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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-03-23 19:21:03 -0700 |
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H., + Verlag in München + + + + + Inhalt + + + Einleitung VII + Vorbemerkung XV + Helle Nächte 1 + Das junge Weib 99 + Ein schwaches Herz 243 + Ein Roman in neun Briefen 317 + + + + + Dostojewski, Petersburg und die Schönheit der Stadt + + +Die hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem Lichte, in der +geisternden Unwirklichkeit des finnischen Sumpfes, dort, wo Norden und +Osten sich treffen, hat Peter seine Stadt gegründet. Und in dem Od +dieser Stadt hat Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger +Menschen, die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie als Russen +wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen sind. Es ist nicht das +Licht des reinen Nordens, das vom Pol kommt und in der Arktis seine +harten elektrischen Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht +der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel stehen und unter dem +von einem großen Magus das Buch von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist +auch nicht das Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den +bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz in ihm in Ehrfurcht +bewundern lernte. Es ist vielmehr die Macht der finnischen Zauberer, die +Kalews Söhne durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer +weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe zwischen +Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen wurde. Es ist das +Stadtlicht einer Halbhelle, in der die Menschen unsicher gehen, wie +Schatten auftauchen, wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur +einmal Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten +Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen +alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte. + +Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit seiner Menschen. +Die finnische Urbevölkerung scheint in grauen und unscheinbaren +Verkümmerungen fortzuleben. Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse +mißlang und in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein +Bastardgeschlecht erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben in naturlosem +Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck wird noch gesteigert durch +den Gegensatz, daß so viel fade und verdächtige Hübschheit sich +hineinmischt, Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß +welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren verweichlichten +Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz kleiner spitzer glatter Züge, +die doppelt widerlich am Manne ist und über die auch der selbstgefällige +Bart eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag. Wohl sieht man +auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen Entrassung. Im Wagen oder +Schlitten fährt eine glücklichere Gesellschaft vorüber, die in +russischer Ungebundenheit gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die +Menge ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den Straßen +sieht man allenthalben diese leidenden Menschen mit dem Ausdruck von +Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen: Menschen, denen man alle Laster +zutraut, worunter Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen +Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des russischen Staates im +Volke, noch die gewöhnlichsten und von beinahe bürgerlicher +Selbstverständlichkeit sind. Nirgendwo sonst gibt es diese mageren +rachitischen Gestalten, diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert +durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen Mienen von +Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug eines schlechten und doch +gleichgültigen Gewissens auf einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes +und schlechtentlohntes Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen +und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene sind da, von denen man +nicht weiß, ob es Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder +Zuchthäusler in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein Fluch über +dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung auf unsicherem Grunde zu +sein, in Entwurzelung und Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums +und Verhängnisses, daß es in Rußland nie eine petrinische Nachfolge in +Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer wieder warf das Land seine +Menschen in diese Stadt, Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden, +Popensöhne, die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten zu enden. Man +glaubt sie noch herauszukennen, diese Generation der zuletzt +Angekommenen. Und an einem Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen +herrlichen Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen +ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der Würde von Königen +die Gesellschaft über den Newskij fahren, erkennt man plötzlich, was +Rasse auch hier ist, großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich, +eigentümlich, ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in Rußland. + +In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen und doch schon +frühalten Stadtbevölkerung, die Peter aufeinander angewiesen hatte und +die seitdem von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder +großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während sie selbst +vorwiegend durch Betrug mit sich und dem Staate auskam – in ihr +entdeckte Dostojewski den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den +romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling mit skeptischen +und ironischen, aber auch mit heroischen und enthusiastischen Zügen, der +freilich der Gesellschaft, nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit +Gestalten der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft, der +Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski dagegen entdeckte den +seelischen Menschen, die Tragödie der Unscheinbarkeit, die im +Unbemerkten, in einem Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte, +daß er voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten war. Er tat +es moralisch, mit einer leisen Beinote des Sozialen, in seinen +Jugendwerken, von den „Armen Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und +Beleidigten“, und schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische +Zeit mit den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates +zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung von allen +russischen und petersburgischen Leiden erlebt hatte, in den +Heilandgestalten seiner großen Romane. Er tat es wohl auch humoristisch, +indem er zu der Allmenschlichkeit, mit der er diesen Leiden in Güte +begegnete, die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit fügte, die +versöhnend in den Menschen selbst lag, oder die er hineinlegte. Und er +tat es schließlich lyrisch, mit einer Behutsamkeit der tiefen +Empfindung, aber auch der schwebenden Form, indem er die beseligte und +beseligende Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in der Armut seiner +Geschicke und in der Häßlichkeit seiner Umgebung von innen erleuchtete. +Die Menschen selbst wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge +erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit +zurück. Und ein paar Alte bekamen die würdige Schönheit von Philemon und +Baucis. Es war nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern +russische und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv der Gefühle +unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug, auf die Farbe des +Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit der Gestalt. Es war nicht +moralische Schönheit im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend +gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol des Sittlich-Guten, +das man erst mit dem Verstande erfassen muß, ehe man es am Menschen +entdecken kann. Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege, +ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in Worten und +Handlungen. + +Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg. Puschkin +hatte ihr Pathos besungen, die Stadt des ehernen Reiters, die Nadel der +Admiralität, den Granit der Newakais, die schreckende Nähe der +Peterpaulsfeste, in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der kriegerischen +Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in der Dynastie und die Taten des +Heeres donnernd über den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön, +solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und Dostojewski lag +die Entwicklung von der Residenz, die auch in ihren Furchtbarkeiten und +Geheimnissen noch vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt, in +der die Menge die weiten Straßenzüge und hohen Mietshäuser zu füllen +begann. Nun mußte die weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und +vibrierende Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen, die +Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker empfand. Er hat +Petersburg wohl auch mit harten, mit verfluchenden Worten bedacht. Aber +er hat die Stadt doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die +Tatsache, daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit, wurde +durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr Stil, den er an ihr so +liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt, gar nicht bemerkt zu haben. +Dostojewskis Liebe zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel. +Die majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der Zaren in dieser +Stadt bleiben, werden niemals erwähnt, und nichts deutet darauf hin, daß +er überhaupt wußte, daß Petersburg die Stadt eines großartigen +Klassizismus und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin ist. +Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus geliebt und geliebkost. +Er scheint mit allen vertraut und befreundet gewesen zu sein, und mit +den unscheinbarsten am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der +„Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen Weise +bunter russischer Märchen, wie in einer Straße, durch die ihn sein Weg +des öfteren führt, jedes einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes +Schicksal erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie mit den +Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser menschlich, gab ihnen +eine seelische Schönheit, wie es seelische Leidenschaften waren, in +denen er seine Menschen leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit +doppelt, wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen Weibe“ +geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche und sinnliche +Leidenschaft, wenn Menschen von Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen +Meere sich in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren. Dann +verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der Dithyrambos +einer dunkleren Romantik klingt in die helle Lyrik dieser +nordisch-phantastischen Überwirklichkeit. Dann wird Petersburg zu +Rußland, und auf den Straßen, die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen +seine Völker heran, um sich in dieser einsamen grausamen frierenden +Schönheit von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem kalten Lichte +aufnimmt und die doch eine so innige Schönheit ist, daß ihr Dichter die +Häuser und die Herzen mit der gleichen Liebe umfangen kann. + + M. v. d. B. + + + + + Vorbemerkung + + +Der Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen, die +Dostojewski nach dem großen Erfolge der „Armen Leute“ zu Ende der +vierziger Jahre geschrieben hat und die in der literarischen Zeitschrift +„Vaterländische Annalen“ erschienen. + +Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman in neun Briefen“ +hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen Nächte“ mit entstand: als das +erste Stück Prosa mit komischem Unterton, in dem sich Dostojewski +versuchte, und das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren +Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“, den der folgende +Band der Ausgabe bringt. + + E. K. R. + + + + + Helle Nächte + + + Ein empfindsamer Roman + aus den Erinnerungen eines Träumers + + + „... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine + Weile lang Deinem Herzen nah zu sein? ...“ + + Iwan Turgenjeff. + + + Die erste Nacht. + +Es war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie wir sie vielleicht nur +sehen, wenn wir jung sind, mein lieber Leser. Der Himmel war so tief und +nachthell, daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen mußte, +ob denn wirklich unter einem solchen Himmel böse und launische Menschen +leben können? Das ist nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen +Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein lieber Leser! Doch +möge der Herr sie öfter in Ihrer Seele erwecken! ... Während ich noch in +dieser Weise an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich +unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung an diesem Tage +erinnern. Schon vom Morgen an hatte mich eine wunderliche Stimmung +bedrückt. Ich hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame, von +allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen. Natürlich hat +jetzt ein jeder das Recht, mich zu fragen: ja, wer sind denn diese +„alle“? Lebe ich doch bereits das achte Jahr in Petersburg und habe +trotzdem noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen +verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte? Ich bin sowieso schon mit +ganz Petersburg bekannt. Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle +mich verließen, als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um in die +Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich, allein zu bleiben, +und drei Tage lang strich ich tief bekümmert in der Stadt umher, +entschieden unfähig zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem Newskij, +im Sommergarten, an den Kais war kein einziges von den Gesichtern zu +sehen, denen ich tagtäglich zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu +begegnen pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich nicht, aber ich +– ich kenne sie. Ich kenne sie sogar ganz genau: ich habe ihre +Physiognomien studiert und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle +mich verstimmt, wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen, daß ich +einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte: das war mit einem alten +kleinen Herrn, dem ich jeden Tag, den Gott werden ließ, zur selben +Stunde an der Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige, +nachdenkliche Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer, ganz so als +kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte ein wenig und in der rechten +Hand hatte er einen langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch er +hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil an mir. So bin ich +überzeugt, daß er, wenn er mich einmal nicht zur gewohnten Stunde an der +gewohnten Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls +entschieden verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn auch nicht viel, +daß wir uns grüßten, namentlich wenn wir beide bei guter Laune waren. +Vor kurzem noch, als wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und +dann einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon beinahe an +die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum Glück noch rechtzeitig, ließen +die Hände sinken und gingen mit sichtlich anteilnehmender +Zuvorkommenheit aneinander vorüber. + +Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich so gehe, dann ist es, als +laufe jedes, sobald es mich erblickt, ein paar Schritte aus der Front +und sehe mich aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten Tag, +hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich bin, Gott sei Dank, ganz +frisch und munter, aber im Mai wird man mir noch ein Stockwerk +aufsetzen.“ Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich werde +morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir gab’s Feuer und ich wäre um ein +Haar niedergebrannt – ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so weiter: +in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich meine Lieblinge, sogar +gute Freunde. Eines von ihnen will sich in diesem Sommer von einem +Architekten operieren lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da +unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund nicht etwa +vollkommen umbringt! Gott behüte ihn davor! ... Doch niemals werde ich +die Geschichte mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen +vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen, so freundlich sah es +mich immer an und so stolz war es auf seine Reize unter den plumpen +Nachbarn, daß mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging. +Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die Straße einbiege und nach +meinem kleinen Liebling hinsehe – höre ich ein jammervolles Wehklagen: +„Man tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter! Nichts hatten +sie verschont. Weder die Pfeiler noch die Karniese! Mein kleiner Freund +war in der Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran, vor Ärger +selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig machte mich der Fall, und bis +jetzt bin ich noch nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen +entstellten armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in der Farbe des +Reichs der Mitte angestrichen haben. + +Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein verehrter Leser, auf +welche Weise ich mit ganz Petersburg bekannt bin. + +Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine seltsame Unruhe quälte, +bis ich endlich ihre Ursache erriet. Auf der Straße fühlte ich mich +nicht wohl (der eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte +und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben sein?“) – und auch +zu Hause fühlte ich mich so anders, daß ich mich selbst kaum +wiedererkannte. Zwei Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was +mir nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte. Warum fühlte ich +mich mit einem Male so unbehaglich im Zimmer? Prüfend schaute ich mir +meine grünen, verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der +Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete, besah mir meine +Einrichtung, insbesondere jeden Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob +nicht hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur ein Stuhl nicht +so steht, wie er gestern stand, dann bin ich nicht mehr ich selbst). Ich +blickte nach dem Fenster – doch alles war umsonst ... mir ward deshalb +nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken, Matrjona zu +rufen und ihr in väterlichem Tone einen gelinden Vorwurf wegen des +Spinngewebes und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen; aber sie +sah mich nur verwundert an und ging fort, ohne ein Wort zu erwidern, so +daß das Spinngewebe auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt. +Erst heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. Also: sie +zogen ja alle in die Sommerfrische und ließen mich im Stich! – das +war’s: sie kniffen aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war mir +in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck zu tun ... Es +hatte doch wirklich alles, was in Petersburg lebte, die Stadt bereits +verlassen, oder verließ sie noch täglich und stündlich. Wenigstens +verwandelte sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem Äußeren, +der sich in eine Droschke setzte, in einen ehrwürdigen Familienvater, +der nach den alltäglichen Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den +Rest des Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder Mensch auf +der Straße hatte jetzt ein völlig anderes Aussehen, eines, das jedem +etwa sagen zu wollen schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze +Zeit hier, in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“ Oder +öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben zuerst schlanke, weiße +Fingerchen getrommelt, und beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen +Mädchens hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen, – da stellte ich +mir vor, daß diese Blumen auch „nur so“ von ihr gekauft wurden und +durchaus nicht deshalb, um sich an diesem Blumentopf mit den paar +Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling in der dumpfen Stube zu +erfreuen, und daß sehr bald alle die Stadt verlassen und auch die Blumen +mitnehmen würden. Doch damit noch nicht genug, ich machte vielmehr in +meinem neuen Entdeckerberuf solche Fortschritte, daß ich bald schon +allein nach dem Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen +Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der fashionablen +Inseln[1] oder der Villen an der Peterhofstraße zeichneten sich durch +auserlesene Eleganz sowohl im Gang und in jeder Geste, wie in den +Sommerkostümen und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen, in denen +sie zur Stadt gefahren kamen. Die Einwohner von Pargolowo und dort +weiter hinaus „imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre +vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel durch ihre +unverwüstlich heitere Gemütsverfassung. Traf es sich, daß ich einer +langen Prozession von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der +Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen +Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen, Betten, Stühlen, +türkischen und nichttürkischen Diwans schaukelten und auf deren Gipfel +oft noch eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte, oder auch, +wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche Gut mit Argusaugen +bewachte, damit nur ja nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich +auf der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät beladene Boote +nach den Inseln oder stromaufwärts nach der Tschornaja-rjetschka ziehen, +– die Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich in meinen +Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt sich auf und ziehe in +Karawanen hinaus, und als verwandle Petersburg sich in eine Wüste, so +daß ich mich zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte, +und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte keine Möglichkeit +und wohl auch keinen Grund, in die Sommerfrische hinauszuziehen. Und +doch war ich bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem Herrn, +der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren; aber nicht einer von +ihnen, kein einziger forderte mich dazu auf. Es war, als hätten sie mich +plötzlich alle vergessen, als wäre ich ihnen allen im Grunde doch +vollkommen fremd. + +Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner Gewohnheit gemäß +wieder einmal vergessen hatte, wo ich eigentlich ging, bis ich mich +schließlich an der Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich +zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging weiter zwischen den +besäten Feldern und Wiesen, ohne Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber, +daß mir eine Last von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir +vorüberfuhren, sahen mich so freundlich an, daß es fast wie ein Gruß +war; alle schienen sie über irgend etwas froh zu sein. Und auch ich +wurde so froh, wie ich noch nie in meinem Leben gewesen ... + +Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien – so mächtig wirkte die +Natur auf mich, den halbkranken Städter, der zwischen den Häusermauern +fast schon erstickt war. + +Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer Petersburger Natur, wenn +sie im Frühling erwacht und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle +ihre vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie sich mit jungem +weichem Laub umhüllt und mit bunten Blumen und zarten Blüten schmückt +... Dann erinnert sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf das +man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer seltsam mitleidigen Liebe +blickt oder das man zuweilen auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber +plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft, nahezu märchenhaft +schön wird, so schön, daß man bestürzt und berauscht vor ihr steht und +sich verwundert fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten +Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut in ihre bleichen +abgezehrten Wangen getrieben und läßt nun diese zarten Züge tiefe +Leidenschaft widerspiegeln? Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so +plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des armen Mädchens +gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt und zu sprühendem Lachen +fähig wird? Und man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man +beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick ist vergänglich und +vielleicht morgen schon werden wir wieder dem zerstreuten, verträumten +Blick begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse Gesicht +wahrnehmen und dieselbe Ergebung und Schüchternheit in den Bewegungen +und sogar so etwas wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers und +Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es tut einem leid, daß die +Schönheit so schnell und unwiderruflich verwelkt ist, daß sie so +trügerisch und vergeblich vor einem geleuchtet hat – leid, weil man +nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ... + +Und doch war meine Nacht noch schöner als der Tag. + +Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es schlug bereits zehn, als +ich mich meiner Wohnung näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu +dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen ist. Freilich lebe +ich auch in einem sehr stillen entlegenen Stadtteil. Ich ging und sang, +denn wenn ich glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich +hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder Freunde noch gute +Bekannte hat, noch einen Menschen, mit dem er seine frohen Augenblicke +teilen kann. Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein +überraschendes Abenteuer. + +Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in Frauenkleidern: sie +stand und stützte die Ellbogen auf das Geländer des Kais und sah, wie es +schien, aufmerksam in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug ein +entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine schwarze Mantille. +„Das ist ein junges Mädchen und sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich. +Sie schien meine Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht, +als ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem Herzen an ihr +vorüberging. „Sonderbar!“ dachte ich, „jedenfalls muß sie ganz in +Gedanken versunken sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb +wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ... Ja! ich täuschte +mich nicht: das junge Mädchen weinte – nach einer Weile klang es wieder +wie ein Aufschluchzen, und dann wieder. Mein Gott! Das Herz krampfte +sich mir zusammen. Wie befangen ich auch sonst Frauen gegenüber bin, +diesmal – es waren aber auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich +entschloß mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt +„Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich nicht gewußt hätte, daß diese +Anrede in allen russischen Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise +schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein hielt mich davon +ab. Doch während ich noch nach einer passenden Anrede suchte, kam das +junge Mädchen wieder zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die +Augen nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr sogleich, was +sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ den Kai, überschritt die +Straße und ging auf dem anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr +dorthin zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen Vogel. Da kam +mir ein Zufall zu Hilfe. + +Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe meiner Unbekannten ein +Herr auf – ein Herr in zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer +Gangart, die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging +wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das junge Mädchen +schritt indes gesenkten Blicks weiter, ohne sich umzusehen, und so +schnell, wie es alle jungen Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand +sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach Hause zu +begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch niemals eingeholt, wenn er +nicht mit einer gewissen Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes +verfallen wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er sich nämlich +plötzlich auf und lief ihr möglichst leise nach. Sie ging wie der Wind, +doch der Herr kam ihr schnell näher und holte sie ein – das Mädchen +schrie auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock, den ich +in meiner Rechten hielt! Im Augenblick war ich auf der anderen Seite, im +Augenblick begriff auch der Herr, um was es sich handelte, und die +Vernunft siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als wir fast +schon außer Hörweite waren, protestierte er in ziemlich energischen +Ausdrücken gegen meine Handlungsweise. Doch wir hörten ihn kaum. + +„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten, „dann wird er es +nicht mehr wagen, Sie zu belästigen.“ + +Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der Aufregung und dem Schreck +noch zitterte, auf meinen Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich +dich in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick auf meine +Begleiterin: sie sah reizend aus und war brünett, wie ich es mir gleich +gedacht hatte. An ihren dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom +Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai geweint, das lasse ich +dahingestellt. Aber ihre Lippen versuchten schon, zu lächeln. Auch sie +sah mich heimlich an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den +Blick. + +„Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von mir fort? Wäre ich bei +Ihnen gewesen, so wäre nichts geschehen ...“ + +„Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß Sie ebenso ...“ + +„Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“ + +„Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“ + +„Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte ich entzückt, denn +ich glaubte aus ihrer Bemerkung entnehmen zu dürfen, daß sie, die so +schön war, auch klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen, +mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr, ich bin Frauen gegenüber +befangen, und ich leugne auch nicht, daß ich mich im Augenblick erregt +fühle, ebenso wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie +erschreckte ... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen Schreck: die +ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum, mir, der ich es mir niemals +habe träumen lassen, daß ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem +jungen Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“ + +„Was? Wirklich?“ + +„Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt bebt, so kommt das nur daher, +daß er noch nie von einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige, +berührt worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen vollständig +ungewohnt; das heißt, ich will damit nicht etwa sagen, daß ich früher +einmal einen solchen Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von +jeher allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie man mit ihnen +spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß ich nicht, ob ich Ihnen nicht +irgendeine Dummheit gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir, +bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen ...“ + +„Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn Sie schon einmal +verlangen, daß ich aufrichtig sein soll, dann will ich Ihnen sagen, daß +solche Befangenheit den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch +mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß sie auch mir +gefällt, und ich werde Sie nicht früher fortschicken, als bis ich bei +unserem Hause angelangt bin.