenn er
+nicht mit einer gewissen Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes
+verfallen wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er sich nämlich
+plötzlich auf und lief ihr möglichst leise nach. Sie ging wie der Wind,
+doch der Herr kam ihr schnell näher und holte sie ein – das Mädchen
+schrie auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock, den ich
+in meiner Rechten hielt! Im Augenblick war ich auf der anderen Seite, im
+Augenblick begriff auch der Herr, um was es sich handelte, und die
+Vernunft siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als wir fast
+schon außer Hörweite waren, protestierte er in ziemlich energischen
+Ausdrücken gegen meine Handlungsweise. Doch wir hörten ihn kaum.
+
+„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten, „dann wird er es
+nicht mehr wagen, Sie zu belästigen.“
+
+Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der Aufregung und dem Schreck
+noch zitterte, auf meinen Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich
+dich in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick auf meine
+Begleiterin: sie sah reizend aus und war brünett, wie ich es mir gleich
+gedacht hatte. An ihren dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom
+Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai geweint, das lasse ich
+dahingestellt. Aber ihre Lippen versuchten schon, zu lächeln. Auch sie
+sah mich heimlich an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den
+Blick.
+
+„Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von mir fort? Wäre ich bei
+Ihnen gewesen, so wäre nichts geschehen ...“
+
+„Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß Sie ebenso ...“
+
+„Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“
+
+„Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“
+
+„Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte ich entzückt, denn
+ich glaubte aus ihrer Bemerkung entnehmen zu dürfen, daß sie, die so
+schön war, auch klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen,
+mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr, ich bin Frauen gegenüber
+befangen, und ich leugne auch nicht, daß ich mich im Augenblick erregt
+fühle, ebenso wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie
+erschreckte ... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen Schreck: die
+ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum, mir, der ich es mir niemals
+habe träumen lassen, daß ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem
+jungen Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“
+
+„Was? Wirklich?“
+
+„Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt bebt, so kommt das nur daher,
+daß er noch nie von einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige,
+berührt worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen vollständig
+ungewohnt; das heißt, ich will damit nicht etwa sagen, daß ich früher
+einmal einen solchen Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von
+jeher allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie man mit ihnen
+spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß ich nicht, ob ich Ihnen nicht
+irgendeine Dummheit gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir,
+bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen ...“
+
+„Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn Sie schon einmal
+verlangen, daß ich aufrichtig sein soll, dann will ich Ihnen sagen, daß
+solche Befangenheit den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch
+mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß sie auch mir
+gefällt, und ich werde Sie nicht früher fortschicken, als bis ich bei
+unserem Hause angelangt bin.“
+
+„Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze Befangenheit
+verliere,“ rief ich entzückt, „und dann – lebt wohl alle meine Chancen!
+...“
+
+„Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein, das gefällt mir nun wieder
+gar nicht!“
+
+„Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft, ganz gegen meinen
+Willen! Aber wie können Sie auch verlangen, daß in einem solchen
+Augenblick nicht der Wunsch erwachen soll ...?“
+
+„Zu gefallen etwa?“
+
+„Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um Gottes willen, seien Sie
+großmütig! Bedenken Sie, wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig
+Jahre alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr gehabt. Wie
+sollte ich da plötzlich nach allen Regeln der Kunst eine Unterhaltung
+anzuknüpfen verstehen? Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn
+alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu schweigen, wenn
+das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel ... Glauben Sie mir, ich kenne
+keine einzige Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine
+Bekanntschaft. Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich irgend einmal
+irgendwo doch irgend jemand treffen und kennen lernen werde. Ach, wenn
+Sie wüßten, wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen bin ...“
+
+„Aber wie denn das, in wen denn?“
+
+„Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im Traum vor mir sehe.
+Ich ersinne in meinen Träumen gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen
+mich noch nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit zwei oder
+drei Frauen gesprochen, aber was waren denn das für Frauen? Das waren ja
+nur solche Wirtinnen, daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen
+und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals die Absicht gehabt, so
+ganz ohne weiteres irgendeine Aristokratin auf der Straße anzureden.
+Selbstverständlich, wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich
+mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und um ihr dann voll
+Leidenschaft zu sagen, daß ich so allein umkomme, und um sie zu bitten,
+daß sie mich nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe,
+auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde ihr sagen, daß
+es sogar die Pflicht jeder Frau sei, die bescheidene Bitte eines so
+unglücklichen Menschen, wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß
+schließlich alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß sie
+mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu dürfen, daß sie mir nur
+etwas Teilnahme zeigen und mich nicht gleich im ersten Augenblick
+davonjagen solle, daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß sie
+anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und sollte sie mich auch
+auslachen, gleichviel! – aber daß sie mir wenigstens etwas Hoffnung
+geben und mir zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde ich
+mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie wiedersehen! ... Aber
+Sie lachen ... Übrigens rede ich ja auch nur deshalb ...“
+
+„Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja Ihr eigener Feind sind
+... wenn Sie es versuchten, so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre
+es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein einziges
+Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder dumm ist oder in dem
+Augenblick gerade sehr geärgert über irgend etwas, würde es übers Herz
+bringen, Sie fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören – wenn Sie
+so bescheiden darum bitten ... Doch nein, was sage ich! Natürlich würde
+sie Sie für einen Verrückten halten! Im übrigen habe ich da nach meinem
+Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig, wie die Menschen
+sind.“
+
+„Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht, was Sie mir mit
+Ihrer Antwort gegeben haben!“
+
+„Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie es erkannt, daß ich ein
+Mädchen bin, mit dem man ... nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer
+Aufmerksamkeit und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine Hauswirtin,
+wie Sie sagten ... Warum entschlossen Sie sich, sich gerade mir zu
+nähern?“
+
+„Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr benahm sich so dreist und
+jetzt ist es Nacht: da werden Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war
+...“
+
+„Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite, am Kai. Da wollten Sie
+sich mir doch schon nähern?“
+
+„Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten
+soll ... Ich fürchte ... Ja sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich
+ging und sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich noch nie
+so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber vielleicht schien es mir nur
+so ... verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß
+Sie weinten, und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören ... es
+preßte mir das Herz zusammen ... Mein Gott, konnte ich Ihnen denn nicht
+helfen? Durfte ich nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde, daß ich
+brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ... Verzeihen Sie, ich sagte
+Mitleid ... Nun gleichviel, mit einem Wort – konnte es Sie denn
+beleidigen, wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand, mich Ihnen
+zu nähern? ...“
+
+„Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht weiter ...“ unterbrach
+mich das Mädchen. Sie sah verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre
+Hand zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon anfing. Aber
+es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe ... So, jetzt
+bin ich gleich zu Hause, ich muß hierher in die Querstraße, nur noch
+zwei Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“
+
+„Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen? ... Soll das denn
+schon das Ende sein?“
+
+„Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs wollten Sie nur
+zwei Worte reden, und jetzt! ... Übrigens will ich nichts verschwören
+... Vielleicht werden wir einander noch begegnen ...“
+
+„Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich schnell. „Verzeihen Sie,
+ich fordere bereits ...“
+
+„Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern Sie bereits ...“
+
+„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen Sie, wenn ich
+Ihnen wieder irgend so etwas sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht
+anders, ich muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer, ich kenne so
+wenig wirkliches Leben, und einen solchen Augenblick, wie diesen, erlebe
+ich so selten, daß es mir ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen
+nicht immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde ich jetzt die
+ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das ganze Jahr! Ich werde
+unbedingt morgen hierherkommen, gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und
+um dieselbe Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung an die
+heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir diese Stelle hier lieb. So habe
+ich noch zwei oder drei andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind.
+Ich habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als plötzlich eine
+Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht haben Sie heute dort am Kai
+gleichfalls nur deshalb geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ...
+Verzeihen Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie waren dort
+vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“
+
+„Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören Sie: ich werde
+morgen auch hierherkommen, um zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch
+nicht verwehren kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was es sich
+handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt hierherkommen. Denken Sie
+deshalb nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus
+einem ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse
+hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ... nun gut, ich will ganz
+aufrichtig sein: es tut nichts, wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es
+wieder eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin, wie heute, aber
+das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz, ich würde Sie gern wiedersehen,
+um ... um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie
+werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie deshalb nicht, daß
+ich so leicht ein Stelldichein gebe ... Ich würde es auch nicht tun,
+wenn nicht ... Nein, das mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor
+eine Bedingung ...“
+
+„Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es aus – ich bin mit allem
+einverstanden, bin zu allem bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich
+stehe für mich ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ... Sie
+kennen mich –“
+
+„Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auch für morgen
+auf,“ sagte das Mädchen lachend. „Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber
+wie gesagt, kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so gut und
+erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede ganz offen: Also: daß
+Sie sich nicht in mich verlieben ... Das darf nicht geschehen, auf
+keinen Fall. Zur Freundschaft bin ich herzlich gern bereit, hier, meine
+Hand darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich bitte Sie!“
+
+„Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre Hand.
+
+„Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch, daß Sie fähig sind,
+sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen
+so etwas sage. Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen,
+mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um Rat fragen könnte.
+Natürlich sucht man im allgemeinen seine Ratgeber nicht auf der Straße,
+aber Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären wir
+zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch kein Ungetreuer, Sie
+werden Ihr Versprechen doch halten? ...“
+
+„Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich, wie ich die
+nächsten vierundzwanzig Stunden überleben soll, das weiß ich nicht!“
+
+„Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute Nacht – und vergessen
+Sie nicht, daß ich Ihnen schon mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es
+war so hübsch, was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann
+einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft geben, und
+wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl ist! Wissen Sie, das sagten Sie
+so lieb, daß mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen ...“
+
+„Ja, aber worin denn?“
+
+„Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch mein Geheimnis bleiben.
+Um so besser für Sie: das Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein
+Roman aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen sagen,
+vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich werde mit Ihnen vorher
+noch von anderem sprechen: wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“
+
+„Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen meinetwegen alles
+von mir! Aber was ist das nur? Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder
+mit mir ... Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie nun
+wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich nicht gleich zu Anfang
+fortgeschickt haben? Es waren nur zwei Minuten: und Sie haben mich für
+immer glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht haben Sie
+mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel aufgehoben ...
+Vielleicht habe ich Augenblicke ... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen
+alles, dann werden Sie alles erfahren, alles ...“
+
+„Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“
+
+„Einverstanden.“
+
+„Dann also auf Wiedersehen!“
+
+„Auf Wiedersehen!“
+
+Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht umher: ich konnte mich
+nicht entschließen, nach Haus zurückzukehren. Ich war so glücklich ...
+ich dachte nur an dieses Wiedersehen!
+
+
+ Die zweite Nacht.
+
+„Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte sie zum Gruß und
+drückte mir lachend beide Hände.
+
+„Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen nicht, wie ich den Tag
+verbracht habe.“
+
+„Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen Sie wohl, weshalb ich
+hergekommen bin? Doch nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern!
+Nein, hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich habe mir
+das reiflich überlegt.“
+
+„Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits bin ja gern dazu bereit:
+nur ist mir sowieso schon in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als
+gestern ...“
+
+„Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich Sie, meine Hände nicht so
+zu drücken; und zweitens teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über
+Sie nachgedacht habe.“
+
+„Nun, und? Was war das Ergebnis?“
+
+„Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir von neuem anfangen
+müssen, denn zum Schluß sagte ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar
+nicht kenne und daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz
+kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich aber heraus, daß an
+allem natürlich nur mein gutes Herz schuld war, das heißt, ich habe zum
+Schluß vor mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt
+immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft geben. Und
+deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen, habe ich mir vorgenommen,
+zunächst alles über Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun
+aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen könnte, so
+müssen Sie selbst mir alles erzählen, aber auch alles und ganz
+ausführlich. Nun also: was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen
+Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“
+
+„Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte? Aber wer hat
+Ihnen denn gesagt, daß ich eine Geschichte habe? Ich habe keine
+Geschichte ...“
+
+„Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt, wenn Sie keine Geschichte
+haben?“ fragte sie lachend.
+
+„Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben gelebt, für mich
+allein, wie man bei uns zu sagen pflegt, eben ganz allein, immer allein,
+vollkommen allein – wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“
+
+„Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand gesehen haben?“
+
+„O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war ich immer allein.“
+
+„Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn mit keinem Menschen?“
+
+„Strenggenommen – mit keinem einzigen.“
+
+„Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären Sie mir das doch. Nein!
+Warten Sie, ich errate es schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch
+eine Großmutter, genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen Sie, und
+nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich fort, so daß ich fast schon
+zu sprechen verlernt habe. Als ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen
+kleinen Streich spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel
+hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich zu sich und
+steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige – und so sitzen
+wir denn seitdem tagaus tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf,
+obschon sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder ihr aus
+einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es mir selbst ganz sonderbar
+vor, daß ich nun schon zwei Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin
+...“
+
+„Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein! Aber ich, ich habe keine
+solche Großmutter.“
+
+„Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause sitzen können?“
+
+„Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“
+
+„Allerdings!“
+
+„Im Ernst?“
+
+„Natürlich!“
+
+„Gut. Ich bin also: ein – Typ.“
+
+„Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das Mädchen verwundert und
+lachte dann so herzlich, als habe sie ein ganzes Jahr lang nicht
+gelacht. „Aber ich sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu
+unterhalten! Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir uns! Hier geht
+kein Mensch vorüber, niemand kann uns hören. So, nun fangen Sie an mit
+Ihrer Geschichte! Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen nicht. Sie
+haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen. Aber zuerst sagen Sie
+mir, was ist ein Typ?“
+
+„Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist so ein komischer Kauz,“
+erklärte ich, und mußte gleichfalls lachen. „Es gibt nun einmal solche –
+wie soll ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein Träumer ist?“
+
+„Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine Träumerin! Manchmal, wenn
+man so neben Großmutter sitzt – was kommt einem da nicht alles in den
+Sinn! Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich die Träume
+bald von selbst weiter und da kommt es denn vor, daß ich in der
+Phantasie einfach einen chinesischen Prinzen heirate ... Mitunter ist es
+auch ganz gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich wenn
+man auch noch sein anderes hat, woran man denken kann ...“ schloß das
+Mädchen unvermittelt und diesmal ziemlich ernst.
+
+„Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen Prinzen geheiratet
+haben, dann werden Sie mich vollkommen verstehen! Also hören Sie ...
+Doch erlauben Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“
+
+„Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach zu fragen!“
+
+„Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich war auch so schon
+glücklich ...“
+
+„Ich heiße – Nasstenka.“
+
+„Nasstenka! Nur Nasstenka?“
+
+„Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie Unersättlicher?“
+
+„Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr viel, Nasstenka, Sie
+gutes kleines Mädchen, Sie, die für mich gleich am ersten Abend zur
+Nasstenka geworden sind!“
+
+„Das meine ich auch. Nun?“
+
+„Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu, was für eine komische
+Geschichte das ist.“
+
+Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch ernste Miene und
+begann, als wäre es eine Vorlesung:
+
+„Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht wissen, es gibt hier in
+Petersburg recht merkwürdige Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals
+_die_ Sonne, die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere,
+neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen ist, und es ist auch
+ganz so, als schiene sie auf alles andere in der Welt mit einem ganz
+anderen, einem besonderen Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist
+es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines, das gar nicht dem
+gleicht, das uns sonst umgibt, sondern eines, das es nur, wie man meinen
+sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben könnte, nicht aber
+hier bei uns in unserer ernsten, überernsten Zeit. Doch gerade dieses
+Leben ist nur eine Mischung von etwas rein Phantastischem, glühend
+Idealem, und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe Alltäglichem und
+glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen: bis zur Verzweiflung Gemeinem.“
+
+„Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung! Was werde ich da
+wohl noch zu hören bekommen?“
+
+„Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir scheint, ich werde
+niemals müde werden, Sie Nasstenka zu nennen – Sie werden hören, daß in
+diesen Winkeln seltsame Menschen leben – Wesen, die man Träumer nennt.
+Ein Träumer ist – wenn man es genauer erklären soll – kein Mensch,
+sondern, wissen Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen
+Geschlechts. Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in einem von aller
+Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle er sich sogar vor dem Tageslicht
+verbergen, und wenn er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat,
+dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine Schnecke mit ihrem
+Haus, oder er gleicht wenigstens in der Beziehung jenem merkwürdigen
+Tiere, das beides zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus des
+Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen. Was meinen Sie
+aber, weshalb liebt er so seine vier Wände, die unfehlbar hellgrün
+angestrichen, öde, trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße
+verräuchert sind? Weshalb ist dieser komische Mensch, wenn ihn jemand
+von seinen wenigen Bekannten besucht – übrigens endet es immer damit,
+daß auch diese wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann immer so
+betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein Gesicht, als habe er in seinem
+einsamen Winkel geradezu ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere
+gefälscht oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift zu
+senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in dem er mitteilt, daß der
+Verfasser gestorben sei und daß er es als Freund für seine heilige
+Pflicht halte, des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb, sagen
+Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch zwischen den beiden
+nie so recht vorwärts kommen und weshalb fällt von den Lippen des
+plötzlich hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu Scherz und
+Lachen und Gesprächen über das schöne Geschlecht oder über andere
+angenehme Themata aufgelegt ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt
+sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch – denn ein zweiter
+pflegt in diesem Fall nicht zu folgen – weshalb fühlt auch er sich
+befangen und weshalb wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein
+– das heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer
+einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene des andern, der sich
+übermenschlich, doch leider vergeblich anstrengt, das Gespräch zu
+beleben und zu zeigen, daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande
+sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so wenigstens durch
+seine Bereitwilligkeit zu allem und jedem die Enttäuschung des Gastes zu
+mildern, der nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin er
+nicht gehört! Weshalb greift schließlich der Gast nach seinem Hut und
+empfiehlt sich schnell mit der Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas
+überaus Wichtiges eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub
+dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell aus der heißen des
+anderen, der mit tiefster Reue im Herzen noch gutzumachen sucht, was
+sich nicht mehr gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende
+Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, und weshalb
+schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling aufzusuchen, obschon der
+im Grunde gar kein so übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner
+Phantasie nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck des
+Sonderlings während der Zeit seines Besuches wenigstens entfernt mit
+demjenigen eines Kätzchens zu vergleichen, das, von unartigen Kindern
+unter heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt worden und
+das endlich unter den Stuhl in einen dunkeln Winkel geflüchtet ist, um
+sich dort erst einmal das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes
+Schwänzchen mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und dann
+noch lange feindselig auf die Natur der Dinge und das Leben überhaupt
+und ebenso auch auf den Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige
+Küchenseele von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“
+
+„Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die ganze Zeit verwundert
+mit großen Augen und halboffenem Mündchen zugehört hatte, „hören Sie:
+ich begreife ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb Sie
+gerade mich so sonderbare Dinge fragen? Alles, was ich verstehe, ist
+nur, daß Sie diese Geschichte zweifellos selbst erlebt haben.“
+
+„Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene.
+
+„Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“ sagte Nasstenka, „denn
+jetzt möchte ich sehr gern wissen, wie das endet.“
+
+„Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem Winkel denn eigentlich
+tat, unser Held, oder richtiger, ich, denn der Held des Ganzen bin doch
+ich, ich selbst mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen
+wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch des Bekannten so
+aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte und wie ein ertappter Sünder
+errötete, als die Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu
+empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als Hausherr spielte?“
+
+„Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören Sie: Sie erzählen
+ja sehr schön, doch ließe sich das alles nicht irgendwie weniger „schön“
+erzählen? Denn sonst reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus
+dem Sie ablesen!“
+
+„Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger Stimme, während
+ich mir nur mit Mühe das Lachen verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß
+ich schön erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun einmal
+nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt gleiche ich dem Geiste
+des Königs Salomo, der tausend Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln
+gefangen war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden ist. Jetzt,
+liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer Trennung wiedergefunden haben
+– denn ich kenne Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich
+schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis dafür liegt, daß
+ich gerade Sie gesucht habe und daß es uns vom Schicksal vorbestimmt
+gewesen ist, gerade hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend
+Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein Herz in einen Strom von
+Worten ausgießen – oder ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie,
+mich nicht zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben
+zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“
+
+„Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen Sie! Ich werde kein
+Wort mehr sagen!“
+
+„Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka, es gibt für
+mich an jedem Tage eine Stunde, die ich ungemein liebe. Das ist die
+Stunde, in der die Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die
+Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu speisen,[2] sich
+hinzulegen und etwas auszuruhen, und in der die Menschen unterwegs Pläne
+schmieden für den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit, die
+ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt auch unser Held – Sie
+müssen mir schon erlauben, Nasstenka, von mir in der dritten Person zu
+erzählen, denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden
+klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held, der gleichfalls
+seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit den anderen Menschen eines Weges
+zu gehen. Ein seltsames Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem
+blassen, ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos sieht er auf
+die Abendröte, die am kalten Petersburger Himmel langsam erlischt. Nein,
+ich lüge, wenn ich sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht,
+sondern er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre er müde
+oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit irgendeinem fernen,
+anderen, eigenartigen Gegenstande beschäftigt, so daß er schon sehr bald
+für seine Umgebung kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch diesen
+nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er ist beinahe zufrieden,
+denn er hat bis morgen die lästige Arbeit getan, er ist froh wie ein
+Schüler, der von der Schulbank kommt und sich nun wieder seinen
+Lieblingsspielen und Streichen widmen kann. Wenn Sie ihn von der Seite
+beobachten, Nasstenka, werden Sie sogleich bemerken, daß das frohe
+Gefühl auf seine angegriffenen Nerven und auf seine krankhaft überreizte
+Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken hüllen ihn
+gleichsam ein. Sie glauben, er denke an sein Mittagessen? An den Abend,
+der ihm bevorsteht? Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge faßt? Ist
+es etwa jener Herr, der so höflich und doch so pittoresk die Dame grüßt,
+die in prächtiger Kalesche an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was
+gehen ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist jetzt reich in
+seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen Leben: ganz plötzlich ist
+er reich geworden und der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht
+vergeblich so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem erwärmten Herzen
+eine Fülle von Eindrücken wachgerufen. Jetzt bemerkt er kaum mehr den
+Weg, auf dem ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen
+konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes Netz um ihn gewebt
+und füllt es nun aus mit den bunten Mustern eines unwillkürlichen und
+wunderlichen Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen? – vielleicht
+hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht,
+mit launischer Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel
+entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn plötzlich anzureden und
+ihn zu fragen, wo er sich im Augenblick befinde, durch welche Straßen er
+gegangen – dann würde er ganz entschieden weder das eine noch das andere
+anzugeben vermögen und wahrscheinlich vor Ärger errötend irgend etwas,
+das ihm gerade einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er auch
+plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken um – nur weil eine
+alte Frau ihn mitten auf dem Trottoir anhält und ihn nach einer Straße
+fragt, die sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn
+schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß von den Vorübergehenden
+mehr als einer bei seinem Anblick lächelt und mancher ihm sogar
+nachschaut, und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht,
+plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren verwundert
+aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes Lächeln und die halben
+Gesten seiner Hände so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe
+Phantasie in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die neugierig
+Vorübergehenden und das lachende kleine Mädchen und die Bauernkerle, die
+auf ihren Booten Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen wir
+an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem Kanalkai befindet –
+schon hat sie alles mutwillig in ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die
+Fliegen, und mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung,
+er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet die Mahlzeit und kommt
+nicht früher zu sich, als bis Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge
+Wirtin, nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine Pfeife reicht:
+da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und gewahrt mit Verwunderung, daß
+er bereits gegessen hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre. Es
+dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und traurig. Ein ganzes
+Reich von Träumen ist rings um ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos,
+spurlos wie eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht einmal mehr
+zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein dunkles Empfinden, das in seiner
+Brust sich zu regen beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch,
+umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und ruft unmerklich
+wieder eine ganze Schar neuer Phantome heran. Stille herrscht in seinem
+kleinen Zimmer: die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die
+Phantasie, sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in ihr an, wie
+ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in der Kaffeemaschine der alten
+Matrjona, die nebenan in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren
+Köchinnenkaffee braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ... Da
+fällt auch schon das Buch, das mein Träumer zwecklos und unbesehen aus
+der Reihe herausgegriffen hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur
+dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder erwacht: und
+plötzlich ist eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben um ihn herum
+entstanden. Ein neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes
+Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen Leben! Nach seiner
+allerdings sehr einseitigen Auffassung leben wir anderen, Nasstenka, ein
+Leben, das langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind wir alle
+so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen uns so sehr mit unserem
+Dasein! Und es ist ja auch wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick
+alles zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich, als wäre
+alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt mein Träumer. Und es ist
+kein Wunder, daß er so denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so
+berückend, so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem Nichts vor ihm
+erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde die erste Person, versteht
+sich, er selbst ist, er, unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen
+nicht, was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe von
+Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er denn träumt? Wozu das
+Fragen? – doch einfach von allem, von allem ... vom Schicksal eines
+Dichters, der anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall
+Begeisterung erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann,
+der Bartholomäusnacht, Diana Vernon, einer heroischen Rolle bei der
+Einnahme der Stadt Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer
+Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor dem Konzil, von der
+Auferstehung der Toten in „Robert der Teufel“ – kennen Sie die Musik?
+sie duftet nach dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der Schlacht
+an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts bei der Gräfin W. D., von
+Danton, Kleopatra ei suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen
+Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes Geschöpf sitzt, das
+mit offenem Mündchen und großen Augen an einem Winterabend ihm zuhört –
+genau so, wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ... Nein,
+Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen Nichtstuer, was ist ihm
+jenes irdische Leben, das wir, Nasstenka, so gern einmal leben möchten?
+Er hält es für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient,
+und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal die Stunde schlagen
+wird, wo er für einen Tag dieses wirklichen Lebens gerne alle seine
+phantastischen Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag,
+nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er wird nicht einmal
+wählen dürfen in dieser Stunde der Trauer und Reue und des unabwendbaren
+Wehs. Doch vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen –
+er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen steht, weil er ja alles
+hat, weil er schon übersättigt und selbst der Künstler seines Lebens
+ist, das er sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann. Und
+so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische Märchenwelt! als
+wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste! Wirklich, man ist oft zu
+glauben versucht, daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des
+Gefühls, nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische Einbildung,
+sondern wahrhaftig Wirklichkeit, etwas wirklich Seiendes, ein greifbar
+Vorhandenes sei! Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält man
+in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens oft den Atem an?
+Weshalb – woher kommt es, daß, wie durch eine unerforschliche
+Zaubermacht, der Puls schneller schlägt, daß Tränen den Augen
+entströmen, daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen und
+sein ganzes Sein von überwältigender Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen
+ganze Nächte, die er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück
+schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick? Und wenn die
+Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben schimmert und die erste
+Dämmerung mit ihrem ungewissen phantastischen Licht in das trübselige
+Zimmer schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft auf das
+Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat er dann ein Gefühl, als
+vergehe er vor Entzücken mit seinem ganzen krankhaft erschütterten
+Geiste, und das mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja,
+Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder unwillkürlich, daß
+eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft unsere Seele errege!
+Unwillkürlich glaubt man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas
+Lebendiges, Greifbares sei! Und was ist das doch für ein Betrug! Da ist
+zum Beispiel die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer
+nimmermüden Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein Blick auf ihn
+genügt, um einen jeden von der Echtheit des Gefühls zu überzeugen.
+Werden Sie es da glauben, liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er
+diejenige, die er in seinen verzückten Träumen so rasend liebt, in
+Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat er sie denn nun auch
+_wirklich_ nur, _nur_ in berückenden Phantasiebildern gesehen? Und hat
+er diese Leidenschaft wirklich _nur_ – geträumt? Sind sie denn wirklich
+nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand gegangen – zu zweien, ohne
+sich um die Welt zu kümmern, das eigene Leben mit dem des anderen
+vereint? War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er Abschied
+von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken, ohne auf den Sturm zu
+achten, der unter dem rauhen Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der
+die Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War das denn wirklich
+alles nur ein Traum im Wachen gewesen – auch der verwilderte einsame
+Garten mit den grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu
+zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich sehnten und einander
+liebten, einander so liebten, ‚so bang und süß‘, wie es im alten Liede
+heißt? Und dieses alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange
+einsam und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren Mann, der, ewig
+schweigsam und verdrossen, die Liebenden wie ein Schreckgespenst
+ängstete, sie, die ohnehin schon wie scheue Kinder ihre Liebe
+voreinander verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich,
+wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie – das versteht sich von
+selbst, Nasstenka – wie böse waren die Menschen! Und, mein Gott, hat er
+sie denn später wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem fremden
+südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt in einem Palazzo – in
+einer wundervollen ewigen Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal
+wiedergesehen? Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten, den
+Myrten und Rosen umrankten, und hat sie dort nicht ihre Maske abgenommen
+und ihm zugeflüstert: ‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine
+Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben sie sich nicht
+wirklich aneinander geschmiegt und im Augenblick alles Leid vergessen
+und die Trennung und alle Qualen und das düstere Haus und den alten
+Grafen, den verwilderten Garten in der fernen Heimat und die Bank, auf
+der sie ihm den letzten leidenschaftlichen Kuß gegeben, um sich dann aus
+seinen Armen zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka, daß
+es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt und wie ein ertappter
+Schüler verwirrt errötet, als hätte man soeben einen aus dem
+Nachbargarten gestohlenen Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich
+die Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder Bursche,
+so ein guter, immer fröhlicher Junge, über die Schwelle tritt und mit
+lachendem Gruß ausruft, als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme
+soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war gestorben und sie war
+frei! Unfaßbares Glück brach für uns an. Das sagte und brachte man uns
+aus Pawlowsk!“
+
+Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu Ende war. Ich weiß
+noch, daß ich schreckliche Lust hatte, laut, schallend aufzulachen,
+gleichsam irgend etwas aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in
+der Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu regen
+begann und mir schon im Halse saß, und daß es mir im Kinn und in den
+Augenlidern zuckte ...
+
+Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß Nasstenka, die mich mit
+ihren klugen Augen groß ansah, nun in unbändig lustiges Kinderlachen
+ausbrechen würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen war
+und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir herumgetragen und deshalb
+wie aus einem Buch ablesend erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr
+und Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor einen Richter
+zu treten und über mich ein Urteil zu fällen: und da hatte ich mich nun
+wirklich einmal nicht zu bezwingen vermocht und dieses Urteil
+gesprochen, jedoch, offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich
+Verständnis finden würde. Aber zu meiner Verwunderung schwieg sie eine
+Weile, dann drückte sie mir leise die Hand und fragte mit einer seltsam
+zartfühlenden Teilnahme:
+
+„Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“
+
+„Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich, „solange ich auf der
+Welt bin, und ich glaube, so werde ich es auch beenden.“
+
+„Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“ protestierte sie,
+sichtlich beunruhigt, „und das geschieht auch nicht! Dann wäre es ja
+ebensogut möglich, daß auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter
+verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es gar nicht gut ist, so
+zu leben?“
+
+„Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief ich, ohne meine
+Gefühle noch länger zu unterdrücken.
+
+„Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß ich alle meine besten
+Jahre verloren habe! Ich weiß es, und diese Erkenntnis schmerzt mich
+mehr als je, denn Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt,
+um mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben Ihnen sitze und
+mit Ihnen rede, mutet es mich schon wunderbar an, an meine Zukunft zu
+denken, denn in dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder
+Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose Leben. Und was
+werde ich dann noch träumen können, das schöner ist als das Leben,
+nachdem ich doch in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich
+gewesen bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes Mädchen, daß Sie
+mich nicht gleich nach dem ersten Wort zurückgestoßen haben und ich
+jetzt doch schon sagen kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem
+Leben gelebt habe!“
+
+„Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen glänzten in ihren Augen.
+„Nein, so soll es nicht kommen! Wir werden nicht so auseinandergehen!
+Was sind zwei Abende!“
+
+„Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt, daß Sie mich für
+lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Wissen Sie, daß ich jetzt
+nicht mehr so Schlechtes denken werde, wie in manchen früheren Stunden?
+Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde,
+Verbrechen und Sünde in meinem Leben begangen zu haben, denn ein solches
+Leben ist Verbrechen und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie
+übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie das nicht, Nasstenka! Es
+kommen Augenblicke, in denen ich solch eine Seelenangst empfinde, solch
+einen Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen – und ich
+fange schon an, daran zu glauben –, daß ich niemals mehr fähig sein
+werde, ein wirkliches Leben zu beginnen, denn ich habe schon oft die
+Empfindung gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede
+Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, was wirkliches
+Leben ist! weil ich mich schließlich selbst verflucht habe! weil meinen
+phantastischen Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, die so
+furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie rings um einen die
+Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel sich drehen, man hört und sieht,
+wie Menschen leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im Wachen
+leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach ihrer Willkür entsteht,
+daß ihr Leben nicht wie ein Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig
+erneut und ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, während
+die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, so trostlos
+und verzagt und bis zur Gemeinheit einförmig ist, eine Sklavin des
+Schattens, der bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die
+plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das Herz zusammenpreßt,
+das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne so teuer ist! Und erst im
+Leiden, was für eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde
+wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft, diese scheinbar
+_unerschöpfliche_ Phantasie, denn man wird reifer und männlicher und
+wächst über seine früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt
+nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es dann kein anderes
+Leben gibt, muß man aus demselben Schutt die Bruchstücke zusammenlesen
+und aus ihnen sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und sehnt
+sich die Seele doch nach etwas ganz anderem! Und vergeblich wühlt der
+Träumer wie in einem Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in
+der Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen, um es
+anzublasen und um mit dem von neuem angefachten Feuer das kaltgewordene
+Herz zu erwärmen und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so
+lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung brachte, was den
+Augen Tränen entströmen ließ und eine so herrliche Täuschung war! Wissen
+Sie auch, Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin? Wissen Sie,
+daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen zu feiern gezwungen
+bin, Gedenktage dessen, was früher so schön war und dabei in
+Wirklichkeit doch nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage
+gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien – und daß ich das
+tun muß, weil selbst diesen törichten Träumen nicht mehr neue folgen,
+die sie verdrängen würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden! Von
+selbst hören sie nicht auf und so überleben sie sich nur. Wissen Sie,
+ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten Stunden jene Stellen auf, an
+denen ich einmal glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und
+dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie nach dem
+unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten oder das Vergangene mir zu
+vergegenwärtigen: und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und
+zwecklos in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was für
+Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich
+hier genau vor einem Jahr gerade in derselben Stunde auf demselben
+Trottoir gegangen bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend, wie
+jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken damals ebenso
+traurig waren, und wenn es früher auch nicht besser war, so ist es einem
+doch, als sei es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger gelebt,
+und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln gegeben habe, daß
+einen jetzt verfolgt ... daß ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die
+so peinvoll und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch in der
+Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man fragt sich: wo sind denn deine
+Träume geblieben? Und schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die
+Jahre vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du mit deinen Jahren
+angefangen? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du überhaupt
+gelebt? oder nicht? Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in
+der Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und dann kommt die
+grämliche Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter und
+bringt dir Kummer und Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt,
+verwelken und sterben werden deine Träume und wie das gelbe Laub von den
+Bäumen, so werden sie von dir abfallen ... O Nasstenka! Wie wird es dann
+so öde sein, allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas zu
+haben, worum man trauern könnte – nichts, gar nichts ... Denn alles, was
+man verloren hat, alles das war doch nichts, war eine Null, eine reine
+Null, war ja nichts als ein Träumen!“
+
+„Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht noch mehr!“ rief
+Nasstenka und wischte das dumme Tränchen fort, das ihr über die Wange
+rollte. „Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht mehr allein sein,
+denn was mit mir auch geschehen sollte, wir werden doch immer Freunde
+bleiben. Hören Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig
+gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer Unterricht erteilen
+ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe Sie sehr gut, denn alles, was
+Sie mir da erzählt haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben
+Großmutter angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut zu
+erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“ fügte sie
+etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische Rede ihr offenbar einen
+gewissen Respekt eingeflößt hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir
+alles mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch und durch.
+Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun auch meine Geschichte erzählen,
+alles, bis aufs Letzte, Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie
+sind ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie mir nun
+versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich Ihren Rat geben?“
+
+„Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar noch nie ein Ratgeber
+gewesen, und nun gar ein kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich
+sehe jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar sehr klug wäre
+und daß der eine dem anderen unzählige kluge Ratschläge erteilen könnte.
+Nun also, meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen Sie?
+Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich bin jetzt so heiter, so glücklich,
+so mutvoll, daß ich wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein
+werde, wie man zu sagen pflegt.“
+
+„Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort. „Ich brauche keinen
+klugen Rat, sondern einen von Herzen kommenden, einen aufrichtig
+brüderlichen, einen, der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon
+ein Leben lang lieb!“
+
+„Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn ich Sie auch schon
+ganze zwanzig Jahre geliebt hätte, ich könnte Sie deshalb doch nicht
+inniger lieben, als ich es jetzt tue!“
+
+„Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka.
+
+„Hier haben Sie sie!“
+
+„Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte beginnen.“
+
+
+ Nasstenkas Geschichte.
+
+„Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie bereits, das heißt, Sie
+wissen, daß ich eine alte Großmutter habe ...“
+
+„Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als diese ...“ wandte ich
+lachend ein.
+
+„Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst eine Abmachung: Sie
+dürfen mich nicht unterbrechen, sonst machen Sie mich schließlich noch
+verwirrt. Also, hören Sie jetzt artig zu.
+
+„Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich schon als ganz kleines
+Mädchen, denn meine Eltern starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter
+einmal reicher war, denn sie spricht immer von den früheren besseren
+Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch gelehrt. Später nahm
+sie einen Lehrer. Als ich fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich
+siebzehn – hörte der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich ihr
+meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach, das werde ich
+Ihnen nicht sagen; genug, daß es durchaus kein schlimmer Streich war.
+Immerhin hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens zu sich
+rief und sagte, sie könne mich, da sie blind sei, nicht beaufsichtigen,
+und damit nahm sie dann eine Stecknadel und steckte mein Kleid an das
+ihrige und erklärte mir, daß wir so unser Leben verbringen würden, wenn
+ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war mir jede Möglichkeit
+genommen, mich freizumachem: was ich auch tat, arbeiten und lesen und
+lernen – alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte ich
+es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf meinen Platz zu setzen.
+Fjokla ist unsere Magd, und die ist taub. Sie setzte sich also auf
+meinen Platz, als Großmutter in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich
+lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das ging aber
+schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor ich zurück war, und fragte
+irgend etwas, natürlich im Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist
+ja blind. Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte sie
+nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt und denkt sie, was
+sie wohl tun soll, steckt dann schnell die Stecknadel ab und kommt mir
+nachgelaufen ...“
+
+Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich auch. Doch wurde sie
+gleich wieder ernst.
+
+„Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter. Ich lache nur
+deshalb, weil es so komisch war ... Was soll man denn machen, wenn
+Großmutter wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun ja,
+mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt: ich mußte mich sofort
+wieder hinsetzen und wurde von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht
+rühren durfte ich mich!
+
+„Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen, daß wir, oder
+vielmehr, daß Großmutter ein kleines Haus besitzt. Es ist ein
+Holzhäuschen mit nur drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und
+ebenso alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer; und in dieses
+Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“
+
+„Dann hatten Sie also auch früher schon einen Mieter?“ fragte ich
+beiläufig.
+
+„Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und zwar verstand der
+besser zu schweigen, als Sie. Allerdings konnte er kaum noch die Zunge
+bewegen. Es war das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager, stumm,
+blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht länger aushielt in
+der Welt und starb. Da ward das Zimmer frei und wir mußten uns nach
+einem neuen Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und
+Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen. Der neue Mieter
+war aber ein junger Mensch und kein Petersburger. Da er von der Miete
+nichts abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er aber gegangen
+war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist der Mieter jung oder alt?‘ Lügen
+wollte ich nicht und so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht,
+Großmama, aber er ist auch kein alter Mann.‘
+
+„‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes Äußere?‘ fragte sie
+weiter.
+
+„Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘ sagte ich, ‚er hat ein
+angenehmes Äußere.‘ Großmutter aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das
+wird dann wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage dir das
+deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir nicht zu oft ansiehst. Das ist
+mir jetzt mal eine Zeit! Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein
+angenehmes Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘
+
+„Großmutter spricht nämlich immer von der alten Zeit. Jünger war sie in
+der alten Zeit und die Sonne schien wärmer in der alten Zeit und die
+Sahne wurde nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war in der
+alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg, dachte aber bei mir:
+weshalb bringt denn Großmutter mich selbst darauf, indem sie fragt, ob
+er gut aussieht und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger
+Gedanke, ich begann wieder die Maschen zu zählen und strickte weiter,
+und darüber vergaß ich dann alles.
+
+„Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter bei uns ein: er wolle
+sich erkundigen, wo die neue Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer
+versprochen habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist doch
+geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh, Nasstenka, in mein
+Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘ Ich sprang sogleich auf, das
+Blut schoß mir ins Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß
+ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel heimlich
+abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe, riß ich so, daß
+Großmutters ganzer Sessel in die Höhe ruckte. Als ich aber sah, daß der
+Mieter jetzt alles begriff, wurde ich noch viel röter und blieb wie
+gelähmt stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so schämte ich
+mich und so bitter war es, daß ich in die Erde hätte versinken mögen!
+Großmutter aber ruft mir zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber
+weinte nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich vor ihm
+schämte, und verabschiedete sich und ging schnell fort!
+
+„Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur ein Geräusch im Flur
+hörte, gleich das Herz still. ‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns
+kommt,‘ dachte ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab,
+heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war es niemals er, – er
+kam nicht. So vergingen zwei Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch
+Fjokla sagen, daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und ob da nicht
+Großmutter sich von mir vorlesen lassen wolle, um eine kleine
+Zerstreuung zu haben? Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur
+fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige Bücher
+wären, ‚denn wenn sie unmoralisch sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie
+unter keinen Umständen lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes aus
+ihnen lernen.‘
+
+„‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘ fragte ich, ‚was steht denn in
+schlechten Büchern geschrieben?‘
+
+„‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer sittsame Mädchen
+verführen, wie sie sie unter dem Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus
+dem Elternhause entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und wie
+die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen und zugrunde gehen.
+Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe viele solcher Bücher gelesen und
+alles,‘ sagte sie, ‚ist so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht
+heimlich in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie, ‚sieh zu,
+daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher sind es denn, die er
+uns geschickt hat?‘
+
+„‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘ sagte ich.
+
+„‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber nach, ob nicht
+irgendwelche Spitzbübereien darin stecken. Vielleicht hat er einen
+Liebesbrief oder ein Zettelchen hineingelegt.‘
+
+„‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin, Großmutter.‘
+
+„‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken; zuweilen
+stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘
+
+„‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem Umschlagrücken ist
+nichts.‘
+
+„‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort.
+
+„Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen, und in etwa einem
+Monat waren wir fast schon mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann
+schickte er uns wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so daß
+ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte und darüber ganz vergaß,
+wie früher darüber zu sinnen, wie ich wohl einen chinesischen Prinzen
+heiraten könnte.
+
+„So standen die Dinge, als der Zufall es einmal fügte, daß ich unserem
+Mieter auf der Treppe begegnete. Ich mußte für Großmutter etwas holen.
+Er blieb stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber da
+lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte sich nach
+Großmutters Befinden. Darauf fragte er, ob ich die Bücher schon gelesen
+hätte. Ich sagte: ‚Ja, ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am
+besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe und Puschkin
+haben mir am besten gefallen.‘ Und damit war unser Gespräch für diesmal
+beendet.
+
+„Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf der Treppe. Nur hatte
+mich an dem Tage nicht Großmutter geschickt, ich hatte vielmehr selbst
+etwas nötig. Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam unser Mieter
+nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘ sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte
+ich.
+
+„‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag bei der Großmutter zu
+sitzen?‘ fragte er.
+
+„Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb – errötete ich wieder
+und ich schämte mich und seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil
+nun schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter zu fragen
+begannen. Ich wollte fortgehen, ohne ihm zu antworten, aber ich hatte
+keine Kraft zum Gehen.
+
+„‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf. ‚Entschuldigen Sie,
+bitte, daß ich so zu Ihnen spreche, aber, ich versichere Ihnen, ich
+wünsche Ihnen vielleicht mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun
+scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen könnten?‘
+
+„Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka, meine einzige
+Freundin, wäre nach Pskow gereist.
+
+„‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater fahren?‘ fragte er mich
+darauf.
+
+„‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn Großmutter –?‘
+
+„‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht zu sagen, – kommen Sie
+heimlich ...‘
+
+„‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen. Guten Tag!‘
+
+„Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag, wir hatten gerade erst
+gespeist, kam er plötzlich zu uns. Er setzte sich, unterhielt sich mit
+Großmutter, erkundigte sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie
+Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe für heute eine Loge
+genommen, im Opernhaus; der Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine
+Bekannten, mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte, sind plötzlich
+verhindert, und da sitze ich nun mit meinem Billett.‘
+
+„‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter, ‚ist das etwa derselbe
+Barbier, den man in der alten Zeit gab?‘
+
+„‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei sah er mich an.
+Ich aber hatte schon alles begriffen und errötete und mein Herz hüpfte
+in Erwartung!
+
+„‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie sollte ich den nicht
+kennen! Ich habe doch in meiner Jugend auf der Hausbühne die Rosine
+gespielt!‘
+
+„‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper einmal wieder hören
+wollen?‘ fragte er. ‚So fände auch mein Billett noch eine Verwendung,
+sonst hätte ich es unnütz gekauft.‘
+
+„‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter, ‚weshalb sollten wir
+nicht?! Meine Nasstenka ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘
+
+„Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten uns an und dann fuhren
+wir. Großmutter ist zwar blind, aber sie wollte doch wenigstens die
+Musik hören: und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau: sie
+wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen, denn ohne seine
+Aufforderung wären wir wohl niemals in die Oper gekommen. Wie der
+Eindruck war, den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun, das
+brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können Sie sich schon ohnehin
+denken. Den ganzen Abend sah er mich mit so guten Augen an und sprach so
+freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich auf der Treppe nur
+hatte prüfen wollen, als er mich aufforderte, allein mit ihm ins Theater
+zu fahren. Da freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte!
+Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh und mein Herz schlug
+so stark, daß ich sogar ein wenig fieberte, und die ganze Nacht träumte
+mir vom Barbier von Sevilla.
+
+„Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt öfter zu uns kommen –
+aber da täuschte ich mich. Er kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa
+einmal im Monat sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern,
+mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal fuhren wir auch noch – nur wollte
+mir diese Art gar nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur
+leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt sitzen mußte:
+weiter war es nichts. Und je länger sich das so fortsetzte, um so mehr
+kam es über mich: ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber
+ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen lachte ich
+und stellte irgend etwas an, worüber Großmutter sich ärgern mußte. Dann
+wieder war ich den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu guter
+Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war zu Ende und unser Mieter
+hörte nun ganz auf, zu uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten
+– immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur so ernst und
+schweigend und ging an mir vorüber, als wolle er überhaupt nicht mit mir
+sprechen. Und wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch auf
+der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut stieg mir sofort ins
+Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte.
+
+„Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor einem Jahr, im Mai, kam
+unser Mieter nach langer Zeit wieder einmal zu uns und sagte der
+Großmutter, daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder auf ein
+Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das hörte, erbleichte ich und
+sank auf einen Stuhl – ich glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter
+merkte nichts davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging.
+
+„Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und marterte mein Gehirn und
+grämte mich, bis ich endlich doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt
+er, dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben Abend, sobald
+Großmutter eingeschlafen wäre, meinen Vorsatz auszuführen. So geschah es
+auch. Ich band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte, in ein
+Bündel, und mit dem Bündel in der Hand, mehr tot als lebendig, ging ich
+nach oben zu unserem Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde,
+um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür zu seinem Zimmer
+öffnete, da sprang er auf und sah mich an, als hielte er mich für ein
+Gespenst. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem
+Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab mir zu trinken, denn
+ich hielt mich kaum auf den Füßen. Mein Herz schlug so, daß es mir im
+Kopf weh tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber wieder zu mir
+kam, tat ich nichts weiter, als daß ich mein Bündel auf sein Bett legte,
+mich daneben setzte, das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine
+Flut von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im Augenblick alles,
+denn er stand vor mir und war bleich und sah mich so traurig an, daß es
+mir das Herz zerriß.
+
+„‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka, ich kann nicht! Ich bin
+ganz arm, ich habe vorläufig noch nichts, nicht einmal eine Stellung:
+wie sollten wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘
+
+„Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos und sagte, ich
+könne nicht länger bei Großmutter bleiben, ich würde von ihr fortlaufen
+und ich wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke: sobald
+er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach Moskau gehen, da ich ohne ihn
+nicht mehr leben könne. Scham und Liebe und Stolz – alles brach da
+zugleich aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf sank ich aufs
+Bett. Ich fürchtete mich so vor einer Zurückweisung!
+
+„Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat zu mir und ergriff meine
+Hand.
+
+„‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘ begann er, und seine
+Stimme bebte vor Tränen, ‚hören Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich
+jemals in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein Glück
+ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein könnten es. Doch hören
+Sie weiter: ich fahre jetzt nach Moskau und werde dort ein Jahr bleiben.
+Ich hoffe, mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn ich dann,
+nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich noch liebhaben, so werden wir
+glücklich sein, das schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich,
+ich besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend etwas zu
+versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr noch nicht so weit sein, so
+werden wir noch etwas länger warten müssen, einmal aber werden wir unser
+Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht einem andern den
+Vorzug geben, denn binden will ich Sie mit keinem Wort, das kann ich
+nicht und darf ich nicht.‘
+
+„So sprach er damals zu mir und am nächsten Tage fuhr er fort. Vorher
+aber sprachen wir uns noch aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu
+sagen. Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast zu Ende.
+Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist zurückgekehrt, er ist
+schon ganze drei Tage hier und ... und ...“
+
+„Und – was?“ fragte ich gespannt.
+
+„... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß Nasstenka, indem sie
+sich mit aller Gewalt zusammennahm, „kein Wort von ihm, kein Brief ...“
+
+Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und plötzlich brach sie,
+die Hände vor das Gesicht schlagend, in Tränen aus und weinte so
+verzweifelt, daß es mir das Herz zerriß.
+
+Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet.
+
+„Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme in der Stimme.
+„Nasstenka, um Gottes willen, so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen
+Sie es denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“
+
+„Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich weiß es. Wir
+trafen damals noch eine Verabredung, an jenem Abend vor seiner Abreise –
+als wir uns ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen
+soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und spazierten hier auf und
+ab. Es war zehn Uhr und wir saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht
+mehr, es war mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er sagte, er
+werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns kommen, und wenn ich mich dann
+nicht von ihm lossagte, würden wir alles der Großmutter mitteilen. Jetzt
+aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns ist er nicht
+gekommen, _nicht_ gekommen!“
+
+Und wieder brach sie in Tränen aus.
+
+„Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie helfen?“ rief ich und
+sprang in meiner Ratlosigkeit von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka,
+könnte ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“
+
+„Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend.
+
+„Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber hören Sie: schreiben
+Sie ihm einen Brief.“
+
+„Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht nicht!“ versetzte sie
+schnell, senkte jedoch das Köpfchen und sah mich nicht an.
+
+„Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich sein?“ fuhr ich fort,
+denn mein Plan begann mir zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen
+Brief! Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ... Ach,
+Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen keinen schlechten Rat
+geben. Es läßt sich das wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch
+den ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt nicht ...“
+
+„Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht! Damals habe ich mich
+schon fast – aufgedrängt ...“
+
+„Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen,
+„nein, da irren Sie sich. Und schließlich haben Sie dazu das volle
+Recht, da er Ihnen sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch, wie
+ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger Mensch zu sein,“
+fuhr ich fort und ließ mich von der Logik meiner Folgerungen und
+Schlüsse mehr und mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen
+gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden. Er hat gesagt,
+daß er nur Sie heiraten werde, sobald er erst einmal so weit sein würde;
+Ihnen dagegen hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn Sie
+wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen können ... Folglich
+dürfen Sie jetzt ruhig den ersten Schritt tun, denn er hat Ihnen in
+allem das Vorrecht überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die
+Rückgabe des bindenden Wortes handelt, oder um etwas anderes ...“
+
+„Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle schreiben?“
+
+„Was?“
+
+„Nun, diesen Brief an ihn.“
+
+„Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter Herr ...‘“
+
+„Muß man unbedingt so anfangen?“
+
+„Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Ich denke
+...“
+
+„Nein, nein, schon gut! Weiter!“
+
+„Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, daß ich ...‘ Übrigens
+nein, Entschuldigungen sind überflüssig. Hier erklärt ja schon die
+Tatsache alles. Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine
+Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich, da ich immer
+in meiner Hoffnung lebte – woher sollte ich jetzt wohl die Geduld
+nehmen, auch nur einen Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie
+schon zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht haben, muß
+ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen aufgegeben haben. In dem
+Fall soll dieser Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen
+keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn es ist doch nicht Ihre
+Schuld, wenn ich Ihr Herz nur für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht
+habe. Dann ist es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm denkender
+Mensch und Sie werden über meine ungeschickten Zeilen weder lächeln noch
+sich ärgern. Aber trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen
+an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen Menschen hat, dem
+sie sich anvertrauen und der ihr Rat erteilen könnte, und daß sie auch
+nie verstanden hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht
+böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte, auch nur für einen
+Augenblick in meiner Seele Zweifel gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie
+nicht einmal in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so
+geliebt hat und noch liebt.‘“
+
+„Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“ rief Nasstenka und ihre
+Augen glänzten vor Freude. „Oh, Sie haben mich von allen meinen
+Ungewißheiten erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke Ihnen,
+ich danke Ihnen!“
+
+„Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt hat?“ fragte ich und
+betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes Gesichtchen.
+
+„Ja, meinetwegen dafür!“
+
+„Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen Menschen nur dafür
+dankbar, daß sie mit uns leben oder überhaupt nur leben. Ich zum
+Beispiel bin Ihnen ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet
+sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie werde denken können.“
+
+„Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen ja noch gar nicht alles
+– also hören Sie: Damals verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner
+Rückkehr mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar durch meine
+Bekannten: gute, einfache Leute, die von all dem nichts wissen; falls er
+aber nicht schreiben könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles
+sagen läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn Uhr abends
+hierher kommen, wo wir uns dann treffen wollten. Daß er in Petersburg
+bereits angekommen ist, das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit
+drei Tagen hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm
+erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es mir nicht möglich,
+unbemerkt von Großmutter fortzugehen. Deshalb – oh, seien Sie so gut und
+geben Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief – sie werden
+ihn weiterbefördern. Wenn aber eine Antwort von ihm eintrifft, so
+bringen Sie sie mir um zehn Uhr abends hierher – ja?“
+
+„Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der Brief noch geschrieben
+werden! Sonst kann ich das allenfalls erst übermorgen besorgen.“
+
+„Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt zu Boden, „der Brief ... ja
+aber ...“
+
+Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das Gesichtchen, das wie
+eine Rose erglühte, von mir fort, und plötzlich fühlte ich in meiner
+Hand einen Brief – einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor
+kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk rief eine
+Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich eine reizende graziöse
+Melodie im Ohr und –
+
+„Ro–osi–ina!“ sang ich.
+
+„Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide, und ich war nahe daran, sie
+vor lauter Wonne in meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger
+errötete und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen silbern an ihren
+Wimpern glänzten.
+
+„Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“ sagte sie schnell. „Den Brief
+haben Sie, und auf dem Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn
+ab. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“
+
+Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch einmal zu und huschte
+wie ein Schatten in ihre kleine Querstraße. Ich stand noch lange auf
+demselben Fleck und sah ihr nach.
+
+„Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es mir durch den Sinn, als sie
+meinen Blicken entschwunden war.
+
+
+ Die dritte Nacht.
+
+Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so grau und trüb und lichtlos
+– ganz wie das Alter, das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so
+seltsame Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme, die mir selbst
+noch völlig unklar sind, drängen sich in meine Gedanken – und dabei habe
+ich doch weder die Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist
+auch eigentlich nicht meine Sache!
+
+Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern Abschied nahmen,
+zogen schon dunkle Wolken auf und Nebel erhob sich. Ich sagte noch:
+„Morgen werden wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete darauf nichts
+– was hätte sie auch antworten sollen? Für sie war dieser Tag hell und
+klar und kein Wölkchen würde auf ihr Glück einen Schatten werfen.
+
+„Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“ sagte sie endlich, „dann
+komme ich nicht.“
+
+Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht bemerkt haben, aber sie
+kam doch nicht.
+
+Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war unsere dritte helle Nacht
+...
+
+Indessen – wie doch Freude und Glück einen Menschen schön machen! Wie
+atmet im Herzen die Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein
+anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles froh sei! daß alles
+lache! Und wie ansteckend ist diese Freude! Gestern war in ihren Worten
+soviel Zärtlichkeit und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ... Wie
+aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und lieb! wie sie mich
+ermunterte und mein Herz erquickte! Oh, wieviel süße Schelmerei vor
+lauter Glück! Und ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß
+sie ...
+
+Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken? Wie konnte ich so blind
+sein, wo ich doch wußte, daß alles schon einem anderen gehörte und wo
+ich mir doch hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe ...
+ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als ein Ausdruck ihrer
+Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit ihm und ihr Wunsch, an
+diesem Glücke auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich
+zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich warteten, da
+ward sie doch traurig und bekümmert und verzagt. Ihre Bewegungen und
+ihre Worte waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt, nicht
+mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise verdoppelte sie dann
+ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gegen mich, und es war mir, als
+wolle sie alles, was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil es
+vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich
+wenigstens mir schenken. Und zitternd für ihr eigenes Glück, voll Angst
+und Sehnsucht begriff sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich _sie_
+liebte, und etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie. Denn
+wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir das Unglück anderer
+besser nachfühlen, und das Gefühl zerstreut sich nicht so, sondern
+sammelt sich ...
+
+Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich die Stunde des
+Wiedersehens kaum hatte erwarten können. Ich ahnte aber noch nicht, was
+ich in dieser Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich voraus,
+wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor Freude, denn sie
+erwartete die Antwort. Und die Antwort, die sollte er selbst bringen ...
+daß er auf ihren Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war sie
+fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde vor mir zur Stelle.
+Anfangs lachte sie über alles, fast über jedes Wort, das ich sprach. Ich
+wollte weitersprechen, doch plötzlich – schwieg ich.
+
+„Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie, „– und mich so freue,
+Sie zu sehen? – weshalb ich Sie heute so liebe?“
+
+„Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte.
+
+„Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt haben. Ein anderer
+zum Beispiel hätte doch an Ihrer Stelle angefangen, mich zu beunruhigen
+und zu belästigen und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie aber
+sind so nett und lieb!“
+
+Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast aufgeschrien hätte. Und
+dann lachte sie wieder.
+
+„Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“ fuhr sie nach einer Weile
+sehr ernst fort. „Ich glaube wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt
+hat. Was würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei mir wären?
+Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel Güte Sie mich lieben! Wenn
+ich verheiratet bin, werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich
+werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“
+
+Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich schmerzvolle Trauer, doch
+zugleich regte sich auch so etwas wie ein Lachen in meiner Seele.
+
+„Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen im Herzen, denn
+Sie fürchten innerlich doch, daß er nicht kommen wird.“
+
+„Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich, so würden Ihr Unglaube
+und Ihre Vorwürfe mich wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben
+Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich noch lange grübeln
+kann. Doch das werde ich nachher tun; jetzt aber will ich Ihnen
+gestehen, daß Sie die Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie
+nicht – ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als Erwartung
+und fühle und höre und nehme alles nur so von ungefähr ... Doch genug
+davon, reden wir nicht mehr von Gefühlen ...“
+
+Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit kam uns ein
+Fußgänger entgegen. Wir zuckten beide zusammen, sie hatte fast
+aufgeschrien. Ich zog meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und
+machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen. Doch wir täuschten uns:
+es war ein Fremder, der ruhig vorüberging.
+
+„Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren Arm zurück?“ fragte sie,
+indem sie wieder meinen Arm nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm
+Arm in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir einander
+lieben.“
+
+„Wie wir einander lieben!“ rief ich.
+
+– „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im stillen, „wie viel du mit
+diesem Wort gesagt hast! Bei solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz
+wohl erfrieren ... und die Seele ist dann tottraurig ... Deine Hand ist
+kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß wie Feuer. Wie blind du bist,
+Nasstenka! ... Oh! wie unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch
+zuweilen sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“
+
+Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß ich sprechen mußte,
+ob ich wollte oder nicht.
+
+„Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie, was heute den ganzen Tag
+mit mir gewesen ist?“
+
+„Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell! Warum haben Sie denn bis
+jetzt geschwiegen!“
+
+„Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt, den Brief bei
+Ihren guten Leuten abgegeben hatte, da ... da ging ich nach Hause und
+legte mich schlafen ...“
+
+„Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend.
+
+„Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend, denn die
+dummen Tränen wollten mir mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte
+erst eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen, aber es war
+mir, als hätte ich gar nicht geschlafen. Ich weiß nicht, was mit mir
+war. Und als ich herkam, da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles
+zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben, als
+müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl von nun an ewig mich
+beherrschen, als müßte ein Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als
+sei das ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte, da war
+es mir, als erinnerte ich mich eines musikalischen Motivs, das ich
+einmal vor langer Zeit gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und
+es schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus meiner Seele
+hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“
+
+„Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka, „wie kommt denn das? Ich
+begreife kein Wort.“
+
+„Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen Eindruck irgendwie
+wiedergeben ...“ begann ich mit trauriger Stimme, in der sich aber doch
+noch Hoffnung verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte.
+
+„Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“ sagte sie schnell – in
+einem Augenblick hatte sie alles erraten, die Schelmin!
+
+Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig. Sie nahm meinen
+Arm, lachte, erzählte, wollte unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge,
+und jedes verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und übermütiges
+Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu ärgern, und plötzlich begann sie
+zu kokettieren.
+
+„Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert es mich doch, daß Sie
+sich gar nicht in mich verliebt haben. Da werde einer jetzt klug aus den
+Menschen! Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch wenigstens
+das anerkennen, daß ich so harmlos und offenherzig bin. Ich sage Ihnen
+alles, alles, gleichviel was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf
+fährt.“
+
+„Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als fernher der erste
+gemessene Schlag der Turmuhr erklang.
+
+Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie zählte jeden Schlag.
+
+„Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig.
+
+Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und die Schläge hatte
+zählen lassen. Und ich verwünschte mich ob der Bosheit, die mich
+angewandelt. Es tat mir leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein
+Vergehen gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und Gründe für
+sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene Beispiele an, bewies
+und folgerte: und wirklich ließ sich niemand leichter überzeugen, als
+sie in diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen Umständen
+mit Freuden jeden Trost anhören und selbst noch für den Schatten einer
+Rechtfertigung dem anderen dankbar sein würde.
+
+„Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich immer mehr für ihn
+einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen von der Klarheit meiner
+Beweise war, „er konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre
+Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen, Nasstenka, so daß auch
+ich die Zeitschätzung ganz vergaß ... Bedenken Sie doch nur: er hat ja
+kaum erst den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß er
+verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß er schreiben wird –
+dann können Sie den Brief doch gar nicht früher bekommen, als morgen.
+Ich werde in aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen.
+Und überdies können wir ja noch tausend andere Wahrscheinlichkeiten
+annehmen – sagen wir zum Beispiel: er ist nicht zu Hause gewesen, als
+der Brief kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen.
+Es ist doch alles möglich.“
+
+„Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich habe daran gar
+nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“ bestätigte sie mit
+bereitwillig nachgiebiger Stimme, aus der aber doch, wie eine ärgerliche
+kleine Dissonanz, ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war.
+
+„Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie gehen morgen möglichst
+früh zu jenen guten Leuten, und wenn Sie dort etwas erhalten, so
+benachrichtigen Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“
+Und sie nannte mir ihre Adresse.
+
+Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir, und dabei schien sie
+doch eine gewisse Schüchternheit anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir
+auch aufmerksam zu ... als ich mich aber mit einer Frage an sie wandte,
+da schwieg sie und kehrte verwirrt das Köpfchen von mir fort. Ich beugte
+mich ein wenig vor, um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so
+war’s: sie weinte.
+
+„Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind Sie sind! Was für ein
+kleines unvernünftiges Kind! ... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen
+Sie denn?“
+
+Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen, aber ihr Gesicht
+zuckte und ihre Brust wogte immer noch.
+
+„Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie nach längerem Schweigen.
+„Sie sind so gut, daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das nicht
+herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben in den Sinn kam? Ich verglich
+Sie beide. Warum ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie Sie? Er
+ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn mehr, als ich Sie liebe.“
+
+Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es schien, auf eine
+Bemerkung von mir.
+
+„Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht nicht ganz
+verstehe, und ich kenne ihn ja auch noch gar nicht so gut. Aber wissen
+Sie, es ist mir, als hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war
+immer so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß ja, das war nur
+der äußere Schein. In seinem Herzen ist sogar noch mehr Zärtlichkeit,
+als in meinem ... Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen Sie,
+als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber doch ist es so, als
+stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch, und das ist dann doch wieder so,
+als wären wir einander nicht gleich, nicht ebenbürtig?“
+
+„Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur, daß Sie ihn mehr als
+alles andere in der Welt lieben, und sogar viel mehr als sich selbst.“
+
+„Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka naiv, „aber wissen
+Sie, was mir jetzt wieder in den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt
+nicht mehr von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe darüber
+eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie also und sagen Sie mir:
+warum sind wir nicht alle wie Brüder zueinander? Warum kommt es einem
+selbst beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas vor dem
+anderen und verschweige es ihm? Warum sagt nicht ein jeder ganz offen,
+was er gerade auf dem Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte
+nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein, als sei er viel
+kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit ist, und es ist fast,
+als fürchteten die Menschen, sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre
+Gefühle ohne weiteres voreinander äußerten ...“
+
+„Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das geschieht doch aus sehr
+verschiedenen Gründen,“ versetzte ich, während ich mich gerade in diesem
+Augenblick mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle
+verbarg.
+
+„Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung. „Sie zum
+Beispiel sind nicht so wie die anderen! Ich ... verzeihen Sie, ich weiß
+nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es
+scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade jetzt ... ja, es
+scheint mir, daß Sie mir ein Opfer bringen,“ sagte sie fast zaghaft und
+ihr Blick streifte mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so
+zu Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und habe noch wenig
+gesehen im Leben, und wirklich: ich verstehe mich oft gar nicht richtig
+auszudrücken,“ fügte sie mit einer Stimme hinzu, die von einem
+verborgenen Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln zwang,
+„aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen dankbar bin und daß ich
+dies selbst weiß und empfinde ... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich
+machen! Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer erzählten, das
+ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das hat doch nichts mit Ihnen zu
+tun! Sie werden gesund werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz
+anderer Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben. Sollten Sie
+aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen alles Glück! Derjenigen aber,
+die Sie lieben, brauche ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird
+sie ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein Weib, und
+darum können Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sage ...“
+
+Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen Händedruck. Auch ich
+war zu erregt, um noch sprechen zu können. Wir schwiegen beide.
+
+„Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie endlich und hob den
+Kopf. „Es ist zu spät ...“
+
+„Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem, überzeugtem Tone.
+
+„Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein, daß es heute noch
+zu früh war, und daß er erst morgen kommen wird. Nun, dann also auf
+Wiedersehen: morgen! Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen.
+Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt kommen, und Sie – kommen
+Sie gleichfalls unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann
+alles erzählen.“
+
+Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die Hand und sagte,
+indem sie mir mit klarem Blick in die Augen sah:
+
+„Von nun an werden wir doch immer beisammen bleiben, nicht wahr?“
+
+Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie einsam ich jetzt bin!
+
+Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt ich es in meinem
+Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete mich an und ging trotz des
+Regenwetters. Ich war dort und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand
+ich auf und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und zwei
+Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um, ohne nach ihren Fenstern
+hinaufgesehen zu haben. Ich kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich
+sie bisher noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig!
+Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann würde ich die ganze Nacht
+lang dort umhergehen ...
+
+Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie mir alles erzählen.
+
+Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren Brief nicht geantwortet
+hatte: wenigstens heute nicht. Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in
+der Ordnung. Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst kommen
+...
+
+
+ Die vierte Nacht.
+
+Mein Gott, daß es so enden würde, so!
+
+Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte sie schon von
+weitem: sie stand wie damals, als ich sie zum ersten Male sah, damals,
+am Kai, und stützte sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich
+ihr näherte.
+
+„Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine Erregung zu bezwingen.
+
+Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach mir um.
+
+„Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“
+
+Ich sah sie verständnislos an.
+
+„Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den Brief gebracht?!“ Ihre Hand
+griff nach dem Geländer.
+
+„Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam. „Ist er denn noch
+nicht hier gewesen?“
+
+Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange starr an. Ich hatte ihre
+letzte Hoffnung vernichtet.
+
+„Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender Stimme und zuckenden
+Lippen. „Gott mit ihm, wenn er mich so verläßt ...“
+
+Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu mir aufsehen, vermochte es
+aber nicht. Eine Weile stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann
+wandte sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das Geländer
+und brach in Tränen aus.
+
+„Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte ich sie zu trösten,
+doch hatte ich beim Anblick ihres Kummers nicht mehr die Kraft,
+fortzufahren – und was sollte ich ihr denn auch sagen?
+
+„Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend, „reden Sie nicht
+von ihm, sagen Sie nicht, daß er noch kommen wird, und es nicht wahr
+sei, daß er mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam, wie
+er es getan! Und warum, warum? Sollte denn wirklich etwas Schlechtes in
+meinem Brief gewesen sein, in diesem unseligen Brief? ...“
+
+Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich glaubte, mein Herz müsse
+brechen vor Mitleid.
+
+„Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann sie wieder.
+
+„Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens geantwortet hätte,
+geschrieben, daß er mich nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so
+– nicht eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen! Wie leicht
+es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses Mädchen zu
+verletzen, dessen einzige Schuld nur darin besteht, ihn zu lieben! Oh,
+was ich in diesen drei Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott!
+Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten zu ihm
+gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt habe, geweint, daß ich ihn
+um ein wenig, nur ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein,
+wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre dunklen Augen
+sprühten – „es ist ja nicht möglich! Es _kann_ doch nicht so sein! Das
+ist doch unmenschlich! Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie!
+Vielleicht hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht weiß er bis
+jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es doch nicht möglich, urteilen
+Sie doch selbst, sagen Sie mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich
+kann es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen so barbarisch roh
+behandeln, wie er mich behandelt hat! Kein einziges Wort auf meinen
+Brief! Selbst mit dem unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger
+um! Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt haben?“ wandte
+sie sich plötzlich an mich. „Wie? was meinen Sie?“
+
+„Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen zu ihm gehen, in Ihrem
+Namen.“
+
+„Und?“
+
+„Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles erzählen.“
+
+„Und dann?“
+
+„Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nasstenka,
+sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu
+achten, er soll alles erfahren, und wenn er ...“
+
+„Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort. „Lassen Sie es gut
+sein. Von mir wird er weiter kein Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn
+nicht mehr, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ... ges ...
+sen ...“
+
+Sie sprach nicht weiter.
+
+„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich hier auf die
+Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr zu und führte sie ein paar Schritte
+weiter, auf die Bank zu ...
+
+„Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal so. Diese Tränen – die
+werden schon versiegen! Was glauben Sie denn – daß ich mich umbringen
+werde, mich etwa ertränken werde? ...“
+
+Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte sprechen, aber ich konnte
+nicht.
+
+„Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine Hand. „Sagen Sie: Sie
+würden doch nicht so gehandelt haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen,
+das selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches dummes Herz
+nicht zu meistern verstand – mit einem Hohnlachen antworten? Sie würden
+sie doch sicherlich geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie
+allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und daß sie sich nicht
+in acht zu nehmen und vor der Liebe zu Ihnen zu bewahren verstand, und
+daß das Ganze nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ... O
+mein Gott! mein Gott!“
+
+„Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung noch langer
+zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern mich! Sie zerreißen mein Herz,
+Sie töten mich, Nasstenka! Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß
+endlich sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem Herzen heraus
+muß.“
+
+Während ich das sagte, erhob ich mich von der Bank. Sie nahm meine Hand
+und sah mich verwundert an.
+
+„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich.
+
+„Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich entschlossen.
+„Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist
+alles Unsinn, ist unmöglich und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals
+verwirklichen wird, aber ich kann nicht länger schweigen – bei allem,
+was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie und bitte ich Sie, mir im voraus
+zu verzeihen! ...“
+
+„Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon aufgehört, zu weinen, und
+sah mich unverwandt an. In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame
+Neugier. „Was haben Sie nur?!“
+
+„Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber ich – ich liebe Sie,
+Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie,
+ob Sie so zu mir sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch, ob
+Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen will ...“
+
+„Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei? Ich weiß es doch schon
+lange, daß Sie mich lieben, es schien mir nur immer, daß Sie mich bloß –
+so ... einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“
+
+„Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt aber, jetzt! ... mit
+mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu
+ihm gingen. Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka, denn
+er liebte damals niemand. Sie aber lieben ...“
+
+„Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie nicht. Aber, hören Sie,
+warum denn das ... oder, nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ...
+Gott! Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“
+
+Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre Wangen färbten sich
+purpurn und sie sah zu Boden.
+
+„Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich denn? Ich bin schuld,
+ich habe da irgend etwas mißbraucht ... Oder nein! nein, Nasstenka, ich
+habe keine Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn mein
+Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann Sie doch damit nicht
+kränken oder gar beleidigen! Ich war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin
+ich Ihr Freund – ich habe nichts verraten und habe keine Treulosigkeit
+begangen. Da sehen Sie, da rollen mir die Tränen über die Wangen,
+Nasstenka. Mögen sie rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von
+selbst werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“
+
+„Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und sie wollte mich
+förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach, mein Gott!“
+
+„Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann jetzt nicht mehr lange
+bleiben und Sie werden mich auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen
+alles sagen – und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich Sie
+liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt und hätte nicht
+angefangen, Sie jetzt in dieser Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu
+quälen. Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten! Sie fingen
+an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie sind an allem schuld, ich
+aber bin unschuldig. Sie können mich nicht so von sich stoßen ...“
+
+„Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort, nein!“ beteuerte
+Nasstenka, und sie gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu
+verbergen.
+
+„Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von Ihnen fortlaufen. Ich
+werde auch fortgehen, nur muß ich vorher alles sagen, denn als Sie hier
+sprachen, als Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer Qual, und
+das, weil ... nun, weil – ich werde es aussprechen, Nasstenka –, weil
+man Sie verschmäht, da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für
+Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so bitter weh, daß
+ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen konnte, daß mir das Herz darüber
+schier brechen wollte, und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich
+mußte sprechen, Nasstenka, ich _mußte_ sprechen! ...“
+
+„Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen Sie ruhig so zu mir!“
+sagte Nasstenka plötzlich mit einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie
+vielleicht in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ...
+sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären. Ich werde Ihnen
+alles erzählen!“
+
+„Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach nur Mitleid mit mir,
+Kind! Nun! Was verloren ist, ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich
+nicht zurücknehmen. Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt alles. Dies
+wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so weit wäre alles erledigt, jetzt
+hören Sie weiter. Als Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir,
+– ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich dachte! – ich
+dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie ... nun, mit einem Wort: daß
+Sie auf irgendeine Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das
+habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch vorgestern
+schon – dann würde ich es unbedingt so gemacht haben, daß Sie mich
+liebgewonnen hätten. Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt,
+daß Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun weiter? Ja, das
+ist nun fast alles, was ich sagen wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was
+dann wäre, wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das! Also hören
+Sie, meine Freundin – denn meine Freundin sind Sie deshalb doch nach wie
+vor –: ich bin natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering,
+doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß nicht, ich rede immer von
+ganz anderen Dingen, aber das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –,
+nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß Sie, auch wenn
+Sie ihn, den ich nicht kenne, immer noch weiter lieben sollten, doch nie
+merken würden, daß meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden
+bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß neben Ihnen ein
+dankbares, oh, so dankbares Herz schlägt, ein heißes Herz, das für Sie
+... Ach, Nasstenka, Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“
+
+„Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß Sie weinen!“ sagte
+Nasstenka und stand schnell von der Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie,
+weinen Sie nicht, so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem
+Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt. Ich werde Ihnen
+vielleicht etwas sagen ... Wenn er mich schon verlassen und vergessen
+hat, so ... obschon ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht
+verheimlichen und will Sie nicht täuschen – aber hören Sie, und dann
+antworten Sie mir. Wenn ich zum Beispiel Sie liebgewönne, das heißt,
+wenn ich nur ... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich bedenke,
+wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen getan haben muß, als ich Sie
+dafür lobte, daß Sie sich nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie
+konnte ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so dumm sein,
+wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich habe mich entschlossen, und ich
+werde Ihnen alles sagen ...“
+
+„Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich werde jetzt fortgehen von
+Ihnen, das wird das beste sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da
+machen Sie sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig
+gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem Leid ... Ich bin
+natürlich schuld daran, Nasstenka, also – leben Sie wohl!“
+
+„Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an: können Sie warten?“
+
+„Warten? Worauf warten?“
+
+„Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß vergehen, das kann gar
+nicht – nicht vergehen; es vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ...
+Wer weiß, vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich hasse
+ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat, während Sie hier mit mir
+geweint haben ... und Sie, Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie
+er es getan, denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt nicht
+geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich selbst liebe ... Ja,
+liebe! so liebe, wie Sie mich lieben. Ich habe es Ihnen doch schon
+einmal gesagt, Sie haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie
+besser sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil ... weil er
+...“
+
+Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren Kopf an meine
+Schulter, beugte ihn aber immer mehr, bis er an meiner Brust lag: und
+dann begann sie bitterlich zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie,
+ich redete ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie
+drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen: „Warten Sie, warten
+Sie noch ein wenig. Es wird gleich vergehen ... ich höre ja schon auf
+... Ich will Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese Tränen ...
+das ist nur so – von der Schwäche, warten Sie, bis es vergeht ...“
+
+Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf, wischte noch die
+letzten Tränenspuren von den Wangen und wir gingen. Ich wollte sprechen,
+aber sie bat mich immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken
+zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie sich zusammen und
+begann:
+
+„Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer Stimme, aus der
+aber plötzlich ein eigenes Gefühl klang und mein Herz so traf, daß es
+wie in einem süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich
+unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so schnell und leicht
+vergessen könne und untreu werde ... Ich habe ihn ein ganzes Jahr
+geliebt und ich schwöre bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit
+einem Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das mißachtet: er hat
+sich mit mir nur einen Scherz erlaubt – Gott mit ihm! Aber es hat mich
+doch verletzt und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr,
+denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig, was mich
+versteht und was anständig ist; denn ich selbst bin so, er aber ist
+meiner unwürdig, – nun, noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als
+wenn ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also – jetzt
+hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter Freund,“ fuhr sie fort, indem
+sie mir die Hand drückte, „wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe
+nur eine Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann das
+alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses eintönige Leben führte und
+ewig an Großmutters Kleid angesteckt war? Vielleicht ist es mir
+bestimmt, einen ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit mir
+hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden wir nicht mehr davon,“
+unterbrach sich Nasstenka stockend und atemlos vor Erregung, „ich wollte
+Ihnen nur sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl ich ihn
+liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir trotzdem sagen ... Ich meine,
+wenn Sie fühlen und glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die
+frühere aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie soviel Mitleid
+mit mir haben und mich jetzt nicht allein meinem Schicksal überlassen
+wollen, ohne Trost und Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben
+wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich Ihnen, daß meine
+Dankbarkeit ... daß meine Liebe Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen
+Sie daraufhin meine Hand nehmen?“
+
+„Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen erstickten meine Stimme.
+„Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“
+
+„Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug sein!“ sagte sie schnell,
+in augenscheinlicher Hast, und sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt
+ist alles gesagt, nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und
+ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort mehr davon sprechen!
+Warten Sie ... schnell, erbarmen Sie sich – sprechen Sie von irgend
+etwas anderem, um Gottes willen! ...“
+
+„Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt glücklich, ich ... Gut,
+Nasstenka, gut, sprechen wir von etwas anderem, schnell, schnell! ja!
+Ich bin bereit.“
+
+Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen sollten, wir lachten und
+weinten und sprachen tausend Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald
+gingen wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die Straße hinüber und
+blieben stehen, bald kehrten wir wieder um und gingen zum Kai: wir waren
+wie die Kinder ...
+
+„Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal, „aber ... Nun, ich bin,
+versteht sich, Sie wissen es ja, Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme
+jährlich nur tausendzweihundert Rubel, aber das macht ja nichts ...“
+
+„Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension, so braucht sie von
+uns nichts. Wir müssen doch Großmutter zu uns nehmen.“
+
+„Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns nehmen ... Aber meine
+Matrjona ...“
+
+„Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“
+
+„Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler hat sie: sie hat nämlich
+gar kein Vorstellungsvermögen, Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie
+begreift nur, was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet nichts
+...“
+
+„Natürlich nicht, die können beide zusammen leben. Nur müssen Sie schon
+morgen zu uns kommen.“
+
+„Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“
+
+„Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben noch ein Zimmer: das
+steht jetzt leer. Wir hatten eine Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige,
+aber sie ist ausgezogen und abgereist, und Großmama will nun, das weiß
+ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich fragte sie: ‚Warum denn
+gerade einen jungen Mann?‘ Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser,
+man ist auch sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb nicht
+zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten will.‘ Da wußte
+ich denn, daß sie es gerade deshalb will ...“
+
+„Ach, Nasstenka! ...“
+
+Und wir lachten beide.
+
+„Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen Sie denn? Ich habe ganz
+vergessen, zu fragen.“
+
+„Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines gewissen Barannikoff.“
+
+„Das ist so ein großes Haus, nicht?“
+
+„Ja, ein großes Haus.“
+
+„Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur, wissen Sie, ziehen
+Sie aus und kommen Sie recht bald zu uns ...“
+
+„Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde dort wohl noch ein wenig
+für die Wohnung, aber das schadet nichts ... Ich bekomme bald mein
+Gehalt ...“
+
+„Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu verdienen; ich werde
+noch dazulernen, was mir fehlt, und dann kann ich Unterricht geben ...“
+
+„Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich werde bald Zulage
+erhalten, Nasstenka ...“
+
+„Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter sein!“
+
+„Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören den Barbier von Sevilla,
+denn der wird bald wieder gegeben werden.“
+
+„Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder nein, lieber nicht zum
+Barbier von Sevilla, sondern wenn etwas anderes gegeben wird ...“
+
+„Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich, das wird auch viel
+besser sein, ich dachte im Augenblick nicht daran ...“
+
+Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein Rausch – als hielte uns
+ein Nebel umfangen und als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah.
+Bald blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf einem Fleck,
+bald gingen wir wieder und gingen Gott weiß wie weit, ohne es zu
+bemerken, immer unter Lachen und Weinen ... Bald wollte Nasstenka
+plötzlich unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten
+und wir machten uns schon auf den Weg; nach einer Viertelstunde aber
+bemerkten wir plötzlich, daß wir wieder auf unserer Bank am Kai
+angelangt waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen rollte über
+ihre Wange – ich sah sie erschrocken und verzagt an ... Da drückte sie
+mir schon von neuem die Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter
+...
+
+„Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß ich nach Hause
+gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“ sagte Nasstenka endlich
+entschlossen, „wir dürfen nicht gar zu kindisch sein!“
+
+„Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch nicht mehr. Ich gehe
+überhaupt nicht nach Hause.“
+
+„Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber Sie müssen mich
+noch begleiten ...“
+
+„Selbstverständlich!“
+
+„Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören Sie?“
+
+„Nein, diesmal nicht ...“
+
+„Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich nach Hause gehen!“
+
+„Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“ sagte ich lachend ...
+
+„Nun, gehen wir!“
+
+„Gehen wir.“
+
+„Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie hinauf! Morgen werden wir
+einen wundervollen Tag haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie
+nur den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich verdecken ...
+sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet am Rande vorüber ... Sehen
+Sie doch, sehen Sie! ...“
+
+Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den Himmel – sie stand wie
+erstarrt neben mir und dann schmiegte sie sich plötzlich mit einer
+seltsamen Verzagtheit an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und
+ihre Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ... noch schwerer
+stützte sie sich auf mich.
+
+In diesem Augenblick ging ein junger Mann an uns vorüber – er sah uns
+scharf an, zögerte, blieb stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein
+Herz erbebte ...
+
+„Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise.
+
+„Das ist _er_!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd an meinen Arm.
+Ich hielt mich kaum auf den Füßen.
+
+„Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es da plötzlich hinter uns
+und zugleich trat der junge Mann wieder ein paar Schritte näher ...
+
+Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie zusammenfuhr! Wie sie sich
+von mir losriß und ihm entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm
+hinüber, stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand gereicht,
+kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen, da befreite sie sich schon
+von ihm und ehe ich mich dessen versah, stand sie wieder vor mir,
+umschlang mit beiden Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen
+Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen, lief sie zu ihm
+zurück, erfaßte seine Hände und zog ihn fort.
+
+Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren sie meinen Blicken
+entschwunden.
+
+
+ Der Morgen.
+
+Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag war unfreundlich: es
+regnete und die Tropfen schlugen in eintöniger Wehmut an meine
+Fensterscheiben; im Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen,
+und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich schwindelte und das Fieber
+einer Erkältung schlich durch meine Glieder.
+
+„Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote hat ihn gebracht,“
+sagte Matrjona.
+
+„Ein Brief! Von wem?“
+
+„Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen Sie nach, vielleicht
+steht es drin, von wem er ist.“
+
+Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr.
+
+ „Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb mir Nasstenka. „Auf
+ den Knien bitte ich Sie, mir nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie
+ mich selbst getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ... Der
+ Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor Qual. Verzeihen Sie, oh,
+ verzeihen Sie mir! ...
+
+ Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für Sie empfand, empfinde
+ ich auch jetzt noch: ich sagte Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich
+ liebe Sie auch jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr,
+ als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich lieben könnte! Oh,
+ wenn Sie und er doch ein Mensch wären!
+
+ Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun würde! Ich weiß, daß
+ Sie nun schwer zu tragen haben und daß Sie traurig sind. Ich habe
+ Sie gekränkt und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen doch – wenn
+ man liebt, gedenkt man der Kränkung nicht lange. Sie aber lieben
+ mich!
+
+ Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese Liebe. Denn in meiner
+ Erinnerung wird sie mich durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer
+ Traum, den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen kann. Nein,
+ nie werde ich vergessen, wie Sie mir so brüderlich Ihr Herz
+ offenbarten und in Ihrer Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes,
+ verwundetes annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu pflegen und
+ wieder gesund zu machen ... Wenn Sie mir verzeihen, wird die
+ Erinnerung an Sie sich verklären durch das Gefühl ewiger
+ Dankbarkeit, die in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese
+ Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen, denn mein Herz
+ ist treu. Es ist auch gestern nur zu dem zurückgekehrt, dem es von
+ jeher gehörte.
+
+ Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu uns kommen, Sie werden uns
+ nicht verlassen, werden ewig unser Freund sein und mein Bruder ...
+ Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie mir Ihre Hand – ja? Sie
+ werden Sie mir entgegenstrecken, wenn Sie mir verziehen haben, nicht
+ wahr? Sie lieben mich doch unverändert?
+
+ Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht, denn jetzt liebe ich
+ Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe würdig sein will, weil ich sie
+ verdienen will ... mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird
+ unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt, er hat
+ mich niemals vergessen ... Seien Sie nicht böse, daß ich von ihm
+ geschrieben habe. Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie
+ werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr?
+
+ So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie mich nicht und behalten
+ Sie lieb Ihre
+
+ Nasstenka.“
+
+Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder, und Tränen traten mir
+in die Augen; schließlich entfiel er meiner Hand und ich vergrub mein
+Gesicht in den Händen.
+
+„Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte ich nach einer Weile
+Matrjonas Stimme.
+
+„Was, Alte?“
+
+„Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall runtergeholt, können
+jetzt heiraten, wenn Sie wollen, können Gäste einladen, wenn’s Ihnen
+einfällt, mir soll’s recht sein ...“
+
+Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch _junge_ Alte, aber ich weiß
+nicht, weshalb ich sie plötzlich mit erloschenem Blick, mit tiefen
+Runzeln im Gesicht, alt und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich
+weiß nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein Zimmer um
+ebensoviel Jahre älter geworden sei wie sie. Die Farbe der Wände sah ich
+verblichen, an der Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich
+bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb es mir, als ich
+durch das Fenster hinausblickte, schien, als ob das Haus gegenüber
+gleichfalls gealtert sei, trübseliger und baufälliger geworden, die
+Stukkatur von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig und
+geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und schmutzig.
+
+Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der plötzlich durch die
+Wolken brach, um sich gleich wieder hinter einer noch dunkleren
+Regenwolke zu verstecken, so daß alles noch trüber, düsterer wurde ...
+Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut und etwas Ödes,
+Trauriges in ihr erblickt, etwa mich selbst, wie ich jetzt bin, nur um
+fünfzehn Jahre älter, in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben
+Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger geworden ist ...?
+
+Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein helles seliges Glück
+mit dunkeln Wolken trüben, dir Vorwürfe machen, damit dein Herz sich
+quäle und gräme und kummervoll poche, während es doch nichts soll als
+jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt der zarten Blüten, die
+du zur Trauung mit ihm in deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand
+berühren ... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie! Möge dein Leben
+Glück sein und so hell und lieb, wie dein süßes Lächeln, und sei
+gesegnet für den Augenblick der Seligkeit und des Glücks, den du einem
+anderen einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast!
+
+Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit! Ja, ist dann das nicht
+genug für ein ganzes Menschenleben? ...
+
+
+
+
+ Das junge Weib
+
+
+ I.
+
+Ordynoff mußte sich eine neue Wohnung suchen, so ungern er es auch tat.
+Die Frau, bei der er bis dahin als Zimmermieter gelebt, eine arme
+bejahrte Beamtenwitwe, hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse
+gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen, um in eine öde Provinz zu
+ihren Verwandten zu reisen, und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf
+ihres Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht hatte, bis zum
+Ersten des nächsten Monats in der Wohnung zu bleiben, dachte mit
+Bedauern an sein stilles Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand
+ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken, dieses ihm lieb
+gewordene Zimmer nun verlassen zu müssen. Er war arm, die Wohnung
+übrigens für seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn schon am
+Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen seine Mütze und ging,
+um die Petersburger Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu
+halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen waren,
+namentlich nach solchen an älteren und schlechteren Häusern und
+Mietskasernen, in denen er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen
+armen Leuten ein Zimmer für sich zu finden.
+
+Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken anfangs auch
+gewissenhaft bei der Sache, doch nach und nach wurde seine
+Aufmerksamkeit von ganz anderen, ihm bis dahin völlig unbekannten
+Empfindungen abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst nur
+flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas Bestimmtes dabei zu
+denken, bald jedoch aufmerksamer und schließlich mit ausgesprochener
+Neugier. Die vielen Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose,
+lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort begegnete, die
+ungewohnte Umgebung – dieses ganze kleinliche Leben und alltägliche
+Hasten nach Erwerb, das dem im tätigen Leben stehenden, stets
+beschäftigten Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein
+Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich einmal irgendwo
+in ein warmes Nest zurückzuziehen, sich mit sich abzufinden und
+zufrieden geben zu können – diese ganze schale Prosa und Langeweile
+erweckte jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe, helle
+Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten sich leicht, in seine Augen
+trat der Glanz einer neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die
+kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll leicht
+zumute.
+
+Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames Leben geführt. Vor
+etwa drei Jahren, nachdem er sein Examen bestanden und in gewissem Sinne
+ein freier Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen alten kleinen
+Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt, und hatte
+lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat, ihn
+zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden. Dann trat Ordynoff in einen
+hohen, dämmerigen, öden Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie
+sie sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer Zeit
+erhalten haben, und erblickte in ihm einen silberhaarigen, mit Orden
+über und über behängten Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und
+Kollege im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den Sohn, die
+Vormundschaft übernommen hatte. Der Alte händigte ihm ein, was ihm noch
+zukam. Die Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen Schulden
+unter den Hammer gekommenen und noch von den Ureltern stammenden
+Erbschaft. Ordynoff nahm das Päckchen gleichgültig in Empfang,
+verabschiedete sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war ein
+Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war nachdenklich und eine
+seltsame, eigentlich ihm selbst unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine
+Augen brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich erkältet
+hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit seinen Mitteln etwa zwei
+bis drei Jahre auskommen konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar
+vier. Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder und erfüllte
+die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins Mark drang. Er mietete im
+ersten besten Hause ein kleines Zimmer – eben bei jener armen
+Beamtenwitwe, die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in einer
+Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte er dann wie ein
+Einsiedler, ganz, als hätte er sich von aller Welt losgesagt. So kam es,
+daß er in zwei Jahren vollkommen weltfremd geworden war.
+
+Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig kam es ihm auch gar
+nicht zu Bewußtsein, daß es noch ein anderes Leben gab – ein
+rauschendes, lautes, wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben,
+eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen war. Natürlich wußte
+er, daß es ein solches Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht
+wissen sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf.
+Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt; doch jetzt, nachdem er
+herangewachsen, hatte diese Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt
+angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen,
+unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines Menschen
+erschöpfen, und die solchen Wesen, wie Ordynoff war, keinen auch noch so
+geringen Platz in der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine
+Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte sie seine
+Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem berauschenden Gift den Schlaf und
+seine Seelenruhe, nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft, die
+niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube einzudringen: doch
+Ordynoff gewahrte alles das gar nicht in seinem Rausche, und wollte es
+auch nicht gewahren. Er war jung und vorläufig verlangte er nach nichts
+anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren Welt gegenüber völlig
+zum Kinde und für immer unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu
+veranlassen, wenn das einmal erforderlich sein sollte, um für sich
+selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen. Die Wissenschaft
+ist für manch einen ein Kapital, das er fest in Händen hat; die
+Leidenschaft Ordynoffs dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete
+Waffe.
+
+Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen, zu ergründen und
+Wissen in sich aufzunehmen, als daß es ganz bestimmte Gründe und
+Schlußfolgerungen waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es bei
+ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte, selbst mit den
+kleinsten Dingen. Schon als Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da
+er seinen Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern hatte er
+früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt nicht mehr; von den
+Kameraden aber mußte er wegen seines seltsamen menschenscheuen Wesens
+gar manche kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn dann erst
+recht menschenscheu und verschlossen machte. Doch seinen einsamen
+Beschäftigungen lag niemals, auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein
+System zugrunde: statt dessen leitete ihn einzig und allein die
+Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des Künstlers. Er schuf
+sich eine eigene Anschauung der Dinge; sie entwickelte und formte sich
+in ihm im Laufe von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich,
+vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon wundervoll
+beseligend, seine neue Idee, die in einer ebenso neuen, gleichsam
+erleuchtenden Form Gestalt gewinnen sollte; und indem sie in dieser
+Gestalt aus ihm hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele.
+Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre Selbständigkeit
+und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung der Wahrheit erschien: mit
+allen seinen Kräften spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte,
+die sich vorerst freilich noch in ihm bildete, denn der Zeitpunkt der
+Gestaltung selbst war ja noch weit, vielleicht sehr weit entfernt, und
+vielleicht war diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich!
+
+Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder Einsiedler, der
+plötzlich aus seiner stummen Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten
+ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt, die
+hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd geworden, daß er nicht
+einmal daran dachte, sich über seine sonderbaren Empfindungen zu
+wundern. Es war vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar
+nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar eine ganz
+eigenartig berauschende Empfindung der Freude, ähnlich dem Gefühl, wie
+es ein Hungriger empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder zu
+essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich seltsam erscheinen muß,
+daß eine so geringfügige Änderung in der äußeren Lebenslage, wie ein
+Wohnungswechsel, einen Petersburger, und wäre er selbst ein Ordynoff,
+noch derart aus dem Geleise bringen konnte. Freilich ist zu
+berücksichtigen, daß er all diese Jahre hindurch fast nur in seinem
+Zimmer verbracht hatte, und jedenfalls niemals aus einem solchen oder
+ähnlichen Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit für die
+Umgebung erheischte, durch die Straßen der Stadt gegangen war.
+
+Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser Weise durch die
+Straßen zu schlendern. Alles sah er an, auf alles horchte er hin.
+
+Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen den Bildern, die
+sein Auge sah, wie in einem Buch zwischen den Zeilen. Alles machte
+seinen besonderen Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit
+denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an, schaute er sich
+hinein in die Physiognomie der ganzen Umgebung, horchte er auf das
+Gesumm und Gerede und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug, –
+ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der Stille einsamer
+Nächte gekommen war, jetzt an allem, worauf er stieß, auf ihre
+Richtigkeit hin prüfen wollen. Und manche Kleinigkeit, die andere sonst
+wohl übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen Gedanken,
+und zum erstenmal im Leben ärgerte er sich darüber, daß er sich so lange
+in seiner Zelle lebendig begraben hatte. Hier geschah alles viel
+schneller: sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der
+bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit fast schon mehr
+ein bloßes Reagieren auf den angespannten und begeisterten Willen zur
+Arbeit geworden war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und doch
+ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er fast unbewußt das
+Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen in dieses für ihn fremde
+Leben, das er bisher nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger
+gesagt, mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich
+begann sein Herz schneller zu schlagen, fast wie in einer Art
+Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens. Immer forschender sah er
+die Menschen an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber alle fremd
+und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt ... Da
+schwand allmählich auch Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat
+näher an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck, und dann
+kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche Grauen einer großen
+Ehrfurcht.
+
+Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden Flut der neuen Eindrücke,
+wie ein Kranker, der freudig zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald
+erschöpft vom Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten
+bunten Bildern des rastlosen Lebens und den wechselnden Eindrücken die
+Augen schließt und niedersinkt. Bang und traurig ward ihm zumute. Er
+fing an, für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar für
+die Zukunft.
+
+Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam ihm plötzlich in den Sinn,
+daß er ja doch sein ganzes Leben lang allein gewesen war, daß es keinen
+einzigen Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals
+Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige der Vorübergehenden, mit
+denen er unter irgendeinen Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte,
+sahen ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm, daß sie ihn
+für einen Verrückten oder zum mindesten für irgendeinen Sonderling
+hielten – was er ja übrigens auch war. Er erinnerte sich, daß ihm
+eigentlich schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und in seiner
+Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten, hauptsächlich wohl seines
+nachdenklichen und eigensinnigen Charakters wegen. Er wußte, daß das
+tiefe Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals ein Gefühl
+der seelischen Gleichheit zwischen ihm und den anderen, oder auch dem
+einzelnen, dem sein Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es von
+allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde: und das hatte ihn
+denn schon als Kind unter seinen Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es
+ihm wieder ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von jeher
+und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und daß man sich niemals um
+seine Einsamkeit gekümmert hatte.
+
+In Gedanken versunken war er weitergegangen, ohne auf den Weg zu achten,
+bis er schließlich merkte, daß er sich in einem vom Zentrum weit
+entfernten Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren
+Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und machte sich dann wieder
+auf den Weg. Von neuem streifte er umher, ging durch viele Straßen, über
+Plätze, an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen graue
+windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte Gebäude großer Fabriken,
+rot, rauchgeschwärzt, unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die
+Umgebung rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde, düster und
+feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff diesen Eindruck. Es
+wurde Abend. Aus einer langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an
+dem eine Pfarrkirche lag.
+
+In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war beendet und
+die Kirche schon ganz leer; nur zwei alte Weiber knieten noch nahe beim
+Eingang. Der Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem Haar,
+löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne ergossen sich von oben
+durch ein schmales Fenster der Kuppel in einem Lichtstrom durch das
+Innere der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit flimmerndem
+Glanz umwoben. Die Sonne sank und das Licht wurde immer schwächer, doch
+je mehr die tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um so
+leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten
+Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen der Wachskerzen und
+Öllämpchen zuckend brannten. Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung
+tiefer Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl plötzlich
+aus der Vergessenheit hervorbrach und ihn nun überflutete, in der
+dunkelsten Ecke an die Mauer gelehnt und vergaß dort für einen
+Augenblick sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen Schall
+von Schritten, die sich gemessen vom Eingang her näherten. Er sah auf
+und wandte den Kopf, kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen
+erblickt, da bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier. Es
+waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hoch von Wuchs,
+noch stramm und rüstig, aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren
+nach konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten Kaufmann
+halten. Er trug einen langen, schwarzen, mit Pelz gefütterten Mantel
+lose über die Schultern geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück –
+darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten zugeknöpften
+russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten mit zur Nationaltracht
+gehörte. Um den Hals war nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In
+der Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler, halb schon
+ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter den überhängenden
+buschigen Brauen glühte ein feuriger, fieberhaft erregter, dabei
+hochmütiger und scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig Jahre
+alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie trug einen hellblauen, mit
+kostbarem Fell verbrämten kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes
+Atlastuch, das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war. Sie ging
+mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit, die seltsam ergreifend
+aus ihrer ganzen Erscheinung sprach, spiegelte sich in den zarten Linien
+ihrer kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger Verklärung
+wieder. Es war etwas Sonderbares an diesem unerwarteten Paar.
+
+Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen und verneigte sich nach
+allen vier Seiten, obschon die Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch
+seine Begleiterin. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum
+großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war, und
+dessen mit Edelsteinen besetzte goldene Bekleidung und reiche Einfassung
+durch den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem Glanz
+erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch hier und da etwas zu
+schaffen machte, grüßte den Alten mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den
+Gruß jedoch nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde warf
+sich das junge Weib auf die Knie nieder und berührte mit der Stirn den
+Fußboden. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des
+Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann vernahm man dumpfes
+Schluchzen in der Kirche.
+
+Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der Szene, die sich vor
+seinen Augen abspielte, und erwartete mit Ungeduld die Beendigung ihres
+Gebets. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller
+Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte zusammen und
+trat unwillkürlich einen Schritt vor. Sie hatte ihre Hand bereits dem
+Alten gereicht und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen in
+ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider mit den langen dunklen
+Wimpern senkte, rollten diese Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen.
+Auf ihren Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte in
+ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen Angst und
+eines gleichsam mystischen Grauens. Zaghaft schmiegte sie sich an den
+Alten, und man sah, daß sie vor Erregung zitterte.
+
+Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt süßen Gefühl, das wie
+ein Wille war, dazu getrieben, ging Ordynoff den beiden nach – und unter
+dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte sah ihn
+feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm hin, jedoch so
+teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr anmerkte, wie ein einziger und
+ganz anderer, fernliegender Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte
+ihnen in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen, weshalb
+er es tat. Es war schon dunkel geworden.
+
+Der Alte und das junge Weib gingen in eine lange, breite, schmutzige
+Straße, die geradeaus zur Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden,
+billigen Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten
+Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen sie in eine schmale lange
+Sackgasse ein, die zwischen langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen
+Mietskaserne führte, durch deren Höfe man aber wieder auf eine andere,
+gleichfalls große und belebte Straße gelangen konnte. Sie näherten sich
+bereits dem Hause. Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick
+maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich folgte. Ordynoff
+blieb wie gebannt stehen; sein Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr
+sonderbar. Da sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle er
+sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung nicht verfehlt
+habe; dann traten sie beide, er und das junge Weib, durch die schmale
+Fußpforte in den Hof des Hauses. Ordynoff kehrte um.
+
+Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich
+selbst: ganz umsonst hatte er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich
+ermüdet und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen Tag mit einer
+großen Dummheit gekrönt, indem er eine ganz gewöhnliche Begegnung für
+eine Gott weiß wie besondere Begebenheit gehalten!
+
+Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert, daß er so weltfremd
+und menschenscheu geworden war. Und doch war es nur sein Instinkt
+gewesen, der ihn veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem
+äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren Leben, das nun
+einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte zerstreuen, beeinflussen und
+erschüttern können. Jetzt wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer
+gewissen Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte ihn eine seltsame
+Traurigkeit und Sorge befiel ihn beim Gedanken an seinen künftigen
+Verbleib: wo er ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er wohl
+noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber verstimmte es ihn
+wieder am meisten, daß ihn solche Nichtigkeiten überhaupt so
+beschäftigen konnten. Ermüdet und unfähig, zwei Gedanken
+aneinanderzureihen, langte er endlich – es war mittlerweile schon
+ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung an, und erst
+als er ins Haus trat, kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast
+daran vorübergegangen wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen.
+Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er den Kopf, schrieb sie
+aber doch nur seiner Müdigkeit zu und trat, im letzten Stockwerk unter
+dem Dach angelangt, in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an,
+setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin. Da stand
+plötzlich wieder das Bild des weinenden jungen Weibes greifbar deutlich
+vor seiner Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der
+Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften und frommen Züge
+in sich aufgenommen und gab seine Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese
+Züge, aus denen mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut und
+hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich verdunkelten und
+gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte. Doch die Erscheinung
+zerrann. Dem Rausch folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich
+eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden, wickelte er sich
+in die Decke und warf sich auf sein hartes Lager ...
+
+Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich spät und in unruhiger und
+niedergedrückter Stimmung. Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an
+seine nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann wieder auf den
+Weg machte, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, um nur ja nicht
+den Weg zu gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand er bei
+einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der mit seiner Tochter Tinchen
+eine Giebelstube bewohnte, ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß
+entfernte sogleich, nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel,
+fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen er ganz ungestört
+zu leben wünschte, sehr, sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich
+seiner recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen Abend
+einziehen werde. Als das erledigt war, wollte er sich wieder nach Haus
+begeben, änderte aber unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen
+Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung besser, obschon er
+innerlich selbst über sich lächeln mußte. Der Weg erschien ihm diesmal
+in seiner Ungeduld ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter, als er
+gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der er am vergangenen Abend
+gewesen war. Es wurde gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen
+Platz, von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch die, die er
+suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem Antlitz verließ er nach
+langem vergeblichem Warten die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein
+gewisses ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich mit
+aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen zu lenken. Er wollte an
+ganz gewöhnliche Dinge denken, und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit
+zum Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging er in dasselbe
+Speisehaus, in dem er tags zuvor eine Kleinigkeit genossen hatte. Dann
+streifte er wieder umher, ging durch unbekannte, aber belebte Straßen
+und dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich schließlich in
+einer Gegend jenseits der Stadtgrenze fand, wo sich weit das herbstlich
+fahl gewordene Feld hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen,
+wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen, lange nicht mehr
+empfundenen Eindruck aus seiner Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es
+war ein trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger
+Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte zu sehen, und neben ihr zwei
+Heuschober. Ein kleines verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast
+zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden Lefzen, als dachte
+es über irgend etwas nach, abgeschirrt neben einer zweiräderigen
+Tarataika. Ein gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen
+Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu knurren, und ein etwa
+dreijähriger Bengel, der mit nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet
+war, kratzte sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert
+den einsamen Städter an. Hinter der Hütte dehnten sich Gemüseplätze und
+Felder aus. Am Horizont zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und
+drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen Seite aber zogen
+langsam trübe Schneewolken auf, die vereinzelte Wölkchen vor sich
+herschoben, als trieben sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos,
+ohne einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am Himmel vorüber.
+Es war so ruhig und gleichsam feierlich schwermütig, alles erfüllt von
+einer verborgenen, atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging weiter
+und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur noch mehr. Er kehrte wieder
+um und ging zurück nach der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut,
+das zum Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte seine
+Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder die Kirche, die ihm seit
+dem gestrigen Tage so vertraut war.
+
+Die junge Unbekannte war schon da.
+
+Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen Betenden.
+Ordynoff drängte sich durch das eng beieinander stehende Volk, durch die
+Schar von Bettlern, alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln, die
+alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten, und kniete dicht neben ihr
+nieder. Seine Kleider berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen
+und das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder war ihr Antlitz
+von einem Gefühl hingebenden Glaubens durchgeistigt und wieder rannen
+Tränen aus ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen, als
+hätten sie ein furchtbares Verbrechen von ihrer Seele abzuwaschen. An
+der Stelle, wo sie beide knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin
+und wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten Heiligenbilde
+im Winde aufflackerte, der durch eine geöffnete Zugklappe des schmalen
+Fensters strich, huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und
+jeder Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen Mannes
+ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich unter unerträglicher Pein in
+sein Herz. Nur lag in der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine
+rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über seine Kraft. Er
+vermochte es nicht länger auszuhalten. Seine Brust erbebte vor Schmerz,
+und es war ihm, als verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem
+Sehnsuchtsweh – ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn plötzlich und er
+beugte seine heiße Stirn auf die kalten Fliesen der Kirche. Er fühlte
+nichts als den Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen zu
+wollen schien.
+
+Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs äußerste gesteigerte
+Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte: ob sie unaufhaltsam, wie sie
+durchbrach, auf das qualvoll bedrückende, erlösungslose Schweigen der
+langen schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge des oft
+durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter Drang, eine unklare
+Sehnsucht und das herrisch ungeduldige, ringende Streben seines Geistes
+ihm das Herz mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten, daß
+es nun an einem Punkt angelangt war, an dem es ihn unfehlbar zerrissen
+hätte, wenn es nicht eine Erlösung in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder
+war einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie alles einmal
+kommt, was im natürlichen Verlauf der Dinge kommen muß – wie an einem
+drückend schwülen Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und ein
+Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde niederrauscht, um alles,
+was in der Sonnenglut zu vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen,
+um in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen zu bleiben, das
+Gras niederzudrücken und die zarten Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf
+daß dann bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe, um wie
+befreit von neuem zur Sonne zu streben und sieghaft seinen köstlichen
+frischen Duft zum Himmel emporzusenden in der Freude über das erneute
+Leben. Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter die
+ganze Natur zu empfinden scheint, jedes Blatt, das noch feucht vom Regen
+glänzt, jeder Blütenkelch, der unter der Last der Tropfen sich geneigt
+hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet – dasselbe Gefühl hatte
+auch Ordynoff ... Nur hätte er selbst nicht zu sagen vermocht, was mit
+ihm geschah: so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt.
+
+Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst zu Ende ging, und
+kam erst zu sich, als er, seiner Unbekannten folgend, sich abermals
+durch die Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch das
+hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber hatte sie ihn dann, beim
+Stehenbleiben und Warten, zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich
+wachsender Verwunderung wieder und wieder nach ihm umgesehen, und
+plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten hellen Blick begegneten, war
+sie errötet – ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr die
+Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick aber tauchte auch schon
+die hohe Gestalt des Alten im Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie
+wortlos bei der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff mit
+einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck, daß Ordynoffs Herz
+plötzlich von einer ganz seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der
+Dunkelheit verlor er sie bald aus den Augen: er drängte sich erschrocken
+weiter durch die Menge, machte sich rücksichtslos Platz und trat aus der
+Kirche. Die Abendluft berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht:
+sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und sein Herz begann
+langsam und stark zu schlagen, mit einer Wucht, als wolle es seine Brust
+zersprengen. Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben, da
+er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren weder auf der Straße noch
+in der Sackgasse zu sehen. Doch zugleich entstand in ihm bereits ein
+Gedanke, der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die zwar in
+der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu sein pflegen, deren Ausführung
+aber in solchen Fällen fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen
+davon, daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die Tat umgesetzt
+werden, vernünftigere dagegen sehr oft nur Pläne bleiben.
+
+Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht Uhr zu jenem Hause,
+trat von der Gasse aus durch das Tor und befand sich auf einem schmalen,
+schmutzigen Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem Spaten
+hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich auf den Spatenstiel,
+musterte Ordynoff vom Kopf bis zu den Füßen und fragte schließlich, was
+er hier wünsche.
+
+Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche von etwa fünfundzwanzig
+Jahren, dabei von eigentümlich altväterischem Aussehen, klein, mit
+runzligem Gesicht und von offenbar tatarischer Abstammung.
+
+„Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig.
+
+„Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch und sah ihn mit einer
+Miene an, als wisse er bereits um sein ganzes Vorhaben.
+
+„Ich will hier ein Zimmer mieten.“
+
+„Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar etwas rätselhaft.
+
+„Aber hier?“
+
+„Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu.
+
+„Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins abtreten würde?“
+fragte Ordynoff und drückte dem Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand.
+
+Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die Tasche und machte sich
+dann wieder etwas mit seinem Spaten zu schaffen – erst nach einigem
+Schweigen erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der junge
+Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits auf den halbverfaulten
+schwankenden Brettern, die über eine Pfütze führten, zum einzigen
+Eingang des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig war, wie
+das ganze Haus schmutzig aussah, und deren unterste Stufe in einer
+zweiten Pfütze halbwegs versank. Unten, neben dem Eingang, wohnte ein
+armer Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu fragen
+vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen Treppe
+hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk angelangt, fand er, mehr tastend
+als sehend, eine schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen
+gewesen war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig mehr als einzelne
+Stücke an ihr hafteten. Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür.
+Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der Kirche
+gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung starr an.
+
+„Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher Stimme hervor.
+
+„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte Ordynoff, ohne eigentlich
+selbst zu wissen, was er sagte oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte
+er seine Unbekannte erblickt.
+
+Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür zu schließen, um
+Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen.
+
+„Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da plötzlich das junge Weib mit
+freundlicher Stimme.
+
+Der Alte wandte sich nach ihr um.
+
+„Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“ sagte Ordynoff, indem er
+schnell eintrat und sich an das junge Weib wandte.
+
+Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas Seltsames spielte sich
+plötzlich vor seinen Augen ab, eine stumme und doch beredte Szene. Der
+Alte war so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick ohnmächtig
+zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren, unbeweglichen,
+durchdringenden Blick das junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst,
+dann aber stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht und in ihren
+Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne ein weiteres Wort führte sie
+Ordynoff in das Nebenzimmer.
+
+Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, allerdings recht großen
+Zimmer, das durch zwei Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem
+ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man vom Flur aus trat,
+führte geradeaus eine Tür offenbar in das Schlafzimmer. Rechts von
+dieser führte eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden
+sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der durch die Scheidewand
+gewissermaßen an die zwei niedrigen Fenster angedrückt erschien.
+Überdies war er noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die nun
+einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich und eng, aber doch nach
+Möglichkeit sauber. Die Einrichtung bestand aus einem einfachen
+ungestrichenen Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei
+Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere an der der Tür
+gegenüberliegenden Wand. Ein großes altertümliches Heiligenbild mit
+einer vergoldeten Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett
+und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger russischer Ofen, an
+den sich die Scheidewand anschloß, stand zur Hälfte in diesem Zimmer,
+zur Hälfte im Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung, daß
+diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu eng war.
+
+Sie begannen, das Notwendige zu besprechen, sprachen aber so verwirrt
+und zusammenhanglos, daß sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der
+zwei Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen zu hören:
+er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend auch vor Angst zitterte.
+Schließlich verständigten sie sich doch irgendwie und die Sache ward
+abgeschlossen. Der junge Mann erklärte, daß er sogleich einziehen wolle,
+und blickte sich unwillkürlich nach dem Alten um. Der war zwar immer
+noch bleich, aber auf seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar
+nachdenkliches Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er Ordynoffs
+Blick begegnete: sofort runzelte er wieder finster die Stirn.
+
+„Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter, rascher Stimme,
+indem er gleichzeitig schon die Tür zum Flur öffnete.
+
+Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig machte.
+
+„Wer bist du?“
+
+„Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe ganz für mich,“
+antwortete er, ebenso kurz angebunden, wie der Alte in seiner rauhen
+Art.
+
+„Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja Murin, Kleinbürger.
+Genügt dir das? – Gut, dann geh!“ ...
+
+Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen, eigentlich selbst
+nicht weniger darüber verwundert, als es Herr Spieß und seine Tochter
+Tinchen waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung kamen,
+daß der verschwundene Mieter sie nur habe betrügen wollen. Ordynoff
+freilich begriff selbst nicht, wie das alles so gekommen war, aber im
+Grunde wollte er es auch gar nicht begreifen.
+
+
+ II.
+
+Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen grüne Punkte tanzen sah,
+und hin und wieder erfaßte ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh.
+Mechanisch machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken,
+entnahm einem Bündel, das seine Wäsche enthielt, das Notwendigste,
+schloß den Bücherkasten auf und begann die Bände und Schriften auf dem
+Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese Arbeit seinen Händen. Was
+er tun mochte – immer wieder erschien vor ihm das Bild des jungen
+Weibes, das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren Banden
+gleichsam umkrampft hatte, – und so viel Glück war plötzlich in sein
+armes Leben geflutet, daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen
+und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht mehr wußte, was er
+wollte. Er nahm seinen Paß, um ihn dem Alten, dessen Mieter er nun
+geworden war, einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der
+Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür nur ein wenig, nahm
+den Paß in Empfang, nickte bloß und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die
+Tür wieder schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff. Es wurde
+ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer, diesen Alten anzusehen. In
+seinem Blick lag stets so etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der
+unangenehme Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon den dritten
+Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich zu seinem früheren stillen Leben.
+Nur denken konnte er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor.
+Alles hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle
+Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen und von seinen
+Gedanken galt kein einziger mehr der ersten Hälfte. Er empfand nur den
+einen Trieb, nur die eine Erwartung ...
+
+Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten deuten sollte, kehrte er
+in sein Zimmer zurück. Beim Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich
+ein kleines, vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so schmutzig
+und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit Widerwillen ansehen mochte.
+Dabei schien sie eine unglaublich böse Person zu sein. Das war die
+Dienstmagd. Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen hörte und ihren
+zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah, redete sie an, erhielt aber
+keine Antwort: es war, als schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam
+die Mittagsstunde. Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen – Kohlsuppe,
+Pasteten und Rindfleisch – und brachte es in das andere Zimmer. Dasselbe
+Essen brachte sie auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der
+Wohnung Totenstille ein.
+
+Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für Satz und ganze Seiten,
+wobei er sich bemühte, den Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber
+selbst dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las. Bald schon
+warf er das Buch beiseite und schickte sich an, seine Habseligkeiten
+noch weiter zu ordnen. Nur dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm
+er schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf die Straße. Ohne
+auf den Weg zu achten, ging er weiter und gab sich die größte Mühe,
+seine Gedanken zu sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage
+nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde ihm förmlich zu einer
+Qual – als müsse er sich selbst foltern. Offenbar hatte er sich
+erkältet: bald erfaßte ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber
+und zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen, daß er sich an
+eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber tot ... lieber tot sein,“
+murmelten seine fieberheißen Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte.
+So irrte er noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich durch
+eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit zum erstenmal
+bemerkte, daß es ja in Strömen regnete. Da besann er sich und kehrte
+zurück. Kurz bevor er das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht,
+der ihn, wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier
+beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich wieder fortsetzte,
+als er sich bemerkt sah.
+
+Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten.
+
+„Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“
+
+„Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar grinsend.