“ + +„Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze Befangenheit +verliere,“ rief ich entzückt, „und dann – lebt wohl alle meine Chancen! +...“ + +„Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein, das gefällt mir nun wieder +gar nicht!“ + +„Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft, ganz gegen meinen +Willen! Aber wie können Sie auch verlangen, daß in einem solchen +Augenblick nicht der Wunsch erwachen soll ...?“ + +„Zu gefallen etwa?“ + +„Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um Gottes willen, seien Sie +großmütig! Bedenken Sie, wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig +Jahre alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr gehabt. Wie +sollte ich da plötzlich nach allen Regeln der Kunst eine Unterhaltung +anzuknüpfen verstehen? Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn +alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu schweigen, wenn +das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel ... Glauben Sie mir, ich kenne +keine einzige Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine +Bekanntschaft. Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich irgend einmal +irgendwo doch irgend jemand treffen und kennen lernen werde. Ach, wenn +Sie wüßten, wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen bin ...“ + +„Aber wie denn das, in wen denn?“ + +„Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im Traum vor mir sehe. +Ich ersinne in meinen Träumen gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen +mich noch nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit zwei oder +drei Frauen gesprochen, aber was waren denn das für Frauen? Das waren ja +nur solche Wirtinnen, daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen +und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals die Absicht gehabt, so +ganz ohne weiteres irgendeine Aristokratin auf der Straße anzureden. +Selbstverständlich, wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich +mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und um ihr dann voll +Leidenschaft zu sagen, daß ich so allein umkomme, und um sie zu bitten, +daß sie mich nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe, +auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde ihr sagen, daß +es sogar die Pflicht jeder Frau sei, die bescheidene Bitte eines so +unglücklichen Menschen, wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß +schließlich alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß sie +mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu dürfen, daß sie mir nur +etwas Teilnahme zeigen und mich nicht gleich im ersten Augenblick +davonjagen solle, daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß sie +anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und sollte sie mich auch +auslachen, gleichviel! – aber daß sie mir wenigstens etwas Hoffnung +geben und mir zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde ich +mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie wiedersehen! ... Aber +Sie lachen ... Übrigens rede ich ja auch nur deshalb ...“ + +„Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja Ihr eigener Feind sind +... wenn Sie es versuchten, so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre +es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein einziges +Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder dumm ist oder in dem +Augenblick gerade sehr geärgert über irgend etwas, würde es übers Herz +bringen, Sie fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören – wenn Sie +so bescheiden darum bitten ... Doch nein, was sage ich! Natürlich würde +sie Sie für einen Verrückten halten! Im übrigen habe ich da nach meinem +Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig, wie die Menschen +sind.“ + +„Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht, was Sie mir mit +Ihrer Antwort gegeben haben!“ + +„Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie es erkannt, daß ich ein +Mädchen bin, mit dem man ... nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer +Aufmerksamkeit und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine Hauswirtin, +wie Sie sagten ... Warum entschlossen Sie sich, sich gerade mir zu +nähern?“ + +„Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr benahm sich so dreist und +jetzt ist es Nacht: da werden Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war +...“ + +„Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite, am Kai. Da wollten Sie +sich mir doch schon nähern?“ + +„Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich Ihnen darauf antworten +soll ... Ich fürchte ... Ja sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich +ging und sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich noch nie +so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber vielleicht schien es mir nur +so ... verzeihen Sie, daß ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß +Sie weinten, und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören ... es +preßte mir das Herz zusammen ... Mein Gott, konnte ich Ihnen denn nicht +helfen? Durfte ich nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde, daß ich +brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ... Verzeihen Sie, ich sagte +Mitleid ... Nun gleichviel, mit einem Wort – konnte es Sie denn +beleidigen, wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand, mich Ihnen +zu nähern? ...“ + +„Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht weiter ...“ unterbrach +mich das Mädchen. Sie sah verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre +Hand zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon anfing. Aber +es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht getäuscht habe ... So, jetzt +bin ich gleich zu Hause, ich muß hierher in die Querstraße, nur noch +zwei Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“ + +„Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen? ... Soll das denn +schon das Ende sein?“ + +„Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs wollten Sie nur +zwei Worte reden, und jetzt! ... Übrigens will ich nichts verschwören +... Vielleicht werden wir einander noch begegnen ...“ + +„Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich schnell. „Verzeihen Sie, +ich fordere bereits ...“ + +„Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern Sie bereits ...“ + +„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen Sie, wenn ich +Ihnen wieder irgend so etwas sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht +anders, ich muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer, ich kenne so +wenig wirkliches Leben, und einen solchen Augenblick, wie diesen, erlebe +ich so selten, daß es mir ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen +nicht immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde ich jetzt die +ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das ganze Jahr! Ich werde +unbedingt morgen hierherkommen, gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und +um dieselbe Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung an die +heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir diese Stelle hier lieb. So habe +ich noch zwei oder drei andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind. +Ich habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als plötzlich eine +Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht haben Sie heute dort am Kai +gleichfalls nur deshalb geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ... +Verzeihen Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie waren dort +vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“ + +„Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören Sie: ich werde +morgen auch hierherkommen, um zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch +nicht verwehren kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was es sich +handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt hierherkommen. Denken Sie +deshalb nicht, daß ich Ihnen ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus +einem ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse +hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ... nun gut, ich will ganz +aufrichtig sein: es tut nichts, wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es +wieder eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin, wie heute, aber +das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz, ich würde Sie gern wiedersehen, +um ... um ein paar Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie +werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie deshalb nicht, daß +ich so leicht ein Stelldichein gebe ... Ich würde es auch nicht tun, +wenn nicht ... Nein, das mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor +eine Bedingung ...“ + +„Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es aus – ich bin mit allem +einverstanden, bin zu allem bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich +stehe für mich ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ... Sie +kennen mich –“ + +„Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich Sie auch für morgen +auf,“ sagte das Mädchen lachend. „Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber +wie gesagt, kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so gut und +erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede ganz offen: Also: daß +Sie sich nicht in mich verlieben ... Das darf nicht geschehen, auf +keinen Fall. Zur Freundschaft bin ich herzlich gern bereit, hier, meine +Hand darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich bitte Sie!“ + +„Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre Hand. + +„Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch, daß Sie fähig sind, +sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen +so etwas sage. Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen, +mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um Rat fragen könnte. +Natürlich sucht man im allgemeinen seine Ratgeber nicht auf der Straße, +aber Sie sind eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären wir +zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch kein Ungetreuer, Sie +werden Ihr Versprechen doch halten? ...“ + +„Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich, wie ich die +nächsten vierundzwanzig Stunden überleben soll, das weiß ich nicht!“ + +„Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute Nacht – und vergessen +Sie nicht, daß ich Ihnen schon mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es +war so hübsch, was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann +einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft geben, und +wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl ist! Wissen Sie, das sagten Sie +so lieb, daß mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen ...“ + +„Ja, aber worin denn?“ + +„Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch mein Geheimnis bleiben. +Um so besser für Sie: das Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein +Roman aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen sagen, +vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich werde mit Ihnen vorher +noch von anderem sprechen: wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“ + +„Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen meinetwegen alles +von mir! Aber was ist das nur? Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder +mit mir ... Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie nun +wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich nicht gleich zu Anfang +fortgeschickt haben? Es waren nur zwei Minuten: und Sie haben mich für +immer glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht haben Sie +mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle meine Zweifel aufgehoben ... +Vielleicht habe ich Augenblicke ... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen +alles, dann werden Sie alles erfahren, alles ...“ + +„Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“ + +„Einverstanden.“ + +„Dann also auf Wiedersehen!“ + +„Auf Wiedersehen!“ + +Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht umher: ich konnte mich +nicht entschließen, nach Haus zurückzukehren. Ich war so glücklich ... +ich dachte nur an dieses Wiedersehen! + + + Die zweite Nacht. + +„Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte sie zum Gruß und +drückte mir lachend beide Hände. + +„Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen nicht, wie ich den Tag +verbracht habe.“ + +„Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen Sie wohl, weshalb ich +hergekommen bin? Doch nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern! +Nein, hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich habe mir +das reiflich überlegt.“ + +„Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits bin ja gern dazu bereit: +nur ist mir sowieso schon in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als +gestern ...“ + +„Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich Sie, meine Hände nicht so +zu drücken; und zweitens teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über +Sie nachgedacht habe.“ + +„Nun, und? Was war das Ergebnis?“ + +„Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir von neuem anfangen +müssen, denn zum Schluß sagte ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar +nicht kenne und daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz +kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich aber heraus, daß an +allem natürlich nur mein gutes Herz schuld war, das heißt, ich habe zum +Schluß vor mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt +immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft geben. Und +deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen, habe ich mir vorgenommen, +zunächst alles über Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun +aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen könnte, so +müssen Sie selbst mir alles erzählen, aber auch alles und ganz +ausführlich. Nun also: was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen +Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“ + +„Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte? Aber wer hat +Ihnen denn gesagt, daß ich eine Geschichte habe? Ich habe keine +Geschichte ...“ + +„Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt, wenn Sie keine Geschichte +haben?“ fragte sie lachend. + +„Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben gelebt, für mich +allein, wie man bei uns zu sagen pflegt, eben ganz allein, immer allein, +vollkommen allein – wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“ + +„Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand gesehen haben?“ + +„O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war ich immer allein.“ + +„Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn mit keinem Menschen?“ + +„Strenggenommen – mit keinem einzigen.“ + +„Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären Sie mir das doch. Nein! +Warten Sie, ich errate es schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch +eine Großmutter, genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen Sie, und +nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich fort, so daß ich fast schon +zu sprechen verlernt habe. Als ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen +kleinen Streich spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel +hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich zu sich und +steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an das ihrige – und so sitzen +wir denn seitdem tagaus tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf, +obschon sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder ihr aus +einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es mir selbst ganz sonderbar +vor, daß ich nun schon zwei Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin +...“ + +„Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein! Aber ich, ich habe keine +solche Großmutter.“ + +„Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause sitzen können?“ + +„Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“ + +„Allerdings!“ + +„Im Ernst?“ + +„Natürlich!“ + +„Gut. Ich bin also: ein – Typ.