+
+„Bist du schon lange hier Hausknecht?“
+
+„Das will ich meinen.“
+
+„Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete wohne, ist doch
+Kleinbürger?“
+
+„Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“
+
+„Was treibt er denn eigentlich?“
+
+„Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter nichts.“
+
+„Ist das seine Frau?“
+
+„Welche Frau?“
+
+„Die bei ihm lebt?“
+
+„Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat. Leb wohl, Herr.“
+
+Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in seinen Schlupfwinkel
+unter dem Torbogen.
+
+Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Die Alte öffnete ihm
+zaudernd die Tür, wobei sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte
+die Tür hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen, auf dem
+sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen schien. Es dunkelte
+bereits. Ordynoff wollte sich von seinen Wirtsleuten Streichhölzer
+holen, doch die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte
+an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen gestützt,
+vom Ofen herab ihn anglotzte, als dächte sie darüber nach, was er wohl
+dort an der verschlossenen Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie ihm
+eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt, nahm er
+wieder seine Bücher vor. Allmählich wurde ihm immer sonderbarer zumut
+und obschon er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte er sich
+auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen fühlte. Und
+dann war ihm, als schliefe er ein. Mehrmals kam er wieder zu sich und
+erriet – es war ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des
+Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war, sondern nur eine
+krankhafte, qualvolle Benommenheit. Einmal hörte er, wie an die Tür
+gepocht und wie die Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl
+die Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten. Bei der
+Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen gehen mußte, um etwas zu
+holen. Er erhob sich denn auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm,
+daß er sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und fiel auf
+einen Haufen Holz, den die Alte mitten im Zimmer hingeworfen hatte. Von
+da an wußte er nichts mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach
+langer, langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung, daß er noch
+auf derselben Lade lag, in den Kleidern, so wie er war, und daß ein
+berückend schönes junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte,
+mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick. Er fühlte, wie ihm
+ein Kissen unter den Kopf geschoben wurde und wie man ihn mit etwas
+Warmem zudeckte, und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße Stirn
+legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen, sie an seine heißen
+trockenen Lippen führen, mit Tränen benetzen und küssen, eine ganze
+Ewigkeit lang küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das wußte er
+selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen in diesem Augenblick!
+Doch seine Arme waren schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es
+war ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb nicht sprechen, und
+daher fühlte er nur, wie sein Blut so durch alle Adern jagte, daß er
+glaubte, emporgehoben zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ...
+Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit.
+
+Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr. Die Sonne schien in
+goldenen Strahlenbündeln durch das grünliche billige Glas der
+Fensterscheiben. Ein wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des
+Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar glücklich. Er hatte die
+Empfindung, als sei jemand soeben an seinem Bette gewesen, ganz nah an
+seinem Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte er daran,
+sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen, um seinen neuen Freund zu
+entdecken und zum erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen,
+habe Dank, mein Guter!“
+
+„Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine Frauenstimme. Ordynoff
+sah sich um, jemand trat an sein Bett, und über ihn neigte sich mit
+einem freundlichen hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen
+Wirtin.
+
+„Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß es genug sein; wozu
+beraubst du dich der Freiheit! Die ist süßer als Brot, schöner als die
+liebe Sonne. Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“
+
+Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft. Er glaubte, noch
+zu träumen.
+
+„Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee? Trink ihn, es wird dir
+davon besser werden. Ich bin selbst krank gewesen und weiß, wie das
+ist.“
+
+„Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch matter Stimme und
+versuchte, aufzustehen, was ihm auch gelang. Er fühlte sich zwar noch
+recht schwach, wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ ihn
+erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein Gefühl, als werde er von
+den Sonnenstrahlen erwärmt und mit einer hellen, feiertäglichen Freude
+erfüllt. Er fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes Leben
+anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse ihn ein leichter
+Schwindel.
+
+„Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe ich mich verhört? Hat
+dich mein Herr nicht gestern so genannt?“
+
+„Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff, indem er sich ihr
+näherte, obschon er sich kaum auf den Füßen hielt. Plötzlich wankte er.
+Sie ergriff seine Hände und lachte.
+
+„Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren strahlenden, blauen Augen
+an. Beide hielten sie sich an den Händen.
+
+„Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich.
+
+„Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein Blick.
+
+„Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein Lieber, gräme dich nicht,
+sei nicht traurig – komm, setze dich hierher, hier scheint die Sonne,
+die wird dich erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht nach,“
+fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann eine Bewegung machte,
+als wolle er sie zurückhalten – „ich werde gleich wieder bei dir sein,
+da wirst du mich sehen können, soviel du nur willst!“
+
+Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm den Tee, den sie auf den
+Tisch stellte, und setzte sich ihm gegenüber.
+
+„Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf noch?“
+
+„Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff, „oder ich weiß
+nicht, vielleicht schmerzt er auch ... ich will nicht ... schon gut,
+schon gut! ... Ich weiß nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter
+Herzklopfen hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh nicht
+fort von mir, gib ... gib mir wieder deine Hand ... Vor meinen Augen
+dunkelt es ... In dir sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er
+jedes Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde er schon
+Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen konnte. Heiß stieg es in ihm auf
+und schnürte ihm die Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in
+einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud.
+
+„Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten Menschen gelebt? Bist ganz
+allein und einsam in der Welt? Hast du gar keine Verwandten?“
+
+„Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut das! Mir ist jetzt besser
+... so ... wohl!“ Es war, als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um
+ihn zu drehen.
+
+„Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn ... Du siehst mich so an
+...“ sagte sie plötzlich nach minutenlangem Schweigen und stockte ...
+
+„Was ... wie denn?“
+
+„So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du, wenn man jemand so liebt
+... Ich habe dich doch schon bei deinen ersten Worten in mein Herz
+geschlossen. Wenn du krank werden solltest, werde ich dich pflegen. Aber
+du darfst nicht wieder krank werden, nein! Wenn du aber wieder ganz
+gesund bist, dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja? Willst
+du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden, wenn Gott einem keine
+Geschwister gegeben hat.“
+
+„Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff mit matter Stimme.
+
+„Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht dich das an? Weißt
+du, die Leute erzählen, wie zwölf Brüder in einem dunklen Walde lebten
+und wie in dem Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam zu
+den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause, und säuberte alles, und
+was sie tat, tat sie mit Liebe. Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen
+sie, daß ein Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war, und sie
+riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben. Und da kam sie denn
+auch und blieb bei ihnen. Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen
+und ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an. Kennst du
+das Märchen?“
+
+„Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise.
+
+„Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß du lebst?“
+
+„Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“ phantasierte Ordynoff.
+
+„Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich, „ich würde doch auch
+den Tod nicht missen wollen. Ob es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben,
+und gute Menschen liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder
+bleich geworden ...“
+
+„Ja, mich schwindelt ...“
+
+„Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken, und werde dir das Bett
+schön aufmachen. Dann wird dir von mir träumen und das Übel wird von dir
+weichen. Unsere Alte ist auch krank ...“
+
+Und schon während sie sprach, machte sie das Bett zurecht, wobei sie ab
+und zu über die Schulter nach Ordynoff hinüberblickte.
+
+„Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach beendeter Arbeit den
+Koffer ein wenig abrückte.
+
+Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm, stützte ihn mit dem rechten
+Arm und führte ihn zum Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte,
+um ihn dann zuzudecken.
+
+„Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr sie fort und schüttelte
+nachdenklich den Kopf. „Liest du gern in Büchern?“
+
+„Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber, ob er schlief oder
+wachte. Und wie um sich zu versichern, daß es kein Traum war, suchte er
+Katherinas Hand und preßte sie in der seinen.
+
+„Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb mit der Linken ein
+großes Format – „er sagt, es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus
+ihnen immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich dir erzählen,
+was er mir aus ihnen vorliest?“
+
+„Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von ihr losreißen zu
+können.
+
+„Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem Schweigen. „Weißt du
+was? – ich fürchte, ich fürchte immer ...“
+
+Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte sie über irgend etwas
+nach.
+
+Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen.
+
+„Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten leicht. Und dann lachte
+sie: „Ach nun, da! – küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin.
+Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine heiße Stirn, und
+plötzlich – streichelte sie ihn und dann glättete sie sein Haar, und
+dabei errötete sie immer mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett
+nieder und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte den feuchtwarmen
+Hauch ihres Atems ... Plötzlich fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über
+seine Wange rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken, wurde
+aber immer schwächer, immer schwächer ... er konnte kein Glied mehr
+rühren. Da stieß jemand an die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff
+hörte nur noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf fühlte er,
+wie Katherina sich erhob, übrigens ganz langsam, ohne jeden Schreck,
+fühlte, wie sie beim Weggehen das Zeichen des Kreuzes über ihm machte.
+Er lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer langer Kuß
+auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte
+aufschreien, verlor aber die Besinnung ...
+
+Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand, ein Traumleben, wie es nur
+Krankheit und Fieber verursachen können. Es kamen Augenblicke, in denen
+es ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er verurteilt sei,
+in einem langen, endlosen Traum voll seltsamer Aufregungen, Kämpfe und
+Leiden zu leben. Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen
+dieses Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick des heißesten,
+verzweiflungsvollsten Kampfes fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere
+feindliche Kraft überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit jeder
+Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor und wie wieder
+undurchdringliches, bodenloses Dunkel sich vor ihm auftat, und er
+glaubte sogar selbst den Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit
+dem er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen wieder andere
+Augenblicke eines kaum zu ertragenden, überwältigenden Glücks, wie man
+es nur selten empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft im ganzen
+Menschen sich krankhaft steigert und der Mensch sich wie in einer
+höheren Sphäre befindet, wo alles Vergangene sich klärt und in allem
+Zusammenhang offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem Licht ein
+klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl auslöst und die
+unbekannte Zukunft wie ein Traum im Wachen vor einem liegt, und man
+nicht weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender Tau auf die
+Seele legt, und aufschreien möchte vor lauter Seligkeit, während man
+doch fühlt, wie schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der
+Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene zurückreicht,
+zerreißt und das neue Leben wie ein Leben nach einer Auferstehung vor
+uns erscheint ... Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine Art
+Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er in den letzten Tagen
+erlebt hatte, nochmals durchlebte und das Gesehene, verschwommenen
+Nebelbildern gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem
+geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in diesen Visionen
+alles ganz anders, seltsam und rätselhaft. Dann wieder vergaß er alles
+jüngst Geschehene und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner
+früheren Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es sich nicht
+erklären, warum die alte gute Frau zu seinem Ofen kam, in dem noch die
+letzten Kohlen glühten – er glaubte noch den schwachen, zitternden
+Widerschein der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen – und warum sie
+nicht, bevor sie die Ofentür schloß, ihre hageren alten Hände am
+Feuerschein wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter Leute
+Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem Blick nach ihrem
+sonderbaren Pensionär, den sie für mindestens „nicht ganz richtig“
+hielt: von diesem ewigen Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte.
+Dann wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war, aus welchem Grunde
+konnte er sich freilich nicht mehr entsinnen, obschon sein ganzer Geist
+ausströmen wollte in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen,
+unbezähmbaren Drang ... Doch wohin, wozu es ihn drängte, was die Ursache
+solcher Qual war, und wer diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein
+Blut zu verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das wußte er
+wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf besinnen. Oft griff er
+gierig nach einem Schatten, oft glaubte er, leichte Schritte in seinem
+Zimmer zu vernehmen, Schritte, die sich seinem Lager näherten, und eine
+süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu hören; ihm war, als
+spüre er feuchtwarmen Atem wie einen Hauch über sein Gesicht gleiten,
+und ein herrliches Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten,
+daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen auf seine glühenden
+Wangen und plötzlich drückte sich weich und verlangend ein Kuß auf seine
+Lippen: da war es, als verginge sein Leben vor brennender
+unauslöschlicher Pein: es schien ihm, als stehe das ganze Sein, die
+ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte rings um ihn, und über
+alles sinke lange, tausendjährige Nacht ...
+
+Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals die sorglosen Jahre
+seiner ersten Kindheit, ja er glaubte sogar, das Landhaus zu sehen, in
+dem er geboren war, und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als
+kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen gepflückt hatte.
+Wenigstens glaubte er, alles dies zu sehen, – bis er plötzlich eine
+Gestalt auftauchen sah, deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen
+Entsetzen erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid und Qual und
+Tränen in sein Leben brachte. Es war ihm, als habe der fremde Alte sein
+ganzes zukünftiges Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines
+Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und der Alte folgte ihm
+überall hin: er lauerte hinter jedem Baum und Strauch hervor, nickte ihm
+grinsend zu und spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in
+jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf auf dem Halse
+seines Steckenpferdchens und wandte sich grinsend und Gesichter
+schneidend immer wieder nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen
+den Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder der Deckel eines
+seiner Bücher hob sich um Fingerbreite und aus dem Dunkel unter dem
+Deckel sahen ihn die boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so
+setzte sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte die
+süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang ein wundersames
+Märchen, von dem er zwar nichts verstand, so angestrengt er auch
+lauschen mochte, das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit Grauen
+und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft peinigte. Und der böse Alte
+erzählte flüsternd weiter, bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte
+und er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit einem Male,
+war es ihm, als erwache er, und wieder begann ein seltsames
+Zusammenspiel von halbem Bewußtsein und halbem Traum: er erwachte als
+erwachsener Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten ihn. Er
+wußte, wo er sich im Augenblick befand, wußte, daß er einsam und
+weltfremd war, einsam unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier
+begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen und in den dunklen
+Winkeln flüsterten und der alten Frau zunickten, die wieder am Ofen
+hockte und ihre hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen
+gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag. Er fühlte sich
+verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer diese Leute waren, was sie hier
+wollten und warum er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam es
+denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas wie eine Räuberhöhle
+geraten sei, verlockt durch irgendeine ihm bis dahin unbekannte,
+zwingende Macht, ohne sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine
+Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte ihn und sein
+Argwohn wuchs – und da begann wieder in der nächtlichen Dunkelheit das
+flüsternd erzählte Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte
+es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die es, vor dem Ofen
+hockend, im zitternden Feuerschein der erlöschenden Glut leise, leise
+vor sich hinflüsterte, während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu
+nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm auf: das
+geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und noch weniger verstand, wurde
+zu Gestalten und Gesichtern, und er gewahrte mit Schrecken, daß alles,
+was er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken und
+Träume und was er in Büchern gelesen und vieles, was er schon längst
+vergessen hatte – daß alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften
+Gebilden sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte, umtanzte:
+vor seinen Augen taten sich Zaubergärten auf, er sah ganze Städte
+erstehen und wieder einstürzen, er sah unübersehbare Friedhöfe, deren
+Gräber sich auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die Leichen
+lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen, wachsen und vor seinen
+Augen aussterben, und er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß
+er ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer Form vor seinen
+Augen sich verwirklichen – sein Denken war nicht mehr rein geistige
+Vorstellung und Verbindung von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung
+ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von Wesen – und er sah sich
+selbst gleich einem Stäubchen getragen in diesem unendlichen
+unbegrenzten Weltall, aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an
+irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah, wie dieses ganze
+Leben durch seine empörende Tyrannei ihn bedrückte und knechtete und mit
+ewiger, unendlicher Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und in
+Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf ewig starb; er wollte
+fliehen – aber es gab keinen Winkel im ganzen All, wo er sich hätte
+verbergen können. Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß alle
+seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen Schrei, wie ihm schien,
+und – erwachte.
+
+Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Im Zimmer herrschte
+Totenstille: es war tiefe Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer
+noch irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen wundersamen
+Märchens, als erzähle eine heisere Stimme etwas ihm scheinbar Bekanntes:
+von dunklen Wäldern und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen Häuptling
+einer Bande, ganz als wäre von Stenka Rasin selbst, dem Kosakenhelden,
+die Rede, und dann von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden, und
+von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen Wolga. War das nicht
+ein Märchen? Hörte er es nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er
+mit offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied zu rühren.
+Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten, und mit Freude
+merkte er, daß die grausame Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen
+hatte. Das Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann für ihn
+wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er noch so angekleidet war,
+wie während seines Gesprächs mit Katherina: es konnte folglich noch
+nicht gar so lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe
+Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine Kraft. Wie er die
+dünne Scheidewand betastete, stieß seine Hand an einen großen Nagel, den
+man dort zu irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn und
+richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen den dünnen
+Brettern der Scheidewand entdeckte, durch die ein kaum bemerkbarer
+Lichtschein in sein Zimmer drang. Er legte das Auge an die Öffnung und
+hielt den Atem an.
+
+In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein Bett, davor ein Tisch,
+über den ein bucharischer Teppich gebreitet lag und der mit großen alten
+Büchern in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst welche
+heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In der Ecke hing ein ebenso
+altertümliches Heiligenbild wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor
+dem Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett lag Murin, mit
+einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet und krank und bleich wie
+ein Leintuch. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am
+Bett saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen umschlang sie
+den Alten und schmiegte sich an seine Brust. Sie sah ihn mit
+aufmerksamen, kindlich verwunderten Augen an und schien mit
+unersättlicher Neugier fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu
+lauschen. Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers und dann trat
+Leben in sein blasses Gesicht: in seinen Augen blitzte es auf, er zog
+die Brauen zusammen, sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen
+vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt es wie ein Lächeln über das
+Antlitz des Alten, und Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich
+standen Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte zärtlich über
+ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind streichelt, und sie umschlang ihn
+fester mit ihren weißen Armen und schmiegte sich noch liebender an seine
+Brust.
+
+Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum, ja, er war sogar
+überzeugt davon. Dennoch stieg ihm das Blut zu Kopf und in den Schläfen
+hämmerte es schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ den
+Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise, wankend und tastend, wie
+ein Schlafwandelnder durch sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er
+tat, getrieben von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so näherte er
+sich der Tür zu dem Zimmer der anderen und stieß sie mit aller Kraft
+auf: der verrostete Riegel brach, die Tür flog auf und unter Lärm und
+Gepolter trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer
+seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt emporschnellte und wie
+die Augen des Alten unter den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten
+und wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. Er sah, wie
+der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, mit irrender Hand nach der
+Flinte tastete, die an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte,
+die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf seine Brust richtete –
+ein Schuß tönte, und gleich darauf ein wilder, fast unmenschlicher
+Schrei ...
+
+Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff ein
+entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich über den Alten. Murin lag
+in Krämpfen auf der Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht,
+in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen war, völlig entstellt.
+Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen ein schwerer Anfall betroffen
+hatte. Zusammen mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm zu helfen
+...
+
+
+ III.
+
+Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei dem Kranken. Am anderen
+Tage ging Ordynoff trotz der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit
+schon frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den Hausknecht.
+Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem und blickte ihn neugierig an,
+schien sich aber plötzlich zu besinnen und machte sich an seinem Besen
+etwas zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff hinüber,
+der sich langsam näherte.
+
+„Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte ihn Ordynoff.
+
+„Hab’ wohl gehört.“
+
+„Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“
+
+„Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht meine Sache.“
+
+„Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“ rief Ordynoff wütend
+in einer krankhaften Gereiztheit, die ihm an sich selbst ganz neu war.
+
+„Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine eigene Schuld – hast
+Menschen erschreckt. Unten wohnt der Sargmacher, der hört sonstig
+nichts, aber heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub
+auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem anderen Hof, was
+schon weit genug ist, hat man’s auch gehört – da siehst du! Ich werde
+auf die Polizei gehen.“
+
+„Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und wandte sich zur
+Pforte.
+
+„Meinetwegen – hast selber gemietet ... Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah
+sich um; der Hausknecht berührte höflich die Mütze.
+
+„Nun?“
+
+„Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“
+
+„Und?“
+
+„Zieh lieber aus.“
+
+„Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte sich von neuem zum Gehen.
+
+„Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte wieder die Mütze und
+grinste halb verlegen: „Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein
+Herz fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch – das ist Sünde. Gott
+sagt auch, das soll man nicht – weißt doch selber!“
+
+„Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun sage mir: wer ist er?“
+
+„Wer er ist?“
+
+„Ja.“
+
+„Ich sag’ auch ohne Geld.“
+
+Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-, zweimal, sah dann
+wieder auf und blickte Ordynoff mit wichtiger Miene musternd an.
+
+„Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten Menschen leben, dann
+nicht, ganz nach deinem Belieben. Da hast du gehört, was ich meine.“
+
+Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller an, schien aber, als
+er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte, gekränkt zu sein und machte sich
+wieder mit seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er die
+Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller Miene Ordynoff, machte
+eine eigentümliche Geste, deren Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls
+unverständlich blieb, und flüsterte:
+
+„Er ist – verstehst du!“
+
+„Was?“
+
+„Verstand ist fort.“
+
+„Wieso?“
+
+„Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“ fuhr er in noch
+geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist krank. Er hatte eine Barke, solche
+große, weißt du, und noch eine und noch eine dritte und vierte, die
+fuhren alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und dann hatte
+er noch eine Fabrik und die brannte nieder und so kam denn das!“
+
+„Er ist also verrückt?“
+
+„Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er ist ein kluger Kopf. Alles
+weiß er, viele Bücher hat er gelesen und dann anderen die Wahrheit
+gesagt! So – kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel, wie
+gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch auf und sagt dir alles, so
+und so, die ganze Wahrheit! Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld –
+kein Wort!“
+
+Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der Taktik Murins.
+
+„Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“
+
+„M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung wichtig mit dem Kopf.
+„Immer was wahr ist! Er betet zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! –
+kommt so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner
+rätselhaften Geste hinzu.
+
+In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof nach dem Hausknecht und
+gleich darauf erschien ein kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz.
+Er ging hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen grauen
+spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden Schritten vorsichtig und
+langsam über den Hof, als fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man
+konnte glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener Greis.
+
+„Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig der Tatar, nickte
+Ordynoff flüchtig zu und lief, die Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig
+zu dem Alten, dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens mußte
+er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein. Er überlegte noch, daß das
+schließlich nicht weiter erstaunlich war, und verließ den Hof. Der
+Hausknecht aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein.
+
+„Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen wollen!“ dachte er. „Gott
+weiß, was noch dahintersteckt.“
+
+Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke lenkten ihn bald von
+den unangenehmen Gedanken ab. Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht
+angenehmer Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite ein wenig. Er
+fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer durchrieselten. Es war ihm, als
+beginne die Erde unter ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine
+bekannte Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem Tone einen guten
+Morgen wünschte.
+
+„Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff.
+
+Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger Herr von etwa – dem
+Aussehen nach – dreißig Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein,
+das ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet – nun, wie ein
+Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und mit diesem Lächeln streckte
+er ihm verbindlich die Hand entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem
+Jahre seine Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast auf der
+Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen vom Zufall, in erster
+Linie beigetragen, war die besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit
+berühmten und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten,
+mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens vielversprechenden
+Talenten bekannt zu sein. Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr
+süßliche Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung, selbst
+mit den aufrichtigsten Freunden, einen ungewöhnlich selbstsicheren,
+jovialen und sonoren Ton zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes
+hatte – ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen
+Überlegenheit von vornherein zu disponieren gewohnt, und zwar gleich in
+einer Weise, als dulde er überhaupt keinen Widerspruch.
+
+„Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“ rief Jaroslaw Iljitsch
+mit dem lebhaftesten Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte
+Wiedersehen.
+
+„Ich wohne hier.“
+
+„Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs klang sogleich um einen
+Ton oder ein paar Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß
+daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und ich hab’s nicht mal gewußt!
+Dann bin ich ja so gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier,
+sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin ich aus dem
+Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt. Na, es freut mich, daß ich Sie
+doch mal eingefangen habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte
+sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er, plötzlich sich
+zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung. „Erwarte mich bei Tarassoff,
+aber daß sie dort ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem
+Olssufjeffschen Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm, daß er sich
+sofort nach dem Geschäft begeben soll. In einer Stunde bin ich da ...“
+
+Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen, faßte er gut
+gelaunt Ordynoff unter den Arm und führte ihn zum nächsten Gasthaus.
+
+„So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns nach der langen
+Trennung gemütlich ein paar Worte miteinander reden. Nun, sagen Sie
+zunächst, wie steht es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast
+ehrfürchtig und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender
+eingeweihter Freund es tut.
+
+„Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders, als früher,“
+antwortete Ordynoff etwas zerstreut, da er gerade einem ganz anderen
+Gedanken nachhing.
+
+„Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch, sehen Sie, so etwas
+erkenne ich an! Das nenne ich, sein Leben einer höheren Idee weihen!“
+Hier drückte Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott gebe
+Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel! bin ich froh, daß ich Sie
+getroffen habe! Doch mal ein andrer Mensch, als so der tagtägliche
+Durchschnitt! Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen
+gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer, geistreicher
+Wassilij Michailowitsch!“
+
+Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer für sich und seinen
+Gast, bestellte einen Imbiß, Schnäpse, und was so dazu gehört.
+
+„Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er mit einschmeichelndem
+Blick und in bescheidenem Tone fort. „Zunächst einmal den ganzen
+Puschkin ...“
+
+Ordynoff sah ihn zerstreut an.
+
+„Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die Schilderung der
+menschlichen Leidenschaft ist allerdings ganz bewundernswert bei ihm.
+Doch zunächst erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie
+haben so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung einer richtigen
+Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung, sozusagen ...“
+
+„Aber ich bitte Sie! ...“
+
+„Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich liebe es nun einmal, jedem
+Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß
+wenigstens dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit – in mir nicht
+eingeschlummert ist.“
+
+„Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst ungerecht, und ich wüßte
+wirklich nicht ...“
+
+„Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach Jaroslaw Iljitsch
+mit ungewöhnlichem Eifer. „Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen?
+Nicht wahr?“
+
+„Ach, Gott ...“
+
+„O ja ...“
+
+Kurzes Schweigen folgte.
+
+„Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich eine Menge schlechter
+Beziehungen aufgegeben, und damit auch, versteht sich, viele schlechte
+Gewohnheiten,“ hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch wieder in
+demselben Tone an. „In meiner freien Zeit nach dem Dienst sitze ich
+jetzt größtenteils zu Hause, lese abends irgendein nützliches Buch und
+... ich habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch,
+meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel eben in meinen Kräften steht
+...“
+
+„Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig sein.“
+
+„Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem immer Balsam auf die Wunden,
+mein edler junger Freund!“
+
+Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die Hand und dankte mit
+einem kräftigen Druck.
+
+„Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich seine Erregung etwas
+gelegt.
+
+„Ich kann nicht, ich bin krank.“
+
+„Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in der Tat? Schon lange? – und
+wie, wo haben Sie sich denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort
+– – welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich meinen Arzt
+benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin. Er ist überaus geschickt,
+glauben Sie mir!“
+
+Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem Hut greifen.
+
+„Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt nicht behandeln und
+liebe Ärzte nicht ...“
+
+„Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so! Wirklich: er ist überaus
+geschickt!“ beteuerte Jaroslaw Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch –
+nein, das muß ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade bei
+ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich habe mir hier,‘ sagt er, ‚die
+Hand mit meinem Werkzeug beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir
+meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch sah, daß dem
+Armen der Brand drohte und traf sofort seine Vorbereitungen zur
+Amputation. Er amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so, sage
+ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in einer so entzückenden
+Weise, daß es, ich muß gestehen – wenn nicht das Mitleid mit dem
+leidenden Menschen es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen gewesen
+wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft halber. Aber, wie
+gesagt, wann und wo haben Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“
+
+„Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich bin soeben erst aufgestanden.“
+
+„Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus. Sie hätten eigentlich
+nicht gleich so hinausgehen sollen. Also dann leben Sie nicht mehr dort,
+wo Sie früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen veranlaßt?“
+
+„Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“
+
+„Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch eine gute alte Frau! Sie
+wissen doch? – ich empfand für sie wirklich fast so etwas wie –
+Sohnesgefühle. Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten in
+ihrem halb schon begrabenen Leben. Und wenn man sie so ansah, schien es
+einem fast, als habe man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig
+vor sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben so eine
+gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich sagen will! ...“ schloß
+Jaroslaw Iljitsch etwas konfus und errötete vor Verlegenheit allmählich
+bis über die Ohren.
+
+„Ja, sie war eine gute alte Frau.“
+
+„Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich denn jetzt
+eingemietet?“
+
+„Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“
+
+„Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir sind sogar sehr gut
+miteinander bekannt, kann ich sagen, – wirklich, ein netter alter Mann!“
+
+Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm, von diesem netten
+alten Mann reden und von sich sagen zu können, daß er mit ihm gut
+bekannt sei. Er bestellte noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen.
+
+„Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“
+
+„Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“
+
+„Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“
+
+„Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann, groß von Wuchs ...“
+
+„Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem hinteren Hof, über dem
+Sargmacher?“
+
+„Ja.“
+
+„Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“
+
+„Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“
+
+„Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist Ihnen noch nichts
+Besonderes aufgefallen?“
+
+„In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“
+
+„Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja überzeugt, daß Sie es
+bei ihm gut haben werden, wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ...
+Ich meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will ich
+vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren Charakter kenne ... Ja,
+wie finden Sie denn eigentlich den Alten?“
+
+„Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“
+
+„Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst nichts ...? so was, hm
+... Besonderes an ihm bemerkt? Haben Sie mit ihm gesprochen?“
+
+„Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und wohl auch boshaft zu
+sein.“
+
+„Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach.
+
+„Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich nach längerem
+Schweigen.
+
+„Er?“
+
+„Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich seltsamer und
+ungewöhnlicher Mensch. Übrigens, wenn er Sie sonst nicht belästigt ...
+Verzeihen Sie, daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt
+habe, aber es interessiert mich gewissermaßen selbst ...“
+
+„Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt ... Ich würde jetzt
+sehr gern Näheres über ihn erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“
+
+„Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und das. Man sagt, der
+Mensch sei früher sehr reich gewesen. Er war Kaufmann, wie Sie
+wahrscheinlich bereits gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei
+Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren mehrere seiner großen
+Wolgabarken zerschellt und mit der ganzen Fracht untergegangen. Ferner
+hat er eine große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht irre,
+einem Verwandten anvertraut war, und diese Fabrik brannte nieder, wobei
+der Verwandte in den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich ein
+schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können. So soll denn auch
+Murin, wie man erzählt, nach der Katastrophe in einer solchen Stimmung
+gewesen sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann. Und
+in der Tat hat er sich auch im Streit mit einem anderen Kaufmann, einem
+gleichfalls reichen Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich
+den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können, als eben mit
+einer gewissen Geistesstörung, was ich denn auch gelten lassen will. Ich
+habe noch manches andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls
+sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen, – etwas, wofür es
+eigentlich keine Erklärung mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach
+als Schicksal auffaßt.“
+
+„Und das war?“ forschte Ordynoff.
+
+„Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick des Wahnsinns, einen
+jungen Kaufmann, den er bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe.
+Nach begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen, sei er
+darüber so verzweifelt gewesen, daß er sich das Leben habe nehmen
+wollen. Wenigstens erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen ist, das
+weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß er nämlich während der
+ganzen folgenden Jahre Buße getan hat ... Aber was ist mit Ihnen,
+Wassilij Michailowitsch? – strengt meine Erzählung Sie an?“
+
+„Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen, er habe Buße getan,
+aber vielleicht nicht er allein?“
+
+„Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm niemand in diese
+Angelegenheit verwickelt gewesen. Übrigens habe ich nichts Näheres
+darüber gehört. Ich weiß nur ...“
+
+„Nun?“
+
+„Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich nichts Besonderes
+hinzuzufügen ... ich will nur sagen, wenn Ihnen mal etwas
+Außergewöhnliches auffallen sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß
+das einfach die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind, die ihn
+einer nach dem anderen betroffen haben.“
+
+„Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht ist er nur
+scheinheilig?“
+
+„Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er hat so viel gelitten.
+Mir scheint er vielmehr ein Mensch mit reinem Herzen zu sein.“
+
+„Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den Eindruck macht er
+wenigstens nicht.“
+
+„O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er ist jetzt zweifellos
+wieder im vollen Besitz aller seiner Verstandeskräfte. Nur daß er, wie
+Sie ganz richtig bemerkten, sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich
+wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar ein sehr
+kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ... und ist, wissen Sie,
+überhaupt ein findiger Kopf. Seinem Gesicht sieht man übrigens auch
+jetzt noch sein stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine
+Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer Mensch, und ungeheuer
+belesen!“
+
+„Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“
+
+„Ja, er ist Mystiker.“
+
+„Was?“
+
+„Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt. Ich will Ihnen auch noch
+verraten – aber als Geheimnis, das zwischen uns bleiben muß –, daß er
+eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser Mensch hatte
+nämlich einen großen Einfluß auf alle, die zu ihm kamen.“
+
+„Inwiefern das?“
+
+„Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen Sie, damals lebte er noch
+nicht in diesem Stadtviertel. Er hatte schon einen gewissen Ruf, und
+eines Tages fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger, ein
+angesehener, allgemein geachteter Mann – fuhr also eines Tages mit einem
+Leutnant zu ihm, natürlich nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden
+empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie an. Er begann wie
+gewöhnlich damit, daß er sich die Gesichter der Leute genau und prüfend
+ansah, ehe er dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt
+einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus, und
+zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen Weise. Er fragte also
+auch diese, was sie wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm
+darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis von selbst
+sagen. ‚Dann bitte, ins andere Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an
+denjenigen wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn hatte.
+Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar nicht, was er dort im anderen
+Zimmer gehört oder erlebt hat – als er aber wieder herausgekommen ist,
+da soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß man auch von
+einer Dame der Petersburger Gesellschaft zu berichten: auch sie soll ihn
+kreideweiß und in Tränen aufgelöst verlassen haben.“
+
+„Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht mehr damit?“
+
+„Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt es noch andere
+Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel, der Sproß und die Hoffnung
+einer vornehmen Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu
+lächeln. ‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich der Alte
+geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen wirst du das sein!‘ Und
+dabei kreuzte er seine Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen
+im Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“
+
+„Nun, und?“
+
+„Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man sagt, die Prophezeiung
+sei tatsächlich eingetroffen. Er hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch
+... Sie beliebten zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung. Ich
+weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft, weit voraus. Aber ich
+glaube nun einmal an ihn. Er ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch
+Puschkin etwas Ähnliches in seinen Werken.“
+
+„Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber, Sie sagten, glaube ich,
+daß er nicht allein lebe?“
+
+„Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube, seine Tochter lebt bei
+ihm.“
+
+„Seine Tochter?“
+
+„Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich weiß nur, daß es irgendein
+Frauenzimmer ist. Hab’ sie nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht
+weiter beachtet.“
+
+„Hm! Sonderbar ...“
+
+Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw Iljitsch dagegen in
+angenehme Beschaulichkeit. Das Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn
+erfreut und fast gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst
+zufrieden, da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können. Er
+saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu. Plötzlich sprang er
+erschrocken auf.
+
+„Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen und ich denke nicht
+mal daran! Bester, teuerster Wassilij Michailowitsch, ich danke dem
+Schicksal, daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt muß ich
+eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem Gelehrtenheim aufzusuchen?“
+
+„Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen. Vielleicht spreche ich
+auch einmal bei Ihnen vor, wenn ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht
+...“
+
+„Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit würden Sie mich unendlich
+erfreuen! Sie glauben nicht, wie sehr es mich ehren würde!“
+
+Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die Straße hinaustraten, stürzte
+ihnen Ssergejeff entgegen und meldete, daß William Jemeljanowitsch
+sogleich vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich ein
+Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen im Hintergrunde der
+Straße. Jaroslaw Iljitsch drückte die Hand seines „besten“ Freundes,
+ganz als gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte dem
+Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er sich unterwegs noch zweimal
+nach Ordynoff umsah und ihm zum Abschied wiederholt zunickte.
+
+Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen Gliedern, daß er kaum
+die Füße zu bewegen vermochte. Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An
+der Pforte traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam
+seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet hatte und nun sehr
+zuvorkommend tat. Doch Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In
+der Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen, die
+gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung trat.
+
+„Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte das Kerlchen, indem es
+entsetzt zur Seite sprang.
+
+„Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“
+
+„N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit ... O Herrgott,
+Herrgott!“
+
+Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich räuspernd und fromme
+Sprüche flüsternd, mit äußerster Vorsicht die Treppe hinunter. Es war
+das der Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so überaus
+dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte sich Ordynoff, daß er
+dieses gebrechliche Männlein bei Murin bereits an dem Tage gesehen
+hatte, als er einzog.
+
+Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven erschüttert und
+überreizt hatten; wußte auch, daß seine Phantasie und Empfindsamkeit
+aufs äußerste erregt waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem
+selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in einen Zustand
+völliger Regungslosigkeit, der ihn wie ein Gefühl bleierner Schwere
+gefangen hielt und seine Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte,
+unter der sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine ganze Seele
+war voll von lautlosen, unversiegbaren Tränen ...
+
+Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht hatte, und
+begann von neuem zu lauschen. Deutlich unterschied er das Atmen zweier
+Menschen im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft, ungleichmäßig,
+das andere sanft, oft gar nicht vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie
+von innerer Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in dem
+gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft. Hin und wieder hörte
+er ihre leisen, weichen Schritte und das Geräusch ihrer Kleider, und
+jede Bewegung ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen,
+qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es ihm, als höre er
+ein leises Schluchzen und dann ein inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß
+sie vor dem Heiligenbilde auf den Knien lag und in Verzweiflung die
+Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie? Welch eine
+verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte ihr Herz? Weshalb quälte es
+sich und grämte es sich und ergoß es sich in so heißen und
+hoffnungslosen Tränen?
+
+Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich ins Gedächtnis
+zurückzurufen, jedes Wort, das noch wie Musik in seinen Ohren klang, und
+auf jede Erinnerung, auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig
+wiederholte, antwortete sein Herz mit einem dumpfen schweren Schlage ...
+Einen Augenblick schien es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch
+in demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes Wesen bis ins
+Mark, daß er zu vergehen glaubte vor Schmerz und Sehnsucht, als er in
+der Erinnerung nun wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren
+glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen und verlor sich in
+seligen Gefühlen. Irgendwo schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung
+sank.
+
+Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über ihn und sehe ihn an
+mit ihren wundersamen, klaren Augen, die feucht schimmerten von
+glänzenden Tränen und einem hellen Glück, so still und rein, wie der
+hohe unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und aus ihrem Antlitz
+sprach eine so feierliche Stille und ihr Lächeln war eine solche
+Verheißung von unendlicher Seligkeit, war so voll Mitleid und
+Barmherzigkeit, und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung
+schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein Stöhnen sich seiner
+entkräfteten Brust entrang vor lauter Glück. Es war, als wolle sie ihm
+etwas sagen, etwas ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer
+Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig atmete er die
+Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte und gleichsam mit einer
+elektrischen Spannung für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die
+Arme aus, schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie stand vor
+ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem großen Schreck, am ganzen
+Körper vor Aufregung zitternd. Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und
+rang die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie sank zitternd an
+seine Brust ...
+
+
+ IV.
+
+„Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte Ordynoff, plötzlich
+erwacht, sie immer noch in starker und heißer Umarmung an sich pressend.
+„Was fehlt dir, Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“
+
+Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust.
+Lange Zeit vermochte sie nichts zu sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte,
+wie nach einem großen Schreck.
+
+„Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie endlich kaum vernehmbar
+hervor, als stehe ihr das Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht,
+wie ich zu dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch fester an
+ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften Gefühl küßte sie seine
+Schulter, seinen Arm, seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte
+sie die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als aber Ordynoff
+sie in einem unsagbaren Gefühl von Beklemmung emporhob und sie neben
+sich niedersetzen ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen
+baten wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre Lippen zwang,
+verriet, daß sie kaum zu versuchen wagte, die unbezwingbare Macht der
+neuen Empfindung zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos
+gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken: mißtrauisch
+schob sie ihn mit der Hand zurück, sah ihn kaum mehr an und antwortete
+gesenkten Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden
+Fragen. –
+
+„Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt? Oder ist dir sonst
+etwas Böses zugestoßen? Sag doch! Oder hat er dich erschreckt? ... Er
+fiebert und phantasiert ... Vielleicht hat er im Fieber etwas
+gesprochen, was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast etwas
+Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein Traum?“
+
+„Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete Katherina, mit Mühe ihre
+Aufregung niederringend. „Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur
+einmal rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief ihn –
+ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich nicht und wachte nicht auf.
+Er ist sehr schwer krank, möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich
+wieder der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete, betete! Und
+da, sieh, da kam das über mich ...“
+
+„Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb, sei ruhig! Wir haben
+dich gestern erschreckt ...“
+
+„Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ...
+
+„Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher schon geschehen?“
+
+„Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und schmiegte sich wieder wie
+ein geängstigtes Kind an ihn. „Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir
+gekommen,“ sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar drückte sie
+ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde es mir so schwer, allein zu
+sein! Also nicht mehr weinen, weine auch du nicht, wozu solltest du um
+fremdes Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage, wenn es dir in
+der Einsamkeit schwer wird und du keinen Menschen bei dir hast! ...
+Höre, hattest du eine Geliebte?“
+
+„Nein ... vor dir – keine ...“
+
+„Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“
+
+Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an, wollte etwas sagen, schwieg
+aber und senkte den Blick. Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das
+plötzlich wie in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die
+vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine Frage schien auf ihren
+Lippen zu schweben. Mit verschämter Schelmerei blickte sie ein-, zweimal
+zu ihm auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf.
+
+„Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte sie, und „nein,
+nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit leisem Kopfschütteln, und
+allmählich erschien wieder ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein,
+mein Lieber,“ fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte sein!“
+
+Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel Weh aus ihrem
+Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer, und so überraschend brach aus
+ihrem Innersten Verzweiflung hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches
+krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten Leid erfaßte:
+und er sah sie an, wie einer, dessen Mitleid ihm selbst zur noch
+größeren Qual wird.
+
+„Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit einer Stimme, die ihm ins
+Herz schnitt, und sie nahm seine Hände und drückte sie, wie um
+aufsteigende Tränen zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es
+nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und liebe mich nicht so,
+wie du mich jetzt liebst. Es wird dir dann leichter sein, du wirst dich
+vor einem argen Feinde bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich
+werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen und es mir
+doch nicht zur Schande werden lassen, daß ich dich kennen gelernt habe.
+War ich doch auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber hattest!
+Nimm mich als Schwester! Wir sind doch nicht umsonst einander gut und
+nicht umsonst hab’ ich unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet!
+Eine andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen Erdenrund,
+durchsuche den Himmel – nein, glaube mir, du wirst keine zweite finden,
+die dir eine solche Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um
+was dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben, werde dich ewig
+so lieben wie jetzt, und werde dich deshalb lieben, weil deine Seele so
+rein ist, so hell, so ... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil
+ich, als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß du meines
+Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter Gast, und uns nicht
+ohne Grund um Aufnahme batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen
+lieben, wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden. Und wenn
+sie etwas sagen, dann weiß ich gleich alles, was in dir ist, und dafür
+möchte man dann das Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen,
+möchte alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist süß,
+desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden hat ... Aber _mein_
+Leben, das gehört ja nicht mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der
+Wille ist gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein Bruder und
+hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder das Schlimme mich anficht. Nur
+sorge du selbst, daß ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen
+und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst du mich? Hat
+auch dein Herz es gehört? Hast du auch alles verstanden, was ich dir
+sagte? ...“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte
+die Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe sie alle
+Kraft, aufschluchzend sank sie an seine Brust und in einem Weinkrampf
+tobte ihre Leidenschaft sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte
+wie in Glut.
+
+„Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung die Augen umflorte
+und den Atem benahm. „Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen,
+was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen, zitternd
+vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen Zauber zu zerstören, den ganzen
+Sinnenrausch, und damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war und
+was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit hielt: so entrückt
+fühlte er sich! „Ich weiß nicht, ich verstehe dich nicht, ich habe
+vergessen, was du mir sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur
+das Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ...
+
+Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie schmiegte sich immer fester,
+immer wärmer, glühender an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig,
+sich noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit, sank er in
+die Knie vor ihr. Eine Erschütterung wie ein Schluchzen brach endlich
+schmerzhaft aus seiner Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen
+Körper – und von der Fülle der noch nie empfundenen Verzückung bebte
+seine Stimme, die tief aus seinem Innersten hervordrang, wie der Ton
+einer Saite, die man in Schwingung gebracht.
+
+„Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du? Aus welchem Himmel bist du
+zu mir herabgestiegen? Es ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch
+nicht glauben, daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich
+sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe schon lange
+einmal sprechen wollen ... wer bist du, meine Freude, sag? Wie hast du
+mein Herz gefunden? Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester?
+... Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl mir, wo hast du
+früher gelebt, was hast du dort geliebt? Erzähle mir alles, ich will
+alles von dir wissen! Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie bei
+uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor mir geliebt? Zu wem hat
+dich zuerst dein Herz gedrängt? ... Hast du deine Mutter gekannt und hat
+sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du wie ich unter
+Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist du immer so gewesen? Erzähl mir von
+deinen Träumen und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung gegangen ist
+und was nicht – erzähle mir alles! ... Wer war der erste, den dein
+Mädchenherz liebgewann und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir,
+was soll _ich_ dafür geben, was muß _ich_ dir geben ... für – dich?! ...
+Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein Schwesterchen, sag mir, womit kann
+ich mir dein Herz verdienen?“
+
+Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in ihren Schoß. Als er aber
+aufblickte, überlief es ihn vor Schreck: Katherina saß totenblaß und
+regungslos auf dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über ihn
+hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in stummem, unsagbarem
+Schmerz. Langsam erhob sie sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel
+vor dem alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche Worte
+entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie schien ohnmächtig zu werden.
+Ordynoff hob sie auf, trug sie auf sein Bett und stand in atemloser
+Angst über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf,
+bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu stützen, sah sich mit
+irrem Blick im Zimmer um, sah zu ihm auf und tastete nach seiner Hand.
+Sie zog ihn näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie
+etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich brach sie in
+einen Strom von Tränen aus.
+
+Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen zerriß dieselben und
+erstickte ihre Stimme. Als sie dann wieder den Kopf hob, sah sie mit
+solch einer Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand,
+sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus ihrem Munde zu verlieren.
+Endlich hörte er sie deutlich flüstern:
+
+„Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich bin verloren!“
+
+Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung an. Ein
+gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte ihn. Und Katherina sah dieses
+plötzliche schmerzliche Zusammenzucken seines Gesichtes.
+
+„Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser Mensch hat mich verführt,
+– _er_, _er_ ist mein Verderber! ... Ich habe ihm meine Seele verkauft
+... Warum, oh, warum hast du von der Mutter gesprochen! Wozu brauchtest
+du mich daran zu erinnern: Gott möge dir ... möge dir verzeihen! ...“
+
+Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz schlug so todesweh,
+daß er vor Schmerz hätte aufschreien mögen.
+
+„Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem Atem, „er
+sagt, wenn er stirbt, wird er kommen und meine sündige Seele holen ...
+Ich gehöre ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ... Und jetzt
+quält er mich und liest mir aus seinen Büchern vor ... Dort, sieh, das
+ist sein Buch! Dort! Er sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh,
+da liegt sein Buch, sieh ...“
+
+Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band. Ordynoff hatte nicht
+bemerkt, wie der in sein Zimmer geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es
+war eines von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten Büchern der
+Altgläubigen, wie er sie früher einmal gelegentlich gesehen hatte. Doch
+war er unfähig, seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken.
+
+Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu.
+
+„Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich geängstigt und
+erschreckt ... ich bin ja bei dir ... Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb,
+mein Licht!“
+
+„Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte wieder seine Hände. „Ich
+bin ja immer so! ... Immer fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle
+mich nicht, quäle mich nicht! ...“
+
+„Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile fort. „Manchmal
+bespricht er mich einfach mit seinen eigenen Worten, ein anderes Mal
+nimmt er sein Buch, das größte, und liest mir vor – liest so drohende
+und strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich verstehe auch
+nicht jedes Wort, aber mich überkommt dann solch eine Angst, und wenn
+ich auf seine Stimme horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er,
+sondern ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts erweicht und
+der so unerbittlich ist, daß es mir das Herz zermalmt und die Qual noch
+größer wird, als zu Anfang mein Gram war!“
+
+„Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“ sagte Ordynoff, ohne
+sich dessen recht bewußt zu sein, was er sprach.
+
+„Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich – ich weiß es nicht ... Er
+aber sagt mir immer: bete, bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler
+Nacht auf und bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der Schlaf,
+aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder, und dann kommt es mir
+vor, daß ringsum ein dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes
+droht, daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden, daß ich
+keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag und mich niemand vor dem
+Furchtbaren retten kann. Meine Seele will sich selbst verzehren, und es
+ist, als wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ... Dann fange
+ich wieder an, zu beten, und bete und bete, bis die Gottesmutter
+liebevoller auf mich herabschaut. Dann erst stehe ich auf und gehe
+halbtot wieder zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor dem
+Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor, daß er erwacht und mich
+ruft ... und dann liebkost und tröstet und beruhigt er mich ... und dann
+wird mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein Unglück auch
+noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht mehr. Er ist mächtig! Groß ist
+sein Wort!“
+
+„Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ... fragte Ordynoff zitternd,
+mit Verzweiflung im Herzen.
+
+Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum Tode Verurteilte an, der
+man die letzte Hoffnung auf Gnade nimmt.
+
+„Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin, meine Mutter
+hat mich verflucht! Ich habe meine eigene Mutter umgebracht!“ ...
+
+Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte sie sich an ihn. Er
+fühlte, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, als wolle sich ihre
+Seele diesem Körper entringen.
+
+„Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“ sagte sie, ganz
+beherrscht von der Erinnerung und ihrer Aufregung – und sie schien das
+unwiderruflich Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen
+Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es schon lange sagen,
+aber er verbot es mir immer, bald mit Bitten, bald mit Vorwürfen und
+zornigen Worten. Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran zu
+erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher. Mir aber kommt alles
+das – so auch heute nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ...
+Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her, ich weiß nicht
+einmal mehr, wann es war, und doch steht es vor mir, als wäre es gestern
+gewesen, wie ein Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein Herz
+bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch einmal so lang. Setze dich,
+setze dich hierher, ich werde dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche
+mich, die ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes Leben
+anvertrauen ...“
+
+Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am Sprechen verhindern, doch
+sie faltete die Hände, wie um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch
+Gehör zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung fort.
+Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft, ihre Stimme verriet den Sturm,
+der in ihrer Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles, denn
+ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben geworden, ihr Leid auch
+sein Leid. Er glaubte wieder seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind
+wuchs vor ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer, und
+es war ihm, als presse er mit ungeheurer Kraft sein Herz zusammen und
+spotte obendrein mit höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut
+begann zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken und brachte sie in
+Verwirrung. Da war es ihm denn, als stehe der boshafte Alte aus seinem
+Traum plötzlich auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig
+vor ihm.
+
+„Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina, „nur viel dunkler und
+grausiger, und der Wind heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie
+gehört hatte ... begann schon in jener Nacht mein Verderben? ... Die
+Eiche vor unseren Fenstern brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der
+immer zu uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann – erzählte,
+daß er sich dieser Eiche noch aus seiner Kindheit erinnere: damals sei
+sie schon ebenso groß gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In
+derselben Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen noch! – wurden
+Vaters Barken auf dem Fluß von diesem Sturm zertrümmert, und als die
+Fischer zu uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik – da fuhr der
+Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er krank war. Wir blieben allein,
+Mutter und ich. Wir saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber
+war so traurig und weinte still ... und ich wußte, warum sie weinte. Sie
+war erst vor kurzem vom Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und
+sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ... Plötzlich, um
+Mitternacht, höre ich: jemand klopft draußen an die Pforte. Ich sprang
+auf, alles Blut strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor
+Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete mich, aber ich
+nahm die Laterne und ging selbst hinaus, um zu öffnen ... Das war er!
+Mir wurde bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam, und das schon
+von Kindheit an, soweit meine Erinnerung zurückreicht, seitdem ich
+überhaupt denken kann! Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart
+war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis dahin hatte er mich
+noch kein einziges Mal freundlich angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter
+zu Hause?‘ Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht zu Hause
+sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und plötzlich sah er mich an, so
+an ... zum ersten Male sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er
+aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘ – ‚Ich überlege,‘
+sagte er. Langsam folgte er mir – als wir aber eintraten, fragte er
+plötzlich leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu Hause
+sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich schwieg ... Die Mutter
+erstarrte, als sie ihn sah – und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber
+schenkte ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz naß und
+durchfroren – woher er kam und wo er sich aufhielt, das haben Mutter und
+ich nie gewußt. Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen nicht
+gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den Tisch, die Fausthandschuhe
+streifte er ab – neigte sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot
+keinen Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans Feuer ...“
+
+Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke und quäle sie
+etwas, doch schon bald erhob sie ihn wieder und fuhr fort:
+
+„Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen. Ich verstand kein
+Wort. Früher hatte man mich immer fortgeschickt, wenn er kam; damals
+aber wagte die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu sagen. Der
+Böse kaufte meine Seele, ich aber sah die Mutter an, als wäre ich stolz
+darauf. Ich merkte, daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen.
+Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr – in der letzten
+Zeit hatte ich schon mehrmals seine Hand nach dem Dolch, den er vorn im
+Gürtel trug, greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich stand auf
+und griff nach seinem Gürtel, um ihm den Dolch zu entreißen. Er aber
+knirschte vor Wut und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die
+Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe ich auf der
+Stelle; es wurde mir dunkel vor den Augen und ich brach lautlos
+zusammen, aber ich schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast
+die Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm und den Ärmel an der
+Hand aufstreifte, mit der er mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch
+aus der Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab, die Hand,
+räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du Stolze, werde mich dafür
+tief bis zur Erde vor dir verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein
+Herz begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach ihm hin. Ich weiß
+noch, ich lächelte, sagte aber kein Wort und sah nur der Mutter in die
+traurigen Augen, und sah sie zornig an, während zugleich ein schlechtes
+Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die Mutter saß ganz bleich und
+totenstill ...“
+
+Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem Wort ihrer Erzählung.
+Doch allmählich legte sich ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger.
+Die Erinnerung überwältigte das arme junge Weib und löste ihren Gram in
+ein Gefühl auf, das weit hinaus über das ganze uferlose Meer ihrer Sinne
+reichte.
+
+„Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich nahm wieder die Laterne, um
+ihn hinauszugeleiten, indem ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie
+noch krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben wollte. Wir
+kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm, verscheuchte die Hunde, schwieg
+aber. Er blieb stehen und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich
+mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie er die Hand in den
+Mantel schiebt und aus der Brusttasche ein kleines, mit rotem
+Saffianleder überzogenes Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe
+hin: es sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘ sagte
+er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich zum Gruß diese Perlen
+bringen, doch nun habe ich sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes
+Mädchen, schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit dem
+Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie, aber zertreten wollte
+ich sie nicht – das wäre zuviel Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch
+und sagte kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte sie vor
+der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie genommen! Sie schwieg
+lange Zeit und war wie ein Handtuch so bleich, und, es war, als hatte
+sie Furcht, mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘ fragte sie
+endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat es der Kaufmann gebracht,
+mehr weiß ich davon nicht.‘ Und ich sah, wie ihr die Tränen über die
+Wangen herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde. ‚Nicht mir,
+böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß noch, so weh sprach sie die
+Worte, so weh, als sei ihre ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf –
+ich wollte mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen sagte
+ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab: ‚Nun, wenn nicht dir, dann
+wohl dem Vater. Wenn er zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm
+sagen, daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen haben ...‘ Da
+brach sie in Tränen aus und weinte bitterlich ... ‚Das werde ich selbst
+tun, werde dem Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach was
+für einer Ware sie fragten ... Ich werde es ihm schon sagen, wessen
+Tochter du bist, du Gottlose! Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist
+eine arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘ Ich schwieg
+und keine Träne trat mir ins Auge ... Ach! es war alles wie erstorben in
+mir ... Ich ging hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht
+horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem Sturm, das fühlte ich,
+immer lauschend, entstanden in mir meine Gedanken.
+
+„Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend der Vater heim, düster und
+böse, denn unterwegs hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich
+sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet ich, daß der Feind
+seinen Weg gekreuzt hatte. Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und
+ich wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ... Mit der Mutter
+sprach er kein Wort, nach mir fragte er nicht, die Leute ließ er alle
+zusammenrufen und befahl, die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus
+vor Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem Hause etwas
+nicht gut war. So wachten wir denn. Die Nacht verging langsam, wieder
+stürmte es draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung
+geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein Gesicht glühte, meine Augen
+weinten und mein Herz konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in
+mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem drückenden Zimmer, und
+weit weg, bis ans Ende der Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo
+das Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte und zitterte ...
+plötzlich, es war schon spät – ich erwachte wie aus leichtem Schlummer
+... oder hatte sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt?
+– plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht wird: ‚Mach auf!‘ – und
+ich sehe, ein Mensch ist an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte
+sogleich, wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ ihn in
+mein einsames Zimmer. Das war _er_! Die Mütze nahm er nicht ab, setzte
+sich auf die Truhe, und sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von
+Verfolgern hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte, daß ich bleich
+war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter
+auch?‘ – ‚Auch die Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen
+still ... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ – ‚Ein Pfeifen unter
+dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du jetzt, schönes Mädchen, den Feind um
+seinen Kopf bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem Verderben
+preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge ich mich: was du willst, das
+geschehe! Hier hast du einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir
+befiehlt, für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg. – ‚Nun?
+Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich
+will? Von meiner alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen, einer
+jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen, meine Seele verpfänden ...‘
+Ich lachte auf. Ich weiß selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz
+berühren konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach unten gehen,
+mein Herz prüfen und dem Vater und der Mutter meinen Gruß entbieten,‘
+sagte er und stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne
+aufeinanderschlugen, und ich mein Herz wie glühendes Eisen in der Brust
+fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die Tür. Doch wie er schon über die
+Schwelle trat, nahm ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor:
+‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht wieder, mir Geschenke zu
+bringen!‘ – und ich warf ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“
+
+Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie wechselte, wie schon oft
+während ihrer Erzählung, wieder die Farbe: ihre blauen Augen waren
+dunkel und glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von neuem und
+ihre Stimme senkte sich und bebte wie in verhaltener Trauer.
+
+„Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir, als habe mich ein
+Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre ich rufen, schreien, höre wie über
+den Hof die Leute laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich
+nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen; ich selbst blieb
+allein mit der Mutter. Ich wußte, daß sie mit dem Tode rang, seit drei
+Tagen lag sie schon im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte
+es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer, nur ein ganz
+schwacher, leiser Schrei, der so klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es
+im Traum erschrickt, und dann war wieder alles still ... Ich löschte das
+Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit, ich bedeckte das
+Gesicht mit den Händen, ich fürchtete mich, mich umzusehen. Dann drang
+plötzlich wieder Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der
+Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich weit zum Fenster
+hinaus – und ich sah: da brachten sie den Vater, tot, und ich hörte
+noch, wie man sagte: ‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade
+in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen haben!‘
+Ich sank auf mein Bett; kein Glied rührte sich, aber ich wartete, doch
+wußte ich selbst nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar war
+diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß. Ich weiß nur, daß
+ich schließlich ein Gefühl hatte, als drehe sich alles rund um mich. Im
+Kopf empfand ich einen dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die Augen.
+Und es freute mich, daß mir das Ende nahte. Da berührte plötzlich jemand
+meine Schultern und hob mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so
+gut ich sehen konnte: _er_ war es – und ganz versengt waren seine
+Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch und rochen nach Rauch.
+
+„‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe
+du mich aus dem Verderben, wie du mich ins Verderben hineingeführt hast.
+Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein aber kann ich für
+die Sünde dieser verwünschten Nacht nicht Vergebung erflehen – es sei
+denn, daß wir zwei gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der
+Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von hier fortkommt, ohne
+gesehen zu werden!‘ Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn. Wir
+stiegen die Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich schloß
+die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel trug ich bei mir – und
+wies auf das Fenster. Dort lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich
+auf seinen starken Arm und schwang sich mit mir aus dem Fenster. Hand in
+Hand liefen wir weiter, lange liefen wir. Dann stand endlich der dichte
+dunkle Wald vor uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns,
+Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes Mädchen, aber
+nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt, unser Leben zu lassen! Küsse
+mich, schönes Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ – ‚Wovon
+sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind meine Hände blutig, mein
+Lieb? Ich habe eure Hunde gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten
+Gast. Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem Waldweg meines
+Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel zerrissen und war aus dem Stall
+gelaufen: es hatte nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes
+Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘ Ich schwieg. ‚Oder
+willst du nicht? Ich bin doch kein Unchrist, kein böser Geist, da sieh,
+ich bekreuzige mich, wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das
+Kreuz. Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf und ich
+drückte mich an ihn und vergaß an seiner Brust alles um mich her, und es
+war ganz so, als hielte mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus
+diesem Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem breiten, breiten
+Fluß waren. Er stieg ab, hob mich vom Pferde und ging zum Schilf: dort
+hatte er seinen Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier noch
+den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte er, ‚geh, such dir einen
+neuen Herrn, die alten haben dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah!
+Ich schlang meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das Gesicht an
+sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen wir in den Nachen, er nahm
+die Ruder und bald lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer
+nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und schaute sich rings um
+auf dem Wasser. Und während er noch so schaute, murmelte er:
+
+„‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist manches Gottesmenschen
+Ernährerin und mir meine Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt,
+meine Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den Blick gesenkt,
+denn mein Antlitz brannte vor Scham. ‚Hättest du doch lieber alles
+genommen, du stürmische, unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und
+würdest mir nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare Perle zu
+hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein Wort, Mädchen, was bist du so
+stumm? – strahle Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der Nacht!‘
+Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein Herz brannte nach mir, ich
+fühlte es, aber doch wollte ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich
+wollte etwas sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen sollte, und
+so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du willst!‘ sagte dafür er zu
+meinem scheuen Schweigen, sagte es wie mit Trauer, und war sehr
+niedergeschlagen. ‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen. Gott
+mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein Haß gegen mich groß ist!
+Bin ich deinen blauen Augen so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘
+Ich hörte es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang ich mein
+Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht liebwert, wie kann ich das wissen,
+wohl aber eine andere Törichte, Schamlose, die ihr reines
+Mädchenstübchen in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für eine
+Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz nicht bezwungen hat. Das
+wissen vielleicht nur meine heißen Tränen und das sollte auch der noch
+wissen, der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht,
+obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig macht!‘ Ich
+sagte es, vermochte dann aber nicht länger an mich zu halten und brach
+in Tränen aus ... Er schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt
+erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann, und seine Augen
+brannten auf mir, ‚es sind keine leeren Worte, die ich dir sage, sondern
+es ist ein großes Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück
+schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr sein, wenn du
+mich aber einmal nicht mehr liebhast, – so mache keine unnützen Worte,
+sage nichts, bemühe dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen, ein
+Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung deines kleinen Fingers laß
+genug sein und ich gebe deine Liebe frei und schenke dir deine goldene
+Freiheit zurück. Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar Stolze,
+mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘ Da lächelten alle meine Sinne
+zu seinen Worten ...“
+
+In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung inne. Sie holte
+schwer Atem, lächelte sinnend vor sich hin und wollte fortfahren, doch
+da begegneten ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem Blick, der
+wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie zuckte zusammen, wollte etwas
+sagen, aber nur das Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun – wie
+fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren Kopf und warf sich mit
+dem Gesicht auf das Kissen. – Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles
+Gefühl, eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu geben
+vermochte und die unerträglich war, ergoß sich wie ein Gift durch alle
+seine Adern und wuchs, und wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb,
+eine gierig verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang
+sein ganzes Denken und tobte durch alle seine Gefühle. Gleichzeitig aber
+begann eine unendliche, uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu
+bedrücken. Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte,
+aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch schweigen solle. Er
+wollte sich ihr schon zu Füßen werfen und sie unter Tränen anflehen, ihm
+seine früheren Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch
+unverständliches reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte sich
+förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon lange versiegt waren.
+Sein Herz verging vor Sehnsucht und es war ihm, als sei es
+blutüberströmt und schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele
+nicht mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina ihm erzählte,
+und das Gefühl, das das arme junge Weib in ihm erregte, machte seine
+Liebe irre und scheu. In diesem Augenblick verfluchte er seine
+Leidenschaft: sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war
+ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch seine Glieder.
+
+„Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt erzählt habe!“
+sagte Katherina, sich wie nach einem plötzlichen Entschluß aufrichtend,
+„nicht das, nicht das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein
+neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der die ganze Qual
+ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen schien. „Mein Leid und mein
+Jammer ist etwas ganz anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf
+der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr finden kann! Was
+liegt mir daran, daß sie mich in einer bitteren Stunde verflucht hat!
+Was liegt mir an meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen
+Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt daran, daß ich mich
+dem Bösen verkauft und meine Seele dem Verderben hingegeben habe, daß
+ich für das kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es nicht,
+obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter ist mir dies und es
+zerreißt mein Herz, daß ich seine Sklavin geworden bin, daß meine
+Entehrung und Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige Herz
+sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als wäre sie eine Lust und
+ein Glück – das, nur das ist mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in
+ihm ist und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“
+
+Der Herzschlag stockte in der Brust des armen Weibes und ein
+krampfhaftes Aufschluchzen erstickte ihre Worte. Ihr Atem strich heiß
+über ihre brennenden Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre
+Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht war dabei in diesem
+Augenblick so bezaubernd, es sprach solch eine Flut von Gefühl und
+Leidenschaft aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte in
+einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche Empfinden, das in
+Ordynoffs Brust aufstieg, sofort wieder verschwand. Sein Herz drängte zu
+ihr hin, wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll
+Leidenschaft in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in den Wellen
+desselben Sturmes untertauchen, in demselben Ausbruch unbeschreiblicher
+Raserei, gemeinsam mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr
+sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick Ordynoffs und
+lächelte, daß eine doppelte Flammenglut sein Herz durchloderte. Er wußte
+nicht mehr, was mit ihm geschah.
+
+„Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte er ihr mit verhaltener
+Stimme zu und beugte sich zu ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem
+mit dem ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die Augen sah.
+„Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von deinem Leid nichts, meine Seele
+ist verwirrt ... Was geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was
+du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte mich nicht, bring
+mich nicht um! ...“
+
+Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen waren versiegt auf ihren
+heißen Wangen. Sie wollte ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen,
+wollte selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames Lächeln
+erschien langsam auf ihren Lippen, ja fast war es, als wolle ein Lachen
+hervorbrechen ...
+
+„So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“ sagte sie endlich mit
+stockender Stimme. „Höre weiter ... wirst du auch mir zuhören, du heißes
+Herz? Höre, was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig von
+ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie ich mit ihm ein Jahr
+verlebte, doch wozu ... Als aber dies Jahr vergangen war, da zog er mit
+seinen Freunden stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter am
+Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner Rückkehr verweilen. Ich
+wartete einen Monat, wartete noch einen – da begegnete mir im Städtchen
+ein junger Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich mich
+meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen, liebes Schwesterchen!‘
+sagte er, als er mich erkannte, ‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad:
+die Alten verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du mich
+vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben Ort wie du ...‘ – ‚Was
+sagt man dort von mir?‘ fragte ich. ‚Man sagt, du seist fortgegangen,
+habest deine Mädchenehre vergessen und dich einem Räuber, einem
+Seelenverderber hingegeben,‘ antwortete mir Aljoscha lachend. ‚Und was
+sagtest du von mir, Aljoscha?‘ ‚Vieles wollte ich dir sagen, als ich
+hierherkam,‘ – und sein Herz verwirrte sich – ‚vieles wollte ich dir
+sagen, aber jetzt, wo ich dich sehe, habe ich alles vergessen ...
+verdorben hast du mich!‘ sagte er leise. ‚So sei es denn, nimm auch
+meine Seele, und solltest du mein Herz auch verspotten und über meine
+Liebe lachen, du Schöne! ... Ich bin allein, habe mein Erbe und bin mein
+eigener Herr, und meine Seele ist mein, habe sie keinem verkauft, wie
+eine andere es getan, die ihr Gewissen begraben hat, und nicht zu kaufen
+brauchst du sie, umsonst gebe ich sie dir, denn verdienen läßt sie sich
+ja nicht, wie man sieht!‘ Ich lachte, und nicht ein- oder nur zweimal
+hat er mir das gesagt – einen ganzen Monat lebte er dort, ließ alles
+andere liegen, vergaß die Waren, entließ seine Leute, lebte dort ganz
+allein. Da tat er mir schließlich leid und ich sagte eines Morgens zu
+ihm: ‚Erwarte mich, Aljoscha, wenn die Nacht dunkelt, unten am
+Landungsplatz; laß uns dann zu dir fahren! Ich bin meines schalen Lebens
+hier überdrüssig!‘ Die Nacht kam, ich schnürte mein Bündelchen, und
+meine Seele begann sich zu sehnen und sie spielte mit meinen Gedanken.
+Da sehe ich – mein Herr tritt ein, ganz unerwartet, unverhofft! – ‚Sei
+gegrüßt,‘ sagte er. ‚Komm. Auf dem Fluß wird es heute Sturm geben, die
+Zeit drängt.‘ Ich folgte ihm; wir kamen an den Fluß, aber bis zu den
+Unsrigen war es weit. Da sehen wir – ein Boot hat angelegt und in ihm
+sitzt ein bekannter Ruderer, der jemand zu erwarten scheint. ‚Guten
+Abend, Aljoscha, Gott helfe dir!‘ sagt mein Herr. ‚Was, – hast dich
+verspätet oder willst du noch zu deinen Schiffen? Nimm uns mit, sei so
+gut und bringe uns zu den Unsrigen. Mein Boot ist nicht hier und ich
+kann nicht schwimmen.‘ – ‚Steige ein,‘ sagte Aljoscha, und mein ganzes
+Herz erbebte, als ich seine Stimme vernahm. ‚Setzt euch, der Wind ist
+für alle und in meinem Boot ist auch für euch noch ein Platz.‘ Wir
+stiegen ins Boot. Die Nacht war dunkel, die Sterne hatten sich
+versteckt, der Wind heulte und die Wellen wuchsen, vom Ufer aber waren
+wir bald schon über eine Werst weit entfernt. Wir schwiegen alle.
+
+„‚Sturm!‘ sagte endlich mein Herr. ‚Der bringt diesmal nichts Gutes!
+Einen solchen wie heut nacht habe ich auf dem Fluß noch niemals erlebt.
+Wir sind zu schwer für das Boot! Drei Menschen kann es bei diesem Sturm
+nicht tragen!‘ – ‚Ja, du hast recht, drei kann es nicht tragen, da ist
+einer von uns zu viel,‘ sagte Aljoscha, und in seiner Stimme klang ein
+verhaltenes Beben. ‚Nun was, Aljoscha?‘ sagte er, ‚ich kannte dich schon
+als kleines Kind, hab mit deinem seligen Vater Bruderschaft getrunken,
+haben uns Salz und Brot gegenseitig gebracht – nun sage mir, Aljoscha,
+könntest du ohne Boot von hier aus ans Ufer gelangen ... würdest du
+untergehen und dein Leben verlieren? – oder würdest du zur Not das Ufer
+erreichen?‘ – ‚Nein,‘ sagte Aljoscha, ‚ich würde es nicht erreichen.‘ –
+‚Aber wer weiß, vielleicht ist die Stunde dir hold und du könntest es
+doch?‘ – ‚Nein, bei dem stürmischen Fluß kann ich es nicht wagen, ich
+fände meinen Tod in den Wellen.‘ – ‚So höre jetzt, Katherinuschka, meine
+schönste vielkostbare Perle!‘ wandte er sich da an mich. ‚Ich erinnere
+mich einer ähnlichen Nacht, doch wogte da nicht die Welle, die Sterne
+glänzten hell und der Mond schien ... Ich will dich nur so, ganz
+harmlos, fragen, ob du sie nicht vergessen hast?‘ – ‚Nein,‘ sagte ich.
+‚Und wenn du sie nicht vergessen hast, dann wirst du dich wohl auch noch
+erinnern, wie ein Verwegener ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit
+zurückzugewinnen, wenn ihr jemand nicht mehr liebwert erscheint – was?‘
+– ‚Auch das habe ich nicht vergessen,‘ sage ich, mehr tot als lebendig.
+– ‚Ah! hast also nichts vergessen! Nun sieh – für das Boot sind drei zu
+schwer. Sollte da nicht jemandes Stunde gekommen sein? Sag, meine Liebe,
+sprich es aus, dein Wort, meine Taube, du Süße ...‘
+
+„Ich habe damals das Wort nicht gesagt!“ flüsterte Katherina erbleichend
+... Sie beendigte die Erzählung nicht.
+
+„Katherina!“ ertönte eine heisere dumpfe Stimme, Ordynoff fuhr zusammen.
+In der Tür stand Murin. Er stand regungslos, in die Pelzdecke gehüllt,
+stand totenbleich und sah sie mit starrem, fast irrsinnigem Blick an.
+Katherina erblaßte und auch ihr Blick hing starr, wie gebannt an ihm.
+
+„Komm zu mir, Katherina!“ flüsterte der Kranke kaum vernehmbar und
+verließ das Zimmer. Katherina sah aber immer noch starr auf die Tür, als
+stehe er noch dort. Plötzlich jedoch stieg das Blut heiß in ihre
+bleichen Wangen und sie erhob sich langsam vom Bett. Ordynoff entsann
+sich der ersten Begegnung.
+
+„Also auf morgen denn, mein Herz!“ sagte sie, und es klang wie ein
+seltsames leises Auflachen. „Also auf morgen. Vergiß aber nicht, wo ich
+stehen geblieben bin: ‚Wähle einen von beiden: wer ist dir lieb und wer
+nicht lieb von ihnen, du Schöne!‘ Wirst’s nicht vergessen? wirst eine
+Nacht dich gedulden?“ fragte sie, indem sie die Hände auf seine
+Schultern legte und zärtlich auf ihn herabsah.
+
+„Katherina, geh nicht zu ihm, tu’s nicht! Er ist wahnsinnig, siehst du’s
+denn nicht!“ flüsterte Ordynoff, zitternd für sie.
+
+„Katherina!“ rief Murins Stimme hinter der Wand.
+
+„Warum nicht? Er wird mich ermorden, meinst du?“ fragte Katherina
+lachend. „Gute Nacht, mein Geliebter, mein lieber Bruder!“ sagte sie,
+zärtlich seinen Kopf an ihre Brust drückend, während plötzlich Tränen
+aus ihren Augen brachen. „Das sind die letzten Tränen. Verschlafe dein
+Leid, mein Geliebter, sollst morgen zur Freude erwachen!“ Und sie küßte
+ihn leidenschaftlich.
+
+„Katherina, Katherina!“ flehte Ordynoff, und wollte vor ihr niederknien,
+um sie zurückzuhalten, „Katherina!“
+
+Sie wandte sich noch einmal nach ihm um, nickte ihm lächelnd zu und
+verließ das Zimmer. Ordynoff hörte, wie sie bei Murin eintrat. Er hielt
+den Atem an und lauschte, doch kein Laut war zu vernehmen. Der Alte
+schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos ... Er wollte zu ihr gehen,
+doch seine Füße versagten ... Er verlor alle Kraft und sank erschöpft
+auf das Bett zurück ...
+
+
+ V.
+
+Als er wieder zu sich kam, vermochte er zunächst gar nicht
+festzustellen: War es erste Morgen- oder späte Abenddämmerung? Das
+Zimmer lag fast vollständig im Dunkel. Das Lämpchen vor dem
+Heiligenbilde mußte erloschen sein. Er wußte nicht, wie lange er
+geschlafen hatte, er fühlte nur, daß sein Schlaf krankhaft gewesen war.
+Als er zu sich kam, strich er sich unwillkürlich mit der Hand über das
+Gesicht, als wolle er einen Traum und nächtliche Visionen verscheuchen.
+Doch als er aufzustehen versuchte, fühlte er sich am ganzen Körper wie
+zerschlagen und seine erschöpften Glieder versagten den Dienst. Sein
+Kopf schmerzte, ihm schwindelte, und Frostschauer überliefen seinen
+Körper, denen dann wieder glühende Fieberwellen folgten. Mit dem
+Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung zurück und sein Herz krampfte sich
+zusammen und erzitterte, als er in einer Sekunde die ganze letzte Nacht
+wiedererlebte. Sein Herz schlug bei der Erinnerung so stark, und seine
+Empfindungen waren so heiß und unmittelbar, als wären nicht eine Nacht,
+nicht lange Stunden vergangen, seit Katherina ihn verlassen, sondern
+kaum eine Minute. Er fühlte, daß seine Augen noch von den Tränen
+brannten – oder waren es neue Tränen seiner heißen Seele? Und doch – wie
+ein Wunder schien ihm alles – in seinen Qualen lag für ihn eine Süße und
+Lust, obschon er gleichzeitig mit jedem Nerv seines Körpers fühlte, daß
+er eine solche Vergewaltigung ein zweites Mal nicht mehr ertragen würde.
+Es kam ein Augenblick, wo er fast den Tod fühlte und bereit war, ihn wie
+einen lichten Gast zu empfangen, der in weiblicher Gestalt ihm nahte:
+bis zu einer solchen Spannung war seine Empfindungsfähigkeit gesteigert,
+mit solch einer stürmischen und machtvollen Allgewalt wogte jetzt, nach
+dem Erwachen, seine Leidenschaft von neuem auf, und solch ein Entzücken,
+solch eine Begeisterung erfüllte seine Seele, daß sein Leben, bis in
+schwindelnde Höhen gesteigert, gleichsam im Begriff war,
+zusammenzubrechen und niederzustürzen, sofort zu verwesen und auf ewig
+zu vergehen ... Fast in demselben Augenblick, als wär’s eine Antwort auf
+seinen Schmerz, auf das Zittern seines Herzens, erklang eine Stimme, die
+ihm so bekannt schien, wie das innere Klingen und Tönen, das die
+Menschenseele in Stunden der Freude, in Stunden großen Glückes über ihr
+Dasein empfindet – es war die weiche, volltönende Stimme Katherinas.
+Ganz nah, fast wie am Kopfende seines Bettes begann ein Lied, zu Anfang
+leise und schwermütig. Dann hob sich die Stimme und senkte sich wieder,
+wie in leisem Verhallen, als vergehe sie und wiege dabei doch noch
+zärtlich die unruhvolle Qual des eigenen unterdrückten Verlangens, das
+in ihrem sich sehnenden Herzen für ewig gefangen war. Bald wieder
+schwang sie sich hoch empor und ergoß sich zitternd und glühend von
+einer Leidenschaft, die sich nicht länger zurückhalten ließ, in ein
+ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer von zaubermächtigen, uferlosen
+Tönen, so selig, wie der erste selige Augenblick der Liebe. Ordynoff
+vernahm auch Worte: sie waren der rührend schlichte, zu Herzen gehende
+Ausdruck eines reinen, ruhigen, weil selbstverständlichen und klaren
+Gefühls – der Form nach alte, schon längst verklungene Worte, wie der
+Volksmund sie in früheren Zeiten gedichtet. Doch Ordynoff dachte nicht
+an ihren Sinn, er vergaß sie, er hörte nur die Töne, und aus den
+treuherzigen naiven Strophen des alten Liedes sprachen zu ihm ganz, ganz
+andere Worte – Worte, in denen dieselbe Sehnsucht zitterte, die seine
+eigene Brust erfüllte, Worte, die wie ein Widerhall der geheimsten und
+tiefsten, ihm selbst noch halb unverständlichen Regungen seiner
+Leidenschaft waren und die nun, da sie im Liede zu ihm drangen, ihm
+verrieten, wie sehr auch sie um dieselben wußte. Er glaubte, den letzten
+bangen Laut eines vor Liebe vergehenden Lebens zu hören, dann wieder die
+aufjauchzende Freude eines Willens, der seine Ketten gesprengt und licht
+und frei ins unermeßliche Meer unversehrbarer Seligkeit strebte; dann
+wieder war es ihm, als hörte er das erste zitternde Liebesgeständnis,
+unter Erröten und Tränen in heimlichem zagen Flüstern von Mädchenlippen,
+noch mit dem ganzen Duft süßer Scham; dann wieder stieg gleichsam der
+Wunsch einer Bacchantin auf, die stolz und froh ob ihrer Macht,
+unverhüllt, des Geheimnisses bar, mit sprühendem Lachen und trunken
+schweifendem Blick im Kreise sich umschaut ...
+
+Ordynoff hielt es nicht aus bis zum Ende des Liedes und erhob sich vom
+Bett. Das Lied verstummte sogleich.
+
+„Der gute Morgen und der gute Tag sind vorbei, mein Ersehnter!“ sagte
+Katherinas Stimme hinter der Wand, „also sage ich jetzt guten Abend zu
+dir! Steh auf, komm zu uns, erwache zu heller Freude: wir erwarten dich,
+ich und mein Herr, beides gute Leute und dir ergeben. Lösche mit Liebe
+den Haß, wenn das Herz uns die Kränkung noch nachträgt. Sage ein
+freundliches Wort! ...“
+
+Ordynoff verließ bereits sein Zimmer, wußte aber eigentlich selbst kaum,
+daß er zu ihnen ging. Vor ihm öffnete sich die Tür und er sah und
+schaute und war wie geblendet von dem goldenen Lächeln der Wundersamen,
+die vor ihm stand. Er hörte und sah nichts und niemanden außer ihr. Im
+Augenblick war ihre Lichtgestalt der Inbegriff seines ganzen Lebens,
+seiner ganzen Freude.
+
+„Zwei Sonnenröten sind schon vergangen, seit wir Abschied nahmen,“ sagte
+sie, und sie streckte ihm die Hände entgegen, „da sieh durch das
+Fenster, auch die zweite ist schon erloschen. Sie waren ähnlich dem
+Erröten eines schönen Mädchens,“ fuhr sie lachend fort, „die erste
+Morgenröte war wie die Glut, mit der das Mädchen zum erstenmal das Herz
+in der Brust schlagen fühlt; und die zweite wie wenn die Schöne ihre
+Scheu vergißt und das Blut feurig ins Antlitz steigen spürt. ... Tritt
+ein, tritt ein in unser Haus, du Junger! Was stehst du noch auf der
+Schwelle? Ehre werde dir zuteil und Liebe und als erstes ein Gruß vom
+Hausherrn!“
+
+Und mit hellem Lachen erfaßte sie Ordynoffs Hand und führte ihn ins
+Zimmer. Befangenheit überkam sein Herz. Das ganze Feuer, das in seinem
+Inneren flammte, war wie im Augenblick erloschen, doch nur für einen
+Augenblick. Verwirrt senkte er das Auge, um sie nicht anzusehen. Er
+fühlte, sie war von so bezaubernder Schönheit, daß er ihren heißen Blick
+nicht würde ertragen können. Nein, so hatte er sie noch nie gesehen! Zum
+erstenmal sah er Freude und den Zauber des Lachens in ihrem Gesicht, und
+ihre dunklen Wimpern glänzten nun nicht mehr von vergossenen Tränen.
+Seine Hand lag bebend in ihren Händen. Hätte er den Blick erhoben, so
+würde er gesehen haben, daß Katherinas strahlende Augen mit
+triumphierendem Lächeln an seinen Mienen hingen, in denen sich deutlich
+Verwirrung und Leidenschaft widerspiegelten.
+
+„Stehe auf, Alter!“ sagte sie endlich, als käme sie selbst erst und mit
+einem Male zur Besinnung, „sage dem Gast ein freundliches Wort zum Gruß.
+Er ist unser Gast und mir so gut wie ein leiblicher Bruder! Stehe auf,
+stolzer Alter, sei nicht hochmütig, steh auf, entbiete ihm einen Gruß,
+fasse seine weiße Hand, bitte ihn an den Tisch!“
+
+Ordynoff sah auf, und es war ihm, als käme er jetzt erst zu sich: er
+hatte Murin ganz vergessen, an seine Anwesenheit gar nicht gedacht. Die
+Augen des Alten, die wie in Todesahnen erloschen schienen, sahen ihn
+unbeweglich an, und mit einem stechenden Schmerzgefühl erinnerte sich
+Ordynoff jenes Blickes, der ihn das letztemal unter den buschigen
+überhängenden Brauen hervor getroffen hatte, und diese Brauen waren auch
+jetzt wieder wie in Qual und Grimm zusammengezogen. Ein leichtes
+Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er sah sich um: und da erst kam ihm klar
+zum Bewußtsein, wo er sich eigentlich befand. Murin lag noch immer auf
+dem Bett, war jedoch fast vollständig angekleidet und es machte den
+Eindruck, als sei er bereits am Morgen aufgestanden und tagsüber
+ausgegangen. Um den Hals trug er wieder ein rotes Tuch, die Füße staken
+in Hausschuhen. Die Krankheit war offenbar überstanden, nur sein Gesicht
+war noch auffallend blaß und fast gelb. Katherina stand neben dem Bett,
+stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sah aufmerksam von dem einen
+zum anderen: doch das freundliche Lächeln schwand nicht aus ihrem
+Gesicht. Es schien beinahe, als geschehe alles auf einen Wink von ihr.
+
+„Ja! Das bist du,“ sagte Murin, indem er sich langsam erhob und auf das
+Bett setzte. „Du bist mein Mieter. Ich bin schuldig vor dir, Herr, habe
+gesündigt und dich, ohne es zu wollen, erschreckt – gestern, mit der
+Flinte. Wer konnt’s denn wissen, daß dich auch mitunter Krankheit
+heimsucht! Bei mir aber kommt das vor,“ fügte er mit rauher, von der
+Krankheit noch heiserer Stimme hinzu. Seine Stirn runzelte sich und
+unwillkürlich wandte er den Blick von Ordynoff ab. „Unglück pflegt sich
+nicht vorher anzumelden, wenn es kommt, schleicht es sich wie ein Dieb
+heran und ist da! Auch ihr hab’ ich vor kurzem beinahe das Messer in die
+Brust gestoßen ...“ brummte er, mit dem Kopf nach Katherina weisend.
+„Ich bin ein kranker Mensch, habe zuweilen meine Anfälle – nun, was ist
+da noch viel zu erklären, das mag dir genügen! Setz dich – wirst mein
+Gast sein.“
+
+Ordynoff sah ihn immer noch unverwandt an.
+
+„Setz dich, so setz dich doch!“ rief der Alte ungeduldig, „wenn’s ihr
+nun mal Freude macht! ... Hm! Da seid ihr nun also sozusagen
+Geschwister, seht doch mal an! Habt euch ja lieb, recht wie ein
+Liebespaar!“
+
+Ordynoff setzte sich.
+
+„Sieh doch, was du da für eine Schwester hast,“ fuhr der Alte lustig
+fort, und er lachte, daß man alle seine ausnahmslos noch weißen, schönen
+Zähne sehen konnte. „So tut doch zärtlich, meine Lieben! Hast du nicht
+eine schöne Schwester, Herr? Sprich doch, antworte! Da, sieh sie doch
+an, sieh, wie ihre Wangen glühen. So sage doch, daß sie eine Schönheit
+ist, rühme doch vor der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, wie sehr dein
+Herz nach ihr verlangt!“
+
+Ordynoff runzelte die Stirn und sah den Alten an. Der zuckte zusammen
+unter seinem Blick. In Ordynoffs Brust stieg eine blinde Wut auf. Mit
+geradezu tierischem Instinkt fühlte er, daß er seinen Todfeind vor sich
+hatte. Er begriff selbst nicht, was mit ihm geschah. Er vermochte nicht
+mehr zu denken –
+
+„Sieh mich nicht an!“ erklang da Katherinas Stimme hinter ihm. Ordynoff
+blickte sich um.
+
+„Sieh mich nicht an, sage ich dir, wenn der Böse dich zu Bösem verleitet
+– hab Mitleid mit deiner Liebsten,“ sagte Katherina lachend, und
+plötzlich legte sie ihm hinterrücks die Hände auf die Augen, – zog sie
+aber sogleich wieder zurück und bedeckte mit ihnen ihr eigenes Gesicht.
+Doch die flammende Röte leuchtete gleichsam durch ihre Finger: sie ließ
+die Hände sinken und mühte sich, offen und furchtlos den Blicken der
+beiden Männer standzuhalten. Die aber sahen sie beide nur schweigend an
+– Ordynoff mit einer gewissen verwunderten Liebe, die sein Herz zum
+erstenmal zu der Schönheit eines Weibes empfand, der Alte dagegen
+aufmerksam, forschend und kalt. Sein bleiches Gesicht verriet nicht das
+geringste, nur seine Lippen waren blaß und bebten leise.
+
+Katherina war gleichfalls ernst geworden, trat an den Tisch und begann,
+die Bücher, Papiere, das Tintenfaß und alles übrige abzuräumen. Sie
+atmete schnell und ungleichmäßig. Von Zeit zu Zeit holte sie tief Atem,
+als sei’s ihr im unruhig schlagenden Herz eng und schwer. Schwer, wie
+die Woge am Ufer, senkte sich und hob sich von neuem ihre Brust. Sie sah
+nicht auf, und die dunkeln langen Wimpern glänzten seidig über ihren
+zarten Wangen ...
+
+„Meine Königin!“ flüsterte Ordynoff. Er besann sich aber sofort, denn er
+fühlte den Blick des Alten auf sich ruhen. Wie ein Blitz, in einem Nu
+war dieser Blick aufgeflammt, gierig, bohrend, gehässig, feindlich, mit
+kalter Verachtung. Ordynoff erhob sich, aber eine unsichtbare Macht
+schien seine Füße gefesselt zu haben. Er setzte sich wieder. Und er
+drückte seine eigene Hand, als traue er nicht der Wirklichkeit, die ja
+vielleicht nur ein Traum sein konnte. Es war ihm, als ob ein Alb ihn
+bedrücke und als ob seine Augen in peinvollem und krankhaftem Dämmer
+geschlossen lagen. Doch sonderbar! Er wollte nicht erwachen!
+
+Katherina nahm den Teppich vom Tisch, öffnete eine Truhe, der sie ein
+kostbares Tischtuch entnahm, das reich mit Stickereien in Seide und
+Goldfäden verziert war, und breitete es über den Tisch; dann holte sie
+aus dem Schrank eine altertümliche, aus schwerem Silber gearbeitete
+Kanne, an der nach alter Art die silbernen Becher hingen – stellte sie
+mitten auf den Tisch und nahm drei Becher von den Häkchen: einen für den
+Hausherrn, einen für den Gast und einen für sich selbst. Mit ernstem,
+fast nachdenklichem Blick sah sie auf den Alten, dann auf den Gast.
+
+„Wer ist nun von uns einem anderen lieb oder nicht lieb?“ fragte sie.
+„Wer niemandem lieb ist, der soll mir lieb sein und wird mit mir aus
+einem Becher trinken. Mir aber ist jeder von euch lieb, lieb, wie ein
+Nahestehender: deshalb laßt uns auf die Liebe und die Eintracht
+trinken!“
+
+„Trinken und die schwarzen Gedanken im Wein ertränken!“ sagte der Alte
+mit veränderter Stimme. „Schenke ein, Katherina!“
+
+„Und dir auch?“ fragte Katherina, indem sie Ordynoff ansah.
+
+Der schob schweigend seinen Becher hin.
+
+„Wartet!“ rief plötzlich der Alte und erhob sein Glas. „Hat jemand von
+uns etwas Besonderes auf dem Herzen, so möge es nach seinem Wunsch in
+Erfüllung gehen!“
+
+Sie stießen an und tranken.
+
+„Nun laß uns beide trinken,“ sagte Katherina, sich an den Alten wendend,
+„trinken wir, wenn dein Herz mir gut ist! Trinken wir auf das erlebte
+Glück, laß uns die vergangenen Jahre grüßen! Aus dem Herzen, dem Glück
+in Liebe ein Gruß! So laß dir doch einschenken, Alter, wenn dein Herz
+noch immer für mich glüht!“
+
+„Dein Wein ist stark, mein Täubchen, du selbst aber hast nur die Lippen
+benetzt!“ sagte der Alte lachend und hielt seinen Becher hin.
+
+„Ich werde dir jetzt einschenken, du aber trinke den Wein bis zur Neige!
+... Wozu leben, Alterchen, und ewig schwere Gedanken mit sich
+herumtragen! Das bedrückt nur das Herz. Gedanken kommen vom Kummer und
+Gedanken schaffen Kummer, im Glück da lebt man ohne Gedanken! Trink,
+Alter! Ertränke deine Gedanken!“
+
+„Da muß ja in dir viel Kummer sich angesammelt haben, wenn du dich
+plötzlich so gegen ihn wappnen willst! Möchtest wohl mit einemmal allem
+ein Ende machen, meine weiße Taube? Ich trinke auf dein Wohl, Katjä!
+Aber du, hast auch du einen Kummer, Herr, wenn du erlaubst, zu fragen?“
+
+„Was ich habe, das habe ich für mich,“ murmelte Ordynoff, ohne seine
+Augen von Katherina abzuwenden.
+
+„Hast du gehört, Alterchen? Ich habe mich selbst lange nicht gekannt und
+an nichts zurückgedacht, da kam aber eine Stunde und ich erkannte alles
+und erinnerte mich an alles: da hab’ ich alles Vergangene mit
+unersättlicher Gier in der Seele nochmals erlebt.“
+
+„Ja, es ist bitter, wenn man durch Vergangenes sich wieder
+durchzuarbeiten anfängt,“ bemerkte der Alte nachdenklich. „Was vergangen
+ist, ist wie getrunkener Wein! Was ist vergangenes Glück? Hat man einen
+Rock abgetragen, dann fort mit ihm ...“
+
+„Dann ist ein neuer nötig!“ fiel ihm Katherina ins Wort, mit etwas
+erzwungenem Lachen, während zwei große Tränen an ihren Wimpern
+erglänzten. „Da sieht man, ein Menschenalter kann nicht in einem
+Augenblick vergehen, und ein Mädchenherz hat ein zähes Leben: das ist
+nicht so leicht erschöpft! Hast du’s erfahren, Alter? Sieh, da habe ich
+eine Träne in deinem Becher begraben!“
+
+„War es denn viel Glück, für das du dein Leid verkauftest?“ fragte
+Ordynoff und seine Stimme zitterte vor Erregung.
+
+„Du hast wohl, Herr, viel eigenes zu verkaufen,“ versetzte der Alte,
+„daß du dich ungebeten vordrängst.“ Und er lachte lautlos und boshaft
+und sah dabei Ordynoff frech an.
+
+„Wofür ich es verkaufte, das war auch danach,“ antwortete Katherina mit
+einer Stimme, aus der eine gewisse Unzufriedenheit und Gekränktheit zu
+klingen schien. „Dem einen scheint es viel, dem anderen wenig. Der eine
+will alles hingeben, es wird ihm aber nichts dafür geboten; der andere
+verheißt nichts, und doch folgt ihm das Herz gehorsam. Du aber, mach
+deshalb niemandem einen Vorwurf.“ Sie wandte das Gesicht nach ihm hin
+und sah ihn traurig an. „Der eine ist so ein Mensch, der andere ein
+anderer – weiß man’s denn selbst, weshalb die Seele gerade zu dem einen
+drängt! Fülle deinen Becher, Alter! Trinke auf das Glück deiner lieben
+Tochter, deiner gehorsamen Sklavin, wie einst, als sie dich erst noch
+lieben lernte. Nun, erhebe den Becher!“
+
+„Wohlan! So schenke auch dir ein!“
+
+„Warte, Alter! Trink noch nicht, laß mich zuvor noch ein Wort sagen!
+...“
+
+Katherina stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah regungslos mit
+glänzendem, leidenschaftlichem Blick dem Alten in die Augen. Eine
+eigentümliche Entschlossenheit lag plötzlich in diesem Blick. Doch alle
+ihre Bewegungen waren sicher, ihre Gesten kurz, unerwartet, schnell. Es
+war, als sei Feuer in ihr und wunderbar nahm sich das aus. Ihre
+Schönheit schien mit ihrer Erregung, mit ihrer Spannung zu wachsen. Sie
+lächelte und wie Perlen erglänzten ihre gleichmäßigen Zähne zwischen den
+Lippen. Ihr Atem war kurz und unterbrochen durch die Erregung. Ihre
+feinen Nasenflügel bebten. Der eine ihrer schimmernden Zöpfe, die sie
+zweimal um den Kopf geschlungen trug, hatte sich gelöst und gesenkt und
+bedeckte das linke Ohr und einen Teil der heißen Wange. Ihre Schläfen
+glänzten feucht.
+
+„Sage mir wahr, Alter! Sag mir wahr, mein Guter, sag, bevor du deinen
+Verstand vertrinkst! Hier hast du meine weiße Hand! Nennen dich doch die
+Leute bei uns nicht umsonst einen Zauberer. Du hast aus Büchern gelernt
+und kennst jede schwarze Wissenschaft! So sieh dir jetzt die Linien
+meiner Hand an, Alterchen, und verkünde mir mein ganzes unseliges Los!
+Nur sieh zu, daß du die Wahrheit sagst! ... Nun, sage mir, wie du es
+weißt und meinst – wird dein Töchterchen glücklich sein oder verzeihst
+du ihr nicht und rufst ihr durch deine Zauberstücke herbes Leid auf den
+Weg? Sage, wird der Winkel warm sein, in dem ich mich einnisten werde,
+oder soll ich, wie ein Zugvogel, mein Leben lang gleich einer Waise bei
+guten Leuten Unterkunft suchen? Sage, wer ist mein Feind und hegt Arges
+gegen mich im Sinn? – und wer ist mein Freund und hat für mich nur Liebe
+im Herzen? Sage, wird mein junges heißes Herz sein Lebtag einsam bleiben
+und vor der Zeit verstummen, oder wird es ein anderes Herz finden, das
+ihm gleich ist, und im gleichen Pulsschlag der Freude mit ihm schlagen
+... bis zu neuem Leid! Und sage mir, Alterchen, wenn du schon einmal
+wahrsagst, wo, unter welchem blauen Himmel, hinter welchen fernen Meeren
+und Wäldern mein heller Falke denn lebt, sag mir, wo, und ob er auch mit
+scharfem Auge nach seinem Falkenweibchen Ausschau hält, und ob er auch
+in Liebe wartet, ob er es auch heiß lieben oder ob er die Liebe bald
+verlernen und mich betrügen, oder ob er mich nicht betrügen und mir treu
+bleiben wird? Und dann sprich auch schon das Letzte und Allerletzte aus,
+Alter: sag, ist es uns beiden bestimmt, lang noch gemeinsam die Zeit zu
+verbringen, hier im armseligen Winkel zu sitzen, dunkle Bücher zu lesen?
+Oder wann werde ich von dir Abschied nehmen, mich tief vor dir neigen
+und dir für deine Gastfreundschaft danken, und dafür daß du mir Speise
+und Trank gegeben und mir Märchen erzählt hast? ... Aber sieh zu, daß du
+mir die Wahrheit sagst, lüge nicht! Die Zeit ist gekommen, jetzt steh
+für dich ein!“
+
+Ihre Erregung war mit jedem weiteren Wunsche gewachsen, bis ihre Stimme
+bei den letzten Worten die Gewalt über sich verlor, als risse ein
+Wirbelsturm ihr Herz mit sich fort. Ihre Augen blitzten und ihre Lippen
+schienen leise zu beben. Und doch hatte aus ihrer Stimme zugleich ein
+boshafter Spott geklungen – wie eine Schlange wand er sich versteckt
+durch ihre Worte – und es war, als habe ein Schluchzen in ihrem Spott
+geklungen, der doch voll Lachen sein sollte. Sie hatte sich über den
+Tisch zu dem Alten gebeugt und sah ihm mit forschender Neugier in seine
+umflorten Augen. Ordynoff hörte, als sie verstummte, wie ihr Herz
+plötzlich heftig zu klopfen begann; er sah sie an und wollte aufjauchzen
+vor Entzücken, und war schon im Begriff, sich von der Bank zu erheben.
+Da traf ihn ein flüchtiger, kurzer Blick des Alten und wie gebannt, wie
+gelähmt blieb er auf seinem Platz: es war eine seltsame Mischung von
+Verachtung, Spott, ungeduldiger, ärgerlicher Unruhe und zugleich
+boshafter, arglistiger Neugier, die aus diesem flüchtigen jähen Blick
+aufblitzte, aus diesem Blick, unter dem Ordynoff jedesmal zusammenfuhr
+und der sein Herz stets mit Haß und ohnmächtiger Wut erfüllte.
+
+Nachdenklich und mit einer eigentümlichen traurigen Neugier betrachtete
+der Alte seine Katherina. Sie hatte sein Herz getroffen, durchbohrt, das
+Wort war jetzt von ihr ausgesprochen – und doch hatte er nicht einmal
+mit einer Wimper gezuckt. Er lächelte nur, als sie verstummt war.
+
+„Willst viel auf einmal erfahren, mein flügge gewordenes, mein
+flugbereites Vögelchen! Fülle mir schnell noch den tiefen Becher; und
+dann laß uns trinken: zuerst auf die Entzweiung und auf den guten
+Willen; sonst verderbe ich noch durch irgend jemandes bösen unsauberen
+Blick meinen Wunsch. Der Teufel ist stark! Wie weit ist’s denn bis zur
+Sünde!“
+
+Er hob seinen Becher und leerte ihn. Je mehr er trank, um so bleicher
+wurde er. Seine Augen röteten sich und glühten wie Kohlen. Es war
+augenscheinlich, daß ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche
+Totenblässe die Vorläufer eines baldigen neuen Anfalls waren. Der Wein
+aber war schwer und feurig. Auch Ordynoff fühlte von dem einen Becher,
+den er geleert, seinen Blick heiß und unsicher werden: sein durch das
+Fieber erregtes Blut konnte nicht lange dem Geist des Weines widerstehen
+und überstürmte sein Herz, quälte und verwirrte seinen Verstand. Seine
+Unruhe wuchs mit jeder Minute. Und er schenkte sich noch von dem
+schweren Wein in den Becher und trank einen Schluck, ohne selbst zu
+wissen, was er tat oder wie er gegen seine wachsende Erregung ankämpfen
+sollte, und das Blut jagte noch stürmischer durch seine Adern. Er war
+wie von einem Fiebertraum fortgerissen und vermochte kaum noch, trotz
+krampfhaftester Anspannung seiner ganzen Aufmerksamkeit, zu verfolgen,
+was zwischen dem Alten und Katherina vorging.
+
+Der Alte klopfte laut mit dem Becher auf den Tisch.
+
+„Schenk ein, Katherina!“ rief er, „schenk ein, böses Töchterchen, schenk
+ein, bis ich trunken bin! Beseitige den Alten, es ist auch genug für
+ihn! So ist’s recht, schenk ein, meine Schöne, ganz voll – so! Nun laß
+uns beide trinken! Warum hast du denn so wenig getrunken? Oder habe ich
+es nicht gesehen ...?“
+
+Katherina entgegnete ihm etwas, doch Ordynoff begriff die Worte kaum,
+und der Alte ließ sie nicht zu Ende sprechen: er ergriff ihre Hand, als
+habe er nicht mehr die Kraft, all das zurückzuhalten, was seine Brust
+einschloß. Sein Gesicht war bleich und sein Blick umflorte sich bald,
+bald flammte er auf und dann brannte in ihm ein unheimliches Feuer.
+Seine farblosen Lippen zuckten und mit ungleichmäßiger, schwankender
+Stimme, aus der hin und wieder eine seltsame Begeisterung klang, sagte
+er zu ihr:
+
+„Gib dein Händchen, du Schöne! Ich werde dir wahrsagen, werde dir die
+ganze Wahrheit sagen. Ich bin wirklich ein Zauberer, da hast du dich
+nicht geirrt, Katherina! Dein goldenes Herz hat erraten, daß ich sein
+einziger Wahrsager bin und ihm die Wahrheit nicht verheimlichen werde,
+diesem schlichten, diesem unschlauen Herzen! Nur eines hast du nicht
+erkannt: nicht ich, der Zauberer, kann dich vernünftig machen! Vernunft
+ist keine Richtschnur für ein Mädchen, und wenn man ihm auch die ganze
+Wahrheit sagt, so ist es doch, als habe es nichts erfahren und
+begriffen! Ihr eigner Kopf – ist eine listige Schlange, wenn auch das
+Herz von Tränen überfließt! Jeden Weg findet sie selbst, zwischen
+Gefahren versteht sie kriechend sich durchzuschlängeln und ihren
+schlauen Willen zu erreichen! Manchmal erreicht sie auch wohl mit dem
+Verstande was sie will, wenn aber nicht – dann berückt sie mit ihrer
+Schönheit, und verwirrt mit ihrem dunklen Auge! Schönheit bricht die
+Kraft, und wenn das Herz auch von Eisen ist – sie zerspellt es mit ihrer
+Macht! Ob auch Leid und Sorge deiner harrt? Schwer ist Menschenleid!
+Doch nicht schwache Herzen werden von ihm heimgesucht. Das Unglück sucht
+sich, wenn es kommt, ein starkes Herz zum Wohnsitz aus, aus dem dann im
+stillen, aller Welt verborgen, manch blutige Träne rinnt, bösen Leuten
+ein Schaustück. Dein Leid aber, Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die
+der Regen verwischt, die Sonne trocknet und der frische Wind verweht!
+Laß mich dir noch mehr sagen, dir wahrsagen: wer dich lieben wird, zu
+dem wirst du als Sklavin gehen, wirst selbst deinen Willen und deine
+Freiheit binden und ihm hingeben als Pfand und auch nie mehr
+zurückverlangen; wirst es nicht verstehen, zur rechten Zeit deine Liebe
+zu vergessen; ein Körnchen legst du hin und dein Verderber läßt es zur
+vollen Ähre wachsen und behält alles! Mein zärtliches Kind, mein
+Goldköpfchen, hast in meinem Wein dein Tränenperlchen begraben und dann
+doch nicht widerstanden und darüber gleich hundert andere vergossen,
+hast ein schönes Wort gesagt, dich an ihm berauscht und auf dein Leid
+gepocht. Doch ob deines Tränchens, des himmlischen Tautropfens, wirst du
+dich nicht zu grämen, wirst nicht zu trauern brauchen! Es wird dir in
+Überfluß wiedergegeben, und mit Wucherzinsen, dein Tränenperlchen, warte
+nur, in langer Nacht, in trauriger Nacht, wenn böser Kummer an deinem
+Herzen nagen wird und ein arger Gedanke – dann wird auf dein heißes
+Herz, für dies selbe Tränchen, eines anderen Träne fallen, eine blutige,
+nicht warme oder heiße, sondern eine glühende, wie von flüssigem Erz,
+und die wird dir deine weiße Brust blutig brennen, und bis zum Morgen,
+dem trüben, düsteren, wie er an Regentagen graut, wirst du dich auf
+deiner Lagerstätte wälzen und aus der frischen Wunde wirst du purpurnes
+Blut vergießen und nimmer wird dir diese Wunde bis zum vollen Morgen
+verheilen! Schenke mir noch ein, Katherina, schenke mir ein, meine
+Taube, für den klugen Rat! – weiter aber, denke ich, sind keine Worte
+mehr vonnöten ...“
+
+Seine Stimme sank und bebte: es war, als wolle ein Schluchzen aus seiner
+Brust hervorbrechen ... Er schenkte sich selbst den Wein ein und stürzte
+ihn gierig hinab; dann klopfte er wieder mit dem Becher auf den Tisch.
+Sein trüber Blick flammte noch einmal auf.
+
+„Ach! Lebe, wie es sich leben läßt!“ rief er, „was vorüber ist, ist
+vorüber! Schenk mir ein, schenk mir noch einmal ein, noch einmal, und
+ganz voll, bis zum Rande, damit der Wein den wilden Kopf von den
+Schultern nimmt und die Seele in ihm ertränkt! Schläfere mich ein für
+die lange Nacht, der kein Morgen folgt, auf daß das Gedächtnis mir
+völlig schwinde! Getrunkener Wein ist wie verlebtes Leben! Da muß doch
+dem Kaufmann die Ware liegen geblieben sein, wenn er sie umsonst aus der
+Hand gibt! Würde er sie doch sonst nicht aus freiem Willen unter dem
+Preise hingeben, würde auch der Feinde Blut vergießen, auch unschuldig
+Blut würde fließen und auf den Kauf würde jener Käufer obendrein noch
+seine verlorene Seele hergeben müssen! Schenk ein, schenk mir noch ein,
+Katherina!“
+
+Doch seine Hand, die den silbernen Becher hielt, schien plötzlich wie im
+Krampf zu erstarren und rührte sich nicht mehr. Er atmete schwer und
+mühsam, sein Kopf sank unwillkürlich auf die Brust. Noch einmal richtete
+er den Blick starr auf Ordynoff, als wolle er ihn zum letztenmal
+durchbohren, aber auch dieser Blick erlosch endlich und seine Lider
+senkten sich, als wären sie bleischwer. Tödliche Blässe breitete sich
+über sein Antlitz ... Ein paarmal zuckten noch seine Lippen und bewegten
+sich, als wollten sie etwas sagen – und plötzlich glänzte eine große
+heiße Träne an seinen Wimpern, hing, löste sich und rollte langsam über
+seine bleiche Wange herab ... Ordynoff hatte nicht mehr die Kraft, noch
+länger dies alles zu ertragen. Er erhob sich, trat schwankend einen
+Schritt vor, näherte sich Katherina und faßte sie am Arme; sie aber
+hatte nicht einmal einen Blick für ihn, und tat, als bemerke sie ihn
+überhaupt nicht ...
+
+Es war, als verließe sie gleichfalls die Besinnung, als hielte ein
+besonderer Gedanke sie in seinem Bann oder als sei sie von einem
+einzigen starren Gedanken erfüllt. Sie sank an die Brust des schlafenden
+Alten, schlang ihren weißen Arm um seinen Hals und sah ihn regungslos
+an, als könne sie den Blick nicht losreißen von ihm. Sie fühlte es wohl
+gar nicht, als Ordynoff ihren Arm erfaßte. Erst nach einer Weile hob sie
+den Kopf und wandte das Gesicht ihm zu und sah ihn mit einem langen
+durchdringenden Blick an. Und dann rang sich, als begreife sie endlich,
+ein schweres, verwundertes Lächeln gleichsam mühselig, wie mit Schmerz
+aus ihrem Innersten hervor und erschien auf ihren Lippen ...
+
+„Geh, geh fort,“ flüsterte sie, „du bist betrunken und böse! Du bist mir
+ein schlechter Gast!“ Und sie wandte sich wieder dem Alten zu und wieder
+hing ihr Blick wie gebannt an seinen Zügen.
+
+Sie schien jeden Atemzug des Schlafenden zu bewachen, schien seinen
+Schlaf mit ihrem Blick liebkosen zu wollen. Ja, sie schien sogar ihren
+eigenen Atem zurückzuhalten, als wage sie kaum, ihr Herz schlagen zu
+lassen. In ihrem Gesicht, in ihrem ganzen Wesen lag eine solche
+Liebesverzückung, daß Ordynoff plötzlich von Verzweiflung, Wut, Zorn und
+rasendem Haß übermannt wurde ...
+
+„Katherina! Katherina!“ rief er, wie mit Klammern ihren Arm umspannend.
+
+Schmerz sprach aus ihrem Gesicht: sie erhob wieder den Kopf und sah ihn
+an, doch diesmal mit solch einem Spott und solch schamloser Verachtung,
+daß er sie anstarrte, ohne fassen zu können, was er sah. Sie wies auf
+den schlafenden Alten und sah – als wäre der ganze Hohn seines Feindes
+in ihre Augen übergegangen – sah mit einem Blick zu Ordynoff auf, unter
+dem in seinem Inneren irgend etwas mit schneidendem Schmerz zerriß und
+von dem es ihn mit Eiseskälte überlief.
+
+„Was? er wird mich ermorden, meinst du?“ stieß Ordynoff hervor, außer
+sich vor Wut.
+
+Und als hätte ihm ein Dämon etwas ins Ohr geflüstert – begriff er sie
+plötzlich ... und sein ganzes Herz lachte gellend dazu.
+
+„So werde ich dich denn kaufen, du Schöne, von deinem Kaufmann, wenn du
+meine Seele verlangst! Sei ruhig, nicht er wird morden! ...“
+
+Das starre Lachen, das nicht aus ihrem Gesicht wich, wurde ihm
+fürchterlich. Der grenzenlose Hohn ihres Spottlächelns marterte ihm das
+Herz. Er wußte nicht mehr, was in ihm vorging, und was er fast
+mechanisch tat: er stützte sich an die Wand und nahm von einem Nagel
+einen altertümlichen kostbaren Dolch. Ein Ausdruck wie Verwunderung
+glitt über Katherinas Züge; zugleich jedoch trat der Ausdruck von Haß
+und Verachtung mit solcher Stärke in ihre Augen, daß er alles andere
+darüber vergessen ließ. Ordynoff sah sie an und ihm schwindelte ... Es
+war ihm, als zerre jemand an seiner Hand, die sich zu einer unsinnigen
+Tat erheben wollte, und als sei ein fremder Trieb in ihr. Er zog das
+Messer aus der Scheide ... Katherina folgte regungslos, wie in atemloser
+Spannung, seiner Bewegung ...
+
+Er sah auf den Alten ...
+
+Da schien es ihm plötzlich, als ob ein Augenlid des Alten sich langsam
+hebe und als ob durch die Wimpern, lauernd, ein Auge ihn lächelnd
+ansehe. Ihre Blicke begegneten einander, Auge ruhte in Auge. Minutenlang
+sah Ordynoff ihn an, ohne zu zucken ... Plötzlich aber schien es ihm,
+daß das ganze Gesicht des Alten lache und ein teuflisches Gelächter, das
+ihn eisig überlief und erstarren machte, im Zimmer erschallte. Ein
+scheußlicher nachtschwarzer Gedanke kroch wie eine Schlange durch sein
+Gehirn. Er erzitterte: das Messer entfiel seiner Hand und klirrte auf
+die Diele. Katherina schrie auf, wie aus einem Traume erwachend, wie
+nach einem furchtbaren Alb, und doch noch im Bann des Schreckbildes ...
+Der Alte erhob sich langsam, mit bleichem Gesicht, und stieß voll
+Ingrimm mit dem Fuß das Messer in die Ecke des Zimmers. Katherina stand
+totenblaß neben dem Bett und rührte sich nicht. Ihre Augen schlossen
+sich; ein dumpfer, unerträglicher Schmerz drückte sich in ihren Zügen
+aus; sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und mit einem
+erschütternden Aufschrei warf sie sich dem Alten zu Füßen ...
+
+„Aljoscha! Aljoscha!“ rang es sich in äußerster Verzweiflung aus ihrer
+Seele.
+
+Der Alte umfing sie mit seinen mächtigen Armen und erdrückte sie fast an
+seiner Brust. Als sie aber ihren Kopf so an ihn schmiegte, da lachte
+jeder Zug, jede Runzel im Gesicht des Alten ein so schamloses,
+entblößtes nacktes Lachen, daß Ordynoff nur fühlte, wie kaltes Entsetzen
+ihn ergriff. Betrug, Berechnung, eifersüchtige Tyrannei und
+Vergewaltigung dieses armen, dieses zerrissenen Herzens – das war es,
+was er an dem schamlosen Lachen begriff.
+
+„Wahnsinnige!“ flüsterte er erschauernd, von Entsetzen geschüttelt, und
+stürzte hinaus.
+
+
+ VI.
+
+Als Ordynoff am nächsten Morgen, noch blaß und erregt von dem Erlebnis
+der Nacht, gegen acht Uhr bei Jaroslaw Iljitsch eintrat – zu dem er
+übrigens aus einem ihm selbst völlig unklaren Grunde gegangen war –
+blieb er starr vor Überraschung auf der Schwelle stehen: denn im Zimmer
+erblickte er – Murin. Der Alte war noch bleicher als Ordynoff und schien
+sich vor Krankheit kaum auf den Füßen halten zu können, weigerte sich
+jedoch, trotz aller Aufforderungen Jaroslaw Iljitschs, der über den
+Besuch offenbar sehr erfreut war, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Als
+Jaroslaw Iljitsch Ordynoff erblickte, entfuhr ihm ein Ausruf freudiger
+Überraschung, doch schon im nächsten Augenblick wich seine Freude einer
+recht merkbaren Verwirrung, die ihn ganz plötzlich überkam, so daß er
+mitten auf dem Wege zum nächsten Stuhl, den er wohl Ordynoff hatte
+anbieten wollen, ratlos stehen blieb. Man sah es ihm an, daß er nicht
+wußte, was er sagen oder tun sollte und daß er es zugleich als unpassend
+empfand, in dieser schwierigen Lage seine türkische Pfeife weiter zu
+rauchen. Trotzdem aber – so groß war seine Verwirrung – zog er in vollen
+Zügen den Rauch aus seinem Pfeifenrohr und zwar noch viel häufiger und
+heftiger, als es sonst seine Art war. Inzwischen trat Ordynoff ins
+Zimmer. Er warf einen flüchtigen Blick auf Murin und bemerkte in dessen
+Gesicht etwas Ähnliches wie das boshafte Lächeln vom letzten Abend, das
+Ordynoff auch jetzt wieder erbeben machte vor Wut und Empörung. Übrigens
+verschwand alles Feindliche sofort aus Murins Zügen und sein Gesicht
+nahm den Ausdruck vollständiger Verschlossenheit und Gelassenheit an.
+Langsam machte er eine sehr tiefe Verbeugung vor seinem Mieter ... Diese
+kurze Szene hatte indes das Gute, daß sie Ordynoff vollends zur
+Besinnung brachte. Er sah Jaroslaw Iljitsch mit scharfem Blick
+aufmerksam an, wie um aus dessen Antlitz sich Aufschluß über den
+Sachverhalt zu verschaffen. Jaroslaw Iljitsch freilich schien dieser
+forschende Blick äußerst peinlich zu sein.
+
+„Aber ich bitte Sie, treten Sie doch näher, teuerster Wassilij
+Michailowitsch,“ brachte er endlich verwirrt hervor, „ich bitte Sie
+dringend, beehren Sie mich mit Ihrem Besuch ... Geben Sie diesen meinen
+einfachen Sachen hier ... die Weihe, indem Sie ihnen, wie gesagt, die
+Ehre antun ... wie gesagt ...“
+
+Jaroslaw Iljitsch geriet mit seinen Gedanken und Worten in einige
+Unordnung, verlor den Faden, wurde bis über die Ohren rot vor Verwirrung
+und auch vor Ärger darüber, daß die schöne Phrase mißlungen war und daß
+er sie somit umsonst ausgespielt, sie für immer verdorben hatte. Mit
+Gepolter rückte er deshalb einen Stuhl bis mitten ins Zimmer.
+
+„Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Jaroslaw Iljitsch, ich wollte nur
+...“
+
+„Aber ich bitte Sie! Sie und mich aufhalten – Wassilij Michailowitsch!
+... Doch – nicht wahr – ein Glas Tee? He! Bedienung! ... Und Sie,
+versteht sich, werden doch auch nicht ein Glas ablehnen!“
+
+Murin nickte nur mit dem Kopf, wodurch er wohl zu verstehen gab, daß er
+das Angebot ganz selbstverständlich fand.
+
+Jaroslaw Iljitsch schnauzte zunächst den eingetretenen Diener wegen
+seiner angeblichen Saumseligkeit an und bestellte dann in strengem Tone
+noch drei Glas Tee, worauf er sich auf den nächsten Stuhl neben Ordynoff
+niederließ. Nachdem er sich gesetzt, drehte er den Kopf wie eine
+Pappkatze bald nach rechts, bald nach links, sah von Murin zu Ordynoff
+und von Ordynoff zu Murin. Seine Lage war keineswegs angenehm. Offenbar
+wollte er etwas sagen, etwas vielleicht äußerst Kitzliges, wenigstens
+für den einen Teil; doch ungeachtet aller seiner Gedankenanstrengungen
+brachte er nichts über die Lippen ... Ordynoff schien auch nicht recht
+zu wissen, was er sagen, und noch viel weniger, was er denken sollte. Es
+gab einen Augenblick, wo sie plötzlich beide zugleich anfangen wollten.
+... Währenddessen hatte der schweigsame Murin Zeit, sie aufmerksam zu
+beobachten und in sein Gesicht wieder den Ausdruck der Ruhe zu bringen
+...
+
+„Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,“ begann plötzlich Ordynoff,
+„daß ich mich infolge eines unangenehmen Zwischenfalls gezwungen sehe,
+meine Wohnung zu verlassen, und ...“
+
+„Ja denken Sie sich!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch. „Ich war, offen
+gestanden, baff, als mir dieser ehrenwerte Mann hier von Ihrem Entschluß
+Mitteilung machte. Aber ...“
+
+„Wie, _er_ hat es Ihnen bereits mitgeteilt?“ fragte Ordynoff verwundert,
+und blickte auf Murin.
+
+Dieser strich sich über den Bart und lächelte vor sich hin.
+
+„Ja, was sagen Sie dazu!“ fuhr Jaroslaw Iljitsch fort. „Übrigens – oder
+habe ich da vielleicht was mißverstanden? Jedenfalls muß ich sagen, daß
+– ich versichere Sie bei meiner Ehre! – daß in seinen Worten auch nicht
+der Schatten einer Sie kränkenden Äußerung enthalten gewesen ist ...“
+
+Und Jaroslaw Iljitsch errötete hierbei und vermochte nur mit Mühe seine
+Erregung niederzuhalten. Murin, der sich an der Verwirrung Jaroslaw
+Iljitschs und seines Gastes inzwischen genugsam ergötzt zu haben schien,
+hielt es nun wohl für angemessen, auch mit der Sprache herauszurücken,
+und trat einen Schritt vor.
+
+„Ich habe dieserhalb, Euer Wohlgeboren,“ begann er langsam, sich nach
+Bauernart vor Ordynoff verneigend, „Eure Wohlgeboren zu belästigen
+gewagt. Es ist nun mal so, Herr, es kommt schon so heraus – Sie wissen
+doch selber: wir – wollte sagen ich und meine Hausfrau – wir wären ja
+mehr als froh und würden auch kein Wort dawider reden ... Aber – was
+soll man da viel sagen – was hab’ ich denn für eine Wohnung, das wissen
+und sehen Sie doch selbst, Herr! Und was haben wir denn überhaupt – grad
+nur so viel, daß man satt wird, wofür wir denn auch genugsam dem
+Schöpfer danken und zu ihm beten, und ihn bitten, er möge uns seine
+Gnade auch fernerhin in diesem Maße zuteil werden lassen. Aber sonst,
+Herr, Sie sehen doch selbst, wie’s ist, was soll man da viel reden?“ Und
+Murin wischte sich nach echter Bauernart mit dem Ärmel ruhig den Bart.
+
+Ordynoff fühlte nur, wie ihn Ekel erfaßte.
+
+„Ja, es ist wahr, ich habe Ihnen auch schon von ihm erzählt: er ist
+krank, tatsächlich, ^ce malheur^ ... das heißt, Verzeihung, ich wollte
+... ich beherrsche die französische Sprache nicht vollkommen, aber wie
+gesagt ...“
+
+„Ja, wie ...“
+
+„Ja eben, wie gesagt ... das heißt ...“
+
+Ordynoff und Jaroslaw Iljitsch machten sich gegenseitig so etwas wie
+eine halbe Verbeugung, natürlich ohne sich deshalb von den Stühlen zu
+erheben, und Jaroslaw Iljitsch suchte das entstandene kleine
+Mißverständnis mit einem entschuldigenden Lachen zu verwischen, fuhr
+jedoch sogleich wieder fort:
+
+„Übrigens habe ich mich soeben ausführlich bei ihm erkundigt, und wie er
+mir erklärte – und ich glaube ihm, da ich ihn als Ehrenmann kenne, aufs
+Wort! – daß die Krankheit jenes ... jungen Weibes ...“
+
+Hier sah der gewissenhafte Jaroslaw Iljitsch – vermutlich um einen
+kleinen Zweifel zu beseitigen, der sich wieder auf Murins Gesicht
+gezeigt hatte, mit fragendem Blick zu ihm auf.
+
+„Nun ja, unserer Hausfrau ...“
+
+Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch begnügte sich sogleich mit der ihm
+zuteil gewordenen Erklärung und fuhr schnell fort:
+
+„... Ihrer Hausfrau – das heißt, jetzt ist sie es ja nicht mehr, aber
+sie war es – also Ihrer ... das heißt, pardon, ich weiß nicht ... nun
+ja! Sehen Sie, sie ist eben krank und dem müssen Sie Rechnung tragen.
+Sie sagt, sie störe Sie ... in Ihrer Beschäftigung, und auch er ... Sie
+haben mir nämlich einen wichtigen Zwischenfall verschwiegen, Wassilij
+Michailowitsch!“
+
+„Welch einen?“
+
+„Ja – das mit der Flinte,“ sagte in der schonendsten Weise flüsternd
+Jaroslaw Iljitsch, wobei nur ein verschwindender Bruchteil, höchstens
+ein Milliontel eines Vorwurfs aus dem zart-freundschaftlichen Tonfall
+seiner Tenorstimme herauszuhören war.
+
+„Aber,“ fügte er schnell hinzu, „jetzt, wo ich alles weiß – er hat mir
+nämlich den ganzen Vorgang erzählt – kann ich Ihnen nur sagen, daß es
+von Ihnen höchst anständig und anerkennenswert war, ihm seine unbedachte
+Tat zu verzeihen. Ich schwöre Ihnen, ich sah Tränen in seinen Augen, als
+er davon sprach! ...“
+
+Jaroslaw Iljitsch errötete wieder ein wenig; seine Augen glänzten und er
+rückte zufrieden seinen Stuhl und sich selbst etwas von der alten
+Stelle.
+
+„Ich, wollte sagen, wir, Herr, Euer Wohlgeboren, will sagen ich und
+meine Hausfrau, wie beten wir für Euch zu Gott,“ begann wieder Murin,
+sich an Ordynoff wendend – während Jaroslaw Iljitsch noch wie gewöhnlich
+seine Erregung niederkämpfte – und er sah ihn dabei unverwandt an, „aber
+Ihr wißt doch selbst, Herr, sie ist ein krankes, dummes Weib; und mich
+wollen die Füße auch nicht so recht mehr tragen ...“
+
+„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach ihn Ordynoff ungeduldig, „ich bin ja
+bereit, meinetwegen sofort! ...“
+
+„Nein, Herr, will sagen, wir wären ja mit Verlaub, mit Euer Wohlgeboren
+mehr als zufrieden.“ (Murin verbeugte sich wieder äußerst tief.) „Ich,
+Herr, ich rede nicht davon; ich wollte nur ein Wort noch sagen – sie ist
+doch, Herr, fast verwandt mit mir, wenn auch nicht nah, sondern nur so
+wie man beispielsweise zu sagen pflegt, etwa durch sieben Scheffel
+Erbsen, will sagen, Euer Wohlgeboren mögen uns unsere einfache
+Ausdrucksweise zugute halten, wir sind niedrige Leute – aber sie ist ja
+schon von Kindheit an so! Eigenwillig, im Walde aufgewachsen, nur unter
+den Barkenknechten und Fabrikarbeitern. Und da brannte dann noch das
+Haus nieder; und ihre Mutter, Herr, verbrannte; und auch der Vater
+verbrannte – aber sie selbst, Herr, erzählt das doch Gott weiß wie ...
+Ich will ihr nur nicht widersprechen, aber in Moskau haben die größten
+Ärzte sie untersucht, ein ganzes Kon... Konsilium, wie sie sagen ...
+doch nichts war zu machen, Herr, sie ist ganz unheilbar, das ist es! Ich
+allein bin ihr noch geblieben, und so lebt sie denn bei mir ... will
+sagen, so leben wir denn beide, beten zu Gott und hoffen auf seine
+Allmacht; sonst aber – mag sie reden, was sie will, ich widerspreche ihr
+schon gar nicht mehr ...“
+
+Ordynoff erbleichte. Jaroslaw Iljitsch sah wieder bald den einen, bald
+den anderen an.
+
+„Aber ich wollte nicht davon reden, Herr ... nein!“ fuhr Murin fort und
+schüttelte ernst das Haupt. „Sie ist nun einmal so, will sagen, von so
+heißblütigem Schlage, das Köpfchen stürmisch, liebevoll und
+liebebedürftig, ist wie’n Wirbelwind, hat alleweil Verlangen nach einem
+lieben Freunde, will immer – wenn ich mit Verlaub Euer Gnaden so sagen
+darf –, daß man ihrem Herzen einen Geliebten gebe; das ist eben ihre
+Verrücktheit. So erzähle ich ihr denn Märchen, um sie abzulenken und zu
+zerstreuen. Das ist nun mal so. Aber ich hab’ ja doch, Herr, gesehen,
+wie sie – verzeiht schon, Herr, mein dummes Wort,“ entschuldigte Murin
+sich mit einer Verbeugung und indem er wieder mit dem Ärmel den Bart vom
+Munde nach links und rechts wischte, „wie sie beispielsweise mit Euer
+Gnaden näher bekannt geworden ist, will sagen, um beispielsweise zu
+reden, daß Sie, halten zu Gnaden, beispielsweise bezüglich der Liebe
+sich ihr zu nähern wünschten ...“
+
+Jaroslaw Iljitsch wurde feuerrot und blickte vorwurfsvoll auf Murin.
+Ordynoff bezwang sich so weit, daß er äußerlich ruhig auf seinem Stuhl
+sitzen blieb.
+
+„Nein ... will sagen, ich, Herr, ich wollte nicht davon reden ... ich
+bin, halten zu Gnaden, nur ein einfacher Bauer, Herr ... wir sind
+niedrige Leute, sind unwissend und ungebildet, Herr, sind Eure Diener.“
+Er machte wieder eine tiefe Verbeugung. „Und wie werden wir, ich und
+mein Weib, für Euer Gnaden beten! ... Worüber hätten wir auch zu klagen?
+– wenn man nur immer satt wird und gesund bleibt, dann ist man schon
+zufrieden. Aber was soll ich denn, Herr, tun? – soll ich freiwillig den
+Kopf in die Schlinge stecken! Ihr wißt doch, Herr, das ist eine
+Lebensfrage, habt Mitleid mit uns, das würde ja sein wie mit einem
+Liebhaber! ... Halten zu Gnaden, Herr, mein grobes Wort ... bin ein
+Bauer und Ihr seid ein Herr ... Aber Euer Gnaden sind eben ein junger,
+stolzer, heißer Mensch, sie aber, Herr, Ihr wißt doch selbst, ist noch
+ein Kind, jung und unvernünftig – wie weit ist es denn da mit ihr bis
+zur Sünde! Sie ist ja gewiß ein frisches, rosiges, liebes Weib, und mich
+Alten plagt immer die Krankheit. Nun was? Wie man sieht, muß der Teufel
+Euer Gnaden schon arg umgarnt haben! Ich zerstreue sie schon immer mit
+Märchen und ähnlichen Geschichten, zerstreue sie wirklich! ... Und wie
+wir für Euer Gnaden beten würden! will sagen, wirklich von
+Herzensgrunde! ... Und was finden denn Euer Gnaden an ihr? Wenn sie auch
+schön ist, sie bleibt doch eine Bäuerin, ein einfaches Weib, das zu mir,
+dem einfachen Bauern paßt! Euch aber, Herr, steht es doch nicht an, sich
+mit Bäuerinnen abzugeben! Und wie wir doch für Euer Gnaden beten werden,
+wirklich von Herzensgrunde! ...“
+
+Und Murin neigte sich von neuem tief, tief und blieb lange in dieser
+untertänigst ergebenen Stellung, während er zugleich unausgesetzt mit
+dem Ärmel den Bart vom Munde zu den Seiten strich. Jaroslaw Iljitsch
+wußte kaum noch, wo er sich lassen sollte.
+
+„Ja ... tja, der gute Mann,“ begann er, nur so, um etwas zu sagen,
+„erzählte mir da auch so einiges ... wie gesagt, es scheint eben doch
+nicht so weiter zu gehen. Nur, bitte, denken Sie deshalb nicht, bester
+Wassilij Michailowitsch, daß ich mir da ... vielleicht irgendwelche
+Gedanken zu machen erlaube! ... Wie gesagt,“ unterbrach er sich schnell,
+„ich hörte, Sie seien noch immer krank?“ fragte er teilnehmend und sah
+Ordynoff vor lauter Verlegenheit mit förmlich bittendem Blick an.
+
+„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte Ordynoff schnell, sich an
+Murin wendend.
+
+„Wie denn, Herr! Wir sind doch keine Räuber! Euer Gnaden werden uns doch
+nicht beleidigen wollen! Nein, Herr, Euer Wohlgeboren sollten sich
+schämen, – wodurch haben wir denn Euer Gnaden gekränkt? Ich bitte!“
+
+„Aber ... einstweilen – erlauben Sie mal, mein Freund: so geht das doch
+auch nicht! Er war immerhin Ihr Mieter – ja, fühlen Sie denn nicht, daß
+umgekehrt Sie ihn durch Ihre Weigerung, eine Entschädigung dafür
+anzunehmen, empfindlich kränken, ja gewissermaßen sogar beleidigen?“
+legte sich Jaroslaw Iljitsch ins Mittel, da er es für seine Pflicht
+hielt, Murin die peinliche Seite seiner Handlungsweise zu Bewußtsein zu
+bringen.
+
+„Aber ich bitte, Herr! Wie kommen Euer Wohlgeboren nur darauf? Erbarmen
+Sie sich! Inwiefern sind wir denn Eurer Ehre zu nahe getreten? Haben uns
+doch redlich und weidlich bemüht, alles zu tun, was in unseren Kräften
+steht! Laßt es gut sein, Herr, Gott verzeihe Euch! Sind wir denn Heiden
+oder Wegelagerer? Wir hätten ja nichts dawider, mag er bei uns leben,
+unser einfaches Essen mit uns teilen und es zur Gesundheit verzehren, –
+mag er, mag er – wir würden ja nichts dawider sagen und ... kein Wort
+reden; aber da hat nun der Teufel seine Hand im Spiel, ich bin ein
+kranker Mensch und auch sie ist ein krankes Weib – was soll man da tun!
+Es ist niemand zum Bedienen da, sonst aber wären wir ja von Herzen froh.
+Und wie wir doch für Euer Gnaden, Herr, beten werden, will sagen, wie
+inbrünstig beten!“
+
+Murin neigte sich wieder tief vor Ordynoff. Jaroslaw Iljitsch war vor
+lauter Anteilnahme geradezu gerührt und wandte seinen Blick fast stolz
+Ordynoff zu.
+
+„Was sagen Sie dazu, ist das nicht ein edler Zug!“ rief er begeistert
+aus. „Ist es nicht ein heiliges Gefühl der Gastfreundschaft, das in
+unserem russischen Volke schlummert!“
+
+Ordynoff sah ihn wild an und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit einem
+Blick, in dem fast Entsetzen sich ausdrückte.
+
+„Ja, so ist es wirklich, Herr, Gastfreundschaft ist uns heilig, und
+wie!“ bestätigte Murin, und wieder wischte der Ärmel den Bart vom Munde
+nach links und rechts, „und da kommt mir soeben ein Gedanke: der Herr
+war bei uns eben nur zu Gast, bei Gott, nur zu Gaste,“ fuhr er fort,
+indem er sich Ordynoff näherte, „und es wäre ja alles gut, Herr, – nun,
+beispielsweise einen Tag, sagen wir, noch einen – ich würde ja wirklich
+nichts dawider haben. Aber die Sünde verführt, und meine Hausfrau ist
+nun einmal nicht ganz gesund. Ja, wenn sie nicht wäre! – will sagen,
+wenn ich beispielsweise allein leben würde! – oh, wie würde ich da Euer
+Gnaden dienen und alles zu Gefallen tun! – will sagen, das steht ja ganz
+außer Frage! Wen sollten wir denn achten, wenn nicht Euer Gnaden? Und
+ich würde Euch schon gesund machen, Herr, wirklich, ich kenne ein Mittel
+... Nur zu Gaste seid Ihr bei uns gewesen, Herr, bei Gott, da habt Ihr
+mein Wort darauf, wirklich nur zu Gaste! ...“
+
+„Nein in der Tat, gibt es nicht ein solches Mittel?“ bemerkte Jaroslaw
+Iljitsch ... brach aber kurz ab und wandte sich schleunigst zur Seite.
+
+Ordynoff hatte ihm entschieden unrecht getan, als er ihn mit so wilder
+Verwunderung maß.
+
+Jaroslaw Iljitsch war natürlich einer der ehrlichsten und anständigsten
+Menschen, doch jetzt, wo er endlich alles begriffen hatte, war seine
+Lage allerdings eine äußerst schwierige. Er wollte, wie man so sagt,
+einfach bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynoff allein gewesen, so
+hätte er sich selbstverständlich (zwei so gute Freunde unter sich!)
+nicht bezwungen und sich rückhaltlos dem Ausbruch seiner Heiterkeit
+hingegeben. Jedenfalls hätte er, eben wie ein im Grunde anständiger
+Kerl, voll Mitempfinden Ordynoff die Hand gedrückt, hätte ihm aufrichtig
+und wahrheitsgemäß versichert, daß er ihn nun noch doppelt achte und es
+unter allen Umständen verzeihlich finde, daß usw. ... Jugend bliebe eben
+Jugend. Doch in Murins Gegenwart war das natürlich ausgeschlossen: und
+so befand er sich denn in einer so peinlichen Lage, daß er nicht wußte,
+wohin er mit sich sollte ...
+
+„Ein Mittel, will sagen, ein Heilmittel,“ versetzte Murin, dessen ganzes
+Gesicht nach dem ungeschickten Zwischenruf Jaroslaw Iljitschs ins Zucken
+geriet.
+
+„Ich, Herr, ich würde in meiner Dummheit, das heißt, bei meinem
+bäuerischen Unverstand, nur das sagen,“ fuhr er fort, wieder einen
+Schritt näher tretend: „Bücher, Herr, habt Ihr arg viel gelesen; ich
+sage auch: klug seid Ihr sehr, seid sogar arg klug geworden und Euer
+Verstand ist arg gewachsen; aber nun, wie man bei uns Bauern zu sagen
+pflegt, nun ist der Verstand da angelangt, wo er stille steht ...“
+
+„Genug! hören Sie auf!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch in strengem
+Ton.
+
+„Ich gehe,“ sagte Ordynoff. „Ich danke Ihnen, Jaroslaw Iljitsch. Gewiß,
+gewiß, ich werde Sie besuchen, nächstens,“ versprach er noch schnell,
+der Aufforderung zuvorkommend, da sie schon in der Gebärde lag, mit der
+ihn Jaroslaw Iljitsch zurückzuhalten suchte. „Leben Sie wohl ...“
+
+Ordynoff hörte nichts mehr. Halb wahnsinnig verließ er das Zimmer.
+
+Er war wie zerschlagen und alles Denken war in ihm erstarrt. Er hatte
+eigentlich nur die dumpfe Empfindung seiner Krankheit, doch zugleich
+erfaßte ihn eine kalte Verzweiflung, die ihn den einen, kaum bewußt
+gefühlten Schmerz in der Brust vergessen ließ. Er dachte an den Tod,
+dachte, daß es das beste wäre, jetzt schnell zu sterben. Seine Füße
+versagten ihm den Dienst und er setzte sich auf eine Bank an einem Zaun,
+ohne den Vorübergehenden irgendwelche Beachtung zu schenken: allen den
+Leuten, die sich nach und nach um ihn zu versammeln begannen, ihn teils
+neugierig und mitleidig betrachteten, teils Fragen an ihn stellten und
+sich besorgt ereiferten. Da vernahm er plötzlich durch das Stimmengewirr
+Murins Stimme, die ihn wie aus einem Traum schreckte, und er sah auf.
+Der Alte stand neben ihm: sein bleiches Gesicht war ernst und
+nachdenklich. Das war ein ganz anderer Mensch, als der, der sich bei
+Jaroslaw Iljitsch in so frecher Weise über ihn lustig gemacht hatte.
+Ordynoff erhob sich und Murin faßte ihn am Arm und führte ihn aus der
+Menge.
+
+„Du mußt noch deine Habseligkeiten mitnehmen,“ sagte er, indem er
+Ordynoff flüchtig von der Seite ansah und seinen Arm wieder freigab.
+„Sei nicht traurig, Herr!“ versuchte er ihn zu ermuntern. „Du bist jung,
+wozu da trauern! ...“
+
+Ordynoff schwieg.
+
+„Bist gekränkt, Herr? Ärgerst dich also ... aber worüber denn? Jeder
+verteidigt sein Gut!“
+
+„Ich kenne Sie nicht,“ stieß Ordynoff hervor, „und Ihre Geheimnisse
+gehen mich nichts an. Aber sie, sie!“ rief er, und Tränen entströmten
+seinen Augen und rollten über seine Wangen, doch der Wind trocknete sie
+schnell ... Ordynoff hob die Hand, wie um sie fortzuwischen. – Aber
+seine Geste, sein Blick, die unwillkürliche Bewegung seiner bebenden
+bläulichen Lippen – alles schien darauf hinzudeuten, daß sein Geist
+nicht lange mehr widerstandsfähig war und er dem Wahnsinn verfallen sein
+mochte.
+
+„Ich habe dir doch schon erklärt,“ sagte Murin, die Brauen
+zusammenziehend, „sie ist eine Halbirrsinnige! Wodurch und wie sie
+irrsinnig wurde ... wozu brauchst du das zu wissen? Mir ist sie auch so
+– das, was sie mir ist! Ich habe sie liebgewonnen mehr als mein Leben
+und werde sie niemand abtreten. Begreifst du jetzt!“
+
+In Ordynoffs Augen flammte es auf.
+
+„Aber warum,“ stieß er hervor, „warum ist mir denn nun, als hätte ich
+mein Leben verloren? Warum schmerzt denn _mein_ Herz? Warum mußte ich
+Katherina kennen lernen?“
+
+„Warum?“ wiederholte Murin mit kurzem Auflachen, ward aber sogleich
+ernst und nachdenklich. „Ja, warum – das weiß ich auch nicht,“ murmelte
+er endlich. „Weibersinn ist schließlich kein Meeresgrund, erforschen
+kann man ihn schon, aber! ... Was sie wollen, das muß man ihnen geben –
+ob sie’s mit List, Beharrlichkeit oder Zähheit verlangen – aber geben
+muß man’s ihnen, als hätte man es nur aus der Tasche zu nehmen und
+hinzulegen. Da ist es denn wohl wahr, Herr, daß sie mit Ihnen von mir
+weggehen wollte,“ fuhr er nachdenklich fort. „Sie verschmähte den Alten,
+nachdem sie mit ihm alles erlebt, was man erleben kann! Da müssen Sie
+ihr anfangs arg in die Augen gestochen haben! Oder war’s nur so – ob
+Sie, ob ein anderer ... Ich verbiete ihr ja nichts, lasse ihr in allem
+ihren Willen. Und sollte sie Vogelmilch verlangen – ich verschaffe ihr
+auch Vogelmilch, werde selbst den Vogel erschaffen, wenn es einen
+solchen noch nicht gibt! Eitel ist sie! Nach Freiheit strebt sie und
+dabei weiß sie selbst nicht, was das Herz will. Und da hat es sich denn
+jetzt herausgestellt, daß es am besten doch wieder beim alten bleibt!
+Ach, Herr! Jung bist du, noch arg jung! Dein Herz ist heiß wie das Herz
+eines jungen Mädchens, das sich noch mit dem Ärmel die Tränen trocknet,
+wenn es sich vom Liebsten verlassen sieht. Höre, Herr, was ich dir sage:
+ein schwacher Mensch kann sich allein nicht halten! Gib ihm alles, was
+du willst – er wird dir freiwillig alles wieder zurückgeben, und wenn du
+ihm auch das halbe Erdreich schenkst und sagst: ‚Nimm und herrsche!‘ –
+was meinst du, was er tut? – in den Stiebel kriecht er und versteckt
+sich, so klein macht er sich! Und so ist es auch mit dem freien Willen:
+gibst du ihn ihm, dem schwachen Menschen, so wird er ihn selbst binden
+und ihn dir zurückgeben. Dummen Herzen nützt Freiheit nichts. Sie wissen
+damit nichts anzufangen. Ich sage dir das nur so – bist noch arg jung!
+Sonst aber – was gehst du mich an? Gekommen, gegangen – ob du oder ein
+anderer: bleibt sich gleich. Ich hab’s ja schon von Anfang an gewußt,
+wie es kommen würde. Sich widersetzen, das hilft da nichts. Kein Wort
+darf man dawider sprechen, wenn man sein Glück bewahren will. Es ist
+doch, Herr,“ fuhr Murin fort, in seiner Art zu philosophieren,
+„gewöhnlich alles nur so ... gesagt: bis zum Ausführen hat’s noch eine
+gute Weile. Aber schließlich – was kann nicht vorkommen? Im Zorn ist
+auch das Messer zur Hand, oder wenn nicht, dann geht es auch unbewaffnet
+mit den Zähnen dem Feinde an die Gurgel! Wird dir aber offen das Messer
+angeboten und dein Feind entblößt vor dir seine breite Brust – da wirst
+du wohl zurücktreten!“
+
+Sie traten auf den Hof. Der Tatar, der sie schon von weitem hatte kommen
+sehen, nahm vor ihnen die Mütze ab und betrachtete Ordynoff mit listiger
+Neugier.
+
+„Wo ist deine Mutter? Zu Haus?“ wandte sich Murin barsch an ihn.
+
+„Zu Haus.“
+
+„Sag ihr, daß sie seine Sachen herunterschleppen soll. Und auch du,
+marsch! rühr dich!“
+
+Sie stiegen die Treppe hinauf. Die Alte, die bei Murin diente und die,
+was Ordynoff noch nicht gewußt hatte, die Mutter des Hausknechtes war,
+trug seine Habseligkeiten brummend zusammen und band sie in ein großes
+Bündel.
+
+„Warte; ich bringe dir noch etwas, was dir gehört ...“
+
+Murin ging in sein Zimmer, kam aber sogleich wieder zurück und händigte
+Ordynoff ein mit Seide und Perlen reich gesticktes Kissen ein, dasselbe,
+das Katherina ihm unter den Kopf gelegt hatte, als er krank wurde.
+
+„Das schickt sie dir,“ sagte er. „Jetzt gehe mit Gott, aber sieh zu, daß
+du auf dich acht gibst,“ fügte er halblaut in väterlichem Tone hinzu,
+„sonst kann es schlimm werden.“
+
+Augenscheinlich wollte er ihm beim Abschied nicht weh tun. Als aber
+Ordynoff bereits aus der Tür trat und er den letzten Blick auf ihn warf,
+da war es doch wie ein Aufflammen unendlicher Bosheit, das sich in
+seinem Blick verriet. Fast wie mit Ekel schloß Murin hinter ihm die Tür.
+
+Zwei Stunden darauf zog Ordynoff zu Spieß, dem Deutschen. Tinchen schlug
+die Hände zusammen und rief „Mein Gott und Vater!“ als sie ihn erkannte.
+Das erste war, daß sie sich nach seiner Gesundheit erkundigte, und als
+sie erfuhr, daß er krank war, schickte sie sich sogleich an, ihn zu
+kurieren.
+
+Der alte Spieß erzählte ihm darauf mit Selbstzufriedenheit, daß er
+gerade im Begriff gewesen sei, den Mietszettel wieder unten am Haustor
+auszuhängen, da dies genau der letzte Tag sei, an dem seine Anzahlung
+der Miete ablaufe. Natürlich konnte der Alte nicht umhin, bei der
+Gelegenheit ein Wörtchen über den deutschen Ordnungssinn im allgemeinen
+wie im besonderen einzuflechten und desgleichen auch die bekannte
+deutsche Ehrlichkeit rühmend hervorzuheben. Am selben Tage erkrankte
+Ordynoff ernstlich und erst nach vollen drei Monaten konnte er das Bett
+verlassen.
+
+Seine Genesung machte nur sehr langsame Fortschritte. Das Leben bei den
+Deutschen verging einförmig, ruhig, still. Der Alte schien im Grunde ein
+Gemütsmensch zu sein, ohne besondere Eigenheiten, und das nette Tinchen
+war, natürlich innerhalb der Gebote der Sittsamkeit, alles, was man nur
+wünschen konnte. Und doch erschien das Leben Ordynoff so öde und
+farblos, als hätte es für ihn auf ewig alles Licht und alle Farben
+verloren. Er versank in grübelndes Sinnen und wurde reizbar; er war
+gleichsam preisgegeben den Eindrücken, die er empfing und er empfand sie
+mit krankhafter Nachdrücklichkeit. So kam es, daß er in einen Zustand
+verfiel, der an Hypochondrie gemahnte und schließlich sein Empfinden
+gegen äußere Eindrücke völlig abstumpfte. Oft rührte er wochenlang kein
+Buch an. Die Zukunft war für ihn aussichtslos, sein Geld ging auf die
+Neige und er ließ schon im voraus die Arme sinken; ja er dachte nicht
+einmal an die Zukunft. Manchmal kam wohl seine frühere Liebe zur
+Wissenschaft über ihn, das frühere Fieber, das ihn zum Schaffen gedrängt
+hatte, und die Gedanken und Gestalten, die einst in seinem Geist
+entstanden waren, erstanden jetzt wieder aus der Vergangenheit und
+stellten sich förmlich greifbar vor ihm auf ... doch sie bedrückten ihn
+jetzt nur und lähmten seine Energie. Seine Gedanken wurden nicht zu
+Taten. Die Kraft zur Schöpfung war ausgeschaltet und so schien das
+Schaffen wie stehen geblieben. Es war, als erständen alle diese Ideen
+jetzt nur noch deshalb wie Giganten in seinem Geiste, um über seine,
+ihres Schöpfers, Kraftlosigkeit zu spotten. Unwillkürlich kam es ihm in
+einer traurigen Stunde in den Sinn, sich mit jenem vorwitzigen
+Zauberlehrling zu vergleichen, der, nachdem er von seinem Meister den
+Zauberspruch erlauscht, dem Besen befiehlt, das Wasser herbeizutragen,
+und der dann schließlich in diesem Wasser ertrinkt, weil er vergessen
+hat, wie man ihm Einhalt gebietet. Vielleicht, wer weiß, wäre von ihm
+eine große, selbständige, neue Idee in die Welt gesetzt worden.
+Vielleicht war es ihm bestimmt gewesen, ein Großer in seiner
+Wissenschaft zu werden. Wenigstens hatte er früher selbst so etwas
+geglaubt. Ein aufrichtiger Glaube aber ist schon eine Bürgschaft für die
+Zukunft. Jetzt jedoch lachte er über diesen seinen blinden Glauben und –
+kam keinen Schritt vorwärts. Ein halbes Jahr vorher war das anders
+gewesen: da hatte er in klaren Zügen eine Skizze zu einem Werk
+entworfen, in dem er seine Anschauungen festlegen wollte, und auf dieses
+Werk hatte er, jung wie er war, die größten, auch die größten
+materiellen Hoffnungen aufgebaut. Das Werk war ein Buch über
+Kirchengeschichte und Worte tiefster glühendster Überzeugung
+entströmten, während er an ihm schrieb, seiner Feder. Jetzt nahm er
+diesen Plan wieder vor, las ihn durch, änderte, dachte über ihn nach,
+las und suchte in den verschiedensten Büchern, und schließlich verwarf
+er seine Idee – verwarf sie, ohne sie durch eine andere zu ersetzen.
+Dafür begann so etwas wie Mystik, ja sogar so etwas wie ein Glaube an
+Prädestination und ein Ahnen der letzten Geheimnisse dieser Welt sich
+mehr und mehr in seine Seele einzudrängen. Der Unglückliche litt unter
+seinen unendlichen Qualen und wandte sich schließlich Gott zu, um bei
+ihm Erlösung zu finden. Die Aufwärterin der Deutschen, eine alte
+gottesfürchtige Russin, erzählte mit Wohlgefallen, wie ihr stiller
+Mieter in der Kirche bete und wie er zuweilen stundenlang regungslos auf
+den Knien liege, die Stirn auf die Fliesen gebeugt ...
+
+Er hatte zu keinem Menschen ein Wort von seinem Erlebnis gesagt.
+Zuweilen aber, namentlich in der Dämmerung, wenn die Kirchenglocken
+läuteten und zur Abendandacht riefen und ihr Klang in ihm wieder die
+Erinnerung an jenen Augenblick erweckte ... als zum erstenmal jenes
+Gefühl über ihn kam, das er noch nie empfunden und das ihn erzittern
+ließ, während er, neben ihr kniend, alles andere um sich her vergaß und
+nur ihr Herz pochen hörte ... und wie da plötzlich diese lichte Hoffnung
+mit einemmal sein einsames Leben durchstrahlt hatte und er vor lauter
+Freude und Entzücken in Tränen ausgebrochen war – wenn er das alles
+jetzt nochmals durchlebte, dann war es ihm, als risse ihn ein Sturm mit
+sich fort, ein Sturm, der sich aus seiner eigenen, für immer verwundeten
+Seele erhob; dann erzitterte er und die Qual der Liebe brannte wieder
+wie sengendes Feuer in seiner Brust; dann tat ihm das Herz vor Leid und
+Leidenschaft zum Zerspringen weh und mit der Trauer wuchs seine Liebe,
+wurde noch immer größer und tiefer. Oft saß er so, stundenlang, vergaß
+sich selbst und sein ganzes alltägliches Leben, vergaß alles in der Welt
+und saß stundenlang auf einem Fleck, einsam, traurig – stützte dann wohl
+die Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen, bis
+ihm die Tränen durch die Finger rannen und er hoffnungslos müde den Kopf
+schüttelte, während seine Lippen leise flüsterten: „Katherina! Du Süße!
+Meine Taube du! Mein Schwesterchen! ...“
+
+Nach und nach jedoch begann eine häßliche Überzeugung sich immer mehr in
+ihm festzusetzen, ja sie verfolgte ihn geradezu und peinigte ihn und
+stand doch mit jedem Tage unabweisbarer vor ihm, bis sie aus einem
+bloßen Verdacht zur Wahrscheinlichkeit und zu guter Letzt zur Gewißheit
+und Überzeugung für ihn wurde. Es schien ihm – und wie gesagt, zuletzt
+glaubte er selbst fest daran – es schien ihm, daß Katherinas Geist und
+Vernunft keineswegs gelitten hatten, daß aber Murin seinerseits auch
+nicht so unrecht hatte, wenn er sie ein „schwaches Herz“ nannte. Es
+schien ihm, daß irgendein verbrecherisches Geheimnis sie mit dem Alten
+verband, daß aber das Verbrechen selbst Katherina gar nicht recht zu
+Bewußtsein gekommen, eben wegen ihres reinen Herzens, und daß sie so in
+seine Gewalt geraten war. Wer waren sie? – er wußte es nicht. Aber ihn
+verfolgte die Vorstellung einer erbarmungslosen, eifersüchtigen
+Tyrannei, die der Alte mit der Beherrschung des armen schutzlosen
+Geschöpfs ausübte, und sein Herz erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es
+schien ihm, daß der Alte, als ihr vielleicht einmal so etwas wie eine
+Ahnung des ganzen Zusammenhangs aufgegangen war, ihr dann arglistig das
+„Verbrechen“ vorgehalten hatte, ihre Schuld und ihren Fall, um dann
+listig das arme „_schwache_“ Herz zu quälen und den Tatbestand in
+schlauer Weise zu verdrehen, wobei er mit Absicht ihre Blindheit da, wo
+es ihm ratsam erschien, noch verstärkt und andererseits die Neigungen
+ihres heißen, verwirrten, unerfahrenen Herzens begünstigt haben mochte,
+bis er ihr auf diese Weise allmählich die Flügel gestutzt und die einst
+freie unabhängige Seele so weit gebracht, daß sie schließlich weder zu
+einer Selbstbefreiung durch eine Rettung ins wirkliche Leben, noch zu
+überhaupt einer Auflehnung gegen seine schlaue Gewaltherrschaft fähig
+war ...
+
+Mit der Zeit wurde Ordynoff noch menschenscheuer, als früher, seine
+Deutschen hinderten ihn daran nicht im geringsten, was um der
+Gerechtigkeit willen nicht verschwiegen sei. Ab und zu aber machte er
+sich doch auf und ging hinaus, um dann lange ziellos durch die Straßen
+zu wandern. Es geschah das vornehmlich in der Dämmerstunde und dazu
+suchte er sich dann öde und entlegene Stadtteile auf, wo selten ein
+Mensch zu sehen war. An einem regnerischen Vorfrühlingsabend begegnete
+er in einer dieser Gassen Jaroslaw Iljitsch.
+
+Der war inzwischen merklich magerer geworden, seine freundlichen Augen
+hatten ihren Glanz verloren und der ganze Mensch machte den Eindruck,
+als habe das Leben ihn enttäuscht. Er hatte es gerade sehr eilig und
+eine Angelegenheit vor, die angeblich keinen Aufschub duldete – war
+dabei durchnäßt und angeschmutzt, und an seiner sonst sehr anständigen,
+jetzt jedoch von der Witterung etwas blau angelaufenen Nase hing in
+beinahe phantastischer Weise ein Regentropfen. Außerdem trug er einen
+Backenbart, während er früher nur einen Schnurrbart gehabt hatte.
+
+Dieser Backenbart und der Umstand, daß Jaroslaw Iljitsch im ersten
+Augenblick fast tat, als wolle er seinem alten Bekannten ausweichen,
+frappierten Ordynoff ... Und sonderbar! gewissermaßen schmerzte ihn das
+sogar und kränkte sein Herz, das doch bis dahin noch niemals des
+Mitleids anderer Menschen bedurft hatte. Der frühere Jaroslaw Iljitsch
+war ihm lieber gewesen, dieser gutmütige, dieser naive und –
+entschließen wir uns, es endlich offen auszusprechen – dieser etwas
+dumme Jaroslaw Iljitsch, der so gar keine Ansprüche machte auf
+Enttäuschungen oder Bereicherungen. Es ist doch unangenehm, entschieden
+unangenehm, wenn ein _dummer_ Mensch, den man einst vielleicht gerade
+wegen seiner Dummheit gern gehabt hat, _plötzlich klüger wird_! Übrigens
+verschwand das Mißtrauen, mit dem er im ersten Augenblick Ordynoff
+ansah, fast noch schneller, als dieser es wahrnehmen konnte.
+
+Doch ungeachtet dieser Veränderung hatte er seine alten Gewohnheiten
+keineswegs aufgegeben, wie ja bekanntlich fast jeder Mensch seine
+Gewohnheiten ins Grab mitzunehmen pflegt: und so begann er denn auch
+jetzt wieder ganz im Tone des besten Freundes die Unterhaltung. Zunächst
+bemerkte er, daß er viel zu tun habe, dann, daß sie sich lange nicht
+gesehen. Darauf nahm aber seine Rede plötzlich eine ganz andere und
+jedenfalls ganz neue Wendung. Er begann von der Verlogenheit der
+Menschen im allgemeinen zu sprechen, von der Vergänglichkeit der
+irdischen Güter sowie von der irdischen Nichtigkeit überhaupt, die nur
+eine einzige Sorge kenne ... versäumte auch nicht, so ganz beiläufig
+Puschkin zu erwähnen, jedoch in fast herablassendem Tone, und sprach
+ferner von seinen guten Bekannten sogar mit einem gewissen Zynismus,
+worauf er zum Schluß sich noch ein paar Andeutungen über die Falschheit
+derjenigen erlaubte, die sich öffentlich Freunde nennen, während es in
+Wirklichkeit, solange die Welt stehe, überhaupt noch keine echte
+Freundschaft gegeben habe. Mit einem Wort, Jaroslaw Iljitsch war _doch_
+klüger geworden!
+
+Ordynoff widersprach ihm nicht, aber eine unsagbare, qualvolle
+Traurigkeit bemächtigte sich seiner: es war ihm, als habe er soeben
+seinen besten Freund begraben!
+
+„Ach! Stellen Sie sich vor, da hätte ich es beinahe zu erzählen
+vergessen!“ unterbrach sich plötzlich Jaroslaw Iljitsch, als fiele ihm
+etwas ungeheuer Wichtiges ein. „Ich habe eine Neuigkeit! Erinnern Sie
+sich noch jenes Hauses, wo Sie mal kurze Zeit wohnten?“
+
+Ordynoff zuckte zusammen und erbleichte.
+
+„Können Sie sich denken, in diesem Hause hat man vor kurzem eine ganze
+Räuberbande entdeckt! – das heißt, verstehen Sie: eine ganze Bande!
+Schmuggler, Diebe, Spitzbuben der schlimmsten Art und weiß der Teufel
+was noch alles! Mehrere sind schon hinter Schloß und Riegel, den andern
+ist man erst noch auf der Spur. Die strengsten Weisungen sind erlassen!
+Und denken Sie sich weiter: – Sie erinnern sich doch wohl noch des
+Hausbesitzers? – so’n kleines Männchen, gottesfürchtig, dem Anscheine
+nach ein ehrwürdiger, durch und durch anständiger, alter Mann ...“
+
+„Nun?“
+
+„Tja – da urteilen Sie jetzt über die Menschheit! Gerade der ist das
+Haupt der Bande gewesen, der Anführer! Was sagen Sie dazu? Ist das nicht
+haarsträubend!“
+
+Jaroslaw Iljitsch sprach mit Leidenschaft und verurteilte mit dem einen
+Sünder sogleich die ganze Welt, denn so ein Jaroslaw Iljitsch kann eben
+nicht anders, als nach einem Ding alle Dinge beurteilen, das liegt nun
+mal in seinem Charakter.
+
+„Und jene? ... Und Murin?“ stieß Ordynoff atemlos hervor.
+
+„Murin? Ach so – der! Nein, Murin war ein ehrwürdiger Alter ... Aber ...
+erlauben Sie mal! ... erlauben Sie mal! ... Sie werfen da ein neues
+Licht auf die Affäre ...“
+
+„Wie denn? Gehörte er nicht auch zur Bande?“
+
+Ordynoffs Herz schlug laut gegen seine Brust – er verging vor Spannung.
+
+„Übrigens ... nein, wie denn das ... wie kommen Sie darauf?“ Jaroslaw
+Iljitsch richtete seine bleiernen Augen mit unbeweglichem Blick auf
+Ordynoff – ein Zeichen, daß er überlegte.
+
+„Murin kann nicht darunter gewesen sein. Er hat schon drei Wochen vorher
+mit der Frau Petersburg verlassen – ist in seine Heimat zurückgekehrt
+... Ich erfuhr es vom Hausknecht ... jenem Tatarenfrechling, erinnern
+Sie sich?“
+
+
+
+
+ Ein schwaches Herz
+
+
+ In ihrer Wohnung im vierten Stock unter dem Dach lebten zwei
+ junge Beamte, Arkadij Iwanowitsch Nefedewitsch und Wassjä
+ Schumkoff.
+
+Ich müßte nun eigentlich den Leser darüber aufklären, warum ich den
+einen Helden meiner Erzählung bei vollem Namen, den anderen dagegen nur
+bei seinem Rufnamen genannt habe, sonst könnte man dieses Verfahren
+leicht für unangebracht oder für allzu vertraulich halten. Das aber
+setzte wieder voraus, daß ich das Alter, den Rang und Beruf der
+handelnden Personen genau feststellte. Doch weil die meisten
+Schriftsteller mit einer derartigen Einleitung beginnen, so habe ich mir
+vorgenommen, die Erzählung sofort mit der Handlung anfangen zu lassen –
+nur, um nicht in die abgeschmackte Art der anderen zu verfallen oder wie
+einige behaupten werden, aus Eigendünkel und Einbildung.
+
+So schließe ich denn meine Einleitung und beginne.
+
+Um sechs Uhr am Vorabend des neuen Jahres kehrte Schumkoff nach Hause
+zurück. Arkadij Iwanowitsch, der auf seinem Bett lag, erwachte und
+blinzelte verstohlen den Freund an. Er bemerkte, daß dieser seinen
+besten Anzug trug und ein blitzblankes Vorhemd anhatte. Das setzte ihn
+natürlich in Erstaunen. Was beabsichtigte er wohl damit? Woher kam er?
+Obendrein hatte er heute nicht zu Hause gespeist!
+
+Schumkoff zündete unterdessen Licht an und Arkadij Iwanowitsch erriet
+sofort, daß sein Freund ihn durch ein scheinbar unbeabsichtigtes
+Geräusch wecken wollte. Und so geschah es denn auch: Wassjä hustete
+zweimal, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und ließ ganz zufällig
+seine Pfeife aus der Hand fallen, als er sie in der Ecke am Ofen
+ausklopfte. Arkadij Iwanowitsch mußte lachen.
+
+„Nun ist’s aber genug, du Schlauberger!“ sagte er.
+
+„Arkascha, du schläfst nicht?“
+
+„Ja, weißt du: Genau kann ich’s dir nicht sagen; doch scheint es mir,
+daß ich nicht schlafe.“
+
+„Ach, Arkascha! Guten Tag, mein Lieber! nun Bruderherz ... Du weißt
+nicht, was ich dir zu sagen habe!“
+
+„Natürlich weiß ich’s nicht! Doch komm mal ein bißchen her zu mir!“
+
+Wassjä kam sofort herbei, ganz als hätte er nur darauf gewartet, und
+ohne von den Absichten Arkadij Iwanowitschs auch nur etwas zu ahnen.
+Dieser ergriff ihn bei der Hand, drehte ihn geschickt um, drückte ihn
+rückwärts aufs Bett und begann ihn, wie man sagt, „zu würgen“, was ihm,
+dem immer fröhlichen Arkadij Iwanowitsch, ein ungeheueres Vergnügen zu
+machen schien.
+
+„Hereingefallen!“ rief er, „hereingefallen!“
+
+„Arkascha, Arkascha, was tust du mit mir? Laß los, um Gottes willen, laß
+los, ich verderbe mir meinen Anzug!“
+
+„Das tut nichts: warum hast du auch deinen guten Anzug an? Sei ein
+andermal nicht so unvorsichtig und gib dich nicht selbst in meine Hände!
+Sprich, wo warst du, wo hast du gespeist?“
+
+„Arkascha, um Gottes willen, laß mich los!“
+
+„Wo hast du gespeist?“
+
+„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzählen!“
+
+„Also erzähle!“
+
+„Schön, aber laß mich erst los!“
+
+„Nein, ich lass’ dich nicht los, bevor du nicht erzählt hast!“
+
+„Arkascha, Arkascha! Ja, verstehst du denn nicht, daß es so unmöglich
+ist, ganz unmöglich!“ stöhnte der schwache Wassjä und versuchte
+vergeblich sich aus den kräftigen Armen seines Freundes zu befreien, „es
+gibt doch gewisse Angelegenheiten, die ...“
+
+„Was für Angelegenheiten?“
+
+„Nun ja, Angelegenheiten, die, wenn man in solcher Lage von ihnen zu
+reden beginnt, allen Ernst verlieren. Es ist mir ganz unmöglich ... es
+würde nur lächerlich wirken und – die Sache ist doch durchaus nicht
+lächerlich, sondern sogar sehr ernst!“
+
+„Auch noch ernst! Was du dir nicht ausgedacht hast! Du, erzähle mir
+lieber etwas, worüber ich lachen kann ... Etwas Ernstes, nein etwas
+Ernstes will ich jetzt nicht hören. Was bist du mir für ein Freund?
+Bitte, sage mir doch, was bist du für ein Freund!?“
+
+„Arkascha, bei Gott, ich kann nicht!“
+
+„Und ich will nichts davon wissen ...“
+
+„Höre, Arkascha!“ begann Wassjä, der quer über dem Bett lag und sich mit
+aller Gewalt mühte, seinen Worten Nachdruck zu geben. „Arkascha,
+meinetwegen sag’ ich’s – nur ...“
+
+„Nun, was denn ...“
+
+„Ich habe – mich verlobt!“
+
+Arkadij Iwanowitsch nahm schweigend und ohne ein Wort zu verlieren,
+Wassjä wie ein kleines Kind auf seine Arme, ungeachtet dessen, daß
+Wassjä durchaus nicht so klein war, sondern recht lang, wenn auch sehr
+mager, und trug ihn von einer Ecke des Zimmers in die andere, ganz als
+wiege er ein Kind.
+
+„Und ich werde dich Bräutigam einwickeln wie einen Säugling,“ gab er zur
+Antwort. Doch als er bemerkte, daß Wassjä regungslos und ohne ein Wort
+zu sagen in seinen Armen lag, besann er sich und begriff, daß er in
+seinem Scherz offenbar zu weit gegangen war: er stellte ihn daher mitten
+ins Zimmer hin und streichelte ihm auf die freundschaftlichste Weise die
+Backe.
+
+„Wassjä, du bist doch nicht böse?“
+
+„Arkascha, höre ...“
+
+„Wohl zum neuen Jahr?“
+
+„Bös bin ich nicht – doch, warum bist du so ein Kraftrüpel, so ein
+Unmensch? Wie oft habe ich dir nicht gesagt: Arkascha, bei Gott, das ist
+nicht sehr witzig, durchaus nicht sehr witzig!“
+
+„Nun sei nur nicht gleich böse!“
+
+„Böse? ... Auf wen bin ich denn jemals böse! Aber gekränkt hast du mich
+doch, verstehst du das!“
+
+„Wodurch denn gekränkt, auf welche Weise?“
+
+„Ich bin zu dir gekommen, wie zu einem Freunde, mit voller Seele und um
+dir mein Herz auszuschütten, um dir mein Glück mitzuteilen ...“
+
+„Ja, was für ein Glück denn? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“
+
+„Nun, ich heirate doch!“ antwortete geärgert Wassjä, denn er war
+wirklich gekränkt.
+
+„Du! Du heiratest! Ist das wahr?“ brüllte aus voller Kehle Arkascha.
+„Nein, nein ... was soll denn das? Und dabei vergießt er Tränen! ...
+Wassjä, du mein Wassjuk, mein Söhnchen, höre auf! Es ist also wirklich
+wahr?“ Und Arkadij Iwanowitsch umarmte ihn immer wieder von neuem.
+
+„Nun, also verstehst du jetzt, was soeben in mir vorging?“ sagte Wassjä.
+„Du bist doch sonst gut zu mir, du bist doch mein Freund, ich weiß es.
+Ich kam zu dir voll Freude und Begeisterung und plötzlich mußte ich nun
+diese ganze Freude und diese ganze Begeisterung quer über dem Bette
+liegend, würdelos ... Du begreifst doch, Arkascha,“ fuhr Wassjä
+halblachend fort, „in einer so komischen Lage, in der ich in gewisser
+Hinsicht und in diesem Augenblick nicht einmal mir selbst angehörte ...
+Ich wollte doch diese Herzensangelegenheit nicht so erniedrigen ... Es
+fehlt nur noch, daß du mich gefragt hättest, wie sie heißt? Ich schwöre
+dir, ich hätte mir eher das Leben genommen, als dir in diesem Augenblick
+ihren Namen gesagt!“
+
+„Aber, Wassjä, warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt! Ich hätte
+ja sofort aufgehört mit dem Ulk!“ rief Arkadij Iwanowitsch in
+aufrichtiger Verzweiflung.
+
+„Schon gut, schon gut! Ich sage ja nur so ... Du weißt doch ... nur –
+weil ich ein so gutes Herz habe. Es ärgert mich ja bloß, daß ich es dir
+nicht so sagen konnte, wie ich’s wollte! Ich wollte dir doch eine Freude
+bereiten, dir alles schön und feierlich mitteilen, dich in alles
+einweihen ... Wirklich, Arkascha, ich liebe dich doch so sehr, daß ich,
+wenn du nicht wärest, so scheint es mir, überhaupt nicht heiraten würde,
+ja, vielleicht gar nicht auf der Welt sein möchte!“
+
+Arkadij Iwanowitsch, der äußerst gefühlvoll war, weinte und lachte
+zugleich, als er das hörte. Wassjä gleichfalls. Beide umarmten sich
+immer wieder von neuem und vergaßen alles Gegenwärtige.
+
+„Wie ist denn das nur, ja, wie ist denn das nur gekommen? Erzähle mir
+doch alles, Wassjä! Ich bin, mein Lieber, entschuldige, ich bin
+erschüttert, ganz und gar erschüttert, als hätte der Blitz mich
+getroffen, bei Gott! Doch nein, mein Lieber, nein, du hast dir ganz
+einfach was ausgedacht. Bei Gott, du lügst!“ brüllte Arkadij Iwanowitsch
+und blickte wirklich ganz mißtrauisch Wassjä an, aber als er auf dessen
+Gesicht nun wirklich die leuchtende Bestätigung seiner unumstößlichen
+Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, bemerkte, warf er sich aufs
+Bett und begann sich vor lauter Entzücken so in ihm herumzuwälzen, daß
+die Wände zitterten.
+
+„Wassjä, setz dich hierher zu mir!“ rief er, endlich sich im Bett
+aufrichtend.
+
+„Ich, Bruderherz, ich weiß wirklich nicht – wie und womit beginnen!“
+
+Beide sahen in freudiger Erregung einander an.
+
+„Wer ist sie, Wassjä?“
+
+„Eine Artemjewa! ...“ stieß Wassjä mit vor Glück zitternder und noch
+ganz schwacher Stimme hervor.
+
+„Nein, wirklich?“
+
+„Nun, ich habe dir doch schon über sie die Ohren vollgeredet! Du
+bemerktest nur von alledem nichts! Und so schwieg ich denn ganz! Ach,
+Arkascha, was es mich kostete, dir gegenüber das alles zu verbergen! –
+doch ich fürchtete mich, fürchtete mich zu reden! Ich dachte, es könnte
+am Ende alles auseinandergehen, und ich war doch so verliebt, Arkascha!
+Mein Gott, mein Gott! Weißt du, was das für Geschichten waren,“ begann
+er, und brach sogleich wieder vor Erregung ab, „sie war doch vor einem
+Jahr bereits einmal verlobt, er aber wurde plötzlich irgendwohin
+wegversetzt, ich kannte ihn auch – so einer, nun, Gott mit ihm! Er hat
+dann nichts mehr von sich hören lassen und war schließlich für sie
+verschollen. Sie wartete und wartete und wußte nicht, was das bedeuten
+sollte? ... Plötzlich, vor vier Wochen, kehrte er zurück – bereits
+verheiratet, und ohne sich bei ihnen auch nur sehen zu lassen. War das
+nicht roh? Gemein? Niemand war da, der für sie eintrat. Sie weinte und
+weinte, die Arme, und so verliebte ich mich denn in sie ... ja, ich war
+eigentlich schon lange, eigentlich schon immer in sie verliebt! Ich
+tröstete sie und ging wieder und wieder zu ihr. Nun, und da weiß ich
+denn selbst nicht, wie alles gekommen ist! Auch sie hatte mich recht
+liebgewonnen: und in der vorigen Woche, da hielt ich es nicht mehr aus,
+da mußte ich weinen, ich schluchzte und sagte ihr alles, sagte ihr, daß
+ich sie liebe – kurz, alles! ... ‚Ich würde Sie wohl auch lieben,
+Wassilij Petrowitsch,‘ sagte sie, ‚ich bin aber ein armes Mädchen, darum
+spotten Sie meiner nicht – ich wage es überhaupt nicht mehr, jemanden zu
+lieben.‘ Nun, mein Freund, verstehst du, verstehst du mich?! ... Da
+haben wir uns denn gegenseitig das Wort gegeben. Und ich habe überlegt,
+wie ich es der Mutter mitteilen wollte? Lisenka sagte, es sei sehr
+schwierig, ich möchte noch ein wenig warten: sie fürchtete sich, es
+selbst zu tun; ‚Mutter wird mich Ihnen jetzt noch nicht geben wollen,‘
+meinte sie und weinte dazu. Ich sagte ihr weiter nichts. Heute habe ich
+es nun der Alten gestanden. Lisa kniete vor ihr nieder und ich auch ...
+Nun, und sie – segnete uns. Arkascha, Arkascha! mein Lieber! Wir wollen
+alle zusammen leben! Nein! Ich werde mich von dir um nichts in der Welt
+trennen!“
+
+„Wassjä, wenn ich dich so ansehe, so kann ich es nicht glauben, bei
+Gott, ich schwöre es dir, ich kann es nicht glauben. Wirklich, es
+scheint mir immer ... Höre, wie kannst du dich denn verheiraten? und wie
+habe ich die ganze Zeit über von nichts wissen können, sag! Jetzt, mein
+Wassjä, kann ich dir auch gestehen, daß ich selbst zu heiraten gedachte:
+da du es aber bereits für mich tust, so ist das ja ganz gleich! ...
+Werde also glücklich, mein Lieber! ...“
+
+„Ach, du, wie mir jetzt leicht und wohl zumut ist ...“ sagte Wassjä und
+ging vor Erregung im Zimmer auf und ab. „Nicht wahr, nicht wahr, du
+fühlst es doch auch? Wir werden arm sein, freilich, aber glücklich – und
+das ist kein Hirngespinst. Unser Glück wird kein papierenes sein, wie es
+in den Büchern steht, sondern wir werden in Wirklichkeit glücklich sein!
+...“
+
+„Wassjä, aber Wassjä, höre!“
+
+„Was denn?“ sagte Wassjä und blieb vor Arkadij Iwanowitsch stehen.
+
+„Mir kam nur der Gedanke – wirklich, ich fürchte mich eigentlich, ihn
+auszusprechen ... Verzeih mir und nimm mir meine Bedenken! Wovon wirst
+du leben? Ich bin ja, weißt du, außer mir vor Freude, daß du heiratest,
+kann mich vor Freude kaum lassen, doch – die Frage bleibt: wovon wirst
+du leben?“
+
+„Ach, mein Gott, wie du auch bist, Arkascha!“ sagte Wassjä und sah mit
+tiefer Verwunderung Nefedewitsch an. „Was fällt dir denn ein? Sogar die
+Alte dachte kaum zwei Minuten lang nach, als ich ihr alles das klar
+machte. Frage sie doch, wovon _sie_ gelebt haben? Fünfhundert Rubel im
+Jahr! für drei! so viel beträgt die ganze Pension, mit der sie auskommen
+müssen! Davon lebt sie, die Alte und ein kleiner Bruder, für den noch
+die Schule bezahlt werden muß – siehst du, so lebt man eben! Wir beide
+aber, du und ich, wir sind wahre Kapitalisten, denn ich habe manches
+Jahr, wenn es gut ging, ganze siebenhundert verdient!“
+
+„Höre, Wassjä, verzeih mir: ich denke, bei Gott, nur daran, wie das
+alles zu machen geht – aber welche siebenhundert sollen das gewesen
+sein? Nur dreihundert ...“
+
+„Dreihundert! ... Und Juljan Mastakowitsch? Den hast du ganz vergessen!“
+
+„Juljan Mastakowitsch! Das ist eine Sache, die nicht ganz stimmt, mein
+Lieber: das sind nicht dreihundert Rubel feststehenden Gehaltes, von
+denen einem ein jeder einzelne Rubel sicher ist. Juljan Mastakowitsch
+ist freilich ein großmütiger und großzügiger Mensch, ich verehre ihn und
+verstehe es, daß er so hoch gestiegen ist, und, bei Gott, ich liebe ihn,
+weil er dir zugetan ist und dir eine Arbeit bezahlt, für die er sonst
+nichts zu bezahlen, sondern einfach nur einen Beamten zu beauftragen
+brauchte – aber sage doch selbst, Wassjä! ... Höre mich an, Wassjä, ich
+rede doch keinen Unsinn; ich weiß auch, daß es in ganz Petersburg eine
+solche Handschrift wie die deine nicht wieder gibt, und ich bin gern
+bereit, das Beste anzunehmen,“ schloß, nicht ohne Wärme, Nefedewitsch,
+„aber wie, wenn du ihm plötzlich – Gott bewahre dich davor! doch nicht
+mehr so gefallen und ihn zufriedenstellen solltest und wenn er mit einem
+Male die Verbindung mit dir abbräche und einen anderen nähme! ... wer
+weiß, was im Leben nicht alles kommen kann. Dann ist Juljan
+Mastakowitsch für dich nichts mehr, dann ist er bloß – gewesen, Wassjä
+...“
+
+„Höre, Arkascha, ebenso kann sofort über uns die Decke einbrechen ...“
+
+„Nun, freilich, freilich ... Ich will ja auch nichts ...“
+
+„Nein, höre mich an: warum soll er mich denn verabschieden ... Nein,
+wirklich, höre mich doch nur an! Ich erledige ja alles pünktlich und
+peinlich: und er ist so gut zu mir, er hat mir doch, Arkascha, er hat
+mir doch heute noch fünfzig Rubel gegeben!“
+
+„Ist’s möglich, Wassjä? eine Zulage?“
+
+„Was, Zulage? Nein, so: einfach aus seiner Tasche. Er sagte: wie, mein
+Lieber, du hast bereits den fünften Monat kein Geld mehr erhalten. Wenn
+du welches brauchst, nimm es: denn ich bin, sagte er, mit dir sehr
+zufrieden ... bei Gott! Du arbeitest doch nicht umsonst für mich, sagte
+er, wirklich! Das hat er gesagt. Mir rollten die Tränen über die Backen,
+Arkascha. Großer Gott!“
+
+„Höre, Wassjä, hast du denn die neue Abschrift fertiggestellt? ...“
+
+„Nein ... noch nicht.“
+
+„Wassinjka! Mein Lieber! Was hast du denn getan?“
+
+„Höre, Arkadij, das tut doch nichts, ich habe noch zwei volle Tage Zeit
+bis zum Termin ...“
+
+„Wie, hast du denn noch gar nicht angefangen?“
+
+„Na ja, na ja! Du siehst mich ja mit einem Ausdruck an, daß sich mein
+ganzes Innere umdreht! Nun, was ist denn dabei? Du kannst einem so den
+Mut nehmen und schreist immer gleich: a–a–a!!! Überleg es dir doch: was
+ist denn dabei? Ich werde damit schon fertig werden, bei Gott, das werde
+ich ...“
+
+„Aber wenn du es nun nicht wirst!“ rief Arkadij und sprang auf. „Gerade
+jetzt, da er dir heute eine Belohnung gegeben hat! Und obendrein willst
+du heiraten ... Oh, oh, oh! ...“
+
+„Das hat nichts zu sagen, gar nichts,“ schrie fast verzweifelt
+Schumkoff, „ich werde mich sofort hinsetzen, noch in dieser Minute werde
+ich mich hinsetzen – das tut gar nichts!“
+
+„Wie hast du es denn nur so vernachlässigen können, Wassjutka!“
+
+„Ach, Arkascha! Konnte ich denn hier so ruhig still sitzen! Mein Zustand
+war doch so, daß ich kaum in der Kanzlei arbeiten konnte ... Ach! Ach!
+Heute werde ich die Nacht durcharbeiten, morgen wieder die Nacht
+durcharbeiten und übermorgen auch noch und dann – wird’s fertig sein!
+...“
+
+„Ist noch viel übriggeblieben?“
+
+„Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich nicht! schweige mir
+davon!“
+
+Arkadij Iwanowitsch ging leise auf den Fußspitzen zu seinem Bett, und
+setzte sich hin, darauf wollte er plötzlich wieder aufstehen, sagte sich
+aber sofort, daß er seinen Freund nicht stören dürfe und blieb sitzen:
+offenbar hatte ihn die Mitteilung so aufgeregt, daß er noch nicht mit
+sich zur Ruhe kommen konnte. Er blickte auf Schumkoff, der sah ihn an,
+lächelte und drohte ihm mit dem Finger. Darauf runzelte Schumkoff ganz
+furchtbar die Brauen, als läge darin die eigentliche Kraft und der
+gewünschte Erfolg seiner Arbeit, und richtete seine Augen dann wieder
+aufs Papier.
+
+Es schien, daß auch er seine Erregung noch nicht überwunden hatte, er
+wechselte beständig seine Feder, rückte auf dem Stuhle hin und her, nahm
+sich zusammen, um wieder von neuem zu beginnen, doch seine Hand zitterte
+und versagte offenbar den Dienst.
+
+„Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!“ rief er plötzlich, als
+wäre es ihm soeben eingefallen.
+
+„Ja?“ rief Arkascha, „und ich wollte dich vorhin schon darüber fragen,
+nun?“
+
+„Nun! Ach, ich werde dir später alles erzählen. Sieh, bei Gott, jetzt
+habe ich selbst zu sprechen angefangen und ich wollte es doch nicht tun,
+bevor ich nicht wenigstens vier Blätter fertig gemacht. Mir fiel es aber
+plötzlich ein, das von dir und von ihnen! Ich kann auch, mein Lieber –
+ich kann gar nicht ordentlich schreiben: immer muß ich an euch denken
+...“ Und Wassjä lächelte.
+
+Es trat Schweigen ein.
+
+„Pfui! Was für eine schlechte Feder!“ rief Schumkoff, schlug im Ärger
+auf den Tisch und nahm wieder eine andere.
+
+„Wassjä! Höre! Nur ein Wort ...“
+
+„Nun, aber schnell, zum letztenmal.“
+
+„Hast du noch viel zu schreiben?“
+
+„Ach, mein Lieber! ...“ Wassjä runzelte die Stirn, als gebe es keine
+schrecklichere und tötendere Frage auf der Welt, als diese. „Viel,
+furchtbar viel!“ antwortete er dann.
+
+„Weißt du, ich habe eine Idee ...“
+
+„Was für eine?“
+
+„Nein, nein, schreibe nur.“
+
+„Nun, was für eine? Sag doch!“
+
+„Es ist bereits sieben Uhr, Wassjä!“
+
+Dabei lächelte Nefedewitsch schelmisch und blinzelte Wassjä zu, wenn
+auch nur ganz schüchtern, da er nicht wußte, wie dieser es aufnehmen
+würde.
+
+„Nun, was denn?“ sagte Wassjä und schien wirklich mit dem Schreiben
+aufhören zu wollen. Er sah ihm gerade in die Augen und war ganz bleich
+vor Erwartung.
+
+„Weißt du, was?“
+
+„Um Gottes willen, was denn?“
+
+„Weißt du, du bist so erregt und wirst doch nicht viel arbeiten können
+... Warte, warte, warte, ich sehe, ich sehe – so höre doch!“ beeilte
+sich Nefedewitsch und sprang, von seinem Gedanken gefaßt, vom Bett auf,
+um mit allen Kräften einer Erwiderung Wassjäs zuvorzukommen, „es ist vor
+allem nötig, daß du dich beruhigst und wieder von neuem Kräfte sammelst,
+ist’s nicht so?“
+
+„Arkascha! Arkascha!“ rief Wassjä aus und sprang vom Stuhl, „ich werde
+die ganze Nacht aufbleiben und schreiben, bei Gott, das tu’ ich!“
+
+„Nun ja, jawohl! doch gegen Morgen wirst du einschlafen ...“
+
+„Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der Welt ...“
+
+„Nein, das geht, das geht nicht! Natürlich wirst du um fünf Uhr
+einschlafen! Und um acht Uhr werde ich dich wieder wecken. Morgen ist
+ein Feiertag, da kannst du dich hinsetzen und den ganzen Tag über
+schreiben ... Dann noch eine Nacht und – ist denn noch so viel
+übriggeblieben?“
+
+„Da! sieh!“
+
+Wassjä zeigte ihm zitternd vor Erwartung und Erregung das Heft: „Da!
+sieh!“
+
+„Höre, Bruder, das ist nicht viel ...“
+
+„Ja, mein Lieber, aber – es ist noch etwas,“ sagte Wassjä und sah dabei
+schüchtern, fragend Nefedewitsch an, als würde von dessen Entschluß
+alles abhängen: ob sie gingen oder nicht gingen?
+
+„Wieviel?“
+
+„– Zwei Bogen ...“
+
+„Nun, ich glaube, damit wirst du auch fertig, bei Gott, du wirst
+fertig!“
+
+„Arkascha!“
+
+„Höre, Wassjä! Jetzt zum neuen Jahr sind doch alle in der Familie
+versammelt und nur wir beide sollten – so ohne Häuslichkeit und ganz
+verwaist ... Ach! Wassinjka!“
+
+Nefedewitsch umarmte Wassjä und drückte ihn an seine Brust.
+
+„Abgemacht, Arkadij!“
+
+„Wassjuk, ich wollte dir nur noch eines sagen. Siehst du, Wassjuk, mein
+Junge! Höre! Höre mich an!“
+
+Arkadij hielt den Mund weit aufgesperrt, als könne er vor Begeisterung
+nicht mehr sprechen. Wassjä, der sich noch immer mit den Händen an
+Arkadijs mächtigen Schultern hielt, sah ihm gespannt in die Augen und
+bewegte seine Lippen, ganz als wollte er für ihn sprechen ...
+
+„Nun!“ sagte er endlich.
+
+„Stelle mich ihnen heute vor!“
+
+„Arkadij! Ja: gehen wir hin! Trinken wir Tee bei ihnen! Aber weißt du
+was? Das neue Jahr freilich wollen wir nicht abwarten, wir wollen früher
+nach Haus kommen,“ rief Wassjä noch immer in aufrichtiger Begeisterung.
+
+„Das heißt also: zwei Stunden, nicht mehr und nicht weniger! ...“
+
+„Und dann – Trennung, bis ich meine Sache fertig habe! ...“
+
+„Wassjuk! ...“
+
+„Arkadij! ...“
+
+In drei Minuten war Arkadij im Galaanzug. Wassjä brauchte sich nur etwas
+abzubürsten, da er sich mit solchem Eifer an die Arbeit gemacht hatte,
+daß er nicht einmal seinen Rock ausgezogen.
+
+Sie beeilten sich, auf die Straße zu kommen, der eine noch freudiger als
+der andere. Der Weg ging auf die Petersburger Seite[3] nach Kolomna[4].
+Arkadij Iwanowitsch schritt weit und kräftig aus, schon an seinem Gang
+konnte man seine Freude über das Glück Wassjäs erkennen. Wassjäs Gang
+war trippelnder, doch verlor er deshalb nichts von seiner Würde. Im
+Gegenteil, Arkadij Iwanowitsch hatte noch nie einen so vorteilhaften
+Eindruck von ihm gehabt. Er empfand, wie sie so gingen, fast eine
+gewisse Hochachtung vor ihm, und ein körperlicher Fehler Wassjäs, von
+dem der Leser bis jetzt noch nichts erfahren (Wassjä war nämlich ein
+wenig schief gewachsen) und der im Herzen Arkadij Iwanowitschs immer ein
+tiefes Mitgefühl für ihn erweckt hatte, trug zu einem nur noch größeren,
+nur noch innigeren Gefühl für seinen Freund bei. Arkadij Iwanowitsch
+hatte vor Freude weinen können, doch er beherrschte sich.
+
+„Wohin, wohin, Wassjä? Hier ist es doch näher!“ rief er, als er sah, daß
+Wassjä in den Wosnessenskij-Prospekt abbiegen wollte.
+
+„Komm nur, Arkascha, komm ...“
+
+„Wirklich, es ist näher, Wassjä.“
+
+„Arkascha, weißt du?“ begann Wassjä geheimnisvoll und mit vor Seligkeit
+flüsternder Stimme, „weißt du? Ich möchte nämlich Lisenka ein Geschenk
+mitbringen ...“
+
+„Was für eines?“
+
+„Hier, mein Lieber – an der Ecke – wohnt Mme. Leroux ... ein
+wundervoller Laden!“
+
+„Was denn –“
+
+„Ein Hütchen, mein Lieber, ein Hütchen. Heute morgen habe ich ein
+reizendes Hütchen gesehen: ich fragte nach der Fasson, und man sagte
+mir, Manon Lescaut heiße das Wunder! Die Bänder sind kirschfarben, und
+wenn das Hütchen nicht zu teuer ist ... Arkascha, und schließlich, wenn
+es auch teuer ist! ...“
+
+„Du übertriffst wahrhaftig noch alle Poeten, Wassjä! Gehen wir also!
+...“
+
+Sie gingen und waren in zwei Minuten im Laden. Hier wurden sie von einer
+schwarzäugigen und lockenhaarigen älteren Französin empfangen, die
+sofort, beim ersten Blick auf ihre Käufer, ebenso lustig und glücklich
+zu werden schien, wie diese selbst waren, sogar noch lustiger und noch
+glücklicher, wenn das möglich gewesen wäre. Wassjä war bereit, Madame
+Leroux vor Entzücken sofort abzuküssen ...
+
+„Arkascha!“ flüsterte er diesem zu, als er mit seinem Blick all das
+Schöne und Hohe überflog, das an Holzständern auf dem großen Tisch des
+Geschäfts ausgestellt war. „Welche Wunder! Wie ist denn das? Dies hier
+zum Beispiel, dieses Bonbon hier, siehst du?“ Wassjä wies auf ein
+kleines, reizendes Hütchen, doch nicht auf dasjenige, welches er kaufen
+wollte, denn schon von weitem hatte dieses andere, am entgegengesetzten
+Ende, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er starrte es so an, als
+wäre zu befürchten, daß es von jemandem gestohlen werden könnte oder als
+ob das Hütchen selbst, nur damit Wassjä es nicht bekommen sollte, in die
+Luft fliegen könnte.
+
+„Dieses hier,“ sagte Arkadij Iwanowitsch und wies auf ein anderes
+Hütchen, „dieses hier ist meiner Meinung nach noch schöner.“
+
+„Nun, Arkascha! Das legt dir Ehre ein: ich muß dir sagen, daß ich vor
+deinem Geschmack Achtung bekomme,“ bemerkte Wassjä, der scheinbar aus
+Liebe zu Arkascha auf dessen Geschmack einging. „Dein Hütchen ist
+wirklich reizend, aber sieh einmal her!“
+
+„Welches ist schöner?“
+
+„Sieh mal her!“
+
+„Dieses?“ sagte etwas zögernd Arkadij.
+
+Doch als Wassjä, der nicht fähig war, länger an sich zu halten, das
+Hütchen vom Holzgestell herunterholte, von dem es scheinbar selbst
+herunterfliegen wollte, als freute es sich – nach so langer Erwartung,
+in der seine Bänderchen, Rüschchen und Spitzen steif hatten dastehen
+müssen – über den guten Käufer: da entriß sich der mächtigen Brust
+Arkadij Iwanowitschs ein Schrei des Entzückens. Sogar Madame Leroux, die
+die ganze Zeit über ihre Würde gewahrt und während ihrer Auswahl zu
+allen Fragen des Geschmacks herablassend geschwiegen hatte, belohnte
+jetzt Wassjä mit einem begütigenden Lächeln und dieses Lächeln schien zu
+sagen: ja! Sie haben es getroffen, Sie sind des Glückes würdig, das Sie
+erwartet.
+
+„So hat es in seiner Einsamkeit kokettiert und kokettiert!“ rief Wassjä
+aus, der seine ganze Zärtlichkeit auf das reizende Hütchen übertrug,
+„hat sich mit Absicht versteckt, der Schelm!“ Und er küßte es, das
+heißt, er küßte die Luft, die es umgab, denn er fürchtete sich, an seine
+Kostbarkeit auch nur zu rühren.
+
+„So versteckt sich das wahre Verdienst,“ fügte Arkadij in seinem
+Entzücken hinzu, um mit dieser Phrase, die er am Morgen in einer Zeitung
+gelesen hatte, Humor in die Sache zu bringen. „Nun, Wassjä, wie steht es
+denn?“
+
+„Vivat, Arkascha! Du spielst wohl heute den Geistreichen, um Furore zu
+machen, wie sich die Damen ausdrücken – nicht wahr, Madame Leroux, nicht
+wahr!“
+
+„Was wünschen Sie?“
+
+„Nicht wahr, meine liebe Madame Leroux!“
+
+Madame Leroux blickte gütig lächelnd Arkadij Iwanowitsch an.
+
+„Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick vergöttere ...
+Erlauben Sie, daß ich Sie umarme ...“ Und Wassjä küßte wirklich die
+Ladenmadame.
+
+Es gehörte Würde dazu, um sich in diesem Augenblick solch einem
+Heißsporn gegenüber nichts zu vergeben. Und vor allem: eine angeborene
+Liebenswürdigkeit und diese natürliche Grazie, mit der Madame Leroux die
+Begeisterung Wassjäs aufnahm, entschuldigte ihn, und sie verstand es,
+sich mit liebenswürdigem Geschick in die Situation zu finden! Es war ja
+auch überhaupt unmöglich, Wassjä im Ernste böse zu sein!
+
+„Madame Leroux, welches ist der Preis?“
+
+„Fünf Rubel,“ antwortete sie und rechtfertigte ihre Forderung mit einem
+neuen Lächeln.
+
+„Und dieser Hut hier, Madame Leroux,“ fragte Arkadij Iwanowitsch und
+wies auf den von ihm gewählten.
+
+„Dieser: acht Rubel.“
+
+„Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Nun müssen Sie selbst entscheiden,
+Madame Leroux, welcher ist schöner, welcher niedlicher, welcher von den
+beiden würde Sie kleiden?“
+
+„Dieser hier ist reicher, doch der, den Sie gewählt haben – ^il est plus
+coquet^.“
+
+„Also, nehmen wir ihn!“
+
+Madame Leroux legte ihn in einen Bogen feinen, dünnen Seidenpapiers und
+steckte es mit kleinen Stecknadeln fest. Das Papier aber, mit dem Hut,
+schien jetzt beinahe noch leichter zu sein als früher, ohne Hut. Wassjä
+nahm das Paket und wagte kaum zu atmen, er verabschiedete sich von
+Madame Leroux, sagte ihr noch etwas Liebenswürdiges und verließ den
+Laden.
+
+„Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ein geborener Lebemann!“ rief Wassjä
+draußen lachend aus. Das Lachen ging aber gleich darauf in einen kaum
+hörbaren nervösen feinen Ton über, den ein Lächeln begleitete – und
+Wassjä selbst wich allen Vorübergehenden ängstlich aus, als ob er sie
+mit einem Male im Verdacht hätte, der Versuchung, sein kostbares Hütchen
+zu zerknüllen, nicht widerstehen zu können.
+
+„Höre, Arkadij, höre!“ begann er einen Augenblick später und etwas
+Feierliches, etwas unendlich Seliges lag in seiner Stimme. „Arkadij, ich
+bin so glücklich, ich bin so glücklich!“
+
+„Wassinjka! Und wie ich glücklich bin, mein Liebling!“
+
+„Nein, Arkascha, nein, deine Liebe zu mir ist grenzenlos, ich weiß es.
+Doch du kannst nicht den zehnten Teil von dem empfinden, was ich in
+diesem Augenblick fühle. Mein Herz ist so voll, so übervoll!! Arkascha!
+Ich bin ja meines Glückes gar nicht würdig! Ich weiß es, ich fühle es
+selbst. Womit habe ich es verdient,“ rief er mit einer Stimme aus, die
+voll war von verhaltenem Schluchzen, „was habe ich denn je Gutes getan,
+sage nur. Sieh doch, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen, wieviel
+Kummer, wieviel Alltag ohne Feiertag! Und ich! Mich liebt ein solches
+Mädchen, mich ... Du wirst sie ja selbst sehen, wirst selbst ihr edles
+Herz erkennen. Ich komme aus niedrigem Stande, doch habe ich eine
+Stellung und ein festes Gehalt. Ich bin mit einem Gebrechen auf die Welt
+gekommen, bin schief gewachsen. Sie aber liebt mich, so wie ich bin.
+Juljan Mastakowitsch war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich zu
+mir. Er spricht sonst selten mit mir – doch: ‚Nun, Wassjä,‘ sagte er
+heute (bei Gott, Wassjä nannte er mich) ‚wirst du in den Feiertagen auch
+durchgehen, wie?‘ Dabei lachte er. ‚Nein,‘ sagte ich zuerst, ‚Euer
+Exzellenz, ich habe zu tun.‘ Doch dann nahm ich mich zusammen und sagte:
+‚Vielleicht werde ich mich auch mal amüsieren, Exzellenz!‘ – bei Gott,
+das sagte ich. Da gab er mir denn das Geld und sprach noch ein paar
+Worte mit mir. – Ich, Bruder, ich weinte beinah, die Tränen stürzten mir
+aus den Augen und er, er schien auch gerührt zu sein, klopfte mir auf
+die Schulter und sagte: ‚Fühle immer so, Wassjä, wie du jetzt fühlst‘
+...“
+
+Wassjä verstummte auf einen Augenblick.
+
+„Und nicht genug,“ fuhr Wassjä fort. „Ich habe es dir gegenüber noch nie
+ausgesprochen, Arkadij ... Arkadij! Du hast mir deine Freundschaft
+geschenkt, ohne dich wäre ich nicht auf der Welt, – nein, nein, sage
+nichts, Arkascha! Laß mich dir deine Hand drücken, gib, ich will dir
+danken!“ ... Wassjä konnte seinen Satz wieder nicht beenden.
+
+Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassjä um den Hals fallen, doch
+überschritten sie gerade die Straße, und so hörten sie denn plötzlich,
+dicht hinter ihren Ohren den einschneidenden Ruf eines Kutschers: ‚Heda!
+Achtung!‘ und beide, erregt und erschrocken wie sie waren, liefen so
+schnell als nur möglich aufs Trottoir. Arkadij Iwanowitsch war
+eigentlich froh über diesen Zwischenfall. Den Überschuß an Dankbarkeit
+bei Wassjä erklärte er sich als einen Ausfluß des Augenblicks. Ihm war
+er peinlich, weil er meinte, daß er Wassjä bis jetzt noch gar nichts
+Gutes getan! Er schämte sich sogar vor sich selbst, weil Wassjä ihm für
+das Wenige so dankte! Doch, ein ganzes Leben stand ihm noch bevor – und
+Arkadij Iwanowitsch atmete frei mit einem großen Vorsatze auf ...
+
+Man hatte es schon aufgegeben, sie zu erwarten! Ein Beweis: daß sie
+bereits beim Tee saßen! Und wirklich, manchmal ist ein älterer Mensch
+ahnungsvoller als die liebe Jugend. Lisenka hatte in allem Ernst
+behauptet, daß er nicht kommen werde, nicht kommen werde. „Mamenka! mein
+Herz fühlt es, daß er nicht kommen wird!“ aber Mamenka hatte im
+Gegenteil behauptet, ihr Herz fühle ganz genau, daß Wassjä keine Ruhe
+finden und deshalb ganz sicher gelaufen kommen würde, zumal er am
+Vorabend des neuen Jahres doch keinen Dienst mehr hatte! Als nun Lisenka
+die Tür öffnete, traute sie ihren Augen nicht: sie errötete über und
+über und ihr Herz schlug so heftig, wie bei einem gefangenen Vögelchen.
+Ja, sie war rot wie eine Kirsche, der sie überhaupt ähnlich sah.
+
+„Mein Gott, welche Überraschung!“ Ein freudiges „Ach!“ kam über ihre
+Lippen. „Du Schelm, du Betrüger, du mein Lieber du!“ rief sie aus und
+fiel Wassjä um den Hals. Doch man stelle sich ihre Verwunderung vor,
+ihre plötzliche Verlegenheit: denn genau hinter Wassjä, als wollte er
+sich hinter ihm verstecken, stand, verwirrt wie er war, Arkadij
+Iwanowitsch. Aber Arkadij Iwanowitsch verstand es nicht, mit Frauen
+umzugehen: er war sogar sehr ungeschickt ... Einmal passierte es ihm,
+daß ... Doch davon ein andermal. Indessen, man versetze sich in seine
+Lage! Es ist nichts Lächerliches dabei: er stand im Vorzimmer, in
+Gummischuhen, im Mantel und in einer Mütze mit Ohrenklappen, um den Hals
+einen schrecklichen gelben Schal, der zum Überfluß hinten im Nacken dick
+geknotet und gebunden war, – dieser Knoten mußte nun gelöst und der
+Schal abgenommen werden, damit er selbst einen vorteilhaften Eindruck
+machen konnte ... denn es gibt nun einmal keinen Menschen, der nicht
+wünschte, einen vorteilhaften Eindruck zu machen! Und dieser Wassjä,
+dieser unerträgliche, unausstehliche, obgleich sonst so liebe, gute
+Wassjä, war jetzt ein ganz erbarmungsloser Wassjä! Schreien mußte er:
+
+„Lisenka, hier stelle ich dir Arkadij vor! Wer das ist? Mein bester
+Freund, umarme ihn, küsse ihn, Lisenka, küsse ihn im voraus, wenn du ihn
+einmal kennst, wirst du ihn immer küssen ...“ Nun, was blieb da wohl dem
+armen Arkadij Iwanowitsch übrig? Er stand noch immer und versuchte
+seinen Schal aufzuknoten! Nein: diese Begeisterung Wassjäs war doch
+manchmal wirklich unangebracht und ganz gewissenlos! Freilich, freilich,
+sie bewies sein gutes Herz, aber ... immerhin – es war doch zu peinlich!
+
+Endlich traten sie beide ins Zimmer ... Die Alte war unsagbar glücklich,
+die Bekanntschaft Arkadij Iwanowitschs zu machen: sie hätte so viel von
+ihm gehört, sie ... Doch sie beendete ihre Phrase nicht. Ein freudiges
+„Ach!“ durchtönte das Zimmer und unterbrach sie. Mein Gott! Lisenka
+stand vor dem enthüllten Hütchen, hielt naiv beide Hände gefaltet, und
+lächelte, lächelte ... Mein Gott, warum gab es bei Madame Leroux nicht
+noch ein viel, viel schöneres Hütchen!
+
+Ach, aber wo konnte man wohl ein noch schöneres finden?! Ich spreche im
+Ernst! Mich bringt schließlich diese Undankbarkeit Verliebter wirklich
+zur Verzweiflung. Möchten die beiden doch endlich einsehen, daß es gar
+nichts Schöneres geben kann, als dieses Bonbon von Hütchen! Möchten sie
+einsehen – doch meine Verzweiflung war umsonst: sie sind bereits wieder
+alle mit mir einverstanden, es war ein Irrtum und weiter nichts! Ich bin
+bereit, ihnen zu vergeben. Meine Leser aber werden entschuldigen, wenn
+ich immer noch von dem Hütchen spreche: Ganz leicht und durchsichtig aus
+Tüll war es, mit breiten kirschroten Bändern und mit Spitzen bedeckt.
+Unter dem Tüll und den Rüschen hervor hingen hinten auf den Hals zwei
+Bänder herab ... Man mußte es ein wenig in den Nacken setzen. Und nun,
+nach alledem sehen Sie hin, ich bitte Sie! Sie aber scheinen nicht sehen
+zu wollen! ... Sie sehen zur Seite. Sehen, wie zwei Tränen gleich Perlen
+in den langen schwarzen Augenwimpern hängen und dort einen Augenblick
+erzittern und auf diesen Tüll niederfallen, der dünn wie Luft ist, auf
+diesen Tüll, aus dem das Kunstwerk Madame Lerouxs bestand ... Ich aber
+ärgere mich: denn nicht dem Hütchen galten diese beiden Tränen! ...
+Nein! eine solche Sache muß man ganz kaltblütig aufnehmen, nur dann kann
+man sie wirklich schätzen!
+
+Man setzte sich. Wassjä setzte sich mit Lisenka zusammen und die Alte
+mit Arkadij Iwanowitsch. Man begann ein Gespräch und Arkadij Iwanowitsch
+behauptete sich durchaus. Mit Freuden lasse ich ihm Gerechtigkeit
+widerfahren. Es war das eigentlich von ihm nicht zu erwarten. Nach ein
+paar Worten über Wassjä verstand er es vorzüglich, von Juljan
+Mastakowitsch, Wassjäs Wohltäter, zu erzählen. Und so klug, so
+verständig sprach er, daß das Gespräch eine ganze Stunde lang nicht ins
+Stocken geriet. Man müßte es gehört haben, mit welchem Takt Arkadij
+Iwanowitsch einige Sonderheiten Juljan Mastakowitschs berührte, die eine
+mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu Wassjä hatten. Dafür war die
+Alte auch ganz entzückt, aufrichtig entzückt von ihm: sie selbst gestand
+es Wassjä. Ausdrücklich rief sie ihn zu sich, um ihm zu sagen, daß sein
+Freund ein prächtiger, liebenswürdiger junger Mensch sei, und was die
+Hauptsache, so ein ernster, gesetzter junger Mann. Wassjä hätte am
+liebsten laut aufgelacht vor Vergnügen. Er dachte daran, wie der
+gesetzte Arkascha ihn noch vor einer Viertelstunde aufs Bett geworfen
+hatte! Darauf machte die Alte Wassjä ein Zeichen, leise und unbemerkt
+ins andere Zimmer zu kommen. Und dort handelte sie nun allerdings
+Lisenka gegenüber nicht richtig: sie zeigte nämlich Wassjä das Geschenk,
+das Lisenka ihm zum neuen Jahr machen wollte. Es war eine Brieftasche
+mit einer goldgestickten, wundervollen Zeichnung: auf der einen Seite
+war ein rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ähnlich, so
+vorzüglich erfaßt. Auf der anderen Seite befand sich das Bild eines
+berühmten Generals, ebenso vorzüglich, ebenso ähnlich und naturgetreu.
+Ich kann es gar nicht schildern, dieses helle Entzücken Wassjäs.
+
+Unterdessen war in dem anderen Zimmer die Zeit nicht ungenutzt
+verstrichen. Lisenka war zu Arkadij Iwanowitsch getreten, hatte ihm die
+Hand gereicht und ihm gedankt – und Arkadij Iwanowitsch hatte sofort
+begriffen, daß es sich um den teuren Wassjä handelte. Lisenka war tief
+bewegt: sie habe erfahren, sagte sie, daß Arkadij ein so treuer Freund
+ihres Verlobten sei, daß er ihn liebe und über ihn wache und ihn auf
+jeden Schritt mit seinen Ratschlägen unterstütze, so daß sie, Lisenka,
+es nicht unterlassen könne, ihm zu danken, und daß sie hoffe, Arkadij
+Iwanowitsch würde auch sie lieb haben, und wär’s auch nur halb so wie
+den Wassjä. Darauf fragte sie ihn, ob Wassjä auch seine Gesundheit in
+acht nehme, sprach von der Heftigkeit seines Charakters und über sein
+Unvermögen dem praktischen Leben gegenüber, sowie über seinen Mangel an
+Menschenkenntnis. Sie sagte weiter, daß sie auf ihn aufpassen und ihn
+vor allem bewahren würde, und daß sie hoffe, auch Arkadij Iwanowitsch
+werde sie nicht verlassen und bei ihnen bleiben.
+
+„Wir werden alle drei zusammenbleiben und wie ein einziger Mensch sein!“
+rief sie in naiver Begeisterung aus.
+
+Doch die Zeit rückte vor und man mußte aufbrechen. Selbstverständlich
+versuchte man, die Gäste zurückzuhalten, doch Wassjä erklärte kurz und
+bündig, daß es nicht möglich sei, zu bleiben, und Arkadij Iwanowitsch
+bestätigte es. Man fragte natürlich: warum? und so erfuhren sie denn,
+daß es sich um eine Arbeit für Juljan Mastakowitsch handelte, eine sehr
+eilige, notwendige, unangenehme, die bis übermorgen früh fertiggestellt
+werden mußte, und daß sie noch sehr im Rückstande wäre. Das Mamachen
+seufzte, als sie das hörte, Lisenka aber erschrak sehr und trieb sogar
+selbst Wassjä zur Eile an. Der letzte Kuß verlor dabei nicht an Wert, er
+war kürzer, eiliger, aber um so heißer und heftiger. Endlich trennte man
+sich und die beiden Freunde gingen zusammen nach Haus.
+
+Sofort, kaum daß sie auf der Straße waren, tauschten sie untereinander
+ihre Eindrücke aus. Ja, und es mußte wohl so sein, daß Arkadij
+Iwanowitsch sich sterblich in Lisenka verliebt hatte! Wem aber war das
+leichter verständlich, als dem glücklichen Wassjä? Arkadij Iwanowitsch
+gestand Wassjä sofort alles ein. Wassjä lachte und freute sich sehr
+darüber, und bemerkte, daß sie jetzt noch innigere Freunde sein würden,
+als ehedem. „Du hast mich sofort verstanden, Wassjä,“ sagte Arkadij
+Iwanowitsch, „so ist’s! Ich liebe sie, wie ich dich liebe, sie wird mein
+Schutzengel sein, ganz wie sie für dich einer ist und euer Glück wird
+auch auf mich übergehen und auch mich erwärmen. Sie wird auch meine
+Hausfrau sein, in ihre Hände lege auch ich mein Glück: möge sie für mich
+sorgen, wie sie es für dich tut. Ja, Freundschaft zu dir – Freundschaft
+auch zu ihr. Ihr beide werdet für mich ganz unzertrennlich sein, nur daß
+ihr eben statt ein Wesen, das du früher für mich warst, zwei Wesen sein
+werdet ...“
+
+Arkadij verstummte im Übermaß seiner Gefühle. Wassjä war durch seine
+Worte bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert. Niemals hatte er solche
+Worte von Arkadij erwartet! Arkadij Iwanowitsch verstand es sonst nicht,
+sich auszudrücken, auch liebte er durchaus nicht zu schwärmen, und doch
+hatte er soeben die allerüberschwenglichsten Gedanken geäußert. „Wie
+werde ich für euch beide sorgen, wie euch verwöhnen,“ begann er jetzt
+von neuem. „Erstens, Wassjä, werde ich der Taufpate aller deiner Kinder
+sein, aller, ohne Ausnahme, und zweitens, Wassjä, muß man auch an die
+Zukunft denken. Man muß eine Wohnung mieten, Möbel kaufen, so viel, daß
+jeder von uns sein Zimmer hat. Weißt du, Wassjä, ich werde bereits
+morgen ausgehen und die Wohnungszettel studieren. Drei ... nein, zwei
+Zimmer, mehr haben wir nicht nötig. Ich glaube jetzt selbst, Wassjä, daß
+ich da heute Unsinn gesprochen habe, das Geld wird gewiß reichen. Warum
+denn auch nicht? Als ich ihr heute in die Augen sah, wußte ich sofort,
+daß es reicht! Alles für sie! Oh, wie werden wir arbeiten! Jetzt,
+Wassjä, kann man es wagen und fünfundzwanzig Rubel für die Wohnung
+zahlen. Gute Zimmer, mein Lieber, müssen es sein ... in guten Zimmern
+ist der Mensch fröhlich und hat heitere Gedanken! Und zweitens, Lisenka
+wird unser gemeinsamer Kassierer sein: nicht eine Kopeke wird unnütz
+verausgabt! Ich sollte künftig noch einmal in eine Kneipe gehen? Ja, für
+wen hältst du mich denn eigentlich?! Um nichts in der Welt! Man wird uns
+Zulage geben, uns Geschenke machen, wenn wir fleißig arbeiten! Und wie
+werden wir arbeiten, wie Büffel werden wir die Akten pflügen! ... Stelle
+dir nur vor ... (und die Stimme Arkadij Iwanowitschs wurde ganz schwach
+vor Seligkeit) – wenn plötzlich so fünfundzwanzig bis dreißig Rubel ins
+Haus kämen ... Nun, dann werden wir ihr Hütchen kaufen, einen Schal,
+neue Strümpfchen! Mir aber muß sie dafür durchaus ein Halstuch häkeln:
+sieh nur, wie schlecht das meine ist: gelb und abgetragen – hatte es zu
+meinem Unglück heute umgelegt! Ja, und du, Wassjä, bist auch gut:
+stellst mich gerade in dem Augenblick vor, wie ich noch mit dem Halstuch
+dastehe ... Doch, nicht darum handelt es sich! Ich, siehst du: ich werde
+für das Silber sorgen! Ich bin doch verpflichtet, euch ein Geschenk zu
+machen – meine Ehre verlangt es, und auch meine Eigenliebe! ... Meine
+Jahreszulage wird doch dazu reichen: hoffentlich wird man sie mir bald
+geben? Fürchte nichts, mein Lieber, ich werde euch echte silberne Löffel
+kaufen und gute Messer – die nicht aus Silber zu sein brauchen, doch
+ausgezeichnete Messer sein werden, und eine Weste werde ich kaufen, das
+heißt, eine Weste für mich: denn ich werde doch Trauzeuge sein! Du aber
+nimm dich mal jetzt zusammen, ich werde schon auf dich aufpassen,
+Bruder; heute und morgen, die ganze Nacht werde ich mit dem Stock hinter
+deinem Stuhl stehen, beende die Arbeit, Bruder beende sie schnell! Nun,
+und dann gehen wir beide zum Abend wieder hin, und wir werden glücklich
+sein ... werden Lotto spielen! ... Werden die Abende zusammen verbringen
+– hei, wird das schön werden! Pfui, Teufel! Wie ärgerlich, daß ich dir
+nicht helfen kann. Ich würde am liebsten alles, alles für dich
+abschreiben ... Warum haben wir nicht dieselbe Handschrift?“
+
+„Ja!“ antwortete Wassjä. „Ja! Ich muß mich beeilen. Ich glaube, es wird
+jetzt elf Uhr sein – wir müssen uns beeilen ... An die Arbeit!“ Und
+Wassjä, der die ganze Zeit lächelnd zugehört und bin und wieder versucht
+hatte, durch irgendeine Bemerkung seine freundschaftlichen Gefühle zu
+Arkadij auszudrücken, kurz, der bis dahin mit Leib und Seele dabei
+gewesen war, verstummte plötzlich, wurde unruhig und schweigsam und fing
+beinah an zu laufen. Offenbar hatte irgendein schwerer Gedanke plötzlich
+seinen allzu heißen Kopf abgekühlt!
+
+Auch Arkadij Iwanowitsch wurde unruhig: auf seine dringlichen Fragen
+erhielt er kaum eine Antwort von Wassjä, dessen Ausrufe anderseits gar
+nicht mehr zur Sache gehörten.
+
+„Ja, was fehlt dir denn, Wassjä?“ rief Arkadij endlich aus, als jener
+seine Schritte so beschleunigte, daß er ihm kaum zu folgen vermochte.
+„Bist du wirklich so in Sorge? ...“
+
+„Ach, mein Lieber, wir haben genug geredet!“ antwortete ihm Wassjä
+ärgerlich.
+
+„Verzweifle doch nicht, Wassjä,“ unterbrach ihn Arkadij, „ich habe es
+doch schon erlebt, daß du in einer kürzeren Frist noch viel mehr
+abgeschrieben hast ... Was willst du denn! Du bist doch so geschickt! Im
+äußersten Falle kannst du einfach etwas flüssiger schreiben: deine
+Abschrift braucht doch nicht wie gestochen zu sein. Du wirst’s schon
+schaffen! ... Wenn du dich jetzt aufregst, so wirst du nur zerstreut
+sein und die Arbeit wird dir schwer fallen ...“
+
+Wassjä antwortete nichts oder murmelte nur etwas vor sich hin, und beide
+liefen voll Unruhe nach Haus.
+
+Wassjä setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch verhielt
+sich ganz ruhig, er entkleidete sich vorsichtig und legte sich aufs
+Bett, ohne Wassjä aus den Augen zu lassen ... Angst überkam ihn ... „Was
+ist das nur mit ihm?“ dachte er bei sich, als er Wassjäs bleiches
+Gesicht mit den glänzenden Augen darin erblickte – diese Unruhe in all
+seinen Bewegungen – dies Zittern seiner Hand ... Verdammt, wirklich
+verdammt! Sollte ich ihm nicht raten, sich lieber zwei Stunden
+hinzulegen: vielleicht kann er seine Aufregung ausschlafen.“
+
+Wassjä hatte gerade eine Seite beendet, er sah auf und sein Blick traf
+zufällig Arkadij. Doch sofort schlug er die Augen nieder und griff
+wieder zur Feder.
+
+„Höre, Wassjä,“ begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch, „wäre es nicht
+wirklich besser, wenn du dich ein wenig schlafen legtest! Sieh, du bist
+wie im Fieber ...“
+
+Wassjä sah geärgert, sogar wütend zu Arkadij hinüber und antwortete
+nichts.
+
+„Höre, Wassjä, was machst du mit dir? ...“ Wassjä schien sich zu
+besinnen.
+
+„Sollte ich nicht Tee trinken, Arkascha?“ sagte er plötzlich.
+
+„Wie das? Warum?“
+
+„Tee gibt Kraft. Schlafen will ich nicht und werde ich auch nicht! Ich
+werde schreiben. Beim Teetrinken würde ich mich aber erholen, und ein
+Augenblick der Ermüdung wäre leichter zu überwinden.“
+
+„Famos, Bruder Wassjä, famos! So gefällst du mir: ich selbst wollte dir
+schon den Vorschlag machen. Ich wundere mich nur, daß ich nicht früher
+darauf verfiel. Und – weißt du was? Mawra wird nicht aufstehen, um
+nichts in der Welt wird sie aufstehen ...“
+
+„Ja! Das stimmt!“
+
+„Ach, Unsinn, das tut auch nichts!“ rief Arkadij Iwanowitsch und sprang
+barfuß aus dem Bett. „Ich selbst werde den Ssamowar aufstellen ...“
+
+Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und mühte sich um den Ssamowar;
+Wassjä schrieb unterdessen weiter. Dann kleidete sich Arkadij
+Iwanowitsch an, um in eine Bäckerei zu gehen, damit Wassjä sich zur
+Nacht stärken könnte. In einer Viertelstunde stand der Ssamowar auf dem
+Tisch. Sie tranken den Tee, aber zu einem Gespräch kam es nicht mehr.
+Wassjä war immer noch sehr zerstreut.
+
+„Ja, was ich sagen wollte,“ sagte er endlich, sich besinnend, „morgen
+muß man gehen und gratulieren.“
+
+„Das hast du doch nicht nötig.“
+
+„Nein, mein Lieber, das muß sein,“ sagte Wassjä ...
+
+„Ich werde dich bei allen einschreiben. Wozu willst du gehen? Du,
+arbeite morgen! Heute arbeite noch bis fünf Uhr, wie ich’s dir gesagt
+habe, und dann lege dich schlafen. Denn sonst, wie wirst du morgen sonst
+aussehen? Ich würde dich um Punkt acht Uhr wecken ...“
+
+„Ja, geht es denn an, daß du statt meiner mich überall einschreibst?“
+fragte Wassjä halb und halb mit dem Vorschlage einverstanden.
+
+„Ja, warum denn nicht? So machen es doch alle!“
+
+„Ich fürchte eigentlich ...“
+
+„Was denn, was?“
+
+„Bei den andern, weißt du, tut es nichts, aber bei Juljan Mastakowitsch
+– er ist doch mein Wohltäter, Arkascha, und wenn er bemerkt, daß eine
+fremde Hand ...“
+
+„Bemerkt! Wie töricht du bist, Wassjuk! Wie kann er denn das bemerken?
+... Ich kann doch deinen Namen so gut kopieren und dieselbe Schleife
+dranmachen, bei Gott, du weißt doch. Wirklich, was soll er denn da
+bemerken?“
+
+Wassjä antwortete nichts und beeilte sich, sein Glas zu leeren ...
+Darauf schüttelte er zweifelnd den Kopf.
+
+„Wassjä, mein Junge! Ach, wenn es uns doch nur gelingen würde! Wassjä,
+was fehlt dir denn? Du machst mir Angst! Weißt du, ich werde mich nicht
+hinlegen, Wassjä, ich werde nicht einschlafen. Zeige mir doch, ob du
+noch viel zu schreiben hast?“
+
+Wassjä blickte Arkadij Iwanowitsch so an, daß diesem das Herz weh tat
+und er kein Wort mehr herausbrachte.
+
+„Wassjä! Was ist mit dir? Was hast du? Warum siehst du mich so an?“
+
+„Arkadij, ich, weißt du, ich werde morgen doch selbst gehen und Juljan
+Mastakowitsch gratulieren.“
+
+„Nun, so gehe doch!“ sagte Arkadij und sah ihn mit großen Augen in
+qualvoller Erwartung an.
+
+„Höre, Wassjä, schreibe doch schneller, ich werde dir doch nichts
+Schlechtes raten, bei Gott, das tue ich nicht. Wie oft hat dir nicht
+Juljan Mastakowitsch selbst schon gesagt, daß ihm an deiner Handschrift
+am meisten die Leichtigkeit gefällt! Nur Skoroplechin liebt es, wenn die
+Schrift wie gemalt ist und wie eine Schönschreibevorlage aussieht, um
+sich das Papier dann unrechtmäßigerweise anzueignen und seinen Kindern
+mit nach Hause zu bringen – denn eine Vorlage für sie kann sich der
+Schafskopf wohl nicht kaufen! Aber Juljan Mastakowitsch verlangt immer
+nur: flüssig, flüssig, flüssig! Doch was hast du nur, Wassjä, ich weiß
+wirklich nicht, was ich dir noch sagen soll ... Ich fürchte mich fast
+... Mit deiner Verzweiflung bringst du mich noch um!“
+
+„Nichts, nichts!“ sagte Wassjä und fiel erschöpft auf seinen Stuhl
+zurück. Arkadij erschrak.
+
+„Willst du Wasser, Wassjä? – Wassjä!“
+
+„Laß nur, laß,“ sagte Wassjä, und drückte ihm die Hand. „Mir fehlt
+nichts, mir ist nur etwas traurig zumut, Arkadij. Ich kann es eigentlich
+selbst nicht sagen, warum. Höre, rede lieber von etwas anderem, erinnere
+mich nicht daran ...“
+
+„Beruhige dich, um Gottes willen, beruhige dich doch, Wassjä. Du wirst’s
+schon beenden, bei Gott, wirst’s schon beenden! Und wenn nicht, – nun,
+was wäre denn dabei für ein Unglück? Tust ja, als wäre das ein wahres
+Verbrechen!“
+
+„Arkadij,“ sagte Wassjä, seinen Freund so bedeutungsvoll ansehend, daß
+dieser wieder erschrak, denn noch nie hatte er Wassjä so tief innerlich
+aufgeregt gesehen. „Wenn ich allein gewesen wäre, wie früher ... Nein!
+Nicht das meine ich! Ich möchte es dir immer sagen, dir anvertrauen, wie
+einem Freunde ... Übrigens, wozu dich beunruhigen? ... Siehst du,
+Arkadij, den einen ist viel gegeben, andere verrichten nur Kleines, wie
+ich. Nun, wenn man von dir zum Beispiel Dankbarkeit und Anerkennung
+verlangte – und dir wäre es nicht möglich ...?“
+
+„Wassjä! Ich kann dich wahrhaftig nicht verstehen!“
+
+„Ich bin niemals undankbar gewesen,“ fuhr Wassjä fort, als spräche er zu
+sich selbst. „Wenn ich nun aber nicht imstande bin, alles auszudrücken,
+was ich fühle, so ist es, als ob ... so hat es doch den Anschein,
+Arkadij, als wäre ich tatsächlich undankbar, und das bringt mich einfach
+um!“
+
+„Was sagst du da, was! Besteht denn wirklich darin deine ganze
+Dankbarkeit, daß du genau zum Termin fertig geworden bist? Denke doch
+nach, Wassjä, was du da sagst! Wäre das wirklich die ganze Dankbarkeit?“
+
+Wassjä verstummte und sah seinen Freund mit großen Augen an, als hätte
+dieser unerwartete Einwand alle Bedenken genommen. Er lächelte sogar,
+nahm aber sofort wieder eine nachdenkliche Miene an. Arkadij faßte
+dieses Lächeln als das Ende aller Schrecken auf, die Lebhaftigkeit aber,
+die wieder über Wassjä kam, als einen Entschluß zu etwas Besserem, und
+freute sich bereits sehr.
+
+„Nun, Arkascha, du legst dich jetzt schlafen,“ sagte Wassjä. „Sieh nur,
+daß ich nicht einschlafe, das wäre ein Unglück. Ich mache mich also
+jetzt an die Arbeit ... Arkascha!“
+
+„Was?“
+
+„Nein, nichts, ich wollte nur ...“
+
+Wassjä setzte sich hin, schwieg und schrieb. Arkadij legte sich
+schlafen. Weder der eine noch der andere hatte ihren Besuch vom
+Nachmittag erwähnt. Vielleicht fühlten sich alle beide ein wenig
+schuldig, die Zeit vergeudet zu haben. Arkadij Iwanowitsch war bald
+eingeschlafen – in Sorgen über Wassjä. Zu seiner Verwunderung erwachte
+er genau um acht Uhr morgens. Wassjä war auf seinem Stuhl gleichfalls
+eingeschlafen, die Feder in der Hand, bleich und übermüdet. Das Licht
+war niedergebrannt. In der Küche machte sich Mawra am Ssamowar zu
+schaffen.
+
+„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij erschrocken aus. „Wann bist du
+eingeschlafen?“
+
+Wassjä riß die Augen auf und sprang vom Stuhl.
+
+„Ach!“ sagte er, „ich bin nur so eingeschlafen! ...“
+
+Er sah sofort nach seinen Papieren, nichts war ihnen geschehen, alles
+war in Ordnung; kein Tintenfleck, kein Talgfleck, vom Licht war nichts
+heruntergetröpfelt.
+
+„Ich glaube, ich schlief um sechs Uhr ein,“ sagte Wassjä. „Wie kalt es
+in der Nacht ist! Trinken wir einen Tee und dann werde ich wieder ...“
+
+„Bist du ruhig geworden?“
+
+„Ja, ja, mir fehlt nichts!“
+
+„Prost Neujahr, Wassjä.“
+
+„Prost Neujahr, mein Lieber, prost Neujahr, wünsche dir gleichfalls
+alles Gute, mein Lieber.“
+
+Sie umarmten sich. Wassjäs Lippen zitterten und seine Augen schwammen in
+Tränen. Arkadij Iwanowitsch schwieg: ihm war bitter zumut. Beide tranken
+sie eilig den Tee ...
+
+„Arkadij! Ich habe beschlossen, selbst zu Juljan Mastakowitsch zu gehen
+...“
+
+„Aber er wird es ja doch nicht bemerken ...“
+
+„Mich quält sonst das Gewissen, mein Lieber.“
+
+„Du sitzt doch hier seinetwegen, seinetwegen quälst du dich ... Genug,
+Wassjä! ... Und ich, weißt du, mein Lieber, werde auch dahin gehen ...“
+
+„Wohin?“ fragte Wassjä.
+
+„Zu Artemjeffs, um auch ihnen zu gratulieren, auch für dich mit!“
+
+„Schön, mein Lieber, schön! Nun! So werde ich also hier bleiben: ja, ich
+sehe, das hast du dir trefflich ausgedacht. Ich werde also hier bleiben
+und arbeiten und nicht feiertagsmäßig die Zeit verbringen! Warte nur
+noch ein wenig, ich werde gleich einen Brief schreiben.“
+
+„Schreibe nur, schreibe, es hat ja noch Zeit. Ich werde mich erst
+waschen, rasieren und den Rock reinbürsten.“
+
+„Wassjä, mein Bruder, weißt du, wir werden beide glücklich und zufrieden
+sein! Umarme mich, Wassjä!“
+
+„Ach, wenn du das meinst, Bruder! ...“
+
+„Wohnt hier der Herr Beamte Schumkoff?“ ertönte in diesem Augenblick ein
+Kinderstimmchen auf der Treppe.
+
+„Hier, mein Kleiner, hier,“ antwortete Mawra und ließ den kleinen Gast
+eintreten.
+
+„Wer ist da? Wer, wer?“ rief Wassjä, sprang vom Stuhl auf und stürzte
+ins Vorzimmer. „Petinka, du? ...“
+
+„Guten Tag, habe die Ehre Ihnen zum neuen Jahre zu gratulieren, Wassilij
+Petrowitsch,“ sagte ein reizender schwarzlockiger Bengel von etwa zehn
+Jahren, „die Schwester läßt Sie schön grüßen, Mama auch, und die
+Schwester hat mir befohlen, Sie von ihr zu küssen ...“
+
+Wassjä hob den kleinen Gesandten mit beiden Armen in die Luft und
+drückte einen langen leidenschaftlichen Kuß auf seine Lippen, die ganz
+Lisenkas Lippen ähnlich waren.
+
+„Küsse ihn auch, Arkadij!“ wandte er sich an diesen und übergab ihm
+Petjä – und Petjä ging, ohne die Erde zu berühren, in die mächtige und
+heftige Umarmung Arkadij Iwanowitschs über.
+
+„Mein Kleiner, willst du Tee?“
+
+„Danke bestens. Wir haben bereits Tee getrunken! Heute sind wir früh
+aufgestanden. Die Unsrigen gingen zur Frühmesse. Die Schwester hat mich
+zwei Stunden lang angezogen, mich gewaschen und gekämmt und mir die
+Hosen genäht, die ich gestern abend, als ich mit Ssascha auf der Straße
+spielte, zerrissen hatte: wir spielten nämlich Schneeball zusammen, und
+da ...“
+
+„Nu – nu – nu – nu!“
+
+„Jawohl, die ganze Zeit hat sie mich aufgeputzt, mich zurechtgestutzt
+und dann mich abgeküßt: ‚gehe zu Wassjä, gratuliere ihm und frage ihn,
+ob er ruhig die Nacht verbracht hat, und noch ...‘ und ich sollte noch
+etwas fragen, ja! Ob die Sache schon beendet wäre, von der Sie gestern
+gesprochen ... gestern ... Ach, ich habe ja alles aufgeschrieben,“ sagte
+der Kleine, zog ein Blättchen aus der Tasche, – „ja, und ob Sie
+aufgeregt wären?“
+
+„Ich werde fertig! Ich werde! Sag’s ihr, daß ich fertig werde, mein
+Ehrenwort drauf!“
+
+„Ja und noch etwas ... Ach! Ich hab’s vergessen: die Schwester hat auch
+einen Brief und ein Geschenk geschickt, ja, und ich hätte es fast
+vergessen! ...“
+
+„Mein Gott! ... Wo denn, mein Kind, wo? Da ist’s!? – ah! Sieh doch, mein
+Lieber, sieh, was sie mir schreibt, die Liebe, Gute! Weißt du, gestern
+habe ich bei ihr eine Brieftasche für mich gesehen: leider ist sie nicht
+fertig geworden, so schickt sie mir heute eine ihrer schwarzen Locken,
+die Brieftasche wird mir deshalb jedoch nicht verloren gehen. Sieh,
+Bruder, sieh nur!“
+
+Und der aufgeregte Wassjä zeigte Arkadij Iwanowitsch eine schwarze
+Locke, küßte sie leidenschaftlich und legte sie dann in die
+Seitentasche, nahe dem Herzen.
+
+„Wassjä! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon kaufen!“ sagte
+schließlich Arkadij Iwanowitsch.
+
+„Und heute haben wir einen Kalbsbraten und morgen Kalbshirn. Mama will
+auch noch Kuchen backen ... Und wir werden nicht wieder Haferbrei
+essen,“ sagte der Knabe, und schloß seine Erzählung.
+
+„Nein, was das für ein netter Kerl ist!“ meinte Arkadij Iwanowitsch.
+„Wassjä, du bist der glücklichste Sterbliche!“
+
+Der Kleine trank seinen Tee, erhielt ein Briefchen, tausend Küsse und
+machte sich dann, frisch und fröhlich wie er gekommen war, auf den
+Heimweg.
+
+„Nun, mein Lieber,“ meinte hocherfreut Arkadij Iwanowitsch, „siehst du,
+wie gut alles ist, siehst du! Alles wendet sich zum besseren, verzage
+nicht und klage nicht! Immer voran, Wassjä, mache Schluß mit dem
+Trübsinn! In zwei Stunden bin ich wieder zu Haus: zuerst fahre ich zu
+ihnen, dann zu Juljan Mastakowitsch.“
+
+„Nun, lebe wohl, Lieber, lebe wohl ... Ach, wenn es so ist! ... Nun gut,
+gut, mache, daß du wegkommst,“ sagte Wassjä, „ich, mein Lieber, werde
+dann also bestimmt _nicht_ zu Juljan Mastakowitsch gehen.“
+
+„Lebe wohl!“
+
+„Wart, mein Lieber, wart: sage ihr ... Nun, alles was du willst – küsse
+sie von mir ... Du erzählst mir dann alles später, mein Lieber, alles
+...“
+
+„Nun, natürlich: jetzt wirst du ja wieder der alte! Seit gestern abend
+warst du noch gar nicht recht zu dir gekommen, hattest dich von all den
+Eindrücken noch gar nicht erholt. Nun aber Schluß! Kopf hoch, mein
+lieber Wassjä! Lebe wohl, lebe wohl!“
+
+Endlich trennten sich die Freunde. Den ganzen Morgen über war Arkadij
+Iwanowitsch zerstreut und dachte nur an Wassjä. Er kannte dessen
+schwache und leicht erregbare Natur. Das Glück hatte ihn offenbar so
+erschüttert: jawohl, das war es, das Glück! Ich habe mich nicht
+getäuscht! sagte Arkadij zu sich selbst. Mein Gott! Er hat mir aber
+einen Schrecken eingejagt! Und woraus er nicht eine Tragödie macht! Was
+für ein Hitzkopf er ist! Wirklich, man muß ihm helfen! Jawohl: helfen!
+
+Bei Juljan Mastakowitsch erschien Arkadij erst um elf Uhr, um in der
+Portiersloge seinen bescheidenen Namen der endlosen Reihe hoher
+Persönlichkeiten hinzuzufügen, die auf einem bereits vollgekritzelten
+weißen Bogen ihre Namen eingetragen hatten. Doch wie groß war seine
+Verwunderung, als unmittelbar vor seinem Namen die Unterschrift Wassjä
+Schumkoffs auftauchte! Nun – was ist denn mit ihm geschehen? dachte er
+erschrocken. Und Arkadij Iwanowitsch, der gerade vorher soviel Hoffnung
+geschöpft hatte, ging ganz bestürzt von dannen. Bereitete sich in der
+Tat ein Unglück vor? Was hieß das? Was sollte daraus werden!?