“ + +„Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das Mädchen verwundert und +lachte dann so herzlich, als habe sie ein ganzes Jahr lang nicht +gelacht. „Aber ich sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu +unterhalten! Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir uns! Hier geht +kein Mensch vorüber, niemand kann uns hören. So, nun fangen Sie an mit +Ihrer Geschichte! Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen nicht. Sie +haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen. Aber zuerst sagen Sie +mir, was ist ein Typ?“ + +„Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist so ein komischer Kauz,“ +erklärte ich, und mußte gleichfalls lachen. „Es gibt nun einmal solche – +wie soll ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein Träumer ist?“ + +„Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine Träumerin! Manchmal, wenn +man so neben Großmutter sitzt – was kommt einem da nicht alles in den +Sinn! Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich die Träume +bald von selbst weiter und da kommt es denn vor, daß ich in der +Phantasie einfach einen chinesischen Prinzen heirate ... Mitunter ist es +auch ganz gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich wenn +man auch noch sein anderes hat, woran man denken kann ...“ schloß das +Mädchen unvermittelt und diesmal ziemlich ernst. + +„Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen Prinzen geheiratet +haben, dann werden Sie mich vollkommen verstehen! Also hören Sie ... +Doch erlauben Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“ + +„Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach zu fragen!“ + +„Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich war auch so schon +glücklich ...“ + +„Ich heiße – Nasstenka.“ + +„Nasstenka! Nur Nasstenka?“ + +„Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie Unersättlicher?“ + +„Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr viel, Nasstenka, Sie +gutes kleines Mädchen, Sie, die für mich gleich am ersten Abend zur +Nasstenka geworden sind!“ + +„Das meine ich auch. Nun?“ + +„Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu, was für eine komische +Geschichte das ist.“ + +Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch ernste Miene und +begann, als wäre es eine Vorlesung: + +„Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht wissen, es gibt hier in +Petersburg recht merkwürdige Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals +_die_ Sonne, die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere, +neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen ist, und es ist auch +ganz so, als schiene sie auf alles andere in der Welt mit einem ganz +anderen, einem besonderen Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist +es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines, das gar nicht dem +gleicht, das uns sonst umgibt, sondern eines, das es nur, wie man meinen +sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben könnte, nicht aber +hier bei uns in unserer ernsten, überernsten Zeit. Doch gerade dieses +Leben ist nur eine Mischung von etwas rein Phantastischem, glühend +Idealem, und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe Alltäglichem und +glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen: bis zur Verzweiflung Gemeinem.“ + +„Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung! Was werde ich da +wohl noch zu hören bekommen?“ + +„Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir scheint, ich werde +niemals müde werden, Sie Nasstenka zu nennen – Sie werden hören, daß in +diesen Winkeln seltsame Menschen leben – Wesen, die man Träumer nennt. +Ein Träumer ist – wenn man es genauer erklären soll – kein Mensch, +sondern, wissen Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen +Geschlechts. Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in einem von aller +Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle er sich sogar vor dem Tageslicht +verbergen, und wenn er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat, +dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine Schnecke mit ihrem +Haus, oder er gleicht wenigstens in der Beziehung jenem merkwürdigen +Tiere, das beides zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus des +Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen. Was meinen Sie +aber, weshalb liebt er so seine vier Wände, die unfehlbar hellgrün +angestrichen, öde, trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße +verräuchert sind? Weshalb ist dieser komische Mensch, wenn ihn jemand +von seinen wenigen Bekannten besucht – übrigens endet es immer damit, +daß auch diese wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann immer so +betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein Gesicht, als habe er in seinem +einsamen Winkel geradezu ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere +gefälscht oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift zu +senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in dem er mitteilt, daß der +Verfasser gestorben sei und daß er es als Freund für seine heilige +Pflicht halte, des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb, sagen +Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch zwischen den beiden +nie so recht vorwärts kommen und weshalb fällt von den Lippen des +plötzlich hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu Scherz und +Lachen und Gesprächen über das schöne Geschlecht oder über andere +angenehme Themata aufgelegt ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt +sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch – denn ein zweiter +pflegt in diesem Fall nicht zu folgen – weshalb fühlt auch er sich +befangen und weshalb wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein +– das heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer +einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene des andern, der sich +übermenschlich, doch leider vergeblich anstrengt, das Gespräch zu +beleben und zu zeigen, daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande +sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so wenigstens durch +seine Bereitwilligkeit zu allem und jedem die Enttäuschung des Gastes zu +mildern, der nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin er +nicht gehört! Weshalb greift schließlich der Gast nach seinem Hut und +empfiehlt sich schnell mit der Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas +überaus Wichtiges eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub +dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell aus der heißen des +anderen, der mit tiefster Reue im Herzen noch gutzumachen sucht, was +sich nicht mehr gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende +Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, und weshalb +schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling aufzusuchen, obschon der +im Grunde gar kein so übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner +Phantasie nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck des +Sonderlings während der Zeit seines Besuches wenigstens entfernt mit +demjenigen eines Kätzchens zu vergleichen, das, von unartigen Kindern +unter heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt worden und +das endlich unter den Stuhl in einen dunkeln Winkel geflüchtet ist, um +sich dort erst einmal das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes +Schwänzchen mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und dann +noch lange feindselig auf die Natur der Dinge und das Leben überhaupt +und ebenso auch auf den Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige +Küchenseele von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“ + +„Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die ganze Zeit verwundert +mit großen Augen und halboffenem Mündchen zugehört hatte, „hören Sie: +ich begreife ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb Sie +gerade mich so sonderbare Dinge fragen? Alles, was ich verstehe, ist +nur, daß Sie diese Geschichte zweifellos selbst erlebt haben.“ + +„Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene. + +„Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“ sagte Nasstenka, „denn +jetzt möchte ich sehr gern wissen, wie das endet.“ + +„Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem Winkel denn eigentlich +tat, unser Held, oder richtiger, ich, denn der Held des Ganzen bin doch +ich, ich selbst mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen +wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch des Bekannten so +aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte und wie ein ertappter Sünder +errötete, als die Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu +empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als Hausherr spielte?“ + +„Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören Sie: Sie erzählen +ja sehr schön, doch ließe sich das alles nicht irgendwie weniger „schön“ +erzählen? Denn sonst reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus +dem Sie ablesen!“ + +„Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger Stimme, während +ich mir nur mit Mühe das Lachen verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß +ich schön erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun einmal +nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt gleiche ich dem Geiste +des Königs Salomo, der tausend Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln +gefangen war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden ist. Jetzt, +liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer Trennung wiedergefunden haben +– denn ich kenne Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich +schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis dafür liegt, daß +ich gerade Sie gesucht habe und daß es uns vom Schicksal vorbestimmt +gewesen ist, gerade hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend +Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein Herz in einen Strom von +Worten ausgießen – oder ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie, +mich nicht zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben +zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“ + +„Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen Sie! Ich werde kein +Wort mehr sagen!“ + +„Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka, es gibt für +mich an jedem Tage eine Stunde, die ich ungemein liebe. Das ist die +Stunde, in der die Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die +Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu speisen,[2] sich +hinzulegen und etwas auszuruhen, und in der die Menschen unterwegs Pläne +schmieden für den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit, die +ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt auch unser Held – Sie +müssen mir schon erlauben, Nasstenka, von mir in der dritten Person zu +erzählen, denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden +klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held, der gleichfalls +seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit den anderen Menschen eines Weges +zu gehen. Ein seltsames Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem +blassen, ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos sieht er auf +die Abendröte, die am kalten Petersburger Himmel langsam erlischt. Nein, +ich lüge, wenn ich sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht, +sondern er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre er müde +oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit irgendeinem fernen, +anderen, eigenartigen Gegenstande beschäftigt, so daß er schon sehr bald +für seine Umgebung kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch diesen +nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er ist beinahe zufrieden, +denn er hat bis morgen die lästige Arbeit getan, er ist froh wie ein +Schüler, der von der Schulbank kommt und sich nun wieder seinen +Lieblingsspielen und Streichen widmen kann. Wenn Sie ihn von der Seite +beobachten, Nasstenka, werden Sie sogleich bemerken, daß das frohe +Gefühl auf seine angegriffenen Nerven und auf seine krankhaft überreizte +Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken hüllen ihn +gleichsam ein. Sie glauben, er denke an sein Mittagessen? An den Abend, +der ihm bevorsteht? Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge faßt? Ist +es etwa jener Herr, der so höflich und doch so pittoresk die Dame grüßt, +die in prächtiger Kalesche an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was +gehen ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist jetzt reich in +seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen Leben: ganz plötzlich ist +er reich geworden und der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht +vergeblich so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem erwärmten Herzen +eine Fülle von Eindrücken wachgerufen. Jetzt bemerkt er kaum mehr den +Weg, auf dem ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen +konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes Netz um ihn gewebt +und füllt es nun aus mit den bunten Mustern eines unwillkürlichen und +wunderlichen Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen? – vielleicht +hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir, auf dem er nach Hause geht, +mit launischer Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel +entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn plötzlich anzureden und +ihn zu fragen, wo er sich im Augenblick befinde, durch welche Straßen er +gegangen – dann würde er ganz entschieden weder das eine noch das andere +anzugeben vermögen und wahrscheinlich vor Ärger errötend irgend etwas, +das ihm gerade einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er auch +plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken um – nur weil eine +alte Frau ihn mitten auf dem Trottoir anhält und ihn nach einer Straße +fragt, die sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter Stirn +schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß von den Vorübergehenden +mehr als einer bei seinem Anblick lächelt und mancher ihm sogar +nachschaut, und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht, +plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren verwundert +aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes Lächeln und die halben +Gesten seiner Hände so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe +Phantasie in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die neugierig +Vorübergehenden und das lachende kleine Mädchen und die Bauernkerle, die +auf ihren Booten Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen wir +an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem Kanalkai befindet – +schon hat sie alles mutwillig in ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die +Fliegen, und mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung, +er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet die Mahlzeit und kommt +nicht früher zu sich, als bis Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge +Wirtin, nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine Pfeife reicht: +da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und gewahrt mit Verwunderung, daß +er bereits gegessen hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre. Es +dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und traurig. Ein ganzes +Reich von Träumen ist rings um ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos, +spurlos wie eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht einmal mehr +zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein dunkles Empfinden, das in seiner +Brust sich zu regen beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch, +umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und ruft unmerklich +wieder eine ganze Schar neuer Phantome heran. Stille herrscht in seinem +kleinen Zimmer: die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die +Phantasie, sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in ihr an, wie +ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in der Kaffeemaschine der alten +Matrjona, die nebenan in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren +Köchinnenkaffee braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ... Da +fällt auch schon das Buch, das mein Träumer zwecklos und unbesehen aus +der Reihe herausgegriffen hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur +dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder erwacht: und +plötzlich ist eine neue Welt, ein neues bezauberndes Leben um ihn herum +entstanden. Ein neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes +Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen Leben! Nach seiner +allerdings sehr einseitigen Auffassung leben wir anderen, Nasstenka, ein +Leben, das langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind wir alle +so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen uns so sehr mit unserem +Dasein! Und es ist ja auch wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick +alles zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich, als wäre +alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt mein Träumer. Und es ist +kein Wunder, daß er so denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so +berückend, so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem Nichts vor ihm +erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde die erste Person, versteht +sich, er selbst ist, er, unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen +nicht, was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe von +Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er denn träumt? Wozu das +Fragen? – doch einfach von allem, von allem ... vom Schicksal eines +Dichters, der anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall +Begeisterung erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th. A. Hoffmann, +der Bartholomäusnacht, Diana Vernon, einer heroischen Rolle bei der +Einnahme der Stadt Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer +Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor dem Konzil, von der +Auferstehung der Toten in „Robert der Teufel“ – kennen Sie die Musik? +sie duftet nach dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der Schlacht +an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts bei der Gräfin W. D., von +Danton, Kleopatra ei suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen +Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes Geschöpf sitzt, das +mit offenem Mündchen und großen Augen an einem Winterabend ihm zuhört – +genau so, wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ... Nein, +Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen Nichtstuer, was ist ihm +jenes irdische Leben, das wir, Nasstenka, so gern einmal leben möchten? +Er hält es für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient, +und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal die Stunde schlagen +wird, wo er für einen Tag dieses wirklichen Lebens gerne alle seine +phantastischen Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag, +nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er wird nicht einmal +wählen dürfen in dieser Stunde der Trauer und Reue und des unabwendbaren +Wehs. Doch vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen – +er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen steht, weil er ja alles +hat, weil er schon übersättigt und selbst der Künstler seines Lebens +ist, das er sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann. Und +so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische Märchenwelt! als +wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste! Wirklich, man ist oft zu +glauben versucht, daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des +Gefühls, nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische Einbildung, +sondern wahrhaftig Wirklichkeit, etwas wirklich Seiendes, ein greifbar +Vorhandenes sei! Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält man +in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens oft den Atem an? +Weshalb – woher kommt es, daß, wie durch eine unerforschliche +Zaubermacht, der Puls schneller schlägt, daß Tränen den Augen +entströmen, daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen und +sein ganzes Sein von überwältigender Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen +ganze Nächte, die er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück +schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick? Und wenn die +Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben schimmert und die erste +Dämmerung mit ihrem ungewissen phantastischen Licht in das trübselige +Zimmer schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft auf das +Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat er dann ein Gefühl, als +vergehe er vor Entzücken mit seinem ganzen krankhaft erschütterten +Geiste, und das mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja, +Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder unwillkürlich, daß +eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft unsere Seele errege! +Unwillkürlich glaubt man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas +Lebendiges, Greifbares sei! Und was ist das doch für ein Betrug! Da ist +zum Beispiel die Liebe mit ihrer ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer +nimmermüden Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein Blick auf ihn +genügt, um einen jeden von der Echtheit des Gefühls zu überzeugen. +Werden Sie es da glauben, liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er +diejenige, die er in seinen verzückten Träumen so rasend liebt, in +Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat er sie denn nun auch +_wirklich_ nur, _nur_ in berückenden Phantasiebildern gesehen? Und hat +er diese Leidenschaft wirklich _nur_ – geträumt? Sind sie denn wirklich +nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand gegangen – zu zweien, ohne +sich um die Welt zu kümmern, das eigene Leben mit dem des anderen +vereint? War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er Abschied +von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken, ohne auf den Sturm zu +achten, der unter dem rauhen Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der +die Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War das denn wirklich +alles nur ein Traum im Wachen gewesen – auch der verwilderte einsame +Garten mit den grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu +zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich sehnten und einander +liebten, einander so liebten, ‚so bang und süß‘, wie es im alten Liede +heißt? Und dieses alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange +einsam und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren Mann, der, ewig +schweigsam und verdrossen, die Liebenden wie ein Schreckgespenst +ängstete, sie, die ohnehin schon wie scheue Kinder ihre Liebe +voreinander verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie sich, +wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie – das versteht sich von +selbst, Nasstenka – wie böse waren die Menschen! Und, mein Gott, hat er +sie denn später wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem fremden +südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt in einem Palazzo – in +einer wundervollen ewigen Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal +wiedergesehen? Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten, den +Myrten und Rosen umrankten, und hat sie dort nicht ihre Maske abgenommen +und ihm zugeflüstert: ‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine +Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben sie sich nicht +wirklich aneinander geschmiegt und im Augenblick alles Leid vergessen +und die Trennung und alle Qualen und das düstere Haus und den alten +Grafen, den verwilderten Garten in der fernen Heimat und die Bank, auf +der sie ihm den letzten leidenschaftlichen Kuß gegeben, um sich dann aus +seinen Armen zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka, daß +es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt und wie ein ertappter +Schüler verwirrt errötet, als hätte man soeben einen aus dem +Nachbargarten gestohlenen Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich +die Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder Bursche, +so ein guter, immer fröhlicher Junge, über die Schwelle tritt und mit +lachendem Gruß ausruft, als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme +soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war gestorben und sie war +frei! Unfaßbares Glück brach für uns an. Das sagte und brachte man uns +aus Pawlowsk!“ + +Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu Ende war. Ich weiß +noch, daß ich schreckliche Lust hatte, laut, schallend aufzulachen, +gleichsam irgend etwas aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in +der Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu regen +begann und mir schon im Halse saß, und daß es mir im Kinn und in den +Augenlidern zuckte ... + +Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß Nasstenka, die mich mit +ihren klugen Augen groß ansah, nun in unbändig lustiges Kinderlachen +ausbrechen würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen war +und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir herumgetragen und deshalb +wie aus einem Buch ablesend erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr +und Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor einen Richter +zu treten und über mich ein Urteil zu fällen: und da hatte ich mich nun +wirklich einmal nicht zu bezwingen vermocht und dieses Urteil +gesprochen, jedoch, offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich +Verständnis finden würde. Aber zu meiner Verwunderung schwieg sie eine +Weile, dann drückte sie mir leise die Hand und fragte mit einer seltsam +zartfühlenden Teilnahme: + +„Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“ + +„Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich, „solange ich auf der +Welt bin, und ich glaube, so werde ich es auch beenden.“ + +„Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“ protestierte sie, +sichtlich beunruhigt, „und das geschieht auch nicht! Dann wäre es ja +ebensogut möglich, daß auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter +verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es gar nicht gut ist, so +zu leben?“ + +„Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief ich, ohne meine +Gefühle noch länger zu unterdrücken. + +„Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß ich alle meine besten +Jahre verloren habe! Ich weiß es, und diese Erkenntnis schmerzt mich +mehr als je, denn Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt, +um mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben Ihnen sitze und +mit Ihnen rede, mutet es mich schon wunderbar an, an meine Zukunft zu +denken, denn in dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder +Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose Leben. Und was +werde ich dann noch träumen können, das schöner ist als das Leben, +nachdem ich doch in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich +gewesen bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes Mädchen, daß Sie +mich nicht gleich nach dem ersten Wort zurückgestoßen haben und ich +jetzt doch schon sagen kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem +Leben gelebt habe!“ + +„Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen glänzten in ihren Augen. +„Nein, so soll es nicht kommen! Wir werden nicht so auseinandergehen! +Was sind zwei Abende!“ + +„Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt, daß Sie mich für +lange Zeit mit mir selbst versöhnt haben? Wissen Sie, daß ich jetzt +nicht mehr so Schlechtes denken werde, wie in manchen früheren Stunden? +Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber grämen werde, +Verbrechen und Sünde in meinem Leben begangen zu haben, denn ein solches +Leben ist Verbrechen und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie +übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie das nicht, Nasstenka! Es +kommen Augenblicke, in denen ich solch eine Seelenangst empfinde, solch +einen Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen – und ich +fange schon an, daran zu glauben –, daß ich niemals mehr fähig sein +werde, ein wirkliches Leben zu beginnen, denn ich habe schon oft die +Empfindung gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede +Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, was wirkliches +Leben ist! weil ich mich schließlich selbst verflucht habe! weil meinen +phantastischen Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, die so +furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie rings um einen die +Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel sich drehen, man hört und sieht, +wie Menschen leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im Wachen +leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach ihrer Willkür entsteht, +daß ihr Leben nicht wie ein Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig +erneut und ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, während +die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, so trostlos +und verzagt und bis zur Gemeinheit einförmig ist, eine Sklavin des +Schattens, der bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die +plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das Herz zusammenpreßt, +das echte Petersburger Herz, dem seine Sonne so teuer ist! Und erst im +Leiden, was für eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde +wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft, diese scheinbar +_unerschöpfliche_ Phantasie, denn man wird reifer und männlicher und +wächst über seine früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt +nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es dann kein anderes +Leben gibt, muß man aus demselben Schutt die Bruchstücke zusammenlesen +und aus ihnen sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und sehnt +sich die Seele doch nach etwas ganz anderem! Und vergeblich wühlt der +Träumer wie in einem Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in +der Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen, um es +anzublasen und um mit dem von neuem angefachten Feuer das kaltgewordene +Herz zu erwärmen und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so +lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung brachte, was den +Augen Tränen entströmen ließ und eine so herrliche Täuschung war! Wissen +Sie auch, Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin? Wissen Sie, +daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen zu feiern gezwungen +bin, Gedenktage dessen, was früher so schön war und dabei in +Wirklichkeit doch nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage +gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien – und daß ich das +tun muß, weil selbst diesen törichten Träumen nicht mehr neue folgen, +die sie verdrängen würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden! Von +selbst hören sie nicht auf und so überleben sie sich nur. Wissen Sie, +ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten Stunden jene Stellen auf, an +denen ich einmal glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und +dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie nach dem +unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten oder das Vergangene mir zu +vergegenwärtigen: und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und +zwecklos in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was für +Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich zum Beispiel, daß ich +hier genau vor einem Jahr gerade in derselben Stunde auf demselben +Trottoir gegangen bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend, wie +jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken damals ebenso +traurig waren, und wenn es früher auch nicht besser war, so ist es einem +doch, als sei es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger gelebt, +und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln gegeben habe, daß +einen jetzt verfolgt ... daß ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die +so peinvoll und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch in der +Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man fragt sich: wo sind denn deine +Träume geblieben? Und schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die +Jahre vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du mit deinen Jahren +angefangen? Wo hast du deine beste Zeit begraben? Hast du überhaupt +gelebt? oder nicht? Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in +der Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und dann kommt die +grämliche Einsamkeit, kommt mit der Krücke das zitterige Alter und +bringt dir Kummer und Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt, +verwelken und sterben werden deine Träume und wie das gelbe Laub von den +Bäumen, so werden sie von dir abfallen ... O Nasstenka! Wie wird es dann +so öde sein, allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas zu +haben, worum man trauern könnte – nichts, gar nichts ... Denn alles, was +man verloren hat, alles das war doch nichts, war eine Null, eine reine +Null, war ja nichts als ein Träumen!“ + +„Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht noch mehr!“ rief +Nasstenka und wischte das dumme Tränchen fort, das ihr über die Wange +rollte. „Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht mehr allein sein, +denn was mit mir auch geschehen sollte, wir werden doch immer Freunde +bleiben. Hören Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig +gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer Unterricht erteilen +ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe Sie sehr gut, denn alles, was +Sie mir da erzählt haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben +Großmutter angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut zu +erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“ fügte sie +etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische Rede ihr offenbar einen +gewissen Respekt eingeflößt hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir +alles mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch und durch. +Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun auch meine Geschichte erzählen, +alles, bis aufs Letzte, Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie +sind ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie mir nun +versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich Ihren Rat geben?“ + +„Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar noch nie ein Ratgeber +gewesen, und nun gar ein kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich +sehe jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar sehr klug wäre +und daß der eine dem anderen unzählige kluge Ratschläge erteilen könnte. +Nun also, meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen Sie? +Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich bin jetzt so heiter, so glücklich, +so mutvoll, daß ich wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein +werde, wie man zu sagen pflegt.“ + +„Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort. „Ich brauche keinen +klugen Rat, sondern einen von Herzen kommenden, einen aufrichtig +brüderlichen, einen, der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon +ein Leben lang lieb!“ + +„Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn ich Sie auch schon +ganze zwanzig Jahre geliebt hätte, ich könnte Sie deshalb doch nicht +inniger lieben, als ich es jetzt tue!“ + +„Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka. + +„Hier haben Sie sie!“ + +„Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte beginnen.“ + + + Nasstenkas Geschichte. + +„Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie bereits, das heißt, Sie +wissen, daß ich eine alte Großmutter habe ...“ + +„Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als diese ...“ wandte ich +lachend ein. + +„Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst eine Abmachung: Sie +dürfen mich nicht unterbrechen, sonst machen Sie mich schließlich noch +verwirrt. Also, hören Sie jetzt artig zu. + +„Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich schon als ganz kleines +Mädchen, denn meine Eltern starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter +einmal reicher war, denn sie spricht immer von den früheren besseren +Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch gelehrt. Später nahm +sie einen Lehrer. Als ich fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich +siebzehn – hörte der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich ihr +meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach, das werde ich +Ihnen nicht sagen; genug, daß es durchaus kein schlimmer Streich war. +Immerhin hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens zu sich +rief und sagte, sie könne mich, da sie blind sei, nicht beaufsichtigen, +und damit nahm sie dann eine Stecknadel und steckte mein Kleid an das +ihrige und erklärte mir, daß wir so unser Leben verbringen würden, wenn +ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war mir jede Möglichkeit +genommen, mich freizumachem: was ich auch tat, arbeiten und lesen und +lernen – alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte ich +es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf meinen Platz zu setzen. +Fjokla ist unsere Magd, und die ist taub. Sie setzte sich also auf +meinen Platz, als Großmutter in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich +lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das ging aber +schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor ich zurück war, und fragte +irgend etwas, natürlich im Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist +ja blind. Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte sie +nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt und denkt sie, was +sie wohl tun soll, steckt dann schnell die Stecknadel ab und kommt mir +nachgelaufen ...“ + +Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich auch. Doch wurde sie +gleich wieder ernst. + +„Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter. Ich lache nur +deshalb, weil es so komisch war ... Was soll man denn machen, wenn +Großmutter wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun ja, +mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt: ich mußte mich sofort +wieder hinsetzen und wurde von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht +rühren durfte ich mich! + +„Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen, daß wir, oder +vielmehr, daß Großmutter ein kleines Haus besitzt. Es ist ein +Holzhäuschen mit nur drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und +ebenso alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer; und in dieses +Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“ + +„Dann hatten Sie also auch früher schon einen Mieter?“ fragte ich +beiläufig. + +„Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und zwar verstand der +besser zu schweigen, als Sie. Allerdings konnte er kaum noch die Zunge +bewegen. Es war das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager, stumm, +blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht länger aushielt in +der Welt und starb. Da ward das Zimmer frei und wir mußten uns nach +einem neuen Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und +Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen. Der neue Mieter +war aber ein junger Mensch und kein Petersburger. Da er von der Miete +nichts abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er aber gegangen +war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist der Mieter jung oder alt?‘ Lügen +wollte ich nicht und so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht, +Großmama, aber er ist auch kein alter Mann.‘ + +„‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes Äußere?‘ fragte sie +weiter. + +„Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘ sagte ich, ‚er hat ein +angenehmes Äußere.‘ Großmutter aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das +wird dann wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage dir das +deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir nicht zu oft ansiehst. Das ist +mir jetzt mal eine Zeit! Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein +angenehmes Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘ + +„Großmutter spricht nämlich immer von der alten Zeit. Jünger war sie in +der alten Zeit und die Sonne schien wärmer in der alten Zeit und die +Sahne wurde nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war in der +alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg, dachte aber bei mir: +weshalb bringt denn Großmutter mich selbst darauf, indem sie fragt, ob +er gut aussieht und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger +Gedanke, ich begann wieder die Maschen zu zählen und strickte weiter, +und darüber vergaß ich dann alles. + +„Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter bei uns ein: er wolle +sich erkundigen, wo die neue Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer +versprochen habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist doch +geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh, Nasstenka, in mein +Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘ Ich sprang sogleich auf, das +Blut schoß mir ins Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß +ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel heimlich +abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe, riß ich so, daß +Großmutters ganzer Sessel in die Höhe ruckte. Als ich aber sah, daß der +Mieter jetzt alles begriff, wurde ich noch viel röter und blieb wie +gelähmt stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so schämte ich +mich und so bitter war es, daß ich in die Erde hätte versinken mögen! +Großmutter aber ruft mir zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber +weinte nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich vor ihm +schämte, und verabschiedete sich und ging schnell fort! + +„Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur ein Geräusch im Flur +hörte, gleich das Herz still. ‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns +kommt,‘ dachte ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab, +heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war es niemals er, – er +kam nicht. So vergingen zwei Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch +Fjokla sagen, daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und ob da nicht +Großmutter sich von mir vorlesen lassen wolle, um eine kleine +Zerstreuung zu haben? Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur +fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige Bücher +wären, ‚denn wenn sie unmoralisch sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie +unter keinen Umständen lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes aus +ihnen lernen.‘ + +„‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘ fragte ich, ‚was steht denn in +schlechten Büchern geschrieben?‘ + +„‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer sittsame Mädchen +verführen, wie sie sie unter dem Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus +dem Elternhause entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und wie +die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen und zugrunde gehen. +Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe viele solcher Bücher gelesen und +alles,‘ sagte sie, ‚ist so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht +heimlich in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie, ‚sieh zu, +daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher sind es denn, die er +uns geschickt hat?‘ + +„‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘ sagte ich. + +„‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber nach, ob nicht +irgendwelche Spitzbübereien darin stecken. Vielleicht hat er einen +Liebesbrief oder ein Zettelchen hineingelegt.‘ + +„‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin, Großmutter.‘ + +„‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken; zuweilen +stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘ + +„‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem Umschlagrücken ist +nichts.‘ + +„‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort. + +„Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen, und in etwa einem +Monat waren wir fast schon mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann +schickte er uns wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so daß +ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte und darüber ganz vergaß, +wie früher darüber zu sinnen, wie ich wohl einen chinesischen Prinzen +heiraten könnte. + +„So standen die Dinge, als der Zufall es einmal fügte, daß ich unserem +Mieter auf der Treppe begegnete. Ich mußte für Großmutter etwas holen. +Er blieb stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber da +lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte sich nach +Großmutters Befinden. Darauf fragte er, ob ich die Bücher schon gelesen +hätte. Ich sagte: ‚Ja, ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am +besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe und Puschkin +haben mir am besten gefallen.‘ Und damit war unser Gespräch für diesmal +beendet. + +„Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf der Treppe. Nur hatte +mich an dem Tage nicht Großmutter geschickt, ich hatte vielmehr selbst +etwas nötig. Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam unser Mieter +nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘ sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte +ich. + +„‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag bei der Großmutter zu +sitzen?‘ fragte er. + +„Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb – errötete ich wieder +und ich schämte mich und seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil +nun schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter zu fragen +begannen. Ich wollte fortgehen, ohne ihm zu antworten, aber ich hatte +keine Kraft zum Gehen. + +„‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf. ‚Entschuldigen Sie, +bitte, daß ich so zu Ihnen spreche, aber, ich versichere Ihnen, ich +wünsche Ihnen vielleicht mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun +scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen könnten?‘ + +„Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka, meine einzige +Freundin, wäre nach Pskow gereist. + +„‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater fahren?‘ fragte er mich +darauf. + +„‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn Großmutter –?‘ + +„‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht zu sagen, – kommen Sie +heimlich ...‘ + +„‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen. Guten Tag!‘ + +„Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag, wir hatten gerade erst +gespeist, kam er plötzlich zu uns. Er setzte sich, unterhielt sich mit +Großmutter, erkundigte sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie +Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe für heute eine Loge +genommen, im Opernhaus; der Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine +Bekannten, mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte, sind plötzlich +verhindert, und da sitze ich nun mit meinem Billett.‘ + +„‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter, ‚ist das etwa derselbe +Barbier, den man in der alten Zeit gab?‘ + +„‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei sah er mich an. +Ich aber hatte schon alles begriffen und errötete und mein Herz hüpfte +in Erwartung! + +„‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie sollte ich den nicht +kennen! Ich habe doch in meiner Jugend auf der Hausbühne die Rosine +gespielt!‘ + +„‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper einmal wieder hören +wollen?‘ fragte er. ‚So fände auch mein Billett noch eine Verwendung, +sonst hätte ich es unnütz gekauft.