+
+In Kolomna erschien er mit düsteren Gedanken und war anfangs sehr
+zerstreut. Erst als er mit Lisenka gesprochen hatte, kam er zur
+Besinnung und ging dann mit Tränen in den Augen fort: er war Wassjäs
+wegen wirklich in heller Angst. Er lief so schnell wie möglich nach
+Haus. Gerade an der Newa stieß er mit Schumkoff zusammen. Der lief
+gleichfalls mehr als er ging.
+
+„Wohin?“ rief Arkadij Iwanowitsch.
+
+Wassjä stutzte wie ein ertappter Verbrecher.
+
+„Ich, mein Lieber, ich gehe nur so ... ich wollte nur ein wenig
+spazieren ...“
+
+„Du hast es nicht ausgehalten, du willst nach Kolomna gehen? Ach,
+Wassjä, Wassjä! Warum bist du nur zu Juljan Mastakowitsch gegangen?“
+
+Wassjä antwortete ihm nichts darauf, er winkte nur mit der Hand und
+sagte dann:
+
+„Arkadij! Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht! Ich ...“
+
+„Schon gut, Wassjä, schon gut! Ich weiß doch, wie das ist. Beruhige dich
+doch nur! Du bist seit gestern unruhig und aufgeregt! Es ist ja auch
+kein Wunder! Alle lieben dich, alle leben für dich, mit deiner Arbeit
+geht’s vorwärts, bald wirst du sie beendet haben, das wirst du bestimmt,
+ich weiß es: du bildest dir da nur so etwas ein, hast da irgendeine
+Angst ...“
+
+„Nein, durchaus nicht, durchaus nicht ...“
+
+„Erinnere dich doch, Wassjä, erinnere dich doch, wie es mit dir war,
+weißt du noch, als du befördert wurdest, du wußtest dich auch nicht vor
+Glück und vor Dankbarkeit zu lassen, verdoppeltest deinen Eifer und eine
+Woche lang verdarbst du doch nur die Arbeit! Dasselbe geschieht jetzt
+wieder mit dir ...“
+
+„Ja, ja, Arkadij – doch ist das jetzt etwas ganz anderes, durchaus etwas
+anderes ...“
+
+„Wieso denn, etwas anderes: ich bitte dich! Die Sache ist ganz sicher
+nicht so eilig, du aber quälst dich dermaßen ...“
+
+„Nein, nein, ich bin nur so ... Nun, gehen wir!“
+
+„Wie, so willst du nach Haus und nicht zu ihnen?“
+
+„Nein, mein Lieber, mit diesem Gesicht kann ich dort nicht erscheinen
+... Ich habe mich bedacht. Ich konnte es nur ohne dich so allein zu
+Hause nicht aushalten. Jetzt, da du wieder bei mir bist, werde ich mich
+hinsetzen und weiter schreiben. Gehen wir!“
+
+Sie gingen und schwiegen eine Zeitlang. Wassjä hatte es jetzt wieder
+sehr eilig.
+
+„Warum erkundigst du dich gar nicht nach ihnen?“ fragte Arkadij
+Iwanowitsch.
+
+„Ach, ja! Nun, Arkaschenka, wie steht’s?“
+
+„Wassjä, man erkennt dich gar nicht wieder!“
+
+„Nun, tut nichts, tut nichts. Erzähle mir nur alles, Arkascha!“ bat
+Wassjä mit flehender Stimme, als wolle er jeder weiteren Erklärung
+ausweichen. Arkadij Iwanowitsch seufzte tief auf: er wußte mit Wassjä
+gar nichts mehr anzufangen.
+
+Die Nachrichten von den Kolomnaschen belebten jedoch Wassjä wieder. Er
+sprach sogar sehr lebhaft von ihnen. Sie speisten beide zu Mittag. Die
+Alte hatte die Taschen Arkadij Iwanowitschs mit Kuchen vollgestopft und
+die Freunde waren lustig und guter Dinge, während sie sie aßen. Nach
+Tisch wollte Wassjä sich hinlegen, um dann die Nacht durcharbeiten zu
+können. Und so geschah es denn auch. Am Morgen hatte jemand Arkadij
+Iwanowitsch zum Tee aufgefordert, eine Einladung, die abzuschlagen nicht
+gut anging. Die Freunde trennten sich infolgedessen. Arkadij versprach,
+so früh als es eben nur anging, zurückzukommen, wenn möglich schon um
+acht Uhr. Diese drei Stunden Trennung kamen ihm selbst wie drei Jahre
+vor. Endlich machte er sich auf, um zu Wassjä zurückzukehren. Als er ins
+Zimmer trat, sah er, daß es dunkel war. Wassjä war nicht zu Haus. Er
+fragte Mawra. Mawra sagte, daß Wassjä die ganze Zeit geschrieben habe,
+darauf im Zimmer auf und ab gegangen sei, und schließlich vor einer
+Stunde ungefähr hinausgelaufen wäre – mit der Bemerkung, er käme in
+einer halben Stunde wieder: ‚wenn aber Arkadij Iwanowitsch inzwischen
+kommt, so sage du ihm,‘ schloß Mawra die Erzählung, ‚daß ich nur ein
+wenig spazierengegangen bin,‘ das aber habe er ihr drei- bis viermal
+ausdrücklich anbefohlen.
+
+„Er ist sicher bei Artemjeffs!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und
+schüttelte den Kopf.
+
+Im nächsten Augenblick sprang er auf: er hatte eine neue Hoffnung. „Er
+ist wohl gar fertig geworden,“ dachte er, „ja: das wird es sein; und er
+hat es nicht länger ausgehalten und ist zu ihnen gelaufen. Übrigens,
+nein! Dann hätte er doch auf mich gewartet ... Sehen wir, wie es mit
+seiner Arbeit steht –“.
+
+Er zündete das Licht an und begab sich an Wassjäs Schreibtisch: die
+Arbeit ging offenbar gut vonstatten und schien sich ihrem Ende zu
+nähern. Arkadij Iwanowitsch wollte sich noch näher davon überzeugen, als
+plötzlich Wassjä eintrat ...
+
+„Ah! Du hier?“ rief er aus und schrak zusammen.
+
+Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete sich, an Wassjä irgendeine
+Frage zu stellen. Der schlug die Augen nieder und begann schweigend
+seine Papiere zu ordnen. Schließlich begegneten sich beider Augen.
+Wassjäs Blick war flehend und gebrochen. Arkadij schrak zurück, als er
+ihn traf.
+
+„Wassjä, mein Lieber, was ist das mit dir? Was hast du?“ rief er aus,
+stürzte sich auf Wassjä und nahm ihn in seine Arme, „erkläre mir doch,
+ich verstehe nichts von deiner Traurigkeit, was hast du, mein armer
+Märtyrer? Sage mir doch alles, ohne Umschweife. Es kann doch nicht sein,
+daß dieses eine ...“
+
+Wassjä preßte sich ungestüm an ihn. Sprechen konnte er nicht. Der Atem
+ging ihm aus.
+
+„Schon gut, Wassjä, schon gut! Wenn du nicht fertig wirst, was ist denn
+dabei? Ich verstehe dich gar nicht, sag doch, was quält dich so? Siehst
+du, ich bin doch bereit, für dich alles ... Ach, mein Gott, mein Gott!“
+sagte er, im Zimmer auf und ab gehend, während er nach allem griff, was
+ihm in die Hände kam, als suchte er ein Mittel, eine Hilfe für Wassjä.
+„Ich selbst werde morgen anstatt deiner zu Juljan Mastakowitsch gehen,
+werde ihn bitten, ihn anflehn, daß er dir noch einen Tag Frist gebe. Ich
+werde ihm alles auseinandersetzen, alles, alles, wenn es dich so quält
+...“
+
+„Gott bewahre mich davor!“ rief Wassjä aus und wurde weiß wie die Wand.
+Er konnte sich kaum auf den Füßen halten.
+
+„Wassjä, Wassjä!“
+
+Wassjä kam wieder zu sich. Seine Lippen zitterten; er wollte etwas
+sagen, konnte aber nur schweigend Arkadij die Hand drücken. Seine Hand
+war kalt. Arkadij stand vor ihm in quälender Erwartung. Wassjä sah ihn
+wieder an.
+
+„Wassjä! Gott mir dir, Wassjä! Du zerreißt mir das Herz, mein Freund,
+mein Lieber.“
+
+Ströme von Tränen stürzten aus Wassjäs Augen: er warf sich an die Brust
+seines Freundes.
+
+„Ich habe dich betrogen, Arkadij!“ schluchzte er laut auf, „ich habe
+dich betrogen: vergib mir, vergib! Ich habe dich hintergangen ...“
+
+„Wieso, Wassjä! Was heißt das?“ fragte Arkadij, außer sich vor Angst und
+Schrecken.
+
+„Da! ...“
+
+Und Wassjä warf mit einer verzweifelten Geste aus einem Kasten sechs
+dicke Hefte auf den Tisch, die genau so aussahen wie jenes, das er
+abschrieb.
+
+„Was soll das?“
+
+„Da, das Ganze müßte ich bis übermorgen fertigstellen. Ich habe nicht
+einmal ein Viertel davon!“
+
+„Frage nicht, frage nicht, wie das kommen konnte!“ fuhr Wassjä fort, um
+selbst alles zu erzählen, was ihn so gequält hatte. „Arkadij, lieber
+Freund! Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschehen war. Ich bin erst
+jetzt wie aus einem Traum erwacht. Ich habe drei ganze Wochen verloren.
+Ich bin ... immer ... zu ihr gegangen ... Mein Herz sehnte sich ... ich
+quälte mich ... mit der Ungewißheit ... und ich konnte, ich konnte nicht
+arbeiten. Ich dachte auch nicht einmal daran. Jetzt erst, wo das Glück
+wirklich für mich begonnen hat, – da bin ich aufgewacht.“
+
+„Wassjä!“ begann Arkadij Iwanowitsch entschlossen, „Wassjä, ich werde
+dich retten! Ich begreife alles. Diese Sache ist kein Spaß. Ich muß dir
+helfen! Höre, höre mich an: ich gehe morgen zu Juljan Mastakowitsch ...
+Schüttle nicht den Kopf, nein, höre nur! Ich werde ihm alles erzählen,
+wie es gewesen ist, erlaube mir, daß ich es tue ... Ich werde ihm
+erklären ... ich werde alles wagen! Ich werde ihm deine Lage schildern,
+werde ihm erzählen, wie du dich quälst.“
+
+„Wenn du dir nur sagen wolltest, daß du mich damit einfach vernichtest?“
+erwiderte Wassjä, ganz starr vor Schreck.
+
+Arkadij Iwanowitsch wurde blaß, doch er beherrschte sich und fing an zu
+lachen.
+
+„Aber was denn, Wassjä! Was denn! So höre doch! Ich sehe ja, daß ich
+dich damit nur aufrege. Aber ich verstehe dich doch, ich weiß doch, was
+in dir vorgeht. Wir leben doch schon fünf Jahre miteinander, und schwach
+bist du, unverzeihlich schwach. Auch Lisaweta Michailowna hat es bereits
+bemerkt. Außerdem bist du ein Schwärmer, und das ist auch nicht gut: man
+kann da plötzlich ins Bodenlose fallen, mein Bruder! Höre mich an, ich
+weiß doch, was du möchtest! Du möchtest, daß Juljan Mastakowitsch außer
+sich vor Freude wäre: darüber, daß du heiratest – und womöglich sollte
+er einen Ball für dich geben ... Halt, halt! Du runzelst die Brauen.
+Siehst du, schon wegen dieser kleinen Bemerkung von mir bist du
+beleidigt, für Juljan Mastakowitsch beleidigt! Lassen wir ihn also
+beiseite. Ich verehre ihn nicht weniger als du. Du wirst mir aber doch
+nicht abstreiten und mir nicht zu denken verbieten, daß du nicht
+wünschtest – nun sagen wir: es gäbe keinen einzigen Unglücklichen auf
+der Erde, bloß weil du heiratest ... Gib es doch zu, mein Lieber, daß du
+nichts dagegen hättest, wenn ich, dein bester Freund, plötzlich in den
+Besitz von hunderttausend Rubel Kapital käme: und daß alle Feinde der
+Welt sich versöhnten, sich mitten auf der Straße vor Freude in die Arme
+fielen und, wenn möglich, hierher zu dir zu Gaste kämen! Lieber Freund,
+ich scherze nicht, es ist so! Ich habe dich schon längst erkannt. Weil
+du dich glücklich fühlst, willst du, daß sich alle glücklich fühlen
+sollen. Es fällt dir schwer, allein glücklich zu sein! Darum möchtest du
+mit aller Gewalt dich deines Glückes würdig erweisen und zur Beruhigung
+deines Gewissens sofort eine große Tat vollbringen! Nun, ich verstehe,
+wie du dich quälen mußt, daß gerade dort, wo du dein Können zeigen
+möchtest ... nun, sagen wir, daß dort deine Dankbarkeit, wie du dich
+ausdrückst, plötzlich versagt! Der Gedanke ist dir sehr peinlich, daß
+Juljan Mastakowitsch sich ärgern wird, wenn er erfährt, daß du in diesem
+Falle die Hoffnungen getäuscht hast, die er auf dich gesetzt. Dir ist es
+schmerzlich, daran zu denken, daß du Vorwürfe von dem hören wirst, den
+du für deinen Wohltäter hältst – und das gerade jetzt! Jetzt, da dein
+Herz voll Freude ist und da du nicht weißt, an wem du deine Dankbarkeit
+auslassen sollst! ... Ist es nicht so? nicht wahr, es ist so!“
+
+Mit zitternder Stimme schloß Arkadij Iwanowitsch seine Rede, er schwieg
+und schöpfte tief Atem.
+
+Wassjä blickte voll Liebe auf seinen Freund. Auf seinen Lippen lag ein
+Lächeln.
+
+In Erwartung einer Hoffnung belebte sich sogar sein Gesicht.
+
+„Also, höre mich an,“ begann von neuem Arkadij, auch seinerseits wieder
+von Hoffnung belebt, „so ist es denn nicht nötig, daß Juljan
+Mastakowitsch seine Zuneigung zu dir einbüßt. Ist es nicht so, mein
+Lieber? Hier liegt doch die Frage? Wenn dem aber so ist, dann werde
+ich,“ sagte Arkadij vom Stuhl aufspringend, „dann werde ich mich für
+dich opfern. Ich werde morgen zu Juljan Mastakowitsch gehen ...
+Widersprich mir nicht! Du, Wassjä, machst ja dein Versäumnis zu einem
+Verbrechen! Er aber, Juljan Mastakowitsch, ist großmütig und mildtätig,
+und denkt nicht so wie du! Er, Bruder Wassjä, wird uns anhören und aus
+dem Unglück helfen. Jawohl. Nun! Hast du dich beruhigt?“
+
+Wassjä drückte mit Tränen in den Augen Arkadijs Hand.
+
+„Schon gut, Arkadij, schon gut,“ sagte er, „die Sache ist bereits
+beschlossen. Ich habe meine Sache nicht gemacht: gut! Nicht gemacht ist
+– nicht gemacht. Du aber brauchst deshalb nicht hinzugehen: ich selbst
+werde hingehen und ihm alles erzählen. Ich habe mich jetzt beruhigt, ich
+bin vollständig gefaßt. Doch du, nein, du sollst nicht gehen ... So höre
+doch ...“
+
+„Wassjä, mein Lieber!“ rief Arkadij Iwanowitsch freudig aus, „meine
+Worte haben auf dich gewirkt: wie freue ich mich, daß du dich besonnen
+hast und dich zusammennehmen willst. Wie es mit deiner Sache auch stehen
+mag, was auch geschehen wird – ich bin bei dir, vergiß das nicht! Ich
+sehe, du willst nicht, daß ich mit Juljan Mastakowitsch darüber spreche
+– gut: ich werde nichts sagen, nichts, du selbst wirst es tun. Siehst
+du: du gehst morgen hin ... Oder nein, du wirst nicht hingehen, du wirst
+hier bleiben und schreiben, verstehst du? Ich werde aber doch
+herumhören, wie es mit der Sache steht, ob sie sehr eilig ist oder
+nicht, ob sie zum Termin fertig sein muß oder nicht, und wenn du den
+Termin versäumst, was daraus entspringen kann? Dann werde ich zu dir
+kommen und dir berichten. Siehst du, siehst du! Da haben wir schon eine
+Hoffnung; nun, stelle dir vor, daß die Sache keine Eile hat! Wie viel
+ist dann gewonnen! Juljan Mastakowitsch kann sie vielleicht überhaupt
+vergessen haben – und dann ist ja sowieso alles gerettet!“
+
+Wassjä schüttelte bedenklich mit dem Kopf. Doch wandte er seinen
+dankbaren Blick nicht von dem Gesicht seines Freundes.
+
+„Schon gut, schon gut! Ich fühle mich so schwach und bin so müde,“ sagte
+er dann seufzend, „ich möchte selbst nicht mehr daran denken. Sprechen
+wir von etwas anderem! Ich, siehst du, ich werde auch jetzt nicht mehr
+schreiben, ich werde nur noch die Seite beenden – bis zum Absatz. Höre
+... Ich wollte dich schon längst fragen: wie kommt’s, daß du mich so gut
+kennst?“
+
+Tränen tropften aus seinen Augen auf die Hand Arkadijs.
+
+„Wenn du wüßtest, Wassjä, wie sehr ich dich liebhabe, so würdest du
+nicht danach fragen!“
+
+„Ja, ja, Arkadij, ich weiß es nicht ... denn ich kann nicht verstehen,
+für was du mich so liebhast! Ja, Arkadij, du mußt wissen, daß deine
+Liebe mich geradezu erdrückt. Wie oft, wenn ich mich schlafen legte,
+habe ich an dich gedacht (denn ich denke immer an dich, bevor ich
+einschlafe) und mein Herz zitterte so heftig, so sehr ... so sehr ...
+Weil du mich so gern hast, und ich mein Herz nicht erleichtern und dir
+mit nichts danken konnte ...“
+
+„Siehst du, Wassjä, siehst du, so bist du! ... Wie du dich wieder
+aufregst,“ sagte Arkadij, dem das Herz weh tat, wenn er an die gestrige
+Szene auf der Straße dachte.
+
+„Schon gut. Du willst, daß ich mich beruhige und doch war ich noch
+niemals so ruhig und glücklich wie eben! Weißt du was? ... Höre, ich
+möchte dir gern etwas sagen, aber ich fürchte, dich zu kränken ... du
+bist immer gleich so gekränkt und schreist dann auf mich ein: ich aber
+bin dann so erschrocken ... Sieh, wie ich jetzt zittere, ich weiß gar
+nicht warum ... Höre, was ich dir sagen will. Ich glaube, ich habe mich
+früher selbst nicht gekannt – ja! Und die anderen habe ich erst gestern
+kennen gelernt. Ich, Bruder, ich verstand nicht, alles richtig zu
+schätzen. Das Herz in mir war verhärtet. Höre, wie ist das nur möglich,
+daß ich niemandem, niemandem auf der Welt etwas Gutes getan habe, weil
+ich es eben nicht tun konnte – sogar mein Äußeres ist unglücklich ...
+Alle aber haben mir Gutes erwiesen! Du als der erste: sehe ich’s denn
+nicht?! Ich habe nur immer geschwiegen, geschwiegen!“
+
+„Wassjä, höre auf!“
+
+„Nun, was denn, was denn, Arkascha! ... Ich habe doch nichts ...“
+unterbrach sich Wassjä, der vor Tränen kaum sprechen konnte. „Ich habe
+dir gestern von Juljan Mastakowitsch erzählt. Du weißt doch selbst, wie
+streng er sonst ist, und wie rauh. Du selbst hast manche Bemerkung von
+ihm einstecken müssen, mit mir aber hat er gestern gescherzt und mir
+sein gutes Herz gezeigt, das er allen anderen gegenüber verbirgt ...“
+
+„Nun, Wassjä? Das zeigt doch nur, daß du dessen würdig bist.“
+
+„Ach, Arkascha! Wie gern, wie gern würde ich dies Ganze erledigt haben!
+... Ich vernichte ja mein Glück damit! Ich habe so ein Vorgefühl! Nein,
+nicht dadurch,“ unterbrach sich Wassjä, als er bemerkte, daß Arkadij
+nach dem dicken Papierstoß auf dem Tisch schielte, „das hat nichts zu
+sagen, das ist beschriebenes Papier, Unsinn! Diese Sache ist erledigt
+... Ich, Arkascha, ich war heute bei ihnen ... Ich bin nicht
+hineingegangen. – Es war mir zu schwer zumut! Ich stand nur an der Tür.
+Sie spielte auf dem Klaviers, ich hörte es draußen. Siehst du, Arkadij,“
+sagte er mit leiser Stimme, „ich wagte nicht einzutreten ...“
+
+„Höre, Wassjä, was fehlt dir? Du siehst mich so seltsam an?“
+
+„Nein, nichts! Mir ist nicht ganz wohl, meine Kniee zittern, das kommt
+daher, weil ich die Nacht über auf war! Ein Schleier liegt mir vor den
+Augen. Und hier, hier ...“
+
+Er wies auf sein Herz und zugleich sank er auch schon ohnmächtig
+zusammen.
+
+Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij strenge Maßregeln ergreifen.
+Er wollte ihn mit Gewalt ins Bett legen. Wassjä willigte aber nicht ein,
+Arkadij konnte reden, was er wollte. Er weinte, rang die Hände, wollte
+mit aller Gewalt weiterschreiben und seine Seite beenden. Um ihn nicht
+unnötig aufzuregen, ließ ihn Arkadij schließlich zu seinen Papieren.
+
+„Siehst du,“ sagte Wassjä, sich auf seinen Platz setzend, „ich habe eine
+Idee, eine Hoffnung. Siehst du: ich werde ihm übermorgen nicht alles
+bringen. Von dem Rest sage ich ihm, daß es verbrannt ist oder verloren
+gegangen ... kurz ... – Nein, ich kann nicht lügen. Ich werde ihm lieber
+alles erklären, werde sagen, wie es gekommen ist, daß ich einfach nicht
+konnte. Ich werde ihm von meiner Liebe erzählen: er hat ja selbst erst
+vor kurzem geheiratet, er wird mich verstehen! Ich werde alles das,
+versteht sich, ihm bescheiden und demütig mitteilen, er wird meine
+Tränen sehen, sie werden ihn rühren ...“
+
+„Ja, das ist klug von dir, gehe, gehe zu ihm, erkläre dich ihm ...
+Tränen sind dazu nicht nötig! Warum denn Tränen? Aber weißt du, Wassjä,
+du hast mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt.“
+
+„Schön, ich werde also gehen, ich werde also gehen. Jetzt aber laß mich
+schreiben, laß mich, Arkascha. Ich störe niemanden, laß auch du mich
+ruhig schreiben!“
+
+Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassjä nicht, er traute ihm
+wirklich nicht. Wassjä war zu allem fähig. Doch um Entschuldigung
+bitten, warum!? Die Sache lag ja gar nicht so. Die Sache war doch die,
+daß Wassjä tatsächlich seine Pflicht nicht erfüllt hatte, daß er vor
+sich selbst schuldig war und seinem Schicksal gegenüber ein schlechtes
+Gewissen hatte, daß Wassjä sich niedergedrückt und seines Glückes nicht
+würdig fühlte und daß er schließlich sich einen Vorwand suchte und seit
+dem gestrigen Tage, erschüttert durch die Plötzlichkeit aller
+Geschehnisse, wie er war, noch nicht recht zu sich kommen konnte: ja: so
+war es! sagte sich Arkadij Iwanowitsch. Deshalb muß man ihn retten, muß
+ihn mit sich selbst aussöhnen! Und Arkadij dachte noch lange nach und
+beschloß, unverzüglich zu Juljan Mastakowitsch zu gehen, wenn möglich
+schon morgen, und ihm alles zu erzählen.
+
+Wassjä saß und schrieb. Der gequälte Arkadij Iwanowitsch legte sich von
+neuem auf sein Bett, um noch weiter über die Sache nachzudenken, schlief
+ein und erwachte erst beim Morgengrauen.
+
+„Ach, Teufel! Wieder!“ rief er aus, als er Wassjä erblickte; der saß und
+schrieb.
+
+Arkadij stürzte zu ihm, umarmte ihn und brachte ihn mit aller Gewalt auf
+sein Bett. Wassjä lächelte nur: seine Augen fielen ihm vor Müdigkeit zu.
+Er konnte kaum sprechen.
+
+„Ich wollte mich selbst hinlegen,“ sagte er. „Weißt du, Arkadij, ich
+habe die Idee, daß ich’s doch noch beenden werde. Ich habe schneller,
+immer schneller geschrieben. Doch noch länger zu sitzen – dazu bin ich
+unfähig ... wecke mich um acht Uhr ...“
+
+Er konnte nicht mehr weiter und schlief wie ein Toter ein.
+
+„Mawra!“ wandte sich flüsternd Arkadij Iwanowitsch an die Magd, die
+gerade den Tee hereinbrachte, „er bat mich, ihn nach einer Stunde zu
+wecken. Das darf aber unter keiner Bedingung geschehen! Er soll
+womöglich zehn Stunden hintereinander schlafen, verstehst du?“
+
+„Verstehe, Herr, verstehe.“
+
+„Das Mittagessen brauchst du nicht zu bereiten, nicht das Holz
+hereinzuschleppen, überhaupt darfst du nicht lärmen, sieh dich vor! Wenn
+er nach mir fragen sollte, so sage ihm, ich sei in den Dienst gegangen,
+verstehst du?“
+
+„Ich verstehe, Herr, verstehe, möge er sich ausruhen nach Belieben, was
+geht’s mich an! Ich freue mich über den Schlaf meines Herrn und bemühe
+mich, über ihn zu wachen. Was aber die zerschlagene Tasse anbelangt,
+wegen der Sie mir Vorwürfe machten – das war gar nicht ich, das war die
+Katze, die sie zerschlagen hat, ich werde es ihr noch zeigen!“
+
+„Tss, sei still!“
+
+Arkadij Iwanowitsch führte Mawra in die Küche, verlangte von ihr den
+Schlüssel und schloß sie dort ein. Darauf begab er sich in den Dienst.
+Auf dem Wege überlegte er sich’s, wie er sich bei Juljan Mastakowitsch
+melden lassen sollte und ob es nicht vielleicht anmaßend sei, es zu tun?
+Im Büro erschien er sehr schüchtern, fast zaghaft erkundigte er sich, ob
+Seine Exzellenz da sei; man antwortete ihm, nein, und Exzellenz würden
+heute wohl überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch wollte im ersten
+Augenblick zu ihm in die Wohnung gehen, doch fiel es ihm noch zur
+rechten Zeit ein, daß ja Juljan Mastakowitsch, wenn er hier nicht
+erschienen war, dann ganz bestimmt zu Hause dringend beschäftigt sein
+mußte. Er blieb also im Büro. Die Stunden schienen ihm unendlich lang zu
+sein. Unterderhand erkundigte er sich nach der Abschrift, mit der
+Schumkoff beauftragt worden war. Doch niemand wußte etwas von der
+Angelegenheit. Man wußte nur, daß Juljan Mastakowitsch ihn mit
+besonderen Aufträgen beschäftigte, mit was für welchen aber – das wußte
+niemand zu sagen. Schließlich schlug es drei Uhr und Arkadij Iwanowitsch
+stürzte nach Haus. Auf der Treppe des Dienstgebäudes redete ihn ein
+Schreiber an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkoff um ein Uhr
+dagewesen sei und gefragt habe, ob er, Arkadij, da sei, und ferner, ob
+Juljan Mastakowitsch dagewesen wäre. Als Arkadij Iwanowitsch das hörte,
+nahm er eine Droschke und fuhr außer sich vor Angst und Schrecken nach
+Hause.
+
+Schumkoff war zu Hause. Er ging erregt im Zimmer auf und ab. Als er
+Arkadij Iwanowitsch erblickte, nahm er sich sofort zusammen und beeilte
+sich sichtlich, seine Erregung zu verbergen. Er setzte sich schweigend
+an die Arbeit. Offenbar wollte er den Fragen seines Freundes ausweichen.
+Fast schien er sich durch ihn belästigt zu fühlen und die Absicht zu
+haben, von seinen Entschlüssen jetzt nichts mehr verlauten zu lassen, da
+er sich, wie er wohl denken mochte, auf die Freundschaft des anderen ja
+doch nicht verlassen konnte. Arkadij fühlte das wohl und sein Herz
+krampfte sich zusammen. Er setzte sich aufs Bett und schlug ein Buch
+auf, das einzige, welches in seinem Besitz war – wandte aber keinen
+Blick von dem armen Wassjä. Wassjä schwieg hartnäckig, schrieb und
+blickte nicht auf. So vergingen einige Stunden und Arkadijs Qualen
+stiegen aufs höchste. Schließlich, gegen elf Uhr abends, erhob Wassjä
+seinen Kopf und sah mit stumpfem, unbeweglichem Blick Arkadij an.
+Arkadij wartete schweigend. Es vergingen zwei bis drei Minuten! Wassjä
+schwieg immer noch. „Wassjä!“ rief Arkadij endlich. Doch Wassjä gab
+keine Antwort. „Wassjä!“ wiederholte er und sprang vom Bett auf.
+„Wassjä, was fehlt dir? Was hast du?“ rief er aus und lief zu ihm hin.
+Wassjä hob den Kopf und sah ihn mit demselben stumpfen und unbeweglichen
+Ausdruck an. „Er hat einen Krampf!“ dachte Arkadij, und dabei überlief
+ihn ein Schauer. Er griff nach der Karaffe mit Wasser und goß Wassjä das
+Wasser über den Kopf, befeuchtete seine Schläfen, rieb ihm die Hände,
+und richtig, Wassjä kam wieder zu sich. „Wassjä, Wassjä!“ Arkadij brach
+in Tränen aus: er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Wassjä, richte
+dich doch nicht zugrunde, besinne dich doch, Wassjä! ...“ Er verstummte
+und nahm Wassjä in seine Arme. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf Wassjäs
+Gesicht: er rieb sich die Stirn und griff nach seinem Kopf, als fürchte
+er, daß er ihm zerspränge ...
+
+„Ich weiß nicht, was mit mir ist!“ sagte er endlich, „ich glaube ...
+Aber beunruhige dich nicht, Arkadij, beunruhige dich nicht, es ist alles
+gut!“ fügte er, ihn mit traurigen Augen ansehend, hinzu. „Laß gut sein,
+laß gut sein!“
+
+„Du – du beruhigst noch mich!“ rief Arkadij, dessen Herz in Stücke
+zerriß. „Wassjä,“ sagte er dann, „lege dich endlich zu Bett, schlaf ein
+wenig, was meinst du? Quäle dich doch nicht umsonst! Besser, du setzt
+dich nachher wieder an die Arbeit!“
+
+„Schon gut, schon gut!“ wiederholte Wassjä, „ja: Ich werde mich
+hinlegen: schon gut; ja! Siehst du, ich wollte es nämlich beenden, aber
+jetzt habe ich mich doch bedacht ... ja ...“
+
+Und Arkadij schleppte ihn zu Bett.
+
+„Höre, Wassjä,“ sagte er entschlossen, „mit dieser Sache muß ein Ende
+gemacht werden! Sage mir, was hast du dir gedacht?“
+
+„Ach!“ sagte Wassjä, winkte mit der Hand schwach ab und wandte seinen
+Kopf auf die andere Seite.
+
+„Schön, Wassjä, schön! Entschließe dich, ich will nicht zu deinem Mörder
+werden, ich kann nicht länger schweigen! Du wirst nicht eher
+einschlafen, bis du dich nicht zu etwas Bestimmtem entschlossen haben
+wirst, ich weiß es.“
+
+„Wie du willst, wie du willst,“ wiederholte rätselhaft Wassjä.
+
+„Er ergibt sich,“ dachte Arkadij Iwanowitsch.
+
+„Folge mir doch, Wassjä,“ sagte er, „denke daran, was ich dir gesagt
+habe: ich kann dich ja retten; morgen – morgen werde ich dein Schicksal
+entscheiden! Was sage ich: Schicksal!? Du hast mich so bange gemacht,
+Wassjä, daß ich schon anfange, deine Worte zu wiederholen. Was für ein
+Schicksal! Das ist ja Unsinn! Du willst nicht die Liebe und Zuneigung
+Juljan Mastakowitschs verlieren, ja! Und du wirst sie auch nicht
+verlieren, du wirst sehen ... Ich ...“
+
+Arkadij Iwanowitsch hätte noch weiter gesprochen, aber Wassjä unterbrach
+ihn. Er richtete sich auf, umschlang schweigend mit beiden Händen
+Arkadij Iwanowitsch und küßte ihn.
+
+„Schon gut!“ sagte er mit schwacher Stimme, „schon gut! Genug davon!“
+
+Und wieder kehrte er seinen Kopf weg zur Wand.
+
+„Mein Gott!“ dachte Arkadij. „Mein Gott! Was ist mit ihm? Er ist ganz
+und gar von Sinnen: was mag er vorhaben? Er wird sich ja zugrunde
+richten!“
+
+Arkadij sah voll Verzweiflung auf ihn.
+
+„Wenn er doch wirklich krank werden würde,“ dachte Arkadij, „das wäre
+vielleicht noch das Beste. Durch die Krankheit würde er dann aller
+Sorgen enthoben sein und man würde die Sache auf eine ganz
+ausgezeichnete Weise beilegen können. Doch was sage ich? Ach, du mein
+großer Gott ...“
+
+Inzwischen schien Wassjä eingeschlafen zu sein. Arkadij Iwanowitsch
+freute sich über das gute Zeichen, wie er es auslegte, und beschloß bei
+sich, die ganze Nacht an Wassjäs Bett zu bleiben. Doch Wassjä schien
+nicht zur Ruhe zu kommen, er bewegte sich alle Augenblick, warf sich im
+Bett herum und öffnete von Zeit zu Zeit die Augen. Schließlich aber nahm
+die Müdigkeit doch überhand und er schlief ein wie ein Toter. Es war
+gegen zwei Uhr morgens, als Arkadij Iwanowitsch, mit den Ellenbogen auf
+den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl ebenfalls einschlief.
+
+Er hatte einen sehr unruhigen und sonderbaren Traum. Ihm war es, als
+wache er, während Wassjä noch immer auf dem Bett lag. Doch
+sonderbarerweise war das nur eine Verstellung von Wassjä, er hinterging
+Arkadij, stand vom Bett auf und setzte sich an den Schreibtisch. Schmerz
+ergriff Arkadij, er war tief traurig und konnte es kaum ertragen, als er
+so sehen mußte, wie Wassjä ihn hinterging. Er wollte nach ihm greifen,
+ihn rufen und aufs Bett zurücktragen. Wassjä schrie aber laut auf und
+als Arkadij zusah, hielt er nur seine Leiche im Arm. Kalter Schweiß trat
+ihm auf die Stirn, sein Herz klopfte heftig. Er erwachte und öffnete die
+Augen. Wassjä saß vor ihm am Tisch und – schrieb.
+
+Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und blickte aufs Bett: aber
+nein, da war Wassjä nicht! Arkadij sprang auf, noch ganz unter dem
+Eindruck seines Traumes. Wassjä aber rührte sich nicht. Er schrieb immer
+weiter. Voll Entsetzen bemerkte plötzlich Arkadij, daß Wassjä immer nur
+mit der trockenen Feder übers Papier fuhr, die weißen Seiten umblätterte
+und sich eilte und eilte, ganz, als wäre er emsig an seiner Arbeit!
+„Nein, das da ist kein Krampf!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und
+erzitterte am ganzen Körper. „Wassjä, Wassjä! Antworte mir doch!“ rief
+er und packte ihn an der Schulter. Doch Wassjä schwieg und fuhr fort,
+mit trockener Feder auf dem Papier weiter zu schreiben.
+
+„Endlich, endlich schreibt meine Feder so schnell, wie ich will,“ sagte
+er und blickte Arkadij an.
+
+Arkadij ergriff seine Hand und entriß ihm die Feder.
+
+Ein Stöhnen kam aus Wassjäs Brust. Er ließ die Arme sinken und sah
+Arkadij an, dann griff er sich mit einem quälenden, traurigen Ausdruck
+an die Stirn, als wollte er einen schweren eisernen Ring entfernen, der
+dort lag und ließ dann leise, wie in Nachdenken versunken, seinen Kopf
+auf die Brust fallen.
+
+„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij Iwanowitsch verzweifelt. „Wassjä!“
+
+Nach einiger Zeit sah Wassjä ihn an. Tränen standen in seinen großen
+blauen Augen und das bleiche Gesicht drückte eine unendliche Qual aus
+... Er flüsterte etwas.
+
+„Was, was sagst du?“ rief Arkadij und beugte sich zu ihm.
+
+„Warum nur ich, warum nur ich?“ flüsterte Wassjä, „warum? Was habe ich
+denn getan?“
+
+„Wassjä! Was ist dir! wen fürchtest du, Wassjä? Sprich!“ rief Arkadij
+und rang die Hände in Verzweiflung.
+
+„Warum will man denn mich zu den Soldaten geben?“ flüsterte Wassjä
+weiter und sah fragend in die Augen seines Freundes, „warum mich? Was
+habe ich denn getan!“
+
+Arkadij schauderte vor Entsetzen: er wollte, er konnte es nicht glauben.
+Wie gebrochen stand er da.
+
+Im nächsten Augenblick faßte er sich wieder: „Das ist nur so, das ist
+vorübergehend!“ sagte er zu sich, bleich mit blauen, zitternden Lippen
+und kleidete sich an. Er wollte sofort zu einem Doktor laufen. Plötzlich
+rief ihn Wassjä. Arkadij stürzte zu ihm und umarmte ihn besorgt, wie
+eine Mutter ihr Kind ...
+
+„Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du! Mein Unglück will ich
+allein tragen ...“
+
+„Was hast du? Was hast du? besinne dich doch, Wassjä, besinne dich
+doch!“
+
+Wassjä seufzte und leise Tränen liefen über seine Wangen.
+
+„Warum sie vernichten? Was hat sie denn für eine Schuld daran? ...“
+murmelte er gequält und herzzerreißend. „Meine Sünde ist es, meine
+Sünde! ...“
+
+Er schwieg einen Augenblick.
+
+„Lebe wohl, meine Geliebte! Lebe wohl, meine Geliebte!“ flüsterte er und
+wiegte seinen armen Kopf. Arkadij zuckte zusammen, raffte sich dann auf
+und wollte zum Doktor ... „Gehen wir! Es ist Zeit!“ rief Wassjä, der die
+Bewegung Arkadijs bemerkt hatte. „Gehen wir, Bruder, gehen wir! ich bin
+bereit! Du wirst mich begleiten.“ Er verstummte und sah Arkadij
+vernichtet und zugleich mißtrauisch an.
+
+„Wassjä, komme mir nicht nach, um Gottes willen! Erwarte mich hier. Ich
+werde sofort, sofort zu dir zurückkehren,“ sagte Arkadij Iwanowitsch,
+der selbst den Kopf verloren hatte. Und er griff nach seiner Mütze, um
+nach dem Doktor zu laufen. Wassjä setzte sich wieder hin, er war still
+und gehorsam, nur in seinen Augen blitzte eine verzweifelte
+Entschlossenheit. Arkadij kehrte noch einmal zurück, ergriff vom Tisch
+das Federmesser, sah noch zum letztenmal nach dem Armen und lief zur
+Wohnung hinaus.
+
+Es war acht Uhr morgens. Das Licht hatte bereits die Dämmerung im Zimmer
+verdrängt.
+
+Er fand niemanden. Er lief eine ganze Stunde umher. Alle Ärzte, deren
+Adressen er von den Hausverwaltern erfuhr, bei denen er sich erkundigte,
+ob nicht ein Doktor im Hause wohne, waren bereits ausgefahren: in ihre
+Praxis oder in ihren privaten Angelegenheiten. Nur einen traf er
+schließlich zu Hause. Dieser fragte lange und umständlich seinen Diener,
+der Arkadij anmeldete: wer und woher der Herr sei, aus welchem Grunde er
+käme und aus welchen Verhältnissen der frühe Besucher zu sein scheine –
+bis er dann schließlich doch zu dem Entschluß kam, daß es ihm nicht
+möglich sei, ihn zu empfangen, da er viel zu tun habe und nicht
+ausfahren könne, und daher Arkadij sagen ließ, diese Art von Kranken
+müsse man in ein Krankenhaus bringen.
+
+Da ließ der verzweifelte und erschütterte Arkadij, der ein solches
+Ergebnis denn doch nicht erwartet hatte, alles stehen und liegen, wie es
+war, alle Ärzte, die es auf der Welt gab, und begab sich nach Haus, in
+höchster Angst um Wassjä. Er lief in die Wohnung. Mawra wischte gerade
+den Fußboden auf, ganz, als wäre nichts geschehen und brach kleine
+Hölzchen entzwei, um den Ofen anzuzünden. Er stürzte ins Zimmer: aber
+Wassjä war nicht da!
+
+„Wohin? Wohin nur? Wohin mag der Unglückliche gelaufen sein?“ fragte
+sich Arkadij im höchsten Schreck. Und er fing an, Mawra auszufragen. Die
+aber wußte nichts, hatte Wassjä weder gehört noch gesehen. „Gott sei ihm
+gnädig!“ sagte Arkadij und lief zu den Kolomnaschen.
+
+Jawohl: dort, nur dort konnte er sein!
+
+Es war bereits zehn Uhr, als er bei ihnen ankam. Aber auch Lisenka und
+ihre Mutter hatten nichts gehört, nichts gesehen. Arkadij stand ganz
+verstört vor ihnen und fragte immer nur, wo Wassjä sei. Die Alte trugen
+ihre Füße nicht mehr, und sie fiel auf den Diwan hin. Lisenka, die am
+ganzen Körper zitterte, begann ihn über das Geschehene auszufragen. Doch
+– was sollte er ihr sagen? Arkadij Iwanowitsch versuchte, sich so
+schnell als möglich von ihnen loszumachen, er dachte sich irgendeine
+Ausrede aus, die ihm natürlich nicht geglaubt wurde, lief davon und ließ
+sie erschüttert und in Sorgen um Wassjä zurück. Er begab sich in sein
+Büro, um die Nachricht zu überbringen und darauf hinzuwirken, daß man so
+schnell als möglich Maßregeln ergriff. Unterwegs kam ihm der Gedanke,
+daß Wassjä ja zu Juljan Mastakowitsch gegangen sein könne. Das war wohl
+auch am ehesten anzunehmen! Arkadij hatte bereits vorher, noch bevor er
+zu den Kolomnaschen gegangen war, an diese Möglichkeit gedacht. Als er
+am Hause der Exzellenz vorübergefahren war, hatte er schon anhalten
+lassen wollen, aber er hatte dann doch wieder dem Kutscher befohlen,
+weiterzufahren. Er wollte lieber erst im Büro nach Wassjä fragen und
+erst dann, wenn er dort nicht sein sollte, sich zu Seiner Exzellenz
+begeben, und wär’s auch nur, um Bericht zu erstatten. Irgend jemand
+mußte es doch tun!
+
+Kaum war er in den Vorraum eingetreten, als ihn auch schon einige
+jüngere Kollegen umringten, die alle im gleichen Rang mit ihm standen,
+und ihn fragten, was mit Wassjä geschehen sei? Und alle sprachen sie
+davon, daß Wassjä den Verstand verloren habe und sich einbilde, er müsse
+zu den Soldaten, weil er sich ein Versäumnis im Dienst habe zuschulden
+kommen lassen. Arkadij Iwanowitsch antwortete auf die Fragen, die auf
+ihn einstürmten, oder besser gesagt, er antwortete niemandem etwas
+Rechtes, und beeilte sich nur so schnell wie möglich in die inneren
+Gemächer zu kommen. Auf dem Wege dorthin erfuhr er, daß Wassjä im
+Kabinett Juljan Mastakowitschs sei, und daß sich die meisten der
+Vorgesetzten gleichfalls dorthin begeben hatten. Vor der Tür wurde er
+zurückgehalten. Einer von den höheren Beamten fragte ihn, was er
+wünsche? Doch ohne den Herrn recht zu erkennen, sagte er irgend etwas
+über Wassjä und ging geradeaus auf das Kabinett zu. Er war noch draußen,
+als er schon die Stimme Juljan Mastakowitschs hörte.
+
+„Wohin wollen Sie?“ fragte ihn wieder jemand.
+
+Arkadij Iwanowitsch verlor fast den Mut und wäre beinahe schon umgekehrt
+– als er gerade durch die geöffnete Tür seinen armen Freund Wassjä
+erblickte. Und nun zwängte er sich durch die Tür in das Zimmer hinein.
+Dort herrschte große Aufregung und Verwirrung. Juljan Mastakowitsch
+schien sehr aufgeregt zu sein. Um ihn herum standen alle die höheren
+Beamten, sprachen hin und her und wußten nicht, wozu sie sich
+entschließen sollten. Weiter abseits stand Wassjä. In der Brust Arkadijs
+erstarb alles, wie er ihn so stehen sah. Wassjä stand da: bleich, mit
+erhobenem Kopfe, die Hände stramm an der Hosennaht, ganz als wäre er
+wirklich ein Rekrut und stände vor seinen Vorgesetzten. Er blickte starr
+Juljan Mastakowitsch in die Augen. Arkadij wurde natürlich sofort
+bemerkt, und da einige wußten, daß er Wassjäs Freund und Stubengenosse
+war, so meldete man dies sofort Seiner Exzellenz. Man führte Arkadij
+vor. Er wollte die ihm gestellten Fragen beantworten, aber als er auf
+Juljan Mastakowitsch sah und auf dessen Gesicht Trauer und Mitleiden
+erblickte, da schluchzte er laut auf wie ein Kind. Er tat noch mehr: er
+ergriff die Hand Seiner Exzellenz und drückte sie an seine Augen und
+benetzte sie mit seinen Tränen, so daß Seine Exzellenz genötigt war, sie
+ihm zu entziehen. Er winkte mit der Hand ab und sagte nur: „Schon gut,
+lieber Mensch, ich sehe, daß du ein gutes Herz hast.“ Arkadij schluchzte
+und warf den Umstehenden flehende Blicke zu. Ihm kam es so vor, als
+wären sie alle Brüder seines armen Wassjä, die ebenso um ihn trauerten,
+wie er selbst. „Wie – ja wie ist denn das mit ihm geschehen?“ fragte
+Juljan Mastakowitsch. „Weshalb hat er seinen Verstand verloren?“
+
+„Aus Dan–Dan–Dankbarkeit!“ konnte Arkadij Iwanowitsch kaum antworten.
+
+Diese Antwort setzte alle in Verwunderung: allen schien sie sonderbar
+und unverständlich: wie konnte wohl ein Mensch aus Dankbarkeit den
+Verstand verlieren? Arkadij versuchte es zu erklären, so gut er’s
+konnte.
+
+„Gott, wie traurig!“ rief Juljan Mastakowitsch aus, „und dabei hatte die
+Arbeit, mit der ich ihn beauftragt, durchaus keine Eile. Wegen nichts
+hat sich der Mensch zugrunde gerichtet! ...“ Juljan Mastakowitsch wandte
+sich dann von neuem an Arkadij Iwanowitsch und fragte ihn noch weiter
+aus: „er bittet,“ sagte er und wies auf Wassjä, „daß man es nicht ‚Ihr‘,
+wohl irgendeinem jungen Mädchen, sagen möge – ist es seine Braut?“
+
+Arkadij erzählte. In der Zwischenzeit bemühte sich Wassjä ersichtlich,
+über irgend etwas nachzudenken: mit der größten Anstrengung versuchte
+er, sich irgendeiner sehr wichtigen und nötigen Sache zu erinnern, von
+der er wohl glaubte, daß sie ihm im Augenblicke sehr zustatten käme. Mit
+fragenden und zugleich gequälten Blicken sah er seine Umgebung an, als
+hoffte er, andere würden sich vielleicht der Sache erinnern, die er
+vergessen hatte. Er richtete seine Augen auf Arkadij – und plötzlich
+flammte in seinen Augen eine Hoffnung auf. Er trat mit dem einen Fuß
+einen Schritt vor, ging dann noch drei Schritte weiter und schlug
+schließlich so stramm, wie es ihm möglich war, mit dem rechten Bein ans
+linke: so, wie es die Soldaten tun, wenn sie von einem Offizier gerufen
+und angesprochen werden. Alle warteten gespannt, was nun geschehen
+würde.
+
+„Ich habe einen körperlichen Fehler, Eure Exzellenz, ich bin schwach und
+klein von Wuchs, und tauge nicht zum Dienst,“ stieß er endlich
+abgebrochen hervor.
+
+Alle, die im Zimmer waren, fühlten wohl, wie sich ihnen in diesem
+Augenblick das Herz zusammenzog. Juljan Mastakowitsch war erschüttert,
+obgleich er sonst keinen allzu weichen Charakter hatte. „Führt ihn
+fort,“ sagte er und winkte mit der Hand ab.
+
+„Meine Stirn!“ sagte Wassjä halblaut vor sich hin, drehte sich linksum
+und ging aus dem Zimmer. Alle, die an seinem Schicksal Anteil nahmen,
+stürzten ihm nach. Auch Arkadij drängte sich mit ihnen hinaus. Man mußte
+noch auf den Wagen warten, der Wassjä ins Krankenhaus bringen sollte.
+Man führte ihn deshalb so lange in den Vorraum. Hier saß er schweigend
+da, offenbar in großen Sorgen. Wen er wiedererkannte, dem nickte er mit
+dem Kopfe zu, als wollte er sich von ihm verabschieden. Jeden Augenblick
+sah er nach der Tür und schien sich darauf vorzubereiten, daß man
+„jetzt“ sagte. Um ihn herum hatte sich ein enger Kreis gebildet: alle
+redeten sie und schüttelten mit den Köpfen. Viele wunderten sich über
+die Geschichte, die nun bekannt geworden war; die einen redeten voll
+Eifer darüber; andere wiederum bemitleideten Wassjä und lobten ihn, weil
+er ein so bescheidener, stiller junger Mann gewesen sei, und so viel
+versprochen hätte: man erzählte sich, wie strebsam er gewesen, wie
+wissensdurstig und lernbegierig. „Mit eigenen Kräften hat er sich aus
+niederem Stande emporgearbeitet!“ bemerkte irgend jemand. Mit Rührung
+sprach man auch von seiner Anhänglichkeit an die Exzellenz. Einige
+konnten sich nicht erklären, wie Wassjä sich nur in den Kopf gesetzt und
+darüber den Verstand verloren hatte, daß man ihn zu den Soldaten geben
+würde, wenn er seine Arbeit nicht beendete. Man erzählte sich, daß der
+Arme vor nicht langer Zeit noch ein Leibeigener gewesen sei und es nur
+Juljan Mastakowitsch, der in ihm Talent, Gehorsam und eine seltene
+Bescheidenheit entdeckt, zu verdanken hatte, daß er eine Anstellung
+erhielt. Kurz, es gab viele solcher Meinungen und Gespräche. Besonders
+bemerkbar durch seine Aufregung machte sich ein Kollege von Wassjä, ein
+Männchen von sehr kleinem Wuchs in den Dreißigern. Er war weiß wie ein
+Tuch, zitterte am ganzen Körper und lächelte so sonderbar, vielleicht,
+weil eine jede Skandalszene und ein jedes schreckliche Erlebnis die
+Zuschauer erschreckt und doch zugleich auch unterhält, fast erfreut.
+Dieser hier lief um den kleinen Kreis herum, der sich um Schumkoff
+gebildet hatte, und da er, wie gesagt, klein von Wuchs war, so stellte
+er sich auf die Zehenspitzen und faßte jeden am Rockknopf, dem gegenüber
+er sich das erlauben konnte, und versicherte allen, daß er wisse, woher
+das alles gekommen und daß es ein klarer, aber schwerer Fall sei, den
+man nicht so einfach behandeln könne: er erhob sich dann wieder auf die
+Fußspitzen und flüsterte seinem Zuhörer etwas ins Ohr, nickte mehrmals
+heftig mit dem Kopfe und lief wieder weiter. Schließlich nahm die Szene
+ein Ende. Ein Wärter und ein Arzt aus der Irrenanstalt erschienen. Sie
+gingen auf Wassjä zu und sagten ihm, daß er mit ihnen fahren müsse.
+Wassjä sprang sofort auf, sah sich eifrig und doch gleichzeitig fragend
+im Kreise um und folgte ihnen. Plötzlich schien er jemanden mit den
+Augen zu suchen! „Wassjä, Wassjä!“ rief schluchzend Arkadij Iwanowitsch.
+Wassjä blieb stehen und Arkadij näherte sich ihm. Sie umarmten sich
+beide zum letztenmal, und wollten von einander nicht lassen. Es war
+schrecklich anzusehen. Welch ein Schicksal preßte ihnen die Tränen aus
+den Augen! Worüber weinten sie beide? Wo lag das Unglück? Warum
+verstanden sie einander nicht mehr?
+
+„Da, da, nimm! Verwahre es!“ sagte Schumkoff und drückte Arkadij ein
+Stückchen Papier in die Hand. „Sie würden es mir fortnehmen. Bringe es
+mir später; bring es mir! hörst du; verwahre es gut“ ... Wassjä durfte
+nicht weiter sprechen. Man rief ihn. Er lief eilig die Treppe hinab und
+nickte allen mit dem Kopfe zum Abschied zu. Verzweiflung lag auf seinem
+Gesicht. Man setzte ihn in einen geschlossenen Wagen. Die Pferde zogen
+an und fort ging es. Arkadij öffnete das Stück Papier: Lisas schwarze
+Locke lag darin. Was mochte in Wassjä vorgegangen sein, als er sich von
+ihr trennte. Heiße Tränen stiegen Arkadij in die Augen: „Ach, arme
+Lisa!“
+
+Nach Schluß des Büros ging er zu den Kolomnaschen. Ich kann nicht
+erzählen, was dort geschah! Sogar Petjä, der kleine Petjä, der doch noch
+nicht begreifen konnte, was mit dem guten Wassjä geschehen war, ging in
+die Ecke, bedeckte sein Gesicht mit den kleinen Händchen und schluchzte,
+als ob ihm sein Kinderherz brechen wollte. Es wurde Abend, als Arkadij
+nach Hause zurückkehrte. Als er über die Newa ging, blieb er einen
+Augenblick stehen und sah mit durchdringendem Blick über den Fluß in die
+rauchige, kaltneblige Ferne, die gerötet war von der letzten, blutig
+purpurnen Abendsonne.
+
+Die Nacht senkte sich über die Stadt und die ganze unübersehbare tote
+Schneefläche der Newa glänzte, vom letzten Strahl der Sonne beschienen,
+in unendlichen Myriaden von diamantenen Funken. Es war eine Kälte von
+zwanzig Grad. Steifer Dunst ballte sich um die vielen jagenden Pferde
+und laufenden Menschen. Die Luft erzitterte beim geringsten Laut, und
+wie Riesen erhoben sich zu beiden Seiten der Ufer in den kalten Himmel
+die Rauchsäulen der Häuser, schoben sich und schichteten sich
+übereinander, während sie aufstiegen, und es war, als ob neue Gebilde
+und Gebäude über der alten eine neue Stadt in den Wolken bildeten ...
+als ob sich diese ganze Welt, mit all ihren Bewohnern, den starken und
+den schwachen, mit ihren Behausungen der Armen und den Palästen der
+Reichen und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in einen
+phantastischen Traum verwandelte, der aus dem Dunst zu dem dunkelblauen
+Himmel aufstieg, um sich in ihm aufzulösen und im Wesenlosen zu vergehen
+... Ein sonderbares Gefühl überkam den verwaisten Freund des armen
+Wassjä. Er schrak zusammen, und plötzlich strömte, durch ein mächtiges,
+ihm bis jetzt ganz ungeahntes Gefühl, eine heiße Blutwelle in sein Herz.
+Er begriff mit einem Male den Sinn des ganzen Geschehnisses, begriff,
+warum Wassjä sein Glück nicht tragen konnte und seinen Verstand verloren
+hatte. Seine Lippen zitterten, seine Augen glänzten, er erbleichte vor
+dem Neuen, das in ihm erstand ...
+
+Seit der Zeit war Arkadij finster und verschlossen und hatte ganz seine
+frühere Fröhlichkeit verloren. Seine Wohnung wurde ihm unerträglich – er
+nahm sich eine andere. Nach zwei Jahren begegnete er ganz zufällig
+Lisenka in der Kirche. Sie war verheiratet: ihr folgte eine Amme mit
+einem Kinde auf dem Arm. Sie begrüßten einander und vermieden es lange
+Zeit, von der Vergangenheit auch nur zu sprechen. Lisa erzählte, daß sie
+glücklich und auch nicht mehr so arm sei wie früher, daß ihr Mann ein
+guter Mensch wäre und sie liebhabe ... Doch plötzlich, mitten in ihrer
+Rede, stockte sie, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich
+ab und senkte ihren Kopf über ein Betpult, um vor den Menschen ihre
+Trauer zu verbergen.
+
+
+
+
+ Ein Roman in neun Briefen
+
+
+ I.
+
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+
+Hochverehrter Iwan Petrowitsch, teuerster Freund!
+
+Es ist nun schon glücklich der dritte Tag, daß ich, man kann wohl sagen,
+regelrecht Jagd auf Sie mache, mein Bester, zumal ich Sie in einer
+höchst, höchst dringlichen Angelegenheit sprechen muß, während Sie
+leider für mich unauffindbar sind. Als wir gestern bei Ssemjon
+Alexejewitsch waren, erlaubte sich meine Frau einen kleinen Scherz auf
+Ihre Rechnung, indem sie bemerkte, daß Sie und Tatjana Petrowna
+eigentlich erstaunlich wenig Sinn für Häuslichkeit an den Tag legten:
+und es ist ja wahr, noch sind Sie keine drei Monate verheiratet, und
+schon hält es schwer, Sie einmal zu Hause anzutreffen. Wir haben alle
+herzlich darüber gelacht – natürlich nur auf Grund unserer aufrichtigen
+Zuneigung zu Ihnen. Doch ganz abgesehen von allen Scherzen, mein
+Teuerster, bin ich durch Sie in eine arge Hetze geraten. Ssemjon
+Alexejewitsch meinte, Sie würden vielleicht im Klub der „Vereinigten
+Gesellschaft“ auf dem Balle zu finden sein. Ich ließ daraufhin meine
+Frau bei der Gattin Ssemjon Alexejewitschs zurück und eilte selber nach
+dem Klub. Stellen Sie sich nun die Lage vor, in der ich mich befand: ich
+war auf dem Ball – allein – ohne Frau! Iwan Andrejewitsch, mit dem ich
+unten im Vestibül zusammentraf, zog natürlich sogleich (der Schuft!)
+bloß aus dem einen Umstande, daß ich, wie gesagt, allein eintrat,
+besondere Schlüsse auf die Art meiner Vorliebe fürs Tanzvergnügen, hakte
+sich daher ohne weiteres in meinen Arm und wollte mich schon mit Gewalt
+in den Tanzsaal schleppen, obschon sich seine flotte Seele, wie er
+vorausschickte, in der „Vereinigten Gesellschaft“ herzlich beengt fühlte
+und die diversen Patschuli- und Resedadüfte ihm bereits Kopfweh
+verursacht hätten. Doch weder fand ich Sie, noch Tatjana Petrowna. Dafür
+versicherte mir Iwan Andrejewitsch, und er schwor förmlich darauf, daß
+ich Sie unfehlbar im Alexandertheater antreffen werde, da man an dem
+Abend gerade Gribojedoffs Meisterstück[5] spiele.
+
+Ich eile hin: auch dort sind Sie nicht zu entdecken! Heute morgen dachte
+ich, Sie bei Tschistoganoff zu finden – trügerische Hoffnung!
+Tschistoganoff schickt mich zu Perepalkins – gleichfalls vergeblich. Mit
+einem Wort, ich fühle mich jetzt völlig, aber völlig abgehetzt, was Sie
+nach obiger Schilderung meiner Irrfahrten gewiß begreiflich finden
+werden: Sie können sich doch vorstellen, wie viel ich gelaufen bin!
+Jetzt habe ich zur Feder gegriffen – es bleibt mir eben nichts anderes
+übrig! Nur ist die Sache nicht zu schriftlicher Erledigung geeignet (Sie
+verstehen mich?). Besser wäre es, unter vier Augen ... Na, jedenfalls
+muß ich Sie unbedingt und zwar so bald wie möglich sprechen, und deshalb
+fordere ich Sie auf, heute mit Tatjana Petrowna zum Tee und Abendbrot zu
+uns zu kommen. Meine Frau wird sich über Ihren Besuch unendlich freuen.
+Wirklich, Sie werden mich damit, wie man zu sagen pflegt, bis zu meinem
+Lebensende verpflichten. Übrigens, mein Teuerster – da ich schon einmal
+zu schreiben begonnen habe, so sei’s denn auch geschrieben – ich sehe
+mich gezwungen, Sie schon jetzt etwas ins Gebet zu nehmen, jawohl
+teuerster Freund, sehe mich gezwungen, Ihnen eine anscheinend ganz
+unschuldige kleine Machenschaft vorzuwerfen, als deren äußerst boshaft
+ausgewähltes Opfer ich mich selbst betrachten muß ... Sie verkappter
+Bösewicht, Sie gewissenloser Mensch! Da führen Sie vor etwa einem Monat
+einen Ihrer Bekannten bei mir ein, nämlich Jewgenij Nikolajewitsch,
+versehen ihn mit Ihrer freundschaftlichen, das heißt für mich somit
+heiligsten Empfehlung, weshalb ich mich aufrichtig über die neue
+Bekanntschaft freue, den jungen Menschen mit offenen Armen empfange und
+dabei ahnungslos den Kopf in die Schlinge stecke. Das heißt, eine
+Schlinge ist es nun, genau genommen, gerade nicht. Immerhin haben Sie
+mir da, wie man zu sagen pflegt, eine böse Suppe eingebrockt. Von
+näheren Erklärungen will ich vorläufig Abstand nehmen – die Zeit drängt;
+und brieflich, wissen Sie, ist es auch nicht immer leicht, das richtige
+Wort zu finden. Infolgedessen geht denn meine inständige Bitte an Sie
+dahin, mein schadenfroher Freund und Kollege, daß ich Sie sozusagen um
+Ihre Meinung darüber bitte, ob es sich nicht irgendwie machen ließe –
+natürlich in aller Diskretion und Höflichkeit – daß man Ihrem jungen
+Mann unmißverständlich – doch natürlich ohne ihm zu nahe zu treten –
+unter vier Augen oder gar ganz heimlich – ungefähr und andeutungsweise
+zu verstehen gäbe, daß es in der Residenz noch viele andere Häuser außer
+dem meinigen gibt? Ich kann nicht mehr, mein Bester! Meine Kraft ist zu
+Ende! „Falle zu Füßen!“ wie unser polnischer Freund Ssimonewitsch sagt.
+Wenn wir uns sehen, erzähle ich Ihnen alles. Ich will damit nicht etwa
+gesagt haben, daß der junge Mann kein einnehmendes Wesen habe, oder daß,
+sagen wir, irgendwelche seiner sonstigen Eigenschaften abstoßend seien.
+Im Gegenteil, er ist sogar in jeder Beziehung ein sehr netter und
+liebenswürdiger Mensch. Doch – nun, gedulden Sie sich noch ein Weilchen,
+bis wir unter uns sind. Inzwischen aber, wenn Sie ihn vorher sehen
+sollten, dann geben Sie ihm um Christi willen einen Wink, Verehrtester.
+Ich würde es ja selbst tun, aber Sie wissen doch, wie ich bin: ich
+bringe es nicht fertig – da ist nun einmal nichts zu machen. Sie haben
+ihn doch nun einmal eingeführt und uns empfohlen. Übrigens werden wir
+uns ja heute abend zur Genüge aussprechen können. Daher vorläufig: auf
+Wiedersehen!
+
+Verbleibe usw.
+
+P. S. Mein Kleiner ist schon seit einer Woche nicht ganz gesund und mit
+jedem Tage wird es schlimmer. Es sind die Zähnchen: die fangen jetzt an,
+durchzubrechen. Meine Frau muß sich daher viel mit ihm abgeben und ist
+recht mitgenommen, die Arme. Kommen Sie unbedingt. Sie werden uns
+aufrichtig erfreuen, werter Freund.
+
+
+ II.
+
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+
+Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!
+
+Erhalte gestern Ihren Brief, lese ihn und staune! Sie suchen mich Gott
+weiß wo und bei wem, während ich einfach zu Hause bin. Bis zehn Uhr
+wartete ich auf Iwan Iwanytsch Tolokonoff, der aber nicht kam. Nach
+Empfang Ihres Schreibens rief ich sogleich meine Frau – wir kleiden uns
+an, ich nehme eine Droschke, scheue nicht die Ausgabe – und erscheinen
+bei Ihnen gegen halb sieben. Sie aber – sind nicht zu Hause: wir werden
+von Ihrer Frau empfangen. Ich warte bis halb elf. Länger kann ich nicht.
+Nehme meine Frau, bezahle wieder eine Droschke, bringe meine Frau nach
+Haus und begebe mich darauf allein zu Perepalkins, in der Hoffnung, Sie
+vielleicht dort anzutreffen, sehe mich aber in meiner Annahme wieder
+enttäuscht. Komme nach Haus gefahren, schlafe die ganze Nacht nicht,
+rege mich auf, fahre am Morgen wieder dreimal zu Ihnen, um neun, um zehn
+und um elf, stürze mich dreimal in Ausgaben, fahre hin und her, und
+wieder lassen Sie mich mit einer langen Nase abziehen.
+
+Als ich Ihren Brief las, wunderte ich mich nicht wenig. Sie schreiben
+von Jewgenij Nikolajewitsch, bitten ihm eine Andeutung zukommen zu
+lassen, erwähnen aber mit keiner Silbe, weshalb und warum. Vorsicht ist
+ja freilich ganz lobenswert, aber mein Papier ist schließlich ebensoviel
+wert, wie Ihres, von mir aber weiß ich wenigstens, daß ich wichtige
+Papiere nicht meiner Frau zu Papilloten gebe. Ich begreife nicht, um es
+endlich auszusprechen, in welchem Sinne Sie mir eigentlich dies alles zu
+schreiben beliebt haben. Und überdies, da nun einmal die Rede davon ist:
+weshalb ziehen Sie denn mich in diese ganze Angelegenheit hinein? Ich
+habe keine Lust, meine Nase in alles und jedes hineinzustecken. Sie
+können ihm doch ebensogut selbst eine Absage geben! Ich sehe vorläufig
+nur das eine: daß ich mich mit Ihnen deutlicher auseinandersetzen muß.
+Inzwischen aber vergeht die Zeit. Ich muß mich sehr einschränken und
+weiß nicht, was ich tun soll, wenn Sie gewisse Bedingungen nebst Ihrem
+Versprechen nicht aufrechterhalten. Die Reise läßt sich nicht
+aufschieben, und Reisen kostet Geld. Außerdem quält einen noch die Frau,
+die mit aller Gewalt einen Samtmantel nach der neuesten Mode haben will.
+Was jedoch Jewgenij Nikolajewitsch betrifft, so beeile ich mich, Ihnen
+folgendes zu bemerken: habe gestern, ohne viel Zeit zu verlieren, gleich
+nochmals Erkundigungen über ihn eingezogen, als ich bei Pawel
+Ssemjonytsch Perepalkin auf Sie wartete. Er besitzt rund 500 Seelen im
+Jaroslawschen Gouvernement, und von der Großmutter hat er Aussicht, noch
+ein Gut in der Nähe von Moskau mit 300 Seelen zu erben. Wieviel er an
+barem Gelde besitzt, weiß ich nicht, denke aber, daß Sie hierüber selber
+besser Bescheid wissen dürften. Bitte Sie ferner, mir endgültig Ort und
+Zeit eines Zusammentreffens anzugeben. Sie schreiben, Iwan Andrejewitsch
+habe Ihnen gesagt, daß ich mit meiner Frau im Alexandertheater
+anzutreffen sei. Darauf kann ich nur erwidern, daß es Iwan Andrejewitsch
+nicht sehr auf die Wahrheit anzukommen scheint und man ihm und seinen
+Worten um so weniger Glauben schenken darf, als er noch vor nicht länger
+als drei Tagen seine eigene Großmutter um achthundert Rubel betrogen
+hat.
+
+Habe die Ehre usw.
+
+P. S. Meine Frau ist in anderen Umständen, außerdem ist sie schreckhaft
+und zeitweilig zur Melancholie geneigt. In den Theatern aber wird auf
+der Bühne zuweilen geschossen, oder künstlich, mit allerlei Maschinen,
+Donner erzeugt. Und deshalb, um meine Frau nicht der Gefahr des
+Erschreckens auszusetzen, besuche ich mit ihr keine Theater. Auch bin
+ich selbst kein großer Liebhaber theatralischer Aufführungen.
+
+
+ III.
+
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+
+Teuerster Iwan Petrowitsch, bester Freund!
+
+Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich bitte Sie tausendmal um Vergebung,
+doch will ich mich ungesäumt rechtfertigen, soweit ich es kann.
+
+Gestern, kurz vor sechs Uhr, gerade als wir in aufrichtigem Mitleid
+Ihrer gedachten, erschien ein Abgesandter von meinem Onkel Stepan
+Alexejewitsch, mit der Nachricht, daß es mit der Tante schlimm stehe. Um
+meine Frau nicht aufzuregen, sagte ich ihr kein Wort davon und fuhr
+unter dem Vorwande, etwas Unaufschiebbares vorzuhaben, zu meiner Tante.
+Mit dieser stand es in der Tat schlimm genug: kurz vor fünf hatte sie
+wieder einen Schlaganfall gehabt, den dritten im Laufe der letzten zwei
+Jahre. Karl Fedorytsch, ihr Hausarzt, erklärte, daß sie vielleicht nicht
+einmal diese Nacht überleben werde. Stellen Sie sich also meine Lage
+vor, verehrtester Freund! Die ganze Nacht auf den Beinen, Laufereien
+über Laufereien und obendrein noch Sorgen! Erst gegen Morgen streckte
+ich mich, völlig erschöpft, und zwar sowohl psychisch als physisch, bei
+meinem Onkel ein wenig auf dem Diwan aus, vergaß aber, vorher zu sagen,
+daß man mich rechtzeitig wecken solle, und erwachte erst um halb zwölf.
+Der Tante ging es besser. So fuhr ich denn nach Haus: meine Frau – nun,
+Sie können sich denken: die arme Seele hatte die ganze Nacht in der
+Ungewißheit über meinen Verbleib in begreiflicher Aufregung schlaflos
+zugebracht. Ich nahm ein paar Bissen, küßte das Kind, beruhigte meine
+Frau und begab mich zu Ihnen. Sie waren nicht zu Hause. Statt Ihrer traf
+ich bei Ihnen Jewgenij Nikolajewitsch an. Dann kam ich nach Haus zurück
+und jetzt sitze ich und schreibe an Sie. Murren Sie nicht und ärgern Sie
+sich nicht über mich, mein bester Freund! Schlagen Sie, fällen Sie mir
+meinetwegen das schuldige Haupt von den Schultern, nur entziehen Sie mir
+nicht Ihre Freundschaft. Von Ihrer Frau erfuhr ich, daß Sie am Abend bei
+Sslawjänoffs sein werden. Werde unbedingt auch hinkommen. Ich erwarte
+Sie mit größter Ungeduld.
+
+Inzwischen verbleibe ich usw.
+
+P. S. Unser Kleiner bringt uns fast zur Verzweiflung! Karl Fedorytsch
+hat ihm ein Abführmittelchen verordnet. Er fiebert, weint, gestern hat
+er niemand erkannt. Heute erkennt er uns zum Glück und stammelt wieder
+„Papa“, „Mama“ und schreit sein „Bu–ah“. Meine Frau ist in Tränen.
+
+
+ IV.
+
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+
+Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!
+
+Schreibe an Sie bei Ihnen, in Ihrem Zimmer, an Ihrem eigenen
+Schreibtisch; bevor ich jedoch die Feder ergriff, habe ich gute
+zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet. Jetzt erlauben Sie mir aber,
+Ihnen, Pjotr Iwanytsch, in betreff dieser ganzen garstigen Angelegenheit
+einmal rückhaltlos meine Meinung zu sagen.
+
+Aus Ihrem letzten Schreiben schloß ich, daß man Sie bei Sslawjänoffs
+erwartete und daß Sie mich quasi hinbestellten: ich erscheine also,
+warte geschlagene fünf Stunden, doch wer nicht kommt – sind Sie. Wie,
+soll ich mich zum Narren machen lassen? um fremde Menschen zu erheitern?
+oder was verlangen Sie von mir? Erlauben Sie, mein Herr ...
+
+Doch weiter: ich komme zu Ihnen am frühen Morgen, in der Annahme, Sie
+noch in Ihren vier Pfählen anzutreffen, und ahme also nicht gewisse und
+gelinde ausgedrückt irreführende Leute nach, die ihre Bekannten Gott
+weiß wo und in welchen Lokalen suchen, während man sie zu jeder
+anständig gewählten Tageszeit in ihrem Heim finden kann. Doch ich hatte
+nicht das Vergnügen, Sie in Ihrem Hause anzutreffen. Ich weiß nicht, was
+mich noch immer abhält, Ihnen unumwunden die Wahrheit zu sagen. Ich
+begnüge mich also mit der Bemerkung, daß Sie gerade kein Mann von Wort
+zu sein scheinen und daß Sie Ihr Versprechen jetzt wohl zurückziehen und
+gewisse Verabredungen und Bedingungen anscheinend verleugnen wollen.
+Nach Erwägung Ihres ganzen Verhaltens mir gegenüber, kann ich Ihnen nur
+gestehen, daß ich mich über Ihre Schlauheit entschieden wundern muß.
+Denn jetzt ist es mir vollkommen klar, daß Sie diese häßliche Absicht
+schon seit langer Zeit hegen. Für die Richtigkeit meiner Annahme dürfte
+als bester Beweis die Tatsache sprechen, daß Sie sich noch in der
+vorigen Woche in einer nahezu unstatthaften Weise jenes von Ihnen an
+mich gerichteten Briefes bemächtigt haben, in dem Sie selbst – zwar
+ziemlich dunkel und versteckt – die Bedingungen einer gewissen, Ihnen
+wohl noch erinnerlichen Abmachung schwarz auf weiß niedergeschrieben
+haben. Sie fürchten also Dokumente, vernichten sie und wollen mich an
+der Nase herumführen, wie’s scheint. Das aber werde ich nicht zulassen,
+denn bisher hat mich noch niemand für einen Narren gehalten, vielmehr
+hat ein jeder nur Gutes über mich geäußert. Jetzt sind mir die Augen
+geöffnet. Sie wollen mich irreführen, wollen mir mit Ihren Andeutungen
+in betreff Jewgenij Nikolajewitschs Sand in die Augen streuen, und
+während ich nach Ihrem mir bis jetzt noch unverständlichen Brief vom
+Siebenten dieses Monats eine Aussprache mit Ihnen suche, lassen Sie mich
+bald hierhin, bald dorthin zu einem Stelldichein laufen, zu dem Sie
+selbst gar nicht erscheinen: ja ganz augenscheinlich suchen Sie sich vor
+mir absichtlich zu verbergen. Sie denken wohl, mein Herr, daß ich
+unfähig sei, Ihre Ränke zu durchschauen? Sie versprechen mir alles
+mögliche für meine Ihnen sehr gut bekannten Dienstleistungen,
+versprechen Empfehlungen an verschiedene Personen usw., indessen
+verstehen Sie aber in einer mir selbst rätselhaften Art und Weise es so
+einzurichten, daß Sie sich sogar mit dem Anschein einer gewissen
+Berechtigung noch Geld von mir leihen und zwar in beträchtlicher Höhe
+und ohne irgendwelche Sicherheiten Ihrerseits, also einzig auf
+geheuchelte Freundschaft hin, wie dies noch in der jüngstvergangenen
+Woche geschehen ist. Jetzt jedoch, nachdem Sie das Geld erhalten haben,
+verbergen Sie sich vor mir und scheinen überdies von jenem Dienst nichts
+mehr wissen zu wollen, den ich Ihnen erwiesen, indem ich Sie mit
+Jewgenij Nikolajewitsch bekannt machte. Vielleicht rechnen Sie auf meine
+baldige Reise nach Ssimbirsk und hoffen, daß es vorher nicht zur
+Abrechnung zwischen uns kommen werde. Doch wenn das der Fall ist, dann
+erkläre ich Ihnen hiermit feierlichst und bekräftige es mit meinem
+Ehrenwort, daß ich, wenn es darauf hinausläuft, bereit bin, meinetwegen
+noch ganze zwei Monate in Petersburg zu verbleiben, daß ich mein Ziel
+aber erreichen und Sie schon aufzufinden wissen werde. Auch ich verstehe
+mitunter, einem Menschen zum Trotz etwas durchzusetzen. Zum Schluß
+jedoch erkläre ich Ihnen, daß ich, wenn Sie mir nicht heute noch
+befriedigende Erklärungen geben – zunächst schriftlich, nachher
+mündlich, unter vier Augen – und wenn Sie mir in Ihrem Brief nicht alle
+die Hauptbedingungen, die zwischen uns vereinbart wurden, schwarz auf
+weiß bestätigen und mir endlich nicht länger Ihre Hintergedanken
+bezüglich Jewgenij Nikolajewitschs vorenthalten: daß ich mich dann
+gezwungen sehe, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen gewiß sehr unangenehm
+und auch mir nichts weniger als angenehm sein werden.
+
+Gestatten Sie, daß ich verbleibe usw.
+
+
+ V.
+
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+
+ 11. November.
+
+Mein bester, verehrtester Freund Iwan Petrowitsch!
+
+Ihr Brief hat mich in tiefster Seele betrübt. Und Sie, der Sie mein
+bester, doch leider nur zu leicht ungerechter Freund sind, Sie schämen
+sich nicht, mir, der ich Ihnen doch von allen am meisten zugetan bin, so
+etwas zu schreiben – so übereilt zu urteilen, das Ganze nicht einmal zu
+erklären und mich dann mit so beleidigendem Argwohn zu kränken?
+
+Doch ich beeile mich, Ihnen Rede zu stehen und Ihre Anschuldigungen von
+mir zu weisen.
+
+Sie, Iwan Petrowitsch, haben mich gestern nur deshalb nicht dort
+angetroffen, weil ich ganz plötzlich und unvorhergesehenermaßen an ein
+Sterbelager gerufen wurde. Meine Tante Jewfimija Nikolajewna ist nämlich
+gestern um elf Uhr nachts sanft entschlafen. Zum Anordner der sämtlichen
+traurigen Obliegenheiten wurde ich durch einstimmigen Beschluß meiner
+Verwandten gewählt. Da gab es denn für mich so viel zu tun, daß ich Sie
+heute unmöglich treffen, ja nicht einmal ein paar Zeilen an Sie
+schreiben konnte. So tut mir das Mißverständnis, zu dem es zwischen uns
+gekommen ist, in der Seele leid. Meine Bemerkung über Jewgenij
+Nikolajewitsch, die von mir scherzhaft und mehr so nebenbei geäußert
+war, haben Sie ganz falsch verstanden und der Geschichte einen mich tief
+kränkenden Sinn untergeschoben. Sie kommen auch auf das Geld zu sprechen
+und verbergen nicht Ihre Befürchtungen. Was diese letzteren betrifft, so
+bin ich bereit, allen Ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, doch
+möchte ich Sie heute nur kurz daran erinnern, daß das Geld, die 350
+Rubel, von mir in der vorigen Woche ausdrücklich nur unter gewissen
+Bedingungen von Ihnen genommen worden sind, und zwar nicht als Darlehn!
+In diesem Falle hätten Sie von mir unbedingt einen Wechsel oder eine
+Quittung erhalten. Zu einer Erörterung der weiteren von Ihnen
+angeführten Punkte will ich mich nicht herablassen. Ich sehe, daß alles
+nur auf einem Mißverständnis Ihrerseits beruht, erkenne darin Ihre
+gewohnte Übereiltheit in der Beurteilung menschlicher Verhältnisse, Ihre
+Hitzigkeit und rücksichtslose Offenheit. Ich weiß jedoch, daß Ihr
+Gerechtigkeitssinn und Ihr ehrlicher Charakter nicht lange bei solchem
+Mißtrauen verbleiben und Sie mir noch einmal als erster die Hand zur
+Versöhnung reichen werden. Sie sind in einem Irrtum befangen, Iwan
+Petrowitsch, in einem sehr großen Irrtum!
+
+Doch ungeachtet dessen, daß Ihr Brief mich tief verletzt hat, wäre ich
+als erster bereit, heute noch mit meiner Entschuldigung zu Ihnen zu
+kommen, nur habe ich leider so viel zu tun – heute sogar noch mehr als
+gestern – daß ich schon halbtot bin und mich kaum noch auf den Füßen zu
+halten vermag. Zur Vollendung meines Unglücks hat sich nun auch noch
+meine Frau zu Bett legen müssen: ich befürchte eine ernste Krankheit.
+Was den Kleinen betrifft, so geht es ihm jetzt Gott sei Dank etwas
+besser. Doch ich schließe ... Die Geschäfte wollen erledigt sein und ich
+habe ihrer mehr als einen ganzen Berg!
+
+Verbleibe, teuerster Freund,
+
+ Ihr usw.
+
+
+ VI.
+
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+
+ 14. November.
+
+Sehr geehrter Herr!
+
+Drei Tage habe ich gewartet; habe mich bemüht, sie nützlich zu
+verbringen – indem ich, eingedenk der Regel, daß Höflichkeit und Anstand
+die erste Zierde eines jeden Menschen sind, Sie nach meinem letzten
+Schreiben vom Zehnten dieses Monats weder mit einem Wort noch einer Tat
+an mich erinnerte, einesteils um Ihnen Zeit zu geben, ungestört Ihrer
+Christenpflicht der Tante gegenüber nachzukommen, anderenteils auch
+deshalb, weil ich zu gewissen Erwägungen und Ermittelungen in der
+bewußten Angelegenheit selbst der Zeit bedurfte. Jetzt jedoch will ich
+nicht mehr zögern, mich endgültig und entschieden mit Ihnen
+auszusprechen.
+
+Ich gestehe Ihnen offen, daß ich beim Lesen Ihrer zwei ersten Briefe
+allen Ernstes der Meinung war, Sie hätten wirklich nicht begriffen, was
+ich wollte; es war dies denn auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich
+Sie unbedingt zu treffen und unter vier Augen zu sprechen wünschte,
+weshalb ich die Angelegenheit nicht dem Papier anzuvertrauen wagte und
+mir selbst die Möglichkeit einer Unklarheit in meiner schriftlichen
+Ausdrucksweise vorhielt. Wie Sie wissen, habe ich keine besondere
+Erziehung genossen und habe mir auch keine feinen Manieren aneignen
+können; hohles Geckentum aber ist mir fremd, denn die bittere Erfahrung
+hat mich gelehrt, wie trügerisch oft das Äußere sein kann, sowie, daß
+unter Blumen sich nicht selten Schlangen verbergen. Doch Sie haben mich
+verstanden; geantwortet aber hatten Sie mir nur deshalb nicht so, wie es
+sich gehörte, weil Sie in der Falschheit Ihrer Seele schon von Anfang an
+bei sich beschlossen, Ihr Ehrenwort zu brechen und damit auch das
+zwischen uns bestehende Freundschaftsverhältnis zu lösen. Der Beweis
+hierfür ist Ihr schändliches Benehmen mir gegenüber, ein Benehmen, das
+mir und meinen Interessen geradezu verderblich ist – was ich von Ihnen
+nie erwartet hätte und woran ich bis zu diesem Augenblick nicht habe
+glauben wollen, denn bestrickt, wie ich von Anfang unserer Bekanntschaft
+an durch Ihre guten Manieren war, durch Ihre feinen Umgangsformen, durch
+Ihre Sachkenntnis und nicht zuletzt auch durch die Vorteile, die mir aus
+Ihrer Bekanntschaft erwachsen konnten, nahm ich an, daß ich in Ihnen
+einen aufrichtigen Freund, einen echten Kameraden gefunden hatte, der
+mir wirkliches Wohlwollen entgegenbrachte. Jetzt jedoch habe ich
+erkennen müssen, daß es Menschen gibt, die unter einem trügerischen,
+glänzenden Äußeren in ihrem Herzen Gift verbergen, die ihren Verstand zu
+nichts anderem benutzen, als zum Ränkeschmieden wider ihren Nächsten und
+zu häßlichem, hinterlistigem Betruge, und die es deshalb stets umgehen,
+ihre Worte schwarz auf weiß zu geben und dabei ihre Stilgewandtheit
+nicht zu Nutz und Frommen ihrer Freunde und ihres Vaterlandes
+gebrauchen, sondern einzig zur Einschläferung und Umgarnung der Vernunft
+derjenigen, die sich auf Unternehmungen und Vereinbarungen mit Ihnen
+eingelassen haben. Ihre Falschheit mir gegenüber geht nur zu deutlich
+aus folgendem hervor.
+
+Erstens: als ich in meinem Brief klar und unmißverständlich Ihnen, mein
+sehr verehrter Herr, die Lage schilderte, in der ich mich befand, und
+gleichzeitig – in meinem ersten Brief – die Frage an Sie stellte, was
+Sie mit einzelnen Ausdrücken und angedeuteten Absichten, vornehmlich in
+bezug auf Jewgenij Nikolajewitsch, gesagt haben wollten, da verstanden
+Sie es, das Wesentliche mit Stillschweigen zu übergehen und sich,
+nachdem Sie in mir Zweifel und Argwohn geweckt, ruhig wieder aus der
+Affäre zu ziehen. Darauf, d. h. nachdem Sie so etwas mit mir in Szene
+gesetzt hatten, was sich nicht einmal mit einem anständigen Wort
+bezeichnen läßt, schrieben Sie an mich und beklagten sich in wehleidigem
+Tone über mich bei mir selbst! Wie wünschen Sie wohl, daß man das nennen
+soll, mein Herr? Sodann, als mir jeder Augenblick teuer war und Sie mich
+im ganzen Weichbilde der Haupt- und Residenzstadt auf der Suche nach
+Ihnen umherlaufen ließen, schrieben Sie mir unter der Maske der
+Freundschaft Briefe, in denen Sie absichtlich mit keiner Silbe die
+Hauptsache berührten, sondern sich statt dessen ausschließlich in
+Nebensächlichkeiten ergingen: Sie schrieben mir von Ihrer, von mir
+allerdings unter allen Umständen sehr geachteten Gemahlin und teilten
+mir mit, daß der Arzt Ihrem Kleinen ein Abführmittelchen verordnet habe
+und daß bei ihm das erste Zähnchen durchgebrochen sei. Von allen diesen
+Dingen schrieben Sie in jedem Ihrer Briefe mit einer Regelmäßigkeit, die
+für mich geradezu kränkend war. Natürlich, ich will gern zugeben, daß
+die Qualen des eigenen Kindes jedes Vaterherz bedrücken können, doch
+wozu davon gerade dann reden, wenn es sich um ganz Anderes, Wichtigeres,
+Notwendigeres handelt? Ich schwieg und geduldete mich – so schwer es mir
+auch fiel. Jetzt aber, wo die Zeit Ihrer Inanspruchnahme durch den
+Todesfall Ihrer Tante verstrichen ist, glaube ich, es mir selbst
+schuldig zu sein, die Auseinandersetzung nun endlich und zwar
+unverzüglich herbeizuführen. Ferner haben Sie mir durch trügerische
+Angaben von Orten, an denen ich Sie sollte treffen können, und an denen
+ich Sie doch niemals traf, offenbar die Rolle Ihres Narren oder
+Spaßmachers aufzwingen wollen, der zu sein ich nicht die geringste Lust
+verspüre. Darauf, nachdem Sie mich noch vorher zu sich eingeladen und
+selbstverständlich vergeblich auf sich hatten warten lassen, teilten Sie
+mir mit, daß Sie zu Ihrer leidenden Tante abberufen worden seien, die um
+Punkt fünf Uhr nachmittags einen Schlaganfall gehabt habe, womit Sie
+anscheinend peinlich gewissenhaft den wahren Sachverhalt klarlegten. Zum
+Glück jedoch habe ich, sehr geehrter Herr, im Laufe dieser drei Tage
+Zeit gehabt, Erkundigungen einzuziehen, wodurch ich erfahren habe, daß
+Ihre Tante bereits am Abend des Siebenten, kurz vor Mitternacht, von
+einem Schlagfluß betroffen worden ist. Daraus ersehe ich, daß Sie sogar
+die Heiligkeit Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gemißbraucht
+haben, um andere Menschen zu betrügen. Endlich schreiben Sie in Ihrem
+letzten Brief vom Tode dieser Ihrer Tante, die nach Ihrer Angabe gerade
+zu der Stunde entschlafen sein soll, in der ich mich zwecks bewußter
+Unterredung auf Ihre eigene Aufforderung hin bei Ihnen einfinden sollte
+und mich in der Tat auch einfand. Doch hier übersteigt die
+Schändlichkeit Ihrer Berechnungen und Erfindungen jede Glaubwürdigkeit,
+denn, wie es mir, dank einem glücklichen Zufall, aus der sichersten
+Quelle zu erfahren gelungen ist, ist Ihre Frau Tante erst runde
+vierundzwanzig Stunden _nach_ der von Ihnen so gottlos angegebenen
+Sterbestunde um elf Uhr nachts entschlafen, nämlich den _elften_
+November, und nicht den _zehnten_!
+
+Ich käme schwerlich zu einem Ende, wenn ich noch alle anderen Beweise
+aufzählen wollte, die mir Ihre Falschheit offenbart haben. Doch für
+jeden unparteiischen Beurteiler dürfte allein schon dieser eine Zug
+genügen, daß Sie mich in jedem Ihrer Briefe ihren „aufrichtigen Freund“
+nennen und mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten sagen, was Sie meines
+Erachtens zu keinem anderen Zweck getan haben, als um mein Gewissen wie
+meine Vorsicht einzuschläfern.
+
+Ich komme jetzt zu Ihrem Hauptbetrug und Treubruch, der in folgenden
+Punkten besteht: in Ihrem, in letzter Zeit unausgesetzt beobachteten
+Stillschweigen über alles das, was unsere gemeinsamen Interessen
+betrifft; ferner in der sträflichen Entwendung jenes Briefes, in dem Sie
+– allerdings nur andeutungsweise und mir nicht ganz verständlich –
+unseren beiderseitigen Vertrag nebst allen einzelnen Bedingungen
+auseinandergesetzt hatten; drittens in der Tatsache, daß Sie mich in
+einer nahezu barbarisch vergewaltigenden Weise um 350 Rubel anpumpten,
+ohne jede Quittung oder sonstige Bestätigung, also nur auf Grund meiner
+Eigenschaft als Ihr Kompagnon, sozusagen; und schließlich in Ihrer
+schändlichen Verleumdung unseres gemeinsamen Bekannten Jewgenij
+Nikolajewitsch.
+
+Es ist mir jetzt auch vollkommen klar, was Sie mit der letztgenannten
+Verleumdung eigentlich bezweckten: nämlich mir zu beweisen, daß von dem
+Betreffenden, wie von einem – mit Verlaub zu sagen – Ziegenbock weder
+Milch noch Wolle zu gewinnen sei; d. h. daß man von ihm gar keinen
+Nutzen habe und daß er selber weder dies noch das, weder Fisch noch
+Fleisch sei, was Sie ihm in Ihrem Brief vom Sechsten dieses Monats
+deutlich als ein Gebrechen anrechnen. Ich aber kenne Jewgenij
+Nikolajewitsch als bescheidenen und gesitteten jungen Mann: und gerade
+das ist es, womit er einen für sich einnehmen, sich in der Gesellschaft
+Achtung gewinnen und es in seiner Laufbahn noch einmal zu etwas bringen
+kann. Auch ist es mir nicht unbekannt geblieben, daß Sie im Verlaufe von
+ganzen zwei Wochen jeden Abend beim Hasardspiel mit ihm mindestens
+mehrere Zehnrubelscheine, wenn nicht gar Hunderter, in Ihre Tasche
+geschoben und somit auf diese Weise Jewgenij Nikolajewitsch mörderlich
+gerupft haben. Jetzt aber scheint das alles von Ihnen vergessen zu sein
+und anstatt mir für das, was ich durch Sie ausgestanden habe, zu danken,
+eignen Sie sich auf Nimmerwiedersehen auch noch mein Geld an, indem Sie
+mich vorher durch den Antrag, Ihr Kompagnon zu werden, und durch die
+Aussicht auf verschiedene Vorteile, die mir dadurch erwachsen würden,
+zur Hergabe einer beträchtlichen Summe verlocken. Jawohl: nachdem Sie
+sich in so gesetzwidriger Weise von mir und Jewgenij Nikolajewitsch Geld
+angeeignet haben, vergessen Sie jeden Dank, den Sie mir schuldig sind,
+und gehen bis zur Verleumdung desjenigen, den ich allein durch meine
+Empfehlungen in Ihrem Hause eingeführt habe. Sie selbst dagegen fahren,
+nach den Aussagen Ihrer Freunde, bis auf den heutigen Tag fort, mit
+Jewgenij Nikolajewitsch ein Herz und eine Seele zu sein, ja, im
+Überschwang der Gefühle küssen Sie ihn womöglich und stellen ihn aller
+Welt als Ihren besten Freund vor, obschon es, wie ich hinzusetzen
+möchte, so leicht keinen einzigen Dummen geben wird, der nicht sofort
+und ganz genau erriete, auf was alle Ihre Absichten eigentlich
+hinauslaufen und was Ihre Freundschaftsbeteuerungen in Wirklichkeit wert
+sind. Ich wenigstens sage es offen, daß sie nichts als Lug und Trug
+bedeuten, Falschheit und Hohn auf alle Anstandsbegriffe und
+Menschenrechte, daß sie eine Schmähung Gottes sind und der Inbegriff
+aller Lasterhaftigkeit. Als Beispiel und Beleg hierfür nenne ich mich
+selbst! d. h. ich wollte sagen, die Erfahrungen, die ich mit Ihnen
+gemacht habe. – Wann habe ich Sie je beleidigt oder Ihnen sonst ein
+Unrecht angetan, daß Sie mich auf eine so tückische Art zu behandeln
+wagen?
+
+Ich schließe meinen Brief. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt.
+Jetzt füge ich nur noch einen Satz hinzu: wenn Sie, mein Herr, nicht in
+der kürzesten Frist nach Empfang dieses Briefes mir, erstens,
+ungeschmälert den ganzen Ihnen von mir geliehenen Betrag, in Summa 350
+Rubel, zurückerstatten, und zweitens alle mir Ihrem Versprechen gemäß
+zustehenden Beträge auszahlen, so werde ich Mittel und Wege zu finden
+wissen, Sie dazu zu zwingen, wenn es sein muß, sogar durch öffentliche
+Anklage; denn ausdrücklich nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß mir
+der Schutz der Gesetze zu Gebote steht; und zum Schluß möchte ich Ihnen
+noch mitteilen, daß ich gewisse Papiere und damit Beweise in Händen
+habe, die, sobald sie nicht mehr im Besitz Ihres ergebensten Dieners
+verbleiben, Sie und Ihren Namen in den Augen der ganzen Welt doch recht
+tief in den Schmutz herabziehen könnten.
+
+Gestatten Sie usw.
+
+
+ VII.
+
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+
+ 15. November.
+
+Iwan Petrowitsch!
+
+Nach Empfang Ihres bäuerischen und zugleich mehr als seltsamen
+Sendschreibens, wollte ich dasselbe im ersten Augenblick einfach
+zerreißen und fortwerfen – habe es aber einstweilen doch als Rarität
+aufbewahrt. Im übrigen tun mir unsere Mißverständnisse und
+Unannehmlichkeiten von Herzen leid. Eigentlich war es meine Absicht,
+Ihnen überhaupt nicht zu antworten. Aber die Notwendigkeit zwingt mich
+dazu – eben die Notwendigkeit, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß es mir
+ganz entschieden nichts weniger als angenehm sein würde, Sie jemals
+wieder in meinem Hause zu sehen; das gleiche gilt von meiner Frau: ihre
+Gesundheit ist nicht ganz auf der Höhe und der Geruch von
+Schmierstiefeln ist ihr schädlich. Anbei retourniert sie Ihrer Frau
+Gemahlin mit bestem Dank ein Buch, den „Don Quijote“, der bei uns
+liegengeblieben war. Was aber Ihre Galoschen betrifft, die Sie angeblich
+bei Ihrer letzten Anwesenheit in unserem Hause vergessen haben wollen,
+so muß ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, daß man sie bisher
+nirgends gefunden hat. Inzwischen werden sie noch gesucht. Sollten sie
+jedoch nicht zu finden sein, so werde ich Ihnen neue kaufen.
+
+Im übrigen habe ich die Ehre usw.
+
+
+ VIII.
+
+(Am 16. November erhält Pjotr Iwanowitsch durch die Stadtpost zwei
+Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt dem Kuvert ein zierlich
+zusammengefaltetes blaßrosa Blättchen. Die Handschrift ist die seiner
+Frau. Gerichtet ist es an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 2.
+November. Im Kuvert befindet sich sonst nichts. Pjotr Iwanowitsch
+liest:)
+
+Lieber Eugène! Gestern war es völlig unmöglich. Mein Mann war den ganzen
+Abend zu Haus. Komm aber morgen unbedingt um Punkt elf. Um halb elf
+fährt mein Mann nach Zarskoje und wird erst um ein Uhr zurückkehren. Ich
+habe mich die ganze Nacht geärgert. Danke für die Zusendung der
+Nachrichten. Welch ein Haufen Papier! Hat sie das wirklich alles selbst
+geschrieben? Übrigens, der Stil geht an. Noch einmal: Hab Dank. Ich
+sehe, daß du mich liebst. Sei mir nicht böse wegen gestern und komm
+morgen unbedingt! A.
+
+(Pjotr Iwanowitsch erbricht den zweiten Brief.)
+
+Pjotr Iwanytsch!
+
+Mein Fuß hätte ohnehin niemals mehr Ihre Schwelle überschritten: Sie
+haben ganz überflüssigerweise Ihr Papier verschmiert.
+
+In der nächsten Woche verreise ich nach Ssimbirsk, doch als
+unschätzbarer und bester Freund verbleibt Ihnen: Jewgenij
+Nikolajewitsch. Wünsche angenehmen Zeitvertreib. Wegen der Galoschen
+bitte ich, sich nicht zu beunruhigen.
+
+
+ IX.
+
+(Am 17. November erhält Iwan Petrowitsch durch die Stadtpost gleichfalls
+zwei Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt ihm einen eilig und
+flüchtig beschriebenen Zettel. Die Handschrift ist die seiner Frau.
+Adressiert ist er an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 4. August.
+Außer dem Zettel enthält das Kuvert nichts weiter. Iwan Petrowitsch
+liest:)
+
+Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Jewgenij Nikolajewitsch! Möge Gott Ihnen
+auch dieses Gute vergelten. Werden Sie glücklich, das Los, das mir
+zufällt, ist grausam, grauenhaft! Es war Ihr Wille. Wäre Tantchen nicht
+gewesen, ich hätte mich Ihnen nicht so anvertraut. Lachen Sie nicht über
+mich, und auch nicht über Tantchen. Morgen werden wir getraut. Tantchen
+ist froh, daß sich ein guter Mensch gefunden hat, der mich ohne Mitgift
+nimmt. Heute hab’ ich ihn mir zum erstenmal aufmerksam angesehen. Er
+ist, glaube ich, ein guter Kerl. Man läßt mir keine Zeit. Leben Sie
+wohl, leben Sie wohl ... Mein Liebling Sie!! Denken Sie manchmal auch an
+mich, ich – ich werde Sie nie vergessen. Leben Sie wohl! Ich
+unterschreibe diesen letzten Brief wie meinen ersten ... wissen Sie
+noch?
+
+ Tatjana.
+
+(Im zweiten Brief steht folgendes:)
+
+Iwan Petrowitsch!
+
+Morgen erhalten Sie neue Galoschen. Ich bin nicht gewohnt, fremdes
+Eigentum aus fremden Taschen hervorzuholen, und ebensowenig ist es meine
+Art, allerlei Fetzen auf den Straßen aufzusammeln.
+
+Jewgenij Nikolajewitsch wird in den nächsten Tagen nach Ssimbirsk
+reisen, im Auftrage seines Großvaters, für den er dort einiges erledigen
+soll, und da hat er mich denn gebeten, ihm zu einem Reisegefährten zu
+verhelfen. Wollen Sie nicht?
+
+
+
+
+ Fußnoten
+
+
+[1] Bei Petersburg. E. K. R.
+
+[2] Der Petersburger nimmt seine Hauptmahlzeit um 6 bezw. 7 Uhr
+nachmittags ein. E. K. R.
+
+[3] Stadtteil von Petersburg.
+
+[4] Vorort von Petersburg. E. K. R.
+
+[5] „Verstand schafft Leiden“. E. K. R.
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
+Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
+Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
+nach:
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
+ Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.
+ Siebentes bis zwölftes Tausend
+
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
+Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
+ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
+Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
+nach der Titelseite eingefügt.
+
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
+(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
+Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
+Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
+„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht
+(nicht verwendete Varianten in Klammern):
+
+ Newskij (Newski)
+ Petjä (Petja)
+ Ssergejeff (Sergejeff)
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 246]:
+ ... ihn rückwärts auf Bett und begann ihn, wie man ...
+ ... ihn rückwärts aufs Bett und begann ihn, wie man ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 ***
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+<title>Sämtliche Werke 15: Helle Nächte | Project Gutenberg</title>
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+ <!-- TITLE="Sämtliche Werke 15: Helle Nächte" -->
+ <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" -->
+ <!-- TRANSLATOR="E. K. Rahsin" -->
+ <!-- LANGUAGE="de" -->
+ <!-- PUBLISHER="Piper, München" -->
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+<body>
+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 ***</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="ser">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+</p>
+
+<p class="ed">
+<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski</span><br>
+<span class="line2">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span>
+</p>
+
+<p class="trn">
+Übertragen von E. K. Rahsin
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+
+<p class="division">
+Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band
+</p>
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+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+F. M. Dostojewski
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+<h1 class="title">
+Helle Nächte
+</h1>
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+<p class="subt">
+Vier Novellen
+</p>
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+<div class="centerpic logo">
+<img src="images/logo.jpg" alt=""></div>
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+<p class="pub">
+<span class="line1">R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920</span>
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="impr">
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920<br>
+Siebentes bis zwölftes Tausend
+</p>
+
+<p class="cop">
+Copyright 1920 by R. Piper &amp; Co., G. m. b. H.,<br>
+Verlag in München
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="toc" id="part-1">
+<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a>
+Inhalt
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="table">
+<table class="toc">
+<tbody>
+ <tr>
+ <td class="col1">Einleitung</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-VII">VII</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Vorbemerkung</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-XV">XV</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Helle Nächte</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Das junge Weib</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-99">99</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Ein schwaches Herz</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-243">243</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Ein Roman in neun Briefen</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-317">317</a></td>
+ </tr>
+</tbody>
+</table>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-2">
+<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a>
+Dostojewski, Petersburg und die
+Schönheit der Stadt
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem
+Lichte, in der geisternden Unwirklichkeit des finnischen
+Sumpfes, dort, wo Norden und Osten sich treffen, hat Peter
+seine Stadt gegründet. Und in dem Od dieser Stadt hat
+Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger Menschen,
+die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie
+als Russen wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen
+sind. Es ist nicht das Licht des reinen Nordens, das
+vom Pol kommt und in der Arktis seine harten elektrischen
+Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht
+der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel
+stehen und unter dem von einem großen Magus das Buch
+von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist auch nicht das
+Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den
+bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz
+in ihm in Ehrfurcht bewundern lernte. Es ist vielmehr
+die Macht der finnischen Zauberer, die Kalews Söhne
+durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer
+weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe
+zwischen Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen
+wurde. Es ist das Stadtlicht einer Halbhelle, in
+der die Menschen unsicher gehen, wie Schatten auftauchen,
+wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur einmal
+Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten
+Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen
+alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte.
+</p>
+
+<p>
+Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit
+seiner Menschen. Die finnische Urbevölkerung scheint in
+<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a>
+grauen und unscheinbaren Verkümmerungen fortzuleben.
+Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse mißlang und
+in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein Bastardgeschlecht
+erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben
+in naturlosem Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck
+wird noch gesteigert durch den Gegensatz, daß so
+viel fade und verdächtige Hübschheit sich hineinmischt,
+Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß
+welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren
+verweichlichten Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz
+kleiner spitzer glatter Züge, die doppelt widerlich am
+Manne ist und über die auch der selbstgefällige Bart
+eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag.
+Wohl sieht man auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen
+Entrassung. Im Wagen oder Schlitten fährt eine glücklichere
+Gesellschaft vorüber, die in russischer Ungebundenheit
+gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die Menge
+ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den
+Straßen sieht man allenthalben diese leidenden Menschen
+mit dem Ausdruck von Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen:
+Menschen, denen man alle Laster zutraut, worunter
+Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen
+Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des
+russischen Staates im Volke, noch die gewöhnlichsten
+und von beinahe bürgerlicher Selbstverständlichkeit sind.
+Nirgendwo sonst gibt es diese mageren rachitischen Gestalten,
+diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert
+durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen
+Mienen von Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug
+eines schlechten und doch gleichgültigen Gewissens auf
+einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes und schlechtentlohntes
+<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a>
+Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen
+und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene
+sind da, von denen man nicht weiß, ob es
+Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder Zuchthäusler
+in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein
+Fluch über dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung
+auf unsicherem Grunde zu sein, in Entwurzelung und
+Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums und Verhängnisses,
+daß es in Rußland nie eine petrinische
+Nachfolge in Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer
+wieder warf das Land seine Menschen in diese Stadt,
+Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden, Popensöhne,
+die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten
+zu enden. Man glaubt sie noch herauszukennen, diese
+Generation der zuletzt Angekommenen. Und an einem
+Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen herrlichen
+Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen
+ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der
+Würde von Königen die Gesellschaft über den Newskij
+fahren, erkennt man plötzlich, was Rasse auch hier ist,
+großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich, eigentümlich,
+ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in
+Rußland.
+</p>
+
+<p>
+In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen
+und doch schon frühalten Stadtbevölkerung, die
+Peter aufeinander angewiesen hatte und die seitdem
+von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder
+großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während
+sie selbst vorwiegend durch Betrug mit sich und
+dem Staate auskam – in ihr entdeckte Dostojewski
+den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den
+<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a>
+romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling
+mit skeptischen und ironischen, aber auch mit heroischen
+und enthusiastischen Zügen, der freilich der Gesellschaft,
+nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit Gestalten
+der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft,
+der Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski
+dagegen entdeckte den seelischen Menschen, die Tragödie
+der Unscheinbarkeit, die im Unbemerkten, in einem
+Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte, daß er
+voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten
+war. Er tat es moralisch, mit einer leisen Beinote des
+Sozialen, in seinen Jugendwerken, von den „Armen
+Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und Beleidigten“, und
+schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische Zeit mit
+den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates
+zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung
+von allen russischen und petersburgischen Leiden erlebt
+hatte, in den Heilandgestalten seiner großen Romane.
+Er tat es wohl auch humoristisch, indem er zu der Allmenschlichkeit,
+mit der er diesen Leiden in Güte begegnete,
+die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit
+fügte, die versöhnend in den Menschen selbst lag, oder
+die er hineinlegte. Und er tat es schließlich lyrisch, mit
+einer Behutsamkeit der tiefen Empfindung, aber auch
+der schwebenden Form, indem er die beseligte und beseligende
+Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in
+der Armut seiner Geschicke und in der Häßlichkeit seiner
+Umgebung von innen erleuchtete. Die Menschen selbst
+wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge
+erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit
+zurück. Und ein paar Alte bekamen die
+<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a>
+würdige Schönheit von Philemon und Baucis. Es war
+nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern russische
+und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv
+der Gefühle unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug,
+auf die Farbe des Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit
+der Gestalt. Es war nicht moralische Schönheit
+im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend
+gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol
+des Sittlich-Guten, das man erst mit dem Verstande
+erfassen muß, ehe man es am Menschen entdecken kann.
+Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege,
+ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in
+Worten und Handlungen.
+</p>
+
+<p>
+Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg.
+Puschkin hatte ihr Pathos besungen, die Stadt
+des ehernen Reiters, die Nadel der Admiralität, den
+Granit der Newakais, die schreckende Nähe der Peterpaulsfeste,
+in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der
+kriegerischen Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in
+der Dynastie und die Taten des Heeres donnernd über
+den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön,
+solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und
+Dostojewski lag die Entwicklung von der Residenz, die
+auch in ihren Furchtbarkeiten und Geheimnissen noch
+vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt,
+in der die Menge die weiten Straßenzüge und
+hohen Mietshäuser zu füllen begann. Nun mußte die
+weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und vibrierende
+Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen,
+die Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker
+empfand. Er hat Petersburg wohl auch mit harten,
+<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a>
+mit verfluchenden Worten bedacht. Aber er hat die Stadt
+doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die Tatsache,
+daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit,
+wurde durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr
+Stil, den er an ihr so liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt,
+gar nicht bemerkt zu haben. Dostojewskis Liebe
+zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel. Die
+majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der
+Zaren in dieser Stadt bleiben, werden niemals erwähnt,
+und nichts deutet darauf hin, daß er überhaupt wußte,
+daß Petersburg die Stadt eines großartigen Klassizismus
+und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin
+ist. Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus
+geliebt und geliebkost. Er scheint mit allen vertraut und
+befreundet gewesen zu sein, und mit den unscheinbarsten
+am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der
+„Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen
+Weise bunter russischer Märchen, wie in einer
+Straße, durch die ihn sein Weg des öfteren führt, jedes
+einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes Schicksal
+erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie
+mit den Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser
+menschlich, gab ihnen eine seelische Schönheit, wie es
+seelische Leidenschaften waren, in denen er seine Menschen
+leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit doppelt,
+wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen
+Weibe“ geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche
+und sinnliche Leidenschaft, wenn Menschen von
+Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen Meere sich
+in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren.
+Dann verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der
+<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a>
+Dithyrambos einer dunkleren Romantik klingt in die
+helle Lyrik dieser nordisch-phantastischen Überwirklichkeit.
+Dann wird Petersburg zu Rußland, und auf den Straßen,
+die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen seine Völker heran,
+um sich in dieser einsamen grausamen frierenden Schönheit
+von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem
+kalten Lichte aufnimmt und die doch eine so innige
+Schönheit ist, daß ihr Dichter die Häuser und die Herzen
+mit der gleichen Liebe umfangen kann.
+</p>
+
+<p class="sign">
+M. v. d. B.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-3">
+<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a>
+Vorbemerkung
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen,
+die Dostojewski nach dem großen Erfolge der
+„Armen Leute“ zu Ende der vierziger Jahre geschrieben
+hat und die in der literarischen Zeitschrift „Vaterländische
+Annalen“ erschienen.
+</p>
+
+<p>
+Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman
+in neun Briefen“ hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen
+Nächte“ mit entstand: als das erste Stück Prosa mit komischem
+Unterton, in dem sich Dostojewski versuchte, und
+das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren
+Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“,
+den der folgende Band der Ausgabe bringt.
+</p>
+
+<p class="sign">
+E. K. R.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-4">
+<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
+Helle Nächte
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="subt">
+Ein empfindsamer Roman
+aus den Erinnerungen eines Träumers
+</p>
+
+<div class="epi">
+<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a>
+<p class="noindent">
+„... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine Weile lang Deinem
+Herzen nah zu sein? ...“
+</p>
+
+<p class="attr">
+Iwan Turgenjeff.
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-1">
+<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
+Die erste Nacht.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">s</span> war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie
+wir sie vielleicht nur sehen, wenn wir jung sind, mein
+lieber Leser. Der Himmel war so tief und nachthell,
+daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen
+mußte, ob denn wirklich unter einem solchen Himmel
+böse und launische Menschen leben können? Das ist
+nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen
+Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein
+lieber Leser! Doch möge der Herr sie öfter in Ihrer
+Seele erwecken! ... Während ich noch in dieser Weise
+an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich
+unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung
+an diesem Tage erinnern. Schon vom Morgen an
+hatte mich eine wunderliche Stimmung bedrückt. Ich
+hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame,
+von allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen.
+Natürlich hat jetzt ein jeder das Recht, mich zu
+fragen: ja, wer sind denn diese „alle“? Lebe ich doch
+bereits das achte Jahr in Petersburg und habe trotzdem
+noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen
+verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte?
+Ich bin sowieso schon mit ganz Petersburg bekannt.
+Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle mich verließen,
+<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
+als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um
+in die Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich,
+allein zu bleiben, und drei Tage lang strich
+ich tief bekümmert in der Stadt umher, entschieden unfähig
+zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem
+Newskij, im Sommergarten, an den Kais war kein
+einziges von den Gesichtern zu sehen, denen ich tagtäglich
+zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu begegnen
+pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich
+nicht, aber ich – ich kenne sie. Ich kenne sie sogar
+ganz genau: ich habe ihre Physiognomien studiert
+und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle mich verstimmt,
+wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen,
+daß ich einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte:
+das war mit einem alten kleinen Herrn, dem ich jeden
+Tag, den Gott werden ließ, zur selben Stunde an der
+Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige, nachdenkliche
+Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer,
+ganz so als kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte
+ein wenig und in der rechten Hand hatte er einen
+langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch
+er hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil
+an mir. So bin ich überzeugt, daß er, wenn er mich
+einmal nicht zur gewohnten Stunde an der gewohnten
+Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls entschieden
+verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn
+auch nicht viel, daß wir uns grüßten, namentlich wenn
+wir beide bei guter Laune waren. Vor kurzem noch, als
+wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und dann
+einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon
+beinahe an die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+Glück noch rechtzeitig, ließen die Hände sinken und gingen
+mit sichtlich anteilnehmender Zuvorkommenheit aneinander
+vorüber.
+</p>
+
+<p>
+Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich
+so gehe, dann ist es, als laufe jedes, sobald es mich erblickt,
+ein paar Schritte aus der Front und sehe mich
+aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten
+Tag, hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich
+bin, Gott sei Dank, ganz frisch und munter, aber im
+Mai wird man mir noch ein Stockwerk aufsetzen.“
+Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich
+werde morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir
+gab’s Feuer und ich wäre um ein Haar niedergebrannt
+– ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so
+weiter: in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich
+meine Lieblinge, sogar gute Freunde. Eines von ihnen
+will sich in diesem Sommer von einem Architekten operieren
+lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da
+unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund
+nicht etwa vollkommen umbringt! Gott behüte ihn
+davor! ... Doch niemals werde ich die Geschichte
+mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen
+vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen,
+so freundlich sah es mich immer an und so stolz war
+es auf seine Reize unter den plumpen Nachbarn, daß
+mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging.
+Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die
+Straße einbiege und nach meinem kleinen Liebling hinsehe
+– höre ich ein jammervolles Wehklagen: „Man
+tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter!
+Nichts hatten sie verschont. Weder die Pfeiler
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+noch die Karniese! Mein kleiner Freund war in der
+Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran,
+vor Ärger selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig
+machte mich der Fall, und bis jetzt bin ich noch
+nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen entstellten
+armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in
+der Farbe des Reichs der Mitte angestrichen haben.
+</p>
+
+<p>
+Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein
+verehrter Leser, auf welche Weise ich mit ganz Petersburg
+bekannt bin.
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine
+seltsame Unruhe quälte, bis ich endlich ihre Ursache
+erriet. Auf der Straße fühlte ich mich nicht wohl (der
+eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte
+und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben
+sein?“) – und auch zu Hause fühlte ich mich so anders,
+daß ich mich selbst kaum wiedererkannte. Zwei
+Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was mir
+nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte.
+Warum fühlte ich mich mit einem Male so unbehaglich
+im Zimmer? Prüfend schaute ich mir meine grünen,
+verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der
+Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete,
+besah mir meine Einrichtung, insbesondere jeden
+Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob nicht
+hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur
+ein Stuhl nicht so steht, wie er gestern stand, dann bin
+ich nicht mehr ich selbst). Ich blickte nach dem Fenster
+– doch alles war umsonst ... mir ward deshalb
+nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken,
+Matrjona zu rufen und ihr in väterlichem
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Tone einen gelinden Vorwurf wegen des Spinngewebes
+und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen;
+aber sie sah mich nur verwundert an und ging fort,
+ohne ein Wort zu erwidern, so daß das Spinngewebe
+auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt. Erst
+heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte.
+Also: sie zogen ja alle in die Sommerfrische
+und ließen mich im Stich! – das war’s: sie kniffen
+aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war
+mir in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck
+zu tun ... Es hatte doch wirklich alles, was in
+Petersburg lebte, die Stadt bereits verlassen, oder verließ
+sie noch täglich und stündlich. Wenigstens verwandelte
+sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem
+Äußeren, der sich in eine Droschke setzte, in einen
+ehrwürdigen Familienvater, der nach den alltäglichen
+Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den Rest des
+Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder
+Mensch auf der Straße hatte jetzt ein völlig anderes
+Aussehen, eines, das jedem etwa sagen zu wollen
+schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze Zeit hier,
+in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“
+Oder öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben
+zuerst schlanke, weiße Fingerchen getrommelt, und
+beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen Mädchens
+hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen,
+– da stellte ich mir vor, daß diese Blumen auch „nur
+so“ von ihr gekauft wurden und durchaus nicht deshalb,
+um sich an diesem Blumentopf mit den paar
+Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling
+in der dumpfen Stube zu erfreuen, und daß sehr bald
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+alle die Stadt verlassen und auch die Blumen mitnehmen
+würden. Doch damit noch nicht genug, ich
+machte vielmehr in meinem neuen Entdeckerberuf solche
+Fortschritte, daß ich bald schon allein nach dem
+Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen
+Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der
+fashionablen Inseln<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> oder der Villen an der Peterhofstraße
+zeichneten sich durch auserlesene Eleganz sowohl
+im Gang und in jeder Geste, wie in den Sommerkostümen
+und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen,
+in denen sie zur Stadt gefahren kamen. Die
+Einwohner von Pargolowo und dort weiter hinaus
+„imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre
+vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel
+durch ihre unverwüstlich heitere Gemütsverfassung.
+Traf es sich, daß ich einer langen Prozession
+von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der
+Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen
+Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen,
+Betten, Stühlen, türkischen und nichttürkischen
+Diwans schaukelten und auf deren Gipfel oft noch
+eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte,
+oder auch, wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche
+Gut mit Argusaugen bewachte, damit nur ja
+nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich auf
+der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät
+beladene Boote nach den Inseln oder stromaufwärts
+nach der Tschornaja-rjetschka ziehen, – die
+Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich
+in meinen Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+sich auf und ziehe in Karawanen hinaus, und als verwandle
+Petersburg sich in eine Wüste, so daß ich mich
+zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte,
+und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte
+keine Möglichkeit und wohl auch keinen Grund, in
+die Sommerfrische hinauszuziehen. Und doch war ich
+bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem
+Herrn, der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren;
+aber nicht einer von ihnen, kein einziger forderte mich
+dazu auf. Es war, als hätten sie mich plötzlich alle vergessen,
+als wäre ich ihnen allen im Grunde doch vollkommen
+fremd.
+</p>
+
+<p>
+Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner
+Gewohnheit gemäß wieder einmal vergessen hatte,
+wo ich eigentlich ging, bis ich mich schließlich an der
+Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich
+zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging
+weiter zwischen den besäten Feldern und Wiesen, ohne
+Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber, daß mir eine Last
+von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir vorüberfuhren,
+sahen mich so freundlich an, daß es fast
+wie ein Gruß war; alle schienen sie über irgend etwas
+froh zu sein. Und auch ich wurde so froh, wie ich noch
+nie in meinem Leben gewesen ...
+</p>
+
+<p>
+Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien –
+so mächtig wirkte die Natur auf mich, den halbkranken
+Städter, der zwischen den Häusermauern fast schon
+erstickt war.
+</p>
+
+<p>
+Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer
+Petersburger Natur, wenn sie im Frühling erwacht
+und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle ihre
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie
+sich mit jungem weichem Laub umhüllt und mit bunten
+Blumen und zarten Blüten schmückt ... Dann erinnert
+sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf
+das man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer
+seltsam mitleidigen Liebe blickt oder das man zuweilen
+auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber
+plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft,
+nahezu märchenhaft schön wird, so schön, daß man bestürzt
+und berauscht vor ihr steht und sich verwundert
+fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten
+Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut
+in ihre bleichen abgezehrten Wangen getrieben und
+läßt nun diese zarten Züge tiefe Leidenschaft widerspiegeln?
+Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so
+plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des
+armen Mädchens gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt
+und zu sprühendem Lachen fähig wird? Und
+man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man
+beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick
+ist vergänglich und vielleicht morgen schon werden
+wir wieder dem zerstreuten, verträumten Blick
+begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse
+Gesicht wahrnehmen und dieselbe Ergebung und
+Schüchternheit in den Bewegungen und sogar so etwas
+wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers
+und Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es
+tut einem leid, daß die Schönheit so schnell und unwiderruflich
+verwelkt ist, daß sie so trügerisch und vergeblich
+vor einem geleuchtet hat – leid, weil man
+nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ...
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Und doch war meine Nacht noch schöner als der
+Tag.
+</p>
+
+<p>
+Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es
+schlug bereits zehn, als ich mich meiner Wohnung
+näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu
+dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen
+ist. Freilich lebe ich auch in einem sehr stillen entlegenen
+Stadtteil. Ich ging und sang, denn wenn ich
+glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich
+hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder
+Freunde noch gute Bekannte hat, noch einen Menschen,
+mit dem er seine frohen Augenblicke teilen kann.
+Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein überraschendes
+Abenteuer.
+</p>
+
+<p>
+Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in
+Frauenkleidern: sie stand und stützte die Ellbogen auf
+das Geländer des Kais und sah, wie es schien, aufmerksam
+in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug
+ein entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine
+schwarze Mantille. „Das ist ein junges Mädchen und
+sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich. Sie schien meine
+Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht, als
+ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem
+Herzen an ihr vorüberging. „Sonderbar!“ dachte
+ich, „jedenfalls muß sie ganz in Gedanken versunken
+sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb
+wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ...
+Ja! ich täuschte mich nicht: das junge Mädchen weinte
+– nach einer Weile klang es wieder wie ein Aufschluchzen,
+und dann wieder. Mein Gott! Das Herz
+krampfte sich mir zusammen. Wie befangen ich auch
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+sonst Frauen gegenüber bin, diesmal – es waren aber
+auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich entschloß
+mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt
+„Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich
+nicht gewußt hätte, daß diese Anrede in allen russischen
+Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise
+schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein
+hielt mich davon ab. Doch während ich noch nach einer
+passenden Anrede suchte, kam das junge Mädchen wieder
+zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die Augen
+nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr
+sogleich, was sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ
+den Kai, überschritt die Straße und ging auf dem
+anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr dorthin
+zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen
+Vogel. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe.
+</p>
+
+<p>
+Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe
+meiner Unbekannten ein Herr auf – ein Herr in
+zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer Gangart,
+die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging
+wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das
+junge Mädchen schritt indes gesenkten Blicks weiter,
+ohne sich umzusehen, und so schnell, wie es alle jungen
+Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand
+sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach
+Hause zu begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch
+niemals eingeholt, wenn er nicht mit einer gewissen
+Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes verfallen
+wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er
+sich nämlich plötzlich auf und lief ihr möglichst leise
+nach. Sie ging wie der Wind, doch der Herr kam ihr
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+schnell näher und holte sie ein – das Mädchen schrie
+auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock,
+den ich in meiner Rechten hielt! Im Augenblick
+war ich auf der anderen Seite, im Augenblick begriff
+auch der Herr, um was es sich handelte, und die Vernunft
+siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als
+wir fast schon außer Hörweite waren, protestierte er
+in ziemlich energischen Ausdrücken gegen meine Handlungsweise.
+Doch wir hörten ihn kaum.
+</p>
+
+<p>
+„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten,
+„dann wird er es nicht mehr wagen, Sie
+zu belästigen.“
+</p>
+
+<p>
+Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der
+Aufregung und dem Schreck noch zitterte, auf meinen
+Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich dich
+in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick
+auf meine Begleiterin: sie sah reizend aus und war
+brünett, wie ich es mir gleich gedacht hatte. An ihren
+dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom
+Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai
+geweint, das lasse ich dahingestellt. Aber ihre Lippen
+versuchten schon, zu lächeln. Auch sie sah mich heimlich
+an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den Blick.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von
+mir fort? Wäre ich bei Ihnen gewesen, so wäre nichts
+geschehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß
+Sie ebenso ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+ich entzückt, denn ich glaubte aus ihrer Bemerkung
+entnehmen zu dürfen, daß sie, die so schön war, auch
+klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen,
+mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr,
+ich bin Frauen gegenüber befangen, und ich leugne auch
+nicht, daß ich mich im Augenblick erregt fühle, ebenso
+wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie erschreckte
+... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen
+Schreck: die ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum,
+mir, der ich es mir niemals habe träumen lassen, daß
+ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem jungen
+Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Wirklich?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt
+bebt, so kommt das nur daher, daß er noch nie von
+einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige, berührt
+worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen
+vollständig ungewohnt; das heißt, ich will damit
+nicht etwa sagen, daß ich früher einmal einen solchen
+Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von jeher
+allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie
+man mit ihnen spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß
+ich nicht, ob ich Ihnen nicht irgendeine Dummheit
+gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir,
+bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn
+Sie schon einmal verlangen, daß ich aufrichtig sein
+soll, dann will ich Ihnen sagen, daß solche Befangenheit
+den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch
+mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+sie auch mir gefällt, und ich werde Sie nicht früher
+fortschicken, als bis ich bei unserem Hause angelangt
+bin.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze
+Befangenheit verliere,“ rief ich entzückt, „und dann
+– lebt wohl alle meine Chancen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein,
+das gefällt mir nun wieder gar nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft,
+ganz gegen meinen Willen! Aber wie können
+Sie auch verlangen, daß in einem solchen Augenblick
+nicht der Wunsch erwachen soll ...?“
+</p>
+
+<p>
+„Zu gefallen etwa?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um
+Gottes willen, seien Sie großmütig! Bedenken Sie,
+wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig Jahre
+alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr
+gehabt. Wie sollte ich da plötzlich nach allen Regeln
+der Kunst eine Unterhaltung anzuknüpfen verstehen?
+Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn
+alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu
+schweigen, wenn das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel
+... Glauben Sie mir, ich kenne keine einzige
+Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine Bekanntschaft.
+Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich
+irgend einmal irgendwo doch irgend jemand treffen
+und kennen lernen werde. Ach, wenn Sie wüßten,
+wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen
+bin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie denn das, in wen denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+Traum vor mir sehe. Ich ersinne in meinen Träumen
+gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen mich noch
+nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit
+zwei oder drei Frauen gesprochen, aber was waren
+denn das für Frauen? Das waren ja nur solche Wirtinnen,
+daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen
+und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals
+die Absicht gehabt, so ganz ohne weiteres irgendeine
+Aristokratin auf der Straße anzureden. Selbstverständlich,
+wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich
+mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und
+um ihr dann voll Leidenschaft zu sagen, daß ich so
+allein umkomme, und um sie zu bitten, daß sie mich
+nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe,
+auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde
+ihr sagen, daß es sogar die Pflicht jeder Frau sei,
+die bescheidene Bitte eines so unglücklichen Menschen,
+wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß schließlich
+alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß
+sie mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu
+dürfen, daß sie mir nur etwas Teilnahme zeigen und
+mich nicht gleich im ersten Augenblick davonjagen solle,
+daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß
+sie anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und
+sollte sie mich auch auslachen, gleichviel! – aber daß
+sie mir wenigstens etwas Hoffnung geben und mir
+zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde
+ich mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie
+wiedersehen! ... Aber Sie lachen ... Übrigens rede
+ich ja auch nur deshalb ...“
+</p>
+
+<p>
+„Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+Ihr eigener Feind sind ... wenn Sie es versuchten,
+so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre
+es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein
+einziges Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder
+dumm ist oder in dem Augenblick gerade sehr geärgert
+über irgend etwas, würde es übers Herz bringen, Sie
+fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören –
+wenn Sie so bescheiden darum bitten ... Doch nein,
+was sage ich! Natürlich würde sie Sie für einen Verrückten
+halten! Im übrigen habe ich da nach meinem
+Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig,
+wie die Menschen sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht,
+was Sie mir mit Ihrer Antwort gegeben haben!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie
+es erkannt, daß ich ein Mädchen bin, mit dem man ...
+nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer Aufmerksamkeit
+und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine
+Hauswirtin, wie Sie sagten ... Warum entschlossen
+Sie sich, sich gerade mir zu nähern?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr
+benahm sich so dreist und jetzt ist es Nacht: da werden
+Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite,
+am Kai. Da wollten Sie sich mir doch schon nähern?“
+</p>
+
+<p>
+„Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich
+Ihnen darauf antworten soll ... Ich fürchte ... Ja
+sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich ging und
+sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich
+noch nie so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber
+vielleicht schien es mir nur so ... verzeihen Sie, daß
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß Sie weinten,
+und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören
+... es preßte mir das Herz zusammen ... Mein
+Gott, konnte ich Ihnen denn nicht helfen? Durfte ich
+nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde,
+daß ich brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ...
+Verzeihen Sie, ich sagte Mitleid ... Nun gleichviel,
+mit einem Wort – konnte es Sie denn beleidigen,
+wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand,
+mich Ihnen zu nähern? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht
+weiter ...“ unterbrach mich das Mädchen. Sie sah
+verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre Hand
+zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon
+anfing. Aber es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht
+getäuscht habe ... So, jetzt bin ich gleich zu Hause,
+ich muß hierher in die Querstraße, nur noch zwei
+Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen?
+... Soll das denn schon das Ende sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs
+wollten Sie nur zwei Worte reden, und jetzt!
+... Übrigens will ich nichts verschwören ... Vielleicht
+werden wir einander noch begegnen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich
+schnell. „Verzeihen Sie, ich fordere bereits ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern
+Sie bereits ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen
+Sie, wenn ich Ihnen wieder irgend so etwas
+sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht anders, ich
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer,
+ich kenne so wenig wirkliches Leben, und einen solchen
+Augenblick, wie diesen, erlebe ich so selten, daß es mir
+ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen nicht
+immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde
+ich jetzt die ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das
+ganze Jahr! Ich werde unbedingt morgen hierherkommen,
+gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und um dieselbe
+Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung
+an die heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir
+diese Stelle hier lieb. So habe ich noch zwei oder drei
+andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind. Ich
+habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als
+plötzlich eine Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht
+haben Sie heute dort am Kai gleichfalls nur deshalb
+geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ... Verzeihen
+Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie
+waren dort vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören
+Sie: ich werde morgen auch hierherkommen, um
+zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch nicht verwehren
+kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was
+es sich handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt
+hierherkommen. Denken Sie deshalb nicht, daß ich Ihnen
+ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus einem
+ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse
+hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ...
+nun gut, ich will ganz aufrichtig sein: es tut nichts,
+wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es wieder
+eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin,
+wie heute, aber das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz,
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+ich würde Sie gern wiedersehen, um ... um ein paar
+Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie
+werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie
+deshalb nicht, daß ich so leicht ein Stelldichein gebe ...
+Ich würde es auch nicht tun, wenn nicht ... Nein, das
+mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor eine
+Bedingung ...“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es
+aus – ich bin mit allem einverstanden, bin zu allem
+bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich stehe für mich
+ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ...
+Sie kennen mich –“
+</p>
+
+<p>
+„Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich
+Sie auch für morgen auf,“ sagte das Mädchen lachend.
+„Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber wie gesagt,
+kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so
+gut und erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede
+ganz offen: Also: daß Sie sich nicht in mich verlieben ...
+Das darf nicht geschehen, auf keinen Fall. Zur Freundschaft
+bin ich herzlich gern bereit, hier, meine Hand
+darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich
+bitte Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre
+Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch,
+daß Sie fähig sind, sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln
+Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen so etwas sage.
+Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen,
+mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um
+Rat fragen könnte. Natürlich sucht man im allgemeinen
+seine Ratgeber nicht auf der Straße, aber Sie sind
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären
+wir zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch
+kein Ungetreuer, Sie werden Ihr Versprechen doch
+halten? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich,
+wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben
+soll, das weiß ich nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute
+Nacht – und vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon
+mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es war so hübsch,
+was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann
+einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft
+geben, und wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl
+ist! Wissen Sie, das sagten Sie so lieb, daß
+mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber worin denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch
+mein Geheimnis bleiben. Um so besser für Sie: das
+Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein Roman
+aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen
+sagen, vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich
+werde mit Ihnen vorher noch von anderem sprechen:
+wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen
+meinetwegen alles von mir! Aber was ist das nur?
+Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder mit mir ...
+Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie
+nun wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich
+nicht gleich zu Anfang fortgeschickt haben? Es waren
+nur zwei Minuten: und Sie haben mich für immer
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht
+haben Sie mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle
+meine Zweifel aufgehoben ... Vielleicht habe ich Augenblicke
+... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen alles, dann
+werden Sie alles erfahren, alles ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“
+</p>
+
+<p>
+„Einverstanden.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann also auf Wiedersehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Auf Wiedersehen!“
+</p>
+
+<p>
+Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht
+umher: ich konnte mich nicht entschließen, nach Haus
+zurückzukehren. Ich war so glücklich ... ich dachte nur
+an dieses Wiedersehen!
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-2">
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+Die zweite Nacht.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte
+sie zum Gruß und drückte mir lachend beide Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen
+nicht, wie ich den Tag verbracht habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen
+Sie wohl, weshalb ich hergekommen bin? Doch
+nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern! Nein,
+hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich
+habe mir das reiflich überlegt.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits
+bin ja gern dazu bereit: nur ist mir sowieso schon
+in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als gestern
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich
+Sie, meine Hände nicht so zu drücken; und zweitens
+teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über Sie nachgedacht
+habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, und? Was war das Ergebnis?“
+</p>
+
+<p>
+„Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir
+von neuem anfangen müssen, denn zum Schluß sagte
+ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar nicht kenne und
+daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz
+kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+aber heraus, daß an allem natürlich nur mein gutes
+Herz schuld war, das heißt, ich habe zum Schluß vor
+mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt
+immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft
+geben. Und deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen,
+habe ich mir vorgenommen, zunächst alles über
+Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun
+aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen
+könnte, so müssen Sie selbst mir alles erzählen,
+aber auch alles und ganz ausführlich. Nun also:
+was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen
+Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“
+</p>
+
+<p>
+„Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte?
+Aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich eine
+Geschichte habe? Ich habe keine Geschichte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt,
+wenn Sie keine Geschichte haben?“ fragte sie lachend.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben
+gelebt, für mich allein, wie man bei uns zu sagen
+pflegt, eben ganz allein, immer allein, vollkommen allein
+– wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand
+gesehen haben?“
+</p>
+
+<p>
+„O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war
+ich immer allein.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn
+mit keinem Menschen?“
+</p>
+
+<p>
+„Strenggenommen – mit keinem einzigen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären
+Sie mir das doch. Nein! Warten Sie, ich errate es
+schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch eine Großmutter,
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen
+Sie, und nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich
+fort, so daß ich fast schon zu sprechen verlernt habe. Als
+ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen kleinen Streich
+spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel
+hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich
+zu sich und steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an
+das ihrige – und so sitzen wir denn seitdem tagaus
+tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf, obschon
+sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder
+ihr aus einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es
+mir selbst ganz sonderbar vor, daß ich nun schon zwei
+Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein!
+Aber ich, ich habe keine solche Großmutter.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause
+sitzen können?“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“
+</p>
+
+<p>
+„Allerdings!“
+</p>
+
+<p>
+„Im Ernst?“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut. Ich bin also: ein – Typ.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das
+Mädchen verwundert und lachte dann so herzlich, als
+habe sie ein ganzes Jahr lang nicht gelacht. „Aber ich
+sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu unterhalten!
+Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir
+uns! Hier geht kein Mensch vorüber, niemand kann
+uns hören. So, nun fangen Sie an mit Ihrer Geschichte!
+Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+nicht. Sie haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen.
+Aber zuerst sagen Sie mir, was ist ein Typ?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist
+so ein komischer Kauz,“ erklärte ich, und mußte gleichfalls
+lachen. „Es gibt nun einmal solche – wie soll
+ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein
+Träumer ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine
+Träumerin! Manchmal, wenn man so neben Großmutter
+sitzt – was kommt einem da nicht alles in den Sinn!
+Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich
+die Träume bald von selbst weiter und da kommt es
+denn vor, daß ich in der Phantasie einfach einen chinesischen
+Prinzen heirate ... Mitunter ist es auch ganz
+gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich
+wenn man auch noch sein anderes hat, woran
+man denken kann ...“ schloß das Mädchen unvermittelt
+und diesmal ziemlich ernst.
+</p>
+
+<p>
+„Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen
+Prinzen geheiratet haben, dann werden Sie mich vollkommen
+verstehen! Also hören Sie ... Doch erlauben
+Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“
+</p>
+
+<p>
+„Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach
+zu fragen!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich
+war auch so schon glücklich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich heiße – Nasstenka.“
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka! Nur Nasstenka?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie
+Unersättlicher?“
+</p>
+
+<p>
+„Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+viel, Nasstenka, Sie gutes kleines Mädchen, Sie, die
+für mich gleich am ersten Abend zur Nasstenka geworden
+sind!“
+</p>
+
+<p>
+„Das meine ich auch. Nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu,
+was für eine komische Geschichte das ist.“
+</p>
+
+<p>
+Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch
+ernste Miene und begann, als wäre es eine Vorlesung:
+</p>
+
+<p>
+„Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht
+wissen, es gibt hier in Petersburg recht merkwürdige
+Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals <em>die</em> Sonne,
+die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere,
+neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen
+ist, und es ist auch ganz so, als schiene sie auf alles andere
+in der Welt mit einem ganz anderen, einem besonderen
+Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist
+es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines,
+das gar nicht dem gleicht, das uns sonst umgibt,
+sondern eines, das es nur, wie man meinen
+sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben
+könnte, nicht aber hier bei uns in unserer ernsten, überernsten
+Zeit. Doch gerade dieses Leben ist nur eine Mischung
+von etwas rein Phantastischem, glühend Idealem,
+und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe
+Alltäglichem und glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen:
+bis zur Verzweiflung Gemeinem.“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung!
+Was werde ich da wohl noch zu hören bekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir
+scheint, ich werde niemals müde werden, Sie Nasstenka
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+zu nennen – Sie werden hören, daß in diesen Winkeln
+seltsame Menschen leben – Wesen, die man
+Träumer nennt. Ein Träumer ist – wenn man es genauer
+erklären soll – kein Mensch, sondern, wissen
+Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen Geschlechts.
+Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in
+einem von aller Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle
+er sich sogar vor dem Tageslicht verbergen, und wenn
+er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat,
+dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine
+Schnecke mit ihrem Haus, oder er gleicht wenigstens
+in der Beziehung jenem merkwürdigen Tiere, das beides
+zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus
+des Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen.
+Was meinen Sie aber, weshalb liebt er so seine
+vier Wände, die unfehlbar hellgrün angestrichen, öde,
+trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße verräuchert
+sind? Weshalb ist dieser komische Mensch,
+wenn ihn jemand von seinen wenigen Bekannten besucht
+– übrigens endet es immer damit, daß auch diese
+wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann
+immer so betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein
+Gesicht, als habe er in seinem einsamen Winkel geradezu
+ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere gefälscht
+oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift
+zu senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in
+dem er mitteilt, daß der Verfasser gestorben sei und
+daß er es als Freund für seine heilige Pflicht halte,
+des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb,
+sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch
+zwischen den beiden nie so recht vorwärts kommen
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+und weshalb fällt von den Lippen des plötzlich
+hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu
+Scherz und Lachen und Gesprächen über das schöne
+Geschlecht oder über andere angenehme Themata aufgelegt
+ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt
+sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch –
+denn ein zweiter pflegt in diesem Fall nicht zu folgen
+– weshalb fühlt auch er sich befangen und weshalb
+wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein – das
+heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer
+einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene
+des andern, der sich übermenschlich, doch leider vergeblich
+anstrengt, das Gespräch zu beleben und zu zeigen,
+daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande
+sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so
+wenigstens durch seine Bereitwilligkeit zu allem und
+jedem die Enttäuschung des Gastes zu mildern, der
+nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin
+er nicht gehört! Weshalb greift schließlich der
+Gast nach seinem Hut und empfiehlt sich schnell mit der
+Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas überaus Wichtiges
+eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub
+dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell
+aus der heißen des anderen, der mit tiefster Reue im
+Herzen noch gutzumachen sucht, was sich nicht mehr
+gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende
+Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat,
+und weshalb schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling
+aufzusuchen, obschon der im Grunde gar kein so
+übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner Phantasie
+nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+des Sonderlings während der Zeit seines Besuches
+wenigstens entfernt mit demjenigen eines Kätzchens
+zu vergleichen, das, von unartigen Kindern unter
+heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt
+worden und das endlich unter den Stuhl in einen
+dunkeln Winkel geflüchtet ist, um sich dort erst einmal
+das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes Schwänzchen
+mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und
+dann noch lange feindselig auf die Natur der Dinge
+und das Leben überhaupt und ebenso auch auf den
+Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige Küchenseele
+von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die
+ganze Zeit verwundert mit großen Augen und halboffenem
+Mündchen zugehört hatte, „hören Sie: ich begreife
+ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb
+Sie gerade mich so sonderbare Dinge fragen?
+Alles, was ich verstehe, ist nur, daß Sie diese Geschichte
+zweifellos selbst erlebt haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“
+sagte Nasstenka, „denn jetzt möchte ich sehr gern wissen,
+wie das endet.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem
+Winkel denn eigentlich tat, unser Held, oder richtiger,
+ich, denn der Held des Ganzen bin doch ich, ich selbst
+mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen
+wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch
+des Bekannten so aus dem Gleichgewicht gebracht
+fühlte und wie ein ertappter Sünder errötete, als die
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu
+empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als
+Hausherr spielte?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören
+Sie: Sie erzählen ja sehr schön, doch ließe sich das alles
+nicht irgendwie weniger „schön“ erzählen? Denn sonst
+reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus
+dem Sie ablesen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger
+Stimme, während ich mir nur mit Mühe das Lachen
+verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß ich schön
+erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun
+einmal nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt
+gleiche ich dem Geiste des Königs Salomo, der tausend
+Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln gefangen
+war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden
+ist. Jetzt, liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer
+Trennung wiedergefunden haben – denn ich kenne
+Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich
+schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis
+dafür liegt, daß ich gerade Sie gesucht habe und daß
+es uns vom Schicksal vorbestimmt gewesen ist, gerade
+hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend
+Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein
+Herz in einen Strom von Worten ausgießen – oder
+ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie, mich nicht
+zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben
+zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen
+Sie! Ich werde kein Wort mehr sagen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka,
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+es gibt für mich an jedem Tage eine Stunde,
+die ich ungemein liebe. Das ist die Stunde, in der die
+Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die
+Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu
+speisen,<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> sich hinzulegen und etwas auszuruhen, und
+in der die Menschen unterwegs Pläne schmieden für
+den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit,
+die ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt
+auch unser Held – Sie müssen mir schon erlauben,
+Nasstenka, von mir in der dritten Person zu erzählen,
+denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden
+klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held,
+der gleichfalls seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit
+den anderen Menschen eines Weges zu gehen. Ein seltsames
+Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem blassen,
+ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos
+sieht er auf die Abendröte, die am kalten Petersburger
+Himmel langsam erlischt. Nein, ich lüge, wenn ich
+sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht, sondern
+er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre
+er müde oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit
+irgendeinem fernen, anderen, eigenartigen Gegenstande
+beschäftigt, so daß er schon sehr bald für seine Umgebung
+kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch
+diesen nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er
+ist beinahe zufrieden, denn er hat bis morgen die lästige
+Arbeit getan, er ist froh wie ein Schüler, der von der
+Schulbank kommt und sich nun wieder seinen Lieblingsspielen
+und Streichen widmen kann. Wenn Sie
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+ihn von der Seite beobachten, Nasstenka, werden Sie
+sogleich bemerken, daß das frohe Gefühl auf seine angegriffenen
+Nerven und auf seine krankhaft überreizte
+Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken
+hüllen ihn gleichsam ein. Sie glauben, er denke
+an sein Mittagessen? An den Abend, der ihm bevorsteht?
+Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge
+faßt? Ist es etwa jener Herr, der so höflich und doch
+so pittoresk die Dame grüßt, die in prächtiger Kalesche
+an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was gehen
+ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist
+jetzt reich in seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen
+Leben: ganz plötzlich ist er reich geworden und
+der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht vergeblich
+so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem
+erwärmten Herzen eine Fülle von Eindrücken wachgerufen.
+Jetzt bemerkt er kaum mehr den Weg, auf dem
+ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen
+konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes
+Netz um ihn gewebt und füllt es nun aus mit
+den bunten Mustern eines unwillkürlichen und wunderlichen
+Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen?
+– vielleicht hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir,
+auf dem er nach Hause geht, mit launischer
+Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel
+entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn
+plötzlich anzureden und ihn zu fragen, wo er sich im
+Augenblick befinde, durch welche Straßen er gegangen
+– dann würde er ganz entschieden weder das eine
+noch das andere anzugeben vermögen und wahrscheinlich
+vor Ärger errötend irgend etwas, das ihm gerade
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er
+auch plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken
+um – nur weil eine alte Frau ihn mitten auf dem
+Trottoir anhält und ihn nach einer Straße fragt, die
+sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter
+Stirn schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß
+von den Vorübergehenden mehr als einer bei seinem
+Anblick lächelt und mancher ihm sogar nachschaut,
+und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht,
+plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren
+verwundert aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes
+Lächeln und die halben Gesten seiner Hände
+so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe Phantasie
+in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die
+neugierig Vorübergehenden und das lachende kleine
+Mädchen und die Bauernkerle, die auf ihren Booten
+Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen
+wir an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem
+Kanalkai befindet – schon hat sie alles mutwillig in
+ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die Fliegen, und
+mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung,
+er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet
+die Mahlzeit und kommt nicht früher zu sich, als bis
+Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge Wirtin,
+nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine
+Pfeife reicht: da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und
+gewahrt mit Verwunderung, daß er bereits gegessen
+hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre.
+Es dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und
+traurig. Ein ganzes Reich von Träumen ist rings um
+ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos, spurlos wie
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht
+einmal mehr zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein
+dunkles Empfinden, das in seiner Brust sich zu regen
+beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch,
+umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und
+ruft unmerklich wieder eine ganze Schar neuer Phantome
+heran. Stille herrscht in seinem kleinen Zimmer:
+die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die Phantasie,
+sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in
+ihr an, wie ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in
+der Kaffeemaschine der alten Matrjona, die nebenan
+in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren Köchinnenkaffee
+braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ...
+Da fällt auch schon das Buch, das mein Träumer
+zwecklos und unbesehen aus der Reihe herausgegriffen
+hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur
+dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder
+erwacht: und plötzlich ist eine neue Welt, ein neues
+bezauberndes Leben um ihn herum entstanden. Ein
+neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes
+Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen
+Leben! Nach seiner allerdings sehr einseitigen Auffassung
+leben wir anderen, Nasstenka, ein Leben, das
+langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind
+wir alle so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen
+uns so sehr mit unserem Dasein! Und es ist ja auch
+wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick alles
+zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich,
+als wäre alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt
+mein Träumer. Und es ist kein Wunder, daß er so
+denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so berückend,
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem
+Nichts vor ihm erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde
+die erste Person, versteht sich, er selbst ist, er,
+unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen nicht,
+was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe
+von Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er
+denn träumt? Wozu das Fragen? – doch einfach von
+allem, von allem ... vom Schicksal eines Dichters, der
+anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall Begeisterung
+erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th.
+A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diana Vernon,
+einer heroischen Rolle bei der Einnahme der Stadt
+Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer
+Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor
+dem Konzil, von der Auferstehung der Toten in „Robert
+der Teufel“ – kennen Sie die Musik? sie duftet nach
+dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der
+Schlacht an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts
+bei der Gräfin W. D., von Danton, Kleopatra ei
+suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen
+Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes
+Geschöpf sitzt, das mit offenem Mündchen und großen
+Augen an einem Winterabend ihm zuhört – genau so,
+wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ...
+Nein, Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen
+Nichtstuer, was ist ihm jenes irdische Leben, das wir,
+Nasstenka, so gern einmal leben möchten? Er hält es
+für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient,
+und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal
+die Stunde schlagen wird, wo er für einen Tag
+dieses wirklichen Lebens gerne alle seine phantastischen
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag,
+nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er
+wird nicht einmal wählen dürfen in dieser Stunde der
+Trauer und Reue und des unabwendbaren Wehs. Doch
+vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen
+– er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen
+steht, weil er ja alles hat, weil er schon übersättigt
+und selbst der Künstler seines Lebens ist, das er
+sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann.
+Und so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische
+Märchenwelt! als wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste!
+Wirklich, man ist oft zu glauben versucht,
+daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des Gefühls,
+nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische
+Einbildung, sondern wahrhaftig Wirklichkeit,
+etwas wirklich Seiendes, ein greifbar Vorhandenes sei!
+Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält
+man in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens
+oft den Atem an? Weshalb – woher kommt es, daß,
+wie durch eine unerforschliche Zaubermacht, der Puls
+schneller schlägt, daß Tränen den Augen entströmen,
+daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen
+und sein ganzes Sein von überwältigender
+Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen ganze Nächte, die
+er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück
+schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick?
+Und wenn die Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben
+schimmert und die erste Dämmerung mit ihrem ungewissen
+phantastischen Licht in das trübselige Zimmer
+schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft
+auf das Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+er dann ein Gefühl, als vergehe er vor Entzücken mit
+seinem ganzen krankhaft erschütterten Geiste, und das
+mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja,
+Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder
+unwillkürlich, daß eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft
+unsere Seele errege! Unwillkürlich glaubt
+man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas Lebendiges,
+Greifbares sei! Und was ist das doch für
+ein Betrug! Da ist zum Beispiel die Liebe mit ihrer
+ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer nimmermüden
+Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein
+Blick auf ihn genügt, um einen jeden von der Echtheit
+des Gefühls zu überzeugen. Werden Sie es da glauben,
+liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er diejenige,
+die er in seinen verzückten Träumen so rasend
+liebt, in Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat
+er sie denn nun auch <em>wirklich</em> nur, <em>nur</em> in berückenden
+Phantasiebildern gesehen? Und hat er diese Leidenschaft
+wirklich <em>nur</em> – geträumt? Sind sie denn
+wirklich nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand
+gegangen – zu zweien, ohne sich um die Welt zu kümmern,
+das eigene Leben mit dem des anderen vereint?
+War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er
+Abschied von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken,
+ohne auf den Sturm zu achten, der unter dem rauhen
+Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der die
+Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War
+das denn wirklich alles nur ein Traum im Wachen gewesen
+– auch der verwilderte einsame Garten mit den
+grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu
+zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+sehnten und einander liebten, einander so liebten, ‚so
+bang und süß‘, wie es im alten Liede heißt? Und dieses
+alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange einsam
+und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren
+Mann, der, ewig schweigsam und verdrossen, die Liebenden
+wie ein Schreckgespenst ängstete, sie, die ohnehin
+schon wie scheue Kinder ihre Liebe voreinander
+verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie
+sich, wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie –
+das versteht sich von selbst, Nasstenka – wie böse waren
+die Menschen! Und, mein Gott, hat er sie denn später
+wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem
+fremden südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt
+in einem Palazzo – in einer wundervollen ewigen
+Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal wiedergesehen?
+Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten,
+den Myrten und Rosen umrankten, und hat sie
+dort nicht ihre Maske abgenommen und ihm zugeflüstert:
+‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine
+Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben
+sie sich nicht wirklich aneinander geschmiegt und im
+Augenblick alles Leid vergessen und die Trennung und
+alle Qualen und das düstere Haus und den alten Grafen,
+den verwilderten Garten in der fernen Heimat
+und die Bank, auf der sie ihm den letzten leidenschaftlichen
+Kuß gegeben, um sich dann aus seinen Armen
+zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka,
+daß es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt
+und wie ein ertappter Schüler verwirrt errötet, als
+hätte man soeben einen aus dem Nachbargarten gestohlenen
+Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich die
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder
+Bursche, so ein guter, immer fröhlicher Junge,
+über die Schwelle tritt und mit lachendem Gruß ausruft,
+als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme
+soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war
+gestorben und sie war frei! Unfaßbares Glück brach für
+uns an. Das sagte und brachte man uns aus Pawlowsk!“
+</p>
+
+<p>
+Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu
+Ende war. Ich weiß noch, daß ich schreckliche Lust hatte,
+laut, schallend aufzulachen, gleichsam irgend etwas
+aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in der
+Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu
+regen begann und mir schon im Halse saß, und daß es
+mir im Kinn und in den Augenlidern zuckte ...
+</p>
+
+<p>
+Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß
+Nasstenka, die mich mit ihren klugen Augen groß ansah,
+nun in unbändig lustiges Kinderlachen ausbrechen
+würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen
+war und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir
+herumgetragen und deshalb wie aus einem Buch ablesend
+erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr und
+Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor
+einen Richter zu treten und über mich ein Urteil zu fällen:
+und da hatte ich mich nun wirklich einmal nicht
+zu bezwingen vermocht und dieses Urteil gesprochen, jedoch,
+offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich Verständnis
+finden würde. Aber zu meiner Verwunderung
+schwieg sie eine Weile, dann drückte sie mir leise die
+Hand und fragte mit einer seltsam zartfühlenden Teilnahme:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+„Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich,
+„solange ich auf der Welt bin, und ich glaube, so
+werde ich es auch beenden.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“
+protestierte sie, sichtlich beunruhigt, „und das geschieht
+auch nicht! Dann wäre es ja ebensogut möglich, daß
+auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter
+verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es
+gar nicht gut ist, so zu leben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief
+ich, ohne meine Gefühle noch länger zu unterdrücken.
+</p>
+
+<p>
+„Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß
+ich alle meine besten Jahre verloren habe! Ich weiß es,
+und diese Erkenntnis schmerzt mich mehr als je, denn
+Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt, um
+mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben
+Ihnen sitze und mit Ihnen rede, mutet es mich schon
+wunderbar an, an meine Zukunft zu denken, denn in
+dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder
+Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose
+Leben. Und was werde ich dann noch träumen
+können, das schöner ist als das Leben, nachdem ich doch
+in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich gewesen
+bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes
+Mädchen, daß Sie mich nicht gleich nach dem ersten
+Wort zurückgestoßen haben und ich jetzt doch schon sagen
+kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem
+Leben gelebt habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+glänzten in ihren Augen. „Nein, so soll es nicht kommen!
+Wir werden nicht so auseinandergehen! Was sind
+zwei Abende!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt,
+daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt
+haben? Wissen Sie, daß ich jetzt nicht mehr so Schlechtes
+denken werde, wie in manchen früheren Stunden?
+Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber
+grämen werde, Verbrechen und Sünde in meinem Leben
+begangen zu haben, denn ein solches Leben ist Verbrechen
+und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie
+übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie
+das nicht, Nasstenka! Es kommen Augenblicke, in denen
+ich solch eine Seelenangst empfinde, solch einen
+Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen
+– und ich fange schon an, daran zu glauben –, daß
+ich niemals mehr fähig sein werde, ein wirkliches Leben
+zu beginnen, denn ich habe schon oft die Empfindung
+gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede
+Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit,
+was wirkliches Leben ist! weil ich mich schließlich
+selbst verflucht habe! weil meinen phantastischen
+Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen,
+die so furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie
+rings um einen die Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel
+sich drehen, man hört und sieht, wie Menschen
+leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im
+Wachen leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach
+ihrer Willkür entsteht, daß ihr Leben nicht wie ein
+Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig erneut und
+ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht,
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+während die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft,
+so trostlos und verzagt und bis zur Gemeinheit
+einförmig ist, eine Sklavin des Schattens, der
+bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die
+plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das
+Herz zusammenpreßt, das echte Petersburger Herz, dem
+seine Sonne so teuer ist! Und erst im Leiden, was für
+eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde
+wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft,
+diese scheinbar <em>unerschöpfliche</em> Phantasie, denn
+man wird reifer und männlicher und wächst über seine
+früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt
+nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es
+dann kein anderes Leben gibt, muß man aus demselben
+Schutt die Bruchstücke zusammenlesen und aus ihnen
+sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und
+sehnt sich die Seele doch nach etwas ganz anderem!
+Und vergeblich wühlt der Träumer wie in einem
+Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in der
+Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen,
+um es anzublasen und um mit dem von neuem angefachten
+Feuer das kaltgewordene Herz zu erwärmen
+und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so
+lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung
+brachte, was den Augen Tränen entströmen ließ
+und eine so herrliche Täuschung war! Wissen Sie auch,
+Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin?
+Wissen Sie, daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen
+zu feiern gezwungen bin, Gedenktage dessen,
+was früher so schön war und dabei in Wirklichkeit doch
+nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien
+– und daß ich das tun muß, weil selbst diesen törichten
+Träumen nicht mehr neue folgen, die sie verdrängen
+würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden!
+Von selbst hören sie nicht auf und so überleben sie
+sich nur. Wissen Sie, ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten
+Stunden jene Stellen auf, an denen ich einmal
+glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und
+dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie
+nach dem unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten
+oder das Vergangene mir zu vergegenwärtigen:
+und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und zwecklos
+in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was
+für Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich
+zum Beispiel, daß ich hier genau vor einem Jahr gerade
+in derselben Stunde auf demselben Trottoir gegangen
+bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend,
+wie jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken
+damals ebenso traurig waren, und wenn es
+früher auch nicht besser war, so ist es einem doch, als sei
+es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger
+gelebt, und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln
+gegeben habe, daß einen jetzt verfolgt ... daß
+ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die so peinvoll
+und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch
+in der Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man
+fragt sich: wo sind denn deine Träume geblieben? Und
+schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die Jahre
+vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du
+mit deinen Jahren angefangen? Wo hast du deine beste
+Zeit begraben? Hast du überhaupt gelebt? oder nicht?
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in der
+Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und
+dann kommt die grämliche Einsamkeit, kommt mit der
+Krücke das zitterige Alter und bringt dir Kummer und
+Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt, verwelken
+und sterben werden deine Träume und wie das
+gelbe Laub von den Bäumen, so werden sie von dir abfallen
+... O Nasstenka! Wie wird es dann so öde sein,
+allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas
+zu haben, worum man trauern könnte – nichts, gar
+nichts ... Denn alles, was man verloren hat, alles das
+war doch nichts, war eine Null, eine reine Null, war ja
+nichts als ein Träumen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht
+noch mehr!“ rief Nasstenka und wischte das dumme
+Tränchen fort, das ihr über die Wange rollte.
+„Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht
+mehr allein sein, denn was mit mir auch geschehen
+sollte, wir werden doch immer Freunde bleiben. Hören
+Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig
+gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer
+Unterricht erteilen ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe
+Sie sehr gut, denn alles, was Sie mir da erzählt
+haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben Großmutter
+angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut
+zu erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“
+fügte sie etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische
+Rede ihr offenbar einen gewissen Respekt eingeflößt
+hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir alles
+mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch
+und durch. Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+auch meine Geschichte erzählen, alles, bis aufs Letzte,
+Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie sind
+ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie
+mir nun versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich
+Ihren Rat geben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar
+noch nie ein Ratgeber gewesen, und nun gar ein
+kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich sehe
+jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar
+sehr klug wäre und daß der eine dem anderen unzählige
+kluge Ratschläge erteilen könnte. Nun also,
+meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen
+Sie? Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich
+bin jetzt so heiter, so glücklich, so mutvoll, daß ich
+wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein werde,
+wie man zu sagen pflegt.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort.
+„Ich brauche keinen klugen Rat, sondern einen von
+Herzen kommenden, einen aufrichtig brüderlichen, einen,
+der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon
+ein Leben lang lieb!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn
+ich Sie auch schon ganze zwanzig Jahre geliebt hätte,
+ich könnte Sie deshalb doch nicht inniger lieben, als
+ich es jetzt tue!“
+</p>
+
+<p>
+„Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka.
+</p>
+
+<p>
+„Hier haben Sie sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte
+beginnen.“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-3">
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+Nasstenkas Geschichte.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie
+bereits, das heißt, Sie wissen, daß ich eine alte Großmutter
+habe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als
+diese ...“ wandte ich lachend ein.
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst
+eine Abmachung: Sie dürfen mich nicht unterbrechen,
+sonst machen Sie mich schließlich noch verwirrt.
+Also, hören Sie jetzt artig zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich
+schon als ganz kleines Mädchen, denn meine Eltern
+starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter einmal
+reicher war, denn sie spricht immer von den früheren
+besseren Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch
+gelehrt. Später nahm sie einen Lehrer. Als ich
+fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich siebzehn – hörte
+der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich
+ihr meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach,
+das werde ich Ihnen nicht sagen; genug, daß
+es durchaus kein schlimmer Streich war. Immerhin
+hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens
+zu sich rief und sagte, sie könne mich, da sie blind
+sei, nicht beaufsichtigen, und damit nahm sie dann eine
+Stecknadel und steckte mein Kleid an das ihrige und erklärte
+mir, daß wir so unser Leben verbringen würden,
+wenn ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war
+mir jede Möglichkeit genommen, mich freizumachem:
+was ich auch tat, arbeiten und lesen und lernen –
+alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+ich es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf
+meinen Platz zu setzen. Fjokla ist unsere Magd, und die
+ist taub. Sie setzte sich also auf meinen Platz, als Großmutter
+in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich
+lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das
+ging aber schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor
+ich zurück war, und fragte irgend etwas, natürlich im
+Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist ja blind.
+Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte
+sie nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt
+und denkt sie, was sie wohl tun soll, steckt dann schnell
+die Stecknadel ab und kommt mir nachgelaufen ...“
+</p>
+
+<p>
+Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich
+auch. Doch wurde sie gleich wieder ernst.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter.
+Ich lache nur deshalb, weil es so komisch war
+... Was soll man denn machen, wenn Großmutter
+wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun
+ja, mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt:
+ich mußte mich sofort wieder hinsetzen und wurde
+von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht rühren
+durfte ich mich!
+</p>
+
+<p>
+„Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen,
+daß wir, oder vielmehr, daß Großmutter ein
+kleines Haus besitzt. Es ist ein Holzhäuschen mit nur
+drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und ebenso
+alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer;
+und in dieses Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dann hatten Sie also auch früher schon einen
+Mieter?“ fragte ich beiläufig.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+zwar verstand der besser zu schweigen, als Sie. Allerdings
+konnte er kaum noch die Zunge bewegen. Es war
+das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager,
+stumm, blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht
+länger aushielt in der Welt und starb. Da ward das
+Zimmer frei und wir mußten uns nach einem neuen
+Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und
+Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen.
+Der neue Mieter war aber ein junger Mensch
+und kein Petersburger. Da er von der Miete nichts
+abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er
+aber gegangen war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist
+der Mieter jung oder alt?‘ Lügen wollte ich nicht und
+so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht, Großmama,
+aber er ist auch kein alter Mann.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes
+Äußere?‘ fragte sie weiter.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘
+sagte ich, ‚er hat ein angenehmes Äußere.‘ Großmutter
+aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das wird dann
+wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage
+dir das deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir
+nicht zu oft ansiehst. Das ist mir jetzt mal eine Zeit!
+Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein angenehmes
+Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘
+</p>
+
+<p>
+„Großmutter spricht nämlich immer von der alten
+Zeit. Jünger war sie in der alten Zeit und die Sonne
+schien wärmer in der alten Zeit und die Sahne wurde
+nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war
+in der alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg,
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+dachte aber bei mir: weshalb bringt denn Großmutter
+mich selbst darauf, indem sie fragt, ob er gut aussieht
+und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke,
+ich begann wieder die Maschen zu zählen und
+strickte weiter, und darüber vergaß ich dann alles.
+</p>
+
+<p>
+„Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter
+bei uns ein: er wolle sich erkundigen, wo die neue
+Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer versprochen
+habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist
+doch geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh,
+Nasstenka, in mein Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘
+Ich sprang sogleich auf, das Blut schoß mir ins
+Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß
+ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel
+heimlich abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe,
+riß ich so, daß Großmutters ganzer Sessel in die Höhe
+ruckte. Als ich aber sah, daß der Mieter jetzt alles begriff,
+wurde ich noch viel röter und blieb wie gelähmt
+stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so
+schämte ich mich und so bitter war es, daß ich in die
+Erde hätte versinken mögen! Großmutter aber ruft mir
+zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber weinte
+nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich
+vor ihm schämte, und verabschiedete sich und ging
+schnell fort!
+</p>
+
+<p>
+„Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur
+ein Geräusch im Flur hörte, gleich das Herz still.
+‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns kommt,‘ dachte
+ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab,
+heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war
+es niemals er, – er kam nicht. So vergingen zwei
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch Fjokla sagen,
+daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und
+ob da nicht Großmutter sich von mir vorlesen
+lassen wolle, um eine kleine Zerstreuung zu haben?
+Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur
+fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige
+Bücher wären, ‚denn wenn sie unmoralisch
+sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie unter keinen Umständen
+lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes
+aus ihnen lernen.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘
+fragte ich, ‚was steht denn in schlechten Büchern
+geschrieben?‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer
+sittsame Mädchen verführen, wie sie sie unter dem
+Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus dem Elternhause
+entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und
+wie die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen
+und zugrunde gehen. Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe
+viele solcher Bücher gelesen und alles,‘ sagte sie, ‚ist
+so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht heimlich
+in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie,
+‚sieh zu, daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher
+sind es denn, die er uns geschickt hat?‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘
+sagte ich.
+</p>
+
+<p>
+„‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber
+nach, ob nicht irgendwelche Spitzbübereien
+darin stecken. Vielleicht hat er einen Liebesbrief oder
+ein Zettelchen hineingelegt.‘
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+„‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin,
+Großmutter.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken;
+zuweilen stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem
+Umschlagrücken ist nichts.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort.
+</p>
+
+<p>
+„Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen,
+und in etwa einem Monat waren wir fast schon
+mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann schickte er uns
+wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so
+daß ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte
+und darüber ganz vergaß, wie früher darüber zu sinnen,
+wie ich wohl einen chinesischen Prinzen heiraten
+könnte.
+</p>
+
+<p>
+„So standen die Dinge, als der Zufall es einmal
+fügte, daß ich unserem Mieter auf der Treppe begegnete.
+Ich mußte für Großmutter etwas holen. Er blieb
+stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber
+da lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte
+sich nach Großmutters Befinden. Darauf fragte er,
+ob ich die Bücher schon gelesen hätte. Ich sagte: ‚Ja,
+ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am
+besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe
+und Puschkin haben mir am besten gefallen.‘ Und
+damit war unser Gespräch für diesmal beendet.
+</p>
+
+<p>
+„Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf
+der Treppe. Nur hatte mich an dem Tage nicht Großmutter
+geschickt, ich hatte vielmehr selbst etwas nötig.
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam
+unser Mieter nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘
+sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte ich.
+</p>
+
+<p>
+„‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag
+bei der Großmutter zu sitzen?‘ fragte er.
+</p>
+
+<p>
+„Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb
+– errötete ich wieder und ich schämte mich und
+seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil nun
+schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter
+zu fragen begannen. Ich wollte fortgehen,
+ohne ihm zu antworten, aber ich hatte keine Kraft
+zum Gehen.
+</p>
+
+<p>
+„‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf.
+‚Entschuldigen Sie, bitte, daß ich so zu Ihnen spreche,
+aber, ich versichere Ihnen, ich wünsche Ihnen vielleicht
+mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun
+scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen
+könnten?‘
+</p>
+
+<p>
+„Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka,
+meine einzige Freundin, wäre nach Pskow gereist.
+</p>
+
+<p>
+„‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater
+fahren?‘ fragte er mich darauf.
+</p>
+
+<p>
+„‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn
+Großmutter –?‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht
+zu sagen, – kommen Sie heimlich ...‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen.
+Guten Tag!‘
+</p>
+
+<p>
+„Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag,
+wir hatten gerade erst gespeist, kam er plötzlich zu uns.
+Er setzte sich, unterhielt sich mit Großmutter, erkundigte
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie
+Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe
+für heute eine Loge genommen, im Opernhaus; der
+Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine Bekannten,
+mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte,
+sind plötzlich verhindert, und da sitze ich nun mit meinem
+Billett.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter,
+‚ist das etwa derselbe Barbier, den man in der alten
+Zeit gab?‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei
+sah er mich an. Ich aber hatte schon alles begriffen
+und errötete und mein Herz hüpfte in Erwartung!
+</p>
+
+<p>
+„‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie
+sollte ich den nicht kennen! Ich habe doch in meiner
+Jugend auf der Hausbühne die Rosine gespielt!‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper
+einmal wieder hören wollen?‘ fragte er. ‚So fände
+auch mein Billett noch eine Verwendung, sonst hätte
+ich es unnütz gekauft.‘
+</p>
+
+<p>
+„‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter,
+‚weshalb sollten wir nicht?! Meine Nasstenka
+ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten
+uns an und dann fuhren wir. Großmutter ist zwar
+blind, aber sie wollte doch wenigstens die Musik hören:
+und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau:
+sie wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen,
+denn ohne seine Aufforderung wären wir wohl niemals
+in die Oper gekommen. Wie der Eindruck war,
+den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun,
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können
+Sie sich schon ohnehin denken. Den ganzen Abend
+sah er mich mit so guten Augen an und sprach so
+freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich
+auf der Treppe nur hatte prüfen wollen, als er mich
+aufforderte, allein mit ihm ins Theater zu fahren. Da
+freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte!
+Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh
+und mein Herz schlug so stark, daß ich sogar ein wenig
+fieberte, und die ganze Nacht träumte mir vom Barbier
+von Sevilla.
+</p>
+
+<p>
+„Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt
+öfter zu uns kommen – aber da täuschte ich mich. Er
+kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa einmal im Monat
+sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern,
+mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal
+fuhren wir auch noch – nur wollte mir diese Art gar
+nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur
+leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt
+sitzen mußte: weiter war es nichts. Und je länger
+sich das so fortsetzte, um so mehr kam es über mich:
+ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber
+ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen
+lachte ich und stellte irgend etwas an, worüber
+Großmutter sich ärgern mußte. Dann wieder war ich
+den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu
+guter Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war
+zu Ende und unser Mieter hörte nun ganz auf, zu
+uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten –
+immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur
+so ernst und schweigend und ging an mir vorüber,
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+als wolle er überhaupt nicht mit mir sprechen. Und
+wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch
+auf der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut
+stieg mir sofort ins Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte.
+</p>
+
+<p>
+„Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor
+einem Jahr, im Mai, kam unser Mieter nach langer
+Zeit wieder einmal zu uns und sagte der Großmutter,
+daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder
+auf ein Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das
+hörte, erbleichte ich und sank auf einen Stuhl – ich
+glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter merkte nichts
+davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging.
+</p>
+
+<p>
+„Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und
+marterte mein Gehirn und grämte mich, bis ich endlich
+doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt er,
+dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben
+Abend, sobald Großmutter eingeschlafen wäre, meinen
+Vorsatz auszuführen. So geschah es auch. Ich
+band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte,
+in ein Bündel, und mit dem Bündel in der Hand,
+mehr tot als lebendig, ging ich nach oben zu unserem
+Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde,
+um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür
+zu seinem Zimmer öffnete, da sprang er auf und sah
+mich an, als hielte er mich für ein Gespenst. Doch das
+dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem
+Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab
+mir zu trinken, denn ich hielt mich kaum auf den Füßen.
+Mein Herz schlug so, daß es mir im Kopf weh
+tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+wieder zu mir kam, tat ich nichts weiter, als daß ich
+mein Bündel auf sein Bett legte, mich daneben setzte,
+das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine Flut
+von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im
+Augenblick alles, denn er stand vor mir und war bleich
+und sah mich so traurig an, daß es mir das Herz zerriß.
+</p>
+
+<p>
+„‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka,
+ich kann nicht! Ich bin ganz arm, ich habe vorläufig
+noch nichts, nicht einmal eine Stellung: wie sollten
+wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘
+</p>
+
+<p>
+„Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos
+und sagte, ich könne nicht länger bei Großmutter
+bleiben, ich würde von ihr fortlaufen und ich
+wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke:
+sobald er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach
+Moskau gehen, da ich ohne ihn nicht mehr leben könne.
+Scham und Liebe und Stolz – alles brach da zugleich
+aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf
+sank ich aufs Bett. Ich fürchtete mich so vor einer
+Zurückweisung!
+</p>
+
+<p>
+„Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat
+zu mir und ergriff meine Hand.
+</p>
+
+<p>
+„‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘
+begann er, und seine Stimme bebte vor Tränen, ‚hören
+Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich jemals
+in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein
+Glück ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein
+könnten es. Doch hören Sie weiter: ich fahre jetzt nach
+Moskau und werde dort ein Jahr bleiben. Ich hoffe,
+mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+ich dann, nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich
+noch liebhaben, so werden wir glücklich sein, das
+schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich, ich
+besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend
+etwas zu versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr
+noch nicht so weit sein, so werden wir noch etwas länger
+warten müssen, einmal aber werden wir unser
+Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht
+einem andern den Vorzug geben, denn binden will ich
+Sie mit keinem Wort, das kann ich nicht und darf ich
+nicht.‘
+</p>
+
+<p>
+„So sprach er damals zu mir und am nächsten
+Tage fuhr er fort. Vorher aber sprachen wir uns noch
+aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu sagen.
+Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast
+zu Ende. Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist
+zurückgekehrt, er ist schon ganze drei Tage hier und
+... und ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und – was?“ fragte ich gespannt.
+</p>
+
+<p>
+„... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß
+Nasstenka, indem sie sich mit aller Gewalt zusammennahm,
+„kein Wort von ihm, kein Brief ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und
+plötzlich brach sie, die Hände vor das Gesicht schlagend,
+in Tränen aus und weinte so verzweifelt, daß es
+mir das Herz zerriß.
+</p>
+
+<p>
+Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet.
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme
+in der Stimme. „Nasstenka, um Gottes willen,
+so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen Sie es
+denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+„Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich
+weiß es. Wir trafen damals noch eine Verabredung,
+an jenem Abend vor seiner Abreise – als wir uns
+ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich
+Ihnen soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und
+spazierten hier auf und ab. Es war zehn Uhr und wir
+saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht mehr, es war
+mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er
+sagte, er werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns
+kommen, und wenn ich mich dann nicht von ihm lossagte,
+würden wir alles der Großmutter mitteilen.
+Jetzt aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns
+ist er nicht gekommen, <em>nicht</em> gekommen!“
+</p>
+
+<p>
+Und wieder brach sie in Tränen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie
+helfen?“ rief ich und sprang in meiner Ratlosigkeit
+von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka, könnte
+ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber
+hören Sie: schreiben Sie ihm einen Brief.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht
+nicht!“ versetzte sie schnell, senkte jedoch das Köpfchen
+und sah mich nicht an.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich
+sein?“ fuhr ich fort, denn mein Plan begann mir
+zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen Brief!
+Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ...
+Ach, Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will
+Ihnen keinen schlechten Rat geben. Es läßt sich das
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch den
+ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt
+nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht!
+Damals habe ich mich schon fast – aufgedrängt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein
+Lächeln zu verbergen, „nein, da irren Sie sich. Und
+schließlich haben Sie dazu das volle Recht, da er Ihnen
+sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch,
+wie ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger
+Mensch zu sein,“ fuhr ich fort und ließ mich von
+der Logik meiner Folgerungen und Schlüsse mehr und
+mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen
+gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden.
+Er hat gesagt, daß er nur Sie heiraten werde,
+sobald er erst einmal so weit sein würde; Ihnen dagegen
+hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn
+Sie wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen
+können ... Folglich dürfen Sie jetzt ruhig den ersten
+Schritt tun, denn er hat Ihnen in allem das Vorrecht
+überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die Rückgabe
+des bindenden Wortes handelt, oder um etwas
+anderes ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle
+schreiben?“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, diesen Brief an ihn.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter
+Herr ...‘“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+„Muß man unbedingt so anfangen?“
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen
+einzuwenden? Ich denke ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, schon gut! Weiter!“
+</p>
+
+<p>
+„Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie,
+daß ich ...‘ Übrigens nein, Entschuldigungen sind
+überflüssig. Hier erklärt ja schon die Tatsache alles.
+Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine
+Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich,
+da ich immer in meiner Hoffnung lebte – woher
+sollte ich jetzt wohl die Geduld nehmen, auch nur einen
+Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie schon
+zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht
+haben, muß ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen
+aufgegeben haben. In dem Fall soll dieser
+Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen
+keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn
+es ist doch nicht Ihre Schuld, wenn ich Ihr Herz nur
+für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht habe. Dann ist
+es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm
+denkender Mensch und Sie werden über meine ungeschickten
+Zeilen weder lächeln noch sich ärgern. Aber
+trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen
+an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen
+Menschen hat, dem sie sich anvertrauen und der ihr
+Rat erteilen könnte, und daß sie auch nie verstanden
+hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht
+böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte,
+auch nur für einen Augenblick in meiner Seele Zweifel
+gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie nicht einmal
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so
+geliebt hat und noch liebt.‘“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“
+rief Nasstenka und ihre Augen glänzten vor Freude.
+„Oh, Sie haben mich von allen meinen Ungewißheiten
+erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke
+Ihnen, ich danke Ihnen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt
+hat?“ fragte ich und betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes
+Gesichtchen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, meinetwegen dafür!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen
+Menschen nur dafür dankbar, daß sie mit uns leben
+oder überhaupt nur leben. Ich zum Beispiel bin Ihnen
+ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet
+sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie
+werde denken können.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen
+ja noch gar nicht alles – also hören Sie: Damals
+verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner Rückkehr
+mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar
+durch meine Bekannten: gute, einfache Leute, die von
+all dem nichts wissen; falls er aber nicht schreiben
+könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles sagen
+läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn
+Uhr abends hierher kommen, wo wir uns dann treffen
+wollten. Daß er in Petersburg bereits angekommen ist,
+das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit drei Tagen
+hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm
+erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es
+mir nicht möglich, unbemerkt von Großmutter fortzugehen.
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+Deshalb – oh, seien Sie so gut und geben
+Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief
+– sie werden ihn weiterbefördern. Wenn aber eine
+Antwort von ihm eintrifft, so bringen Sie sie mir um
+zehn Uhr abends hierher – ja?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der
+Brief noch geschrieben werden! Sonst kann ich das
+allenfalls erst übermorgen besorgen.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt
+zu Boden, „der Brief ... ja aber ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das
+Gesichtchen, das wie eine Rose erglühte, von mir fort,
+und plötzlich fühlte ich in meiner Hand einen Brief –
+einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor
+kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk
+rief eine Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich
+eine reizende graziöse Melodie im Ohr und –
+</p>
+
+<p>
+„Ro–osi–ina!“ sang ich.
+</p>
+
+<p>
+„Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide,
+und ich war nahe daran, sie vor lauter Wonne in
+meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger errötete
+und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen
+silbern an ihren Wimpern glänzten.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“
+sagte sie schnell. „Den Brief haben Sie, und auf dem
+Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn ab.
+Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“
+</p>
+
+<p>
+Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch
+einmal zu und huschte wie ein Schatten in ihre kleine
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+Querstraße. Ich stand noch lange auf demselben Fleck
+und sah ihr nach.
+</p>
+
+<p>
+„Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es
+mir durch den Sinn, als sie meinen Blicken entschwunden
+war.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-4">
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+Die dritte Nacht.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so
+grau und trüb und lichtlos – ganz wie das Alter,
+das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so seltsame
+Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme,
+die mir selbst noch völlig unklar sind, drängen sich in
+meine Gedanken – und dabei habe ich doch weder die
+Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist
+auch eigentlich nicht meine Sache!
+</p>
+
+<p>
+Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern
+Abschied nahmen, zogen schon dunkle Wolken auf
+und Nebel erhob sich. Ich sagte noch: „Morgen werden
+wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete
+darauf nichts – was hätte sie auch antworten sollen?
+Für sie war dieser Tag hell und klar und kein Wölkchen
+würde auf ihr Glück einen Schatten werfen.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“
+sagte sie endlich, „dann komme ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht
+bemerkt haben, aber sie kam doch nicht.
+</p>
+
+<p>
+Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war
+unsere dritte helle Nacht ...
+</p>
+
+<p>
+Indessen – wie doch Freude und Glück einen
+Menschen schön machen! Wie atmet im Herzen die
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein
+anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles
+froh sei! daß alles lache! Und wie ansteckend ist diese
+Freude! Gestern war in ihren Worten soviel Zärtlichkeit
+und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ...
+Wie aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und
+lieb! wie sie mich ermunterte und mein Herz erquickte!
+Oh, wieviel süße Schelmerei vor lauter Glück! Und
+ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß
+sie ...
+</p>
+
+<p>
+Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken?
+Wie konnte ich so blind sein, wo ich doch wußte, daß
+alles schon einem anderen gehörte und wo ich mir doch
+hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe
+... ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als
+ein Ausdruck ihrer Freude über das bevorstehende Wiedersehen
+mit ihm und ihr Wunsch, an diesem Glücke
+auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich
+zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich
+warteten, da ward sie doch traurig und bekümmert
+und verzagt. Ihre Bewegungen und ihre Worte
+waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt,
+nicht mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise
+verdoppelte sie dann ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit
+gegen mich, und es war mir, als wolle sie alles,
+was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil
+es vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich
+wenigstens mir schenken. Und zitternd für
+ihr eigenes Glück, voll Angst und Sehnsucht begriff
+sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich <em>sie</em> liebte, und
+etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie.
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+Denn wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir
+das Unglück anderer besser nachfühlen, und das Gefühl
+zerstreut sich nicht so, sondern sammelt sich ...
+</p>
+
+<p>
+Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich
+die Stunde des Wiedersehens kaum hatte erwarten
+können. Ich ahnte aber noch nicht, was ich in dieser
+Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich
+voraus, wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor
+Freude, denn sie erwartete die Antwort. Und die Antwort,
+die sollte er selbst bringen ... daß er auf ihren
+Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war
+sie fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde
+vor mir zur Stelle. Anfangs lachte sie über alles, fast
+über jedes Wort, das ich sprach. Ich wollte weitersprechen,
+doch plötzlich – schwieg ich.
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie,
+„– und mich so freue, Sie zu sehen? – weshalb ich
+Sie heute so liebe?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt
+haben. Ein anderer zum Beispiel hätte doch an Ihrer
+Stelle angefangen, mich zu beunruhigen und zu belästigen
+und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie
+aber sind so nett und lieb!“
+</p>
+
+<p>
+Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast
+aufgeschrien hätte. Und dann lachte sie wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“
+fuhr sie nach einer Weile sehr ernst fort. „Ich glaube
+wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt hat. Was
+würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei
+mir wären? Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+Güte Sie mich lieben! Wenn ich verheiratet bin,
+werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich
+werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“
+</p>
+
+<p>
+Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich
+schmerzvolle Trauer, doch zugleich regte sich auch so
+etwas wie ein Lachen in meiner Seele.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen
+im Herzen, denn Sie fürchten innerlich doch, daß
+er nicht kommen wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich,
+so würden Ihr Unglaube und Ihre Vorwürfe mich
+wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben
+Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich
+noch lange grübeln kann. Doch das werde ich nachher
+tun; jetzt aber will ich Ihnen gestehen, daß Sie die
+Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie nicht
+– ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als
+Erwartung und fühle und höre und nehme alles nur
+so von ungefähr ... Doch genug davon, reden wir
+nicht mehr von Gefühlen ...“
+</p>
+
+<p>
+Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit
+kam uns ein Fußgänger entgegen. Wir zuckten
+beide zusammen, sie hatte fast aufgeschrien. Ich zog
+meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und
+machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen.
+Doch wir täuschten uns: es war ein Fremder, der ruhig
+vorüberging.
+</p>
+
+<p>
+„Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren
+Arm zurück?“ fragte sie, indem sie wieder meinen Arm
+nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm Arm
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir
+einander lieben.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie wir einander lieben!“ rief ich.
+</p>
+
+<p>
+– „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im
+stillen, „wie viel du mit diesem Wort gesagt hast! Bei
+solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz wohl erfrieren
+... und die Seele ist dann tottraurig ...
+Deine Hand ist kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß
+wie Feuer. Wie blind du bist, Nasstenka! ... Oh! wie
+unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch zuweilen
+sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“
+</p>
+
+<p>
+Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß
+ich sprechen mußte, ob ich wollte oder nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie,
+was heute den ganzen Tag mit mir gewesen ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell!
+Warum haben Sie denn bis jetzt geschwiegen!“
+</p>
+
+<p>
+„Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt,
+den Brief bei Ihren guten Leuten abgegeben
+hatte, da ... da ging ich nach Hause und legte mich
+schlafen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend,
+denn die dummen Tränen wollten mir
+mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte erst
+eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen,
+aber es war mir, als hätte ich gar nicht geschlafen.
+Ich weiß nicht, was mit mir war. Und als ich herkam,
+da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles
+zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben,
+als müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+von nun an ewig mich beherrschen, als müßte ein
+Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als sei das
+ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte,
+da war es mir, als erinnerte ich mich eines
+musikalischen Motivs, das ich einmal vor langer Zeit
+gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und es
+schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus
+meiner Seele hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka,
+„wie kommt denn das? Ich begreife kein Wort.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen
+Eindruck irgendwie wiedergeben ...“ begann ich mit
+trauriger Stimme, in der sich aber doch noch Hoffnung
+verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“
+sagte sie schnell – in einem Augenblick hatte sie alles
+erraten, die Schelmin!
+</p>
+
+<p>
+Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig.
+Sie nahm meinen Arm, lachte, erzählte, wollte
+unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge, und jedes
+verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und
+übermütiges Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu
+ärgern, und plötzlich begann sie zu kokettieren.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert
+es mich doch, daß Sie sich gar nicht in mich verliebt
+haben. Da werde einer jetzt klug aus den Menschen!
+Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch
+wenigstens das anerkennen, daß ich so harmlos und
+offenherzig bin. Ich sage Ihnen alles, alles, gleichviel
+was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf
+fährt.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+„Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als
+fernher der erste gemessene Schlag der Turmuhr erklang.
+</p>
+
+<p>
+Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie
+zählte jeden Schlag.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig.
+</p>
+
+<p>
+Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und
+die Schläge hatte zählen lassen. Und ich verwünschte
+mich ob der Bosheit, die mich angewandelt. Es tat mir
+leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein Vergehen
+gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und
+Gründe für sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene
+Beispiele an, bewies und folgerte: und wirklich
+ließ sich niemand leichter überzeugen, als sie in
+diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen
+Umständen mit Freuden jeden Trost anhören und selbst
+noch für den Schatten einer Rechtfertigung dem anderen
+dankbar sein würde.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich
+immer mehr für ihn einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen
+von der Klarheit meiner Beweise war, „er
+konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre
+Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen,
+Nasstenka, so daß auch ich die Zeitschätzung ganz vergaß
+... Bedenken Sie doch nur: er hat ja kaum erst
+den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß
+er verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß
+er schreiben wird – dann können Sie den Brief doch
+gar nicht früher bekommen, als morgen. Ich werde in
+aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen.
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+Und überdies können wir ja noch tausend andere
+Wahrscheinlichkeiten annehmen – sagen wir zum Beispiel:
+er ist nicht zu Hause gewesen, als der Brief
+kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen.
+Es ist doch alles möglich.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich
+habe daran gar nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“
+bestätigte sie mit bereitwillig nachgiebiger Stimme,
+aus der aber doch, wie eine ärgerliche kleine Dissonanz,
+ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war.
+</p>
+
+<p>
+„Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie
+gehen morgen möglichst früh zu jenen guten Leuten,
+und wenn Sie dort etwas erhalten, so benachrichtigen
+Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“
+Und sie nannte mir ihre Adresse.
+</p>
+
+<p>
+Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir,
+und dabei schien sie doch eine gewisse Schüchternheit
+anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir auch aufmerksam
+zu ... als ich mich aber mit einer Frage an
+sie wandte, da schwieg sie und kehrte verwirrt das
+Köpfchen von mir fort. Ich beugte mich ein wenig vor,
+um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so
+war’s: sie weinte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind
+Sie sind! Was für ein kleines unvernünftiges Kind!
+... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen Sie
+denn?“
+</p>
+
+<p>
+Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen,
+aber ihr Gesicht zuckte und ihre Brust wogte immer
+noch.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+nach längerem Schweigen. „Sie sind so gut,
+daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das
+nicht herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben
+in den Sinn kam? Ich verglich Sie beide. Warum
+ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie
+Sie? Er ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn
+mehr, als ich Sie liebe.“
+</p>
+
+<p>
+Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es
+schien, auf eine Bemerkung von mir.
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht
+nicht ganz verstehe, und ich kenne ihn ja auch
+noch gar nicht so gut. Aber wissen Sie, es ist mir, als
+hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war immer
+so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß
+ja, das war nur der äußere Schein. In seinem Herzen
+ist sogar noch mehr Zärtlichkeit, als in meinem ...
+Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen
+Sie, als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber
+doch ist es so, als stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch,
+und das ist dann doch wieder so, als wären wir einander
+nicht gleich, nicht ebenbürtig?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur,
+daß Sie ihn mehr als alles andere in der Welt lieben,
+und sogar viel mehr als sich selbst.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka
+naiv, „aber wissen Sie, was mir jetzt wieder in
+den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt nicht mehr
+von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe
+darüber eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie
+also und sagen Sie mir: warum sind wir nicht alle wie
+Brüder zueinander? Warum kommt es einem selbst
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas
+vor dem anderen und verschweige es ihm? Warum sagt
+nicht ein jeder ganz offen, was er gerade auf dem
+Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte
+nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein,
+als sei er viel kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit
+ist, und es ist fast, als fürchteten die Menschen,
+sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre Gefühle ohne weiteres
+voreinander äußerten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das
+geschieht doch aus sehr verschiedenen Gründen,“ versetzte
+ich, während ich mich gerade in diesem Augenblick
+mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle
+verbarg.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung.
+„Sie zum Beispiel sind nicht so wie die anderen!
+Ich ... verzeihen Sie, ich weiß nicht, wie ich
+Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es
+scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade
+jetzt ... ja, es scheint mir, daß Sie mir ein Opfer
+bringen,“ sagte sie fast zaghaft und ihr Blick streifte
+mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so zu
+Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und
+habe noch wenig gesehen im Leben, und wirklich: ich
+verstehe mich oft gar nicht richtig auszudrücken,“ fügte
+sie mit einer Stimme hinzu, die von einem verborgenen
+Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln
+zwang, „aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen
+dankbar bin und daß ich dies selbst weiß und empfinde
+... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich machen!
+Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+erzählten, das ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das
+hat doch nichts mit Ihnen zu tun! Sie werden gesund
+werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz anderer
+Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben.
+Sollten Sie aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen
+alles Glück! Derjenigen aber, die Sie lieben, brauche
+ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird sie
+ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein
+Weib, und darum können Sie mir glauben, wenn ich
+es Ihnen sage ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen
+Händedruck. Auch ich war zu erregt, um noch sprechen
+zu können. Wir schwiegen beide.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie
+endlich und hob den Kopf. „Es ist zu spät ...“
+</p>
+
+<p>
+„Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem,
+überzeugtem Tone.
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein,
+daß es heute noch zu früh war, und daß er erst morgen
+kommen wird. Nun, dann also auf Wiedersehen: morgen!
+Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen.
+Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt
+kommen, und Sie – kommen Sie gleichfalls
+unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann
+alles erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die
+Hand und sagte, indem sie mir mit klarem Blick in die
+Augen sah:
+</p>
+
+<p>
+„Von nun an werden wir doch immer beisammen
+bleiben, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie
+einsam ich jetzt bin!
+</p>
+
+<p>
+Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt
+ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete
+mich an und ging trotz des Regenwetters. Ich war dort
+und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand ich auf
+und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und
+zwei Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um,
+ohne nach ihren Fenstern hinaufgesehen zu haben. Ich
+kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich sie bisher
+noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig!
+Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann
+würde ich die ganze Nacht lang dort umhergehen ...
+</p>
+
+<p>
+Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie
+mir alles erzählen.
+</p>
+
+<p>
+Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren
+Brief nicht geantwortet hatte: wenigstens heute nicht.
+Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in der Ordnung.
+Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst
+kommen ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-5">
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+Die vierte Nacht.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Mein Gott, daß es so enden würde, so!
+</p>
+
+<p>
+Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte
+sie schon von weitem: sie stand wie damals, als
+ich sie zum ersten Male sah, damals, am Kai, und stützte
+sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich
+ihr näherte.
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine
+Erregung zu bezwingen.
+</p>
+
+<p>
+Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach
+mir um.
+</p>
+
+<p>
+„Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah sie verständnislos an.
+</p>
+
+<p>
+„Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den
+Brief gebracht?!“ Ihre Hand griff nach dem Geländer.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam.
+„Ist er denn noch nicht hier gewesen?“
+</p>
+
+<p>
+Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange
+starr an. Ich hatte ihre letzte Hoffnung vernichtet.
+</p>
+
+<p>
+„Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender
+Stimme und zuckenden Lippen. „Gott mit ihm, wenn
+er mich so verläßt ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+mir aufsehen, vermochte es aber nicht. Eine Weile
+stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann wandte
+sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das
+Geländer und brach in Tränen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte
+ich sie zu trösten, doch hatte ich beim Anblick ihres
+Kummers nicht mehr die Kraft, fortzufahren – und
+was sollte ich ihr denn auch sagen?
+</p>
+
+<p>
+„Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend,
+„reden Sie nicht von ihm, sagen Sie nicht, daß
+er noch kommen wird, und es nicht wahr sei, daß er
+mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam,
+wie er es getan! Und warum, warum? Sollte
+denn wirklich etwas Schlechtes in meinem Brief gewesen
+sein, in diesem unseligen Brief? ...“
+</p>
+
+<p>
+Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich
+glaubte, mein Herz müsse brechen vor Mitleid.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann
+sie wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens
+geantwortet hätte, geschrieben, daß er mich
+nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so – nicht
+eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen!
+Wie leicht es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses
+Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld nur
+darin besteht, ihn zu lieben! Oh, was ich in diesen drei
+Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott!
+Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten
+zu ihm gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt
+habe, geweint, daß ich ihn um ein wenig, nur
+ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein,
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre
+dunklen Augen sprühten – „es ist ja nicht möglich!
+Es <em>kann</em> doch nicht so sein! Das ist doch unmenschlich!
+Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie! Vielleicht
+hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht
+weiß er bis jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es
+doch nicht möglich, urteilen Sie doch selbst, sagen Sie
+mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich kann
+es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen
+so barbarisch roh behandeln, wie er mich behandelt hat!
+Kein einziges Wort auf meinen Brief! Selbst mit dem
+unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger um!
+Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt
+haben?“ wandte sie sich plötzlich an mich. „Wie?
+was meinen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen
+zu ihm gehen, in Ihrem Namen.“
+</p>
+
+<p>
+„Und?“
+</p>
+
+<p>
+„Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles
+erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann?“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie
+nicht nein, Nasstenka, sagen Sie nicht nein! Ich werde
+ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er soll
+alles erfahren, und wenn er ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort.
+„Lassen Sie es gut sein. Von mir wird er weiter kein
+Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn nicht mehr, ich
+liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ...
+ges ... sen ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprach nicht weiter.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen
+Sie sich hier auf die Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr
+zu und führte sie ein paar Schritte weiter, auf die
+Bank zu ...
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal
+so. Diese Tränen – die werden schon versiegen! Was
+glauben Sie denn – daß ich mich umbringen werde,
+mich etwa ertränken werde? ...“
+</p>
+
+<p>
+Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte
+sprechen, aber ich konnte nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine
+Hand. „Sagen Sie: Sie würden doch nicht so gehandelt
+haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen, das
+selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches
+dummes Herz nicht zu meistern verstand – mit einem
+Hohnlachen antworten? Sie würden sie doch sicherlich
+geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie
+allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und
+daß sie sich nicht in acht zu nehmen und vor der Liebe
+zu Ihnen zu bewahren verstand, und daß das Ganze
+nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ...
+O mein Gott! mein Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung
+noch langer zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern
+mich! Sie zerreißen mein Herz, Sie töten mich, Nasstenka!
+Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich
+sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem
+Herzen heraus muß.“
+</p>
+
+<p>
+Während ich das sagte, erhob ich mich von der
+Bank. Sie nahm meine Hand und sah mich verwundert
+an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich.
+</p>
+
+<p>
+„Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich
+entschlossen. „Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was
+ich Ihnen jetzt sagen werde, ist alles Unsinn, ist unmöglich
+und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals verwirklichen
+wird, aber ich kann nicht länger schweigen
+– bei allem, was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie
+und bitte ich Sie, mir im voraus zu verzeihen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon
+aufgehört, zu weinen, und sah mich unverwandt an.
+In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame Neugier.
+„Was haben Sie nur?!“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber
+ich – ich liebe Sie, Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist
+alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie, ob Sie so zu mir
+sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch,
+ob Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen
+will ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei?
+Ich weiß es doch schon lange, daß Sie mich lieben, es
+schien mir nur immer, daß Sie mich bloß – so ...
+einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt
+aber, jetzt! ... mit mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als
+Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu ihm gingen.
+Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka,
+denn er liebte damals niemand. Sie aber
+lieben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie
+nicht. Aber, hören Sie, warum denn das ... oder,
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ... Gott!
+Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre
+Wangen färbten sich purpurn und sie sah zu Boden.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich
+denn? Ich bin schuld, ich habe da irgend etwas mißbraucht
+... Oder nein! nein, Nasstenka, ich habe keine
+Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn
+mein Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann
+Sie doch damit nicht kränken oder gar beleidigen! Ich
+war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin ich Ihr
+Freund – ich habe nichts verraten und habe keine
+Treulosigkeit begangen. Da sehen Sie, da rollen mir
+die Tränen über die Wangen, Nasstenka. Mögen sie
+rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von selbst
+werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und
+sie wollte mich förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach,
+mein Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann
+jetzt nicht mehr lange bleiben und Sie werden mich
+auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen alles sagen –
+und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich
+Sie liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt
+und hätte nicht angefangen, Sie jetzt in dieser
+Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu quälen.
+Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten!
+Sie fingen an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie
+sind an allem schuld, ich aber bin unschuldig. Sie
+können mich nicht so von sich stoßen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort,
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+nein!“ beteuerte Nasstenka, und sie gab sich die größte
+Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von
+Ihnen fortlaufen. Ich werde auch fortgehen, nur muß
+ich vorher alles sagen, denn als Sie hier sprachen, als
+Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer
+Qual, und das, weil ... nun, weil – ich werde es
+aussprechen, Nasstenka –, weil man Sie verschmäht,
+da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für
+Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so
+bitter weh, daß ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen
+konnte, daß mir das Herz darüber schier brechen wollte,
+und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich mußte
+sprechen, Nasstenka, ich <em>mußte</em> sprechen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen
+Sie ruhig so zu mir!“ sagte Nasstenka plötzlich mit
+einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie vielleicht
+in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ...
+sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären.
+Ich werde Ihnen alles erzählen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach
+nur Mitleid mit mir, Kind! Nun! Was verloren ist,
+ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich nicht zurücknehmen.
+Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt
+alles. Dies wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so
+weit wäre alles erledigt, jetzt hören Sie weiter. Als
+Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir, –
+ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich
+dachte! – ich dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie
+... nun, mit einem Wort: daß Sie auf irgendeine
+Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch
+vorgestern schon – dann würde ich es unbedingt so
+gemacht haben, daß Sie mich liebgewonnen hätten.
+Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt, daß
+Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun
+weiter? Ja, das ist nun fast alles, was ich sagen
+wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was dann wäre,
+wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das!
+Also hören Sie, meine Freundin – denn meine Freundin
+sind Sie deshalb doch nach wie vor –: ich bin
+natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering,
+doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß
+nicht, ich rede immer von ganz anderen Dingen, aber
+das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –,
+nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß
+Sie, auch wenn Sie ihn, den ich nicht kenne, immer
+noch weiter lieben sollten, doch nie merken würden, daß
+meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden
+bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß
+neben Ihnen ein dankbares, oh, so dankbares Herz
+schlägt, ein heißes Herz, das für Sie ... Ach, Nasstenka,
+Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß
+Sie weinen!“ sagte Nasstenka und stand schnell von der
+Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie, weinen Sie nicht,
+so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem
+Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt.
+Ich werde Ihnen vielleicht etwas sagen ... Wenn er
+mich schon verlassen und vergessen hat, so ... obschon
+ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht verheimlichen
+und will Sie nicht täuschen – aber hören
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+Sie, und dann antworten Sie mir. Wenn ich zum
+Beispiel Sie liebgewönne, das heißt, wenn ich nur
+... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich
+bedenke, wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen
+getan haben muß, als ich Sie dafür lobte, daß Sie sich
+nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie konnte
+ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so
+dumm sein, wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich
+habe mich entschlossen, und ich werde Ihnen alles sagen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich
+werde jetzt fortgehen von Ihnen, das wird das beste
+sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da machen Sie
+sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig
+gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem
+Leid ... Ich bin natürlich schuld daran, Nasstenka,
+also – leben Sie wohl!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an:
+können Sie warten?“
+</p>
+
+<p>
+„Warten? Worauf warten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß
+vergehen, das kann gar nicht – nicht vergehen; es
+vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ... Wer weiß,
+vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich
+hasse ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat,
+während Sie hier mit mir geweint haben ... und Sie,
+Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie er es getan,
+denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt
+nicht geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich
+selbst liebe ... Ja, liebe! so liebe, wie Sie mich lieben.
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt, Sie
+haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie besser
+sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil
+... weil er ...“
+</p>
+
+<p>
+Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren
+Kopf an meine Schulter, beugte ihn aber immer mehr,
+bis er an meiner Brust lag: und dann begann sie bitterlich
+zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie, ich redete
+ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie
+drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen:
+„Warten Sie, warten Sie noch ein wenig. Es wird
+gleich vergehen ... ich höre ja schon auf ... Ich will
+Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese
+Tränen ... das ist nur so – von der Schwäche, warten
+Sie, bis es vergeht ...“
+</p>
+
+<p>
+Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf,
+wischte noch die letzten Tränenspuren von den Wangen
+und wir gingen. Ich wollte sprechen, aber sie bat mich
+immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken
+zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie
+sich zusammen und begann:
+</p>
+
+<p>
+„Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer
+Stimme, aus der aber plötzlich ein eigenes Gefühl
+klang und mein Herz so traf, daß es wie in einem
+süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich
+unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so
+schnell und leicht vergessen könne und untreu werde ...
+Ich habe ihn ein ganzes Jahr geliebt und ich schwöre
+bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit einem
+Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das
+mißachtet: er hat sich mit mir nur einen Scherz erlaubt
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+– Gott mit ihm! Aber es hat mich doch verletzt
+und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr,
+denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig,
+was mich versteht und was anständig ist; denn
+ich selbst bin so, er aber ist meiner unwürdig, – nun,
+noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als wenn
+ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also
+– jetzt hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter
+Freund,“ fuhr sie fort, indem sie mir die Hand drückte,
+„wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe nur eine
+Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann
+das alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses
+eintönige Leben führte und ewig an Großmutters Kleid
+angesteckt war? Vielleicht ist es mir bestimmt, einen
+ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit
+mir hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden
+wir nicht mehr davon,“ unterbrach sich Nasstenka stockend
+und atemlos vor Erregung, „ich wollte Ihnen nur
+sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl
+ich ihn liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir
+trotzdem sagen ... Ich meine, wenn Sie fühlen und
+glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die frühere
+aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie
+soviel Mitleid mit mir haben und mich jetzt nicht allein
+meinem Schicksal überlassen wollen, ohne Trost und
+Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben
+wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich
+Ihnen, daß meine Dankbarkeit ... daß meine Liebe
+Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen Sie daraufhin
+meine Hand nehmen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+erstickten meine Stimme. „Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug
+sein!“ sagte sie schnell, in augenscheinlicher Hast, und
+sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt ist alles gesagt,
+nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und
+ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort
+mehr davon sprechen! Warten Sie ... schnell, erbarmen
+Sie sich – sprechen Sie von irgend etwas anderem,
+um Gottes willen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt
+glücklich, ich ... Gut, Nasstenka, gut, sprechen wir
+von etwas anderem, schnell, schnell! ja! Ich bin bereit.“
+</p>
+
+<p>
+Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen
+sollten, wir lachten und weinten und sprachen tausend
+Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald gingen
+wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die
+Straße hinüber und blieben stehen, bald kehrten wir
+wieder um und gingen zum Kai: wir waren wie die
+Kinder ...
+</p>
+
+<p>
+„Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal,
+„aber ... Nun, ich bin, versteht sich, Sie wissen es ja,
+Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme jährlich nur tausendzweihundert
+Rubel, aber das macht ja nichts ...“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension,
+so braucht sie von uns nichts. Wir müssen doch Großmutter
+zu uns nehmen.“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns
+nehmen ... Aber meine Matrjona ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+„Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler
+hat sie: sie hat nämlich gar kein Vorstellungsvermögen,
+Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie begreift nur,
+was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet
+nichts ...“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich nicht, die können beide zusammen leben.
+Nur müssen Sie schon morgen zu uns kommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben
+noch ein Zimmer: das steht jetzt leer. Wir hatten eine
+Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige, aber sie ist ausgezogen
+und abgereist, und Großmama will nun, das
+weiß ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich
+fragte sie: ‚Warum denn gerade einen jungen Mann?‘
+Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser, man ist auch
+sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb
+nicht zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten
+will.‘ Da wußte ich denn, daß sie es gerade
+deshalb will ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Nasstenka! ...“
+</p>
+
+<p>
+Und wir lachten beide.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen
+Sie denn? Ich habe ganz vergessen, zu fragen.“
+</p>
+
+<p>
+„Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines
+gewissen Barannikoff.“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist so ein großes Haus, nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ein großes Haus.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur,
+wissen Sie, ziehen Sie aus und kommen Sie recht bald
+zu uns ...“
+</p>
+
+<p>
+„Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+dort wohl noch ein wenig für die Wohnung, aber das
+schadet nichts ... Ich bekomme bald mein Gehalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu
+verdienen; ich werde noch dazulernen, was mir fehlt,
+und dann kann ich Unterricht geben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich
+werde bald Zulage erhalten, Nasstenka ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter
+sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören
+den Barbier von Sevilla, denn der wird bald wieder
+gegeben werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder
+nein, lieber nicht zum Barbier von Sevilla, sondern
+wenn etwas anderes gegeben wird ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich,
+das wird auch viel besser sein, ich dachte im
+Augenblick nicht daran ...“
+</p>
+
+<p>
+Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein
+Rausch – als hielte uns ein Nebel umfangen und
+als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Bald
+blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf
+einem Fleck, bald gingen wir wieder und gingen Gott
+weiß wie weit, ohne es zu bemerken, immer unter Lachen
+und Weinen ... Bald wollte Nasstenka plötzlich
+unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten
+und wir machten uns schon auf den Weg;
+nach einer Viertelstunde aber bemerkten wir plötzlich,
+daß wir wieder auf unserer Bank am Kai angelangt
+waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen
+rollte über ihre Wange – ich sah sie erschrocken und
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+verzagt an ... Da drückte sie mir schon von neuem die
+Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter ...
+</p>
+
+<p>
+„Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß
+ich nach Hause gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“
+sagte Nasstenka endlich entschlossen, „wir dürfen nicht
+gar zu kindisch sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch
+nicht mehr. Ich gehe überhaupt nicht nach Hause.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber
+Sie müssen mich noch begleiten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören
+Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, diesmal nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich
+nach Hause gehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“
+sagte ich lachend ...
+</p>
+
+<p>
+„Nun, gehen wir!“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir.“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie
+hinauf! Morgen werden wir einen wundervollen Tag
+haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie nur
+den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich
+verdecken ... sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet
+am Rande vorüber ... Sehen Sie doch, sehen Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den
+Himmel – sie stand wie erstarrt neben mir und dann
+schmiegte sie sich plötzlich mit einer seltsamen Verzagtheit
+an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und ihre
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ...
+noch schwerer stützte sie sich auf mich.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick ging ein junger Mann an
+uns vorüber – er sah uns scharf an, zögerte, blieb
+stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein Herz
+erbebte ...
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist <em>er</em>!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd
+an meinen Arm. Ich hielt mich kaum auf den
+Füßen.
+</p>
+
+<p>
+„Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es
+da plötzlich hinter uns und zugleich trat der junge
+Mann wieder ein paar Schritte näher ...
+</p>
+
+<p>
+Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie
+zusammenfuhr! Wie sie sich von mir losriß und ihm
+entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm hinüber,
+stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand
+gereicht, kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen,
+da befreite sie sich schon von ihm und ehe ich mich dessen
+versah, stand sie wieder vor mir, umschlang mit beiden
+Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen
+Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen,
+lief sie zu ihm zurück, erfaßte seine Hände und
+zog ihn fort.
+</p>
+
+<p>
+Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren
+sie meinen Blicken entschwunden.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-6">
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+Der Morgen.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag
+war unfreundlich: es regnete und die Tropfen schlugen
+in eintöniger Wehmut an meine Fensterscheiben; im
+Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen,
+und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich
+schwindelte und das Fieber einer Erkältung schlich
+durch meine Glieder.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote
+hat ihn gebracht,“ sagte Matrjona.
+</p>
+
+<p>
+„Ein Brief! Von wem?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen
+Sie nach, vielleicht steht es drin, von wem er ist.“
+</p>
+
+<p>
+Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr.
+</p>
+
+<div class="letter">
+<p class="noindent">
+„Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb
+mir Nasstenka. „Auf den Knien bitte ich Sie, mir
+nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie mich selbst
+getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ...
+Der Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor
+Qual. Verzeihen Sie, oh, verzeihen Sie mir! ...
+</p>
+
+<p>
+Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für
+Sie empfand, empfinde ich auch jetzt noch: ich sagte
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich liebe Sie auch
+jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr,
+als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich
+lieben könnte! Oh, wenn Sie und er doch ein
+Mensch wären!
+</p>
+
+<p>
+Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun
+würde! Ich weiß, daß Sie nun schwer zu tragen haben
+und daß Sie traurig sind. Ich habe Sie gekränkt
+und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen
+doch – wenn man liebt, gedenkt man der Kränkung
+nicht lange. Sie aber lieben mich!
+</p>
+
+<p>
+Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese
+Liebe. Denn in meiner Erinnerung wird sie mich
+durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer Traum,
+den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen
+kann. Nein, nie werde ich vergessen, wie Sie mir
+so brüderlich Ihr Herz offenbarten und in Ihrer
+Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes, verwundetes
+annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu
+pflegen und wieder gesund zu machen ... Wenn
+Sie mir verzeihen, wird die Erinnerung an Sie sich
+verklären durch das Gefühl ewiger Dankbarkeit, die
+in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese
+Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen,
+denn mein Herz ist treu. Es ist auch gestern nur
+zu dem zurückgekehrt, dem es von jeher gehörte.
+</p>
+
+<p>
+Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu
+uns kommen, Sie werden uns nicht verlassen, werden
+ewig unser Freund sein und mein Bruder ...
+Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+mir Ihre Hand – ja? Sie werden Sie mir entgegenstrecken,
+wenn Sie mir verziehen haben, nicht
+wahr? Sie lieben mich doch unverändert?
+</p>
+
+<p>
+Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht,
+denn jetzt liebe ich Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe
+würdig sein will, weil ich sie verdienen will ...
+mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird
+unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt,
+er hat mich niemals vergessen ... Seien
+Sie nicht böse, daß ich von ihm geschrieben habe.
+Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie
+werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr?
+</p>
+
+<p>
+So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie
+mich nicht und behalten Sie lieb Ihre
+</p>
+
+<p class="sign">
+Nasstenka.“
+</p>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder,
+und Tränen traten mir in die Augen; schließlich entfiel
+er meiner Hand und ich vergrub mein Gesicht in
+den Händen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte
+ich nach einer Weile Matrjonas Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Was, Alte?“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall
+runtergeholt, können jetzt heiraten, wenn Sie wollen,
+können Gäste einladen, wenn’s Ihnen einfällt, mir
+soll’s recht sein ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch <em>junge</em>
+Alte, aber ich weiß nicht, weshalb ich sie plötzlich mit
+erloschenem Blick, mit tiefen Runzeln im Gesicht, alt
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich weiß
+nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein
+Zimmer um ebensoviel Jahre älter geworden sei wie
+sie. Die Farbe der Wände sah ich verblichen, an der
+Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich
+bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb
+es mir, als ich durch das Fenster hinausblickte,
+schien, als ob das Haus gegenüber gleichfalls gealtert
+sei, trübseliger und baufälliger geworden, die Stukkatur
+von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig
+und geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und
+schmutzig.
+</p>
+
+<p>
+Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der
+plötzlich durch die Wolken brach, um sich gleich wieder
+hinter einer noch dunkleren Regenwolke zu verstecken,
+so daß alles noch trüber, düsterer wurde ...
+Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut
+und etwas Ödes, Trauriges in ihr erblickt, etwa mich
+selbst, wie ich jetzt bin, nur um fünfzehn Jahre älter,
+in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben
+Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger
+geworden ist ...?
+</p>
+
+<p>
+Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein
+helles seliges Glück mit dunkeln Wolken trüben, dir
+Vorwürfe machen, damit dein Herz sich quäle und
+gräme und kummervoll poche, während es doch nichts
+soll als jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt
+der zarten Blüten, die du zur Trauung mit ihm in
+deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand berühren
+... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie!
+Möge dein Leben Glück sein und so hell und lieb, wie
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+dein süßes Lächeln, und sei gesegnet für den Augenblick
+der Seligkeit und des Glücks, den du einem anderen
+einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast!
+</p>
+
+<p>
+Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit!
+Ja, ist dann das nicht genug für ein ganzes
+Menschenleben? ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-5">
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+Das junge Weib
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-1">
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">O</span><span class="postfirstchar">rdynoff</span> mußte sich eine neue Wohnung suchen,
+so ungern er es auch tat. Die Frau, bei der er bis dahin
+als Zimmermieter gelebt, eine arme bejahrte Beamtenwitwe,
+hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse
+gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen,
+um in eine öde Provinz zu ihren Verwandten zu reisen,
+und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf ihres
+Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht
+hatte, bis zum Ersten des nächsten Monats in der
+Wohnung zu bleiben, dachte mit Bedauern an sein stilles
+Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand
+ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken,
+dieses ihm lieb gewordene Zimmer nun verlassen
+zu müssen. Er war arm, die Wohnung übrigens für
+seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn
+schon am Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen
+seine Mütze und ging, um die Petersburger
+Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu
+halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen
+waren, namentlich nach solchen an älteren
+und schlechteren Häusern und Mietskasernen, in denen
+er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen armen
+Leuten ein Zimmer für sich zu finden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken
+anfangs auch gewissenhaft bei der Sache, doch nach
+und nach wurde seine Aufmerksamkeit von ganz anderen,
+ihm bis dahin völlig unbekannten Empfindungen
+abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst
+nur flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas
+Bestimmtes dabei zu denken, bald jedoch aufmerksamer
+und schließlich mit ausgesprochener Neugier. Die vielen
+Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose,
+lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort
+begegnete, die ungewohnte Umgebung – dieses ganze
+kleinliche Leben und alltägliche Hasten nach Erwerb,
+das dem im tätigen Leben stehenden, stets beschäftigten
+Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein
+Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich
+einmal irgendwo in ein warmes Nest zurückzuziehen,
+sich mit sich abzufinden und zufrieden geben zu können
+– diese ganze schale Prosa und Langeweile erweckte
+jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe,
+helle Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten
+sich leicht, in seine Augen trat der Glanz einer
+neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die kalte,
+frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll
+leicht zumute.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames
+Leben geführt. Vor etwa drei Jahren, nachdem er sein
+Examen bestanden und in gewissem Sinne ein freier
+Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen
+alten kleinen Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur
+vom Hörensagen gekannt, und hatte lange gewartet,
+bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat,
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+ihn zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden.
+Dann trat Ordynoff in einen hohen, dämmerigen, öden
+Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie sie
+sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer
+Zeit erhalten haben, und erblickte in ihm einen
+silberhaarigen, mit Orden über und über behängten
+Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und Kollege
+im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den
+Sohn, die Vormundschaft übernommen hatte. Der
+Alte händigte ihm ein, was ihm noch zukam. Die
+Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen
+Schulden unter den Hammer gekommenen und noch von
+den Ureltern stammenden Erbschaft. Ordynoff nahm
+das Päckchen gleichgültig in Empfang, verabschiedete
+sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war
+ein Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war
+nachdenklich und eine seltsame, eigentlich ihm selbst
+unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine Augen
+brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich
+erkältet hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit
+seinen Mitteln etwa zwei bis drei Jahre auskommen
+konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar vier.
+Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder
+und erfüllte die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins
+Mark drang. Er mietete im ersten besten Hause ein
+kleines Zimmer – eben bei jener armen Beamtenwitwe,
+die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in
+einer Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte
+er dann wie ein Einsiedler, ganz, als hätte er sich von
+aller Welt losgesagt. So kam es, daß er in zwei Jahren
+vollkommen weltfremd geworden war.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig
+kam es ihm auch gar nicht zu Bewußtsein, daß es
+noch ein anderes Leben gab – ein rauschendes, lautes,
+wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben,
+eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen
+war. Natürlich wußte er, daß es ein solches
+Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht wissen
+sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals
+auf. Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt;
+doch jetzt, nachdem er herangewachsen, hatte diese
+Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt angenommen.
+Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen,
+unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines
+Menschen erschöpfen, und die solchen Wesen, wie
+Ordynoff war, keinen auch noch so geringen Platz in
+der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine
+Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte
+sie seine Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem
+berauschenden Gift den Schlaf und seine Seelenruhe,
+nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft,
+die niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube
+einzudringen: doch Ordynoff gewahrte alles das gar
+nicht in seinem Rausche, und wollte es auch nicht gewahren.
+Er war jung und vorläufig verlangte er nach
+nichts anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren
+Welt gegenüber völlig zum Kinde und für immer
+unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu veranlassen,
+wenn das einmal erforderlich sein sollte, um
+für sich selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen.
+Die Wissenschaft ist für manch einen ein Kapital,
+das er fest in Händen hat; die Leidenschaft Ordynoffs
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete
+Waffe.
+</p>
+
+<p>
+Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen,
+zu ergründen und Wissen in sich aufzunehmen, als
+daß es ganz bestimmte Gründe und Schlußfolgerungen
+waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es
+bei ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte,
+selbst mit den kleinsten Dingen. Schon als
+Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da er seinen
+Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern
+hatte er früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt
+nicht mehr; von den Kameraden aber mußte er wegen
+seines seltsamen menschenscheuen Wesens gar manche
+kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn
+dann erst recht menschenscheu und verschlossen machte.
+Doch seinen einsamen Beschäftigungen lag niemals,
+auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein System zugrunde:
+statt dessen leitete ihn einzig und allein die
+Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des
+Künstlers. Er schuf sich eine eigene Anschauung der
+Dinge; sie entwickelte und formte sich in ihm im Laufe
+von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich,
+vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon
+wundervoll beseligend, seine neue Idee, die in einer
+ebenso neuen, gleichsam erleuchtenden Form Gestalt gewinnen
+sollte; und indem sie in dieser Gestalt aus ihm
+hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele.
+Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre
+Selbständigkeit und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung
+der Wahrheit erschien: mit allen seinen Kräften
+spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte,
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+die sich vorerst freilich noch in ihm bildete,
+denn der Zeitpunkt der Gestaltung selbst war ja noch
+weit, vielleicht sehr weit entfernt, und vielleicht war
+diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich!
+</p>
+
+<p>
+Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder
+Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen
+Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten ist. Alles
+erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt,
+die hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd
+geworden, daß er nicht einmal daran dachte, sich über
+seine sonderbaren Empfindungen zu wundern. Es war
+vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar
+nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar
+eine ganz eigenartig berauschende Empfindung der
+Freude, ähnlich dem Gefühl, wie es ein Hungriger
+empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder
+zu essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich
+seltsam erscheinen muß, daß eine so geringfügige Änderung
+in der äußeren Lebenslage, wie ein Wohnungswechsel,
+einen Petersburger, und wäre er selbst ein
+Ordynoff, noch derart aus dem Geleise bringen konnte.
+Freilich ist zu berücksichtigen, daß er all diese Jahre
+hindurch fast nur in seinem Zimmer verbracht hatte,
+und jedenfalls niemals aus einem solchen oder ähnlichen
+Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit
+für die Umgebung erheischte, durch die Straßen
+der Stadt gegangen war.
+</p>
+
+<p>
+Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser
+Weise durch die Straßen zu schlendern. Alles sah
+er an, auf alles horchte er hin.
+</p>
+
+<p>
+Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+den Bildern, die sein Auge sah, wie in einem Buch
+zwischen den Zeilen. Alles machte seinen besonderen
+Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit
+denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an,
+schaute er sich hinein in die Physiognomie der ganzen
+Umgebung, horchte er auf das Gesumm und Gerede
+und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug,
+– ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der
+Stille einsamer Nächte gekommen war, jetzt an allem,
+worauf er stieß, auf ihre Richtigkeit hin prüfen wollen.
+Und manche Kleinigkeit, die andere sonst wohl
+übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen
+Gedanken, und zum erstenmal im Leben ärgerte er
+sich darüber, daß er sich so lange in seiner Zelle lebendig
+begraben hatte. Hier geschah alles viel schneller:
+sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der
+bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit
+fast schon mehr ein bloßes Reagieren auf den angespannten
+und begeisterten Willen zur Arbeit geworden
+war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und
+doch ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er
+fast unbewußt das Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen
+in dieses für ihn fremde Leben, das er bisher
+nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger gesagt,
+mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich
+begann sein Herz schneller zu schlagen, fast
+wie in einer Art Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens.
+Immer forschender sah er die Menschen
+an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber
+alle fremd und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken
+beschäftigt ... Da schwand allmählich auch
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat näher
+an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck,
+und dann kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche
+Grauen einer großen Ehrfurcht.
+</p>
+
+<p>
+Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden
+Flut der neuen Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig
+zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald erschöpft vom
+Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten
+bunten Bildern des rastlosen Lebens und den
+wechselnden Eindrücken die Augen schließt und niedersinkt.
+Bang und traurig ward ihm zumute. Er fing an,
+für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar
+für die Zukunft.
+</p>
+
+<p>
+Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam
+ihm plötzlich in den Sinn, daß er ja doch sein ganzes
+Leben lang allein gewesen war, daß es keinen einzigen
+Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals
+Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige
+der Vorübergehenden, mit denen er unter irgendeinen
+Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, sahen
+ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm,
+daß sie ihn für einen Verrückten oder zum mindesten
+für irgendeinen Sonderling hielten – was er ja übrigens
+auch war. Er erinnerte sich, daß ihm eigentlich
+schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und
+in seiner Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten,
+hauptsächlich wohl seines nachdenklichen und eigensinnigen
+Charakters wegen. Er wußte, daß das tiefe
+Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals
+ein Gefühl der seelischen Gleichheit zwischen ihm
+und den anderen, oder auch dem einzelnen, dem sein
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es
+von allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde:
+und das hatte ihn denn schon als Kind unter seinen
+Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es ihm wieder
+ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von
+jeher und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und
+daß man sich niemals um seine Einsamkeit gekümmert
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+In Gedanken versunken war er weitergegangen,
+ohne auf den Weg zu achten, bis er schließlich merkte,
+daß er sich in einem vom Zentrum weit entfernten
+Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren
+Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und
+machte sich dann wieder auf den Weg. Von neuem
+streifte er umher, ging durch viele Straßen, über Plätze,
+an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen
+graue windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte
+Gebäude großer Fabriken, rot, rauchgeschwärzt,
+unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die Umgebung
+rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde,
+düster und feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff
+diesen Eindruck. Es wurde Abend. Aus einer
+langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an dem
+eine Pfarrkirche lag.
+</p>
+
+<p>
+In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst
+war beendet und die Kirche schon ganz leer; nur
+zwei alte Weiber knieten noch nahe beim Eingang. Der
+Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem
+Haar, löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne
+ergossen sich von oben durch ein schmales Fenster
+der Kuppel in einem Lichtstrom durch das Innere
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit
+flimmerndem Glanz umwoben. Die Sonne sank und
+das Licht wurde immer schwächer, doch je mehr die
+tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um
+so leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten
+Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen
+der Wachskerzen und Öllämpchen zuckend brannten.
+Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung tiefer
+Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl
+plötzlich aus der Vergessenheit hervorbrach und
+ihn nun überflutete, in der dunkelsten Ecke an die
+Mauer gelehnt und vergaß dort für einen Augenblick
+sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen
+Schall von Schritten, die sich gemessen vom Eingang
+her näherten. Er sah auf und wandte den Kopf,
+kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen erblickt, da
+bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier.
+Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der
+Alte war hoch von Wuchs, noch stramm und rüstig,
+aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren nach
+konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten
+Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen,
+mit Pelz gefütterten Mantel lose über die Schultern
+geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück –
+darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten
+zugeknöpften russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten
+mit zur Nationaltracht gehörte. Um den Hals war
+nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In der
+Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler,
+halb schon ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter
+den überhängenden buschigen Brauen glühte ein
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+feuriger, fieberhaft erregter, dabei hochmütiger und
+scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig
+Jahre alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie
+trug einen hellblauen, mit kostbarem Fell verbrämten
+kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes Atlastuch,
+das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war.
+Sie ging mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit,
+die seltsam ergreifend aus ihrer ganzen Erscheinung
+sprach, spiegelte sich in den zarten Linien ihrer
+kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger
+Verklärung wieder. Es war etwas Sonderbares an
+diesem unerwarteten Paar.
+</p>
+
+<p>
+Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen
+und verneigte sich nach allen vier Seiten, obschon die
+Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin.
+Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie
+zum großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die
+Kirche geweiht war, und dessen mit Edelsteinen besetzte
+goldene Bekleidung und reiche Einfassung durch
+den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem
+Glanz erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch
+hier und da etwas zu schaffen machte, grüßte den Alten
+mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den Gruß jedoch
+nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde
+warf sich das junge Weib auf die Knie nieder
+und berührte mit der Stirn den Fußboden. Der Alte
+nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des
+Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann
+vernahm man dumpfes Schluchzen in der Kirche.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der
+Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, und erwartete
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+mit Ungeduld die Beendigung ihres Gebets. Nach
+einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller
+Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte
+zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt vor.
+Sie hatte ihre Hand bereits dem Alten gereicht
+und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen
+in ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider
+mit den langen dunklen Wimpern senkte, rollten diese
+Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen. Auf ihren
+Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte
+in ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen
+Angst und eines gleichsam mystischen Grauens.
+Zaghaft schmiegte sie sich an den Alten, und man sah,
+daß sie vor Erregung zitterte.
+</p>
+
+<p>
+Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt
+süßen Gefühl, das wie ein Wille war, dazu getrieben,
+ging Ordynoff den beiden nach – und unter
+dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte
+sah ihn feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm
+hin, jedoch so teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr
+anmerkte, wie ein einziger und ganz anderer, fernliegender
+Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte ihnen
+in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen,
+weshalb er es tat. Es war schon dunkel geworden.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte und das junge Weib gingen in eine
+lange, breite, schmutzige Straße, die geradeaus zur
+Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden, billigen
+Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten
+Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen
+sie in eine schmale lange Sackgasse ein, die zwischen
+langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen Mietskaserne
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+führte, durch deren Höfe man aber wieder auf
+eine andere, gleichfalls große und belebte Straße gelangen
+konnte. Sie näherten sich bereits dem Hause.
+Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick
+maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich
+folgte. Ordynoff blieb wie gebannt stehen; sein
+Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr sonderbar. Da
+sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle
+er sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung
+nicht verfehlt habe; dann traten sie beide, er und das
+junge Weib, durch die schmale Fußpforte in den Hof
+des Hauses. Ordynoff kehrte um.
+</p>
+
+<p>
+Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung
+und ärgerte sich über sich selbst: ganz umsonst hatte
+er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich ermüdet
+und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen
+Tag mit einer großen Dummheit gekrönt, indem er
+eine ganz gewöhnliche Begegnung für eine Gott weiß
+wie besondere Begebenheit gehalten!
+</p>
+
+<p>
+Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert,
+daß er so weltfremd und menschenscheu geworden war.
+Und doch war es nur sein Instinkt gewesen, der ihn
+veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem
+äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren
+Leben, das nun einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte
+zerstreuen, beeinflussen und erschüttern können. Jetzt
+wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer gewissen
+Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte
+ihn eine seltsame Traurigkeit und Sorge befiel ihn
+beim Gedanken an seinen künftigen Verbleib: wo er
+ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+wohl noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber
+verstimmte es ihn wieder am meisten, daß ihn solche
+Nichtigkeiten überhaupt so beschäftigen konnten. Ermüdet
+und unfähig, zwei Gedanken aneinanderzureihen,
+langte er endlich – es war mittlerweile schon
+ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung
+an, und erst als er ins Haus trat, kam es ihm
+plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast daran vorübergegangen
+wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen.
+Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er
+den Kopf, schrieb sie aber doch nur seiner Müdigkeit zu
+und trat, im letzten Stockwerk unter dem Dach angelangt,
+in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an,
+setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin.
+Da stand plötzlich wieder das Bild des weinenden
+jungen Weibes greifbar deutlich vor seiner
+Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der
+Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften
+und frommen Züge in sich aufgenommen und gab seine
+Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese Züge, aus denen
+mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut
+und hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich
+verdunkelten und gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte.
+Doch die Erscheinung zerrann. Dem Rausch
+folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich
+eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden,
+wickelte er sich in die Decke und warf sich auf sein
+hartes Lager ...
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich
+spät und in unruhiger und niedergedrückter Stimmung.
+Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an seine
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann
+wieder auf den Weg machte, schlug er die entgegengesetzte
+Richtung ein, um nur ja nicht den Weg zu
+gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand
+er bei einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der
+mit seiner Tochter Tinchen eine Giebelstube bewohnte,
+ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß entfernte sogleich,
+nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel,
+fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen
+er ganz ungestört zu leben wünschte, sehr,
+sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich seiner
+recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen
+Abend einziehen werde. Als das erledigt war,
+wollte er sich wieder nach Haus begeben, änderte aber
+unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen
+Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung
+besser, obschon er innerlich selbst über sich lächeln
+mußte. Der Weg erschien ihm diesmal in seiner Ungeduld
+ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter,
+als er gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der
+er am vergangenen Abend gewesen war. Es wurde
+gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen Platz,
+von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch
+die, die er suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem
+Antlitz verließ er nach langem vergeblichem Warten
+die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein gewisses
+ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich
+mit aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen
+zu lenken. Er wollte an ganz gewöhnliche Dinge denken,
+und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit zum
+Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+er in dasselbe Speisehaus, in dem er tags zuvor eine
+Kleinigkeit genossen hatte. Dann streifte er wieder umher,
+ging durch unbekannte, aber belebte Straßen und
+dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich
+schließlich in einer Gegend jenseits der Stadtgrenze
+fand, wo sich weit das herbstlich fahl gewordene Feld
+hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen,
+wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen,
+lange nicht mehr empfundenen Eindruck aus seiner
+Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es war ein
+trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger
+Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte
+zu sehen, und neben ihr zwei Heuschober. Ein kleines
+verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast
+zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden
+Lefzen, als dachte es über irgend etwas nach, abgeschirrt
+neben einer zweiräderigen Tarataika. Ein
+gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen
+Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu
+knurren, und ein etwa dreijähriger Bengel, der mit
+nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet war, kratzte
+sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert
+den einsamen Städter an. Hinter der Hütte
+dehnten sich Gemüseplätze und Felder aus. Am Horizont
+zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und
+drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen
+Seite aber zogen langsam trübe Schneewolken auf,
+die vereinzelte Wölkchen vor sich herschoben, als trieben
+sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos, ohne
+einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am
+Himmel vorüber. Es war so ruhig und gleichsam feierlich
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+schwermütig, alles erfüllt von einer verborgenen,
+atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging
+weiter und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur
+noch mehr. Er kehrte wieder um und ging zurück nach
+der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut, das zum
+Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte
+seine Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder
+die Kirche, die ihm seit dem gestrigen Tage so vertraut
+war.
+</p>
+
+<p>
+Die junge Unbekannte war schon da.
+</p>
+
+<p>
+Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen
+Betenden. Ordynoff drängte sich durch das eng
+beieinander stehende Volk, durch die Schar von Bettlern,
+alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln,
+die alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten,
+und kniete dicht neben ihr nieder. Seine Kleider
+berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen und
+das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder
+war ihr Antlitz von einem Gefühl hingebenden Glaubens
+durchgeistigt und wieder rannen Tränen aus
+ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen,
+als hätten sie ein furchtbares Verbrechen von
+ihrer Seele abzuwaschen. An der Stelle, wo sie beide
+knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin und
+wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten
+Heiligenbilde im Winde aufflackerte, der durch
+eine geöffnete Zugklappe des schmalen Fensters strich,
+huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und jeder
+Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen
+Mannes ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich
+unter unerträglicher Pein in sein Herz. Nur lag in
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine
+rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über
+seine Kraft. Er vermochte es nicht länger auszuhalten.
+Seine Brust erbebte vor Schmerz, und es war ihm, als
+verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem Sehnsuchtsweh
+– ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn
+plötzlich und er beugte seine heiße Stirn auf die kalten
+Fliesen der Kirche. Er fühlte nichts als den
+Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen
+zu wollen schien.
+</p>
+
+<p>
+Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs
+äußerste gesteigerte Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte:
+ob sie unaufhaltsam, wie sie durchbrach, auf das qualvoll
+bedrückende, erlösungslose Schweigen der langen
+schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge
+des oft durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter
+Drang, eine unklare Sehnsucht und das herrisch ungeduldige,
+ringende Streben seines Geistes ihm das Herz
+mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten,
+daß es nun an einem Punkt angelangt war, an dem
+es ihn unfehlbar zerrissen hätte, wenn es nicht eine Erlösung
+in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder war
+einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie
+alles einmal kommt, was im natürlichen Verlauf der
+Dinge kommen muß – wie an einem drückend schwülen
+Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und
+ein Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde
+niederrauscht, um alles, was in der Sonnenglut zu
+vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen, um
+in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen
+zu bleiben, das Gras niederzudrücken und die zarten
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf daß dann
+bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe,
+um wie befreit von neuem zur Sonne zu streben und
+sieghaft seinen köstlichen frischen Duft zum Himmel
+emporzusenden in der Freude über das erneute Leben.
+Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter
+die ganze Natur zu empfinden scheint, jedes
+Blatt, das noch feucht vom Regen glänzt, jeder Blütenkelch,
+der unter der Last der Tropfen sich geneigt
+hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet –
+dasselbe Gefühl hatte auch Ordynoff ... Nur hätte er
+selbst nicht zu sagen vermocht, was mit ihm geschah:
+so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt.
+</p>
+
+<p>
+Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst
+zu Ende ging, und kam erst zu sich, als er, seiner
+Unbekannten folgend, sich abermals durch die
+Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch
+das hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber
+hatte sie ihn dann, beim Stehenbleiben und Warten,
+zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich wachsender
+Verwunderung wieder und wieder nach ihm
+umgesehen, und plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten
+hellen Blick begegneten, war sie errötet –
+ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr
+die Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick
+aber tauchte auch schon die hohe Gestalt des Alten im
+Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie wortlos bei
+der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff
+mit einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck,
+daß Ordynoffs Herz plötzlich von einer ganz
+seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der Dunkelheit
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+verlor er sie bald aus den Augen: er drängte
+sich erschrocken weiter durch die Menge, machte sich
+rücksichtslos Platz und trat aus der Kirche. Die Abendluft
+berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht:
+sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und
+sein Herz begann langsam und stark zu schlagen, mit
+einer Wucht, als wolle es seine Brust zersprengen.
+Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben,
+da er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren
+weder auf der Straße noch in der Sackgasse zu sehen.
+Doch zugleich entstand in ihm bereits ein Gedanke,
+der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die
+zwar in der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu
+sein pflegen, deren Ausführung aber in solchen Fällen
+fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen davon,
+daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die
+Tat umgesetzt werden, vernünftigere dagegen sehr oft
+nur Pläne bleiben.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht
+Uhr zu jenem Hause, trat von der Gasse aus durch
+das Tor und befand sich auf einem schmalen, schmutzigen
+Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem
+Spaten hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich
+auf den Spatenstiel, musterte Ordynoff vom Kopf
+bis zu den Füßen und fragte schließlich, was er hier
+wünsche.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche
+von etwa fünfundzwanzig Jahren, dabei von eigentümlich
+altväterischem Aussehen, klein, mit runzligem Gesicht
+und von offenbar tatarischer Abstammung.
+</p>
+
+<p>
+„Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+„Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch
+und sah ihn mit einer Miene an, als wisse er bereits
+um sein ganzes Vorhaben.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will hier ein Zimmer mieten.“
+</p>
+
+<p>
+„Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar
+etwas rätselhaft.
+</p>
+
+<p>
+„Aber hier?“
+</p>
+
+<p>
+„Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder
+seiner Arbeit zu.
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins
+abtreten würde?“ fragte Ordynoff und drückte dem
+Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand.
+</p>
+
+<p>
+Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die
+Tasche und machte sich dann wieder etwas mit seinem
+Spaten zu schaffen – erst nach einigem Schweigen
+erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der
+junge Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits
+auf den halbverfaulten schwankenden Brettern,
+die über eine Pfütze führten, zum einzigen Eingang
+des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig
+war, wie das ganze Haus schmutzig aussah, und deren
+unterste Stufe in einer zweiten Pfütze halbwegs versank.
+Unten, neben dem Eingang, wohnte ein armer
+Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu
+fragen vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen
+Treppe hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk
+angelangt, fand er, mehr tastend als sehend, eine
+schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen gewesen
+war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig
+mehr als einzelne Stücke an ihr hafteten. Er drückte
+auf die Klinke und öffnete die Tür. Er hatte sich
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der
+Kirche gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung
+starr an.
+</p>
+
+<p>
+„Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher
+Stimme hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte
+Ordynoff, ohne eigentlich selbst zu wissen, was er sagte
+oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte er seine
+Unbekannte erblickt.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür
+zu schließen, um Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da
+plötzlich das junge Weib mit freundlicher Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte wandte sich nach ihr um.
+</p>
+
+<p>
+„Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“
+sagte Ordynoff, indem er schnell eintrat und sich an
+das junge Weib wandte.
+</p>
+
+<p>
+Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas
+Seltsames spielte sich plötzlich vor seinen Augen ab,
+eine stumme und doch beredte Szene. Der Alte war
+so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick
+ohnmächtig zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren,
+unbeweglichen, durchdringenden Blick das
+junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst, dann aber
+stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht
+und in ihren Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne
+ein weiteres Wort führte sie Ordynoff in das Nebenzimmer.
+</p>
+
+<p>
+Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen,
+allerdings recht großen Zimmer, das durch zwei
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem
+ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man
+vom Flur aus trat, führte geradeaus eine Tür offenbar
+in das Schlafzimmer. Rechts von dieser führte
+eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden
+sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der
+durch die Scheidewand gewissermaßen an die zwei niedrigen
+Fenster angedrückt erschien. Überdies war er
+noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die
+nun einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich
+und eng, aber doch nach Möglichkeit sauber. Die
+Einrichtung bestand aus einem einfachen ungestrichenen
+Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei
+Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere
+an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Ein großes
+altertümliches Heiligenbild mit einer vergoldeten
+Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett
+und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger
+russischer Ofen, an den sich die Scheidewand anschloß,
+stand zur Hälfte in diesem Zimmer, zur Hälfte im
+Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung,
+daß diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu
+eng war.
+</p>
+
+<p>
+Sie begannen, das Notwendige zu besprechen,
+sprachen aber so verwirrt und zusammenhanglos, daß
+sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der zwei
+Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen
+zu hören: er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend
+auch vor Angst zitterte. Schließlich verständigten
+sie sich doch irgendwie und die Sache ward abgeschlossen.
+Der junge Mann erklärte, daß er sogleich
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+einziehen wolle, und blickte sich unwillkürlich nach dem
+Alten um. Der war zwar immer noch bleich, aber auf
+seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar nachdenkliches
+Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er
+Ordynoffs Blick begegnete: sofort runzelte er wieder
+finster die Stirn.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter,
+rascher Stimme, indem er gleichzeitig schon die
+Tür zum Flur öffnete.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig
+machte.
+</p>
+
+<p>
+„Wer bist du?“
+</p>
+
+<p>
+„Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe
+ganz für mich,“ antwortete er, ebenso kurz angebunden,
+wie der Alte in seiner rauhen Art.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja
+Murin, Kleinbürger. Genügt dir das? – Gut, dann
+geh!“ ...
+</p>
+
+<p>
+Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen,
+eigentlich selbst nicht weniger darüber verwundert,
+als es Herr Spieß und seine Tochter Tinchen
+waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung
+kamen, daß der verschwundene Mieter sie nur
+habe betrügen wollen. Ordynoff freilich begriff selbst
+nicht, wie das alles so gekommen war, aber im Grunde
+wollte er es auch gar nicht begreifen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-2">
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen
+grüne Punkte tanzen sah, und hin und wieder erfaßte
+ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh. Mechanisch
+machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken,
+entnahm einem Bündel, das seine Wäsche
+enthielt, das Notwendigste, schloß den Bücherkasten
+auf und begann die Bände und Schriften auf dem
+Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese
+Arbeit seinen Händen. Was er tun mochte – immer
+wieder erschien vor ihm das Bild des jungen Weibes,
+das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren
+Banden gleichsam umkrampft hatte, – und
+so viel Glück war plötzlich in sein armes Leben geflutet,
+daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen
+und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht
+mehr wußte, was er wollte. Er nahm seinen Paß, um
+ihn dem Alten, dessen Mieter er nun geworden war,
+einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der
+Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür
+nur ein wenig, nahm den Paß in Empfang, nickte bloß
+und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die Tür wieder
+schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff.
+Es wurde ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer,
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+diesen Alten anzusehen. In seinem Blick lag stets so
+etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der unangenehme
+Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon
+den dritten Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich
+zu seinem früheren stillen Leben. Nur denken konnte
+er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor. Alles
+hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle
+Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen
+und von seinen Gedanken galt kein einziger mehr
+der ersten Hälfte. Er empfand nur den einen Trieb,
+nur die eine Erwartung ...
+</p>
+
+<p>
+Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten
+deuten sollte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Beim
+Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich ein kleines,
+vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so
+schmutzig und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit
+Widerwillen ansehen mochte. Dabei schien sie eine unglaublich
+böse Person zu sein. Das war die Dienstmagd.
+Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen
+hörte und ihren zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah,
+redete sie an, erhielt aber keine Antwort: es war, als
+schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam die Mittagsstunde.
+Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen
+– Kohlsuppe, Pasteten und Rindfleisch – und brachte
+es in das andere Zimmer. Dasselbe Essen brachte sie
+auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der
+Wohnung Totenstille ein.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für
+Satz und ganze Seiten, wobei er sich bemühte, den
+Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber selbst
+dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las.
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+Bald schon warf er das Buch beiseite und schickte sich
+an, seine Habseligkeiten noch weiter zu ordnen. Nur
+dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm er
+schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf
+die Straße. Ohne auf den Weg zu achten, ging er weiter
+und gab sich die größte Mühe, seine Gedanken zu
+sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage
+nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde
+ihm förmlich zu einer Qual – als müsse er sich selbst
+foltern. Offenbar hatte er sich erkältet: bald erfaßte
+ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber und
+zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen,
+daß er sich an eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber
+tot ... lieber tot sein,“ murmelten seine fieberheißen
+Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte. So irrte er
+noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich
+durch eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit
+zum erstenmal bemerkte, daß es ja in Strömen regnete.
+Da besann er sich und kehrte zurück. Kurz bevor er
+das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht, der ihn,
+wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier
+beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich
+wieder fortsetzte, als er sich bemerkt sah.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten.
+</p>
+
+<p>
+„Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“
+</p>
+
+<p>
+„Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar
+grinsend.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du schon lange hier Hausknecht?“
+</p>
+
+<p>
+„Das will ich meinen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete
+wohne, ist doch Kleinbürger?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+„Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Was treibt er denn eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+„Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter
+nichts.“
+</p>
+
+<p>
+„Ist das seine Frau?“
+</p>
+
+<p>
+„Welche Frau?“
+</p>
+
+<p>
+„Die bei ihm lebt?“
+</p>
+
+<p>
+„Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat.
+Leb wohl, Herr.“
+</p>
+
+<p>
+Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in
+seinen Schlupfwinkel unter dem Torbogen.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer.
+Die Alte öffnete ihm zaudernd die Tür, wobei
+sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte die Tür
+hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen,
+auf dem sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen
+schien. Es dunkelte bereits. Ordynoff wollte sich von
+seinen Wirtsleuten Streichhölzer holen, doch die Tür
+zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte
+an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen
+gestützt, vom Ofen herab ihn anglotzte, als
+dächte sie darüber nach, was er wohl dort an der verschlossenen
+Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie
+ihm eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt,
+nahm er wieder seine Bücher vor. Allmählich
+wurde ihm immer sonderbarer zumut und obschon
+er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte
+er sich auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen
+fühlte. Und dann war ihm, als schliefe er ein.
+Mehrmals kam er wieder zu sich und erriet – es war
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des
+Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war,
+sondern nur eine krankhafte, qualvolle Benommenheit.
+Einmal hörte er, wie an die Tür gepocht und wie die
+Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl die
+Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten.
+Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen
+gehen mußte, um etwas zu holen. Er erhob sich denn
+auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm, daß er
+sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und
+fiel auf einen Haufen Holz, den die Alte mitten im
+Zimmer hingeworfen hatte. Von da an wußte er nichts
+mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach langer,
+langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung,
+daß er noch auf derselben Lade lag, in den Kleidern,
+so wie er war, und daß ein berückend schönes
+junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte,
+mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick.
+Er fühlte, wie ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben
+wurde und wie man ihn mit etwas Warmem zudeckte,
+und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße
+Stirn legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen,
+sie an seine heißen trockenen Lippen führen, mit
+Tränen benetzen und küssen, eine ganze Ewigkeit lang
+küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das
+wußte er selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen
+in diesem Augenblick! Doch seine Arme waren
+schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es war
+ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb
+nicht sprechen, und daher fühlte er nur, wie sein Blut
+so durch alle Adern jagte, daß er glaubte, emporgehoben
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ...
+Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit.
+</p>
+
+<p>
+Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr.
+Die Sonne schien in goldenen Strahlenbündeln durch
+das grünliche billige Glas der Fensterscheiben. Ein
+wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des
+Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar
+glücklich. Er hatte die Empfindung, als sei jemand soeben
+an seinem Bette gewesen, ganz nah an seinem
+Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte
+er daran, sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen,
+um seinen neuen Freund zu entdecken und zum
+erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen,
+habe Dank, mein Guter!“
+</p>
+
+<p>
+„Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine
+Frauenstimme. Ordynoff sah sich um, jemand trat an
+sein Bett, und über ihn neigte sich mit einem freundlichen
+hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen
+Wirtin.
+</p>
+
+<p>
+„Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß
+es genug sein; wozu beraubst du dich der Freiheit!
+Die ist süßer als Brot, schöner als die liebe Sonne.
+Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft.
+Er glaubte, noch zu träumen.
+</p>
+
+<p>
+„Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee?
+Trink ihn, es wird dir davon besser werden. Ich bin
+selbst krank gewesen und weiß, wie das ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch
+matter Stimme und versuchte, aufzustehen, was ihm
+auch gelang. Er fühlte sich zwar noch recht schwach,
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ
+ihn erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein
+Gefühl, als werde er von den Sonnenstrahlen erwärmt
+und mit einer hellen, feiertäglichen Freude erfüllt. Er
+fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes
+Leben anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse
+ihn ein leichter Schwindel.
+</p>
+
+<p>
+„Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe
+ich mich verhört? Hat dich mein Herr nicht gestern so
+genannt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff,
+indem er sich ihr näherte, obschon er sich kaum auf
+den Füßen hielt. Plötzlich wankte er. Sie ergriff seine
+Hände und lachte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren
+strahlenden, blauen Augen an. Beide hielten sie sich
+an den Händen.
+</p>
+
+<p>
+„Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein
+Blick.
+</p>
+
+<p>
+„Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein
+Lieber, gräme dich nicht, sei nicht traurig – komm,
+setze dich hierher, hier scheint die Sonne, die wird dich
+erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht
+nach,“ fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann
+eine Bewegung machte, als wolle er sie zurückhalten
+– „ich werde gleich wieder bei dir sein, da wirst du
+mich sehen können, soviel du nur willst!“
+</p>
+
+<p>
+Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm
+den Tee, den sie auf den Tisch stellte, und setzte sich
+ihm gegenüber.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+„Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf
+noch?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff,
+„oder ich weiß nicht, vielleicht schmerzt er auch ...
+ich will nicht ... schon gut, schon gut! ... Ich weiß
+nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter Herzklopfen
+hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh
+nicht fort von mir, gib ... gib mir wieder deine
+Hand ... Vor meinen Augen dunkelt es ... In dir
+sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er jedes
+Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde
+er schon Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen
+konnte. Heiß stieg es in ihm auf und schnürte ihm die
+Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in
+einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud.
+</p>
+
+<p>
+„Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten
+Menschen gelebt? Bist ganz allein und einsam in der
+Welt? Hast du gar keine Verwandten?“
+</p>
+
+<p>
+„Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut
+das! Mir ist jetzt besser ... so ... wohl!“ Es war,
+als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um ihn zu
+drehen.
+</p>
+
+<p>
+„Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn
+... Du siehst mich so an ...“ sagte sie plötzlich
+nach minutenlangem Schweigen und stockte ...
+</p>
+
+<p>
+„Was ... wie denn?“
+</p>
+
+<p>
+„So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du,
+wenn man jemand so liebt ... Ich habe dich doch
+schon bei deinen ersten Worten in mein Herz geschlossen.
+Wenn du krank werden solltest, werde ich dich
+pflegen. Aber du darfst nicht wieder krank werden,
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+nein! Wenn du aber wieder ganz gesund bist,
+dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja?
+Willst du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden,
+wenn Gott einem keine Geschwister gegeben hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff
+mit matter Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht
+dich das an? Weißt du, die Leute erzählen, wie zwölf
+Brüder in einem dunklen Walde lebten und wie in dem
+Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam
+zu den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause,
+und säuberte alles, und was sie tat, tat sie mit Liebe.
+Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen sie, daß ein
+Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war,
+und sie riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben.
+Und da kam sie denn auch und blieb bei ihnen.
+Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen und
+ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an.
+Kennst du das Märchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise.
+</p>
+
+<p>
+„Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß
+du lebst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“
+phantasierte Ordynoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich,
+„ich würde doch auch den Tod nicht missen wollen. Ob
+es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben, und gute Menschen
+liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder
+bleich geworden ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, mich schwindelt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken,
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+und werde dir das Bett schön aufmachen. Dann wird
+dir von mir träumen und das Übel wird von dir weichen.
+Unsere Alte ist auch krank ...“
+</p>
+
+<p>
+Und schon während sie sprach, machte sie das Bett
+zurecht, wobei sie ab und zu über die Schulter nach
+Ordynoff hinüberblickte.
+</p>
+
+<p>
+„Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach
+beendeter Arbeit den Koffer ein wenig abrückte.
+</p>
+
+<p>
+Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm,
+stützte ihn mit dem rechten Arm und führte ihn zum
+Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte, um ihn
+dann zuzudecken.
+</p>
+
+<p>
+„Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr
+sie fort und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Liest du
+gern in Büchern?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber,
+ob er schlief oder wachte. Und wie um sich zu versichern,
+daß es kein Traum war, suchte er Katherinas
+Hand und preßte sie in der seinen.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb
+mit der Linken ein großes Format – „er sagt,
+es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus ihnen
+immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich
+dir erzählen, was er mir aus ihnen vorliest?“
+</p>
+
+<p>
+„Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von
+ihr losreißen zu können.
+</p>
+
+<p>
+„Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem
+Schweigen. „Weißt du was? – ich fürchte, ich fürchte
+immer ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte
+sie über irgend etwas nach.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen.
+</p>
+
+<p>
+„Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten
+leicht. Und dann lachte sie: „Ach nun, da! –
+küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin.
+Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine
+heiße Stirn, und plötzlich – streichelte sie ihn und
+dann glättete sie sein Haar, und dabei errötete sie immer
+mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett nieder
+und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte
+den feuchtwarmen Hauch ihres Atems ... Plötzlich
+fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über seine Wange
+rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken,
+wurde aber immer schwächer, immer schwächer ... er
+konnte kein Glied mehr rühren. Da stieß jemand an
+die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff hörte nur
+noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf
+fühlte er, wie Katherina sich erhob, übrigens ganz
+langsam, ohne jeden Schreck, fühlte, wie sie beim Weggehen
+das Zeichen des Kreuzes über ihm machte. Er
+lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer
+langer Kuß auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie
+ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte aufschreien, verlor
+aber die Besinnung ...
+</p>
+
+<p>
+Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand,
+ein Traumleben, wie es nur Krankheit und Fieber verursachen
+können. Es kamen Augenblicke, in denen es
+ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er
+verurteilt sei, in einem langen, endlosen Traum voll
+seltsamer Aufregungen, Kämpfe und Leiden zu leben.
+Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen dieses
+Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+des heißesten, verzweiflungsvollsten Kampfes
+fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere feindliche Kraft
+überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit
+jeder Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor
+und wie wieder undurchdringliches, bodenloses Dunkel
+sich vor ihm auftat, und er glaubte sogar selbst den
+Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit dem
+er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen
+wieder andere Augenblicke eines kaum zu ertragenden,
+überwältigenden Glücks, wie man es nur selten
+empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft
+im ganzen Menschen sich krankhaft steigert und der
+Mensch sich wie in einer höheren Sphäre befindet, wo
+alles Vergangene sich klärt und in allem Zusammenhang
+offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem
+Licht ein klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl
+auslöst und die unbekannte Zukunft wie ein
+Traum im Wachen vor einem liegt, und man nicht
+weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender
+Tau auf die Seele legt, und aufschreien möchte
+vor lauter Seligkeit, während man doch fühlt, wie
+schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der
+Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene
+zurückreicht, zerreißt und das neue Leben wie ein
+Leben nach einer Auferstehung vor uns erscheint ...
+Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine
+Art Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er
+in den letzten Tagen erlebt hatte, nochmals durchlebte
+und das Gesehene, verschwommenen Nebelbildern
+gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem
+geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+diesen Visionen alles ganz anders, seltsam und rätselhaft.
+Dann wieder vergaß er alles jüngst Geschehene
+und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner früheren
+Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es
+sich nicht erklären, warum die alte gute Frau zu seinem
+Ofen kam, in dem noch die letzten Kohlen glühten
+– er glaubte noch den schwachen, zitternden Widerschein
+der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen
+– und warum sie nicht, bevor sie die Ofentür
+schloß, ihre hageren alten Hände am Feuerschein
+wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter
+Leute Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem
+Blick nach ihrem sonderbaren Pensionär, den sie für
+mindestens „nicht ganz richtig“ hielt: von diesem ewigen
+Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte. Dann
+wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war,
+aus welchem Grunde konnte er sich freilich nicht mehr
+entsinnen, obschon sein ganzer Geist ausströmen wollte
+in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen, unbezähmbaren
+Drang ... Doch wohin, wozu es ihn
+drängte, was die Ursache solcher Qual war, und wer
+diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein Blut zu
+verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das
+wußte er wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf
+besinnen. Oft griff er gierig nach einem Schatten, oft
+glaubte er, leichte Schritte in seinem Zimmer zu vernehmen,
+Schritte, die sich seinem Lager näherten, und
+eine süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu
+hören; ihm war, als spüre er feuchtwarmen Atem wie
+einen Hauch über sein Gesicht gleiten, und ein herrliches
+Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten,
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen
+auf seine glühenden Wangen und plötzlich drückte sich
+weich und verlangend ein Kuß auf seine Lippen: da
+war es, als verginge sein Leben vor brennender unauslöschlicher
+Pein: es schien ihm, als stehe das ganze
+Sein, die ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte
+rings um ihn, und über alles sinke lange, tausendjährige
+Nacht ...
+</p>
+
+<p>
+Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals
+die sorglosen Jahre seiner ersten Kindheit, ja er glaubte
+sogar, das Landhaus zu sehen, in dem er geboren war,
+und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als
+kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen
+gepflückt hatte. Wenigstens glaubte er, alles dies zu
+sehen, – bis er plötzlich eine Gestalt auftauchen sah,
+deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen Entsetzen
+erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid
+und Qual und Tränen in sein Leben brachte. Es war
+ihm, als habe der fremde Alte sein ganzes zukünftiges
+Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines
+Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und
+der Alte folgte ihm überall hin: er lauerte hinter jedem
+Baum und Strauch hervor, nickte ihm grinsend zu und
+spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in
+jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf
+auf dem Halse seines Steckenpferdchens und wandte
+sich grinsend und Gesichter schneidend immer wieder
+nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen den
+Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder
+der Deckel eines seiner Bücher hob sich um Fingerbreite
+und aus dem Dunkel unter dem Deckel sahen ihn die
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so setzte
+sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte
+die süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang
+ein wundersames Märchen, von dem er zwar
+nichts verstand, so angestrengt er auch lauschen mochte,
+das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit
+Grauen und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft
+peinigte. Und der böse Alte erzählte flüsternd weiter,
+bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte und
+er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit
+einem Male, war es ihm, als erwache er, und wieder
+begann ein seltsames Zusammenspiel von halbem Bewußtsein
+und halbem Traum: er erwachte als erwachsener
+Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten
+ihn. Er wußte, wo er sich im Augenblick befand,
+wußte, daß er einsam und weltfremd war, einsam
+unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier
+begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen
+und in den dunklen Winkeln flüsterten und der alten
+Frau zunickten, die wieder am Ofen hockte und ihre
+hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen
+gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag.
+Er fühlte sich verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer
+diese Leute waren, was sie hier wollten und warum
+er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam
+es denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas
+wie eine Räuberhöhle geraten sei, verlockt durch irgendeine
+ihm bis dahin unbekannte, zwingende Macht, ohne
+sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine
+Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte
+ihn und sein Argwohn wuchs – und da begann wieder
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+in der nächtlichen Dunkelheit das flüsternd erzählte
+Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte
+es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die
+es, vor dem Ofen hockend, im zitternden Feuerschein
+der erlöschenden Glut leise, leise vor sich hinflüsterte,
+während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu
+nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm
+auf: das geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und
+noch weniger verstand, wurde zu Gestalten und Gesichtern,
+und er gewahrte mit Schrecken, daß alles, was
+er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken
+und Träume und was er in Büchern gelesen
+und vieles, was er schon längst vergessen hatte – daß
+alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften Gebilden
+sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte,
+umtanzte: vor seinen Augen taten sich Zaubergärten
+auf, er sah ganze Städte erstehen und wieder einstürzen,
+er sah unübersehbare Friedhöfe, deren Gräber sich
+auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die
+Leichen lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen,
+wachsen und vor seinen Augen aussterben, und
+er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß er
+ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer
+Form vor seinen Augen sich verwirklichen – sein Denken
+war nicht mehr rein geistige Vorstellung und Verbindung
+von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung
+ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von
+Wesen – und er sah sich selbst gleich einem Stäubchen
+getragen in diesem unendlichen unbegrenzten Weltall,
+aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an
+irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah,
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+wie dieses ganze Leben durch seine empörende Tyrannei
+ihn bedrückte und knechtete und mit ewiger, unendlicher
+Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und
+in Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf
+ewig starb; er wollte fliehen – aber es gab keinen
+Winkel im ganzen All, wo er sich hätte verbergen können.
+Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß
+alle seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen
+Schrei, wie ihm schien, und – erwachte.
+</p>
+
+<p>
+Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt.
+Im Zimmer herrschte Totenstille: es war tiefe
+Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer noch
+irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen
+wundersamen Märchens, als erzähle eine heisere Stimme
+etwas ihm scheinbar Bekanntes: von dunklen Wäldern
+und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen
+Häuptling einer Bande, ganz als wäre von Stenka
+Rasin selbst, dem Kosakenhelden, die Rede, und dann
+von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden,
+und von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen
+Wolga. War das nicht ein Märchen? Hörte er es
+nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er mit
+offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied
+zu rühren. Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten,
+und mit Freude merkte er, daß die grausame
+Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen hatte. Das
+Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann
+für ihn wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er
+noch so angekleidet war, wie während seines Gesprächs
+mit Katherina: es konnte folglich noch nicht gar so
+lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine
+Kraft. Wie er die dünne Scheidewand betastete, stieß
+seine Hand an einen großen Nagel, den man dort zu
+irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn
+und richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen
+den dünnen Brettern der Scheidewand entdeckte,
+durch die ein kaum bemerkbarer Lichtschein in sein Zimmer
+drang. Er legte das Auge an die Öffnung und
+hielt den Atem an.
+</p>
+
+<p>
+In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein
+Bett, davor ein Tisch, über den ein bucharischer Teppich
+gebreitet lag und der mit großen alten Büchern
+in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst
+welche heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In
+der Ecke hing ein ebenso altertümliches Heiligenbild
+wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor dem
+Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett
+lag Murin, mit einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet
+und krank und bleich wie ein Leintuch. Auf seinen
+Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am Bett
+saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen
+umschlang sie den Alten und schmiegte sich an seine
+Brust. Sie sah ihn mit aufmerksamen, kindlich verwunderten
+Augen an und schien mit unersättlicher Neugier
+fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu lauschen.
+Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers
+und dann trat Leben in sein blasses Gesicht:
+in seinen Augen blitzte es auf, er zog die Brauen zusammen,
+sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen
+vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt
+es wie ein Lächeln über das Antlitz des Alten, und
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich standen
+Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte
+zärtlich über ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind
+streichelt, und sie umschlang ihn fester mit ihren weißen
+Armen und schmiegte sich noch liebender an seine
+Brust.
+</p>
+
+<p>
+Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum,
+ja, er war sogar überzeugt davon. Dennoch stieg ihm
+das Blut zu Kopf und in den Schläfen hämmerte es
+schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ
+den Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise,
+wankend und tastend, wie ein Schlafwandelnder durch
+sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er tat, getrieben
+von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so
+näherte er sich der Tür zu dem Zimmer der anderen
+und stieß sie mit aller Kraft auf: der verrostete Riegel
+brach, die Tür flog auf und unter Lärm und Gepolter
+trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer
+seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt
+emporschnellte und wie die Augen des Alten unter
+den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten und
+wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte.
+Er sah, wie der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden,
+mit irrender Hand nach der Flinte tastete, die
+an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte,
+die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf
+seine Brust richtete – ein Schuß tönte, und gleich
+darauf ein wilder, fast unmenschlicher Schrei ...
+</p>
+
+<p>
+Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff
+ein entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich
+über den Alten. Murin lag in Krämpfen auf der
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht,
+in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen
+war, völlig entstellt. Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen
+ein schwerer Anfall betroffen hatte. Zusammen
+mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm
+zu helfen ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-3">
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+III.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei
+dem Kranken. Am anderen Tage ging Ordynoff trotz
+der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit schon
+frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den
+Hausknecht. Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem
+und blickte ihn neugierig an, schien sich aber plötzlich
+zu besinnen und machte sich an seinem Besen etwas
+zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff
+hinüber, der sich langsam näherte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte
+ihn Ordynoff.
+</p>
+
+<p>
+„Hab’ wohl gehört.“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“
+</p>
+
+<p>
+„Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht
+meine Sache.“
+</p>
+
+<p>
+„Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“
+rief Ordynoff wütend in einer krankhaften Gereiztheit,
+die ihm an sich selbst ganz neu war.
+</p>
+
+<p>
+„Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine
+eigene Schuld – hast Menschen erschreckt. Unten
+wohnt der Sargmacher, der hört sonstig nichts, aber
+heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem
+anderen Hof, was schon weit genug ist, hat man’s
+auch gehört – da siehst du! Ich werde auf die Polizei
+gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und
+wandte sich zur Pforte.
+</p>
+
+<p>
+„Meinetwegen – hast selber gemietet ...
+Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah sich um; der Hausknecht
+berührte höflich die Mütze.
+</p>
+
+<p>
+„Nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“
+</p>
+
+<p>
+„Und?“
+</p>
+
+<p>
+„Zieh lieber aus.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte
+sich von neuem zum Gehen.
+</p>
+
+<p>
+„Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte
+wieder die Mütze und grinste halb verlegen:
+„Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein Herz
+fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch –
+das ist Sünde. Gott sagt auch, das soll man nicht –
+weißt doch selber!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun
+sage mir: wer ist er?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer er ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sag’ auch ohne Geld.“
+</p>
+
+<p>
+Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-,
+zweimal, sah dann wieder auf und blickte Ordynoff
+mit wichtiger Miene musternd an.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+Menschen leben, dann nicht, ganz nach deinem Belieben.
+Da hast du gehört, was ich meine.“
+</p>
+
+<p>
+Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller
+an, schien aber, als er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte,
+gekränkt zu sein und machte sich wieder mit
+seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er
+die Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller
+Miene Ordynoff, machte eine eigentümliche Geste, deren
+Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls unverständlich
+blieb, und flüsterte:
+</p>
+
+<p>
+„Er ist – verstehst du!“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Verstand ist fort.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso?“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“
+fuhr er in noch geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist
+krank. Er hatte eine Barke, solche große, weißt du, und
+noch eine und noch eine dritte und vierte, die fuhren
+alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und
+dann hatte er noch eine Fabrik und die brannte nieder
+und so kam denn das!“
+</p>
+
+<p>
+„Er ist also verrückt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er
+ist ein kluger Kopf. Alles weiß er, viele Bücher hat er
+gelesen und dann anderen die Wahrheit gesagt! So
+– kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel,
+wie gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch
+auf und sagt dir alles, so und so, die ganze Wahrheit!
+Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld – kein
+Wort!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der
+Taktik Murins.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“
+</p>
+
+<p>
+„M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung
+wichtig mit dem Kopf. „Immer was wahr ist! Er betet
+zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! – kommt
+so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner
+rätselhaften Geste hinzu.
+</p>
+
+<p>
+In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof
+nach dem Hausknecht und gleich darauf erschien ein
+kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz. Er ging
+hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen
+grauen spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden
+Schritten vorsichtig und langsam über den Hof, als
+fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man konnte
+glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener
+Greis.
+</p>
+
+<p>
+„Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig
+der Tatar, nickte Ordynoff flüchtig zu und lief, die
+Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig zu dem Alten,
+dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens
+mußte er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein.
+Er überlegte noch, daß das schließlich nicht weiter erstaunlich
+war, und verließ den Hof. Der Hausknecht
+aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen
+wollen!“ dachte er. „Gott weiß, was noch dahintersteckt.“
+</p>
+
+<p>
+Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke
+lenkten ihn bald von den unangenehmen Gedanken ab.
+Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht angenehmer
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite
+ein wenig. Er fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer
+durchrieselten. Es war ihm, als beginne die Erde unter
+ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine bekannte
+Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem
+Tone einen guten Morgen wünschte.
+</p>
+
+<p>
+„Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff.
+</p>
+
+<p>
+Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger
+Herr von etwa – dem Aussehen nach – dreißig
+Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein, das
+ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet –
+nun, wie ein Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und
+mit diesem Lächeln streckte er ihm verbindlich die Hand
+entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem Jahre seine
+Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast
+auf der Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen
+vom Zufall, in erster Linie beigetragen, war die
+besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit berühmten
+und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten,
+mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens
+vielversprechenden Talenten bekannt zu sein.
+Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr süßliche
+Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung,
+selbst mit den aufrichtigsten Freunden, einen
+ungewöhnlich selbstsicheren, jovialen und sonoren Ton
+zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes hatte
+– ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen
+Überlegenheit von vornherein zu disponieren
+gewohnt, und zwar gleich in einer Weise, als dulde
+er überhaupt keinen Widerspruch.
+</p>
+
+<p>
+„Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+rief Jaroslaw Iljitsch mit dem lebhaftesten
+Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte Wiedersehen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wohne hier.“
+</p>
+
+<p>
+„Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs
+klang sogleich um einen Ton oder ein paar
+Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß
+daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und
+ich hab’s nicht mal gewußt! Dann bin ich ja so
+gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier,
+sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin
+ich aus dem Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt.
+Na, es freut mich, daß ich Sie doch mal eingefangen
+habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte
+sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er,
+plötzlich sich zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung.
+„Erwarte mich bei Tarassoff, aber daß sie dort
+ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem Olssufjeffschen
+Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm,
+daß er sich sofort nach dem Geschäft begeben soll. In
+einer Stunde bin ich da ...“
+</p>
+
+<p>
+Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen,
+faßte er gut gelaunt Ordynoff unter den Arm
+und führte ihn zum nächsten Gasthaus.
+</p>
+
+<p>
+„So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns
+nach der langen Trennung gemütlich ein paar Worte
+miteinander reden. Nun, sagen Sie zunächst, wie steht
+es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast ehrfürchtig
+und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender
+eingeweihter Freund es tut.
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders,
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+als früher,“ antwortete Ordynoff etwas zerstreut,
+da er gerade einem ganz anderen Gedanken
+nachhing.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch,
+sehen Sie, so etwas erkenne ich an! Das nenne ich,
+sein Leben einer höheren Idee weihen!“ Hier drückte
+Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott
+gebe Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel!
+bin ich froh, daß ich Sie getroffen habe! Doch mal
+ein andrer Mensch, als so der tagtägliche Durchschnitt!
+Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen
+gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer,
+geistreicher Wassilij Michailowitsch!“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer
+für sich und seinen Gast, bestellte einen Imbiß,
+Schnäpse, und was so dazu gehört.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er
+mit einschmeichelndem Blick und in bescheidenem Tone
+fort. „Zunächst einmal den ganzen Puschkin ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff sah ihn zerstreut an.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die
+Schilderung der menschlichen Leidenschaft ist allerdings
+ganz bewundernswert bei ihm. Doch zunächst erlauben
+Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie haben
+so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung
+einer richtigen Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung,
+sozusagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich
+liebe es nun einmal, jedem Gerechtigkeit widerfahren
+zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß wenigstens
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit –
+in mir nicht eingeschlummert ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst
+ungerecht, und ich wüßte wirklich nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach
+Jaroslaw Iljitsch mit ungewöhnlichem Eifer.
+„Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen? Nicht
+wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Gott ...“
+</p>
+
+<p>
+„O ja ...“
+</p>
+
+<p>
+Kurzes Schweigen folgte.
+</p>
+
+<p>
+„Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich
+eine Menge schlechter Beziehungen aufgegeben,
+und damit auch, versteht sich, viele schlechte Gewohnheiten,“
+hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch
+wieder in demselben Tone an. „In meiner freien Zeit
+nach dem Dienst sitze ich jetzt größtenteils zu Hause,
+lese abends irgendein nützliches Buch und ... ich
+habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch,
+meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel
+eben in meinen Kräften steht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig
+sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem
+immer Balsam auf die Wunden, mein edler junger
+Freund!“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die
+Hand und dankte mit einem kräftigen Druck.
+</p>
+
+<p>
+„Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich
+seine Erregung etwas gelegt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann nicht, ich bin krank.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+„Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in
+der Tat? Schon lange? – und wie, wo haben Sie sich
+denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort –
+– welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich
+meinen Arzt benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin.
+Er ist überaus geschickt, glauben Sie mir!“
+</p>
+
+<p>
+Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem
+Hut greifen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt
+nicht behandeln und liebe Ärzte nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so!
+Wirklich: er ist überaus geschickt!“ beteuerte Jaroslaw
+Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch – nein, das muß
+ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade
+bei ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich
+habe mir hier,‘ sagt er, ‚die Hand mit meinem Werkzeug
+beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir
+meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch
+sah, daß dem Armen der Brand drohte und
+traf sofort seine Vorbereitungen zur Amputation. Er
+amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so,
+sage ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in
+einer so entzückenden Weise, daß es, ich muß gestehen
+– wenn nicht das Mitleid mit dem leidenden Menschen
+es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen
+gewesen wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft
+halber. Aber, wie gesagt, wann und wo haben
+Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“
+</p>
+
+<p>
+„Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich
+bin soeben erst aufgestanden.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus.
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Sie hätten eigentlich nicht gleich so hinausgehen sollen.
+Also dann leben Sie nicht mehr dort, wo Sie
+früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen
+veranlaßt?“
+</p>
+
+<p>
+„Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“
+</p>
+
+<p>
+„Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch
+eine gute alte Frau! Sie wissen doch? – ich empfand
+für sie wirklich fast so etwas wie – Sohnesgefühle.
+Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten
+in ihrem halb schon begrabenen Leben. Und
+wenn man sie so ansah, schien es einem fast, als habe
+man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig vor
+sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben
+so eine gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich
+sagen will! ...“ schloß Jaroslaw Iljitsch etwas konfus
+und errötete vor Verlegenheit allmählich bis über
+die Ohren.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, sie war eine gute alte Frau.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich
+denn jetzt eingemietet?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir
+sind sogar sehr gut miteinander bekannt, kann ich sagen,
+– wirklich, ein netter alter Mann!“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm,
+von diesem netten alten Mann reden und von sich sagen
+zu können, daß er mit ihm gut bekannt sei. Er bestellte
+noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+„Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“
+</p>
+
+<p>
+„Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann,
+groß von Wuchs ...“
+</p>
+
+<p>
+„Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem
+hinteren Hof, über dem Sargmacher?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist
+Ihnen noch nichts Besonderes aufgefallen?“
+</p>
+
+<p>
+„In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja
+überzeugt, daß Sie es bei ihm gut haben werden,
+wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ... Ich
+meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will
+ich vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren
+Charakter kenne ... Ja, wie finden Sie denn eigentlich
+den Alten?“
+</p>
+
+<p>
+„Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst
+nichts ...? so was, hm ... Besonderes an ihm bemerkt?
+Haben Sie mit ihm gesprochen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und
+wohl auch boshaft zu sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach.
+</p>
+
+<p>
+„Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich
+nach längerem Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Er?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich
+seltsamer und ungewöhnlicher Mensch. Übrigens,
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+wenn er Sie sonst nicht belästigt ... Verzeihen Sie,
+daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt
+habe, aber es interessiert mich gewissermaßen
+selbst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt
+... Ich würde jetzt sehr gern Näheres über ihn
+erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und
+das. Man sagt, der Mensch sei früher sehr reich gewesen.
+Er war Kaufmann, wie Sie wahrscheinlich bereits
+gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei
+Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren
+mehrere seiner großen Wolgabarken zerschellt und mit
+der ganzen Fracht untergegangen. Ferner hat er eine
+große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht
+irre, einem Verwandten anvertraut war, und diese
+Fabrik brannte nieder, wobei der Verwandte in
+den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich
+ein schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können.
+So soll denn auch Murin, wie man erzählt, nach
+der Katastrophe in einer solchen Stimmung gewesen
+sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann.
+Und in der Tat hat er sich auch im Streit mit
+einem anderen Kaufmann, einem gleichfalls reichen
+Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich
+den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können,
+als eben mit einer gewissen Geistesstörung, was
+ich denn auch gelten lassen will. Ich habe noch manches
+andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls
+sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen,
+– etwas, wofür es eigentlich keine Erklärung
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach als Schicksal
+auffaßt.“
+</p>
+
+<p>
+„Und das war?“ forschte Ordynoff.
+</p>
+
+<p>
+„Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick
+des Wahnsinns, einen jungen Kaufmann, den er
+bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe. Nach
+begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen,
+sei er darüber so verzweifelt gewesen,
+daß er sich das Leben habe nehmen wollen. Wenigstens
+erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen
+ist, das weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß
+er nämlich während der ganzen folgenden Jahre Buße
+getan hat ... Aber was ist mit Ihnen, Wassilij Michailowitsch?
+– strengt meine Erzählung Sie an?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen,
+er habe Buße getan, aber vielleicht nicht er allein?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm
+niemand in diese Angelegenheit verwickelt gewesen.
+Übrigens habe ich nichts Näheres darüber gehört. Ich
+weiß nur ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich
+nichts Besonderes hinzuzufügen ... ich will nur sagen,
+wenn Ihnen mal etwas Außergewöhnliches auffallen
+sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß das einfach
+die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind,
+die ihn einer nach dem anderen betroffen haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht
+ist er nur scheinheilig?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+„Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er
+hat so viel gelitten. Mir scheint er vielmehr ein Mensch
+mit reinem Herzen zu sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den
+Eindruck macht er wenigstens nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er
+ist jetzt zweifellos wieder im vollen Besitz aller seiner
+Verstandeskräfte. Nur daß er, wie Sie ganz richtig bemerkten,
+sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich
+wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar
+ein sehr kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ...
+und ist, wissen Sie, überhaupt ein findiger Kopf. Seinem
+Gesicht sieht man übrigens auch jetzt noch sein
+stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine
+Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer
+Mensch, und ungeheuer belesen!“
+</p>
+
+<p>
+„Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, er ist Mystiker.“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt.
+Ich will Ihnen auch noch verraten – aber als Geheimnis,
+das zwischen uns bleiben muß –, daß er
+eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser
+Mensch hatte nämlich einen großen Einfluß auf alle,
+die zu ihm kamen.“
+</p>
+
+<p>
+„Inwiefern das?“
+</p>
+
+<p>
+„Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen
+Sie, damals lebte er noch nicht in diesem Stadtviertel.
+Er hatte schon einen gewissen Ruf, und eines Tages
+fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger,
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+ein angesehener, allgemein geachteter Mann –
+fuhr also eines Tages mit einem Leutnant zu ihm, natürlich
+nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden
+empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie
+an. Er begann wie gewöhnlich damit, daß er sich die
+Gesichter der Leute genau und prüfend ansah, ehe er
+dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt
+einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus,
+und zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen
+Weise. Er fragte also auch diese, was sie
+wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm
+darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis
+von selbst sagen. ‚Dann bitte, ins andere
+Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an denjenigen
+wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn
+hatte. Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar
+nicht, was er dort im anderen Zimmer gehört oder erlebt
+hat – als er aber wieder herausgekommen ist, da
+soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß
+man auch von einer Dame der Petersburger Gesellschaft
+zu berichten: auch sie soll ihn kreideweiß und in
+Tränen aufgelöst verlassen haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht
+mehr damit?“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt
+es noch andere Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel,
+der Sproß und die Hoffnung einer vornehmen
+Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu lächeln.
+‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich
+der Alte geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen
+wirst du das sein!‘ Und dabei kreuzte er seine
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen im
+Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, und?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man
+sagt, die Prophezeiung sei tatsächlich eingetroffen. Er
+hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch ... Sie beliebten
+zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung.
+Ich weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft,
+weit voraus. Aber ich glaube nun einmal an ihn. Er
+ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch Puschkin
+etwas Ähnliches in seinen Werken.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber,
+Sie sagten, glaube ich, daß er nicht allein lebe?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube,
+seine Tochter lebt bei ihm.“
+</p>
+
+<p>
+„Seine Tochter?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich
+weiß nur, daß es irgendein Frauenzimmer ist. Hab’ sie
+nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht weiter beachtet.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Sonderbar ...“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw
+Iljitsch dagegen in angenehme Beschaulichkeit. Das
+Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn erfreut und fast
+gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst zufrieden,
+da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können.
+Er saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu.
+Plötzlich sprang er erschrocken auf.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen
+und ich denke nicht mal daran! Bester, teuerster
+Wassilij Michailowitsch, ich danke dem Schicksal,
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt
+muß ich eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem
+Gelehrtenheim aufzusuchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen.
+Vielleicht spreche ich auch einmal bei Ihnen vor, wenn
+ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit
+würden Sie mich unendlich erfreuen! Sie glauben
+nicht, wie sehr es mich ehren würde!“
+</p>
+
+<p>
+Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die
+Straße hinaustraten, stürzte ihnen Ssergejeff entgegen
+und meldete, daß William Jemeljanowitsch sogleich
+vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich
+ein Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen
+im Hintergrunde der Straße. Jaroslaw Iljitsch
+drückte die Hand seines „besten“ Freundes, ganz als
+gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte
+dem Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er
+sich unterwegs noch zweimal nach Ordynoff umsah
+und ihm zum Abschied wiederholt zunickte.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen
+Gliedern, daß er kaum die Füße zu bewegen vermochte.
+Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An der Pforte
+traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam
+seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet
+hatte und nun sehr zuvorkommend tat. Doch
+Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In der
+Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen,
+die gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung
+trat.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+„Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte
+das Kerlchen, indem es entsetzt zur Seite sprang.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“
+</p>
+
+<p>
+„N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit
+... O Herrgott, Herrgott!“
+</p>
+
+<p>
+Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich
+räuspernd und fromme Sprüche flüsternd, mit äußerster
+Vorsicht die Treppe hinunter. Es war das der
+Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so
+überaus dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte
+sich Ordynoff, daß er dieses gebrechliche Männlein bei
+Murin bereits an dem Tage gesehen hatte, als er einzog.
+</p>
+
+<p>
+Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven
+erschüttert und überreizt hatten; wußte auch, daß seine
+Phantasie und Empfindsamkeit aufs äußerste erregt
+waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem
+selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in
+einen Zustand völliger Regungslosigkeit, der ihn wie
+ein Gefühl bleierner Schwere gefangen hielt und seine
+Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte, unter der
+sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine
+ganze Seele war voll von lautlosen, unversiegbaren
+Tränen ...
+</p>
+
+<p>
+Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht
+hatte, und begann von neuem zu lauschen.
+Deutlich unterschied er das Atmen zweier Menschen
+im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft,
+ungleichmäßig, das andere sanft, oft gar nicht
+vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie von innerer
+Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+dem gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft.
+Hin und wieder hörte er ihre leisen, weichen Schritte
+und das Geräusch ihrer Kleider, und jede Bewegung
+ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen,
+qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es
+ihm, als höre er ein leises Schluchzen und dann ein
+inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß sie vor dem Heiligenbilde
+auf den Knien lag und in Verzweiflung die
+Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie?
+Welch eine verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte
+ihr Herz? Weshalb quälte es sich und grämte es
+sich und ergoß es sich in so heißen und hoffnungslosen
+Tränen?
+</p>
+
+<p>
+Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich
+ins Gedächtnis zurückzurufen, jedes Wort, das noch
+wie Musik in seinen Ohren klang, und auf jede Erinnerung,
+auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig
+wiederholte, antwortete sein Herz mit einem
+dumpfen schweren Schlage ... Einen Augenblick schien
+es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch in
+demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes
+Wesen bis ins Mark, daß er zu vergehen glaubte vor
+Schmerz und Sehnsucht, als er in der Erinnerung nun
+wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren
+glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen
+und verlor sich in seligen Gefühlen. Irgendwo
+schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung sank.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über
+ihn und sehe ihn an mit ihren wundersamen, klaren
+Augen, die feucht schimmerten von glänzenden Tränen
+und einem hellen Glück, so still und rein, wie der hohe
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und
+aus ihrem Antlitz sprach eine so feierliche Stille und
+ihr Lächeln war eine solche Verheißung von unendlicher
+Seligkeit, war so voll Mitleid und Barmherzigkeit,
+und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung
+schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein
+Stöhnen sich seiner entkräfteten Brust entrang vor lauter
+Glück. Es war, als wolle sie ihm etwas sagen, etwas
+ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer
+Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig
+atmete er die Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte
+und gleichsam mit einer elektrischen Spannung
+für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die Arme aus,
+schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie
+stand vor ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem
+großen Schreck, am ganzen Körper vor Aufregung zitternd.
+Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und rang
+die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie
+sank zitternd an seine Brust ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-4">
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+IV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte
+Ordynoff, plötzlich erwacht, sie immer noch in starker
+und heißer Umarmung an sich pressend. „Was fehlt dir,
+Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“
+</p>
+
+<p>
+Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht
+an seiner Brust. Lange Zeit vermochte sie nichts zu
+sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte, wie nach einem
+großen Schreck.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie
+endlich kaum vernehmbar hervor, als stehe ihr das
+Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht, wie ich zu
+dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch
+fester an ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften
+Gefühl küßte sie seine Schulter, seinen Arm,
+seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte sie
+die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als
+aber Ordynoff sie in einem unsagbaren Gefühl von
+Beklemmung emporhob und sie neben sich niedersetzen
+ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen baten
+wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre
+Lippen zwang, verriet, daß sie kaum zu versuchen
+wagte, die unbezwingbare Macht der neuen Empfindung
+zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken:
+mißtrauisch schob sie ihn mit der Hand zurück,
+sah ihn kaum mehr an und antwortete gesenkten
+Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden
+Fragen. –
+</p>
+
+<p>
+„Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt?
+Oder ist dir sonst etwas Böses zugestoßen? Sag doch!
+Oder hat er dich erschreckt? ... Er fiebert und phantasiert
+... Vielleicht hat er im Fieber etwas gesprochen,
+was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast
+etwas Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein
+Traum?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete
+Katherina, mit Mühe ihre Aufregung niederringend.
+„Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur einmal
+rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief
+ihn – ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich
+nicht und wachte nicht auf. Er ist sehr schwer krank,
+möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich wieder
+der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete,
+betete! Und da, sieh, da kam das über mich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb,
+sei ruhig! Wir haben dich gestern erschreckt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ...
+</p>
+
+<p>
+„Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher
+schon geschehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und
+schmiegte sich wieder wie ein geängstigtes Kind an ihn.
+„Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir gekommen,“
+sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar
+drückte sie ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+es mir so schwer, allein zu sein! Also nicht mehr weinen,
+weine auch du nicht, wozu solltest du um fremdes
+Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage,
+wenn es dir in der Einsamkeit schwer wird und du keinen
+Menschen bei dir hast! ... Höre, hattest du eine
+Geliebte?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... vor dir – keine ...“
+</p>
+
+<p>
+„Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“
+</p>
+
+<p>
+Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an,
+wollte etwas sagen, schwieg aber und senkte den Blick.
+Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das plötzlich wie
+in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die
+vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine
+Frage schien auf ihren Lippen zu schweben. Mit verschämter
+Schelmerei blickte sie ein-, zweimal zu ihm
+auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte
+sie, und „nein, nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit
+leisem Kopfschütteln, und allmählich erschien wieder
+ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein, mein Lieber,“
+fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte
+sein!“
+</p>
+
+<p>
+Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel
+Weh aus ihrem Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer,
+und so überraschend brach aus ihrem Innersten Verzweiflung
+hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches
+krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten
+Leid erfaßte: und er sah sie an, wie einer, dessen
+Mitleid ihm selbst zur noch größeren Qual wird.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit
+einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt, und sie nahm
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+seine Hände und drückte sie, wie um aufsteigende Tränen
+zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es
+nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und
+liebe mich nicht so, wie du mich jetzt liebst. Es wird dir
+dann leichter sein, du wirst dich vor einem argen Feinde
+bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich
+werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen
+und es mir doch nicht zur Schande werden lassen,
+daß ich dich kennen gelernt habe. War ich doch
+auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber
+hattest! Nimm mich als Schwester! Wir sind doch
+nicht umsonst einander gut und nicht umsonst hab’ ich
+unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet! Eine
+andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen
+Erdenrund, durchsuche den Himmel – nein, glaube
+mir, du wirst keine zweite finden, die dir eine solche
+Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um was
+dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben,
+werde dich ewig so lieben wie jetzt, und werde dich
+deshalb lieben, weil deine Seele so rein ist, so hell, so
+... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil ich,
+als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß
+du meines Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter
+Gast, und uns nicht ohne Grund um Aufnahme
+batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen lieben,
+wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden.
+Und wenn sie etwas sagen, dann weiß ich gleich
+alles, was in dir ist, und dafür möchte man dann das
+Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen, möchte
+alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist
+süß, desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+hat ... Aber <em>mein</em> Leben, das gehört ja nicht
+mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der Wille ist
+gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein
+Bruder und hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder
+das Schlimme mich anficht. Nur sorge du selbst, daß
+ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen
+und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst
+du mich? Hat auch dein Herz es gehört? Hast du auch
+alles verstanden, was ich dir sagte? ...“ Sie wollte
+noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte die
+Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe
+sie alle Kraft, aufschluchzend sank sie an seine
+Brust und in einem Weinkrampf tobte ihre Leidenschaft
+sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte wie
+in Glut.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung
+die Augen umflorte und den Atem benahm.
+„Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen,
+was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen,
+zitternd vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen
+Zauber zu zerstören, den ganzen Sinnenrausch, und
+damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war
+und was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit
+hielt: so entrückt fühlte er sich! „Ich weiß nicht,
+ich verstehe dich nicht, ich habe vergessen, was du mir
+sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur das
+Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ...
+</p>
+
+<p>
+Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie
+schmiegte sich immer fester, immer wärmer, glühender
+an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig, sich
+noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit,
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+sank er in die Knie vor ihr. Eine Erschütterung
+wie ein Schluchzen brach endlich schmerzhaft aus seiner
+Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen Körper
+– und von der Fülle der noch nie empfundenen
+Verzückung bebte seine Stimme, die tief aus seinem
+Innersten hervordrang, wie der Ton einer Saite, die
+man in Schwingung gebracht.
+</p>
+
+<p>
+„Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du?
+Aus welchem Himmel bist du zu mir herabgestiegen? Es
+ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch nicht glauben,
+daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich
+sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe
+schon lange einmal sprechen wollen ... wer bist du,
+meine Freude, sag? Wie hast du mein Herz gefunden?
+Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester? ...
+Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl
+mir, wo hast du früher gelebt, was hast du dort geliebt?
+Erzähle mir alles, ich will alles von dir wissen!
+Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie
+bei uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor
+mir geliebt? Zu wem hat dich zuerst dein Herz gedrängt?
+... Hast du deine Mutter gekannt und hat
+sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du
+wie ich unter Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist
+du immer so gewesen? Erzähl mir von deinen Träumen
+und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung
+gegangen ist und was nicht – erzähle mir alles! ...
+Wer war der erste, den dein Mädchenherz liebgewann
+und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir, was
+soll <em>ich</em> dafür geben, was muß <em>ich</em> dir geben ... für
+– dich?! ... Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+Schwesterchen, sag mir, womit kann ich mir dein Herz
+verdienen?“
+</p>
+
+<p>
+Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in
+ihren Schoß. Als er aber aufblickte, überlief es ihn vor
+Schreck: Katherina saß totenblaß und regungslos auf
+dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über
+ihn hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in
+stummem, unsagbarem Schmerz. Langsam erhob sie
+sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel vor dem
+alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche
+Worte entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie
+schien ohnmächtig zu werden. Ordynoff hob sie auf,
+trug sie auf sein Bett und stand in atemloser Angst
+über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen
+auf, bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu
+stützen, sah sich mit irrem Blick im Zimmer um, sah zu
+ihm auf und tastete nach seiner Hand. Sie zog ihn
+näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie
+etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich
+brach sie in einen Strom von Tränen aus.
+</p>
+
+<p>
+Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen
+zerriß dieselben und erstickte ihre Stimme. Als sie
+dann wieder den Kopf hob, sah sie mit solch einer
+Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand,
+sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus
+ihrem Munde zu verlieren. Endlich hörte er sie deutlich
+flüstern:
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich
+bin verloren!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung
+an. Ein gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+ihn. Und Katherina sah dieses plötzliche schmerzliche
+Zusammenzucken seines Gesichtes.
+</p>
+
+<p>
+„Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser
+Mensch hat mich verführt, – <em>er</em>, <em>er</em> ist mein Verderber!
+... Ich habe ihm meine Seele verkauft ... Warum,
+oh, warum hast du von der Mutter gesprochen!
+Wozu brauchtest du mich daran zu erinnern: Gott
+möge dir ... möge dir verzeihen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz
+schlug so todesweh, daß er vor Schmerz hätte aufschreien
+mögen.
+</p>
+
+<p>
+„Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem
+Atem, „er sagt, wenn er stirbt, wird er
+kommen und meine sündige Seele holen ... Ich gehöre
+ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ...
+Und jetzt quält er mich und liest mir aus seinen Büchern
+vor ... Dort, sieh, das ist sein Buch! Dort! Er
+sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh, da
+liegt sein Buch, sieh ...“
+</p>
+
+<p>
+Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band.
+Ordynoff hatte nicht bemerkt, wie der in sein Zimmer
+geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es war eines
+von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten
+Büchern der Altgläubigen, wie er sie früher einmal
+gelegentlich gesehen hatte. Doch war er unfähig, seine
+Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken.
+</p>
+
+<p>
+Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu.
+</p>
+
+<p>
+„Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich
+geängstigt und erschreckt ... ich bin ja bei dir ...
+Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb, mein Licht!“
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+wieder seine Hände. „Ich bin ja immer so! ... Immer
+fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle mich
+nicht, quäle mich nicht! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile
+fort. „Manchmal bespricht er mich einfach mit seinen
+eigenen Worten, ein anderes Mal nimmt er sein Buch,
+das größte, und liest mir vor – liest so drohende und
+strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich
+verstehe auch nicht jedes Wort, aber mich überkommt
+dann solch eine Angst, und wenn ich auf seine Stimme
+horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er, sondern
+ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts
+erweicht und der so unerbittlich ist, daß es mir das
+Herz zermalmt und die Qual noch größer wird, als
+zu Anfang mein Gram war!“
+</p>
+
+<p>
+„Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“
+sagte Ordynoff, ohne sich dessen recht bewußt zu sein,
+was er sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich –
+ich weiß es nicht ... Er aber sagt mir immer: bete,
+bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler Nacht auf und
+bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der
+Schlaf, aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder,
+und dann kommt es mir vor, daß ringsum ein
+dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes droht,
+daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden,
+daß ich keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag
+und mich niemand vor dem Furchtbaren retten kann.
+Meine Seele will sich selbst verzehren, und es ist, als
+wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ...
+Dann fange ich wieder an, zu beten, und bete und
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+bete, bis die Gottesmutter liebevoller auf mich herabschaut.
+Dann erst stehe ich auf und gehe halbtot wieder
+zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor
+dem Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor,
+daß er erwacht und mich ruft ... und dann liebkost
+und tröstet und beruhigt er mich ... und dann wird
+mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein
+Unglück auch noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht
+mehr. Er ist mächtig! Groß ist sein Wort!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ...
+fragte Ordynoff zitternd, mit Verzweiflung im Herzen.
+</p>
+
+<p>
+Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum
+Tode Verurteilte an, der man die letzte Hoffnung auf
+Gnade nimmt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin,
+meine Mutter hat mich verflucht! Ich habe
+meine eigene Mutter umgebracht!“ ...
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte
+sie sich an ihn. Er fühlte, wie ein Zittern ihren Körper
+durchlief, als wolle sich ihre Seele diesem Körper
+entringen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“
+sagte sie, ganz beherrscht von der Erinnerung und
+ihrer Aufregung – und sie schien das unwiderruflich
+Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen
+Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es
+schon lange sagen, aber er verbot es mir immer, bald
+mit Bitten, bald mit Vorwürfen und zornigen Worten.
+Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran
+zu erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher.
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+Mir aber kommt alles das – so auch heute
+nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ...
+Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her,
+ich weiß nicht einmal mehr, wann es war, und doch
+steht es vor mir, als wäre es gestern gewesen, wie ein
+Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein
+Herz bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch
+einmal so lang. Setze dich, setze dich hierher, ich werde
+dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche mich, die
+ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes
+Leben anvertrauen ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am
+Sprechen verhindern, doch sie faltete die Hände, wie
+um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch Gehör
+zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung
+fort. Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft,
+ihre Stimme verriet den Sturm, der in ihrer
+Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles,
+denn ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben
+geworden, ihr Leid auch sein Leid. Er glaubte wieder
+seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind wuchs vor
+ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer,
+und es war ihm, als presse er mit ungeheurer
+Kraft sein Herz zusammen und spotte obendrein mit
+höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut begann
+zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken
+und brachte sie in Verwirrung. Da war es ihm denn,
+als stehe der boshafte Alte aus seinem Traum plötzlich
+auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig
+vor ihm.
+</p>
+
+<p>
+„Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina,
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+„nur viel dunkler und grausiger, und der Wind
+heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie gehört
+hatte ... begann schon in jener Nacht mein
+Verderben? ... Die Eiche vor unseren Fenstern
+brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der immer zu
+uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann
+– erzählte, daß er sich dieser Eiche noch aus seiner
+Kindheit erinnere: damals sei sie schon ebenso groß
+gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In derselben
+Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen
+noch! – wurden Vaters Barken auf dem Fluß von
+diesem Sturm zertrümmert, und als die Fischer zu
+uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik –
+da fuhr der Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er
+krank war. Wir blieben allein, Mutter und ich. Wir
+saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber
+war so traurig und weinte still ... und ich wußte,
+warum sie weinte. Sie war erst vor kurzem vom
+Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und
+sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ...
+Plötzlich, um Mitternacht, höre ich: jemand klopft
+draußen an die Pforte. Ich sprang auf, alles Blut
+strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor
+Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete
+mich, aber ich nahm die Laterne und ging selbst hinaus,
+um zu öffnen ... Das war er! Mir wurde
+bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam,
+und das schon von Kindheit an, soweit meine Erinnerung
+zurückreicht, seitdem ich überhaupt denken kann!
+Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart
+war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+dahin hatte er mich noch kein einziges Mal freundlich
+angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter zu Hause?‘
+Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht
+zu Hause sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und
+plötzlich sah er mich an, so an ... zum ersten Male
+sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er
+aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘
+– ‚Ich überlege,‘ sagte er. Langsam folgte er
+mir – als wir aber eintraten, fragte er plötzlich
+leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu
+Hause sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich
+schwieg ... Die Mutter erstarrte, als sie ihn sah –
+und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber schenkte
+ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz
+naß und durchfroren – woher er kam und wo er
+sich aufhielt, das haben Mutter und ich nie gewußt.
+Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen
+nicht gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den
+Tisch, die Fausthandschuhe streifte er ab – neigte
+sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot keinen
+Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans
+Feuer ...“
+</p>
+
+<p>
+Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke
+und quäle sie etwas, doch schon bald erhob sie
+ihn wieder und fuhr fort:
+</p>
+
+<p>
+„Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen.
+Ich verstand kein Wort. Früher hatte man mich
+immer fortgeschickt, wenn er kam; damals aber wagte
+die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu
+sagen. Der Böse kaufte meine Seele, ich aber sah
+die Mutter an, als wäre ich stolz darauf. Ich merkte,
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen.
+Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr
+– in der letzten Zeit hatte ich schon mehrmals seine
+Hand nach dem Dolch, den er vorn im Gürtel trug,
+greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich
+stand auf und griff nach seinem Gürtel, um ihm
+den Dolch zu entreißen. Er aber knirschte vor Wut
+und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die
+Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe
+ich auf der Stelle; es wurde mir dunkel vor den
+Augen und ich brach lautlos zusammen, aber ich
+schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast die
+Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm
+und den Ärmel an der Hand aufstreifte, mit der er
+mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch aus der
+Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab,
+die Hand, räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du
+Stolze, werde mich dafür tief bis zur Erde vor dir
+verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein Herz
+begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach
+ihm hin. Ich weiß noch, ich lächelte, sagte aber kein
+Wort und sah nur der Mutter in die traurigen Augen,
+und sah sie zornig an, während zugleich ein
+schlechtes Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die
+Mutter saß ganz bleich und totenstill ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem
+Wort ihrer Erzählung. Doch allmählich legte sich
+ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger. Die Erinnerung
+überwältigte das arme junge Weib und löste
+ihren Gram in ein Gefühl auf, das weit hinaus über
+das ganze uferlose Meer ihrer Sinne reichte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+„Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich
+nahm wieder die Laterne, um ihn hinauszugeleiten, indem
+ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie noch
+krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben
+wollte. Wir kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm,
+verscheuchte die Hunde, schwieg aber. Er blieb stehen
+und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich
+mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie
+er die Hand in den Mantel schiebt und aus der Brusttasche
+ein kleines, mit rotem Saffianleder überzogenes
+Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe hin: es
+sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘
+sagte er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich
+zum Gruß diese Perlen bringen, doch nun habe ich
+sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes Mädchen,
+schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit
+dem Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie,
+aber zertreten wollte ich sie nicht – das wäre zuviel
+Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch und sagte
+kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte
+sie vor der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie
+genommen! Sie schwieg lange Zeit und war wie ein
+Handtuch so bleich, und, es war, als hatte sie Furcht,
+mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘
+fragte sie endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat
+es der Kaufmann gebracht, mehr weiß ich davon nicht.‘
+Und ich sah, wie ihr die Tränen über die Wangen
+herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde.
+‚Nicht mir, böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß
+noch, so weh sprach sie die Worte, so weh, als sei ihre
+ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf – ich wollte
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen
+sagte ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab:
+‚Nun, wenn nicht dir, dann wohl dem Vater. Wenn er
+zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm sagen,
+daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen
+haben ...‘ Da brach sie in Tränen aus und weinte
+bitterlich ... ‚Das werde ich selbst tun, werde dem
+Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach
+was für einer Ware sie fragten ... Ich werde es
+ihm schon sagen, wessen Tochter du bist, du Gottlose!
+Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist eine
+arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘
+Ich schwieg und keine Träne trat mir ins Auge ...
+Ach! es war alles wie erstorben in mir ... Ich ging
+hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht
+horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem
+Sturm, das fühlte ich, immer lauschend, entstanden
+in mir meine Gedanken.
+</p>
+
+<p>
+„Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend
+der Vater heim, düster und böse, denn unterwegs
+hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich
+sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet
+ich, daß der Feind seinen Weg gekreuzt hatte.
+Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und ich
+wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ...
+Mit der Mutter sprach er kein Wort, nach mir fragte
+er nicht, die Leute ließ er alle zusammenrufen und befahl,
+die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus vor
+Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem
+Hause etwas nicht gut war. So wachten wir
+denn. Die Nacht verging langsam, wieder stürmte es
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung
+geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein
+Gesicht glühte, meine Augen weinten und mein Herz
+konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in
+mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem
+drückenden Zimmer, und weit weg, bis ans Ende der
+Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo das
+Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte
+und zitterte ... plötzlich, es war schon spät – ich
+erwachte wie aus leichtem Schlummer ... oder hatte
+sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt?
+– plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht
+wird: ‚Mach auf!‘ – und ich sehe, ein Mensch ist
+an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte sogleich,
+wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ
+ihn in mein einsames Zimmer. Das war <em>er</em>! Die
+Mütze nahm er nicht ab, setzte sich auf die Truhe, und
+sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von Verfolgern
+hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte,
+daß ich bleich war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte
+er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter auch?‘ – ‚Auch die
+Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen still
+... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ –
+‚Ein Pfeifen unter dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du
+jetzt, schönes Mädchen, den Feind um seinen Kopf
+bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem
+Verderben preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge
+ich mich: was du willst, das geschehe! Hier hast du
+einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir befiehlt,
+für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg.
+– ‚Nun? Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich will? Von meiner
+alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen,
+einer jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen,
+meine Seele verpfänden ...‘ Ich lachte auf. Ich weiß
+selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz berühren
+konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach
+unten gehen, mein Herz prüfen und dem Vater und
+der Mutter meinen Gruß entbieten,‘ sagte er und
+stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne aufeinanderschlugen,
+und ich mein Herz wie glühendes Eisen
+in der Brust fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die
+Tür. Doch wie er schon über die Schwelle trat, nahm
+ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor:
+‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht
+wieder, mir Geschenke zu bringen!‘ – und ich warf
+ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“
+</p>
+
+<p>
+Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie
+wechselte, wie schon oft während ihrer Erzählung, wieder
+die Farbe: ihre blauen Augen waren dunkel und
+glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von
+neuem und ihre Stimme senkte sich und bebte wie in
+verhaltener Trauer.
+</p>
+
+<p>
+„Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir,
+als habe mich ein Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre
+ich rufen, schreien, höre wie über den Hof die Leute
+laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich
+nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen;
+ich selbst blieb allein mit der Mutter. Ich wußte, daß
+sie mit dem Tode rang, seit drei Tagen lag sie schon
+im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte
+es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer,
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+nur ein ganz schwacher, leiser Schrei, der so
+klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es im Traum erschrickt,
+und dann war wieder alles still ... Ich löschte
+das Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit,
+ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, ich fürchtete
+mich, mich umzusehen. Dann drang plötzlich wieder
+Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der
+Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich
+weit zum Fenster hinaus – und ich sah: da brachten
+sie den Vater, tot, und ich hörte noch, wie man sagte:
+‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade
+in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen
+haben!‘ Ich sank auf mein Bett; kein Glied
+rührte sich, aber ich wartete, doch wußte ich selbst
+nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar
+war diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß.
+Ich weiß nur, daß ich schließlich ein Gefühl hatte, als
+drehe sich alles rund um mich. Im Kopf empfand ich einen
+dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die
+Augen. Und es freute mich, daß mir das Ende nahte.
+Da berührte plötzlich jemand meine Schultern und hob
+mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so gut ich
+sehen konnte: <em>er</em> war es – und ganz versengt waren
+seine Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch
+und rochen nach Rauch.
+</p>
+
+<p>
+„‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes
+Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe du mich aus dem Verderben,
+wie du mich ins Verderben hineingeführt hast.
+Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein
+aber kann ich für die Sünde dieser verwünschten Nacht
+nicht Vergebung erflehen – es sei denn, daß wir zwei
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der
+Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von
+hier fortkommt, ohne gesehen zu werden!‘ Ich nahm
+ihn bei der Hand und führte ihn. Wir stiegen die
+Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich
+schloß die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel
+trug ich bei mir – und wies auf das Fenster. Dort
+lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich auf seinen
+starken Arm und schwang sich mit mir aus dem
+Fenster. Hand in Hand liefen wir weiter, lange liefen
+wir. Dann stand endlich der dichte dunkle Wald vor
+uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns,
+Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes
+Mädchen, aber nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt,
+unser Leben zu lassen! Küsse mich, schönes
+Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ –
+‚Wovon sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind
+meine Hände blutig, mein Lieb? Ich habe eure Hunde
+gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten Gast.
+Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem
+Waldweg meines Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel
+zerrissen und war aus dem Stall gelaufen: es hatte
+nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes
+Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘
+Ich schwieg. ‚Oder willst du nicht? Ich bin doch kein
+Unchrist, kein böser Geist, da sieh, ich bekreuzige mich,
+wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das Kreuz.
+Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf
+und ich drückte mich an ihn und vergaß an seiner
+Brust alles um mich her, und es war ganz so, als hielte
+mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus diesem
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem
+breiten, breiten Fluß waren. Er stieg ab, hob mich
+vom Pferde und ging zum Schilf: dort hatte er seinen
+Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier
+noch den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte
+er, ‚geh, such dir einen neuen Herrn, die alten haben
+dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah! Ich schlang
+meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das
+Gesicht an sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen
+wir in den Nachen, er nahm die Ruder und bald
+lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer
+nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und
+schaute sich rings um auf dem Wasser. Und während
+er noch so schaute, murmelte er:
+</p>
+
+<p>
+„‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist
+manches Gottesmenschen Ernährerin und mir meine
+Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt, meine
+Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den
+Blick gesenkt, denn mein Antlitz brannte vor Scham.
+‚Hättest du doch lieber alles genommen, du stürmische,
+unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und würdest mir
+nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare
+Perle zu hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein
+Wort, Mädchen, was bist du so stumm? – strahle
+Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der
+Nacht!‘ Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein
+Herz brannte nach mir, ich fühlte es, aber doch wollte
+ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich wollte etwas
+sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen
+sollte, und so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du
+willst!‘ sagte dafür er zu meinem scheuen Schweigen,
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+sagte es wie mit Trauer, und war sehr niedergeschlagen.
+‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen.
+Gott mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein
+Haß gegen mich groß ist! Bin ich deinen blauen Augen
+so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘ Ich hörte
+es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang
+ich mein Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht
+liebwert, wie kann ich das wissen, wohl aber eine andere
+Törichte, Schamlose, die ihr reines Mädchenstübchen
+in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für
+eine Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz
+nicht bezwungen hat. Das wissen vielleicht nur meine
+heißen Tränen und das sollte auch der noch wissen,
+der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht,
+obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig
+macht!‘ Ich sagte es, vermochte dann aber nicht länger
+an mich zu halten und brach in Tränen aus ... Er
+schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt
+erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann,
+und seine Augen brannten auf mir, ‚es sind keine leeren
+Worte, die ich dir sage, sondern es ist ein großes
+Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück
+schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr
+sein, wenn du mich aber einmal nicht mehr liebhast,
+– so mache keine unnützen Worte, sage nichts, bemühe
+dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen,
+ein Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung
+deines kleinen Fingers laß genug sein und ich gebe deine
+Liebe frei und schenke dir deine goldene Freiheit zurück.
+Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar
+Stolze, mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+Da lächelten alle meine Sinne zu seinen Worten
+...“
+</p>
+
+<p>
+In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung
+inne. Sie holte schwer Atem, lächelte sinnend
+vor sich hin und wollte fortfahren, doch da begegneten
+ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem
+Blick, der wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie
+zuckte zusammen, wollte etwas sagen, aber nur das
+Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun –
+wie fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren
+Kopf und warf sich mit dem Gesicht auf das Kissen.
+– Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles Gefühl,
+eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu
+geben vermochte und die unerträglich war, ergoß sich
+wie ein Gift durch alle seine Adern und wuchs, und
+wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb, eine gierig
+verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang
+sein ganzes Denken und tobte durch alle seine
+Gefühle. Gleichzeitig aber begann eine unendliche,
+uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu bedrücken.
+Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte,
+aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch
+schweigen solle. Er wollte sich ihr schon zu Füßen werfen
+und sie unter Tränen anflehen, ihm seine früheren
+Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch unverständliches
+reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte
+sich förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon
+lange versiegt waren. Sein Herz verging vor Sehnsucht
+und es war ihm, als sei es blutüberströmt und
+schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele nicht
+mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+ihm erzählte, und das Gefühl, das das arme junge
+Weib in ihm erregte, machte seine Liebe irre und scheu.
+In diesem Augenblick verfluchte er seine Leidenschaft:
+sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war
+ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch
+seine Glieder.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt
+erzählt habe!“ sagte Katherina, sich wie nach einem
+plötzlichen Entschluß aufrichtend, „nicht das, nicht
+das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein
+neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der
+die ganze Qual ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen
+schien. „Mein Leid und mein Jammer ist etwas ganz
+anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf
+der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr
+finden kann! Was liegt mir daran, daß sie mich in einer
+bitteren Stunde verflucht hat! Was liegt mir an
+meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen
+Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt
+daran, daß ich mich dem Bösen verkauft und meine
+Seele dem Verderben hingegeben habe, daß ich für das
+kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es
+nicht, obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter
+ist mir dies und es zerreißt mein Herz, daß ich seine
+Sklavin geworden bin, daß meine Entehrung und
+Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige
+Herz sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als
+wäre sie eine Lust und ein Glück – das, nur das ist
+mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in ihm ist
+und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“
+</p>
+
+<p>
+Der Herzschlag stockte in der Brust des armen
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+Weibes und ein krampfhaftes Aufschluchzen erstickte
+ihre Worte. Ihr Atem strich heiß über ihre brennenden
+Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre
+Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht
+war dabei in diesem Augenblick so bezaubernd, es
+sprach solch eine Flut von Gefühl und Leidenschaft
+aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte
+in einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche
+Empfinden, das in Ordynoffs Brust aufstieg, sofort
+wieder verschwand. Sein Herz drängte zu ihr hin,
+wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll Leidenschaft
+in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in
+den Wellen desselben Sturmes untertauchen, in demselben
+Ausbruch unbeschreiblicher Raserei, gemeinsam
+mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr
+sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick
+Ordynoffs und lächelte, daß eine doppelte Flammenglut
+sein Herz durchloderte. Er wußte nicht mehr, was
+mit ihm geschah.
+</p>
+
+<p>
+„Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte
+er ihr mit verhaltener Stimme zu und beugte sich zu
+ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem mit dem
+ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die
+Augen sah. „Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von
+deinem Leid nichts, meine Seele ist verwirrt ... Was
+geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was
+du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte
+mich nicht, bring mich nicht um! ...“
+</p>
+
+<p>
+Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen
+waren versiegt auf ihren heißen Wangen. Sie wollte
+ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen, wollte
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames
+Lächeln erschien langsam auf ihren Lippen, ja
+fast war es, als wolle ein Lachen hervorbrechen ...
+</p>
+
+<p>
+„So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“
+sagte sie endlich mit stockender Stimme. „Höre weiter
+... wirst du auch mir zuhören, du heißes Herz? Höre,
+was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig
+von ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie
+ich mit ihm ein Jahr verlebte, doch wozu ... Als aber
+dies Jahr vergangen war, da zog er mit seinen Freunden
+stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter
+am Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner
+Rückkehr verweilen. Ich wartete einen Monat, wartete
+noch einen – da begegnete mir im Städtchen ein junger
+Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich
+mich meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen,
+liebes Schwesterchen!‘ sagte er, als er mich erkannte,
+‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad: die Alten
+verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du
+mich vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben
+Ort wie du ...‘ – ‚Was sagt man dort von mir?‘
+fragte ich. ‚Man sagt, du seist fortgegangen, habest
+deine Mädchenehre vergessen und dich einem Räuber,
+einem Seelenverderber hingegeben,‘ antwortete mir
+Aljoscha lachend. ‚Und was sagtest du von mir, Aljoscha?‘
+‚Vieles wollte ich dir sagen, als ich hierherkam,‘
+– und sein Herz verwirrte sich – ‚vieles wollte
+ich dir sagen, aber jetzt, wo ich dich sehe, habe ich alles
+vergessen ... verdorben hast du mich!‘ sagte er leise.
+‚So sei es denn, nimm auch meine Seele, und solltest
+du mein Herz auch verspotten und über meine Liebe lachen,
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+du Schöne! ... Ich bin allein, habe mein Erbe und
+bin mein eigener Herr, und meine Seele ist mein, habe
+sie keinem verkauft, wie eine andere es getan, die ihr
+Gewissen begraben hat, und nicht zu kaufen brauchst
+du sie, umsonst gebe ich sie dir, denn verdienen läßt sie
+sich ja nicht, wie man sieht!‘ Ich lachte, und nicht ein-
+oder nur zweimal hat er mir das gesagt – einen ganzen
+Monat lebte er dort, ließ alles andere liegen, vergaß
+die Waren, entließ seine Leute, lebte dort ganz
+allein. Da tat er mir schließlich leid und ich sagte eines
+Morgens zu ihm: ‚Erwarte mich, Aljoscha, wenn die
+Nacht dunkelt, unten am Landungsplatz; laß uns dann
+zu dir fahren! Ich bin meines schalen Lebens hier überdrüssig!‘
+Die Nacht kam, ich schnürte mein Bündelchen,
+und meine Seele begann sich zu sehnen und sie
+spielte mit meinen Gedanken. Da sehe ich – mein Herr
+tritt ein, ganz unerwartet, unverhofft! – ‚Sei gegrüßt,‘
+sagte er. ‚Komm. Auf dem Fluß wird es heute
+Sturm geben, die Zeit drängt.‘ Ich folgte ihm; wir
+kamen an den Fluß, aber bis zu den Unsrigen war es
+weit. Da sehen wir – ein Boot hat angelegt und in
+ihm sitzt ein bekannter Ruderer, der jemand zu erwarten
+scheint. ‚Guten Abend, Aljoscha, Gott helfe dir!‘
+sagt mein Herr. ‚Was, – hast dich verspätet oder
+willst du noch zu deinen Schiffen? Nimm uns mit,
+sei so gut und bringe uns zu den Unsrigen. Mein Boot
+ist nicht hier und ich kann nicht schwimmen.‘ – ‚Steige
+ein,‘ sagte Aljoscha, und mein ganzes Herz erbebte,
+als ich seine Stimme vernahm. ‚Setzt euch, der Wind
+ist für alle und in meinem Boot ist auch für euch noch
+ein Platz.‘ Wir stiegen ins Boot. Die Nacht war dunkel,
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+die Sterne hatten sich versteckt, der Wind heulte
+und die Wellen wuchsen, vom Ufer aber waren wir
+bald schon über eine Werst weit entfernt. Wir schwiegen
+alle.
+</p>
+
+<p>
+„‚Sturm!‘ sagte endlich mein Herr. ‚Der bringt diesmal
+nichts Gutes! Einen solchen wie heut nacht habe
+ich auf dem Fluß noch niemals erlebt. Wir sind zu
+schwer für das Boot! Drei Menschen kann es bei diesem
+Sturm nicht tragen!‘ – ‚Ja, du hast recht, drei
+kann es nicht tragen, da ist einer von uns zu viel,‘ sagte
+Aljoscha, und in seiner Stimme klang ein verhaltenes
+Beben. ‚Nun was, Aljoscha?‘ sagte er, ‚ich kannte
+dich schon als kleines Kind, hab mit deinem seligen
+Vater Bruderschaft getrunken, haben uns Salz und
+Brot gegenseitig gebracht – nun sage mir, Aljoscha,
+könntest du ohne Boot von hier aus ans Ufer gelangen
+... würdest du untergehen und dein Leben verlieren?
+– oder würdest du zur Not das Ufer erreichen?‘
+– ‚Nein,‘ sagte Aljoscha, ‚ich würde es nicht
+erreichen.‘ – ‚Aber wer weiß, vielleicht ist die Stunde
+dir hold und du könntest es doch?‘ – ‚Nein, bei dem
+stürmischen Fluß kann ich es nicht wagen, ich fände meinen
+Tod in den Wellen.‘ – ‚So höre jetzt, Katherinuschka,
+meine schönste vielkostbare Perle!‘ wandte er
+sich da an mich. ‚Ich erinnere mich einer ähnlichen
+Nacht, doch wogte da nicht die Welle, die Sterne glänzten
+hell und der Mond schien ... Ich will dich nur so,
+ganz harmlos, fragen, ob du sie nicht vergessen hast?‘
+– ‚Nein,‘ sagte ich. ‚Und wenn du sie nicht vergessen
+hast, dann wirst du dich wohl auch noch erinnern, wie
+ein Verwegener ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+zurückzugewinnen, wenn ihr jemand nicht mehr
+liebwert erscheint – was?‘ – ‚Auch das habe ich
+nicht vergessen,‘ sage ich, mehr tot als lebendig. –
+‚Ah! hast also nichts vergessen! Nun sieh – für das
+Boot sind drei zu schwer. Sollte da nicht jemandes
+Stunde gekommen sein? Sag, meine Liebe, sprich es
+aus, dein Wort, meine Taube, du Süße ...‘
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe damals das Wort nicht gesagt!“ flüsterte
+Katherina erbleichend ... Sie beendigte die Erzählung
+nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Katherina!“ ertönte eine heisere dumpfe Stimme,
+Ordynoff fuhr zusammen. In der Tür stand Murin.
+Er stand regungslos, in die Pelzdecke gehüllt, stand
+totenbleich und sah sie mit starrem, fast irrsinnigem
+Blick an. Katherina erblaßte und auch ihr Blick hing
+starr, wie gebannt an ihm.
+</p>
+
+<p>
+„Komm zu mir, Katherina!“ flüsterte der Kranke
+kaum vernehmbar und verließ das Zimmer. Katherina
+sah aber immer noch starr auf die Tür, als stehe er
+noch dort. Plötzlich jedoch stieg das Blut heiß in ihre
+bleichen Wangen und sie erhob sich langsam vom Bett.
+Ordynoff entsann sich der ersten Begegnung.
+</p>
+
+<p>
+„Also auf morgen denn, mein Herz!“ sagte sie,
+und es klang wie ein seltsames leises Auflachen. „Also
+auf morgen. Vergiß aber nicht, wo ich stehen geblieben
+bin: ‚Wähle einen von beiden: wer ist dir lieb und
+wer nicht lieb von ihnen, du Schöne!‘ Wirst’s nicht
+vergessen? wirst eine Nacht dich gedulden?“ fragte sie,
+indem sie die Hände auf seine Schultern legte und
+zärtlich auf ihn herabsah.
+</p>
+
+<p>
+„Katherina, geh nicht zu ihm, tu’s nicht! Er ist
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+wahnsinnig, siehst du’s denn nicht!“ flüsterte Ordynoff,
+zitternd für sie.
+</p>
+
+<p>
+„Katherina!“ rief Murins Stimme hinter der
+Wand.
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht? Er wird mich ermorden, meinst
+du?“ fragte Katherina lachend. „Gute Nacht, mein Geliebter,
+mein lieber Bruder!“ sagte sie, zärtlich seinen
+Kopf an ihre Brust drückend, während plötzlich Tränen
+aus ihren Augen brachen. „Das sind die letzten
+Tränen. Verschlafe dein Leid, mein Geliebter, sollst
+morgen zur Freude erwachen!“ Und sie küßte ihn leidenschaftlich.
+</p>
+
+<p>
+„Katherina, Katherina!“ flehte Ordynoff, und
+wollte vor ihr niederknien, um sie zurückzuhalten, „Katherina!“
+</p>
+
+<p>
+Sie wandte sich noch einmal nach ihm um, nickte ihm
+lächelnd zu und verließ das Zimmer. Ordynoff hörte,
+wie sie bei Murin eintrat. Er hielt den Atem an und
+lauschte, doch kein Laut war zu vernehmen. Der Alte
+schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos ... Er
+wollte zu ihr gehen, doch seine Füße versagten ... Er
+verlor alle Kraft und sank erschöpft auf das Bett zurück
+...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-5">
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+V.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Als er wieder zu sich kam, vermochte er zunächst
+gar nicht festzustellen: War es erste Morgen- oder
+späte Abenddämmerung? Das Zimmer lag fast vollständig
+im Dunkel. Das Lämpchen vor dem Heiligenbilde
+mußte erloschen sein. Er wußte nicht, wie lange
+er geschlafen hatte, er fühlte nur, daß sein Schlaf
+krankhaft gewesen war. Als er zu sich kam, strich er sich
+unwillkürlich mit der Hand über das Gesicht, als wolle
+er einen Traum und nächtliche Visionen verscheuchen.
+Doch als er aufzustehen versuchte, fühlte er sich am ganzen
+Körper wie zerschlagen und seine erschöpften Glieder
+versagten den Dienst. Sein Kopf schmerzte, ihm schwindelte,
+und Frostschauer überliefen seinen Körper, denen
+dann wieder glühende Fieberwellen folgten. Mit dem
+Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung zurück und sein
+Herz krampfte sich zusammen und erzitterte, als er in
+einer Sekunde die ganze letzte Nacht wiedererlebte.
+Sein Herz schlug bei der Erinnerung so stark, und seine
+Empfindungen waren so heiß und unmittelbar, als
+wären nicht eine Nacht, nicht lange Stunden vergangen,
+seit Katherina ihn verlassen, sondern kaum eine
+Minute. Er fühlte, daß seine Augen noch von den Tränen
+brannten – oder waren es neue Tränen seiner
+heißen Seele? Und doch – wie ein Wunder schien ihm
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+alles – in seinen Qualen lag für ihn eine Süße und
+Lust, obschon er gleichzeitig mit jedem Nerv seines Körpers
+fühlte, daß er eine solche Vergewaltigung ein zweites
+Mal nicht mehr ertragen würde. Es kam ein Augenblick,
+wo er fast den Tod fühlte und bereit war, ihn
+wie einen lichten Gast zu empfangen, der in weiblicher
+Gestalt ihm nahte: bis zu einer solchen Spannung war
+seine Empfindungsfähigkeit gesteigert, mit solch einer
+stürmischen und machtvollen Allgewalt wogte jetzt,
+nach dem Erwachen, seine Leidenschaft von neuem auf,
+und solch ein Entzücken, solch eine Begeisterung erfüllte
+seine Seele, daß sein Leben, bis in schwindelnde Höhen
+gesteigert, gleichsam im Begriff war, zusammenzubrechen
+und niederzustürzen, sofort zu verwesen und auf
+ewig zu vergehen ... Fast in demselben Augenblick, als
+wär’s eine Antwort auf seinen Schmerz, auf das Zittern
+seines Herzens, erklang eine Stimme, die ihm so
+bekannt schien, wie das innere Klingen und Tönen, das
+die Menschenseele in Stunden der Freude, in Stunden
+großen Glückes über ihr Dasein empfindet – es
+war die weiche, volltönende Stimme Katherinas. Ganz
+nah, fast wie am Kopfende seines Bettes begann ein
+Lied, zu Anfang leise und schwermütig. Dann hob sich
+die Stimme und senkte sich wieder, wie in leisem Verhallen,
+als vergehe sie und wiege dabei doch noch zärtlich
+die unruhvolle Qual des eigenen unterdrückten
+Verlangens, das in ihrem sich sehnenden Herzen für
+ewig gefangen war. Bald wieder schwang sie sich hoch
+empor und ergoß sich zitternd und glühend von einer
+Leidenschaft, die sich nicht länger zurückhalten ließ, in
+ein ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer von zaubermächtigen,
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+uferlosen Tönen, so selig, wie der erste
+selige Augenblick der Liebe. Ordynoff vernahm auch
+Worte: sie waren der rührend schlichte, zu Herzen gehende
+Ausdruck eines reinen, ruhigen, weil selbstverständlichen
+und klaren Gefühls – der Form nach alte,
+schon längst verklungene Worte, wie der Volksmund sie
+in früheren Zeiten gedichtet. Doch Ordynoff dachte
+nicht an ihren Sinn, er vergaß sie, er hörte nur die
+Töne, und aus den treuherzigen naiven Strophen des
+alten Liedes sprachen zu ihm ganz, ganz andere Worte
+– Worte, in denen dieselbe Sehnsucht zitterte, die seine
+eigene Brust erfüllte, Worte, die wie ein Widerhall der
+geheimsten und tiefsten, ihm selbst noch halb unverständlichen
+Regungen seiner Leidenschaft waren und die
+nun, da sie im Liede zu ihm drangen, ihm verrieten, wie
+sehr auch sie um dieselben wußte. Er glaubte, den letzten
+bangen Laut eines vor Liebe vergehenden Lebens zu
+hören, dann wieder die aufjauchzende Freude eines
+Willens, der seine Ketten gesprengt und licht und frei
+ins unermeßliche Meer unversehrbarer Seligkeit strebte;
+dann wieder war es ihm, als hörte er das erste zitternde
+Liebesgeständnis, unter Erröten und Tränen in heimlichem
+zagen Flüstern von Mädchenlippen, noch mit
+dem ganzen Duft süßer Scham; dann wieder stieg
+gleichsam der Wunsch einer Bacchantin auf, die stolz
+und froh ob ihrer Macht, unverhüllt, des Geheimnisses
+bar, mit sprühendem Lachen und trunken schweifendem
+Blick im Kreise sich umschaut ...
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff hielt es nicht aus bis zum Ende des Liedes
+und erhob sich vom Bett. Das Lied verstummte sogleich.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+„Der gute Morgen und der gute Tag sind vorbei,
+mein Ersehnter!“ sagte Katherinas Stimme hinter der
+Wand, „also sage ich jetzt guten Abend zu dir! Steh
+auf, komm zu uns, erwache zu heller Freude: wir erwarten
+dich, ich und mein Herr, beides gute Leute und
+dir ergeben. Lösche mit Liebe den Haß, wenn das Herz
+uns die Kränkung noch nachträgt. Sage ein freundliches
+Wort! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff verließ bereits sein Zimmer, wußte aber
+eigentlich selbst kaum, daß er zu ihnen ging. Vor ihm
+öffnete sich die Tür und er sah und schaute und war
+wie geblendet von dem goldenen Lächeln der Wundersamen,
+die vor ihm stand. Er hörte und sah nichts und
+niemanden außer ihr. Im Augenblick war ihre Lichtgestalt
+der Inbegriff seines ganzen Lebens, seiner ganzen
+Freude.
+</p>
+
+<p>
+„Zwei Sonnenröten sind schon vergangen, seit wir
+Abschied nahmen,“ sagte sie, und sie streckte ihm die
+Hände entgegen, „da sieh durch das Fenster, auch die
+zweite ist schon erloschen. Sie waren ähnlich dem Erröten
+eines schönen Mädchens,“ fuhr sie lachend fort,
+„die erste Morgenröte war wie die Glut, mit der das
+Mädchen zum erstenmal das Herz in der Brust schlagen
+fühlt; und die zweite wie wenn die Schöne ihre Scheu
+vergißt und das Blut feurig ins Antlitz steigen spürt.
+... Tritt ein, tritt ein in unser Haus, du Junger!
+Was stehst du noch auf der Schwelle? Ehre werde dir
+zuteil und Liebe und als erstes ein Gruß vom Hausherrn!“
+</p>
+
+<p>
+Und mit hellem Lachen erfaßte sie Ordynoffs Hand
+und führte ihn ins Zimmer. Befangenheit überkam sein
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+Herz. Das ganze Feuer, das in seinem Inneren flammte,
+war wie im Augenblick erloschen, doch nur für einen
+Augenblick. Verwirrt senkte er das Auge, um sie nicht
+anzusehen. Er fühlte, sie war von so bezaubernder
+Schönheit, daß er ihren heißen Blick nicht würde ertragen
+können. Nein, so hatte er sie noch nie gesehen!
+Zum erstenmal sah er Freude und den Zauber des Lachens
+in ihrem Gesicht, und ihre dunklen Wimpern
+glänzten nun nicht mehr von vergossenen Tränen. Seine
+Hand lag bebend in ihren Händen. Hätte er den
+Blick erhoben, so würde er gesehen haben, daß Katherinas
+strahlende Augen mit triumphierendem Lächeln an
+seinen Mienen hingen, in denen sich deutlich Verwirrung
+und Leidenschaft widerspiegelten.
+</p>
+
+<p>
+„Stehe auf, Alter!“ sagte sie endlich, als käme sie
+selbst erst und mit einem Male zur Besinnung, „sage
+dem Gast ein freundliches Wort zum Gruß. Er ist unser
+Gast und mir so gut wie ein leiblicher Bruder!
+Stehe auf, stolzer Alter, sei nicht hochmütig, steh auf,
+entbiete ihm einen Gruß, fasse seine weiße Hand, bitte
+ihn an den Tisch!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff sah auf, und es war ihm, als käme er
+jetzt erst zu sich: er hatte Murin ganz vergessen, an
+seine Anwesenheit gar nicht gedacht. Die Augen des
+Alten, die wie in Todesahnen erloschen schienen, sahen
+ihn unbeweglich an, und mit einem stechenden Schmerzgefühl
+erinnerte sich Ordynoff jenes Blickes, der ihn
+das letztemal unter den buschigen überhängenden
+Brauen hervor getroffen hatte, und diese Brauen waren
+auch jetzt wieder wie in Qual und Grimm zusammengezogen.
+Ein leichtes Schwindelgefühl erfaßte ihn.
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+Er sah sich um: und da erst kam ihm klar zum Bewußtsein,
+wo er sich eigentlich befand. Murin lag noch
+immer auf dem Bett, war jedoch fast vollständig angekleidet
+und es machte den Eindruck, als sei er bereits
+am Morgen aufgestanden und tagsüber ausgegangen.
+Um den Hals trug er wieder ein rotes Tuch, die Füße
+staken in Hausschuhen. Die Krankheit war offenbar
+überstanden, nur sein Gesicht war noch auffallend
+blaß und fast gelb. Katherina stand neben dem Bett,
+stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sah aufmerksam
+von dem einen zum anderen: doch das freundliche
+Lächeln schwand nicht aus ihrem Gesicht. Es schien
+beinahe, als geschehe alles auf einen Wink von ihr.
+</p>
+
+<p>
+„Ja! Das bist du,“ sagte Murin, indem er sich
+langsam erhob und auf das Bett setzte. „Du bist mein
+Mieter. Ich bin schuldig vor dir, Herr, habe gesündigt
+und dich, ohne es zu wollen, erschreckt – gestern, mit
+der Flinte. Wer konnt’s denn wissen, daß dich auch
+mitunter Krankheit heimsucht! Bei mir aber kommt
+das vor,“ fügte er mit rauher, von der Krankheit noch
+heiserer Stimme hinzu. Seine Stirn runzelte sich und
+unwillkürlich wandte er den Blick von Ordynoff ab.
+„Unglück pflegt sich nicht vorher anzumelden, wenn es
+kommt, schleicht es sich wie ein Dieb heran und ist da!
+Auch ihr hab’ ich vor kurzem beinahe das Messer in die
+Brust gestoßen ...“ brummte er, mit dem Kopf nach
+Katherina weisend. „Ich bin ein kranker Mensch, habe
+zuweilen meine Anfälle – nun, was ist da noch viel zu
+erklären, das mag dir genügen! Setz dich – wirst mein
+Gast sein.“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff sah ihn immer noch unverwandt an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+„Setz dich, so setz dich doch!“ rief der Alte ungeduldig,
+„wenn’s ihr nun mal Freude macht! ... Hm!
+Da seid ihr nun also sozusagen Geschwister, seht doch
+mal an! Habt euch ja lieb, recht wie ein Liebespaar!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff setzte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Sieh doch, was du da für eine Schwester hast,“
+fuhr der Alte lustig fort, und er lachte, daß man alle
+seine ausnahmslos noch weißen, schönen Zähne sehen
+konnte. „So tut doch zärtlich, meine Lieben! Hast du
+nicht eine schöne Schwester, Herr? Sprich doch, antworte!
+Da, sieh sie doch an, sieh, wie ihre Wangen
+glühen. So sage doch, daß sie eine Schönheit ist, rühme
+doch vor der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, wie
+sehr dein Herz nach ihr verlangt!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff runzelte die Stirn und sah den Alten
+an. Der zuckte zusammen unter seinem Blick. In Ordynoffs
+Brust stieg eine blinde Wut auf. Mit geradezu
+tierischem Instinkt fühlte er, daß er seinen Todfeind
+vor sich hatte. Er begriff selbst nicht, was mit ihm geschah.
+Er vermochte nicht mehr zu denken –
+</p>
+
+<p>
+„Sieh mich nicht an!“ erklang da Katherinas
+Stimme hinter ihm. Ordynoff blickte sich um.
+</p>
+
+<p>
+„Sieh mich nicht an, sage ich dir, wenn der Böse
+dich zu Bösem verleitet – hab Mitleid mit deiner
+Liebsten,“ sagte Katherina lachend, und plötzlich legte
+sie ihm hinterrücks die Hände auf die Augen, – zog
+sie aber sogleich wieder zurück und bedeckte mit ihnen
+ihr eigenes Gesicht. Doch die flammende Röte leuchtete
+gleichsam durch ihre Finger: sie ließ die Hände sinken
+und mühte sich, offen und furchtlos den Blicken der
+beiden Männer standzuhalten. Die aber sahen sie
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+beide nur schweigend an – Ordynoff mit einer gewissen
+verwunderten Liebe, die sein Herz zum erstenmal
+zu der Schönheit eines Weibes empfand, der Alte dagegen
+aufmerksam, forschend und kalt. Sein bleiches
+Gesicht verriet nicht das geringste, nur seine Lippen
+waren blaß und bebten leise.
+</p>
+
+<p>
+Katherina war gleichfalls ernst geworden, trat an
+den Tisch und begann, die Bücher, Papiere, das Tintenfaß
+und alles übrige abzuräumen. Sie atmete schnell
+und ungleichmäßig. Von Zeit zu Zeit holte sie tief
+Atem, als sei’s ihr im unruhig schlagenden Herz eng
+und schwer. Schwer, wie die Woge am Ufer, senkte sich
+und hob sich von neuem ihre Brust. Sie sah nicht auf,
+und die dunkeln langen Wimpern glänzten seidig über
+ihren zarten Wangen ...
+</p>
+
+<p>
+„Meine Königin!“ flüsterte Ordynoff. Er besann
+sich aber sofort, denn er fühlte den Blick des Alten
+auf sich ruhen. Wie ein Blitz, in einem Nu war dieser
+Blick aufgeflammt, gierig, bohrend, gehässig, feindlich,
+mit kalter Verachtung. Ordynoff erhob sich, aber eine
+unsichtbare Macht schien seine Füße gefesselt zu haben.
+Er setzte sich wieder. Und er drückte seine eigene Hand,
+als traue er nicht der Wirklichkeit, die ja vielleicht nur
+ein Traum sein konnte. Es war ihm, als ob ein Alb
+ihn bedrücke und als ob seine Augen in peinvollem
+und krankhaftem Dämmer geschlossen lagen. Doch sonderbar!
+Er wollte nicht erwachen!
+</p>
+
+<p>
+Katherina nahm den Teppich vom Tisch, öffnete
+eine Truhe, der sie ein kostbares Tischtuch entnahm,
+das reich mit Stickereien in Seide und Goldfäden verziert
+war, und breitete es über den Tisch; dann holte
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+sie aus dem Schrank eine altertümliche, aus schwerem
+Silber gearbeitete Kanne, an der nach alter Art die
+silbernen Becher hingen – stellte sie mitten auf den
+Tisch und nahm drei Becher von den Häkchen: einen
+für den Hausherrn, einen für den Gast und einen für
+sich selbst. Mit ernstem, fast nachdenklichem Blick sah
+sie auf den Alten, dann auf den Gast.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist nun von uns einem anderen lieb oder
+nicht lieb?“ fragte sie. „Wer niemandem lieb ist, der
+soll mir lieb sein und wird mit mir aus einem Becher
+trinken. Mir aber ist jeder von euch lieb, lieb, wie ein
+Nahestehender: deshalb laßt uns auf die Liebe und die
+Eintracht trinken!“
+</p>
+
+<p>
+„Trinken und die schwarzen Gedanken im Wein
+ertränken!“ sagte der Alte mit veränderter Stimme.
+„Schenke ein, Katherina!“
+</p>
+
+<p>
+„Und dir auch?“ fragte Katherina, indem sie Ordynoff
+ansah.
+</p>
+
+<p>
+Der schob schweigend seinen Becher hin.
+</p>
+
+<p>
+„Wartet!“ rief plötzlich der Alte und erhob sein
+Glas. „Hat jemand von uns etwas Besonderes auf
+dem Herzen, so möge es nach seinem Wunsch in Erfüllung
+gehen!“
+</p>
+
+<p>
+Sie stießen an und tranken.
+</p>
+
+<p>
+„Nun laß uns beide trinken,“ sagte Katherina,
+sich an den Alten wendend, „trinken wir, wenn dein
+Herz mir gut ist! Trinken wir auf das erlebte Glück,
+laß uns die vergangenen Jahre grüßen! Aus dem
+Herzen, dem Glück in Liebe ein Gruß! So laß dir doch
+einschenken, Alter, wenn dein Herz noch immer für
+mich glüht!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+„Dein Wein ist stark, mein Täubchen, du selbst
+aber hast nur die Lippen benetzt!“ sagte der Alte lachend
+und hielt seinen Becher hin.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde dir jetzt einschenken, du aber trinke den
+Wein bis zur Neige! ... Wozu leben, Alterchen, und
+ewig schwere Gedanken mit sich herumtragen! Das
+bedrückt nur das Herz. Gedanken kommen vom Kummer
+und Gedanken schaffen Kummer, im Glück da lebt
+man ohne Gedanken! Trink, Alter! Ertränke deine Gedanken!“
+</p>
+
+<p>
+„Da muß ja in dir viel Kummer sich angesammelt
+haben, wenn du dich plötzlich so gegen ihn wappnen
+willst! Möchtest wohl mit einemmal allem ein Ende machen,
+meine weiße Taube? Ich trinke auf dein Wohl,
+Katjä! Aber du, hast auch du einen Kummer, Herr,
+wenn du erlaubst, zu fragen?“
+</p>
+
+<p>
+„Was ich habe, das habe ich für mich,“ murmelte
+Ordynoff, ohne seine Augen von Katherina abzuwenden.
+</p>
+
+<p>
+„Hast du gehört, Alterchen? Ich habe mich selbst
+lange nicht gekannt und an nichts zurückgedacht, da
+kam aber eine Stunde und ich erkannte alles und erinnerte
+mich an alles: da hab’ ich alles Vergangene mit
+unersättlicher Gier in der Seele nochmals erlebt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, es ist bitter, wenn man durch Vergangenes
+sich wieder durchzuarbeiten anfängt,“ bemerkte der Alte
+nachdenklich. „Was vergangen ist, ist wie getrunkener
+Wein! Was ist vergangenes Glück? Hat man einen
+Rock abgetragen, dann fort mit ihm ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dann ist ein neuer nötig!“ fiel ihm Katherina
+ins Wort, mit etwas erzwungenem Lachen, während
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+zwei große Tränen an ihren Wimpern erglänzten. „Da
+sieht man, ein Menschenalter kann nicht in einem Augenblick
+vergehen, und ein Mädchenherz hat ein zähes Leben:
+das ist nicht so leicht erschöpft! Hast du’s erfahren,
+Alter? Sieh, da habe ich eine Träne in deinem
+Becher begraben!“
+</p>
+
+<p>
+„War es denn viel Glück, für das du dein Leid
+verkauftest?“ fragte Ordynoff und seine Stimme zitterte
+vor Erregung.
+</p>
+
+<p>
+„Du hast wohl, Herr, viel eigenes zu verkaufen,“
+versetzte der Alte, „daß du dich ungebeten vordrängst.“
+Und er lachte lautlos und boshaft und sah dabei Ordynoff
+frech an.
+</p>
+
+<p>
+„Wofür ich es verkaufte, das war auch danach,“
+antwortete Katherina mit einer Stimme, aus der eine
+gewisse Unzufriedenheit und Gekränktheit zu klingen
+schien. „Dem einen scheint es viel, dem anderen wenig.
+Der eine will alles hingeben, es wird ihm aber
+nichts dafür geboten; der andere verheißt nichts, und
+doch folgt ihm das Herz gehorsam. Du aber, mach deshalb
+niemandem einen Vorwurf.“ Sie wandte das Gesicht
+nach ihm hin und sah ihn traurig an. „Der eine
+ist so ein Mensch, der andere ein anderer – weiß
+man’s denn selbst, weshalb die Seele gerade zu dem
+einen drängt! Fülle deinen Becher, Alter! Trinke auf
+das Glück deiner lieben Tochter, deiner gehorsamen
+Sklavin, wie einst, als sie dich erst noch lieben lernte.
+Nun, erhebe den Becher!“
+</p>
+
+<p>
+„Wohlan! So schenke auch dir ein!“
+</p>
+
+<p>
+„Warte, Alter! Trink noch nicht, laß mich zuvor
+noch ein Wort sagen! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+Katherina stützte die Ellbogen auf den Tisch und
+sah regungslos mit glänzendem, leidenschaftlichem
+Blick dem Alten in die Augen. Eine eigentümliche Entschlossenheit
+lag plötzlich in diesem Blick. Doch alle ihre
+Bewegungen waren sicher, ihre Gesten kurz, unerwartet,
+schnell. Es war, als sei Feuer in ihr und wunderbar
+nahm sich das aus. Ihre Schönheit schien mit ihrer
+Erregung, mit ihrer Spannung zu wachsen. Sie lächelte
+und wie Perlen erglänzten ihre gleichmäßigen
+Zähne zwischen den Lippen. Ihr Atem war kurz und
+unterbrochen durch die Erregung. Ihre feinen Nasenflügel
+bebten. Der eine ihrer schimmernden Zöpfe,
+die sie zweimal um den Kopf geschlungen trug, hatte
+sich gelöst und gesenkt und bedeckte das linke Ohr und
+einen Teil der heißen Wange. Ihre Schläfen glänzten
+feucht.
+</p>
+
+<p>
+„Sage mir wahr, Alter! Sag mir wahr, mein Guter,
+sag, bevor du deinen Verstand vertrinkst! Hier hast
+du meine weiße Hand! Nennen dich doch die Leute bei
+uns nicht umsonst einen Zauberer. Du hast aus Büchern
+gelernt und kennst jede schwarze Wissenschaft!
+So sieh dir jetzt die Linien meiner Hand an, Alterchen,
+und verkünde mir mein ganzes unseliges Los! Nur sieh
+zu, daß du die Wahrheit sagst! ... Nun, sage mir, wie
+du es weißt und meinst – wird dein Töchterchen glücklich
+sein oder verzeihst du ihr nicht und rufst ihr durch
+deine Zauberstücke herbes Leid auf den Weg? Sage,
+wird der Winkel warm sein, in dem ich mich einnisten
+werde, oder soll ich, wie ein Zugvogel, mein Leben lang
+gleich einer Waise bei guten Leuten Unterkunft suchen?
+Sage, wer ist mein Feind und hegt Arges gegen mich
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+im Sinn? – und wer ist mein Freund und hat für
+mich nur Liebe im Herzen? Sage, wird mein junges
+heißes Herz sein Lebtag einsam bleiben und vor der
+Zeit verstummen, oder wird es ein anderes Herz finden,
+das ihm gleich ist, und im gleichen Pulsschlag der
+Freude mit ihm schlagen ... bis zu neuem Leid! Und
+sage mir, Alterchen, wenn du schon einmal wahrsagst,
+wo, unter welchem blauen Himmel, hinter welchen fernen
+Meeren und Wäldern mein heller Falke denn lebt,
+sag mir, wo, und ob er auch mit scharfem Auge nach
+seinem Falkenweibchen Ausschau hält, und ob er auch
+in Liebe wartet, ob er es auch heiß lieben oder ob er
+die Liebe bald verlernen und mich betrügen, oder ob
+er mich nicht betrügen und mir treu bleiben wird? Und
+dann sprich auch schon das Letzte und Allerletzte aus,
+Alter: sag, ist es uns beiden bestimmt, lang noch gemeinsam
+die Zeit zu verbringen, hier im armseligen
+Winkel zu sitzen, dunkle Bücher zu lesen? Oder wann
+werde ich von dir Abschied nehmen, mich tief vor dir
+neigen und dir für deine Gastfreundschaft danken, und
+dafür daß du mir Speise und Trank gegeben und mir
+Märchen erzählt hast? ... Aber sieh zu, daß du mir die
+Wahrheit sagst, lüge nicht! Die Zeit ist gekommen, jetzt
+steh für dich ein!“
+</p>
+
+<p>
+Ihre Erregung war mit jedem weiteren Wunsche
+gewachsen, bis ihre Stimme bei den letzten Worten
+die Gewalt über sich verlor, als risse ein Wirbelsturm
+ihr Herz mit sich fort. Ihre Augen blitzten und ihre
+Lippen schienen leise zu beben. Und doch hatte aus ihrer
+Stimme zugleich ein boshafter Spott geklungen –
+wie eine Schlange wand er sich versteckt durch ihre
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+Worte – und es war, als habe ein Schluchzen
+in ihrem Spott geklungen, der doch voll Lachen sein
+sollte. Sie hatte sich über den Tisch zu dem Alten gebeugt
+und sah ihm mit forschender Neugier in seine
+umflorten Augen. Ordynoff hörte, als sie verstummte,
+wie ihr Herz plötzlich heftig zu klopfen begann; er sah
+sie an und wollte aufjauchzen vor Entzücken, und war
+schon im Begriff, sich von der Bank zu erheben. Da
+traf ihn ein flüchtiger, kurzer Blick des Alten und wie
+gebannt, wie gelähmt blieb er auf seinem Platz: es war
+eine seltsame Mischung von Verachtung, Spott, ungeduldiger,
+ärgerlicher Unruhe und zugleich boshafter,
+arglistiger Neugier, die aus diesem flüchtigen jähen
+Blick aufblitzte, aus diesem Blick, unter dem Ordynoff
+jedesmal zusammenfuhr und der sein Herz stets mit
+Haß und ohnmächtiger Wut erfüllte.
+</p>
+
+<p>
+Nachdenklich und mit einer eigentümlichen traurigen
+Neugier betrachtete der Alte seine Katherina. Sie
+hatte sein Herz getroffen, durchbohrt, das Wort war
+jetzt von ihr ausgesprochen – und doch hatte er nicht
+einmal mit einer Wimper gezuckt. Er lächelte nur, als
+sie verstummt war.
+</p>
+
+<p>
+„Willst viel auf einmal erfahren, mein flügge gewordenes,
+mein flugbereites Vögelchen! Fülle mir
+schnell noch den tiefen Becher; und dann laß uns trinken:
+zuerst auf die Entzweiung und auf den guten Willen;
+sonst verderbe ich noch durch irgend jemandes bösen
+unsauberen Blick meinen Wunsch. Der Teufel ist
+stark! Wie weit ist’s denn bis zur Sünde!“
+</p>
+
+<p>
+Er hob seinen Becher und leerte ihn. Je mehr er
+trank, um so bleicher wurde er. Seine Augen röteten
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+sich und glühten wie Kohlen. Es war augenscheinlich,
+daß ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche Totenblässe
+die Vorläufer eines baldigen neuen Anfalls waren.
+Der Wein aber war schwer und feurig. Auch Ordynoff
+fühlte von dem einen Becher, den er geleert,
+seinen Blick heiß und unsicher werden: sein durch das
+Fieber erregtes Blut konnte nicht lange dem Geist des
+Weines widerstehen und überstürmte sein Herz, quälte
+und verwirrte seinen Verstand. Seine Unruhe wuchs
+mit jeder Minute. Und er schenkte sich noch von dem
+schweren Wein in den Becher und trank einen Schluck,
+ohne selbst zu wissen, was er tat oder wie er gegen seine
+wachsende Erregung ankämpfen sollte, und das Blut
+jagte noch stürmischer durch seine Adern. Er war wie
+von einem Fiebertraum fortgerissen und vermochte kaum
+noch, trotz krampfhaftester Anspannung seiner ganzen
+Aufmerksamkeit, zu verfolgen, was zwischen dem Alten
+und Katherina vorging.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte klopfte laut mit dem Becher auf den
+Tisch.
+</p>
+
+<p>
+„Schenk ein, Katherina!“ rief er, „schenk ein, böses
+Töchterchen, schenk ein, bis ich trunken bin! Beseitige
+den Alten, es ist auch genug für ihn! So ist’s recht,
+schenk ein, meine Schöne, ganz voll – so! Nun laß
+uns beide trinken! Warum hast du denn so wenig getrunken?
+Oder habe ich es nicht gesehen ...?“
+</p>
+
+<p>
+Katherina entgegnete ihm etwas, doch Ordynoff
+begriff die Worte kaum, und der Alte ließ sie nicht
+zu Ende sprechen: er ergriff ihre Hand, als habe er
+nicht mehr die Kraft, all das zurückzuhalten, was seine
+Brust einschloß. Sein Gesicht war bleich und sein Blick
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+umflorte sich bald, bald flammte er auf und dann
+brannte in ihm ein unheimliches Feuer. Seine farblosen
+Lippen zuckten und mit ungleichmäßiger, schwankender
+Stimme, aus der hin und wieder eine seltsame
+Begeisterung klang, sagte er zu ihr:
+</p>
+
+<p>
+„Gib dein Händchen, du Schöne! Ich werde dir
+wahrsagen, werde dir die ganze Wahrheit sagen. Ich
+bin wirklich ein Zauberer, da hast du dich nicht geirrt,
+Katherina! Dein goldenes Herz hat erraten, daß ich
+sein einziger Wahrsager bin und ihm die Wahrheit
+nicht verheimlichen werde, diesem schlichten, diesem unschlauen
+Herzen! Nur eines hast du nicht erkannt: nicht
+ich, der Zauberer, kann dich vernünftig machen! Vernunft
+ist keine Richtschnur für ein Mädchen, und wenn
+man ihm auch die ganze Wahrheit sagt, so ist es doch,
+als habe es nichts erfahren und begriffen! Ihr eigner
+Kopf – ist eine listige Schlange, wenn auch das Herz
+von Tränen überfließt! Jeden Weg findet sie selbst,
+zwischen Gefahren versteht sie kriechend sich durchzuschlängeln
+und ihren schlauen Willen zu erreichen!
+Manchmal erreicht sie auch wohl mit dem Verstande
+was sie will, wenn aber nicht – dann berückt sie mit
+ihrer Schönheit, und verwirrt mit ihrem dunklen Auge!
+Schönheit bricht die Kraft, und wenn das Herz auch
+von Eisen ist – sie zerspellt es mit ihrer Macht! Ob
+auch Leid und Sorge deiner harrt? Schwer ist Menschenleid!
+Doch nicht schwache Herzen werden von ihm
+heimgesucht. Das Unglück sucht sich, wenn es kommt,
+ein starkes Herz zum Wohnsitz aus, aus dem dann im
+stillen, aller Welt verborgen, manch blutige Träne
+rinnt, bösen Leuten ein Schaustück. Dein Leid
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+aber, Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die
+der Regen verwischt, die Sonne trocknet und der
+frische Wind verweht! Laß mich dir noch mehr
+sagen, dir wahrsagen: wer dich lieben wird, zu
+dem wirst du als Sklavin gehen, wirst selbst deinen
+Willen und deine Freiheit binden und ihm hingeben als
+Pfand und auch nie mehr zurückverlangen; wirst es
+nicht verstehen, zur rechten Zeit deine Liebe zu vergessen;
+ein Körnchen legst du hin und dein Verderber läßt
+es zur vollen Ähre wachsen und behält alles! Mein
+zärtliches Kind, mein Goldköpfchen, hast in meinem
+Wein dein Tränenperlchen begraben und dann doch
+nicht widerstanden und darüber gleich hundert andere
+vergossen, hast ein schönes Wort gesagt, dich an ihm berauscht
+und auf dein Leid gepocht. Doch ob deines
+Tränchens, des himmlischen Tautropfens, wirst du dich
+nicht zu grämen, wirst nicht zu trauern brauchen! Es
+wird dir in Überfluß wiedergegeben, und mit Wucherzinsen,
+dein Tränenperlchen, warte nur, in langer
+Nacht, in trauriger Nacht, wenn böser Kummer an
+deinem Herzen nagen wird und ein arger Gedanke –
+dann wird auf dein heißes Herz, für dies selbe Tränchen,
+eines anderen Träne fallen, eine blutige, nicht
+warme oder heiße, sondern eine glühende, wie von
+flüssigem Erz, und die wird dir deine weiße Brust blutig
+brennen, und bis zum Morgen, dem trüben, düsteren,
+wie er an Regentagen graut, wirst du dich auf
+deiner Lagerstätte wälzen und aus der frischen Wunde
+wirst du purpurnes Blut vergießen und nimmer wird
+dir diese Wunde bis zum vollen Morgen verheilen!