‘ + +„‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter, ‚weshalb sollten wir +nicht?! Meine Nasstenka ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘ + +„Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten uns an und dann fuhren +wir. Großmutter ist zwar blind, aber sie wollte doch wenigstens die +Musik hören: und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau: sie +wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen, denn ohne seine +Aufforderung wären wir wohl niemals in die Oper gekommen. Wie der +Eindruck war, den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun, das +brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können Sie sich schon ohnehin +denken. Den ganzen Abend sah er mich mit so guten Augen an und sprach so +freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich auf der Treppe nur +hatte prüfen wollen, als er mich aufforderte, allein mit ihm ins Theater +zu fahren. Da freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte! +Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh und mein Herz schlug +so stark, daß ich sogar ein wenig fieberte, und die ganze Nacht träumte +mir vom Barbier von Sevilla. + +„Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt öfter zu uns kommen – +aber da täuschte ich mich. Er kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa +einmal im Monat sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern, +mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal fuhren wir auch noch – nur wollte +mir diese Art gar nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur +leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt sitzen mußte: +weiter war es nichts. Und je länger sich das so fortsetzte, um so mehr +kam es über mich: ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber +ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen lachte ich +und stellte irgend etwas an, worüber Großmutter sich ärgern mußte. Dann +wieder war ich den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu guter +Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war zu Ende und unser Mieter +hörte nun ganz auf, zu uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten +– immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur so ernst und +schweigend und ging an mir vorüber, als wolle er überhaupt nicht mit mir +sprechen. Und wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch auf +der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut stieg mir sofort ins +Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte. + +„Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor einem Jahr, im Mai, kam +unser Mieter nach langer Zeit wieder einmal zu uns und sagte der +Großmutter, daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder auf ein +Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das hörte, erbleichte ich und +sank auf einen Stuhl – ich glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter +merkte nichts davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging. + +„Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und marterte mein Gehirn und +grämte mich, bis ich endlich doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt +er, dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben Abend, sobald +Großmutter eingeschlafen wäre, meinen Vorsatz auszuführen. So geschah es +auch. Ich band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte, in ein +Bündel, und mit dem Bündel in der Hand, mehr tot als lebendig, ging ich +nach oben zu unserem Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde, +um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür zu seinem Zimmer +öffnete, da sprang er auf und sah mich an, als hielte er mich für ein +Gespenst. Doch das dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem +Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab mir zu trinken, denn +ich hielt mich kaum auf den Füßen. Mein Herz schlug so, daß es mir im +Kopf weh tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber wieder zu mir +kam, tat ich nichts weiter, als daß ich mein Bündel auf sein Bett legte, +mich daneben setzte, das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine +Flut von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im Augenblick alles, +denn er stand vor mir und war bleich und sah mich so traurig an, daß es +mir das Herz zerriß. + +„‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka, ich kann nicht! Ich bin +ganz arm, ich habe vorläufig noch nichts, nicht einmal eine Stellung: +wie sollten wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘ + +„Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos und sagte, ich +könne nicht länger bei Großmutter bleiben, ich würde von ihr fortlaufen +und ich wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke: sobald +er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach Moskau gehen, da ich ohne ihn +nicht mehr leben könne. Scham und Liebe und Stolz – alles brach da +zugleich aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf sank ich aufs +Bett. Ich fürchtete mich so vor einer Zurückweisung! + +„Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat zu mir und ergriff meine +Hand. + +„‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘ begann er, und seine +Stimme bebte vor Tränen, ‚hören Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich +jemals in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein Glück +ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein könnten es. Doch hören +Sie weiter: ich fahre jetzt nach Moskau und werde dort ein Jahr bleiben. +Ich hoffe, mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn ich dann, +nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich noch liebhaben, so werden wir +glücklich sein, das schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich, +ich besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend etwas zu +versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr noch nicht so weit sein, so +werden wir noch etwas länger warten müssen, einmal aber werden wir unser +Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht einem andern den +Vorzug geben, denn binden will ich Sie mit keinem Wort, das kann ich +nicht und darf ich nicht.‘ + +„So sprach er damals zu mir und am nächsten Tage fuhr er fort. Vorher +aber sprachen wir uns noch aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu +sagen. Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast zu Ende. +Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist zurückgekehrt, er ist +schon ganze drei Tage hier und ... und ...“ + +„Und – was?“ fragte ich gespannt. + +„... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß Nasstenka, indem sie +sich mit aller Gewalt zusammennahm, „kein Wort von ihm, kein Brief ...“ + +Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und plötzlich brach sie, +die Hände vor das Gesicht schlagend, in Tränen aus und weinte so +verzweifelt, daß es mir das Herz zerriß. + +Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet. + +„Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme in der Stimme. +„Nasstenka, um Gottes willen, so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen +Sie es denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“ + +„Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich weiß es. Wir +trafen damals noch eine Verabredung, an jenem Abend vor seiner Abreise – +als wir uns ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich Ihnen +soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und spazierten hier auf und +ab. Es war zehn Uhr und wir saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht +mehr, es war mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er sagte, er +werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns kommen, und wenn ich mich dann +nicht von ihm lossagte, würden wir alles der Großmutter mitteilen. Jetzt +aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns ist er nicht +gekommen, _nicht_ gekommen!“ + +Und wieder brach sie in Tränen aus. + +„Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie helfen?“ rief ich und +sprang in meiner Ratlosigkeit von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka, +könnte ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“ + +„Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend. + +„Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber hören Sie: schreiben +Sie ihm einen Brief.“ + +„Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht nicht!“ versetzte sie +schnell, senkte jedoch das Köpfchen und sah mich nicht an. + +„Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich sein?“ fuhr ich fort, +denn mein Plan begann mir zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen +Brief! Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ... Ach, +Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will Ihnen keinen schlechten Rat +geben. Es läßt sich das wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch +den ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt nicht ...“ + +„Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht! Damals habe ich mich +schon fast – aufgedrängt ...“ + +„Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein Lächeln zu verbergen, +„nein, da irren Sie sich. Und schließlich haben Sie dazu das volle +Recht, da er Ihnen sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch, wie +ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger Mensch zu sein,“ +fuhr ich fort und ließ mich von der Logik meiner Folgerungen und +Schlüsse mehr und mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen +gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden. Er hat gesagt, +daß er nur Sie heiraten werde, sobald er erst einmal so weit sein würde; +Ihnen dagegen hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn Sie +wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen können ... Folglich +dürfen Sie jetzt ruhig den ersten Schritt tun, denn er hat Ihnen in +allem das Vorrecht überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die +Rückgabe des bindenden Wortes handelt, oder um etwas anderes ...“ + +„Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle schreiben?“ + +„Was?“ + +„Nun, diesen Brief an ihn.“ + +„Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter Herr ...‘“ + +„Muß man unbedingt so anfangen?“ + +„Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen einzuwenden? Ich denke +...“ + +„Nein, nein, schon gut! Weiter!“ + +„Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, daß ich ...‘ Übrigens +nein, Entschuldigungen sind überflüssig. Hier erklärt ja schon die +Tatsache alles. Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine +Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich, da ich immer +in meiner Hoffnung lebte – woher sollte ich jetzt wohl die Geduld +nehmen, auch nur einen Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie +schon zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht haben, muß +ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen aufgegeben haben. In dem +Fall soll dieser Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen +keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn es ist doch nicht Ihre +Schuld, wenn ich Ihr Herz nur für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht +habe. Dann ist es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm denkender +Mensch und Sie werden über meine ungeschickten Zeilen weder lächeln noch +sich ärgern. Aber trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen +an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen Menschen hat, dem +sie sich anvertrauen und der ihr Rat erteilen könnte, und daß sie auch +nie verstanden hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht +böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte, auch nur für einen +Augenblick in meiner Seele Zweifel gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie +nicht einmal in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so +geliebt hat und noch liebt.‘“ + +„Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“ rief Nasstenka und ihre +Augen glänzten vor Freude. „Oh, Sie haben mich von allen meinen +Ungewißheiten erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke Ihnen, +ich danke Ihnen!“ + +„Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt hat?“ fragte ich und +betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes Gesichtchen. + +„Ja, meinetwegen dafür!“ + +„Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen Menschen nur dafür +dankbar, daß sie mit uns leben oder überhaupt nur leben. Ich zum +Beispiel bin Ihnen ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet +sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie werde denken können.“ + +„Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen ja noch gar nicht alles +– also hören Sie: Damals verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner +Rückkehr mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar durch meine +Bekannten: gute, einfache Leute, die von all dem nichts wissen; falls er +aber nicht schreiben könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles +sagen läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn Uhr abends +hierher kommen, wo wir uns dann treffen wollten. Daß er in Petersburg +bereits angekommen ist, das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit +drei Tagen hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm +erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es mir nicht möglich, +unbemerkt von Großmutter fortzugehen. Deshalb – oh, seien Sie so gut und +geben Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief – sie werden +ihn weiterbefördern. Wenn aber eine Antwort von ihm eintrifft, so +bringen Sie sie mir um zehn Uhr abends hierher – ja?“ + +„Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der Brief noch geschrieben +werden! Sonst kann ich das allenfalls erst übermorgen besorgen.“ + +„Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt zu Boden, „der Brief ... ja +aber ...“ + +Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das Gesichtchen, das wie +eine Rose erglühte, von mir fort, und plötzlich fühlte ich in meiner +Hand einen Brief – einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor +kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk rief eine +Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich eine reizende graziöse +Melodie im Ohr und – + +„Ro–osi–ina!“ sang ich. + +„Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide, und ich war nahe daran, sie +vor lauter Wonne in meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger +errötete und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen silbern an ihren +Wimpern glänzten. + +„Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“ sagte sie schnell. „Den Brief +haben Sie, und auf dem Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn +ab. Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“ + +Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch einmal zu und huschte +wie ein Schatten in ihre kleine Querstraße. Ich stand noch lange auf +demselben Fleck und sah ihr nach. + +„Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es mir durch den Sinn, als sie +meinen Blicken entschwunden war. + + + Die dritte Nacht. + +Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so grau und trüb und lichtlos +– ganz wie das Alter, das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so +seltsame Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme, die mir selbst +noch völlig unklar sind, drängen sich in meine Gedanken – und dabei habe +ich doch weder die Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist +auch eigentlich nicht meine Sache! + +Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern Abschied nahmen, +zogen schon dunkle Wolken auf und Nebel erhob sich. Ich sagte noch: +„Morgen werden wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete darauf nichts +– was hätte sie auch antworten sollen? Für sie war dieser Tag hell und +klar und kein Wölkchen würde auf ihr Glück einen Schatten werfen. + +„Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“ sagte sie endlich, „dann +komme ich nicht.