+Schenke mir noch ein, Katherina, schenke mir ein, meine
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+Taube, für den klugen Rat! – weiter aber, denke ich,
+sind keine Worte mehr vonnöten ...“
+</p>
+
+<p>
+Seine Stimme sank und bebte: es war, als wolle
+ein Schluchzen aus seiner Brust hervorbrechen ... Er
+schenkte sich selbst den Wein ein und stürzte ihn gierig
+hinab; dann klopfte er wieder mit dem Becher auf den
+Tisch. Sein trüber Blick flammte noch einmal auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Lebe, wie es sich leben läßt!“ rief er, „was
+vorüber ist, ist vorüber! Schenk mir ein, schenk mir noch
+einmal ein, noch einmal, und ganz voll, bis zum Rande,
+damit der Wein den wilden Kopf von den Schultern
+nimmt und die Seele in ihm ertränkt! Schläfere mich
+ein für die lange Nacht, der kein Morgen folgt, auf daß
+das Gedächtnis mir völlig schwinde! Getrunkener Wein
+ist wie verlebtes Leben! Da muß doch dem Kaufmann
+die Ware liegen geblieben sein, wenn er sie umsonst
+aus der Hand gibt! Würde er sie doch sonst nicht aus
+freiem Willen unter dem Preise hingeben, würde auch
+der Feinde Blut vergießen, auch unschuldig Blut würde
+fließen und auf den Kauf würde jener Käufer obendrein
+noch seine verlorene Seele hergeben müssen! Schenk
+ein, schenk mir noch ein, Katherina!“
+</p>
+
+<p>
+Doch seine Hand, die den silbernen Becher hielt,
+schien plötzlich wie im Krampf zu erstarren und rührte
+sich nicht mehr. Er atmete schwer und mühsam, sein
+Kopf sank unwillkürlich auf die Brust. Noch einmal
+richtete er den Blick starr auf Ordynoff, als wolle er
+ihn zum letztenmal durchbohren, aber auch dieser Blick
+erlosch endlich und seine Lider senkten sich, als wären
+sie bleischwer. Tödliche Blässe breitete sich über sein
+Antlitz ... Ein paarmal zuckten noch seine Lippen und
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+bewegten sich, als wollten sie etwas sagen – und plötzlich
+glänzte eine große heiße Träne an seinen Wimpern,
+hing, löste sich und rollte langsam über seine
+bleiche Wange herab ... Ordynoff hatte nicht mehr die
+Kraft, noch länger dies alles zu ertragen. Er erhob sich,
+trat schwankend einen Schritt vor, näherte sich Katherina
+und faßte sie am Arme; sie aber hatte nicht einmal
+einen Blick für ihn, und tat, als bemerke sie ihn überhaupt
+nicht ...
+</p>
+
+<p>
+Es war, als verließe sie gleichfalls die Besinnung,
+als hielte ein besonderer Gedanke sie in seinem Bann
+oder als sei sie von einem einzigen starren Gedanken erfüllt.
+Sie sank an die Brust des schlafenden Alten,
+schlang ihren weißen Arm um seinen Hals und sah ihn
+regungslos an, als könne sie den Blick nicht losreißen
+von ihm. Sie fühlte es wohl gar nicht, als Ordynoff
+ihren Arm erfaßte. Erst nach einer Weile hob sie den
+Kopf und wandte das Gesicht ihm zu und sah ihn mit
+einem langen durchdringenden Blick an. Und dann rang
+sich, als begreife sie endlich, ein schweres, verwundertes
+Lächeln gleichsam mühselig, wie mit Schmerz aus ihrem
+Innersten hervor und erschien auf ihren Lippen ...
+</p>
+
+<p>
+„Geh, geh fort,“ flüsterte sie, „du bist betrunken und
+böse! Du bist mir ein schlechter Gast!“ Und sie wandte
+sich wieder dem Alten zu und wieder hing ihr Blick wie
+gebannt an seinen Zügen.
+</p>
+
+<p>
+Sie schien jeden Atemzug des Schlafenden zu bewachen,
+schien seinen Schlaf mit ihrem Blick liebkosen zu
+wollen. Ja, sie schien sogar ihren eigenen Atem zurückzuhalten,
+als wage sie kaum, ihr Herz schlagen zu lassen.
+In ihrem Gesicht, in ihrem ganzen Wesen lag eine
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+solche Liebesverzückung, daß Ordynoff plötzlich von
+Verzweiflung, Wut, Zorn und rasendem Haß übermannt
+wurde ...
+</p>
+
+<p>
+„Katherina! Katherina!“ rief er, wie mit Klammern
+ihren Arm umspannend.
+</p>
+
+<p>
+Schmerz sprach aus ihrem Gesicht: sie erhob wieder
+den Kopf und sah ihn an, doch diesmal mit solch
+einem Spott und solch schamloser Verachtung, daß er
+sie anstarrte, ohne fassen zu können, was er sah. Sie
+wies auf den schlafenden Alten und sah – als wäre
+der ganze Hohn seines Feindes in ihre Augen übergegangen
+– sah mit einem Blick zu Ordynoff auf, unter
+dem in seinem Inneren irgend etwas mit schneidendem
+Schmerz zerriß und von dem es ihn mit Eiseskälte
+überlief.
+</p>
+
+<p>
+„Was? er wird mich ermorden, meinst du?“ stieß
+Ordynoff hervor, außer sich vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+Und als hätte ihm ein Dämon etwas ins Ohr geflüstert
+– begriff er sie plötzlich ... und sein ganzes
+Herz lachte gellend dazu.
+</p>
+
+<p>
+„So werde ich dich denn kaufen, du Schöne, von
+deinem Kaufmann, wenn du meine Seele verlangst!
+Sei ruhig, nicht er wird morden! ...“
+</p>
+
+<p>
+Das starre Lachen, das nicht aus ihrem Gesicht
+wich, wurde ihm fürchterlich. Der grenzenlose Hohn
+ihres Spottlächelns marterte ihm das Herz. Er wußte
+nicht mehr, was in ihm vorging, und was er fast mechanisch
+tat: er stützte sich an die Wand und nahm
+von einem Nagel einen altertümlichen kostbaren Dolch.
+Ein Ausdruck wie Verwunderung glitt über Katherinas
+Züge; zugleich jedoch trat der Ausdruck von Haß
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+und Verachtung mit solcher Stärke in ihre Augen, daß
+er alles andere darüber vergessen ließ. Ordynoff sah
+sie an und ihm schwindelte ... Es war ihm, als zerre
+jemand an seiner Hand, die sich zu einer unsinnigen
+Tat erheben wollte, und als sei ein fremder Trieb in
+ihr. Er zog das Messer aus der Scheide ... Katherina
+folgte regungslos, wie in atemloser Spannung,
+seiner Bewegung ...
+</p>
+
+<p>
+Er sah auf den Alten ...
+</p>
+
+<p>
+Da schien es ihm plötzlich, als ob ein Augenlid des
+Alten sich langsam hebe und als ob durch die Wimpern,
+lauernd, ein Auge ihn lächelnd ansehe. Ihre
+Blicke begegneten einander, Auge ruhte in Auge. Minutenlang
+sah Ordynoff ihn an, ohne zu zucken ...
+Plötzlich aber schien es ihm, daß das ganze Gesicht des
+Alten lache und ein teuflisches Gelächter, das ihn eisig
+überlief und erstarren machte, im Zimmer erschallte.
+Ein scheußlicher nachtschwarzer Gedanke kroch wie eine
+Schlange durch sein Gehirn. Er erzitterte: das Messer
+entfiel seiner Hand und klirrte auf die Diele. Katherina
+schrie auf, wie aus einem Traume erwachend,
+wie nach einem furchtbaren Alb, und doch noch im
+Bann des Schreckbildes ... Der Alte erhob sich langsam,
+mit bleichem Gesicht, und stieß voll Ingrimm mit
+dem Fuß das Messer in die Ecke des Zimmers. Katherina
+stand totenblaß neben dem Bett und rührte sich
+nicht. Ihre Augen schlossen sich; ein dumpfer, unerträglicher
+Schmerz drückte sich in ihren Zügen aus; sie
+bedeckte das Gesicht mit den Händen und mit einem
+erschütternden Aufschrei warf sie sich dem Alten zu
+Füßen ...
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+„Aljoscha! Aljoscha!“ rang es sich in äußerster
+Verzweiflung aus ihrer Seele.
+</p>
+
+<p>
+Der Alte umfing sie mit seinen mächtigen Armen
+und erdrückte sie fast an seiner Brust. Als sie aber ihren
+Kopf so an ihn schmiegte, da lachte jeder Zug, jede
+Runzel im Gesicht des Alten ein so schamloses, entblößtes
+nacktes Lachen, daß Ordynoff nur fühlte, wie
+kaltes Entsetzen ihn ergriff. Betrug, Berechnung, eifersüchtige
+Tyrannei und Vergewaltigung dieses armen,
+dieses zerrissenen Herzens – das war es, was
+er an dem schamlosen Lachen begriff.
+</p>
+
+<p>
+„Wahnsinnige!“ flüsterte er erschauernd, von Entsetzen
+geschüttelt, und stürzte hinaus.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-6">
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+VI.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Als Ordynoff am nächsten Morgen, noch blaß und
+erregt von dem Erlebnis der Nacht, gegen acht Uhr
+bei Jaroslaw Iljitsch eintrat – zu dem er übrigens
+aus einem ihm selbst völlig unklaren Grunde gegangen
+war – blieb er starr vor Überraschung auf der
+Schwelle stehen: denn im Zimmer erblickte er – Murin.
+Der Alte war noch bleicher als Ordynoff und
+schien sich vor Krankheit kaum auf den Füßen halten
+zu können, weigerte sich jedoch, trotz aller Aufforderungen
+Jaroslaw Iljitschs, der über den Besuch offenbar
+sehr erfreut war, auf einem Stuhl Platz zu nehmen.
+Als Jaroslaw Iljitsch Ordynoff erblickte, entfuhr ihm
+ein Ausruf freudiger Überraschung, doch schon im
+nächsten Augenblick wich seine Freude einer recht merkbaren
+Verwirrung, die ihn ganz plötzlich überkam, so
+daß er mitten auf dem Wege zum nächsten Stuhl, den
+er wohl Ordynoff hatte anbieten wollen, ratlos stehen
+blieb. Man sah es ihm an, daß er nicht wußte, was
+er sagen oder tun sollte und daß er es zugleich als unpassend
+empfand, in dieser schwierigen Lage seine türkische
+Pfeife weiter zu rauchen. Trotzdem aber – so
+groß war seine Verwirrung – zog er in vollen Zügen
+den Rauch aus seinem Pfeifenrohr und zwar noch viel
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+häufiger und heftiger, als es sonst seine Art war. Inzwischen
+trat Ordynoff ins Zimmer. Er warf einen
+flüchtigen Blick auf Murin und bemerkte in dessen Gesicht
+etwas Ähnliches wie das boshafte Lächeln vom
+letzten Abend, das Ordynoff auch jetzt wieder erbeben
+machte vor Wut und Empörung. Übrigens verschwand
+alles Feindliche sofort aus Murins Zügen und sein
+Gesicht nahm den Ausdruck vollständiger Verschlossenheit
+und Gelassenheit an. Langsam machte er eine sehr
+tiefe Verbeugung vor seinem Mieter ... Diese kurze
+Szene hatte indes das Gute, daß sie Ordynoff vollends
+zur Besinnung brachte. Er sah Jaroslaw Iljitsch
+mit scharfem Blick aufmerksam an, wie um aus
+dessen Antlitz sich Aufschluß über den Sachverhalt zu
+verschaffen. Jaroslaw Iljitsch freilich schien dieser
+forschende Blick äußerst peinlich zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, treten Sie doch näher, teuerster
+Wassilij Michailowitsch,“ brachte er endlich verwirrt
+hervor, „ich bitte Sie dringend, beehren Sie mich
+mit Ihrem Besuch ... Geben Sie diesen meinen einfachen
+Sachen hier ... die Weihe, indem Sie ihnen,
+wie gesagt, die Ehre antun ... wie gesagt ...“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch geriet mit seinen Gedanken und
+Worten in einige Unordnung, verlor den Faden, wurde
+bis über die Ohren rot vor Verwirrung und auch vor
+Ärger darüber, daß die schöne Phrase mißlungen war
+und daß er sie somit umsonst ausgespielt, sie für immer
+verdorben hatte. Mit Gepolter rückte er deshalb
+einen Stuhl bis mitten ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Jaroslaw
+Iljitsch, ich wollte nur ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+„Aber ich bitte Sie! Sie und mich aufhalten –
+Wassilij Michailowitsch! ... Doch – nicht wahr –
+ein Glas Tee? He! Bedienung! ... Und Sie, versteht
+sich, werden doch auch nicht ein Glas ablehnen!“
+</p>
+
+<p>
+Murin nickte nur mit dem Kopf, wodurch er wohl
+zu verstehen gab, daß er das Angebot ganz selbstverständlich
+fand.
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch schnauzte zunächst den eingetretenen
+Diener wegen seiner angeblichen Saumseligkeit
+an und bestellte dann in strengem Tone noch drei Glas
+Tee, worauf er sich auf den nächsten Stuhl neben Ordynoff
+niederließ. Nachdem er sich gesetzt, drehte er
+den Kopf wie eine Pappkatze bald nach rechts, bald
+nach links, sah von Murin zu Ordynoff und von Ordynoff
+zu Murin. Seine Lage war keineswegs angenehm.
+Offenbar wollte er etwas sagen, etwas vielleicht
+äußerst Kitzliges, wenigstens für den einen Teil;
+doch ungeachtet aller seiner Gedankenanstrengungen
+brachte er nichts über die Lippen ... Ordynoff schien
+auch nicht recht zu wissen, was er sagen, und noch viel
+weniger, was er denken sollte. Es gab einen Augenblick,
+wo sie plötzlich beide zugleich anfangen wollten.
+... Währenddessen hatte der schweigsame Murin Zeit,
+sie aufmerksam zu beobachten und in sein Gesicht wieder
+den Ausdruck der Ruhe zu bringen ...
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,“ begann
+plötzlich Ordynoff, „daß ich mich infolge eines
+unangenehmen Zwischenfalls gezwungen sehe, meine
+Wohnung zu verlassen, und ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja denken Sie sich!“ unterbrach ihn Jaroslaw
+Iljitsch. „Ich war, offen gestanden, baff, als mir dieser
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+ehrenwerte Mann hier von Ihrem Entschluß Mitteilung
+machte. Aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, <em>er</em> hat es Ihnen bereits mitgeteilt?“ fragte
+Ordynoff verwundert, und blickte auf Murin.
+</p>
+
+<p>
+Dieser strich sich über den Bart und lächelte vor
+sich hin.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was sagen Sie dazu!“ fuhr Jaroslaw Iljitsch
+fort. „Übrigens – oder habe ich da vielleicht
+was mißverstanden? Jedenfalls muß ich sagen, daß
+– ich versichere Sie bei meiner Ehre! – daß in seinen
+Worten auch nicht der Schatten einer Sie kränkenden
+Äußerung enthalten gewesen ist ...“
+</p>
+
+<p>
+Und Jaroslaw Iljitsch errötete hierbei und vermochte
+nur mit Mühe seine Erregung niederzuhalten.
+Murin, der sich an der Verwirrung Jaroslaw Iljitschs
+und seines Gastes inzwischen genugsam ergötzt zu haben
+schien, hielt es nun wohl für angemessen, auch mit
+der Sprache herauszurücken, und trat einen Schritt
+vor.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dieserhalb, Euer Wohlgeboren,“ begann
+er langsam, sich nach Bauernart vor Ordynoff
+verneigend, „Eure Wohlgeboren zu belästigen gewagt.
+Es ist nun mal so, Herr, es kommt schon so heraus –
+Sie wissen doch selber: wir – wollte sagen ich und
+meine Hausfrau – wir wären ja mehr als froh und
+würden auch kein Wort dawider reden ... Aber –
+was soll man da viel sagen – was hab’ ich denn für
+eine Wohnung, das wissen und sehen Sie doch selbst,
+Herr! Und was haben wir denn überhaupt – grad
+nur so viel, daß man satt wird, wofür wir denn auch
+genugsam dem Schöpfer danken und zu ihm beten, und
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+ihn bitten, er möge uns seine Gnade auch fernerhin
+in diesem Maße zuteil werden lassen. Aber sonst, Herr,
+Sie sehen doch selbst, wie’s ist, was soll man da viel
+reden?“ Und Murin wischte sich nach echter Bauernart
+mit dem Ärmel ruhig den Bart.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff fühlte nur, wie ihn Ekel erfaßte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, es ist wahr, ich habe Ihnen auch schon von
+ihm erzählt: er ist krank, tatsächlich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ce malheur</span> ...
+das heißt, Verzeihung, ich wollte ... ich beherrsche die
+französische Sprache nicht vollkommen, aber wie gesagt
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja eben, wie gesagt ... das heißt ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff und Jaroslaw Iljitsch machten sich gegenseitig
+so etwas wie eine halbe Verbeugung, natürlich
+ohne sich deshalb von den Stühlen zu erheben, und
+Jaroslaw Iljitsch suchte das entstandene kleine Mißverständnis
+mit einem entschuldigenden Lachen zu verwischen,
+fuhr jedoch sogleich wieder fort:
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens habe ich mich soeben ausführlich bei
+ihm erkundigt, und wie er mir erklärte – und ich
+glaube ihm, da ich ihn als Ehrenmann kenne, aufs
+Wort! – daß die Krankheit jenes ... jungen Weibes
+...“
+</p>
+
+<p>
+Hier sah der gewissenhafte Jaroslaw Iljitsch –
+vermutlich um einen kleinen Zweifel zu beseitigen, der
+sich wieder auf Murins Gesicht gezeigt hatte, mit fragendem
+Blick zu ihm auf.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, unserer Hausfrau ...“
+</p>
+
+<p>
+Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch begnügte sich
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+sogleich mit der ihm zuteil gewordenen Erklärung und
+fuhr schnell fort:
+</p>
+
+<p>
+„... Ihrer Hausfrau – das heißt, jetzt ist sie es
+ja nicht mehr, aber sie war es – also Ihrer ... das
+heißt, pardon, ich weiß nicht ... nun ja! Sehen Sie,
+sie ist eben krank und dem müssen Sie Rechnung tragen.
+Sie sagt, sie störe Sie ... in Ihrer Beschäftigung,
+und auch er ... Sie haben mir nämlich einen
+wichtigen Zwischenfall verschwiegen, Wassilij Michailowitsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Welch einen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja – das mit der Flinte,“ sagte in der schonendsten
+Weise flüsternd Jaroslaw Iljitsch, wobei nur ein
+verschwindender Bruchteil, höchstens ein Milliontel
+eines Vorwurfs aus dem zart-freundschaftlichen Tonfall
+seiner Tenorstimme herauszuhören war.
+</p>
+
+<p>
+„Aber,“ fügte er schnell hinzu, „jetzt, wo ich alles
+weiß – er hat mir nämlich den ganzen Vorgang erzählt
+– kann ich Ihnen nur sagen, daß es von Ihnen
+höchst anständig und anerkennenswert war, ihm seine
+unbedachte Tat zu verzeihen. Ich schwöre Ihnen, ich
+sah Tränen in seinen Augen, als er davon sprach! ...“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch errötete wieder ein wenig; seine
+Augen glänzten und er rückte zufrieden seinen Stuhl
+und sich selbst etwas von der alten Stelle.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, wollte sagen, wir, Herr, Euer Wohlgeboren,
+will sagen ich und meine Hausfrau, wie beten wir für
+Euch zu Gott,“ begann wieder Murin, sich an Ordynoff
+wendend – während Jaroslaw Iljitsch noch
+wie gewöhnlich seine Erregung niederkämpfte – und
+er sah ihn dabei unverwandt an, „aber Ihr wißt doch
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+selbst, Herr, sie ist ein krankes, dummes Weib; und
+mich wollen die Füße auch nicht so recht mehr tragen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach ihn Ordynoff ungeduldig,
+„ich bin ja bereit, meinetwegen sofort! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Herr, will sagen, wir wären ja mit Verlaub,
+mit Euer Wohlgeboren mehr als zufrieden.“
+(Murin verbeugte sich wieder äußerst tief.) „Ich, Herr,
+ich rede nicht davon; ich wollte nur ein Wort noch
+sagen – sie ist doch, Herr, fast verwandt mit mir,
+wenn auch nicht nah, sondern nur so wie man beispielsweise
+zu sagen pflegt, etwa durch sieben Scheffel
+Erbsen, will sagen, Euer Wohlgeboren mögen uns
+unsere einfache Ausdrucksweise zugute halten, wir
+sind niedrige Leute – aber sie ist ja schon von Kindheit
+an so! Eigenwillig, im Walde aufgewachsen, nur
+unter den Barkenknechten und Fabrikarbeitern. Und
+da brannte dann noch das Haus nieder; und ihre Mutter,
+Herr, verbrannte; und auch der Vater verbrannte
+– aber sie selbst, Herr, erzählt das doch Gott weiß
+wie ... Ich will ihr nur nicht widersprechen, aber in
+Moskau haben die größten Ärzte sie untersucht, ein
+ganzes Kon... Konsilium, wie sie sagen ... doch
+nichts war zu machen, Herr, sie ist ganz unheilbar, das
+ist es! Ich allein bin ihr noch geblieben, und so lebt
+sie denn bei mir ... will sagen, so leben wir denn
+beide, beten zu Gott und hoffen auf seine Allmacht;
+sonst aber – mag sie reden, was sie will, ich widerspreche
+ihr schon gar nicht mehr ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff erbleichte. Jaroslaw Iljitsch sah wieder
+bald den einen, bald den anderen an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+„Aber ich wollte nicht davon reden, Herr ... nein!“
+fuhr Murin fort und schüttelte ernst das Haupt. „Sie
+ist nun einmal so, will sagen, von so heißblütigem
+Schlage, das Köpfchen stürmisch, liebevoll und liebebedürftig,
+ist wie’n Wirbelwind, hat alleweil Verlangen
+nach einem lieben Freunde, will immer – wenn
+ich mit Verlaub Euer Gnaden so sagen darf –, daß
+man ihrem Herzen einen Geliebten gebe; das ist eben
+ihre Verrücktheit. So erzähle ich ihr denn Märchen,
+um sie abzulenken und zu zerstreuen. Das ist nun mal
+so. Aber ich hab’ ja doch, Herr, gesehen, wie sie – verzeiht
+schon, Herr, mein dummes Wort,“ entschuldigte
+Murin sich mit einer Verbeugung und indem er wieder
+mit dem Ärmel den Bart vom Munde nach links und
+rechts wischte, „wie sie beispielsweise mit Euer Gnaden
+näher bekannt geworden ist, will sagen, um beispielsweise
+zu reden, daß Sie, halten zu Gnaden, beispielsweise
+bezüglich der Liebe sich ihr zu nähern
+wünschten ...“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch wurde feuerrot und blickte vorwurfsvoll
+auf Murin. Ordynoff bezwang sich so weit,
+daß er äußerlich ruhig auf seinem Stuhl sitzen blieb.
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... will sagen, ich, Herr, ich wollte nicht
+davon reden ... ich bin, halten zu Gnaden, nur ein
+einfacher Bauer, Herr ... wir sind niedrige Leute, sind
+unwissend und ungebildet, Herr, sind Eure Diener.“
+Er machte wieder eine tiefe Verbeugung. „Und wie
+werden wir, ich und mein Weib, für Euer Gnaden beten!
+... Worüber hätten wir auch zu klagen? –
+wenn man nur immer satt wird und gesund bleibt,
+dann ist man schon zufrieden. Aber was soll ich denn,
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+Herr, tun? – soll ich freiwillig den Kopf in die
+Schlinge stecken! Ihr wißt doch, Herr, das ist eine Lebensfrage,
+habt Mitleid mit uns, das würde ja sein
+wie mit einem Liebhaber! ... Halten zu Gnaden,
+Herr, mein grobes Wort ... bin ein Bauer und Ihr
+seid ein Herr ... Aber Euer Gnaden sind eben ein
+junger, stolzer, heißer Mensch, sie aber, Herr, Ihr wißt
+doch selbst, ist noch ein Kind, jung und unvernünftig
+– wie weit ist es denn da mit ihr bis zur Sünde!
+Sie ist ja gewiß ein frisches, rosiges, liebes Weib, und
+mich Alten plagt immer die Krankheit. Nun was? Wie
+man sieht, muß der Teufel Euer Gnaden schon arg
+umgarnt haben! Ich zerstreue sie schon immer mit
+Märchen und ähnlichen Geschichten, zerstreue sie wirklich!
+... Und wie wir für Euer Gnaden beten würden!
+will sagen, wirklich von Herzensgrunde! ... Und
+was finden denn Euer Gnaden an ihr? Wenn sie auch
+schön ist, sie bleibt doch eine Bäuerin, ein einfaches
+Weib, das zu mir, dem einfachen Bauern paßt! Euch
+aber, Herr, steht es doch nicht an, sich mit Bäuerinnen
+abzugeben! Und wie wir doch für Euer Gnaden beten
+werden, wirklich von Herzensgrunde! ...“
+</p>
+
+<p>
+Und Murin neigte sich von neuem tief, tief und
+blieb lange in dieser untertänigst ergebenen Stellung,
+während er zugleich unausgesetzt mit dem Ärmel den
+Bart vom Munde zu den Seiten strich. Jaroslaw Iljitsch
+wußte kaum noch, wo er sich lassen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... tja, der gute Mann,“ begann er, nur so,
+um etwas zu sagen, „erzählte mir da auch so einiges
+... wie gesagt, es scheint eben doch nicht so weiter zu
+gehen. Nur, bitte, denken Sie deshalb nicht, bester
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+Wassilij Michailowitsch, daß ich mir da ... vielleicht
+irgendwelche Gedanken zu machen erlaube! ... Wie
+gesagt,“ unterbrach er sich schnell, „ich hörte, Sie seien
+noch immer krank?“ fragte er teilnehmend und sah
+Ordynoff vor lauter Verlegenheit mit förmlich bittendem
+Blick an.
+</p>
+
+<p>
+„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte Ordynoff
+schnell, sich an Murin wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Wie denn, Herr! Wir sind doch keine Räuber!
+Euer Gnaden werden uns doch nicht beleidigen wollen!
+Nein, Herr, Euer Wohlgeboren sollten sich schämen,
+– wodurch haben wir denn Euer Gnaden gekränkt?
+Ich bitte!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... einstweilen – erlauben Sie mal, mein
+Freund: so geht das doch auch nicht! Er war immerhin
+Ihr Mieter – ja, fühlen Sie denn nicht, daß umgekehrt
+Sie ihn durch Ihre Weigerung, eine Entschädigung
+dafür anzunehmen, empfindlich kränken, ja gewissermaßen
+sogar beleidigen?“ legte sich Jaroslaw
+Iljitsch ins Mittel, da er es für seine Pflicht hielt,
+Murin die peinliche Seite seiner Handlungsweise zu
+Bewußtsein zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte, Herr! Wie kommen Euer Wohlgeboren
+nur darauf? Erbarmen Sie sich! Inwiefern
+sind wir denn Eurer Ehre zu nahe getreten? Haben
+uns doch redlich und weidlich bemüht, alles zu tun,
+was in unseren Kräften steht! Laßt es gut sein, Herr,
+Gott verzeihe Euch! Sind wir denn Heiden oder Wegelagerer?
+Wir hätten ja nichts dawider, mag er bei
+uns leben, unser einfaches Essen mit uns teilen und
+es zur Gesundheit verzehren, – mag er, mag er –
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+wir würden ja nichts dawider sagen und ... kein Wort
+reden; aber da hat nun der Teufel seine Hand im
+Spiel, ich bin ein kranker Mensch und auch sie ist
+ein krankes Weib – was soll man da tun! Es ist
+niemand zum Bedienen da, sonst aber wären wir ja
+von Herzen froh. Und wie wir doch für Euer Gnaden,
+Herr, beten werden, will sagen, wie inbrünstig beten!“
+</p>
+
+<p>
+Murin neigte sich wieder tief vor Ordynoff. Jaroslaw
+Iljitsch war vor lauter Anteilnahme geradezu
+gerührt und wandte seinen Blick fast stolz Ordynoff
+zu.
+</p>
+
+<p>
+„Was sagen Sie dazu, ist das nicht ein edler Zug!“
+rief er begeistert aus. „Ist es nicht ein heiliges Gefühl
+der Gastfreundschaft, das in unserem russischen
+Volke schlummert!“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff sah ihn wild an und maß ihn vom Kopf
+bis zu den Füßen mit einem Blick, in dem fast Entsetzen
+sich ausdrückte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, so ist es wirklich, Herr, Gastfreundschaft ist
+uns heilig, und wie!“ bestätigte Murin, und wieder
+wischte der Ärmel den Bart vom Munde nach links
+und rechts, „und da kommt mir soeben ein Gedanke:
+der Herr war bei uns eben nur zu Gast, bei Gott, nur
+zu Gaste,“ fuhr er fort, indem er sich Ordynoff näherte,
+„und es wäre ja alles gut, Herr, – nun, beispielsweise
+einen Tag, sagen wir, noch einen – ich
+würde ja wirklich nichts dawider haben. Aber die
+Sünde verführt, und meine Hausfrau ist nun einmal
+nicht ganz gesund. Ja, wenn sie nicht wäre! – will
+sagen, wenn ich beispielsweise allein leben würde! –
+oh, wie würde ich da Euer Gnaden dienen und alles
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+zu Gefallen tun! – will sagen, das steht ja ganz außer
+Frage! Wen sollten wir denn achten, wenn nicht
+Euer Gnaden? Und ich würde Euch schon gesund machen,
+Herr, wirklich, ich kenne ein Mittel ... Nur
+zu Gaste seid Ihr bei uns gewesen, Herr, bei Gott, da
+habt Ihr mein Wort darauf, wirklich nur zu Gaste!
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein in der Tat, gibt es nicht ein solches Mittel?“
+bemerkte Jaroslaw Iljitsch ... brach aber kurz
+ab und wandte sich schleunigst zur Seite.
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff hatte ihm entschieden unrecht getan, als
+er ihn mit so wilder Verwunderung maß.
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch war natürlich einer der ehrlichsten
+und anständigsten Menschen, doch jetzt, wo er
+endlich alles begriffen hatte, war seine Lage allerdings
+eine äußerst schwierige. Er wollte, wie man so
+sagt, einfach bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynoff
+allein gewesen, so hätte er sich selbstverständlich
+(zwei so gute Freunde unter sich!) nicht bezwungen
+und sich rückhaltlos dem Ausbruch seiner Heiterkeit
+hingegeben. Jedenfalls hätte er, eben wie ein im Grunde
+anständiger Kerl, voll Mitempfinden Ordynoff die
+Hand gedrückt, hätte ihm aufrichtig und wahrheitsgemäß
+versichert, daß er ihn nun noch doppelt achte und
+es unter allen Umständen verzeihlich finde, daß usw.
+... Jugend bliebe eben Jugend. Doch in Murins Gegenwart
+war das natürlich ausgeschlossen: und so befand
+er sich denn in einer so peinlichen Lage, daß er
+nicht wußte, wohin er mit sich sollte ...
+</p>
+
+<p>
+„Ein Mittel, will sagen, ein Heilmittel,“ versetzte
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+Murin, dessen ganzes Gesicht nach dem ungeschickten
+Zwischenruf Jaroslaw Iljitschs ins Zucken geriet.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, Herr, ich würde in meiner Dummheit, das
+heißt, bei meinem bäuerischen Unverstand, nur das sagen,“
+fuhr er fort, wieder einen Schritt näher tretend:
+„Bücher, Herr, habt Ihr arg viel gelesen; ich sage
+auch: klug seid Ihr sehr, seid sogar arg klug geworden
+und Euer Verstand ist arg gewachsen; aber nun, wie
+man bei uns Bauern zu sagen pflegt, nun ist der Verstand
+da angelangt, wo er stille steht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Genug! hören Sie auf!“ unterbrach ihn Jaroslaw
+Iljitsch in strengem Ton.
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe,“ sagte Ordynoff. „Ich danke Ihnen,
+Jaroslaw Iljitsch. Gewiß, gewiß, ich werde Sie besuchen,
+nächstens,“ versprach er noch schnell, der Aufforderung
+zuvorkommend, da sie schon in der Gebärde
+lag, mit der ihn Jaroslaw Iljitsch zurückzuhalten suchte.
+„Leben Sie wohl ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff hörte nichts mehr. Halb wahnsinnig verließ
+er das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Er war wie zerschlagen und alles Denken war in
+ihm erstarrt. Er hatte eigentlich nur die dumpfe Empfindung
+seiner Krankheit, doch zugleich erfaßte ihn eine
+kalte Verzweiflung, die ihn den einen, kaum bewußt gefühlten
+Schmerz in der Brust vergessen ließ. Er dachte
+an den Tod, dachte, daß es das beste wäre, jetzt schnell
+zu sterben. Seine Füße versagten ihm den Dienst und
+er setzte sich auf eine Bank an einem Zaun, ohne den
+Vorübergehenden irgendwelche Beachtung zu schenken:
+allen den Leuten, die sich nach und nach um ihn zu
+versammeln begannen, ihn teils neugierig und mitleidig
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+betrachteten, teils Fragen an ihn stellten und sich
+besorgt ereiferten. Da vernahm er plötzlich durch das
+Stimmengewirr Murins Stimme, die ihn wie aus
+einem Traum schreckte, und er sah auf. Der Alte stand
+neben ihm: sein bleiches Gesicht war ernst und nachdenklich.
+Das war ein ganz anderer Mensch, als der,
+der sich bei Jaroslaw Iljitsch in so frecher Weise über
+ihn lustig gemacht hatte. Ordynoff erhob sich und Murin
+faßte ihn am Arm und führte ihn aus der Menge.
+</p>
+
+<p>
+„Du mußt noch deine Habseligkeiten mitnehmen,“
+sagte er, indem er Ordynoff flüchtig von der Seite ansah
+und seinen Arm wieder freigab. „Sei nicht traurig,
+Herr!“ versuchte er ihn zu ermuntern. „Du bist jung,
+wozu da trauern! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Bist gekränkt, Herr? Ärgerst dich also ... aber
+worüber denn? Jeder verteidigt sein Gut!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kenne Sie nicht,“ stieß Ordynoff hervor, „und
+Ihre Geheimnisse gehen mich nichts an. Aber sie, sie!“
+rief er, und Tränen entströmten seinen Augen und
+rollten über seine Wangen, doch der Wind trocknete sie
+schnell ... Ordynoff hob die Hand, wie um sie fortzuwischen.
+– Aber seine Geste, sein Blick, die unwillkürliche
+Bewegung seiner bebenden bläulichen Lippen
+– alles schien darauf hinzudeuten, daß sein Geist nicht
+lange mehr widerstandsfähig war und er dem Wahnsinn
+verfallen sein mochte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dir doch schon erklärt,“ sagte Murin, die
+Brauen zusammenziehend, „sie ist eine Halbirrsinnige!
+Wodurch und wie sie irrsinnig wurde ... wozu brauchst
+du das zu wissen? Mir ist sie auch so – das, was sie
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+mir ist! Ich habe sie liebgewonnen mehr als mein Leben
+und werde sie niemand abtreten. Begreifst du jetzt!“
+</p>
+
+<p>
+In Ordynoffs Augen flammte es auf.
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum,“ stieß er hervor, „warum ist mir
+denn nun, als hätte ich mein Leben verloren? Warum
+schmerzt denn <em>mein</em> Herz? Warum mußte ich Katherina
+kennen lernen?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum?“ wiederholte Murin mit kurzem Auflachen,
+ward aber sogleich ernst und nachdenklich. „Ja,
+warum – das weiß ich auch nicht,“ murmelte er endlich.
+„Weibersinn ist schließlich kein Meeresgrund, erforschen
+kann man ihn schon, aber! ... Was sie wollen,
+das muß man ihnen geben – ob sie’s mit List, Beharrlichkeit
+oder Zähheit verlangen – aber geben muß
+man’s ihnen, als hätte man es nur aus der Tasche zu
+nehmen und hinzulegen. Da ist es denn wohl wahr,
+Herr, daß sie mit Ihnen von mir weggehen wollte,“
+fuhr er nachdenklich fort. „Sie verschmähte den Alten,
+nachdem sie mit ihm alles erlebt, was man erleben
+kann! Da müssen Sie ihr anfangs arg in die Augen
+gestochen haben! Oder war’s nur so – ob Sie, ob ein
+anderer ... Ich verbiete ihr ja nichts, lasse ihr in
+allem ihren Willen. Und sollte sie Vogelmilch verlangen
+– ich verschaffe ihr auch Vogelmilch, werde selbst
+den Vogel erschaffen, wenn es einen solchen noch nicht
+gibt! Eitel ist sie! Nach Freiheit strebt sie und dabei
+weiß sie selbst nicht, was das Herz will. Und da hat es
+sich denn jetzt herausgestellt, daß es am besten doch wieder
+beim alten bleibt! Ach, Herr! Jung bist du, noch
+arg jung! Dein Herz ist heiß wie das Herz eines jungen
+Mädchens, das sich noch mit dem Ärmel die Tränen
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+trocknet, wenn es sich vom Liebsten verlassen sieht.
+Höre, Herr, was ich dir sage: ein schwacher Mensch
+kann sich allein nicht halten! Gib ihm alles, was du
+willst – er wird dir freiwillig alles wieder zurückgeben,
+und wenn du ihm auch das halbe Erdreich schenkst und
+sagst: ‚Nimm und herrsche!‘ – was meinst du, was er
+tut? – in den Stiebel kriecht er und versteckt sich, so
+klein macht er sich! Und so ist es auch mit dem freien
+Willen: gibst du ihn ihm, dem schwachen Menschen,
+so wird er ihn selbst binden und ihn dir zurückgeben.
+Dummen Herzen nützt Freiheit nichts. Sie wissen damit
+nichts anzufangen. Ich sage dir das nur so – bist
+noch arg jung! Sonst aber – was gehst du mich an?
+Gekommen, gegangen – ob du oder ein anderer: bleibt
+sich gleich. Ich hab’s ja schon von Anfang an gewußt,
+wie es kommen würde. Sich widersetzen, das hilft da
+nichts. Kein Wort darf man dawider sprechen, wenn
+man sein Glück bewahren will. Es ist doch, Herr,“ fuhr
+Murin fort, in seiner Art zu philosophieren, „gewöhnlich
+alles nur so ... gesagt: bis zum Ausführen hat’s
+noch eine gute Weile. Aber schließlich – was kann
+nicht vorkommen? Im Zorn ist auch das Messer zur
+Hand, oder wenn nicht, dann geht es auch unbewaffnet
+mit den Zähnen dem Feinde an die Gurgel! Wird
+dir aber offen das Messer angeboten und dein Feind
+entblößt vor dir seine breite Brust – da wirst du wohl
+zurücktreten!“
+</p>
+
+<p>
+Sie traten auf den Hof. Der Tatar, der sie schon
+von weitem hatte kommen sehen, nahm vor ihnen die
+Mütze ab und betrachtete Ordynoff mit listiger Neugier.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+„Wo ist deine Mutter? Zu Haus?“ wandte sich
+Murin barsch an ihn.
+</p>
+
+<p>
+„Zu Haus.“
+</p>
+
+<p>
+„Sag ihr, daß sie seine Sachen herunterschleppen
+soll. Und auch du, marsch! rühr dich!“
+</p>
+
+<p>
+Sie stiegen die Treppe hinauf. Die Alte, die bei
+Murin diente und die, was Ordynoff noch nicht gewußt
+hatte, die Mutter des Hausknechtes war, trug
+seine Habseligkeiten brummend zusammen und band
+sie in ein großes Bündel.
+</p>
+
+<p>
+„Warte; ich bringe dir noch etwas, was dir gehört
+...“
+</p>
+
+<p>
+Murin ging in sein Zimmer, kam aber sogleich wieder
+zurück und händigte Ordynoff ein mit Seide und
+Perlen reich gesticktes Kissen ein, dasselbe, das Katherina
+ihm unter den Kopf gelegt hatte, als er krank
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Das schickt sie dir,“ sagte er. „Jetzt gehe mit Gott,
+aber sieh zu, daß du auf dich acht gibst,“ fügte er halblaut
+in väterlichem Tone hinzu, „sonst kann es schlimm
+werden.“
+</p>
+
+<p>
+Augenscheinlich wollte er ihm beim Abschied nicht
+weh tun. Als aber Ordynoff bereits aus der Tür trat
+und er den letzten Blick auf ihn warf, da war es doch
+wie ein Aufflammen unendlicher Bosheit, das sich in
+seinem Blick verriet. Fast wie mit Ekel schloß Murin
+hinter ihm die Tür.
+</p>
+
+<p>
+Zwei Stunden darauf zog Ordynoff zu Spieß, dem
+Deutschen. Tinchen schlug die Hände zusammen und
+rief „Mein Gott und Vater!“ als sie ihn erkannte. Das
+erste war, daß sie sich nach seiner Gesundheit erkundigte,
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+und als sie erfuhr, daß er krank war, schickte sie sich
+sogleich an, ihn zu kurieren.
+</p>
+
+<p>
+Der alte Spieß erzählte ihm darauf mit Selbstzufriedenheit,
+daß er gerade im Begriff gewesen sei, den
+Mietszettel wieder unten am Haustor auszuhängen, da
+dies genau der letzte Tag sei, an dem seine Anzahlung
+der Miete ablaufe. Natürlich konnte der Alte nicht
+umhin, bei der Gelegenheit ein Wörtchen über den
+deutschen Ordnungssinn im allgemeinen wie im besonderen
+einzuflechten und desgleichen auch die bekannte
+deutsche Ehrlichkeit rühmend hervorzuheben. Am selben
+Tage erkrankte Ordynoff ernstlich und erst nach
+vollen drei Monaten konnte er das Bett verlassen.
+</p>
+
+<p>
+Seine Genesung machte nur sehr langsame Fortschritte.
+Das Leben bei den Deutschen verging einförmig,
+ruhig, still. Der Alte schien im Grunde ein Gemütsmensch
+zu sein, ohne besondere Eigenheiten, und
+das nette Tinchen war, natürlich innerhalb der Gebote
+der Sittsamkeit, alles, was man nur wünschen konnte.
+Und doch erschien das Leben Ordynoff so öde und
+farblos, als hätte es für ihn auf ewig alles Licht und
+alle Farben verloren. Er versank in grübelndes Sinnen
+und wurde reizbar; er war gleichsam preisgegeben den
+Eindrücken, die er empfing und er empfand sie mit
+krankhafter Nachdrücklichkeit. So kam es, daß er in
+einen Zustand verfiel, der an Hypochondrie gemahnte
+und schließlich sein Empfinden gegen äußere Eindrücke
+völlig abstumpfte. Oft rührte er wochenlang kein Buch
+an. Die Zukunft war für ihn aussichtslos, sein Geld
+ging auf die Neige und er ließ schon im voraus die
+Arme sinken; ja er dachte nicht einmal an die Zukunft.
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+Manchmal kam wohl seine frühere Liebe zur Wissenschaft
+über ihn, das frühere Fieber, das ihn zum
+Schaffen gedrängt hatte, und die Gedanken und Gestalten,
+die einst in seinem Geist entstanden waren, erstanden
+jetzt wieder aus der Vergangenheit und stellten
+sich förmlich greifbar vor ihm auf ... doch sie bedrückten
+ihn jetzt nur und lähmten seine Energie. Seine Gedanken
+wurden nicht zu Taten. Die Kraft zur Schöpfung war
+ausgeschaltet und so schien das Schaffen wie stehen geblieben.
+Es war, als erständen alle diese Ideen jetzt nur
+noch deshalb wie Giganten in seinem Geiste, um über
+seine, ihres Schöpfers, Kraftlosigkeit zu spotten. Unwillkürlich
+kam es ihm in einer traurigen Stunde in
+den Sinn, sich mit jenem vorwitzigen Zauberlehrling
+zu vergleichen, der, nachdem er von seinem Meister
+den Zauberspruch erlauscht, dem Besen befiehlt, das
+Wasser herbeizutragen, und der dann schließlich in
+diesem Wasser ertrinkt, weil er vergessen hat, wie man
+ihm Einhalt gebietet. Vielleicht, wer weiß, wäre von
+ihm eine große, selbständige, neue Idee in die Welt gesetzt
+worden. Vielleicht war es ihm bestimmt gewesen, ein
+Großer in seiner Wissenschaft zu werden. Wenigstens
+hatte er früher selbst so etwas geglaubt. Ein aufrichtiger
+Glaube aber ist schon eine Bürgschaft für die Zukunft.
+Jetzt jedoch lachte er über diesen seinen blinden
+Glauben und – kam keinen Schritt vorwärts. Ein halbes
+Jahr vorher war das anders gewesen: da hatte er in
+klaren Zügen eine Skizze zu einem Werk entworfen, in
+dem er seine Anschauungen festlegen wollte, und auf
+dieses Werk hatte er, jung wie er war, die größten,
+auch die größten materiellen Hoffnungen aufgebaut.
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+Das Werk war ein Buch über Kirchengeschichte und
+Worte tiefster glühendster Überzeugung entströmten,
+während er an ihm schrieb, seiner Feder. Jetzt nahm er
+diesen Plan wieder vor, las ihn durch, änderte, dachte
+über ihn nach, las und suchte in den verschiedensten
+Büchern, und schließlich verwarf er seine Idee – verwarf
+sie, ohne sie durch eine andere zu ersetzen. Dafür
+begann so etwas wie Mystik, ja sogar so etwas wie ein
+Glaube an Prädestination und ein Ahnen der letzten
+Geheimnisse dieser Welt sich mehr und mehr in seine
+Seele einzudrängen. Der Unglückliche litt unter seinen
+unendlichen Qualen und wandte sich schließlich Gott zu,
+um bei ihm Erlösung zu finden. Die Aufwärterin der
+Deutschen, eine alte gottesfürchtige Russin, erzählte
+mit Wohlgefallen, wie ihr stiller Mieter in der Kirche
+bete und wie er zuweilen stundenlang regungslos auf
+den Knien liege, die Stirn auf die Fliesen gebeugt ...
+</p>
+
+<p>
+Er hatte zu keinem Menschen ein Wort von seinem
+Erlebnis gesagt. Zuweilen aber, namentlich in der
+Dämmerung, wenn die Kirchenglocken läuteten und zur
+Abendandacht riefen und ihr Klang in ihm wieder die
+Erinnerung an jenen Augenblick erweckte ... als zum
+erstenmal jenes Gefühl über ihn kam, das er noch nie
+empfunden und das ihn erzittern ließ, während er, neben
+ihr kniend, alles andere um sich her vergaß und
+nur ihr Herz pochen hörte ... und wie da plötzlich
+diese lichte Hoffnung mit einemmal sein einsames Leben
+durchstrahlt hatte und er vor lauter Freude und Entzücken
+in Tränen ausgebrochen war – wenn er das alles
+jetzt nochmals durchlebte, dann war es ihm, als risse
+ihn ein Sturm mit sich fort, ein Sturm, der sich aus
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+seiner eigenen, für immer verwundeten Seele erhob;
+dann erzitterte er und die Qual der Liebe brannte wieder
+wie sengendes Feuer in seiner Brust; dann tat ihm
+das Herz vor Leid und Leidenschaft zum Zerspringen
+weh und mit der Trauer wuchs seine Liebe, wurde noch
+immer größer und tiefer. Oft saß er so, stundenlang,
+vergaß sich selbst und sein ganzes alltägliches Leben,
+vergaß alles in der Welt und saß stundenlang auf
+einem Fleck, einsam, traurig – stützte dann wohl die
+Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den
+Händen, bis ihm die Tränen durch die Finger rannen
+und er hoffnungslos müde den Kopf schüttelte, während
+seine Lippen leise flüsterten: „Katherina! Du Süße!
+Meine Taube du! Mein Schwesterchen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Nach und nach jedoch begann eine häßliche Überzeugung
+sich immer mehr in ihm festzusetzen, ja sie verfolgte
+ihn geradezu und peinigte ihn und stand doch mit
+jedem Tage unabweisbarer vor ihm, bis sie aus einem
+bloßen Verdacht zur Wahrscheinlichkeit und zu guter Letzt
+zur Gewißheit und Überzeugung für ihn wurde. Es
+schien ihm – und wie gesagt, zuletzt glaubte er selbst
+fest daran – es schien ihm, daß Katherinas Geist und
+Vernunft keineswegs gelitten hatten, daß aber Murin
+seinerseits auch nicht so unrecht hatte, wenn er sie
+ein „schwaches Herz“ nannte. Es schien ihm, daß irgendein
+verbrecherisches Geheimnis sie mit dem Alten
+verband, daß aber das Verbrechen selbst Katherina gar
+nicht recht zu Bewußtsein gekommen, eben wegen ihres
+reinen Herzens, und daß sie so in seine Gewalt geraten
+war. Wer waren sie? – er wußte es nicht. Aber ihn
+verfolgte die Vorstellung einer erbarmungslosen, eifersüchtigen
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+Tyrannei, die der Alte mit der Beherrschung
+des armen schutzlosen Geschöpfs ausübte, und sein Herz
+erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es schien ihm, daß
+der Alte, als ihr vielleicht einmal so etwas wie eine
+Ahnung des ganzen Zusammenhangs aufgegangen war,
+ihr dann arglistig das „Verbrechen“ vorgehalten hatte,
+ihre Schuld und ihren Fall, um dann listig das arme
+„<em>schwache</em>“ Herz zu quälen und den Tatbestand in
+schlauer Weise zu verdrehen, wobei er mit Absicht ihre
+Blindheit da, wo es ihm ratsam erschien, noch verstärkt
+und andererseits die Neigungen ihres heißen, verwirrten,
+unerfahrenen Herzens begünstigt haben mochte, bis
+er ihr auf diese Weise allmählich die Flügel gestutzt und
+die einst freie unabhängige Seele so weit gebracht, daß
+sie schließlich weder zu einer Selbstbefreiung durch
+eine Rettung ins wirkliche Leben, noch zu überhaupt
+einer Auflehnung gegen seine schlaue Gewaltherrschaft
+fähig war ...
+</p>
+
+<p>
+Mit der Zeit wurde Ordynoff noch menschenscheuer,
+als früher, seine Deutschen hinderten ihn daran nicht
+im geringsten, was um der Gerechtigkeit willen nicht
+verschwiegen sei. Ab und zu aber machte er sich doch
+auf und ging hinaus, um dann lange ziellos durch die
+Straßen zu wandern. Es geschah das vornehmlich in
+der Dämmerstunde und dazu suchte er sich dann öde
+und entlegene Stadtteile auf, wo selten ein Mensch zu
+sehen war. An einem regnerischen Vorfrühlingsabend
+begegnete er in einer dieser Gassen Jaroslaw Iljitsch.
+</p>
+
+<p>
+Der war inzwischen merklich magerer geworden,
+seine freundlichen Augen hatten ihren Glanz verloren
+und der ganze Mensch machte den Eindruck, als habe
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+das Leben ihn enttäuscht. Er hatte es gerade sehr eilig
+und eine Angelegenheit vor, die angeblich keinen Aufschub
+duldete – war dabei durchnäßt und angeschmutzt,
+und an seiner sonst sehr anständigen, jetzt jedoch von
+der Witterung etwas blau angelaufenen Nase hing in
+beinahe phantastischer Weise ein Regentropfen. Außerdem
+trug er einen Backenbart, während er früher nur
+einen Schnurrbart gehabt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Backenbart und der Umstand, daß Jaroslaw
+Iljitsch im ersten Augenblick fast tat, als wolle er seinem
+alten Bekannten ausweichen, frappierten Ordynoff
+... Und sonderbar! gewissermaßen schmerzte ihn
+das sogar und kränkte sein Herz, das doch bis dahin
+noch niemals des Mitleids anderer Menschen bedurft
+hatte. Der frühere Jaroslaw Iljitsch war ihm lieber
+gewesen, dieser gutmütige, dieser naive und – entschließen
+wir uns, es endlich offen auszusprechen –
+dieser etwas dumme Jaroslaw Iljitsch, der so gar keine
+Ansprüche machte auf Enttäuschungen oder Bereicherungen.
+Es ist doch unangenehm, entschieden unangenehm,
+wenn ein <em>dummer</em> Mensch, den man einst
+vielleicht gerade wegen seiner Dummheit gern gehabt
+hat, <em>plötzlich klüger wird</em>! Übrigens verschwand
+das Mißtrauen, mit dem er im ersten Augenblick
+Ordynoff ansah, fast noch schneller, als dieser es
+wahrnehmen konnte.
+</p>
+
+<p>
+Doch ungeachtet dieser Veränderung hatte er seine
+alten Gewohnheiten keineswegs aufgegeben, wie ja bekanntlich
+fast jeder Mensch seine Gewohnheiten ins
+Grab mitzunehmen pflegt: und so begann er denn auch
+jetzt wieder ganz im Tone des besten Freundes die Unterhaltung.
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+Zunächst bemerkte er, daß er viel zu tun
+habe, dann, daß sie sich lange nicht gesehen. Darauf
+nahm aber seine Rede plötzlich eine ganz andere und jedenfalls
+ganz neue Wendung. Er begann von der Verlogenheit
+der Menschen im allgemeinen zu sprechen, von
+der Vergänglichkeit der irdischen Güter sowie von der
+irdischen Nichtigkeit überhaupt, die nur eine einzige
+Sorge kenne ... versäumte auch nicht, so ganz beiläufig
+Puschkin zu erwähnen, jedoch in fast herablassendem
+Tone, und sprach ferner von seinen guten Bekannten sogar
+mit einem gewissen Zynismus, worauf er zum
+Schluß sich noch ein paar Andeutungen über die Falschheit
+derjenigen erlaubte, die sich öffentlich Freunde
+nennen, während es in Wirklichkeit, solange die Welt
+stehe, überhaupt noch keine echte Freundschaft gegeben
+habe. Mit einem Wort, Jaroslaw Iljitsch war <em>doch</em>
+klüger geworden!
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff widersprach ihm nicht, aber eine unsagbare,
+qualvolle Traurigkeit bemächtigte sich seiner: es
+war ihm, als habe er soeben seinen besten Freund begraben!
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Stellen Sie sich vor, da hätte ich es beinahe
+zu erzählen vergessen!“ unterbrach sich plötzlich Jaroslaw
+Iljitsch, als fiele ihm etwas ungeheuer Wichtiges
+ein. „Ich habe eine Neuigkeit! Erinnern Sie sich noch
+jenes Hauses, wo Sie mal kurze Zeit wohnten?“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoff zuckte zusammen und erbleichte.
+</p>
+
+<p>
+„Können Sie sich denken, in diesem Hause hat man
+vor kurzem eine ganze Räuberbande entdeckt! – das
+heißt, verstehen Sie: eine ganze Bande! Schmuggler,
+Diebe, Spitzbuben der schlimmsten Art und weiß der
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+Teufel was noch alles! Mehrere sind schon hinter
+Schloß und Riegel, den andern ist man erst noch auf
+der Spur. Die strengsten Weisungen sind erlassen!
+Und denken Sie sich weiter: – Sie erinnern sich doch
+wohl noch des Hausbesitzers? – so’n kleines Männchen,
+gottesfürchtig, dem Anscheine nach ein ehrwürdiger,
+durch und durch anständiger, alter Mann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja – da urteilen Sie jetzt über die Menschheit!
+Gerade der ist das Haupt der Bande gewesen,
+der Anführer! Was sagen Sie dazu? Ist das nicht
+haarsträubend!“
+</p>
+
+<p>
+Jaroslaw Iljitsch sprach mit Leidenschaft und verurteilte
+mit dem einen Sünder sogleich die ganze
+Welt, denn so ein Jaroslaw Iljitsch kann eben nicht
+anders, als nach einem Ding alle Dinge beurteilen,
+das liegt nun mal in seinem Charakter.
+</p>
+
+<p>
+„Und jene? ... Und Murin?“ stieß Ordynoff
+atemlos hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Murin? Ach so – der! Nein, Murin war ein ehrwürdiger
+Alter ... Aber ... erlauben Sie mal! ...
+erlauben Sie mal! ... Sie werfen da ein neues Licht
+auf die Affäre ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie denn? Gehörte er nicht auch zur Bande?“
+</p>
+
+<p>
+Ordynoffs Herz schlug laut gegen seine Brust –
+er verging vor Spannung.
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens ... nein, wie denn das ... wie kommen
+Sie darauf?“ Jaroslaw Iljitsch richtete seine bleiernen
+Augen mit unbeweglichem Blick auf Ordynoff
+– ein Zeichen, daß er überlegte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+„Murin kann nicht darunter gewesen sein. Er hat
+schon drei Wochen vorher mit der Frau Petersburg
+verlassen – ist in seine Heimat zurückgekehrt ... Ich
+erfuhr es vom Hausknecht ... jenem Tatarenfrechling,
+erinnern Sie sich?“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-6">
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+Ein schwaches Herz
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="chapter first">
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">n</span> ihrer Wohnung im vierten Stock unter dem
+Dach lebten zwei junge Beamte, Arkadij Iwanowitsch
+Nefedewitsch und Wassjä Schumkoff.
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Ich müßte nun eigentlich den Leser darüber aufklären,
+warum ich den einen Helden meiner Erzählung
+bei vollem Namen, den anderen dagegen nur bei seinem
+Rufnamen genannt habe, sonst könnte man dieses
+Verfahren leicht für unangebracht oder für allzu vertraulich
+halten. Das aber setzte wieder voraus, daß ich
+das Alter, den Rang und Beruf der handelnden Personen
+genau feststellte. Doch weil die meisten Schriftsteller
+mit einer derartigen Einleitung beginnen, so
+habe ich mir vorgenommen, die Erzählung sofort mit
+der Handlung anfangen zu lassen – nur, um nicht
+in die abgeschmackte Art der anderen zu verfallen oder
+wie einige behaupten werden, aus Eigendünkel und
+Einbildung.
+</p>
+
+<p>
+So schließe ich denn meine Einleitung und beginne.
+</p>
+
+<p>
+Um sechs Uhr am Vorabend des neuen Jahres
+kehrte Schumkoff nach Hause zurück. Arkadij Iwanowitsch,
+der auf seinem Bett lag, erwachte und blinzelte
+verstohlen den Freund an. Er bemerkte, daß dieser
+seinen besten Anzug trug und ein blitzblankes Vorhemd
+anhatte. Das setzte ihn natürlich in Erstaunen.
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+Was beabsichtigte er wohl damit? Woher kam er?
+Obendrein hatte er heute nicht zu Hause gespeist!
+</p>
+
+<p>
+Schumkoff zündete unterdessen Licht an und Arkadij
+Iwanowitsch erriet sofort, daß sein Freund ihn
+durch ein scheinbar unbeabsichtigtes Geräusch wecken
+wollte. Und so geschah es denn auch: Wassjä hustete
+zweimal, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und
+ließ ganz zufällig seine Pfeife aus der Hand fallen,
+als er sie in der Ecke am Ofen ausklopfte. Arkadij
+Iwanowitsch mußte lachen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ist’s aber genug, du Schlauberger!“ sagte
+er.
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, du schläfst nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, weißt du: Genau kann ich’s dir nicht sagen;
+doch scheint es mir, daß ich nicht schlafe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Arkascha! Guten Tag, mein Lieber! nun
+Bruderherz ... Du weißt nicht, was ich dir zu sagen
+habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich weiß ich’s nicht! Doch komm mal ein
+bißchen her zu mir!“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä kam sofort herbei, ganz als hätte er nur
+darauf gewartet, und ohne von den Absichten Arkadij
+Iwanowitschs auch nur etwas zu ahnen. Dieser ergriff
+ihn bei der Hand, drehte ihn geschickt um, drückte
+ihn rückwärts <a id="corr-10"></a>aufs Bett und begann ihn, wie man
+sagt, „zu würgen“, was ihm, dem immer fröhlichen
+Arkadij Iwanowitsch, ein ungeheueres Vergnügen zu
+machen schien.
+</p>
+
+<p>
+„Hereingefallen!“ rief er, „hereingefallen!“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, Arkascha, was tust du mit mir? Laß
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+los, um Gottes willen, laß los, ich verderbe mir meinen
+Anzug!“
+</p>
+
+<p>
+„Das tut nichts: warum hast du auch deinen guten
+Anzug an? Sei ein andermal nicht so unvorsichtig und
+gib dich nicht selbst in meine Hände! Sprich, wo warst
+du, wo hast du gespeist?“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, um Gottes willen, laß mich los!“
+</p>
+
+<p>
+„Wo hast du gespeist?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzählen!“
+</p>
+
+<p>
+„Also erzähle!“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, aber laß mich erst los!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich lass’ dich nicht los, bevor du nicht erzählt
+hast!“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, Arkascha! Ja, verstehst du denn nicht,
+daß es so unmöglich ist, ganz unmöglich!“ stöhnte der
+schwache Wassjä und versuchte vergeblich sich aus den
+kräftigen Armen seines Freundes zu befreien, „es
+gibt doch gewisse Angelegenheiten, die ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was für Angelegenheiten?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Angelegenheiten, die, wenn man in solcher
+Lage von ihnen zu reden beginnt, allen Ernst verlieren.
+Es ist mir ganz unmöglich ... es würde nur
+lächerlich wirken und – die Sache ist doch durchaus
+nicht lächerlich, sondern sogar sehr ernst!“
+</p>
+
+<p>
+„Auch noch ernst! Was du dir nicht ausgedacht
+hast! Du, erzähle mir lieber etwas, worüber ich lachen
+kann ... Etwas Ernstes, nein etwas Ernstes will ich
+jetzt nicht hören. Was bist du mir für ein Freund?
+Bitte, sage mir doch, was bist du für ein Freund!?“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, bei Gott, ich kann nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Und ich will nichts davon wissen ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+„Höre, Arkascha!“ begann Wassjä, der quer über
+dem Bett lag und sich mit aller Gewalt mühte, seinen
+Worten Nachdruck zu geben. „Arkascha, meinetwegen
+sag’ ich’s – nur ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, was denn ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe – mich verlobt!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch nahm schweigend und ohne
+ein Wort zu verlieren, Wassjä wie ein kleines Kind auf
+seine Arme, ungeachtet dessen, daß Wassjä durchaus
+nicht so klein war, sondern recht lang, wenn auch sehr
+mager, und trug ihn von einer Ecke des Zimmers in die
+andere, ganz als wiege er ein Kind.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich werde dich Bräutigam einwickeln wie
+einen Säugling,“ gab er zur Antwort. Doch als er
+bemerkte, daß Wassjä regungslos und ohne ein Wort
+zu sagen in seinen Armen lag, besann er sich und begriff,
+daß er in seinem Scherz offenbar zu weit gegangen
+war: er stellte ihn daher mitten ins Zimmer hin
+und streichelte ihm auf die freundschaftlichste Weise
+die Backe.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, du bist doch nicht böse?“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, höre ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wohl zum neuen Jahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Bös bin ich nicht – doch, warum bist du so
+ein Kraftrüpel, so ein Unmensch? Wie oft habe ich dir
+nicht gesagt: Arkascha, bei Gott, das ist nicht sehr
+witzig, durchaus nicht sehr witzig!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun sei nur nicht gleich böse!“
+</p>
+
+<p>
+„Böse? ... Auf wen bin ich denn jemals böse!
+Aber gekränkt hast du mich doch, verstehst du das!“
+</p>
+
+<p>
+„Wodurch denn gekränkt, auf welche Weise?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+„Ich bin zu dir gekommen, wie zu einem Freunde,
+mit voller Seele und um dir mein Herz auszuschütten,
+um dir mein Glück mitzuteilen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was für ein Glück denn? Warum hast du mir
+das nicht gleich gesagt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ich heirate doch!“ antwortete geärgert
+Wassjä, denn er war wirklich gekränkt.
+</p>
+
+<p>
+„Du! Du heiratest! Ist das wahr?“ brüllte aus
+voller Kehle Arkascha. „Nein, nein ... was soll denn
+das? Und dabei vergießt er Tränen! ... Wassjä, du
+mein Wassjuk, mein Söhnchen, höre auf! Es ist also
+wirklich wahr?“ Und Arkadij Iwanowitsch umarmte
+ihn immer wieder von neuem.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, also verstehst du jetzt, was soeben in mir
+vorging?“ sagte Wassjä. „Du bist doch sonst gut zu mir,
+du bist doch mein Freund, ich weiß es. Ich kam zu dir
+voll Freude und Begeisterung und plötzlich mußte ich
+nun diese ganze Freude und diese ganze Begeisterung
+quer über dem Bette liegend, würdelos ... Du begreifst
+doch, Arkascha,“ fuhr Wassjä halblachend fort,
+„in einer so komischen Lage, in der ich in gewisser
+Hinsicht und in diesem Augenblick nicht einmal mir
+selbst angehörte ... Ich wollte doch diese Herzensangelegenheit
+nicht so erniedrigen ... Es fehlt nur noch,
+daß du mich gefragt hättest, wie sie heißt? Ich schwöre
+dir, ich hätte mir eher das Leben genommen, als dir in
+diesem Augenblick ihren Namen gesagt!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Wassjä, warum hast du mir denn das nicht
+gleich gesagt! Ich hätte ja sofort aufgehört mit dem
+Ulk!“ rief Arkadij Iwanowitsch in aufrichtiger Verzweiflung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+„Schon gut, schon gut! Ich sage ja nur so ... Du
+weißt doch ... nur – weil ich ein so gutes Herz habe.
+Es ärgert mich ja bloß, daß ich es dir nicht so sagen
+konnte, wie ich’s wollte! Ich wollte dir doch eine
+Freude bereiten, dir alles schön und feierlich mitteilen,
+dich in alles einweihen ... Wirklich, Arkascha, ich liebe
+dich doch so sehr, daß ich, wenn du nicht wärest, so
+scheint es mir, überhaupt nicht heiraten würde, ja,
+vielleicht gar nicht auf der Welt sein möchte!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch, der äußerst gefühlvoll war,
+weinte und lachte zugleich, als er das hörte. Wassjä
+gleichfalls. Beide umarmten sich immer wieder von
+neuem und vergaßen alles Gegenwärtige.
+</p>
+
+<p>
+„Wie ist denn das nur, ja, wie ist denn das nur
+gekommen? Erzähle mir doch alles, Wassjä! Ich bin,
+mein Lieber, entschuldige, ich bin erschüttert, ganz und
+gar erschüttert, als hätte der Blitz mich getroffen, bei
+Gott! Doch nein, mein Lieber, nein, du hast dir ganz
+einfach was ausgedacht. Bei Gott, du lügst!“ brüllte
+Arkadij Iwanowitsch und blickte wirklich ganz mißtrauisch
+Wassjä an, aber als er auf dessen Gesicht nun
+wirklich die leuchtende Bestätigung seiner unumstößlichen
+Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, bemerkte,
+warf er sich aufs Bett und begann sich vor
+lauter Entzücken so in ihm herumzuwälzen, daß die
+Wände zitterten.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, setz dich hierher zu mir!“ rief er, endlich
+sich im Bett aufrichtend.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, Bruderherz, ich weiß wirklich nicht – wie
+und womit beginnen!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+Beide sahen in freudiger Erregung einander an.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist sie, Wassjä?“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Artemjewa! ...“ stieß Wassjä mit vor Glück
+zitternder und noch ganz schwacher Stimme hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wirklich?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ich habe dir doch schon über sie die Ohren
+vollgeredet! Du bemerktest nur von alledem nichts! Und
+so schwieg ich denn ganz! Ach, Arkascha, was es mich
+kostete, dir gegenüber das alles zu verbergen! – doch
+ich fürchtete mich, fürchtete mich zu reden! Ich dachte,
+es könnte am Ende alles auseinandergehen, und ich
+war doch so verliebt, Arkascha! Mein Gott, mein Gott!
+Weißt du, was das für Geschichten waren,“ begann er,
+und brach sogleich wieder vor Erregung ab, „sie war
+doch vor einem Jahr bereits einmal verlobt, er aber
+wurde plötzlich irgendwohin wegversetzt, ich kannte ihn
+auch – so einer, nun, Gott mit ihm! Er hat dann
+nichts mehr von sich hören lassen und war schließlich
+für sie verschollen. Sie wartete und wartete und wußte
+nicht, was das bedeuten sollte? ... Plötzlich, vor vier
+Wochen, kehrte er zurück – bereits verheiratet, und
+ohne sich bei ihnen auch nur sehen zu lassen. War das
+nicht roh? Gemein? Niemand war da, der für sie eintrat.
+Sie weinte und weinte, die Arme, und so verliebte
+ich mich denn in sie ... ja, ich war eigentlich
+schon lange, eigentlich schon immer in sie verliebt! Ich
+tröstete sie und ging wieder und wieder zu ihr. Nun,
+und da weiß ich denn selbst nicht, wie alles gekommen
+ist! Auch sie hatte mich recht liebgewonnen: und in der
+vorigen Woche, da hielt ich es nicht mehr aus, da
+mußte ich weinen, ich schluchzte und sagte ihr alles,
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+sagte ihr, daß ich sie liebe – kurz, alles! ... ‚Ich
+würde Sie wohl auch lieben, Wassilij Petrowitsch,‘
+sagte sie, ‚ich bin aber ein armes Mädchen, darum
+spotten Sie meiner nicht – ich wage es überhaupt
+nicht mehr, jemanden zu lieben.‘ Nun, mein Freund,
+verstehst du, verstehst du mich?! ... Da haben wir uns
+denn gegenseitig das Wort gegeben. Und ich habe überlegt,
+wie ich es der Mutter mitteilen wollte? Lisenka
+sagte, es sei sehr schwierig, ich möchte noch ein wenig
+warten: sie fürchtete sich, es selbst zu tun; ‚Mutter
+wird mich Ihnen jetzt noch nicht geben wollen,‘ meinte
+sie und weinte dazu. Ich sagte ihr weiter nichts. Heute
+habe ich es nun der Alten gestanden. Lisa kniete vor
+ihr nieder und ich auch ... Nun, und sie – segnete
+uns. Arkascha, Arkascha! mein Lieber! Wir wollen alle
+zusammen leben! Nein! Ich werde mich von dir um
+nichts in der Welt trennen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, wenn ich dich so ansehe, so kann ich es
+nicht glauben, bei Gott, ich schwöre es dir, ich kann es
+nicht glauben. Wirklich, es scheint mir immer ... Höre,
+wie kannst du dich denn verheiraten? und wie habe ich
+die ganze Zeit über von nichts wissen können, sag!
+Jetzt, mein Wassjä, kann ich dir auch gestehen, daß ich
+selbst zu heiraten gedachte: da du es aber bereits für
+mich tust, so ist das ja ganz gleich! ... Werde also
+glücklich, mein Lieber! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, du, wie mir jetzt leicht und wohl zumut ist
+...“ sagte Wassjä und ging vor Erregung im Zimmer
+auf und ab. „Nicht wahr, nicht wahr, du fühlst es
+doch auch? Wir werden arm sein, freilich, aber glücklich
+– und das ist kein Hirngespinst. Unser Glück wird
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+kein papierenes sein, wie es in den Büchern steht, sondern
+wir werden in Wirklichkeit glücklich sein! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, aber Wassjä, höre!“
+</p>
+
+<p>
+„Was denn?“ sagte Wassjä und blieb vor Arkadij
+Iwanowitsch stehen.
+</p>
+
+<p>
+„Mir kam nur der Gedanke – wirklich, ich fürchte
+mich eigentlich, ihn auszusprechen ... Verzeih mir und
+nimm mir meine Bedenken! Wovon wirst du leben?
+Ich bin ja, weißt du, außer mir vor Freude, daß du
+heiratest, kann mich vor Freude kaum lassen, doch –
+die Frage bleibt: wovon wirst du leben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott, wie du auch bist, Arkascha!“ sagte
+Wassjä und sah mit tiefer Verwunderung Nefedewitsch
+an. „Was fällt dir denn ein? Sogar die Alte dachte
+kaum zwei Minuten lang nach, als ich ihr alles das
+klar machte. Frage sie doch, wovon <em>sie</em> gelebt haben?
+Fünfhundert Rubel im Jahr! für drei! so viel beträgt
+die ganze Pension, mit der sie auskommen müssen! Davon
+lebt sie, die Alte und ein kleiner Bruder, für den
+noch die Schule bezahlt werden muß – siehst du, so
+lebt man eben! Wir beide aber, du und ich, wir sind
+wahre Kapitalisten, denn ich habe manches Jahr, wenn
+es gut ging, ganze siebenhundert verdient!“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä, verzeih mir: ich denke, bei Gott,
+nur daran, wie das alles zu machen geht – aber welche
+siebenhundert sollen das gewesen sein? Nur dreihundert
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Dreihundert! ... Und Juljan Mastakowitsch?
+Den hast du ganz vergessen!“
+</p>
+
+<p>
+„Juljan Mastakowitsch! Das ist eine Sache, die
+nicht ganz stimmt, mein Lieber: das sind nicht dreihundert
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+Rubel feststehenden Gehaltes, von denen einem
+ein jeder einzelne Rubel sicher ist. Juljan Mastakowitsch
+ist freilich ein großmütiger und großzügiger Mensch, ich
+verehre ihn und verstehe es, daß er so hoch gestiegen ist,
+und, bei Gott, ich liebe ihn, weil er dir zugetan ist und
+dir eine Arbeit bezahlt, für die er sonst nichts zu bezahlen,
+sondern einfach nur einen Beamten zu beauftragen
+brauchte – aber sage doch selbst, Wassjä! ... Höre
+mich an, Wassjä, ich rede doch keinen Unsinn; ich weiß
+auch, daß es in ganz Petersburg eine solche Handschrift
+wie die deine nicht wieder gibt, und ich bin gern bereit,
+das Beste anzunehmen,“ schloß, nicht ohne Wärme,
+Nefedewitsch, „aber wie, wenn du ihm plötzlich – Gott
+bewahre dich davor! doch nicht mehr so gefallen und
+ihn zufriedenstellen solltest und wenn er mit einem Male
+die Verbindung mit dir abbräche und einen anderen
+nähme! ... wer weiß, was im Leben nicht alles kommen
+kann. Dann ist Juljan Mastakowitsch für dich nichts
+mehr, dann ist er bloß – gewesen, Wassjä ...“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Arkascha, ebenso kann sofort über uns die
+Decke einbrechen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, freilich, freilich ... Ich will ja auch nichts ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, höre mich an: warum soll er mich denn verabschieden
+... Nein, wirklich, höre mich doch nur an!
+Ich erledige ja alles pünktlich und peinlich: und er ist
+so gut zu mir, er hat mir doch, Arkascha, er hat mir doch
+heute noch fünfzig Rubel gegeben!“
+</p>
+
+<p>
+„Ist’s möglich, Wassjä? eine Zulage?“
+</p>
+
+<p>
+„Was, Zulage? Nein, so: einfach aus seiner
+Tasche. Er sagte: wie, mein Lieber, du hast bereits den
+fünften Monat kein Geld mehr erhalten. Wenn du
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+welches brauchst, nimm es: denn ich bin, sagte er, mit
+dir sehr zufrieden ... bei Gott! Du arbeitest doch nicht
+umsonst für mich, sagte er, wirklich! Das hat er gesagt.
+Mir rollten die Tränen über die Backen, Arkascha.
+Großer Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä, hast du denn die neue Abschrift
+fertiggestellt? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... noch nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Wassinjka! Mein Lieber! Was hast du denn getan?“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Arkadij, das tut doch nichts, ich habe noch
+zwei volle Tage Zeit bis zum Termin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, hast du denn noch gar nicht angefangen?“
+</p>
+
+<p>
+„Na ja, na ja! Du siehst mich ja mit einem
+Ausdruck an, daß sich mein ganzes Innere umdreht!
+Nun, was ist denn dabei? Du kannst einem so den Mut
+nehmen und schreist immer gleich: a–a–a!!! Überleg
+es dir doch: was ist denn dabei? Ich werde damit
+schon fertig werden, bei Gott, das werde ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wenn du es nun nicht wirst!“ rief Arkadij
+und sprang auf. „Gerade jetzt, da er dir heute eine
+Belohnung gegeben hat! Und obendrein willst du heiraten
+... Oh, oh, oh! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das hat nichts zu sagen, gar nichts,“ schrie fast
+verzweifelt Schumkoff, „ich werde mich sofort hinsetzen,
+noch in dieser Minute werde ich mich hinsetzen – das
+tut gar nichts!“
+</p>
+
+<p>
+„Wie hast du es denn nur so vernachlässigen können,
+Wassjutka!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Arkascha! Konnte ich denn hier so ruhig still
+sitzen! Mein Zustand war doch so, daß ich kaum in
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+der Kanzlei arbeiten konnte ... Ach! Ach! Heute werde
+ich die Nacht durcharbeiten, morgen wieder die Nacht
+durcharbeiten und übermorgen auch noch und dann
+– wird’s fertig sein! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ist noch viel übriggeblieben?“
+</p>
+
+<p>
+„Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich
+nicht! schweige mir davon!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch ging leise auf den Fußspitzen
+zu seinem Bett, und setzte sich hin, darauf wollte er
+plötzlich wieder aufstehen, sagte sich aber sofort, daß er
+seinen Freund nicht stören dürfe und blieb sitzen: offenbar
+hatte ihn die Mitteilung so aufgeregt, daß er noch
+nicht mit sich zur Ruhe kommen konnte. Er blickte auf
+Schumkoff, der sah ihn an, lächelte und drohte ihm
+mit dem Finger. Darauf runzelte Schumkoff ganz
+furchtbar die Brauen, als läge darin die eigentliche
+Kraft und der gewünschte Erfolg seiner Arbeit, und
+richtete seine Augen dann wieder aufs Papier.
+</p>
+
+<p>
+Es schien, daß auch er seine Erregung noch nicht
+überwunden hatte, er wechselte beständig seine Feder,
+rückte auf dem Stuhle hin und her, nahm sich zusammen,
+um wieder von neuem zu beginnen, doch seine
+Hand zitterte und versagte offenbar den Dienst.
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!“
+rief er plötzlich, als wäre es ihm soeben eingefallen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja?“ rief Arkascha, „und ich wollte dich vorhin
+schon darüber fragen, nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun! Ach, ich werde dir später alles erzählen.
+Sieh, bei Gott, jetzt habe ich selbst zu sprechen angefangen
+und ich wollte es doch nicht tun, bevor ich nicht
+wenigstens vier Blätter fertig gemacht. Mir fiel es
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+aber plötzlich ein, das von dir und von ihnen! Ich
+kann auch, mein Lieber – ich kann gar nicht ordentlich
+schreiben: immer muß ich an euch denken ...“ Und
+Wassjä lächelte.
+</p>
+
+<p>
+Es trat Schweigen ein.
+</p>
+
+<p>
+„Pfui! Was für eine schlechte Feder!“ rief Schumkoff,
+schlug im Ärger auf den Tisch und nahm wieder
+eine andere.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Höre! Nur ein Wort ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, aber schnell, zum letztenmal.“
+</p>
+
+<p>
+„Hast du noch viel zu schreiben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Lieber! ...“ Wassjä runzelte die Stirn,
+als gebe es keine schrecklichere und tötendere Frage auf
+der Welt, als diese. „Viel, furchtbar viel!“ antwortete
+er dann.
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, ich habe eine Idee ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was für eine?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, schreibe nur.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, was für eine? Sag doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist bereits sieben Uhr, Wassjä!“
+</p>
+
+<p>
+Dabei lächelte Nefedewitsch schelmisch und blinzelte
+Wassjä zu, wenn auch nur ganz schüchtern, da er
+nicht wußte, wie dieser es aufnehmen würde.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, was denn?“ sagte Wassjä und schien wirklich
+mit dem Schreiben aufhören zu wollen. Er sah ihm
+gerade in die Augen und war ganz bleich vor Erwartung.
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, was?“
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen, was denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, du bist so erregt und wirst doch nicht
+viel arbeiten können ... Warte, warte, warte, ich sehe,
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+ich sehe – so höre doch!“ beeilte sich Nefedewitsch und
+sprang, von seinem Gedanken gefaßt, vom Bett auf,
+um mit allen Kräften einer Erwiderung Wassjäs zuvorzukommen,
+„es ist vor allem nötig, daß du dich beruhigst
+und wieder von neuem Kräfte sammelst, ist’s
+nicht so?“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha! Arkascha!“ rief Wassjä aus und sprang
+vom Stuhl, „ich werde die ganze Nacht aufbleiben und
+schreiben, bei Gott, das tu’ ich!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, jawohl! doch gegen Morgen wirst du einschlafen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der
+Welt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das geht, das geht nicht! Natürlich wirst
+du um fünf Uhr einschlafen! Und um acht Uhr werde
+ich dich wieder wecken. Morgen ist ein Feiertag, da
+kannst du dich hinsetzen und den ganzen Tag über
+schreiben ... Dann noch eine Nacht und – ist denn
+noch so viel übriggeblieben?“
+</p>
+
+<p>
+„Da! sieh!“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä zeigte ihm zitternd vor Erwartung und Erregung
+das Heft: „Da! sieh!“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Bruder, das ist nicht viel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, mein Lieber, aber – es ist noch etwas,“ sagte
+Wassjä und sah dabei schüchtern, fragend Nefedewitsch
+an, als würde von dessen Entschluß alles abhängen: ob
+sie gingen oder nicht gingen?
+</p>
+
+<p>
+„Wieviel?“
+</p>
+
+<p>
+„– Zwei Bogen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ich glaube, damit wirst du auch fertig, bei
+Gott, du wirst fertig!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+„Arkascha!“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä! Jetzt zum neuen Jahr sind doch
+alle in der Familie versammelt und nur wir beide sollten
+– so ohne Häuslichkeit und ganz verwaist ... Ach!
+Wassinjka!“
+</p>
+
+<p>
+Nefedewitsch umarmte Wassjä und drückte ihn an
+seine Brust.
+</p>
+
+<p>
+„Abgemacht, Arkadij!“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjuk, ich wollte dir nur noch eines sagen. Siehst
+du, Wassjuk, mein Junge! Höre! Höre mich an!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij hielt den Mund weit aufgesperrt, als könne
+er vor Begeisterung nicht mehr sprechen. Wassjä, der
+sich noch immer mit den Händen an Arkadijs mächtigen
+Schultern hielt, sah ihm gespannt in die Augen und bewegte
+seine Lippen, ganz als wollte er für ihn sprechen
+...
+</p>
+
+<p>
+„Nun!“ sagte er endlich.
+</p>
+
+<p>
+„Stelle mich ihnen heute vor!“
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij! Ja: gehen wir hin! Trinken wir Tee bei
+ihnen! Aber weißt du was? Das neue Jahr freilich
+wollen wir nicht abwarten, wir wollen früher nach
+Haus kommen,“ rief Wassjä noch immer in aufrichtiger
+Begeisterung.
+</p>
+
+<p>
+„Das heißt also: zwei Stunden, nicht mehr und
+nicht weniger! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann – Trennung, bis ich meine Sache fertig
+habe! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjuk! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij! ...“
+</p>
+
+<p>
+In drei Minuten war Arkadij im Galaanzug. Wassjä
+brauchte sich nur etwas abzubürsten, da er sich mit
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+solchem Eifer an die Arbeit gemacht hatte, daß er nicht
+einmal seinen Rock ausgezogen.
+</p>
+
+<p>
+Sie beeilten sich, auf die Straße zu kommen, der
+eine noch freudiger als der andere. Der Weg ging auf
+die Petersburger Seite<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a> nach Kolomna<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a>. Arkadij
+Iwanowitsch schritt weit und kräftig aus, schon an
+seinem Gang konnte man seine Freude über das Glück
+Wassjäs erkennen. Wassjäs Gang war trippelnder,
+doch verlor er deshalb nichts von seiner Würde. Im
+Gegenteil, Arkadij Iwanowitsch hatte noch nie einen
+so vorteilhaften Eindruck von ihm gehabt. Er empfand,
+wie sie so gingen, fast eine gewisse Hochachtung vor ihm,
+und ein körperlicher Fehler Wassjäs, von dem der Leser
+bis jetzt noch nichts erfahren (Wassjä war nämlich ein
+wenig schief gewachsen) und der im Herzen Arkadij
+Iwanowitschs immer ein tiefes Mitgefühl für ihn erweckt
+hatte, trug zu einem nur noch größeren, nur
+noch innigeren Gefühl für seinen Freund bei. Arkadij
+Iwanowitsch hatte vor Freude weinen können, doch er
+beherrschte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin, wohin, Wassjä? Hier ist es doch näher!“
+rief er, als er sah, daß Wassjä in den Wosnessenskij-Prospekt
+abbiegen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Komm nur, Arkascha, komm ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich, es ist näher, Wassjä.“
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha, weißt du?“ begann Wassjä geheimnisvoll
+und mit vor Seligkeit flüsternder Stimme, „weißt
+du? Ich möchte nämlich Lisenka ein Geschenk mitbringen
+...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+„Was für eines?“
+</p>
+
+<p>
+„Hier, mein Lieber – an der Ecke – wohnt Mme.
+Leroux ... ein wundervoller Laden!“
+</p>
+
+<p>
+„Was denn –“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Hütchen, mein Lieber, ein Hütchen. Heute
+morgen habe ich ein reizendes Hütchen gesehen: ich
+fragte nach der Fasson, und man sagte mir, Manon
+Lescaut heiße das Wunder! Die Bänder sind kirschfarben,
+und wenn das Hütchen nicht zu teuer ist ... Arkascha,
+und schließlich, wenn es auch teuer ist! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du übertriffst wahrhaftig noch alle Poeten, Wassjä!
+Gehen wir also! ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie gingen und waren in zwei Minuten im Laden.
+Hier wurden sie von einer schwarzäugigen und lockenhaarigen
+älteren Französin empfangen, die sofort, beim
+ersten Blick auf ihre Käufer, ebenso lustig und glücklich
+zu werden schien, wie diese selbst waren, sogar noch
+lustiger und noch glücklicher, wenn das möglich gewesen
+wäre. Wassjä war bereit, Madame Leroux vor
+Entzücken sofort abzuküssen ...
+</p>
+
+<p>
+„Arkascha!“ flüsterte er diesem zu, als er mit seinem
+Blick all das Schöne und Hohe überflog, das an Holzständern
+auf dem großen Tisch des Geschäfts ausgestellt
+war. „Welche Wunder! Wie ist denn das? Dies hier
+zum Beispiel, dieses Bonbon hier, siehst du?“ Wassjä
+wies auf ein kleines, reizendes Hütchen, doch nicht auf
+dasjenige, welches er kaufen wollte, denn schon von
+weitem hatte dieses andere, am entgegengesetzten Ende,
+seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er starrte es so
+an, als wäre zu befürchten, daß es von jemandem gestohlen
+werden könnte oder als ob das Hütchen selbst,
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+nur damit Wassjä es nicht bekommen sollte, in die Luft
+fliegen könnte.
+</p>
+
+<p>
+„Dieses hier,“ sagte Arkadij Iwanowitsch und wies
+auf ein anderes Hütchen, „dieses hier ist meiner Meinung
+nach noch schöner.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, Arkascha! Das legt dir Ehre ein: ich muß
+dir sagen, daß ich vor deinem Geschmack Achtung bekomme,“
+bemerkte Wassjä, der scheinbar aus Liebe zu
+Arkascha auf dessen Geschmack einging. „Dein Hütchen
+ist wirklich reizend, aber sieh einmal her!“
+</p>
+
+<p>
+„Welches ist schöner?“
+</p>
+
+<p>
+„Sieh mal her!“
+</p>
+
+<p>
+„Dieses?“ sagte etwas zögernd Arkadij.
+</p>
+
+<p>
+Doch als Wassjä, der nicht fähig war, länger an
+sich zu halten, das Hütchen vom Holzgestell herunterholte,
+von dem es scheinbar selbst herunterfliegen wollte,
+als freute es sich – nach so langer Erwartung, in der
+seine Bänderchen, Rüschchen und Spitzen steif hatten
+dastehen müssen – über den guten Käufer: da entriß sich
+der mächtigen Brust Arkadij Iwanowitschs ein Schrei
+des Entzückens. Sogar Madame Leroux, die die ganze
+Zeit über ihre Würde gewahrt und während ihrer Auswahl
+zu allen Fragen des Geschmacks herablassend geschwiegen
+hatte, belohnte jetzt Wassjä mit einem begütigenden
+Lächeln und dieses Lächeln schien zu sagen:
+ja! Sie haben es getroffen, Sie sind des Glückes würdig,
+das Sie erwartet.
+</p>
+
+<p>
+„So hat es in seiner Einsamkeit kokettiert und kokettiert!“
+rief Wassjä aus, der seine ganze Zärtlichkeit
+auf das reizende Hütchen übertrug, „hat sich mit Absicht
+versteckt, der Schelm!“ Und er küßte es, das heißt,
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+er küßte die Luft, die es umgab, denn er fürchtete sich,
+an seine Kostbarkeit auch nur zu rühren.
+</p>
+
+<p>
+„So versteckt sich das wahre Verdienst,“ fügte Arkadij
+in seinem Entzücken hinzu, um mit dieser Phrase,
+die er am Morgen in einer Zeitung gelesen hatte, Humor
+in die Sache zu bringen. „Nun, Wassjä, wie steht
+es denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Vivat, Arkascha! Du spielst wohl heute den Geistreichen,
+um Furore zu machen, wie sich die Damen ausdrücken
+– nicht wahr, Madame Leroux, nicht wahr!“
+</p>
+
+<p>
+„Was wünschen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht wahr, meine liebe Madame Leroux!“
+</p>
+
+<p>
+Madame Leroux blickte gütig lächelnd Arkadij Iwanowitsch
+an.
+</p>
+
+<p>
+„Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick
+vergöttere ... Erlauben Sie, daß ich Sie umarme
+...“ Und Wassjä küßte wirklich die Ladenmadame.
+</p>
+
+<p>
+Es gehörte Würde dazu, um sich in diesem Augenblick
+solch einem Heißsporn gegenüber nichts zu vergeben.
+Und vor allem: eine angeborene Liebenswürdigkeit
+und diese natürliche Grazie, mit der Madame Leroux
+die Begeisterung Wassjäs aufnahm, entschuldigte
+ihn, und sie verstand es, sich mit liebenswürdigem Geschick
+in die Situation zu finden! Es war ja auch überhaupt
+unmöglich, Wassjä im Ernste böse zu sein!
+</p>
+
+<p>
+„Madame Leroux, welches ist der Preis?“
+</p>
+
+<p>
+„Fünf Rubel,“ antwortete sie und rechtfertigte ihre
+Forderung mit einem neuen Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Und dieser Hut hier, Madame Leroux,“ fragte Arkadij
+Iwanowitsch und wies auf den von ihm gewählten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+„Dieser: acht Rubel.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Nun müssen
+Sie selbst entscheiden, Madame Leroux, welcher ist schöner,
+welcher niedlicher, welcher von den beiden würde
+Sie kleiden?“
+</p>
+
+<p>
+„Dieser hier ist reicher, doch der, den Sie gewählt
+haben – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">il est plus coquet</span>.“
+</p>
+
+<p>
+„Also, nehmen wir ihn!“
+</p>
+
+<p>
+Madame Leroux legte ihn in einen Bogen feinen,
+dünnen Seidenpapiers und steckte es mit kleinen Stecknadeln
+fest. Das Papier aber, mit dem Hut, schien jetzt
+beinahe noch leichter zu sein als früher, ohne Hut.
+Wassjä nahm das Paket und wagte kaum zu atmen, er
+verabschiedete sich von Madame Leroux, sagte ihr noch
+etwas Liebenswürdiges und verließ den Laden.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ein geborener
+Lebemann!“ rief Wassjä draußen lachend aus. Das
+Lachen ging aber gleich darauf in einen kaum hörbaren
+nervösen feinen Ton über, den ein Lächeln begleitete –
+und Wassjä selbst wich allen Vorübergehenden ängstlich
+aus, als ob er sie mit einem Male im Verdacht hätte, der
+Versuchung, sein kostbares Hütchen zu zerknüllen, nicht
+widerstehen zu können.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Arkadij, höre!“ begann er einen Augenblick
+später und etwas Feierliches, etwas unendlich Seliges
+lag in seiner Stimme. „Arkadij, ich bin so glücklich, ich
+bin so glücklich!“
+</p>
+
+<p>
+„Wassinjka! Und wie ich glücklich bin, mein Liebling!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Arkascha, nein, deine Liebe zu mir ist grenzenlos,
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+ich weiß es. Doch du kannst nicht den zehnten
+Teil von dem empfinden, was ich in diesem Augenblick
+fühle. Mein Herz ist so voll, so übervoll!! Arkascha! Ich
+bin ja meines Glückes gar nicht würdig! Ich weiß es,
+ich fühle es selbst. Womit habe ich es verdient,“ rief er
+mit einer Stimme aus, die voll war von verhaltenem
+Schluchzen, „was habe ich denn je Gutes getan, sage
+nur. Sieh doch, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen,
+wieviel Kummer, wieviel Alltag ohne Feiertag!
+Und ich! Mich liebt ein solches Mädchen, mich ... Du
+wirst sie ja selbst sehen, wirst selbst ihr edles Herz erkennen.
+Ich komme aus niedrigem Stande, doch habe ich
+eine Stellung und ein festes Gehalt. Ich bin mit einem
+Gebrechen auf die Welt gekommen, bin schief gewachsen.
+Sie aber liebt mich, so wie ich bin. Juljan Mastakowitsch
+war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich
+zu mir. Er spricht sonst selten mit mir – doch: ‚Nun,
+Wassjä,‘ sagte er heute (bei Gott, Wassjä nannte er
+mich) ‚wirst du in den Feiertagen auch durchgehen,
+wie?‘ Dabei lachte er. ‚Nein,‘ sagte ich zuerst, ‚Euer
+Exzellenz, ich habe zu tun.‘ Doch dann nahm ich mich
+zusammen und sagte: ‚Vielleicht werde ich mich auch
+mal amüsieren, Exzellenz!‘ – bei Gott, das sagte ich.
+Da gab er mir denn das Geld und sprach noch ein paar
+Worte mit mir. – Ich, Bruder, ich weinte beinah, die
+Tränen stürzten mir aus den Augen und er, er schien
+auch gerührt zu sein, klopfte mir auf die Schulter und
+sagte: ‚Fühle immer so, Wassjä, wie du jetzt fühlst‘ ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä verstummte auf einen Augenblick.
+</p>
+
+<p>
+„Und nicht genug,“ fuhr Wassjä fort. „Ich habe es
+dir gegenüber noch nie ausgesprochen, Arkadij ... Arkadij!
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+Du hast mir deine Freundschaft geschenkt, ohne
+dich wäre ich nicht auf der Welt, – nein, nein, sage
+nichts, Arkascha! Laß mich dir deine Hand drücken,
+gib, ich will dir danken!“ ... Wassjä konnte seinen Satz
+wieder nicht beenden.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassjä um den
+Hals fallen, doch überschritten sie gerade die Straße,
+und so hörten sie denn plötzlich, dicht hinter ihren Ohren
+den einschneidenden Ruf eines Kutschers: ‚Heda!
+Achtung!‘ und beide, erregt und erschrocken wie sie waren,
+liefen so schnell als nur möglich aufs Trottoir.
+Arkadij Iwanowitsch war eigentlich froh über diesen
+Zwischenfall. Den Überschuß an Dankbarkeit bei
+Wassjä erklärte er sich als einen Ausfluß des Augenblicks.
+Ihm war er peinlich, weil er meinte, daß er
+Wassjä bis jetzt noch gar nichts Gutes getan! Er schämte
+sich sogar vor sich selbst, weil Wassjä ihm für das
+Wenige so dankte! Doch, ein ganzes Leben stand ihm
+noch bevor – und Arkadij Iwanowitsch atmete frei
+mit einem großen Vorsatze auf ...
+</p>
+
+<p>
+Man hatte es schon aufgegeben, sie zu erwarten!
+Ein Beweis: daß sie bereits beim Tee saßen! Und
+wirklich, manchmal ist ein älterer Mensch ahnungsvoller
+als die liebe Jugend. Lisenka hatte in allem Ernst
+behauptet, daß er nicht kommen werde, nicht kommen
+werde. „Mamenka! mein Herz fühlt es, daß er nicht
+kommen wird!“ aber Mamenka hatte im Gegenteil behauptet,
+ihr Herz fühle ganz genau, daß Wassjä keine
+Ruhe finden und deshalb ganz sicher gelaufen kommen
+würde, zumal er am Vorabend des neuen Jahres doch
+keinen Dienst mehr hatte! Als nun Lisenka die Tür
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+öffnete, traute sie ihren Augen nicht: sie errötete über
+und über und ihr Herz schlug so heftig, wie bei einem
+gefangenen Vögelchen. Ja, sie war rot wie eine Kirsche,
+der sie überhaupt ähnlich sah.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, welche Überraschung!“ Ein freudiges
+„Ach!“ kam über ihre Lippen. „Du Schelm, du
+Betrüger, du mein Lieber du!“ rief sie aus und fiel
+Wassjä um den Hals. Doch man stelle sich ihre Verwunderung
+vor, ihre plötzliche Verlegenheit: denn genau
+hinter Wassjä, als wollte er sich hinter ihm verstecken,
+stand, verwirrt wie er war, Arkadij Iwanowitsch.
+Aber Arkadij Iwanowitsch verstand es nicht,
+mit Frauen umzugehen: er war sogar sehr ungeschickt
+... Einmal passierte es ihm, daß ... Doch davon ein
+andermal. Indessen, man versetze sich in seine Lage!
+Es ist nichts Lächerliches dabei: er stand im Vorzimmer,
+in Gummischuhen, im Mantel und in einer Mütze
+mit Ohrenklappen, um den Hals einen schrecklichen gelben
+Schal, der zum Überfluß hinten im Nacken dick geknotet
+und gebunden war, – dieser Knoten mußte nun
+gelöst und der Schal abgenommen werden, damit er
+selbst einen vorteilhaften Eindruck machen konnte ...
+denn es gibt nun einmal keinen Menschen, der nicht
+wünschte, einen vorteilhaften Eindruck zu machen! Und
+dieser Wassjä, dieser unerträgliche, unausstehliche, obgleich
+sonst so liebe, gute Wassjä, war jetzt ein ganz
+erbarmungsloser Wassjä! Schreien mußte er:
+</p>
+
+<p>
+„Lisenka, hier stelle ich dir Arkadij vor! Wer das
+ist? Mein bester Freund, umarme ihn, küsse ihn, Lisenka,
+küsse ihn im voraus, wenn du ihn einmal kennst,
+wirst du ihn immer küssen ...“ Nun, was blieb da wohl
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+dem armen Arkadij Iwanowitsch übrig? Er stand noch
+immer und versuchte seinen Schal aufzuknoten! Nein:
+diese Begeisterung Wassjäs war doch manchmal wirklich
+unangebracht und ganz gewissenlos! Freilich, freilich,
+sie bewies sein gutes Herz, aber ... immerhin –
+es war doch zu peinlich!
+</p>
+
+<p>
+Endlich traten sie beide ins Zimmer ... Die Alte
+war unsagbar glücklich, die Bekanntschaft Arkadij
+Iwanowitschs zu machen: sie hätte so viel von ihm gehört,
+sie ... Doch sie beendete ihre Phrase nicht. Ein
+freudiges „Ach!“ durchtönte das Zimmer und unterbrach
+sie. Mein Gott! Lisenka stand vor dem enthüllten
+Hütchen, hielt naiv beide Hände gefaltet, und lächelte,
+lächelte ... Mein Gott, warum gab es bei Madame
+Leroux nicht noch ein viel, viel schöneres Hütchen!
+</p>
+
+<p>
+Ach, aber wo konnte man wohl ein noch schöneres
+finden?! Ich spreche im Ernst! Mich bringt schließlich
+diese Undankbarkeit Verliebter wirklich zur Verzweiflung.
+Möchten die beiden doch endlich einsehen, daß
+es gar nichts Schöneres geben kann, als dieses Bonbon
+von Hütchen! Möchten sie einsehen – doch meine
+Verzweiflung war umsonst: sie sind bereits wieder alle
+mit mir einverstanden, es war ein Irrtum und weiter
+nichts! Ich bin bereit, ihnen zu vergeben. Meine Leser
+aber werden entschuldigen, wenn ich immer noch von
+dem Hütchen spreche: Ganz leicht und durchsichtig aus
+Tüll war es, mit breiten kirschroten Bändern und mit
+Spitzen bedeckt. Unter dem Tüll und den Rüschen hervor
+hingen hinten auf den Hals zwei Bänder herab
+... Man mußte es ein wenig in den Nacken setzen. Und
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+nun, nach alledem sehen Sie hin, ich bitte Sie! Sie
+aber scheinen nicht sehen zu wollen! ... Sie sehen zur
+Seite. Sehen, wie zwei Tränen gleich Perlen in den
+langen schwarzen Augenwimpern hängen und dort
+einen Augenblick erzittern und auf diesen Tüll niederfallen,
+der dünn wie Luft ist, auf diesen Tüll, aus dem
+das Kunstwerk Madame Lerouxs bestand ... Ich aber
+ärgere mich: denn nicht dem Hütchen galten diese beiden
+Tränen! ... Nein! eine solche Sache muß man
+ganz kaltblütig aufnehmen, nur dann kann man sie
+wirklich schätzen!
+</p>
+
+<p>
+Man setzte sich. Wassjä setzte sich mit Lisenka zusammen
+und die Alte mit Arkadij Iwanowitsch. Man
+begann ein Gespräch und Arkadij Iwanowitsch behauptete
+sich durchaus. Mit Freuden lasse ich ihm Gerechtigkeit
+widerfahren. Es war das eigentlich von
+ihm nicht zu erwarten. Nach ein paar Worten über
+Wassjä verstand er es vorzüglich, von Juljan Mastakowitsch,
+Wassjäs Wohltäter, zu erzählen. Und so klug,
+so verständig sprach er, daß das Gespräch eine ganze
+Stunde lang nicht ins Stocken geriet. Man müßte es
+gehört haben, mit welchem Takt Arkadij Iwanowitsch
+einige Sonderheiten Juljan Mastakowitschs berührte,
+die eine mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu
+Wassjä hatten. Dafür war die Alte auch ganz entzückt,
+aufrichtig entzückt von ihm: sie selbst gestand es Wassjä.
+Ausdrücklich rief sie ihn zu sich, um ihm zu sagen,
+daß sein Freund ein prächtiger, liebenswürdiger junger
+Mensch sei, und was die Hauptsache, so ein ernster, gesetzter
+junger Mann. Wassjä hätte am liebsten laut aufgelacht
+vor Vergnügen. Er dachte daran, wie der gesetzte
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+Arkascha ihn noch vor einer Viertelstunde aufs
+Bett geworfen hatte! Darauf machte die Alte Wassjä
+ein Zeichen, leise und unbemerkt ins andere Zimmer zu
+kommen. Und dort handelte sie nun allerdings Lisenka
+gegenüber nicht richtig: sie zeigte nämlich Wassjä das
+Geschenk, das Lisenka ihm zum neuen Jahr machen
+wollte. Es war eine Brieftasche mit einer goldgestickten,
+wundervollen Zeichnung: auf der einen Seite war
+ein rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ähnlich,
+so vorzüglich erfaßt. Auf der anderen Seite befand
+sich das Bild eines berühmten Generals, ebenso
+vorzüglich, ebenso ähnlich und naturgetreu. Ich kann
+es gar nicht schildern, dieses helle Entzücken Wassjäs.
+</p>
+
+<p>
+Unterdessen war in dem anderen Zimmer die Zeit
+nicht ungenutzt verstrichen. Lisenka war zu Arkadij Iwanowitsch
+getreten, hatte ihm die Hand gereicht und ihm
+gedankt – und Arkadij Iwanowitsch hatte sofort begriffen,
+daß es sich um den teuren Wassjä handelte. Lisenka
+war tief bewegt: sie habe erfahren, sagte sie, daß
+Arkadij ein so treuer Freund ihres Verlobten sei, daß er
+ihn liebe und über ihn wache und ihn auf jeden Schritt
+mit seinen Ratschlägen unterstütze, so daß sie, Lisenka,
+es nicht unterlassen könne, ihm zu danken, und daß sie
+hoffe, Arkadij Iwanowitsch würde auch sie lieb haben,
+und wär’s auch nur halb so wie den Wassjä. Darauf
+fragte sie ihn, ob Wassjä auch seine Gesundheit in acht
+nehme, sprach von der Heftigkeit seines Charakters und
+über sein Unvermögen dem praktischen Leben gegenüber,
+sowie über seinen Mangel an Menschenkenntnis.
+Sie sagte weiter, daß sie auf ihn aufpassen und ihn vor
+allem bewahren würde, und daß sie hoffe, auch Arkadij
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+Iwanowitsch werde sie nicht verlassen und bei ihnen
+bleiben.
+</p>
+
+<p>
+„Wir werden alle drei zusammenbleiben und wie ein
+einziger Mensch sein!“ rief sie in naiver Begeisterung
+aus.
+</p>
+
+<p>
+Doch die Zeit rückte vor und man mußte aufbrechen.
+Selbstverständlich versuchte man, die Gäste zurückzuhalten,
+doch Wassjä erklärte kurz und bündig, daß es nicht
+möglich sei, zu bleiben, und Arkadij Iwanowitsch bestätigte
+es. Man fragte natürlich: warum? und so erfuhren
+sie denn, daß es sich um eine Arbeit für Juljan
+Mastakowitsch handelte, eine sehr eilige, notwendige,
+unangenehme, die bis übermorgen früh fertiggestellt
+werden mußte, und daß sie noch sehr im Rückstande
+wäre. Das Mamachen seufzte, als sie das hörte, Lisenka
+aber erschrak sehr und trieb sogar selbst Wassjä zur
+Eile an. Der letzte Kuß verlor dabei nicht an Wert, er
+war kürzer, eiliger, aber um so heißer und heftiger.
+Endlich trennte man sich und die beiden Freunde gingen
+zusammen nach Haus.
+</p>
+
+<p>
+Sofort, kaum daß sie auf der Straße waren, tauschten
+sie untereinander ihre Eindrücke aus. Ja, und es mußte
+wohl so sein, daß Arkadij Iwanowitsch sich sterblich in
+Lisenka verliebt hatte! Wem aber war das leichter verständlich,
+als dem glücklichen Wassjä? Arkadij Iwanowitsch
+gestand Wassjä sofort alles ein. Wassjä lachte
+und freute sich sehr darüber, und bemerkte, daß sie jetzt
+noch innigere Freunde sein würden, als ehedem. „Du
+hast mich sofort verstanden, Wassjä,“ sagte Arkadij
+Iwanowitsch, „so ist’s! Ich liebe sie, wie ich dich liebe,
+sie wird mein Schutzengel sein, ganz wie sie für dich
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+einer ist und euer Glück wird auch auf mich übergehen
+und auch mich erwärmen. Sie wird auch meine Hausfrau
+sein, in ihre Hände lege auch ich mein Glück:
+möge sie für mich sorgen, wie sie es für dich tut. Ja,
+Freundschaft zu dir – Freundschaft auch zu ihr. Ihr
+beide werdet für mich ganz unzertrennlich sein, nur daß
+ihr eben statt ein Wesen, das du früher für mich warst,
+zwei Wesen sein werdet ...“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij verstummte im Übermaß seiner Gefühle.
+Wassjä war durch seine Worte bis in die Tiefe seiner
+Seele erschüttert. Niemals hatte er solche Worte von
+Arkadij erwartet! Arkadij Iwanowitsch verstand es
+sonst nicht, sich auszudrücken, auch liebte er durchaus
+nicht zu schwärmen, und doch hatte er soeben die allerüberschwenglichsten
+Gedanken geäußert. „Wie werde ich
+für euch beide sorgen, wie euch verwöhnen,“ begann
+er jetzt von neuem. „Erstens, Wassjä, werde ich der
+Taufpate aller deiner Kinder sein, aller, ohne Ausnahme,
+und zweitens, Wassjä, muß man auch an die
+Zukunft denken. Man muß eine Wohnung mieten, Möbel
+kaufen, so viel, daß jeder von uns sein Zimmer hat.
+Weißt du, Wassjä, ich werde bereits morgen ausgehen
+und die Wohnungszettel studieren. Drei ... nein, zwei
+Zimmer, mehr haben wir nicht nötig. Ich glaube jetzt
+selbst, Wassjä, daß ich da heute Unsinn gesprochen habe,
+das Geld wird gewiß reichen. Warum denn auch nicht?
+Als ich ihr heute in die Augen sah, wußte ich sofort,
+daß es reicht! Alles für sie! Oh, wie werden wir arbeiten!
+Jetzt, Wassjä, kann man es wagen und fünfundzwanzig
+Rubel für die Wohnung zahlen. Gute Zimmer,
+mein Lieber, müssen es sein ... in guten Zimmern
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+ist der Mensch fröhlich und hat heitere Gedanken! Und
+zweitens, Lisenka wird unser gemeinsamer Kassierer
+sein: nicht eine Kopeke wird unnütz verausgabt! Ich
+sollte künftig noch einmal in eine Kneipe gehen? Ja,
+für wen hältst du mich denn eigentlich?! Um nichts in
+der Welt! Man wird uns Zulage geben, uns Geschenke
+machen, wenn wir fleißig arbeiten! Und wie
+werden wir arbeiten, wie Büffel werden wir die Akten
+pflügen! ... Stelle dir nur vor ... (und die Stimme
+Arkadij Iwanowitschs wurde ganz schwach vor Seligkeit)
+– wenn plötzlich so fünfundzwanzig bis dreißig
+Rubel ins Haus kämen ... Nun, dann werden wir
+ihr Hütchen kaufen, einen Schal, neue Strümpfchen!
+Mir aber muß sie dafür durchaus ein Halstuch häkeln:
+sieh nur, wie schlecht das meine ist: gelb und abgetragen
+– hatte es zu meinem Unglück heute umgelegt! Ja, und
+du, Wassjä, bist auch gut: stellst mich gerade in dem
+Augenblick vor, wie ich noch mit dem Halstuch dastehe
+... Doch, nicht darum handelt es sich! Ich, siehst du:
+ich werde für das Silber sorgen! Ich bin doch verpflichtet,
+euch ein Geschenk zu machen – meine Ehre
+verlangt es, und auch meine Eigenliebe! ... Meine
+Jahreszulage wird doch dazu reichen: hoffentlich wird
+man sie mir bald geben? Fürchte nichts, mein Lieber,
+ich werde euch echte silberne Löffel kaufen und gute
+Messer – die nicht aus Silber zu sein brauchen, doch
+ausgezeichnete Messer sein werden, und eine Weste
+werde ich kaufen, das heißt, eine Weste für mich: denn
+ich werde doch Trauzeuge sein! Du aber nimm dich mal
+jetzt zusammen, ich werde schon auf dich aufpassen,
+Bruder; heute und morgen, die ganze Nacht werde ich
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+mit dem Stock hinter deinem Stuhl stehen, beende die
+Arbeit, Bruder beende sie schnell! Nun, und dann gehen
+wir beide zum Abend wieder hin, und wir werden
+glücklich sein ... werden Lotto spielen! ... Werden
+die Abende zusammen verbringen – hei, wird das schön
+werden! Pfui, Teufel! Wie ärgerlich, daß ich dir nicht
+helfen kann. Ich würde am liebsten alles, alles für dich
+abschreiben ... Warum haben wir nicht dieselbe Handschrift?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja!“ antwortete Wassjä. „Ja! Ich muß mich beeilen.
+Ich glaube, es wird jetzt elf Uhr sein – wir
+müssen uns beeilen ... An die Arbeit!“ Und Wassjä,
+der die ganze Zeit lächelnd zugehört und bin und wieder
+versucht hatte, durch irgendeine Bemerkung seine
+freundschaftlichen Gefühle zu Arkadij auszudrücken,
+kurz, der bis dahin mit Leib und Seele dabei gewesen
+war, verstummte plötzlich, wurde unruhig und schweigsam
+und fing beinah an zu laufen. Offenbar hatte irgendein
+schwerer Gedanke plötzlich seinen allzu heißen
+Kopf abgekühlt!
+</p>
+
+<p>
+Auch Arkadij Iwanowitsch wurde unruhig: auf
+seine dringlichen Fragen erhielt er kaum eine Antwort
+von Wassjä, dessen Ausrufe anderseits gar nicht mehr
+zur Sache gehörten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was fehlt dir denn, Wassjä?“ rief Arkadij
+endlich aus, als jener seine Schritte so beschleunigte,
+daß er ihm kaum zu folgen vermochte. „Bist du wirklich
+so in Sorge? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Lieber, wir haben genug geredet!“ antwortete
+ihm Wassjä ärgerlich.
+</p>
+
+<p>
+„Verzweifle doch nicht, Wassjä,“ unterbrach ihn
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+Arkadij, „ich habe es doch schon erlebt, daß du in einer
+kürzeren Frist noch viel mehr abgeschrieben hast ...
+Was willst du denn! Du bist doch so geschickt! Im äußersten
+Falle kannst du einfach etwas flüssiger schreiben:
+deine Abschrift braucht doch nicht wie gestochen
+zu sein. Du wirst’s schon schaffen! ... Wenn du
+dich jetzt aufregst, so wirst du nur zerstreut sein und die
+Arbeit wird dir schwer fallen ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä antwortete nichts oder murmelte nur etwas
+vor sich hin, und beide liefen voll Unruhe nach Haus.
+</p>
+
+<p>
+Wassjä setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch
+verhielt sich ganz ruhig, er entkleidete sich
+vorsichtig und legte sich aufs Bett, ohne Wassjä aus
+den Augen zu lassen ... Angst überkam ihn ... „Was
+ist das nur mit ihm?“ dachte er bei sich, als er Wassjäs
+bleiches Gesicht mit den glänzenden Augen darin
+erblickte – diese Unruhe in all seinen Bewegungen –
+dies Zittern seiner Hand ... Verdammt, wirklich verdammt!
+Sollte ich ihm nicht raten, sich lieber zwei
+Stunden hinzulegen: vielleicht kann er seine Aufregung
+ausschlafen.“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä hatte gerade eine Seite beendet, er sah auf
+und sein Blick traf zufällig Arkadij. Doch sofort schlug
+er die Augen nieder und griff wieder zur Feder.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä,“ begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch,
+„wäre es nicht wirklich besser, wenn du dich ein
+wenig schlafen legtest! Sieh, du bist wie im Fieber ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä sah geärgert, sogar wütend zu Arkadij hinüber
+und antwortete nichts.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä, was machst du mit dir? ...“ Wassjä
+schien sich zu besinnen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+„Sollte ich nicht Tee trinken, Arkascha?“ sagte er
+plötzlich.
+</p>
+
+<p>
+„Wie das? Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Tee gibt Kraft. Schlafen will ich nicht und werde
+ich auch nicht! Ich werde schreiben. Beim Teetrinken
+würde ich mich aber erholen, und ein Augenblick der
+Ermüdung wäre leichter zu überwinden.“
+</p>
+
+<p>
+„Famos, Bruder Wassjä, famos! So gefällst du
+mir: ich selbst wollte dir schon den Vorschlag machen.
+Ich wundere mich nur, daß ich nicht früher darauf verfiel.
+Und – weißt du was? Mawra wird nicht aufstehen,
+um nichts in der Welt wird sie aufstehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja! Das stimmt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Unsinn, das tut auch nichts!“ rief Arkadij
+Iwanowitsch und sprang barfuß aus dem Bett. „Ich
+selbst werde den Ssamowar aufstellen ...“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und mühte
+sich um den Ssamowar; Wassjä schrieb unterdessen
+weiter. Dann kleidete sich Arkadij Iwanowitsch an,
+um in eine Bäckerei zu gehen, damit Wassjä sich zur
+Nacht stärken könnte. In einer Viertelstunde stand der
+Ssamowar auf dem Tisch. Sie tranken den Tee, aber
+zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Wassjä war immer
+noch sehr zerstreut.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was ich sagen wollte,“ sagte er endlich, sich
+besinnend, „morgen muß man gehen und gratulieren.“
+</p>
+
+<p>
+„Das hast du doch nicht nötig.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Lieber, das muß sein,“ sagte Wassjä
+...
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde dich bei allen einschreiben. Wozu willst
+du gehen? Du, arbeite morgen! Heute arbeite noch bis
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+fünf Uhr, wie ich’s dir gesagt habe, und dann lege dich
+schlafen. Denn sonst, wie wirst du morgen sonst aussehen?
+Ich würde dich um Punkt acht Uhr wecken ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, geht es denn an, daß du statt meiner mich
+überall einschreibst?“ fragte Wassjä halb und halb mit
+dem Vorschlage einverstanden.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, warum denn nicht? So machen es doch alle!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich fürchte eigentlich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was denn, was?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei den andern, weißt du, tut es nichts, aber bei
+Juljan Mastakowitsch – er ist doch mein Wohltäter,
+Arkascha, und wenn er bemerkt, daß eine fremde
+Hand ...“
+</p>
+
+<p>
+„Bemerkt! Wie töricht du bist, Wassjuk! Wie
+kann er denn das bemerken? ... Ich kann doch
+deinen Namen so gut kopieren und dieselbe Schleife
+dranmachen, bei Gott, du weißt doch. Wirklich, was
+soll er denn da bemerken?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä antwortete nichts und beeilte sich, sein Glas
+zu leeren ... Darauf schüttelte er zweifelnd den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, mein Junge! Ach, wenn es uns doch nur
+gelingen würde! Wassjä, was fehlt dir denn? Du machst
+mir Angst! Weißt du, ich werde mich nicht hinlegen,
+Wassjä, ich werde nicht einschlafen. Zeige mir doch, ob
+du noch viel zu schreiben hast?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä blickte Arkadij Iwanowitsch so an, daß diesem
+das Herz weh tat und er kein Wort mehr herausbrachte.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Was ist mit dir? Was hast du? Warum
+siehst du mich so an?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+„Arkadij, ich, weißt du, ich werde morgen doch selbst
+gehen und Juljan Mastakowitsch gratulieren.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, so gehe doch!“ sagte Arkadij und sah ihn
+mit großen Augen in qualvoller Erwartung an.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä, schreibe doch schneller, ich werde dir
+doch nichts Schlechtes raten, bei Gott, das tue ich nicht.
+Wie oft hat dir nicht Juljan Mastakowitsch selbst schon
+gesagt, daß ihm an deiner Handschrift am meisten die
+Leichtigkeit gefällt! Nur Skoroplechin liebt es, wenn
+die Schrift wie gemalt ist und wie eine Schönschreibevorlage
+aussieht, um sich das Papier dann unrechtmäßigerweise
+anzueignen und seinen Kindern mit nach
+Hause zu bringen – denn eine Vorlage für sie kann
+sich der Schafskopf wohl nicht kaufen! Aber Juljan
+Mastakowitsch verlangt immer nur: flüssig, flüssig,
+flüssig! Doch was hast du nur, Wassjä, ich weiß wirklich
+nicht, was ich dir noch sagen soll ... Ich fürchte
+mich fast ... Mit deiner Verzweiflung bringst du mich
+noch um!“
+</p>
+
+<p>
+„Nichts, nichts!“ sagte Wassjä und fiel erschöpft
+auf seinen Stuhl zurück. Arkadij erschrak.
+</p>
+
+<p>
+„Willst du Wasser, Wassjä? – Wassjä!“
+</p>
+
+<p>
+„Laß nur, laß,“ sagte Wassjä, und drückte ihm die
+Hand. „Mir fehlt nichts, mir ist nur etwas traurig zumut,
+Arkadij. Ich kann es eigentlich selbst nicht sagen,
+warum. Höre, rede lieber von etwas anderem, erinnere
+mich nicht daran ...“
+</p>
+
+<p>
+„Beruhige dich, um Gottes willen, beruhige dich
+doch, Wassjä. Du wirst’s schon beenden, bei Gott,
+wirst’s schon beenden! Und wenn nicht, – nun, was
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+wäre denn dabei für ein Unglück? Tust ja, als wäre
+das ein wahres Verbrechen!“
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij,“ sagte Wassjä, seinen Freund so bedeutungsvoll
+ansehend, daß dieser wieder erschrak, denn
+noch nie hatte er Wassjä so tief innerlich aufgeregt gesehen.
+„Wenn ich allein gewesen wäre, wie früher ...
+Nein! Nicht das meine ich! Ich möchte es dir immer
+sagen, dir anvertrauen, wie einem Freunde ... Übrigens,
+wozu dich beunruhigen? ... Siehst du, Arkadij,
+den einen ist viel gegeben, andere verrichten nur Kleines,
+wie ich. Nun, wenn man von dir zum Beispiel
+Dankbarkeit und Anerkennung verlangte – und dir
+wäre es nicht möglich ...?“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Ich kann dich wahrhaftig nicht verstehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin niemals undankbar gewesen,“ fuhr Wassjä
+fort, als spräche er zu sich selbst. „Wenn ich nun
+aber nicht imstande bin, alles auszudrücken, was ich
+fühle, so ist es, als ob ... so hat es doch den Anschein,
+Arkadij, als wäre ich tatsächlich undankbar, und das
+bringt mich einfach um!“
+</p>
+
+<p>
+„Was sagst du da, was! Besteht denn wirklich darin
+deine ganze Dankbarkeit, daß du genau zum Termin
+fertig geworden bist? Denke doch nach, Wassjä, was
+du da sagst! Wäre das wirklich die ganze Dankbarkeit?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä verstummte und sah seinen Freund mit großen
+Augen an, als hätte dieser unerwartete Einwand
+alle Bedenken genommen. Er lächelte sogar, nahm aber
+sofort wieder eine nachdenkliche Miene an. Arkadij faßte
+dieses Lächeln als das Ende aller Schrecken auf, die Lebhaftigkeit
+aber, die wieder über Wassjä kam, als einen
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+Entschluß zu etwas Besserem, und freute sich bereits
+sehr.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, Arkascha, du legst dich jetzt schlafen,“ sagte
+Wassjä. „Sieh nur, daß ich nicht einschlafe, das wäre
+ein Unglück. Ich mache mich also jetzt an die Arbeit
+... Arkascha!“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nichts, ich wollte nur ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä setzte sich hin, schwieg und schrieb. Arkadij
+legte sich schlafen. Weder der eine noch der andere hatte
+ihren Besuch vom Nachmittag erwähnt. Vielleicht
+fühlten sich alle beide ein wenig schuldig, die Zeit vergeudet
+zu haben. Arkadij Iwanowitsch war bald eingeschlafen
+– in Sorgen über Wassjä. Zu seiner Verwunderung
+erwachte er genau um acht Uhr morgens.
+Wassjä war auf seinem Stuhl gleichfalls eingeschlafen,
+die Feder in der Hand, bleich und übermüdet. Das
+Licht war niedergebrannt. In der Küche machte sich
+Mawra am Ssamowar zu schaffen.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij erschrocken aus.
+„Wann bist du eingeschlafen?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä riß die Augen auf und sprang vom Stuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ sagte er, „ich bin nur so eingeschlafen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Er sah sofort nach seinen Papieren, nichts war
+ihnen geschehen, alles war in Ordnung; kein Tintenfleck,
+kein Talgfleck, vom Licht war nichts heruntergetröpfelt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, ich schlief um sechs Uhr ein,“ sagte
+Wassjä. „Wie kalt es in der Nacht ist! Trinken wir
+einen Tee und dann werde ich wieder ...“
+</p>
+
+<p>
+„Bist du ruhig geworden?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+„Ja, ja, mir fehlt nichts!“
+</p>
+
+<p>
+„Prost Neujahr, Wassjä.“
+</p>
+
+<p>
+„Prost Neujahr, mein Lieber, prost Neujahr,
+wünsche dir gleichfalls alles Gute, mein Lieber.“
+</p>
+
+<p>
+Sie umarmten sich. Wassjäs Lippen zitterten und
+seine Augen schwammen in Tränen. Arkadij Iwanowitsch
+schwieg: ihm war bitter zumut. Beide tranken sie
+eilig den Tee ...
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij! Ich habe beschlossen, selbst zu Juljan
+Mastakowitsch zu gehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber er wird es ja doch nicht bemerken ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mich quält sonst das Gewissen, mein Lieber.“
+</p>
+
+<p>
+„Du sitzt doch hier seinetwegen, seinetwegen quälst
+du dich ... Genug, Wassjä! ... Und ich, weißt du,
+mein Lieber, werde auch dahin gehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wohin?“ fragte Wassjä.
+</p>
+
+<p>
+„Zu Artemjeffs, um auch ihnen zu gratulieren, auch
+für dich mit!“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, mein Lieber, schön! Nun! So werde ich
+also hier bleiben: ja, ich sehe, das hast du dir trefflich
+ausgedacht. Ich werde also hier bleiben und arbeiten
+und nicht feiertagsmäßig die Zeit verbringen! Warte
+nur noch ein wenig, ich werde gleich einen Brief schreiben.“
+</p>
+
+<p>
+„Schreibe nur, schreibe, es hat ja noch Zeit. Ich
+werde mich erst waschen, rasieren und den Rock reinbürsten.“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, mein Bruder, weißt du, wir werden beide
+glücklich und zufrieden sein! Umarme mich, Wassjä!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, wenn du das meinst, Bruder! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+„Wohnt hier der Herr Beamte Schumkoff?“ ertönte
+in diesem Augenblick ein Kinderstimmchen auf der
+Treppe.
+</p>
+
+<p>
+„Hier, mein Kleiner, hier,“ antwortete Mawra und
+ließ den kleinen Gast eintreten.
+</p>
+
+<p>
+„Wer ist da? Wer, wer?“ rief Wassjä, sprang
+vom Stuhl auf und stürzte ins Vorzimmer. „Petinka,
+du? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Guten Tag, habe die Ehre Ihnen zum neuen Jahre
+zu gratulieren, Wassilij Petrowitsch,“ sagte ein reizender
+schwarzlockiger Bengel von etwa zehn Jahren,
+„die Schwester läßt Sie schön grüßen, Mama auch,
+und die Schwester hat mir befohlen, Sie von ihr zu
+küssen ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä hob den kleinen Gesandten mit beiden Armen
+in die Luft und drückte einen langen leidenschaftlichen
+Kuß auf seine Lippen, die ganz Lisenkas Lippen
+ähnlich waren.
+</p>
+
+<p>
+„Küsse ihn auch, Arkadij!“ wandte er sich an diesen
+und übergab ihm Petjä – und Petjä ging, ohne
+die Erde zu berühren, in die mächtige und heftige Umarmung
+Arkadij Iwanowitschs über.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Kleiner, willst du Tee?“
+</p>
+
+<p>
+„Danke bestens. Wir haben bereits Tee getrunken!
+Heute sind wir früh aufgestanden. Die Unsrigen gingen
+zur Frühmesse. Die Schwester hat mich zwei Stunden
+lang angezogen, mich gewaschen und gekämmt und
+mir die Hosen genäht, die ich gestern abend, als ich mit
+Ssascha auf der Straße spielte, zerrissen hatte: wir
+spielten nämlich Schneeball zusammen, und da ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nu – nu – nu – nu!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+„Jawohl, die ganze Zeit hat sie mich aufgeputzt,
+mich zurechtgestutzt und dann mich abgeküßt: ‚gehe zu
+Wassjä, gratuliere ihm und frage ihn, ob er ruhig die
+Nacht verbracht hat, und noch ...‘ und ich sollte noch
+etwas fragen, ja! Ob die Sache schon beendet wäre,
+von der Sie gestern gesprochen ... gestern ... Ach,
+ich habe ja alles aufgeschrieben,“ sagte der Kleine, zog
+ein Blättchen aus der Tasche, – „ja, und ob Sie aufgeregt
+wären?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde fertig! Ich werde! Sag’s ihr, daß
+ich fertig werde, mein Ehrenwort drauf!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja und noch etwas ... Ach! Ich hab’s vergessen:
+die Schwester hat auch einen Brief und ein Geschenk
+geschickt, ja, und ich hätte es fast vergessen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! ... Wo denn, mein Kind, wo? Da
+ist’s!? – ah! Sieh doch, mein Lieber, sieh, was sie mir
+schreibt, die Liebe, Gute! Weißt du, gestern habe ich bei
+ihr eine Brieftasche für mich gesehen: leider ist sie nicht
+fertig geworden, so schickt sie mir heute eine ihrer
+schwarzen Locken, die Brieftasche wird mir deshalb jedoch
+nicht verloren gehen. Sieh, Bruder, sieh nur!“
+</p>
+
+<p>
+Und der aufgeregte Wassjä zeigte Arkadij
+Iwanowitsch eine schwarze Locke, küßte sie leidenschaftlich
+und legte sie dann in die Seitentasche, nahe dem
+Herzen.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon
+kaufen!“ sagte schließlich Arkadij Iwanowitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Und heute haben wir einen Kalbsbraten und
+morgen Kalbshirn. Mama will auch noch Kuchen
+backen ... Und wir werden nicht wieder Haferbrei
+essen,“ sagte der Knabe, und schloß seine Erzählung.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+„Nein, was das für ein netter Kerl ist!“ meinte Arkadij
+Iwanowitsch. „Wassjä, du bist der glücklichste
+Sterbliche!“
+</p>
+
+<p>
+Der Kleine trank seinen Tee, erhielt ein Briefchen,
+tausend Küsse und machte sich dann, frisch und fröhlich
+wie er gekommen war, auf den Heimweg.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, mein Lieber,“ meinte hocherfreut Arkadij
+Iwanowitsch, „siehst du, wie gut alles ist, siehst du!
+Alles wendet sich zum besseren, verzage nicht und klage
+nicht! Immer voran, Wassjä, mache Schluß mit dem
+Trübsinn! In zwei Stunden bin ich wieder zu Haus:
+zuerst fahre ich zu ihnen, dann zu Juljan Mastakowitsch.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, lebe wohl, Lieber, lebe wohl ... Ach, wenn
+es so ist! ... Nun gut, gut, mache, daß du wegkommst,“
+sagte Wassjä, „ich, mein Lieber, werde dann also bestimmt
+<em>nicht</em> zu Juljan Mastakowitsch gehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Lebe wohl!“
+</p>
+
+<p>
+„Wart, mein Lieber, wart: sage ihr ... Nun, alles
+was du willst – küsse sie von mir ... Du erzählst mir
+dann alles später, mein Lieber, alles ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, natürlich: jetzt wirst du ja wieder der alte!
+Seit gestern abend warst du noch gar nicht recht zu
+dir gekommen, hattest dich von all den Eindrücken noch
+gar nicht erholt. Nun aber Schluß! Kopf hoch, mein
+lieber Wassjä! Lebe wohl, lebe wohl!“
+</p>
+
+<p>
+Endlich trennten sich die Freunde. Den ganzen
+Morgen über war Arkadij Iwanowitsch zerstreut und
+dachte nur an Wassjä. Er kannte dessen schwache und
+leicht erregbare Natur. Das Glück hatte ihn offenbar
+so erschüttert: jawohl, das war es, das Glück! Ich habe
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+mich nicht getäuscht! sagte Arkadij zu sich selbst. Mein
+Gott! Er hat mir aber einen Schrecken eingejagt! Und
+woraus er nicht eine Tragödie macht! Was für ein
+Hitzkopf er ist! Wirklich, man muß ihm helfen! Jawohl:
+helfen!
+</p>
+
+<p>
+Bei Juljan Mastakowitsch erschien Arkadij erst um
+elf Uhr, um in der Portiersloge seinen bescheidenen
+Namen der endlosen Reihe hoher Persönlichkeiten hinzuzufügen,
+die auf einem bereits vollgekritzelten weißen
+Bogen ihre Namen eingetragen hatten. Doch wie groß
+war seine Verwunderung, als unmittelbar vor seinem
+Namen die Unterschrift Wassjä Schumkoffs auftauchte!
+Nun – was ist denn mit ihm geschehen? dachte
+er erschrocken. Und Arkadij Iwanowitsch, der gerade
+vorher soviel Hoffnung geschöpft hatte, ging ganz bestürzt
+von dannen. Bereitete sich in der Tat ein Unglück
+vor? Was hieß das? Was sollte daraus werden!?
+</p>
+
+<p>
+In Kolomna erschien er mit düsteren Gedanken und
+war anfangs sehr zerstreut. Erst als er mit Lisenka gesprochen
+hatte, kam er zur Besinnung und ging dann
+mit Tränen in den Augen fort: er war Wassjäs wegen
+wirklich in heller Angst. Er lief so schnell wie möglich
+nach Haus. Gerade an der Newa stieß er mit Schumkoff
+zusammen. Der lief gleichfalls mehr als er ging.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin?“ rief Arkadij Iwanowitsch.
+</p>
+
+<p>
+Wassjä stutzte wie ein ertappter Verbrecher.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, mein Lieber, ich gehe nur so ... ich wollte nur
+ein wenig spazieren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du hast es nicht ausgehalten, du willst nach Kolomna
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+gehen? Ach, Wassjä, Wassjä! Warum bist du
+nur zu Juljan Mastakowitsch gegangen?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä antwortete ihm nichts darauf, er winkte nur
+mit der Hand und sagte dann:
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij! Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht!
+Ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, Wassjä, schon gut! Ich weiß doch, wie
+das ist. Beruhige dich doch nur! Du bist seit gestern
+unruhig und aufgeregt! Es ist ja auch kein Wunder!
+Alle lieben dich, alle leben für dich, mit deiner Arbeit
+geht’s vorwärts, bald wirst du sie beendet haben, das
+wirst du bestimmt, ich weiß es: du bildest dir da nur so
+etwas ein, hast da irgendeine Angst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, durchaus nicht, durchaus nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Erinnere dich doch, Wassjä, erinnere dich doch,
+wie es mit dir war, weißt du noch, als du befördert
+wurdest, du wußtest dich auch nicht vor Glück und vor
+Dankbarkeit zu lassen, verdoppeltest deinen Eifer und
+eine Woche lang verdarbst du doch nur die Arbeit!
+Dasselbe geschieht jetzt wieder mit dir ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, Arkadij – doch ist das jetzt etwas ganz
+anderes, durchaus etwas anderes ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso denn, etwas anderes: ich bitte dich! Die
+Sache ist ganz sicher nicht so eilig, du aber quälst dich
+dermaßen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, ich bin nur so ... Nun, gehen
+wir!“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, so willst du nach Haus und nicht zu ihnen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Lieber, mit diesem Gesicht kann ich
+dort nicht erscheinen ... Ich habe mich bedacht. Ich
+konnte es nur ohne dich so allein zu Hause nicht aushalten.
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+Jetzt, da du wieder bei mir bist, werde ich mich
+hinsetzen und weiter schreiben. Gehen wir!“
+</p>
+
+<p>
+Sie gingen und schwiegen eine Zeitlang. Wassjä
+hatte es jetzt wieder sehr eilig.
+</p>
+
+<p>
+„Warum erkundigst du dich gar nicht nach ihnen?“
+fragte Arkadij Iwanowitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ja! Nun, Arkaschenka, wie steht’s?“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, man erkennt dich gar nicht wieder!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, tut nichts, tut nichts. Erzähle mir nur alles,
+Arkascha!“ bat Wassjä mit flehender Stimme, als
+wolle er jeder weiteren Erklärung ausweichen. Arkadij
+Iwanowitsch seufzte tief auf: er wußte mit Wassjä
+gar nichts mehr anzufangen.
+</p>
+
+<p>
+Die Nachrichten von den Kolomnaschen belebten
+jedoch Wassjä wieder. Er sprach sogar sehr lebhaft von
+ihnen. Sie speisten beide zu Mittag. Die Alte hatte die
+Taschen Arkadij Iwanowitschs mit Kuchen vollgestopft
+und die Freunde waren lustig und guter Dinge, während
+sie sie aßen. Nach Tisch wollte Wassjä sich hinlegen, um
+dann die Nacht durcharbeiten zu können. Und so geschah
+es denn auch. Am Morgen hatte jemand Arkadij
+Iwanowitsch zum Tee aufgefordert, eine Einladung,
+die abzuschlagen nicht gut anging. Die Freunde trennten
+sich infolgedessen. Arkadij versprach, so früh als es
+eben nur anging, zurückzukommen, wenn möglich schon
+um acht Uhr. Diese drei Stunden Trennung kamen
+ihm selbst wie drei Jahre vor. Endlich machte er sich
+auf, um zu Wassjä zurückzukehren. Als er ins Zimmer
+trat, sah er, daß es dunkel war. Wassjä war nicht zu
+Haus. Er fragte Mawra. Mawra sagte, daß Wassjä
+die ganze Zeit geschrieben habe, darauf im Zimmer
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+auf und ab gegangen sei, und schließlich vor einer
+Stunde ungefähr hinausgelaufen wäre – mit der Bemerkung,
+er käme in einer halben Stunde wieder:
+‚wenn aber Arkadij Iwanowitsch inzwischen kommt, so
+sage du ihm,‘ schloß Mawra die Erzählung, ‚daß ich
+nur ein wenig spazierengegangen bin,‘ das aber habe
+er ihr drei- bis viermal ausdrücklich anbefohlen.
+</p>
+
+<p>
+„Er ist sicher bei Artemjeffs!“ dachte Arkadij Iwanowitsch
+und schüttelte den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Im nächsten Augenblick sprang er auf: er hatte
+eine neue Hoffnung. „Er ist wohl gar fertig geworden,“
+dachte er, „ja: das wird es sein; und er hat es nicht
+länger ausgehalten und ist zu ihnen gelaufen. Übrigens,
+nein! Dann hätte er doch auf mich gewartet ...
+Sehen wir, wie es mit seiner Arbeit steht –“.
+</p>
+
+<p>
+Er zündete das Licht an und begab sich an Wassjäs
+Schreibtisch: die Arbeit ging offenbar gut vonstatten
+und schien sich ihrem Ende zu nähern. Arkadij Iwanowitsch
+wollte sich noch näher davon überzeugen, als
+plötzlich Wassjä eintrat ...
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Du hier?“ rief er aus und schrak zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete sich, an
+Wassjä irgendeine Frage zu stellen. Der schlug die Augen
+nieder und begann schweigend seine Papiere zu
+ordnen. Schließlich begegneten sich beider Augen. Wassjäs
+Blick war flehend und gebrochen. Arkadij schrak
+zurück, als er ihn traf.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, mein Lieber, was ist das mit dir? Was
+hast du?“ rief er aus, stürzte sich auf Wassjä und nahm
+ihn in seine Arme, „erkläre mir doch, ich verstehe nichts
+von deiner Traurigkeit, was hast du, mein armer Märtyrer?
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+Sage mir doch alles, ohne Umschweife. Es kann
+doch nicht sein, daß dieses eine ...“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä preßte sich ungestüm an ihn. Sprechen
+konnte er nicht. Der Atem ging ihm aus.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, Wassjä, schon gut! Wenn du nicht
+fertig wirst, was ist denn dabei? Ich verstehe dich gar
+nicht, sag doch, was quält dich so? Siehst du, ich bin
+doch bereit, für dich alles ... Ach, mein Gott, mein
+Gott!“ sagte er, im Zimmer auf und ab gehend, während
+er nach allem griff, was ihm in die Hände kam,
+als suchte er ein Mittel, eine Hilfe für Wassjä. „Ich
+selbst werde morgen anstatt deiner zu Juljan Mastakowitsch
+gehen, werde ihn bitten, ihn anflehn, daß er
+dir noch einen Tag Frist gebe. Ich werde ihm alles
+auseinandersetzen, alles, alles, wenn es dich so quält ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gott bewahre mich davor!“ rief Wassjä aus und
+wurde weiß wie die Wand. Er konnte sich kaum auf
+den Füßen halten.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, Wassjä!“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä kam wieder zu sich. Seine Lippen zitterten;
+er wollte etwas sagen, konnte aber nur schweigend Arkadij
+die Hand drücken. Seine Hand war kalt. Arkadij
+stand vor ihm in quälender Erwartung. Wassjä sah ihn
+wieder an.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Gott mir dir, Wassjä! Du zerreißt mir
+das Herz, mein Freund, mein Lieber.“
+</p>
+
+<p>
+Ströme von Tränen stürzten aus Wassjäs Augen:
+er warf sich an die Brust seines Freundes.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dich betrogen, Arkadij!“ schluchzte er
+laut auf, „ich habe dich betrogen: vergib mir, vergib!
+Ich habe dich hintergangen ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+„Wieso, Wassjä! Was heißt das?“ fragte Arkadij,
+außer sich vor Angst und Schrecken.
+</p>
+
+<p>
+„Da! ...“
+</p>
+
+<p>
+Und Wassjä warf mit einer verzweifelten Geste aus
+einem Kasten sechs dicke Hefte auf den Tisch, die genau
+so aussahen wie jenes, das er abschrieb.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll das?“
+</p>
+
+<p>
+„Da, das Ganze müßte ich bis übermorgen fertigstellen.
+Ich habe nicht einmal ein Viertel davon!“
+</p>
+
+<p>
+„Frage nicht, frage nicht, wie das kommen konnte!“
+fuhr Wassjä fort, um selbst alles zu erzählen, was ihn
+so gequält hatte. „Arkadij, lieber Freund! Ich weiß
+selbst nicht, was mit mir geschehen war. Ich bin erst
+jetzt wie aus einem Traum erwacht. Ich habe drei ganze
+Wochen verloren. Ich bin ... immer ... zu ihr gegangen
+... Mein Herz sehnte sich ... ich quälte mich
+... mit der Ungewißheit ... und ich konnte, ich konnte
+nicht arbeiten. Ich dachte auch nicht einmal daran. Jetzt
+erst, wo das Glück wirklich für mich begonnen hat, –
+da bin ich aufgewacht.“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä!“ begann Arkadij Iwanowitsch entschlossen,
+„Wassjä, ich werde dich retten! Ich begreife alles.
+Diese Sache ist kein Spaß. Ich muß dir helfen! Höre,
+höre mich an: ich gehe morgen zu Juljan Mastakowitsch
+... Schüttle nicht den Kopf, nein, höre nur! Ich werde
+ihm alles erzählen, wie es gewesen ist, erlaube mir, daß
+ich es tue ... Ich werde ihm erklären ... ich werde
+alles wagen! Ich werde ihm deine Lage schildern, werde
+ihm erzählen, wie du dich quälst.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du dir nur sagen wolltest, daß du mich damit
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+einfach vernichtest?“ erwiderte Wassjä, ganz starr
+vor Schreck.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch wurde blaß, doch er beherrschte
+sich und fing an zu lachen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was denn, Wassjä! Was denn! So höre
+doch! Ich sehe ja, daß ich dich damit nur aufrege. Aber
+ich verstehe dich doch, ich weiß doch, was in dir vorgeht.
+Wir leben doch schon fünf Jahre miteinander, und
+schwach bist du, unverzeihlich schwach. Auch Lisaweta
+Michailowna hat es bereits bemerkt. Außerdem bist du
+ein Schwärmer, und das ist auch nicht gut: man kann
+da plötzlich ins Bodenlose fallen, mein Bruder! Höre
+mich an, ich weiß doch, was du möchtest! Du möchtest,
+daß Juljan Mastakowitsch außer sich vor Freude wäre:
+darüber, daß du heiratest – und womöglich sollte er
+einen Ball für dich geben ... Halt, halt! Du runzelst
+die Brauen. Siehst du, schon wegen dieser kleinen Bemerkung
+von mir bist du beleidigt, für Juljan Mastakowitsch
+beleidigt! Lassen wir ihn also beiseite. Ich
+verehre ihn nicht weniger als du. Du wirst mir aber
+doch nicht abstreiten und mir nicht zu denken verbieten,
+daß du nicht wünschtest – nun sagen wir: es gäbe keinen
+einzigen Unglücklichen auf der Erde, bloß weil du
+heiratest ... Gib es doch zu, mein Lieber, daß du nichts
+dagegen hättest, wenn ich, dein bester Freund, plötzlich
+in den Besitz von hunderttausend Rubel Kapital käme:
+und daß alle Feinde der Welt sich versöhnten, sich mitten
+auf der Straße vor Freude in die Arme fielen und,
+wenn möglich, hierher zu dir zu Gaste kämen! Lieber
+Freund, ich scherze nicht, es ist so! Ich habe dich
+schon längst erkannt. Weil du dich glücklich fühlst,
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+willst du, daß sich alle glücklich fühlen sollen. Es fällt
+dir schwer, allein glücklich zu sein! Darum möchtest du
+mit aller Gewalt dich deines Glückes würdig erweisen
+und zur Beruhigung deines Gewissens sofort eine große
+Tat vollbringen! Nun, ich verstehe, wie du dich quälen
+mußt, daß gerade dort, wo du dein Können zeigen möchtest
+... nun, sagen wir, daß dort deine Dankbarkeit, wie
+du dich ausdrückst, plötzlich versagt! Der Gedanke ist dir
+sehr peinlich, daß Juljan Mastakowitsch sich ärgern
+wird, wenn er erfährt, daß du in diesem Falle die
+Hoffnungen getäuscht hast, die er auf dich gesetzt. Dir
+ist es schmerzlich, daran zu denken, daß du Vorwürfe
+von dem hören wirst, den du für deinen Wohltäter hältst
+– und das gerade jetzt! Jetzt, da dein Herz voll Freude
+ist und da du nicht weißt, an wem du deine Dankbarkeit
+auslassen sollst! ... Ist es nicht so? nicht wahr,
+es ist so!“
+</p>
+
+<p>
+Mit zitternder Stimme schloß Arkadij Iwanowitsch
+seine Rede, er schwieg und schöpfte tief Atem.
+</p>
+
+<p>
+Wassjä blickte voll Liebe auf seinen Freund. Auf
+seinen Lippen lag ein Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+In Erwartung einer Hoffnung belebte sich sogar
+sein Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Also, höre mich an,“ begann von neuem Arkadij,
+auch seinerseits wieder von Hoffnung belebt, „so ist es
+denn nicht nötig, daß Juljan Mastakowitsch seine Zuneigung
+zu dir einbüßt. Ist es nicht so, mein Lieber?
+Hier liegt doch die Frage? Wenn dem aber so ist, dann
+werde ich,“ sagte Arkadij vom Stuhl aufspringend,
+„dann werde ich mich für dich opfern. Ich werde morgen
+zu Juljan Mastakowitsch gehen ... Widersprich
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+mir nicht! Du, Wassjä, machst ja dein Versäumnis zu
+einem Verbrechen! Er aber, Juljan Mastakowitsch, ist
+großmütig und mildtätig, und denkt nicht so wie du!
+Er, Bruder Wassjä, wird uns anhören und aus dem
+Unglück helfen. Jawohl. Nun! Hast du dich beruhigt?“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä drückte mit Tränen in den Augen Arkadijs
+Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, Arkadij, schon gut,“ sagte er, „die Sache
+ist bereits beschlossen. Ich habe meine Sache nicht
+gemacht: gut! Nicht gemacht ist – nicht gemacht. Du
+aber brauchst deshalb nicht hinzugehen: ich selbst werde
+hingehen und ihm alles erzählen. Ich habe mich jetzt
+beruhigt, ich bin vollständig gefaßt. Doch du, nein, du
+sollst nicht gehen ... So höre doch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, mein Lieber!“ rief Arkadij Iwanowitsch
+freudig aus, „meine Worte haben auf dich gewirkt: wie
+freue ich mich, daß du dich besonnen hast und dich zusammennehmen
+willst. Wie es mit deiner Sache auch
+stehen mag, was auch geschehen wird – ich bin bei dir,
+vergiß das nicht! Ich sehe, du willst nicht, daß ich mit
+Juljan Mastakowitsch darüber spreche – gut: ich
+werde nichts sagen, nichts, du selbst wirst es tun.
+Siehst du: du gehst morgen hin ... Oder nein, du
+wirst nicht hingehen, du wirst hier bleiben und schreiben,
+verstehst du? Ich werde aber doch herumhören, wie
+es mit der Sache steht, ob sie sehr eilig ist oder nicht,
+ob sie zum Termin fertig sein muß oder nicht, und
+wenn du den Termin versäumst, was daraus entspringen
+kann? Dann werde ich zu dir kommen und dir berichten.
+Siehst du, siehst du! Da haben wir schon eine
+Hoffnung; nun, stelle dir vor, daß die Sache keine Eile
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+hat! Wie viel ist dann gewonnen! Juljan Mastakowitsch
+kann sie vielleicht überhaupt vergessen haben – und
+dann ist ja sowieso alles gerettet!“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä schüttelte bedenklich mit dem Kopf. Doch
+wandte er seinen dankbaren Blick nicht von dem Gesicht
+seines Freundes.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schon gut! Ich fühle mich so schwach
+und bin so müde,“ sagte er dann seufzend, „ich möchte
+selbst nicht mehr daran denken. Sprechen wir von etwas
+anderem! Ich, siehst du, ich werde auch jetzt nicht mehr
+schreiben, ich werde nur noch die Seite beenden – bis
+zum Absatz. Höre ... Ich wollte dich schon längst fragen:
+wie kommt’s, daß du mich so gut kennst?“
+</p>
+
+<p>
+Tränen tropften aus seinen Augen auf die Hand
+Arkadijs.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du wüßtest, Wassjä, wie sehr ich dich liebhabe,
+so würdest du nicht danach fragen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, Arkadij, ich weiß es nicht ... denn ich
+kann nicht verstehen, für was du mich so liebhast! Ja,
+Arkadij, du mußt wissen, daß deine Liebe mich geradezu
+erdrückt. Wie oft, wenn ich mich schlafen legte, habe ich
+an dich gedacht (denn ich denke immer an dich, bevor
+ich einschlafe) und mein Herz zitterte so heftig, so sehr
+... so sehr ... Weil du mich so gern hast, und ich
+mein Herz nicht erleichtern und dir mit nichts danken
+konnte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du, Wassjä, siehst du, so bist du! ... Wie
+du dich wieder aufregst,“ sagte Arkadij, dem das Herz
+weh tat, wenn er an die gestrige Szene auf der Straße
+dachte.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut. Du willst, daß ich mich beruhige und
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+doch war ich noch niemals so ruhig und glücklich wie
+eben! Weißt du was? ... Höre, ich möchte dir gern
+etwas sagen, aber ich fürchte, dich zu kränken ... du
+bist immer gleich so gekränkt und schreist dann auf mich
+ein: ich aber bin dann so erschrocken ... Sieh, wie ich
+jetzt zittere, ich weiß gar nicht warum ... Höre, was ich
+dir sagen will. Ich glaube, ich habe mich früher selbst
+nicht gekannt – ja! Und die anderen habe ich erst gestern
+kennen gelernt. Ich, Bruder, ich verstand nicht,
+alles richtig zu schätzen. Das Herz in mir war verhärtet.
+Höre, wie ist das nur möglich, daß ich niemandem, niemandem
+auf der Welt etwas Gutes getan habe, weil ich
+es eben nicht tun konnte – sogar mein Äußeres ist
+unglücklich ... Alle aber haben mir Gutes erwiesen!
+Du als der erste: sehe ich’s denn nicht?! Ich habe nur
+immer geschwiegen, geschwiegen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, höre auf!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, was denn, was denn, Arkascha! ... Ich
+habe doch nichts ...“ unterbrach sich Wassjä, der vor
+Tränen kaum sprechen konnte. „Ich habe dir gestern
+von Juljan Mastakowitsch erzählt. Du weißt doch
+selbst, wie streng er sonst ist, und wie rauh. Du selbst
+hast manche Bemerkung von ihm einstecken müssen, mit
+mir aber hat er gestern gescherzt und mir sein gutes
+Herz gezeigt, das er allen anderen gegenüber verbirgt
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, Wassjä? Das zeigt doch nur, daß du dessen
+würdig bist.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Arkascha! Wie gern, wie gern würde ich dies
+Ganze erledigt haben! ... Ich vernichte ja mein Glück
+damit! Ich habe so ein Vorgefühl! Nein, nicht
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+dadurch,“ unterbrach sich Wassjä, als er bemerkte, daß
+Arkadij nach dem dicken Papierstoß auf dem Tisch
+schielte, „das hat nichts zu sagen, das ist beschriebenes
+Papier, Unsinn! Diese Sache ist erledigt ... Ich, Arkascha,
+ich war heute bei ihnen ... Ich bin nicht hineingegangen.
+– Es war mir zu schwer zumut! Ich
+stand nur an der Tür. Sie spielte auf dem Klaviers, ich
+hörte es draußen. Siehst du, Arkadij,“ sagte er mit leiser
+Stimme, „ich wagte nicht einzutreten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä, was fehlt dir? Du siehst mich so
+seltsam an?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nichts! Mir ist nicht ganz wohl, meine
+Kniee zittern, das kommt daher, weil ich die Nacht über
+auf war! Ein Schleier liegt mir vor den Augen. Und
+hier, hier ...“
+</p>
+
+<p>
+Er wies auf sein Herz und zugleich sank er auch
+schon ohnmächtig zusammen.
+</p>
+
+<p>
+Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij strenge
+Maßregeln ergreifen. Er wollte ihn mit Gewalt ins
+Bett legen. Wassjä willigte aber nicht ein, Arkadij konnte
+reden, was er wollte. Er weinte, rang die Hände, wollte
+mit aller Gewalt weiterschreiben und seine Seite beenden.
+Um ihn nicht unnötig aufzuregen, ließ ihn Arkadij
+schließlich zu seinen Papieren.
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du,“ sagte Wassjä, sich auf seinen Platz
+setzend, „ich habe eine Idee, eine Hoffnung. Siehst du:
+ich werde ihm übermorgen nicht alles bringen. Von
+dem Rest sage ich ihm, daß es verbrannt ist oder verloren
+gegangen ... kurz ... – Nein, ich kann nicht
+lügen. Ich werde ihm lieber alles erklären, werde sagen,
+wie es gekommen ist, daß ich einfach nicht konnte. Ich
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+werde ihm von meiner Liebe erzählen: er hat ja selbst
+erst vor kurzem geheiratet, er wird mich verstehen! Ich
+werde alles das, versteht sich, ihm bescheiden und demütig
+mitteilen, er wird meine Tränen sehen, sie werden
+ihn rühren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das ist klug von dir, gehe, gehe zu ihm, erkläre
+dich ihm ... Tränen sind dazu nicht nötig! Warum
+denn Tränen? Aber weißt du, Wassjä, du hast mir
+einen tüchtigen Schrecken eingejagt.“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, ich werde also gehen, ich werde also gehen.
+Jetzt aber laß mich schreiben, laß mich, Arkascha.
+Ich störe niemanden, laß auch du mich ruhig schreiben!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassjä
+nicht, er traute ihm wirklich nicht. Wassjä war zu allem
+fähig. Doch um Entschuldigung bitten, warum!?
+Die Sache lag ja gar nicht so. Die Sache war doch die,
+daß Wassjä tatsächlich seine Pflicht nicht erfüllt hatte,
+daß er vor sich selbst schuldig war und seinem Schicksal
+gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, daß Wassjä
+sich niedergedrückt und seines Glückes nicht würdig
+fühlte und daß er schließlich sich einen Vorwand suchte
+und seit dem gestrigen Tage, erschüttert durch die Plötzlichkeit
+aller Geschehnisse, wie er war, noch nicht recht
+zu sich kommen konnte: ja: so war es! sagte sich Arkadij
+Iwanowitsch. Deshalb muß man ihn retten, muß ihn
+mit sich selbst aussöhnen! Und Arkadij dachte noch lange
+nach und beschloß, unverzüglich zu Juljan Mastakowitsch
+zu gehen, wenn möglich schon morgen, und ihm
+alles zu erzählen.
+</p>
+
+<p>
+Wassjä saß und schrieb. Der gequälte Arkadij Iwanowitsch
+legte sich von neuem auf sein Bett, um noch
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+weiter über die Sache nachzudenken, schlief ein und
+erwachte erst beim Morgengrauen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Teufel! Wieder!“ rief er aus, als er Wassjä
+erblickte; der saß und schrieb.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij stürzte zu ihm, umarmte ihn und brachte
+ihn mit aller Gewalt auf sein Bett. Wassjä lächelte nur:
+seine Augen fielen ihm vor Müdigkeit zu. Er konnte
+kaum sprechen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte mich selbst hinlegen,“ sagte er. „Weißt
+du, Arkadij, ich habe die Idee, daß ich’s doch noch beenden
+werde. Ich habe schneller, immer schneller geschrieben.
+Doch noch länger zu sitzen – dazu bin ich unfähig
+... wecke mich um acht Uhr ...“
+</p>
+
+<p>
+Er konnte nicht mehr weiter und schlief wie ein
+Toter ein.
+</p>
+
+<p>
+„Mawra!“ wandte sich flüsternd Arkadij Iwanowitsch
+an die Magd, die gerade den Tee hereinbrachte,
+„er bat mich, ihn nach einer Stunde zu wecken. Das
+darf aber unter keiner Bedingung geschehen! Er soll
+womöglich zehn Stunden hintereinander schlafen, verstehst
+du?“
+</p>
+
+<p>
+„Verstehe, Herr, verstehe.“
+</p>
+
+<p>
+„Das Mittagessen brauchst du nicht zu bereiten,
+nicht das Holz hereinzuschleppen, überhaupt darfst du
+nicht lärmen, sieh dich vor! Wenn er nach mir fragen
+sollte, so sage ihm, ich sei in den Dienst gegangen, verstehst
+du?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe, Herr, verstehe, möge er sich ausruhen
+nach Belieben, was geht’s mich an! Ich freue mich über
+den Schlaf meines Herrn und bemühe mich, über ihn
+zu wachen. Was aber die zerschlagene Tasse anbelangt,
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+wegen der Sie mir Vorwürfe machten – das war gar
+nicht ich, das war die Katze, die sie zerschlagen hat, ich
+werde es ihr noch zeigen!“
+</p>
+
+<p>
+„Tss, sei still!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch führte Mawra in die Küche,
+verlangte von ihr den Schlüssel und schloß sie dort ein.
+Darauf begab er sich in den Dienst. Auf dem Wege
+überlegte er sich’s, wie er sich bei Juljan Mastakowitsch
+melden lassen sollte und ob es nicht vielleicht anmaßend
+sei, es zu tun? Im Büro erschien er sehr schüchtern,
+fast zaghaft erkundigte er sich, ob Seine Exzellenz
+da sei; man antwortete ihm, nein, und Exzellenz würden
+heute wohl überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch
+wollte im ersten Augenblick zu ihm in die
+Wohnung gehen, doch fiel es ihm noch zur rechten Zeit
+ein, daß ja Juljan Mastakowitsch, wenn er hier nicht
+erschienen war, dann ganz bestimmt zu Hause dringend
+beschäftigt sein mußte. Er blieb also im Büro. Die
+Stunden schienen ihm unendlich lang zu sein. Unterderhand
+erkundigte er sich nach der Abschrift, mit der
+Schumkoff beauftragt worden war. Doch niemand
+wußte etwas von der Angelegenheit. Man wußte nur,
+daß Juljan Mastakowitsch ihn mit besonderen Aufträgen
+beschäftigte, mit was für welchen aber – das
+wußte niemand zu sagen. Schließlich schlug es drei Uhr
+und Arkadij Iwanowitsch stürzte nach Haus. Auf der
+Treppe des Dienstgebäudes redete ihn ein Schreiber
+an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkoff um
+ein Uhr dagewesen sei und gefragt habe, ob er, Arkadij,
+da sei, und ferner, ob Juljan Mastakowitsch dagewesen
+wäre. Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, nahm er
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+eine Droschke und fuhr außer sich vor Angst und
+Schrecken nach Hause.
+</p>
+
+<p>
+Schumkoff war zu Hause. Er ging erregt im Zimmer
+auf und ab. Als er Arkadij Iwanowitsch erblickte,
+nahm er sich sofort zusammen und beeilte sich sichtlich,
+seine Erregung zu verbergen. Er setzte sich schweigend
+an die Arbeit. Offenbar wollte er den Fragen seines
+Freundes ausweichen. Fast schien er sich durch ihn belästigt
+zu fühlen und die Absicht zu haben, von seinen
+Entschlüssen jetzt nichts mehr verlauten zu lassen, da
+er sich, wie er wohl denken mochte, auf die Freundschaft
+des anderen ja doch nicht verlassen konnte. Arkadij
+fühlte das wohl und sein Herz krampfte sich zusammen.
+Er setzte sich aufs Bett und schlug ein Buch
+auf, das einzige, welches in seinem Besitz war –
+wandte aber keinen Blick von dem armen Wassjä.
+Wassjä schwieg hartnäckig, schrieb und blickte nicht auf.
+So vergingen einige Stunden und Arkadijs Qualen
+stiegen aufs höchste. Schließlich, gegen elf Uhr abends,
+erhob Wassjä seinen Kopf und sah mit stumpfem, unbeweglichem
+Blick Arkadij an. Arkadij wartete schweigend.
+Es vergingen zwei bis drei Minuten! Wassjä
+schwieg immer noch. „Wassjä!“ rief Arkadij endlich.
+Doch Wassjä gab keine Antwort. „Wassjä!“ wiederholte
+er und sprang vom Bett auf. „Wassjä, was fehlt
+dir? Was hast du?“ rief er aus und lief zu ihm hin.
+Wassjä hob den Kopf und sah ihn mit demselben
+stumpfen und unbeweglichen Ausdruck an. „Er hat
+einen Krampf!“ dachte Arkadij, und dabei überlief ihn
+ein Schauer. Er griff nach der Karaffe mit Wasser und
+goß Wassjä das Wasser über den Kopf, befeuchtete
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+seine Schläfen, rieb ihm die Hände, und richtig, Wassjä
+kam wieder zu sich. „Wassjä, Wassjä!“ Arkadij brach
+in Tränen aus: er konnte sich nicht mehr beherrschen.
+„Wassjä, richte dich doch nicht zugrunde, besinne dich
+doch, Wassjä! ...“ Er verstummte und nahm Wassjä
+in seine Arme. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf Wassjäs
+Gesicht: er rieb sich die Stirn und griff nach seinem
+Kopf, als fürchte er, daß er ihm zerspränge ...
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, was mit mir ist!“ sagte er endlich,
+„ich glaube ... Aber beunruhige dich nicht, Arkadij,
+beunruhige dich nicht, es ist alles gut!“ fügte er, ihn
+mit traurigen Augen ansehend, hinzu. „Laß gut sein,
+laß gut sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Du – du beruhigst noch mich!“ rief Arkadij,
+dessen Herz in Stücke zerriß. „Wassjä,“ sagte er dann,
+„lege dich endlich zu Bett, schlaf ein wenig, was meinst
+du? Quäle dich doch nicht umsonst! Besser, du setzt dich
+nachher wieder an die Arbeit!“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schon gut!“ wiederholte Wassjä, „ja:
+Ich werde mich hinlegen: schon gut; ja! Siehst du, ich
+wollte es nämlich beenden, aber jetzt habe ich mich doch
+bedacht ... ja ...“
+</p>
+
+<p>
+Und Arkadij schleppte ihn zu Bett.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Wassjä,“ sagte er entschlossen, „mit dieser
+Sache muß ein Ende gemacht werden! Sage mir, was
+hast du dir gedacht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ sagte Wassjä, winkte mit der Hand schwach
+ab und wandte seinen Kopf auf die andere Seite.
+</p>
+
+<p>
+„Schön, Wassjä, schön! Entschließe dich, ich will
+nicht zu deinem Mörder werden, ich kann nicht länger
+schweigen! Du wirst nicht eher einschlafen, bis du dich
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+nicht zu etwas Bestimmtem entschlossen haben wirst, ich
+weiß es.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie du willst, wie du willst,“ wiederholte rätselhaft
+Wassjä.
+</p>
+
+<p>
+„Er ergibt sich,“ dachte Arkadij Iwanowitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Folge mir doch, Wassjä,“ sagte er, „denke daran,
+was ich dir gesagt habe: ich kann dich ja retten; morgen
+– morgen werde ich dein Schicksal entscheiden!
+Was sage ich: Schicksal!? Du hast mich so bange gemacht,
+Wassjä, daß ich schon anfange, deine Worte zu
+wiederholen. Was für ein Schicksal! Das ist ja Unsinn!
+Du willst nicht die Liebe und Zuneigung Juljan Mastakowitschs
+verlieren, ja! Und du wirst sie auch nicht verlieren,
+du wirst sehen ... Ich ...“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch hätte noch weiter gesprochen,
+aber Wassjä unterbrach ihn. Er richtete sich auf, umschlang
+schweigend mit beiden Händen Arkadij Iwanowitsch
+und küßte ihn.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut!“ sagte er mit schwacher Stimme,
+„schon gut! Genug davon!“
+</p>
+
+<p>
+Und wieder kehrte er seinen Kopf weg zur Wand.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott!“ dachte Arkadij. „Mein Gott! Was
+ist mit ihm? Er ist ganz und gar von Sinnen: was mag
+er vorhaben? Er wird sich ja zugrunde richten!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij sah voll Verzweiflung auf ihn.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn er doch wirklich krank werden würde,“
+dachte Arkadij, „das wäre vielleicht noch das Beste.
+Durch die Krankheit würde er dann aller Sorgen enthoben
+sein und man würde die Sache auf eine ganz
+ausgezeichnete Weise beilegen können. Doch was sage
+ich? Ach, du mein großer Gott ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+Inzwischen schien Wassjä eingeschlafen zu sein. Arkadij
+Iwanowitsch freute sich über das gute Zeichen,
+wie er es auslegte, und beschloß bei sich, die ganze
+Nacht an Wassjäs Bett zu bleiben. Doch Wassjä schien
+nicht zur Ruhe zu kommen, er bewegte sich alle Augenblick,
+warf sich im Bett herum und öffnete von Zeit zu
+Zeit die Augen. Schließlich aber nahm die Müdigkeit
+doch überhand und er schlief ein wie ein Toter. Es war
+gegen zwei Uhr morgens, als Arkadij Iwanowitsch, mit
+den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl
+ebenfalls einschlief.
+</p>
+
+<p>
+Er hatte einen sehr unruhigen und sonderbaren
+Traum. Ihm war es, als wache er, während Wassjä
+noch immer auf dem Bett lag. Doch sonderbarerweise
+war das nur eine Verstellung von Wassjä, er hinterging
+Arkadij, stand vom Bett auf und setzte sich an den
+Schreibtisch. Schmerz ergriff Arkadij, er war tief traurig
+und konnte es kaum ertragen, als er so sehen
+mußte, wie Wassjä ihn hinterging. Er wollte nach ihm
+greifen, ihn rufen und aufs Bett zurücktragen. Wassjä
+schrie aber laut auf und als Arkadij zusah, hielt er nur
+seine Leiche im Arm. Kalter Schweiß trat ihm auf die
+Stirn, sein Herz klopfte heftig. Er erwachte und öffnete
+die Augen. Wassjä saß vor ihm am Tisch und –
+schrieb.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und blickte
+aufs Bett: aber nein, da war Wassjä nicht! Arkadij
+sprang auf, noch ganz unter dem Eindruck seines Traumes.
+Wassjä aber rührte sich nicht. Er schrieb immer
+weiter. Voll Entsetzen bemerkte plötzlich Arkadij, daß
+Wassjä immer nur mit der trockenen Feder übers Papier
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+fuhr, die weißen Seiten umblätterte und sich eilte
+und eilte, ganz, als wäre er emsig an seiner Arbeit!
+„Nein, das da ist kein Krampf!“ dachte Arkadij Iwanowitsch
+und erzitterte am ganzen Körper. „Wassjä,
+Wassjä! Antworte mir doch!“ rief er und packte ihn an
+der Schulter. Doch Wassjä schwieg und fuhr fort, mit
+trockener Feder auf dem Papier weiter zu schreiben.
+</p>
+
+<p>
+„Endlich, endlich schreibt meine Feder so schnell,
+wie ich will,“ sagte er und blickte Arkadij an.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij ergriff seine Hand und entriß ihm die Feder.
+</p>
+
+<p>
+Ein Stöhnen kam aus Wassjäs Brust. Er ließ die
+Arme sinken und sah Arkadij an, dann griff er sich mit
+einem quälenden, traurigen Ausdruck an die Stirn, als
+wollte er einen schweren eisernen Ring entfernen, der
+dort lag und ließ dann leise, wie in Nachdenken versunken,
+seinen Kopf auf die Brust fallen.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij Iwanowitsch verzweifelt.
+„Wassjä!“
+</p>
+
+<p>
+Nach einiger Zeit sah Wassjä ihn an. Tränen standen
+in seinen großen blauen Augen und das bleiche Gesicht
+drückte eine unendliche Qual aus ... Er flüsterte
+etwas.
+</p>
+
+<p>
+„Was, was sagst du?“ rief Arkadij und beugte sich
+zu ihm.
+</p>
+
+<p>
+„Warum nur ich, warum nur ich?“ flüsterte Wassjä,
+„warum? Was habe ich denn getan?“
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä! Was ist dir! wen fürchtest du, Wassjä?
+Sprich!“ rief Arkadij und rang die Hände in Verzweiflung.
+</p>
+
+<p>
+„Warum will man denn mich zu den Soldaten geben?“
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+flüsterte Wassjä weiter und sah fragend in die
+Augen seines Freundes, „warum mich? Was habe ich
+denn getan!“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij schauderte vor Entsetzen: er wollte, er
+konnte es nicht glauben. Wie gebrochen stand er da.
+</p>
+
+<p>
+Im nächsten Augenblick faßte er sich wieder: „Das
+ist nur so, das ist vorübergehend!“ sagte er zu sich,
+bleich mit blauen, zitternden Lippen und kleidete sich an.
+Er wollte sofort zu einem Doktor laufen. Plötzlich rief
+ihn Wassjä. Arkadij stürzte zu ihm und umarmte ihn
+besorgt, wie eine Mutter ihr Kind ...
+</p>
+
+<p>
+„Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du!
+Mein Unglück will ich allein tragen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du? Was hast du? besinne dich doch,
+Wassjä, besinne dich doch!“
+</p>
+
+<p>
+Wassjä seufzte und leise Tränen liefen über seine
+Wangen.
+</p>
+
+<p>
+„Warum sie vernichten? Was hat sie denn für eine
+Schuld daran? ...“ murmelte er gequält und herzzerreißend.
+„Meine Sünde ist es, meine Sünde! ...“
+</p>
+
+<p>
+Er schwieg einen Augenblick.
+</p>
+
+<p>
+„Lebe wohl, meine Geliebte! Lebe wohl, meine Geliebte!“
+flüsterte er und wiegte seinen armen Kopf. Arkadij
+zuckte zusammen, raffte sich dann auf und wollte
+zum Doktor ... „Gehen wir! Es ist Zeit!“ rief Wassjä,
+der die Bewegung Arkadijs bemerkt hatte. „Gehen
+wir, Bruder, gehen wir! ich bin bereit! Du wirst mich
+begleiten.“ Er verstummte und sah Arkadij vernichtet
+und zugleich mißtrauisch an.
+</p>
+
+<p>
+„Wassjä, komme mir nicht nach, um Gottes willen!
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+Erwarte mich hier. Ich werde sofort, sofort zu dir zurückkehren,“
+sagte Arkadij Iwanowitsch, der selbst den
+Kopf verloren hatte. Und er griff nach seiner Mütze,
+um nach dem Doktor zu laufen. Wassjä setzte sich wieder
+hin, er war still und gehorsam, nur in seinen Augen
+blitzte eine verzweifelte Entschlossenheit. Arkadij kehrte
+noch einmal zurück, ergriff vom Tisch das Federmesser,
+sah noch zum letztenmal nach dem Armen und lief zur
+Wohnung hinaus.
+</p>
+
+<p>
+Es war acht Uhr morgens. Das Licht hatte bereits
+die Dämmerung im Zimmer verdrängt.
+</p>
+
+<p>
+Er fand niemanden. Er lief eine ganze Stunde umher.
+Alle Ärzte, deren Adressen er von den Hausverwaltern
+erfuhr, bei denen er sich erkundigte, ob nicht
+ein Doktor im Hause wohne, waren bereits ausgefahren:
+in ihre Praxis oder in ihren privaten Angelegenheiten.
+Nur einen traf er schließlich zu Hause. Dieser
+fragte lange und umständlich seinen Diener, der Arkadij
+anmeldete: wer und woher der Herr sei, aus welchem
+Grunde er käme und aus welchen Verhältnissen der
+frühe Besucher zu sein scheine – bis er dann schließlich
+doch zu dem Entschluß kam, daß es ihm nicht möglich
+sei, ihn zu empfangen, da er viel zu tun habe und nicht
+ausfahren könne, und daher Arkadij sagen ließ, diese Art
+von Kranken müsse man in ein Krankenhaus bringen.
+</p>
+
+<p>
+Da ließ der verzweifelte und erschütterte Arkadij,
+der ein solches Ergebnis denn doch nicht erwartet
+hatte, alles stehen und liegen, wie es war, alle Ärzte,
+die es auf der Welt gab, und begab sich nach Haus,
+in höchster Angst um Wassjä. Er lief in die Wohnung.
+Mawra wischte gerade den Fußboden auf, ganz, als
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+wäre nichts geschehen und brach kleine Hölzchen entzwei,
+um den Ofen anzuzünden. Er stürzte ins Zimmer:
+aber Wassjä war nicht da!
+</p>
+
+<p>
+„Wohin? Wohin nur? Wohin mag der Unglückliche
+gelaufen sein?“ fragte sich Arkadij im höchsten
+Schreck. Und er fing an, Mawra auszufragen. Die aber
+wußte nichts, hatte Wassjä weder gehört noch gesehen.
+„Gott sei ihm gnädig!“ sagte Arkadij und lief zu den
+Kolomnaschen.
+</p>
+
+<p>
+Jawohl: dort, nur dort konnte er sein!
+</p>
+
+<p>
+Es war bereits zehn Uhr, als er bei ihnen ankam.
+Aber auch Lisenka und ihre Mutter hatten nichts gehört,
+nichts gesehen. Arkadij stand ganz verstört vor ihnen und
+fragte immer nur, wo Wassjä sei. Die Alte trugen ihre
+Füße nicht mehr, und sie fiel auf den Diwan hin. Lisenka,
+die am ganzen Körper zitterte, begann ihn über
+das Geschehene auszufragen. Doch – was sollte er ihr
+sagen? Arkadij Iwanowitsch versuchte, sich so schnell
+als möglich von ihnen loszumachen, er dachte sich irgendeine
+Ausrede aus, die ihm natürlich nicht geglaubt
+wurde, lief davon und ließ sie erschüttert und in Sorgen
+um Wassjä zurück. Er begab sich in sein Büro, um
+die Nachricht zu überbringen und darauf hinzuwirken,
+daß man so schnell als möglich Maßregeln ergriff. Unterwegs
+kam ihm der Gedanke, daß Wassjä ja zu Juljan
+Mastakowitsch gegangen sein könne. Das war wohl
+auch am ehesten anzunehmen! Arkadij hatte bereits vorher,
+noch bevor er zu den Kolomnaschen gegangen war,
+an diese Möglichkeit gedacht. Als er am Hause der Exzellenz
+vorübergefahren war, hatte er schon anhalten
+lassen wollen, aber er hatte dann doch wieder dem Kutscher
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+befohlen, weiterzufahren. Er wollte lieber erst
+im Büro nach Wassjä fragen und erst dann, wenn er
+dort nicht sein sollte, sich zu Seiner Exzellenz begeben,
+und wär’s auch nur, um Bericht zu erstatten. Irgend
+jemand mußte es doch tun!
+</p>
+
+<p>
+Kaum war er in den Vorraum eingetreten, als ihn
+auch schon einige jüngere Kollegen umringten, die alle
+im gleichen Rang mit ihm standen, und ihn fragten,
+was mit Wassjä geschehen sei? Und alle sprachen sie
+davon, daß Wassjä den Verstand verloren habe und sich
+einbilde, er müsse zu den Soldaten, weil er sich ein
+Versäumnis im Dienst habe zuschulden kommen lassen.
+Arkadij Iwanowitsch antwortete auf die Fragen, die
+auf ihn einstürmten, oder besser gesagt, er antwortete
+niemandem etwas Rechtes, und beeilte sich nur so
+schnell wie möglich in die inneren Gemächer zu kommen.
+Auf dem Wege dorthin erfuhr er, daß Wassjä im
+Kabinett Juljan Mastakowitschs sei, und daß sich die
+meisten der Vorgesetzten gleichfalls dorthin begeben
+hatten. Vor der Tür wurde er zurückgehalten. Einer
+von den höheren Beamten fragte ihn, was er wünsche?
+Doch ohne den Herrn recht zu erkennen, sagte er irgend
+etwas über Wassjä und ging geradeaus auf das Kabinett
+zu. Er war noch draußen, als er schon die Stimme
+Juljan Mastakowitschs hörte.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin wollen Sie?“ fragte ihn wieder jemand.
+</p>
+
+<p>
+Arkadij Iwanowitsch verlor fast den Mut und wäre
+beinahe schon umgekehrt – als er gerade durch die geöffnete
+Tür seinen armen Freund Wassjä erblickte.
+Und nun zwängte er sich durch die Tür in das Zimmer
+hinein. Dort herrschte große Aufregung und Verwirrung.
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+Juljan Mastakowitsch schien sehr aufgeregt
+zu sein. Um ihn herum standen alle die höheren Beamten,
+sprachen hin und her und wußten nicht, wozu sie
+sich entschließen sollten. Weiter abseits stand Wassjä.
+In der Brust Arkadijs erstarb alles, wie er ihn so stehen
+sah. Wassjä stand da: bleich, mit erhobenem Kopfe,
+die Hände stramm an der Hosennaht, ganz als wäre er
+wirklich ein Rekrut und stände vor seinen Vorgesetzten.
+Er blickte starr Juljan Mastakowitsch in die Augen.
+Arkadij wurde natürlich sofort bemerkt, und da einige
+wußten, daß er Wassjäs Freund und Stubengenosse
+war, so meldete man dies sofort Seiner Exzellenz. Man
+führte Arkadij vor. Er wollte die ihm gestellten Fragen
+beantworten, aber als er auf Juljan Mastakowitsch sah
+und auf dessen Gesicht Trauer und Mitleiden erblickte,
+da schluchzte er laut auf wie ein Kind. Er tat noch
+mehr: er ergriff die Hand Seiner Exzellenz und drückte
+sie an seine Augen und benetzte sie mit seinen Tränen,
+so daß Seine Exzellenz genötigt war, sie ihm zu entziehen.
+Er winkte mit der Hand ab und sagte nur:
+„Schon gut, lieber Mensch, ich sehe, daß du ein gutes
+Herz hast.“ Arkadij schluchzte und warf den Umstehenden
+flehende Blicke zu. Ihm kam es so vor, als wären
+sie alle Brüder seines armen Wassjä, die ebenso um ihn
+trauerten, wie er selbst. „Wie – ja wie ist denn das mit
+ihm geschehen?“ fragte Juljan Mastakowitsch. „Weshalb
+hat er seinen Verstand verloren?“
+</p>
+
+<p>
+„Aus Dan–Dan–Dankbarkeit!“ konnte Arkadij
+Iwanowitsch kaum antworten.
+</p>
+
+<p>
+Diese Antwort setzte alle in Verwunderung: allen
+schien sie sonderbar und unverständlich: wie konnte
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+wohl ein Mensch aus Dankbarkeit den Verstand verlieren?
+Arkadij versuchte es zu erklären, so gut er’s konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Gott, wie traurig!“ rief Juljan Mastakowitsch
+aus, „und dabei hatte die Arbeit, mit der ich ihn beauftragt,
+durchaus keine Eile. Wegen nichts hat sich
+der Mensch zugrunde gerichtet! ...“ Juljan Mastakowitsch
+wandte sich dann von neuem an Arkadij Iwanowitsch
+und fragte ihn noch weiter aus: „er bittet,“
+sagte er und wies auf Wassjä, „daß man es nicht ‚Ihr‘,
+wohl irgendeinem jungen Mädchen, sagen möge – ist
+es seine Braut?“
+</p>
+
+<p>
+Arkadij erzählte. In der Zwischenzeit bemühte sich
+Wassjä ersichtlich, über irgend etwas nachzudenken:
+mit der größten Anstrengung versuchte er, sich irgendeiner
+sehr wichtigen und nötigen Sache zu erinnern,
+von der er wohl glaubte, daß sie ihm im Augenblicke
+sehr zustatten käme. Mit fragenden und zugleich gequälten
+Blicken sah er seine Umgebung an, als hoffte
+er, andere würden sich vielleicht der Sache erinnern,
+die er vergessen hatte. Er richtete seine Augen auf Arkadij
+– und plötzlich flammte in seinen Augen eine
+Hoffnung auf. Er trat mit dem einen Fuß einen Schritt
+vor, ging dann noch drei Schritte weiter und schlug
+schließlich so stramm, wie es ihm möglich war, mit dem
+rechten Bein ans linke: so, wie es die Soldaten tun,
+wenn sie von einem Offizier gerufen und angesprochen
+werden. Alle warteten gespannt, was nun geschehen
+würde.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe einen körperlichen Fehler, Eure Exzellenz,
+ich bin schwach und klein von Wuchs, und tauge nicht
+zum Dienst,“ stieß er endlich abgebrochen hervor.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+Alle, die im Zimmer waren, fühlten wohl, wie sich
+ihnen in diesem Augenblick das Herz zusammenzog.
+Juljan Mastakowitsch war erschüttert, obgleich er sonst
+keinen allzu weichen Charakter hatte. „Führt ihn fort,“
+sagte er und winkte mit der Hand ab.
+</p>
+
+<p>
+„Meine Stirn!“ sagte Wassjä halblaut vor sich
+hin, drehte sich linksum und ging aus dem Zimmer.
+Alle, die an seinem Schicksal Anteil nahmen, stürzten
+ihm nach. Auch Arkadij drängte sich mit ihnen hinaus.
+Man mußte noch auf den Wagen warten, der Wassjä
+ins Krankenhaus bringen sollte. Man führte ihn deshalb
+so lange in den Vorraum. Hier saß er schweigend
+da, offenbar in großen Sorgen. Wen er wiedererkannte,
+dem nickte er mit dem Kopfe zu, als wollte er sich von
+ihm verabschieden. Jeden Augenblick sah er nach der
+Tür und schien sich darauf vorzubereiten, daß man
+„jetzt“ sagte. Um ihn herum hatte sich ein enger Kreis
+gebildet: alle redeten sie und schüttelten mit den Köpfen.
+Viele wunderten sich über die Geschichte, die nun
+bekannt geworden war; die einen redeten voll Eifer darüber;
+andere wiederum bemitleideten Wassjä und lobten
+ihn, weil er ein so bescheidener, stiller junger Mann gewesen
+sei, und so viel versprochen hätte: man erzählte
+sich, wie strebsam er gewesen, wie wissensdurstig und
+lernbegierig. „Mit eigenen Kräften hat er sich aus niederem
+Stande emporgearbeitet!“ bemerkte irgend jemand.
+Mit Rührung sprach man auch von seiner Anhänglichkeit
+an die Exzellenz. Einige konnten sich nicht
+erklären, wie Wassjä sich nur in den Kopf gesetzt und
+darüber den Verstand verloren hatte, daß man ihn zu
+den Soldaten geben würde, wenn er seine Arbeit nicht
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+beendete. Man erzählte sich, daß der Arme vor nicht
+langer Zeit noch ein Leibeigener gewesen sei und es nur
+Juljan Mastakowitsch, der in ihm Talent, Gehorsam
+und eine seltene Bescheidenheit entdeckt, zu verdanken
+hatte, daß er eine Anstellung erhielt. Kurz, es gab viele
+solcher Meinungen und Gespräche. Besonders bemerkbar
+durch seine Aufregung machte sich ein Kollege von Wassjä,
+ein Männchen von sehr kleinem Wuchs in den Dreißigern.
+Er war weiß wie ein Tuch, zitterte am ganzen Körper
+und lächelte so sonderbar, vielleicht, weil eine jede
+Skandalszene und ein jedes schreckliche Erlebnis die
+Zuschauer erschreckt und doch zugleich auch unterhält,
+fast erfreut. Dieser hier lief um den kleinen Kreis herum,
+der sich um Schumkoff gebildet hatte, und da er,
+wie gesagt, klein von Wuchs war, so stellte er sich auf
+die Zehenspitzen und faßte jeden am Rockknopf, dem
+gegenüber er sich das erlauben konnte, und versicherte
+allen, daß er wisse, woher das alles gekommen und daß
+es ein klarer, aber schwerer Fall sei, den man nicht so
+einfach behandeln könne: er erhob sich dann wieder auf
+die Fußspitzen und flüsterte seinem Zuhörer etwas ins
+Ohr, nickte mehrmals heftig mit dem Kopfe und lief
+wieder weiter. Schließlich nahm die Szene ein Ende.
+Ein Wärter und ein Arzt aus der Irrenanstalt erschienen.
+Sie gingen auf Wassjä zu und sagten ihm, daß er mit
+ihnen fahren müsse. Wassjä sprang sofort auf, sah sich
+eifrig und doch gleichzeitig fragend im Kreise um und
+folgte ihnen. Plötzlich schien er jemanden mit den Augen
+zu suchen! „Wassjä, Wassjä!“ rief schluchzend Arkadij
+Iwanowitsch. Wassjä blieb stehen und Arkadij näherte
+sich ihm. Sie umarmten sich beide zum letztenmal, und
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+wollten von einander nicht lassen. Es war schrecklich anzusehen.
+Welch ein Schicksal preßte ihnen die Tränen aus
+den Augen! Worüber weinten sie beide? Wo lag das
+Unglück? Warum verstanden sie einander nicht mehr?
+</p>
+
+<p>
+„Da, da, nimm! Verwahre es!“ sagte Schumkoff
+und drückte Arkadij ein Stückchen Papier in die Hand.
+„Sie würden es mir fortnehmen. Bringe es mir später;
+bring es mir! hörst du; verwahre es gut“ ... Wassjä
+durfte nicht weiter sprechen. Man rief ihn. Er lief eilig
+die Treppe hinab und nickte allen mit dem Kopfe zum
+Abschied zu. Verzweiflung lag auf seinem Gesicht. Man
+setzte ihn in einen geschlossenen Wagen. Die Pferde zogen
+an und fort ging es. Arkadij öffnete das Stück Papier:
+Lisas schwarze Locke lag darin. Was mochte in Wassjä
+vorgegangen sein, als er sich von ihr trennte. Heiße
+Tränen stiegen Arkadij in die Augen: „Ach, arme Lisa!“
+</p>
+
+<p>
+Nach Schluß des Büros ging er zu den Kolomnaschen.
+Ich kann nicht erzählen, was dort geschah! Sogar
+Petjä, der kleine Petjä, der doch noch nicht begreifen
+konnte, was mit dem guten Wassjä geschehen war,
+ging in die Ecke, bedeckte sein Gesicht mit den kleinen
+Händchen und schluchzte, als ob ihm sein Kinderherz
+brechen wollte. Es wurde Abend, als Arkadij nach
+Hause zurückkehrte. Als er über die Newa ging, blieb
+er einen Augenblick stehen und sah mit durchdringendem
+Blick über den Fluß in die rauchige, kaltneblige Ferne,
+die gerötet war von der letzten, blutig purpurnen
+Abendsonne.
+</p>
+
+<p>
+Die Nacht senkte sich über die Stadt und die ganze
+unübersehbare tote Schneefläche der Newa glänzte,
+vom letzten Strahl der Sonne beschienen, in unendlichen
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+Myriaden von diamantenen Funken. Es war eine
+Kälte von zwanzig Grad. Steifer Dunst ballte sich um
+die vielen jagenden Pferde und laufenden Menschen.
+Die Luft erzitterte beim geringsten Laut, und wie Riesen
+erhoben sich zu beiden Seiten der Ufer in den kalten
+Himmel die Rauchsäulen der Häuser, schoben sich und
+schichteten sich übereinander, während sie aufstiegen,
+und es war, als ob neue Gebilde und Gebäude über der
+alten eine neue Stadt in den Wolken bildeten
+... als ob sich diese ganze Welt, mit all ihren
+Bewohnern, den starken und den schwachen, mit ihren
+Behausungen der Armen und den Palästen der Reichen
+und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in
+einen phantastischen Traum verwandelte, der aus dem
+Dunst zu dem dunkelblauen Himmel aufstieg, um sich in
+ihm aufzulösen und im Wesenlosen zu vergehen ... Ein
+sonderbares Gefühl überkam den verwaisten Freund des
+armen Wassjä. Er schrak zusammen, und plötzlich
+strömte, durch ein mächtiges, ihm bis jetzt ganz ungeahntes
+Gefühl, eine heiße Blutwelle in sein Herz. Er
+begriff mit einem Male den Sinn des ganzen Geschehnisses,
+begriff, warum Wassjä sein Glück nicht tragen
+konnte und seinen Verstand verloren hatte. Seine Lippen
+zitterten, seine Augen glänzten, er erbleichte vor
+dem Neuen, das in ihm erstand ...
+</p>
+
+<p>
+Seit der Zeit war Arkadij finster und verschlossen
+und hatte ganz seine frühere Fröhlichkeit verloren.
+Seine Wohnung wurde ihm unerträglich – er nahm
+sich eine andere. Nach zwei Jahren begegnete er ganz
+zufällig Lisenka in der Kirche. Sie war verheiratet: ihr
+folgte eine Amme mit einem Kinde auf dem Arm. Sie
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+begrüßten einander und vermieden es lange Zeit, von
+der Vergangenheit auch nur zu sprechen. Lisa erzählte,
+daß sie glücklich und auch nicht mehr so arm sei wie
+früher, daß ihr Mann ein guter Mensch wäre und sie
+liebhabe ... Doch plötzlich, mitten in ihrer Rede, stockte
+sie, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich
+ab und senkte ihren Kopf über ein Betpult, um vor
+den Menschen ihre Trauer zu verbergen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-7">
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+Ein Roman
+in neun Briefen
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-1">
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Hochverehrter Iwan Petrowitsch, teuerster Freund!
+</p>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">s</span> ist nun schon glücklich der dritte Tag, daß ich,
+man kann wohl sagen, regelrecht Jagd auf Sie mache,
+mein Bester, zumal ich Sie in einer höchst, höchst dringlichen
+Angelegenheit sprechen muß, während Sie leider
+für mich unauffindbar sind. Als wir gestern bei Ssemjon
+Alexejewitsch waren, erlaubte sich meine Frau
+einen kleinen Scherz auf Ihre Rechnung, indem sie bemerkte,
+daß Sie und Tatjana Petrowna eigentlich erstaunlich
+wenig Sinn für Häuslichkeit an den Tag legten:
+und es ist ja wahr, noch sind Sie keine drei Monate
+verheiratet, und schon hält es schwer, Sie einmal
+zu Hause anzutreffen. Wir haben alle herzlich darüber
+gelacht – natürlich nur auf Grund unserer aufrichtigen
+Zuneigung zu Ihnen. Doch ganz abgesehen von allen
+Scherzen, mein Teuerster, bin ich durch Sie in eine
+arge Hetze geraten. Ssemjon Alexejewitsch meinte, Sie
+würden vielleicht im Klub der „Vereinigten Gesellschaft“
+auf dem Balle zu finden sein. Ich ließ daraufhin
+meine Frau bei der Gattin Ssemjon Alexejewitschs
+zurück und eilte selber nach dem Klub. Stellen Sie sich
+<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
+nun die Lage vor, in der ich mich befand: ich war auf
+dem Ball – allein – ohne Frau! Iwan Andrejewitsch,
+mit dem ich unten im Vestibül zusammentraf, zog natürlich
+sogleich (der Schuft!) bloß aus dem einen Umstande,
+daß ich, wie gesagt, allein eintrat, besondere
+Schlüsse auf die Art meiner Vorliebe fürs Tanzvergnügen,
+hakte sich daher ohne weiteres in meinen Arm
+und wollte mich schon mit Gewalt in den Tanzsaal
+schleppen, obschon sich seine flotte Seele, wie er vorausschickte,
+in der „Vereinigten Gesellschaft“ herzlich
+beengt fühlte und die diversen Patschuli- und Resedadüfte
+ihm bereits Kopfweh verursacht hätten. Doch weder
+fand ich Sie, noch Tatjana Petrowna. Dafür versicherte
+mir Iwan Andrejewitsch, und er schwor förmlich
+darauf, daß ich Sie unfehlbar im Alexandertheater
+antreffen werde, da man an dem Abend gerade Gribojedoffs
+Meisterstück<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a> spiele.
+</p>
+
+<p>
+Ich eile hin: auch dort sind Sie nicht zu entdecken!
+Heute morgen dachte ich, Sie bei Tschistoganoff zu finden
+– trügerische Hoffnung! Tschistoganoff schickt
+mich zu Perepalkins – gleichfalls vergeblich. Mit einem
+Wort, ich fühle mich jetzt völlig, aber völlig abgehetzt,
+was Sie nach obiger Schilderung meiner Irrfahrten
+gewiß begreiflich finden werden: Sie können sich
+doch vorstellen, wie viel ich gelaufen bin! Jetzt habe ich
+zur Feder gegriffen – es bleibt mir eben nichts anderes
+übrig! Nur ist die Sache nicht zu schriftlicher Erledigung
+geeignet (Sie verstehen mich?). Besser wäre es,
+unter vier Augen ... Na, jedenfalls muß ich Sie unbedingt
+und zwar so bald wie möglich sprechen, und
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+deshalb fordere ich Sie auf, heute mit Tatjana Petrowna
+zum Tee und Abendbrot zu uns zu kommen.
+Meine Frau wird sich über Ihren Besuch unendlich
+freuen. Wirklich, Sie werden mich damit, wie man zu
+sagen pflegt, bis zu meinem Lebensende verpflichten.
+Übrigens, mein Teuerster – da ich schon einmal
+zu schreiben begonnen habe, so sei’s denn auch geschrieben
+– ich sehe mich gezwungen, Sie schon jetzt etwas
+ins Gebet zu nehmen, jawohl teuerster Freund, sehe
+mich gezwungen, Ihnen eine anscheinend ganz unschuldige
+kleine Machenschaft vorzuwerfen, als deren äußerst
+boshaft ausgewähltes Opfer ich mich selbst betrachten
+muß ... Sie verkappter Bösewicht, Sie gewissenloser
+Mensch! Da führen Sie vor etwa einem Monat
+einen Ihrer Bekannten bei mir ein, nämlich Jewgenij
+Nikolajewitsch, versehen ihn mit Ihrer freundschaftlichen,
+das heißt für mich somit heiligsten Empfehlung,
+weshalb ich mich aufrichtig über die neue Bekanntschaft
+freue, den jungen Menschen mit offenen Armen empfange
+und dabei ahnungslos den Kopf in die Schlinge
+stecke. Das heißt, eine Schlinge ist es nun, genau genommen,
+gerade nicht. Immerhin haben Sie mir da,
+wie man zu sagen pflegt, eine böse Suppe eingebrockt.
+Von näheren Erklärungen will ich vorläufig
+Abstand nehmen – die Zeit drängt; und brieflich, wissen
+Sie, ist es auch nicht immer leicht, das richtige
+Wort zu finden. Infolgedessen geht denn meine inständige
+Bitte an Sie dahin, mein schadenfroher Freund
+und Kollege, daß ich Sie sozusagen um Ihre Meinung
+darüber bitte, ob es sich nicht irgendwie machen ließe
+– natürlich in aller Diskretion und Höflichkeit –
+<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
+daß man Ihrem jungen Mann unmißverständlich –
+doch natürlich ohne ihm zu nahe zu treten – unter
+vier Augen oder gar ganz heimlich – ungefähr und andeutungsweise
+zu verstehen gäbe, daß es in der Residenz
+noch viele andere Häuser außer dem meinigen gibt?
+Ich kann nicht mehr, mein Bester! Meine Kraft ist zu
+Ende! „Falle zu Füßen!“ wie unser polnischer Freund
+Ssimonewitsch sagt. Wenn wir uns sehen, erzähle ich
+Ihnen alles. Ich will damit nicht etwa gesagt haben,
+daß der junge Mann kein einnehmendes Wesen habe,
+oder daß, sagen wir, irgendwelche seiner sonstigen Eigenschaften
+abstoßend seien. Im Gegenteil, er ist sogar
+in jeder Beziehung ein sehr netter und liebenswürdiger
+Mensch. Doch – nun, gedulden Sie sich noch ein Weilchen,
+bis wir unter uns sind. Inzwischen aber, wenn
+Sie ihn vorher sehen sollten, dann geben Sie ihm um
+Christi willen einen Wink, Verehrtester. Ich würde es
+ja selbst tun, aber Sie wissen doch, wie ich bin: ich
+bringe es nicht fertig – da ist nun einmal nichts zu
+machen. Sie haben ihn doch nun einmal eingeführt und
+uns empfohlen. Übrigens werden wir uns ja heute
+abend zur Genüge aussprechen können. Daher vorläufig:
+auf Wiedersehen!
+</p>
+
+<p>
+Verbleibe usw.
+</p>
+
+<p>
+P. S. Mein Kleiner ist schon seit einer Woche nicht
+ganz gesund und mit jedem Tage wird es schlimmer.
+Es sind die Zähnchen: die fangen jetzt an, durchzubrechen.
+Meine Frau muß sich daher viel mit ihm abgeben
+und ist recht mitgenommen, die Arme. Kommen Sie
+unbedingt. Sie werden uns aufrichtig erfreuen, werter
+Freund.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-2">
+<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Erhalte gestern Ihren Brief, lese ihn und staune!
+Sie suchen mich Gott weiß wo und bei wem, während
+ich einfach zu Hause bin. Bis zehn Uhr wartete ich auf
+Iwan Iwanytsch Tolokonoff, der aber nicht kam. Nach
+Empfang Ihres Schreibens rief ich sogleich meine
+Frau – wir kleiden uns an, ich nehme eine Droschke,
+scheue nicht die Ausgabe – und erscheinen bei Ihnen
+gegen halb sieben. Sie aber – sind nicht zu Hause:
+wir werden von Ihrer Frau empfangen. Ich warte bis
+halb elf. Länger kann ich nicht. Nehme meine Frau, bezahle
+wieder eine Droschke, bringe meine Frau nach
+Haus und begebe mich darauf allein zu Perepalkins, in
+der Hoffnung, Sie vielleicht dort anzutreffen, sehe mich
+aber in meiner Annahme wieder enttäuscht. Komme
+nach Haus gefahren, schlafe die ganze Nacht nicht, rege
+mich auf, fahre am Morgen wieder dreimal zu Ihnen,
+um neun, um zehn und um elf, stürze mich dreimal in
+Ausgaben, fahre hin und her, und wieder lassen Sie
+mich mit einer langen Nase abziehen.
+</p>
+
+<p>
+Als ich Ihren Brief las, wunderte ich mich nicht
+<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
+wenig. Sie schreiben von Jewgenij Nikolajewitsch,
+bitten ihm eine Andeutung zukommen zu lassen, erwähnen
+aber mit keiner Silbe, weshalb und warum. Vorsicht
+ist ja freilich ganz lobenswert, aber mein Papier
+ist schließlich ebensoviel wert, wie Ihres, von mir aber
+weiß ich wenigstens, daß ich wichtige Papiere nicht meiner
+Frau zu Papilloten gebe. Ich begreife nicht, um es
+endlich auszusprechen, in welchem Sinne Sie mir eigentlich
+dies alles zu schreiben beliebt haben. Und überdies,
+da nun einmal die Rede davon ist: weshalb ziehen
+Sie denn mich in diese ganze Angelegenheit hinein?
+Ich habe keine Lust, meine Nase in alles und jedes
+hineinzustecken. Sie können ihm doch ebensogut
+selbst eine Absage geben! Ich sehe vorläufig nur das
+eine: daß ich mich mit Ihnen deutlicher auseinandersetzen
+muß. Inzwischen aber vergeht die Zeit. Ich muß
+mich sehr einschränken und weiß nicht, was ich tun
+soll, wenn Sie gewisse Bedingungen nebst Ihrem Versprechen
+nicht aufrechterhalten. Die Reise läßt sich
+nicht aufschieben, und Reisen kostet Geld. Außerdem
+quält einen noch die Frau, die mit aller Gewalt einen
+Samtmantel nach der neuesten Mode haben will. Was
+jedoch Jewgenij Nikolajewitsch betrifft, so beeile ich
+mich, Ihnen folgendes zu bemerken: habe gestern, ohne
+viel Zeit zu verlieren, gleich nochmals Erkundigungen
+über ihn eingezogen, als ich bei Pawel Ssemjonytsch
+Perepalkin auf Sie wartete. Er besitzt rund 500 Seelen
+im Jaroslawschen Gouvernement, und von der
+Großmutter hat er Aussicht, noch ein Gut in der Nähe
+von Moskau mit 300 Seelen zu erben. Wieviel er an
+barem Gelde besitzt, weiß ich nicht, denke aber, daß Sie
+<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
+hierüber selber besser Bescheid wissen dürften. Bitte
+Sie ferner, mir endgültig Ort und Zeit eines Zusammentreffens
+anzugeben. Sie schreiben, Iwan Andrejewitsch
+habe Ihnen gesagt, daß ich mit meiner Frau
+im Alexandertheater anzutreffen sei. Darauf kann ich
+nur erwidern, daß es Iwan Andrejewitsch nicht sehr
+auf die Wahrheit anzukommen scheint und man ihm und
+seinen Worten um so weniger Glauben schenken darf,
+als er noch vor nicht länger als drei Tagen seine eigene
+Großmutter um achthundert Rubel betrogen hat.
+</p>
+
+<p>
+Habe die Ehre usw.
+</p>
+
+<p>
+P. S. Meine Frau ist in anderen Umständen, außerdem
+ist sie schreckhaft und zeitweilig zur Melancholie
+geneigt. In den Theatern aber wird auf der Bühne zuweilen
+geschossen, oder künstlich, mit allerlei Maschinen,
+Donner erzeugt. Und deshalb, um meine
+Frau nicht der Gefahr des Erschreckens auszusetzen,
+besuche ich mit ihr keine Theater. Auch bin ich selbst
+kein großer Liebhaber theatralischer Aufführungen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-3">
+<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
+III.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Teuerster Iwan Petrowitsch, bester Freund!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich bitte Sie tausendmal
+um Vergebung, doch will ich mich ungesäumt rechtfertigen,
+soweit ich es kann.
+</p>
+
+<p>
+Gestern, kurz vor sechs Uhr, gerade als wir in aufrichtigem
+Mitleid Ihrer gedachten, erschien ein Abgesandter
+von meinem Onkel Stepan Alexejewitsch, mit
+der Nachricht, daß es mit der Tante schlimm stehe. Um
+meine Frau nicht aufzuregen, sagte ich ihr kein Wort
+davon und fuhr unter dem Vorwande, etwas Unaufschiebbares
+vorzuhaben, zu meiner Tante. Mit dieser
+stand es in der Tat schlimm genug: kurz vor fünf hatte
+sie wieder einen Schlaganfall gehabt, den dritten im
+Laufe der letzten zwei Jahre. Karl Fedorytsch, ihr
+Hausarzt, erklärte, daß sie vielleicht nicht einmal diese
+Nacht überleben werde. Stellen Sie sich also meine
+Lage vor, verehrtester Freund! Die ganze Nacht auf
+den Beinen, Laufereien über Laufereien und obendrein
+noch Sorgen! Erst gegen Morgen streckte ich mich, völlig
+erschöpft, und zwar sowohl psychisch als physisch,
+bei meinem Onkel ein wenig auf dem Diwan aus, vergaß
+<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
+aber, vorher zu sagen, daß man mich rechtzeitig
+wecken solle, und erwachte erst um halb zwölf. Der
+Tante ging es besser. So fuhr ich denn nach Haus:
+meine Frau – nun, Sie können sich denken: die arme
+Seele hatte die ganze Nacht in der Ungewißheit über
+meinen Verbleib in begreiflicher Aufregung schlaflos
+zugebracht. Ich nahm ein paar Bissen, küßte das Kind,
+beruhigte meine Frau und begab mich zu Ihnen. Sie
+waren nicht zu Hause. Statt Ihrer traf ich bei Ihnen
+Jewgenij Nikolajewitsch an. Dann kam ich nach Haus
+zurück und jetzt sitze ich und schreibe an Sie. Murren
+Sie nicht und ärgern Sie sich nicht über mich, mein
+bester Freund! Schlagen Sie, fällen Sie mir meinetwegen
+das schuldige Haupt von den Schultern, nur
+entziehen Sie mir nicht Ihre Freundschaft. Von Ihrer
+Frau erfuhr ich, daß Sie am Abend bei Sslawjänoffs
+sein werden. Werde unbedingt auch hinkommen. Ich
+erwarte Sie mit größter Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen verbleibe ich usw.
+</p>
+
+<p>
+P. S. Unser Kleiner bringt uns fast zur Verzweiflung!
+Karl Fedorytsch hat ihm ein Abführmittelchen
+verordnet. Er fiebert, weint, gestern hat er niemand
+erkannt. Heute erkennt er uns zum Glück und
+stammelt wieder „Papa“, „Mama“ und schreit sein
+„Bu–ah“. Meine Frau ist in Tränen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-4">
+<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
+IV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Schreibe an Sie bei Ihnen, in Ihrem Zimmer, an
+Ihrem eigenen Schreibtisch; bevor ich jedoch die Feder
+ergriff, habe ich gute zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet.
+Jetzt erlauben Sie mir aber, Ihnen, Pjotr
+Iwanytsch, in betreff dieser ganzen garstigen Angelegenheit
+einmal rückhaltlos meine Meinung zu sagen.
+</p>
+
+<p>
+Aus Ihrem letzten Schreiben schloß ich, daß man
+Sie bei Sslawjänoffs erwartete und daß Sie mich
+quasi hinbestellten: ich erscheine also, warte geschlagene
+fünf Stunden, doch wer nicht kommt – sind Sie. Wie,
+soll ich mich zum Narren machen lassen? um fremde
+Menschen zu erheitern? oder was verlangen Sie von
+mir? Erlauben Sie, mein Herr ...
+</p>
+
+<p>
+Doch weiter: ich komme zu Ihnen am frühen Morgen,
+in der Annahme, Sie noch in Ihren vier Pfählen
+anzutreffen, und ahme also nicht gewisse und gelinde
+ausgedrückt irreführende Leute nach, die ihre Bekannten
+Gott weiß wo und in welchen Lokalen suchen, während
+man sie zu jeder anständig gewählten Tageszeit
+in ihrem Heim finden kann. Doch ich hatte nicht das
+<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
+Vergnügen, Sie in Ihrem Hause anzutreffen. Ich weiß
+nicht, was mich noch immer abhält, Ihnen unumwunden
+die Wahrheit zu sagen. Ich begnüge mich also mit der
+Bemerkung, daß Sie gerade kein Mann von Wort zu
+sein scheinen und daß Sie Ihr Versprechen jetzt wohl
+zurückziehen und gewisse Verabredungen und Bedingungen
+anscheinend verleugnen wollen. Nach Erwägung
+Ihres ganzen Verhaltens mir gegenüber, kann ich Ihnen
+nur gestehen, daß ich mich über Ihre Schlauheit
+entschieden wundern muß. Denn jetzt ist es mir vollkommen
+klar, daß Sie diese häßliche Absicht schon seit
+langer Zeit hegen. Für die Richtigkeit meiner Annahme
+dürfte als bester Beweis die Tatsache sprechen, daß
+Sie sich noch in der vorigen Woche in einer nahezu
+unstatthaften Weise jenes von Ihnen an mich gerichteten
+Briefes bemächtigt haben, in dem Sie selbst –
+zwar ziemlich dunkel und versteckt – die Bedingungen
+einer gewissen, Ihnen wohl noch erinnerlichen Abmachung
+schwarz auf weiß niedergeschrieben haben. Sie
+fürchten also Dokumente, vernichten sie und wollen
+mich an der Nase herumführen, wie’s scheint. Das
+aber werde ich nicht zulassen, denn bisher hat mich noch
+niemand für einen Narren gehalten, vielmehr hat ein
+jeder nur Gutes über mich geäußert. Jetzt sind mir die
+Augen geöffnet. Sie wollen mich irreführen, wollen
+mir mit Ihren Andeutungen in betreff Jewgenij Nikolajewitschs
+Sand in die Augen streuen, und während
+ich nach Ihrem mir bis jetzt noch unverständlichen
+Brief vom Siebenten dieses Monats eine Aussprache
+mit Ihnen suche, lassen Sie mich bald
+hierhin, bald dorthin zu einem Stelldichein laufen,
+<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
+zu dem Sie selbst gar nicht erscheinen:
+ja ganz augenscheinlich suchen Sie sich vor
+mir absichtlich zu verbergen. Sie denken wohl,
+mein Herr, daß ich unfähig sei, Ihre Ränke zu durchschauen?
+Sie versprechen mir alles mögliche für meine
+Ihnen sehr gut bekannten Dienstleistungen, versprechen
+Empfehlungen an verschiedene Personen usw.,
+indessen verstehen Sie aber in einer mir selbst rätselhaften
+Art und Weise es so einzurichten, daß Sie sich
+sogar mit dem Anschein einer gewissen Berechtigung
+noch Geld von mir leihen und zwar in beträchtlicher
+Höhe und ohne irgendwelche Sicherheiten Ihrerseits,
+also einzig auf geheuchelte Freundschaft hin, wie
+dies noch in der jüngstvergangenen Woche geschehen
+ist. Jetzt jedoch, nachdem Sie das Geld erhalten haben,
+verbergen Sie sich vor mir und scheinen überdies von
+jenem Dienst nichts mehr wissen zu wollen, den ich
+Ihnen erwiesen, indem ich Sie mit Jewgenij Nikolajewitsch
+bekannt machte. Vielleicht rechnen Sie auf meine
+baldige Reise nach Ssimbirsk und hoffen, daß es vorher
+nicht zur Abrechnung zwischen uns kommen werde. Doch
+wenn das der Fall ist, dann erkläre ich Ihnen hiermit
+feierlichst und bekräftige es mit meinem Ehrenwort,
+daß ich, wenn es darauf hinausläuft, bereit bin, meinetwegen
+noch ganze zwei Monate in Petersburg zu
+verbleiben, daß ich mein Ziel aber erreichen und Sie
+schon aufzufinden wissen werde. Auch ich verstehe mitunter,
+einem Menschen zum Trotz etwas durchzusetzen.
+Zum Schluß jedoch erkläre ich Ihnen, daß ich, wenn
+Sie mir nicht heute noch befriedigende Erklärungen geben
+– zunächst schriftlich, nachher mündlich, unter
+<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
+vier Augen – und wenn Sie mir in Ihrem Brief nicht
+alle die Hauptbedingungen, die zwischen uns vereinbart
+wurden, schwarz auf weiß bestätigen und mir endlich
+nicht länger Ihre Hintergedanken bezüglich Jewgenij
+Nikolajewitschs vorenthalten: daß ich mich dann
+gezwungen sehe, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen
+gewiß sehr unangenehm und auch mir nichts weniger
+als angenehm sein werden.
+</p>
+
+<p>
+Gestatten Sie, daß ich verbleibe usw.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-5">
+<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
+V.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+</p>
+
+<p class="date">
+11. November.
+</p>
+
+<p class="addr">
+Mein bester, verehrtester Freund Iwan Petrowitsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Ihr Brief hat mich in tiefster Seele betrübt. Und
+Sie, der Sie mein bester, doch leider nur zu leicht ungerechter
+Freund sind, Sie schämen sich nicht, mir, der
+ich Ihnen doch von allen am meisten zugetan bin, so etwas
+zu schreiben – so übereilt zu urteilen, das Ganze
+nicht einmal zu erklären und mich dann mit so beleidigendem
+Argwohn zu kränken?
+</p>
+
+<p>
+Doch ich beeile mich, Ihnen Rede zu stehen und
+Ihre Anschuldigungen von mir zu weisen.
+</p>
+
+<p>
+Sie, Iwan Petrowitsch, haben mich gestern nur
+deshalb nicht dort angetroffen, weil ich ganz plötzlich
+und unvorhergesehenermaßen an ein Sterbelager gerufen
+wurde. Meine Tante Jewfimija Nikolajewna ist
+nämlich gestern um elf Uhr nachts sanft entschlafen.
+Zum Anordner der sämtlichen traurigen Obliegenheiten
+wurde ich durch einstimmigen Beschluß meiner Verwandten
+gewählt. Da gab es denn für mich so viel zu
+tun, daß ich Sie heute unmöglich treffen, ja nicht einmal
+ein paar Zeilen an Sie schreiben konnte. So tut
+<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
+mir das Mißverständnis, zu dem es zwischen uns gekommen
+ist, in der Seele leid. Meine Bemerkung über
+Jewgenij Nikolajewitsch, die von mir scherzhaft und
+mehr so nebenbei geäußert war, haben Sie ganz falsch
+verstanden und der Geschichte einen mich tief kränkenden
+Sinn untergeschoben. Sie kommen auch auf das
+Geld zu sprechen und verbergen nicht Ihre Befürchtungen.
+Was diese letzteren betrifft, so bin ich bereit, allen
+Ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, doch
+möchte ich Sie heute nur kurz daran erinnern, daß das
+Geld, die 350 Rubel, von mir in der vorigen Woche
+ausdrücklich nur unter gewissen Bedingungen von Ihnen
+genommen worden sind, und zwar nicht als Darlehn!
+In diesem Falle hätten Sie von mir unbedingt
+einen Wechsel oder eine Quittung erhalten. Zu einer
+Erörterung der weiteren von Ihnen angeführten Punkte
+will ich mich nicht herablassen. Ich sehe, daß alles
+nur auf einem Mißverständnis Ihrerseits beruht, erkenne
+darin Ihre gewohnte Übereiltheit in der Beurteilung
+menschlicher Verhältnisse, Ihre Hitzigkeit und rücksichtslose
+Offenheit. Ich weiß jedoch, daß Ihr Gerechtigkeitssinn
+und Ihr ehrlicher Charakter nicht lange bei
+solchem Mißtrauen verbleiben und Sie mir noch einmal
+als erster die Hand zur Versöhnung reichen werden.
+Sie sind in einem Irrtum befangen, Iwan Petrowitsch,
+in einem sehr großen Irrtum!
+</p>
+
+<p>
+Doch ungeachtet dessen, daß Ihr Brief mich tief
+verletzt hat, wäre ich als erster bereit, heute noch mit
+meiner Entschuldigung zu Ihnen zu kommen, nur habe
+ich leider so viel zu tun – heute sogar noch mehr als
+gestern – daß ich schon halbtot bin und mich kaum noch
+<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
+auf den Füßen zu halten vermag. Zur Vollendung meines
+Unglücks hat sich nun auch noch meine Frau zu Bett legen
+müssen: ich befürchte eine ernste Krankheit. Was
+den Kleinen betrifft, so geht es ihm jetzt Gott sei Dank
+etwas besser. Doch ich schließe ... Die Geschäfte wollen
+erledigt sein und ich habe ihrer mehr als einen ganzen
+Berg!
+</p>
+
+<p>
+Verbleibe, teuerster Freund,
+</p>
+
+<p class="sign">
+Ihr usw.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-6">
+<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
+VI.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.)
+</p>
+
+<p class="date">
+14. November.
+</p>
+
+<p class="addr">
+Sehr geehrter Herr!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Drei Tage habe ich gewartet; habe mich bemüht,
+sie nützlich zu verbringen – indem ich, eingedenk der
+Regel, daß Höflichkeit und Anstand die erste Zierde eines
+jeden Menschen sind, Sie nach meinem letzten Schreiben
+vom Zehnten dieses Monats weder mit einem Wort
+noch einer Tat an mich erinnerte, einesteils um Ihnen
+Zeit zu geben, ungestört Ihrer Christenpflicht der Tante
+gegenüber nachzukommen, anderenteils auch deshalb,
+weil ich zu gewissen Erwägungen und Ermittelungen
+in der bewußten Angelegenheit selbst der Zeit bedurfte.
+Jetzt jedoch will ich nicht mehr zögern, mich endgültig
+und entschieden mit Ihnen auszusprechen.
+</p>
+
+<p>
+Ich gestehe Ihnen offen, daß ich beim Lesen Ihrer
+zwei ersten Briefe allen Ernstes der Meinung war, Sie
+hätten wirklich nicht begriffen, was ich wollte; es war
+dies denn auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich
+Sie unbedingt zu treffen und unter vier Augen zu sprechen
+wünschte, weshalb ich die Angelegenheit nicht dem
+Papier anzuvertrauen wagte und mir selbst die Möglichkeit
+<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
+einer Unklarheit in meiner schriftlichen Ausdrucksweise
+vorhielt. Wie Sie wissen, habe ich keine
+besondere Erziehung genossen und habe mir auch keine
+feinen Manieren aneignen können; hohles Geckentum
+aber ist mir fremd, denn die bittere Erfahrung hat
+mich gelehrt, wie trügerisch oft das Äußere sein kann,
+sowie, daß unter Blumen sich nicht selten Schlangen
+verbergen. Doch Sie haben mich verstanden; geantwortet
+aber hatten Sie mir nur deshalb nicht so, wie es
+sich gehörte, weil Sie in der Falschheit Ihrer Seele
+schon von Anfang an bei sich beschlossen, Ihr Ehrenwort
+zu brechen und damit auch das zwischen uns bestehende
+Freundschaftsverhältnis zu lösen. Der Beweis
+hierfür ist Ihr schändliches Benehmen mir gegenüber,
+ein Benehmen, das mir und meinen Interessen geradezu
+verderblich ist – was ich von Ihnen nie erwartet
+hätte und woran ich bis zu diesem Augenblick nicht habe
+glauben wollen, denn bestrickt, wie ich von Anfang
+unserer Bekanntschaft an durch Ihre guten Manieren
+war, durch Ihre feinen Umgangsformen, durch Ihre
+Sachkenntnis und nicht zuletzt auch durch die Vorteile,
+die mir aus Ihrer Bekanntschaft erwachsen konnten,
+nahm ich an, daß ich in Ihnen einen aufrichtigen
+Freund, einen echten Kameraden gefunden hatte, der
+mir wirkliches Wohlwollen entgegenbrachte. Jetzt jedoch
+habe ich erkennen müssen, daß es Menschen gibt,
+die unter einem trügerischen, glänzenden Äußeren in
+ihrem Herzen Gift verbergen, die ihren Verstand zu
+nichts anderem benutzen, als zum Ränkeschmieden wider
+ihren Nächsten und zu häßlichem, hinterlistigem Betruge,
+und die es deshalb stets umgehen, ihre Worte
+<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a>
+schwarz auf weiß zu geben und dabei ihre Stilgewandtheit
+nicht zu Nutz und Frommen ihrer Freunde
+und ihres Vaterlandes gebrauchen, sondern einzig zur
+Einschläferung und Umgarnung der Vernunft derjenigen,
+die sich auf Unternehmungen und Vereinbarungen
+mit Ihnen eingelassen haben. Ihre Falschheit mir gegenüber
+geht nur zu deutlich aus folgendem hervor.
+</p>
+
+<p>
+Erstens: als ich in meinem Brief klar und unmißverständlich
+Ihnen, mein sehr verehrter Herr, die Lage
+schilderte, in der ich mich befand, und gleichzeitig –
+in meinem ersten Brief – die Frage an Sie stellte, was
+Sie mit einzelnen Ausdrücken und angedeuteten Absichten,
+vornehmlich in bezug auf Jewgenij Nikolajewitsch,
+gesagt haben wollten, da verstanden Sie es,
+das Wesentliche mit Stillschweigen zu übergehen und
+sich, nachdem Sie in mir Zweifel und Argwohn geweckt,
+ruhig wieder aus der Affäre zu ziehen. Darauf, d. h.
+nachdem Sie so etwas mit mir in Szene gesetzt hatten,
+was sich nicht einmal mit einem anständigen Wort bezeichnen
+läßt, schrieben Sie an mich und beklagten sich
+in wehleidigem Tone über mich bei mir selbst! Wie
+wünschen Sie wohl, daß man das nennen soll, mein
+Herr? Sodann, als mir jeder Augenblick teuer war
+und Sie mich im ganzen Weichbilde der Haupt- und
+Residenzstadt auf der Suche nach Ihnen umherlaufen
+ließen, schrieben Sie mir unter der Maske der Freundschaft
+Briefe, in denen Sie absichtlich mit keiner Silbe
+die Hauptsache berührten, sondern sich statt dessen ausschließlich
+in Nebensächlichkeiten ergingen: Sie schrieben
+mir von Ihrer, von mir allerdings unter allen
+Umständen sehr geachteten Gemahlin und teilten mir
+<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a>
+mit, daß der Arzt Ihrem Kleinen ein Abführmittelchen
+verordnet habe und daß bei ihm das erste Zähnchen
+durchgebrochen sei. Von allen diesen Dingen schrieben
+Sie in jedem Ihrer Briefe mit einer Regelmäßigkeit,
+die für mich geradezu kränkend war. Natürlich, ich
+will gern zugeben, daß die Qualen des eigenen Kindes
+jedes Vaterherz bedrücken können, doch wozu davon gerade
+dann reden, wenn es sich um ganz Anderes, Wichtigeres,
+Notwendigeres handelt? Ich schwieg und geduldete
+mich – so schwer es mir auch fiel. Jetzt aber,
+wo die Zeit Ihrer Inanspruchnahme durch den Todesfall
+Ihrer Tante verstrichen ist, glaube ich, es mir
+selbst schuldig zu sein, die Auseinandersetzung nun endlich
+und zwar unverzüglich herbeizuführen. Ferner haben
+Sie mir durch trügerische Angaben von Orten, an
+denen ich Sie sollte treffen können, und an denen ich
+Sie doch niemals traf, offenbar die Rolle Ihres Narren
+oder Spaßmachers aufzwingen wollen, der zu sein
+ich nicht die geringste Lust verspüre. Darauf, nachdem
+Sie mich noch vorher zu sich eingeladen und selbstverständlich
+vergeblich auf sich hatten warten lassen, teilten
+Sie mir mit, daß Sie zu Ihrer leidenden Tante
+abberufen worden seien, die um Punkt fünf Uhr nachmittags
+einen Schlaganfall gehabt habe, womit Sie
+anscheinend peinlich gewissenhaft den wahren Sachverhalt
+klarlegten. Zum Glück jedoch habe ich, sehr geehrter
+Herr, im Laufe dieser drei Tage Zeit gehabt, Erkundigungen
+einzuziehen, wodurch ich erfahren habe,
+daß Ihre Tante bereits am Abend des Siebenten, kurz
+vor Mitternacht, von einem Schlagfluß betroffen worden
+ist. Daraus ersehe ich, daß Sie sogar die Heiligkeit
+<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a>
+Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gemißbraucht
+haben, um andere Menschen zu betrügen. Endlich
+schreiben Sie in Ihrem letzten Brief vom Tode
+dieser Ihrer Tante, die nach Ihrer Angabe gerade zu
+der Stunde entschlafen sein soll, in der ich mich zwecks
+bewußter Unterredung auf Ihre eigene Aufforderung
+hin bei Ihnen einfinden sollte und mich in der Tat auch
+einfand. Doch hier übersteigt die Schändlichkeit Ihrer
+Berechnungen und Erfindungen jede Glaubwürdigkeit,
+denn, wie es mir, dank einem glücklichen Zufall, aus
+der sichersten Quelle zu erfahren gelungen ist, ist Ihre
+Frau Tante erst runde vierundzwanzig Stunden <em>nach</em>
+der von Ihnen so gottlos angegebenen Sterbestunde um
+elf Uhr nachts entschlafen, nämlich den <em>elften</em> November,
+und nicht den <em>zehnten</em>!
+</p>
+
+<p>
+Ich käme schwerlich zu einem Ende, wenn ich noch
+alle anderen Beweise aufzählen wollte, die mir Ihre
+Falschheit offenbart haben. Doch für jeden unparteiischen
+Beurteiler dürfte allein schon dieser eine Zug
+genügen, daß Sie mich in jedem Ihrer Briefe ihren
+„aufrichtigen Freund“ nennen und mir alle möglichen
+Liebenswürdigkeiten sagen, was Sie meines Erachtens
+zu keinem anderen Zweck getan haben, als um mein
+Gewissen wie meine Vorsicht einzuschläfern.
+</p>
+
+<p>
+Ich komme jetzt zu Ihrem Hauptbetrug und Treubruch,
+der in folgenden Punkten besteht: in Ihrem, in
+letzter Zeit unausgesetzt beobachteten Stillschweigen
+über alles das, was unsere gemeinsamen Interessen betrifft;
+ferner in der sträflichen Entwendung jenes
+Briefes, in dem Sie – allerdings nur andeutungsweise
+und mir nicht ganz verständlich – unseren beiderseitigen
+<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a>
+Vertrag nebst allen einzelnen Bedingungen
+auseinandergesetzt hatten; drittens in der Tatsache, daß
+Sie mich in einer nahezu barbarisch vergewaltigenden
+Weise um 350 Rubel anpumpten, ohne jede Quittung
+oder sonstige Bestätigung, also nur auf Grund meiner
+Eigenschaft als Ihr Kompagnon, sozusagen; und
+schließlich in Ihrer schändlichen Verleumdung unseres
+gemeinsamen Bekannten Jewgenij Nikolajewitsch.
+</p>
+
+<p>
+Es ist mir jetzt auch vollkommen klar, was Sie mit
+der letztgenannten Verleumdung eigentlich bezweckten:
+nämlich mir zu beweisen, daß von dem Betreffenden,
+wie von einem – mit Verlaub zu sagen – Ziegenbock
+weder Milch noch Wolle zu gewinnen sei; d. h. daß man
+von ihm gar keinen Nutzen habe und daß er selber weder
+dies noch das, weder Fisch noch Fleisch sei, was
+Sie ihm in Ihrem Brief vom Sechsten dieses Monats
+deutlich als ein Gebrechen anrechnen. Ich aber kenne
+Jewgenij Nikolajewitsch als bescheidenen und gesitteten
+jungen Mann: und gerade das ist es, womit er
+einen für sich einnehmen, sich in der Gesellschaft Achtung
+gewinnen und es in seiner Laufbahn noch einmal zu etwas
+bringen kann. Auch ist es mir nicht unbekannt geblieben,
+daß Sie im Verlaufe von ganzen zwei Wochen
+jeden Abend beim Hasardspiel mit ihm mindestens mehrere
+Zehnrubelscheine, wenn nicht gar Hunderter, in Ihre
+Tasche geschoben und somit auf diese Weise Jewgenij
+Nikolajewitsch mörderlich gerupft haben. Jetzt aber
+scheint das alles von Ihnen vergessen zu sein und anstatt
+mir für das, was ich durch Sie ausgestanden habe,
+zu danken, eignen Sie sich auf Nimmerwiedersehen auch
+noch mein Geld an, indem Sie mich vorher durch den
+<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a>
+Antrag, Ihr Kompagnon zu werden, und durch die
+Aussicht auf verschiedene Vorteile, die mir dadurch erwachsen
+würden, zur Hergabe einer beträchtlichen
+Summe verlocken. Jawohl: nachdem Sie sich in so gesetzwidriger
+Weise von mir und Jewgenij Nikolajewitsch
+Geld angeeignet haben, vergessen Sie jeden Dank, den
+Sie mir schuldig sind, und gehen bis zur Verleumdung
+desjenigen, den ich allein durch meine Empfehlungen
+in Ihrem Hause eingeführt habe. Sie selbst dagegen
+fahren, nach den Aussagen Ihrer Freunde, bis auf
+den heutigen Tag fort, mit Jewgenij Nikolajewitsch ein
+Herz und eine Seele zu sein, ja, im Überschwang der
+Gefühle küssen Sie ihn womöglich und stellen ihn aller
+Welt als Ihren besten Freund vor, obschon es, wie ich
+hinzusetzen möchte, so leicht keinen einzigen Dummen
+geben wird, der nicht sofort und ganz genau erriete,
+auf was alle Ihre Absichten eigentlich hinauslaufen und
+was Ihre Freundschaftsbeteuerungen in Wirklichkeit
+wert sind. Ich wenigstens sage es offen, daß sie nichts
+als Lug und Trug bedeuten, Falschheit und Hohn auf
+alle Anstandsbegriffe und Menschenrechte, daß sie eine
+Schmähung Gottes sind und der Inbegriff aller Lasterhaftigkeit.
+Als Beispiel und Beleg hierfür nenne ich
+mich selbst! d. h. ich wollte sagen, die Erfahrungen, die
+ich mit Ihnen gemacht habe. – Wann habe ich Sie je
+beleidigt oder Ihnen sonst ein Unrecht angetan, daß
+Sie mich auf eine so tückische Art zu behandeln wagen?
+</p>
+
+<p>
+Ich schließe meinen Brief. Was ich zu sagen hatte,
+habe ich gesagt. Jetzt füge ich nur noch einen Satz hinzu:
+wenn Sie, mein Herr, nicht in der kürzesten Frist
+nach Empfang dieses Briefes mir, erstens, ungeschmälert
+<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a>
+den ganzen Ihnen von mir geliehenen Betrag, in
+Summa 350 Rubel, zurückerstatten, und zweitens alle
+mir Ihrem Versprechen gemäß zustehenden Beträge auszahlen,
+so werde ich Mittel und Wege zu finden wissen,
+Sie dazu zu zwingen, wenn es sein muß, sogar durch
+öffentliche Anklage; denn ausdrücklich nicht unerwähnt
+möchte ich lassen, daß mir der Schutz der Gesetze zu Gebote
+steht; und zum Schluß möchte ich Ihnen noch mitteilen,
+daß ich gewisse Papiere und damit Beweise in
+Händen habe, die, sobald sie nicht mehr im Besitz Ihres
+ergebensten Dieners verbleiben, Sie und Ihren Namen
+in den Augen der ganzen Welt doch recht tief in
+den Schmutz herabziehen könnten.
+</p>
+
+<p>
+Gestatten Sie usw.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-7">
+<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a>
+VII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.)
+</p>
+
+<p class="date">
+15. November.
+</p>
+
+<p class="addr">
+Iwan Petrowitsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Nach Empfang Ihres bäuerischen und zugleich mehr
+als seltsamen Sendschreibens, wollte ich dasselbe im
+ersten Augenblick einfach zerreißen und fortwerfen –
+habe es aber einstweilen doch als Rarität aufbewahrt.
+Im übrigen tun mir unsere Mißverständnisse und Unannehmlichkeiten
+von Herzen leid. Eigentlich war es
+meine Absicht, Ihnen überhaupt nicht zu antworten.
+Aber die Notwendigkeit zwingt mich dazu – eben die
+Notwendigkeit, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß es mir
+ganz entschieden nichts weniger als angenehm sein
+würde, Sie jemals wieder in meinem Hause zu sehen;
+das gleiche gilt von meiner Frau: ihre Gesundheit ist
+nicht ganz auf der Höhe und der Geruch von Schmierstiefeln
+ist ihr schädlich. Anbei retourniert sie Ihrer
+Frau Gemahlin mit bestem Dank ein Buch, den „Don
+Quijote“, der bei uns liegengeblieben war. Was aber
+Ihre Galoschen betrifft, die Sie angeblich bei Ihrer
+letzten Anwesenheit in unserem Hause vergessen haben
+wollen, so muß ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen,
+<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a>
+daß man sie bisher nirgends gefunden hat. Inzwischen
+werden sie noch gesucht. Sollten sie jedoch
+nicht zu finden sein, so werde ich Ihnen neue kaufen.
+</p>
+
+<p>
+Im übrigen habe ich die Ehre usw.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-8">
+<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a>
+VIII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Am 16. November erhält Pjotr Iwanowitsch durch
+die Stadtpost zwei Briefe. Er erbricht den ersten und
+entnimmt dem Kuvert ein zierlich zusammengefaltetes
+blaßrosa Blättchen. Die Handschrift ist die seiner Frau.
+Gerichtet ist es an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben
+den 2. November. Im Kuvert befindet sich sonst nichts.
+Pjotr Iwanowitsch liest:)
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Lieber Eugène! Gestern war es völlig unmöglich.
+Mein Mann war den ganzen Abend zu Haus. Komm
+aber morgen unbedingt um Punkt elf. Um halb elf
+fährt mein Mann nach Zarskoje und wird erst um ein
+Uhr zurückkehren. Ich habe mich die ganze Nacht geärgert.
+Danke für die Zusendung der Nachrichten. Welch
+ein Haufen Papier! Hat sie das wirklich alles selbst geschrieben?
+Übrigens, der Stil geht an. Noch einmal:
+Hab Dank. Ich sehe, daß du mich liebst. Sei mir nicht
+böse wegen gestern und komm morgen unbedingt! A.
+</p>
+
+<p class="sender">
+(Pjotr Iwanowitsch erbricht den zweiten Brief.)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Pjotr Iwanytsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Mein Fuß hätte ohnehin niemals mehr Ihre
+Schwelle überschritten: Sie haben ganz überflüssigerweise
+Ihr Papier verschmiert.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a>
+In der nächsten Woche verreise ich nach Ssimbirsk,
+doch als unschätzbarer und bester Freund verbleibt Ihnen:
+Jewgenij Nikolajewitsch. Wünsche angenehmen
+Zeitvertreib. Wegen der Galoschen bitte ich, sich nicht zu
+beunruhigen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-7-9">
+<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a>
+IX.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="sender">
+(Am 17. November erhält Iwan Petrowitsch durch
+die Stadtpost gleichfalls zwei Briefe. Er erbricht den
+ersten und entnimmt ihm einen eilig und flüchtig beschriebenen
+Zettel. Die Handschrift ist die seiner Frau.
+Adressiert ist er an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben
+den 4. August. Außer dem Zettel enthält das Kuvert
+nichts weiter. Iwan Petrowitsch liest:)
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Jewgenij Nikolajewitsch!
+Möge Gott Ihnen auch dieses Gute vergelten.
+Werden Sie glücklich, das Los, das mir zufällt, ist grausam,
+grauenhaft! Es war Ihr Wille. Wäre Tantchen
+nicht gewesen, ich hätte mich Ihnen nicht so anvertraut.
+Lachen Sie nicht über mich, und auch nicht über Tantchen.
+Morgen werden wir getraut. Tantchen ist froh,
+daß sich ein guter Mensch gefunden hat, der mich ohne
+Mitgift nimmt. Heute hab’ ich ihn mir zum erstenmal
+aufmerksam angesehen. Er ist, glaube ich, ein guter
+Kerl. Man läßt mir keine Zeit. Leben Sie wohl, leben
+Sie wohl ... Mein Liebling Sie!! Denken Sie manchmal
+auch an mich, ich – ich werde Sie nie vergessen.
+Leben Sie wohl! Ich unterschreibe diesen letzten Brief
+wie meinen ersten ... wissen Sie noch?
+</p>
+
+<p class="sign">
+Tatjana.
+</p>
+
+<p class="sender">
+<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a>
+(Im zweiten Brief steht folgendes:)
+</p>
+
+<p class="addr">
+Iwan Petrowitsch!
+</p>
+
+<p class="noindent">
+Morgen erhalten Sie neue Galoschen. Ich bin nicht
+gewohnt, fremdes Eigentum aus fremden Taschen hervorzuholen,
+und ebensowenig ist es meine Art, allerlei
+Fetzen auf den Straßen aufzusammeln.
+</p>
+
+<p>
+Jewgenij Nikolajewitsch wird in den nächsten Tagen
+nach Ssimbirsk reisen, im Auftrage seines Großvaters,
+für den er dort einiges erledigen soll, und da
+hat er mich denn gebeten, ihm zu einem Reisegefährten
+zu verhelfen. Wollen Sie nicht?
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="footnotes" id="part-8">
+Fußnoten
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bei Petersburg. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Der Petersburger nimmt seine Hauptmahlzeit um 6 bezw.
+7 Uhr nachmittags ein. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Stadtteil von Petersburg.
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Vorort von Petersburg. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> „Verstand schafft Leiden“. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p>
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung
+der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren
+Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde
+transkribiert nach:
+</p>
+
+<p class="nowrap center">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br>
+Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band<br>
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920.<br>
+Siebentes bis zwölftes Tausend
+</p>
+
+<p class="skip_in_txt">
+Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen
+Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“
+vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen
+Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw.
+sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
+</p>
+
+<p>
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“)
+eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen
+wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen:
+Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“.
+Die Schreibweise häufig vorkommender Namen
+wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+</p>
+
+<p class="list">
+Newskij (Newski)<br>
+Petjä (Petja)<br>
+Ssergejeff (Sergejeff)
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... ihn rückwärts <span class="underline">auf</span> Bett und begann ihn, wie man ...<br>
+... ihn rückwärts <a href="#corr-10"><span class="underline">aufs</span></a> Bett und begann ihn, wie man ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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+This book, including all associated images, markup, improvements,
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+No investigation has been made concerning possible copyrights in
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+this book outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
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+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
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