“ + +Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht bemerkt haben, aber sie +kam doch nicht. + +Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war unsere dritte helle Nacht +... + +Indessen – wie doch Freude und Glück einen Menschen schön machen! Wie +atmet im Herzen die Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein +anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles froh sei! daß alles +lache! Und wie ansteckend ist diese Freude! Gestern war in ihren Worten +soviel Zärtlichkeit und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ... Wie +aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und lieb! wie sie mich +ermunterte und mein Herz erquickte! Oh, wieviel süße Schelmerei vor +lauter Glück! Und ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß +sie ... + +Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken? Wie konnte ich so blind +sein, wo ich doch wußte, daß alles schon einem anderen gehörte und wo +ich mir doch hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe ... +ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als ein Ausdruck ihrer +Freude über das bevorstehende Wiedersehen mit ihm und ihr Wunsch, an +diesem Glücke auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich +zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich warteten, da +ward sie doch traurig und bekümmert und verzagt. Ihre Bewegungen und +ihre Worte waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt, nicht +mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise verdoppelte sie dann +ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit gegen mich, und es war mir, als +wolle sie alles, was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil es +vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich +wenigstens mir schenken. Und zitternd für ihr eigenes Glück, voll Angst +und Sehnsucht begriff sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich _sie_ +liebte, und etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie. Denn +wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir das Unglück anderer +besser nachfühlen, und das Gefühl zerstreut sich nicht so, sondern +sammelt sich ... + +Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich die Stunde des +Wiedersehens kaum hatte erwarten können. Ich ahnte aber noch nicht, was +ich in dieser Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich voraus, +wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor Freude, denn sie +erwartete die Antwort. Und die Antwort, die sollte er selbst bringen ... +daß er auf ihren Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war sie +fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde vor mir zur Stelle. +Anfangs lachte sie über alles, fast über jedes Wort, das ich sprach. Ich +wollte weitersprechen, doch plötzlich – schwieg ich. + +„Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie, „– und mich so freue, +Sie zu sehen? – weshalb ich Sie heute so liebe?“ + +„Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte. + +„Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt haben. Ein anderer +zum Beispiel hätte doch an Ihrer Stelle angefangen, mich zu beunruhigen +und zu belästigen und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie aber +sind so nett und lieb!“ + +Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast aufgeschrien hätte. Und +dann lachte sie wieder. + +„Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“ fuhr sie nach einer Weile +sehr ernst fort. „Ich glaube wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt +hat. Was würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei mir wären? +Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel Güte Sie mich lieben! Wenn +ich verheiratet bin, werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich +werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“ + +Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich schmerzvolle Trauer, doch +zugleich regte sich auch so etwas wie ein Lachen in meiner Seele. + +„Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen im Herzen, denn +Sie fürchten innerlich doch, daß er nicht kommen wird.“ + +„Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich, so würden Ihr Unglaube +und Ihre Vorwürfe mich wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben +Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich noch lange grübeln +kann. Doch das werde ich nachher tun; jetzt aber will ich Ihnen +gestehen, daß Sie die Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie +nicht – ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als Erwartung +und fühle und höre und nehme alles nur so von ungefähr ... Doch genug +davon, reden wir nicht mehr von Gefühlen ...“ + +Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit kam uns ein +Fußgänger entgegen. Wir zuckten beide zusammen, sie hatte fast +aufgeschrien. Ich zog meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und +machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen. Doch wir täuschten uns: +es war ein Fremder, der ruhig vorüberging. + +„Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren Arm zurück?“ fragte sie, +indem sie wieder meinen Arm nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm +Arm in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir einander +lieben.“ + +„Wie wir einander lieben!“ rief ich. + +– „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im stillen, „wie viel du mit +diesem Wort gesagt hast! Bei solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz +wohl erfrieren ... und die Seele ist dann tottraurig ... Deine Hand ist +kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß wie Feuer. Wie blind du bist, +Nasstenka! ... Oh! wie unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch +zuweilen sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“ + +Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß ich sprechen mußte, +ob ich wollte oder nicht. + +„Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie, was heute den ganzen Tag +mit mir gewesen ist?“ + +„Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell! Warum haben Sie denn bis +jetzt geschwiegen!“ + +„Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt, den Brief bei +Ihren guten Leuten abgegeben hatte, da ... da ging ich nach Hause und +legte mich schlafen ...“ + +„Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend. + +„Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend, denn die +dummen Tränen wollten mir mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte +erst eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen, aber es war +mir, als hätte ich gar nicht geschlafen. Ich weiß nicht, was mit mir +war. Und als ich herkam, da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles +zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben, als +müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl von nun an ewig mich +beherrschen, als müßte ein Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als +sei das ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte, da war +es mir, als erinnerte ich mich eines musikalischen Motivs, das ich +einmal vor langer Zeit gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und +es schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus meiner Seele +hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“ + +„Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka, „wie kommt denn das? Ich +begreife kein Wort.“ + +„Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen Eindruck irgendwie +wiedergeben ...“ begann ich mit trauriger Stimme, in der sich aber doch +noch Hoffnung verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte. + +„Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“ sagte sie schnell – in +einem Augenblick hatte sie alles erraten, die Schelmin! + +Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig. Sie nahm meinen +Arm, lachte, erzählte, wollte unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge, +und jedes verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und übermütiges +Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu ärgern, und plötzlich begann sie +zu kokettieren. + +„Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert es mich doch, daß Sie +sich gar nicht in mich verliebt haben. Da werde einer jetzt klug aus den +Menschen! Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch wenigstens +das anerkennen, daß ich so harmlos und offenherzig bin. Ich sage Ihnen +alles, alles, gleichviel was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf +fährt.“ + +„Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als fernher der erste +gemessene Schlag der Turmuhr erklang. + +Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie zählte jeden Schlag. + +„Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig. + +Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und die Schläge hatte +zählen lassen. Und ich verwünschte mich ob der Bosheit, die mich +angewandelt. Es tat mir leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein +Vergehen gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und Gründe für +sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene Beispiele an, bewies +und folgerte: und wirklich ließ sich niemand leichter überzeugen, als +sie in diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen Umständen +mit Freuden jeden Trost anhören und selbst noch für den Schatten einer +Rechtfertigung dem anderen dankbar sein würde. + +„Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich immer mehr für ihn +einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen von der Klarheit meiner +Beweise war, „er konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre +Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen, Nasstenka, so daß auch +ich die Zeitschätzung ganz vergaß ... Bedenken Sie doch nur: er hat ja +kaum erst den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß er +verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß er schreiben wird – +dann können Sie den Brief doch gar nicht früher bekommen, als morgen. +Ich werde in aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen. +Und überdies können wir ja noch tausend andere Wahrscheinlichkeiten +annehmen – sagen wir zum Beispiel: er ist nicht zu Hause gewesen, als +der Brief kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen. +Es ist doch alles möglich.“ + +„Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich habe daran gar +nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“ bestätigte sie mit +bereitwillig nachgiebiger Stimme, aus der aber doch, wie eine ärgerliche +kleine Dissonanz, ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war. + +„Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie gehen morgen möglichst +früh zu jenen guten Leuten, und wenn Sie dort etwas erhalten, so +benachrichtigen Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“ +Und sie nannte mir ihre Adresse. + +Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir, und dabei schien sie +doch eine gewisse Schüchternheit anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir +auch aufmerksam zu ... als ich mich aber mit einer Frage an sie wandte, +da schwieg sie und kehrte verwirrt das Köpfchen von mir fort. Ich beugte +mich ein wenig vor, um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so +war’s: sie weinte. + +„Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind Sie sind! Was für ein +kleines unvernünftiges Kind! ... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen +Sie denn?“ + +Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen, aber ihr Gesicht +zuckte und ihre Brust wogte immer noch. + +„Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie nach längerem Schweigen. +„Sie sind so gut, daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das nicht +herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben in den Sinn kam? Ich verglich +Sie beide. Warum ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie Sie? Er +ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn mehr, als ich Sie liebe.“ + +Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es schien, auf eine +Bemerkung von mir. + +„Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht nicht ganz +verstehe, und ich kenne ihn ja auch noch gar nicht so gut. Aber wissen +Sie, es ist mir, als hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war +immer so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß ja, das war nur +der äußere Schein. In seinem Herzen ist sogar noch mehr Zärtlichkeit, +als in meinem ... Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen Sie, +als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber doch ist es so, als +stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch, und das ist dann doch wieder so, +als wären wir einander nicht gleich, nicht ebenbürtig?“ + +„Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur, daß Sie ihn mehr als +alles andere in der Welt lieben, und sogar viel mehr als sich selbst.“ + +„Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka naiv, „aber wissen +Sie, was mir jetzt wieder in den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt +nicht mehr von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe darüber +eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie also und sagen Sie mir: +warum sind wir nicht alle wie Brüder zueinander? Warum kommt es einem +selbst beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas vor dem +anderen und verschweige es ihm? Warum sagt nicht ein jeder ganz offen, +was er gerade auf dem Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte +nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein, als sei er viel +kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit ist, und es ist fast, +als fürchteten die Menschen, sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre +Gefühle ohne weiteres voreinander äußerten ...“ + +„Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das geschieht doch aus sehr +verschiedenen Gründen,“ versetzte ich, während ich mich gerade in diesem +Augenblick mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle +verbarg. + +„Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung. „Sie zum +Beispiel sind nicht so wie die anderen! Ich ... verzeihen Sie, ich weiß +nicht, wie ich Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es +scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade jetzt ... ja, es +scheint mir, daß Sie mir ein Opfer bringen,“ sagte sie fast zaghaft und +ihr Blick streifte mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so +zu Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und habe noch wenig +gesehen im Leben, und wirklich: ich verstehe mich oft gar nicht richtig +auszudrücken,“ fügte sie mit einer Stimme hinzu, die von einem +verborgenen Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln zwang, +„aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen dankbar bin und daß ich +dies selbst weiß und empfinde ... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich +machen! Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer erzählten, das +ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das hat doch nichts mit Ihnen zu +tun! Sie werden gesund werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz +anderer Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben. Sollten Sie +aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen alles Glück! Derjenigen aber, +die Sie lieben, brauche ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird +sie ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein Weib, und +darum können Sie mir glauben, wenn ich es Ihnen sage ...“ + +Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen Händedruck. Auch ich +war zu erregt, um noch sprechen zu können. Wir schwiegen beide. + +„Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie endlich und hob den +Kopf. „Es ist zu spät ...“ + +„Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem, überzeugtem Tone. + +„Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein, daß es heute noch +zu früh war, und daß er erst morgen kommen wird. Nun, dann also auf +Wiedersehen: morgen! Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen. +Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt kommen, und Sie – kommen +Sie gleichfalls unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann +alles erzählen.“ + +Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die Hand und sagte, +indem sie mir mit klarem Blick in die Augen sah: + +„Von nun an werden wir doch immer beisammen bleiben, nicht wahr?“ + +Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie einsam ich jetzt bin! + +Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt ich es in meinem +Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete mich an und ging trotz des +Regenwetters. Ich war dort und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand +ich auf und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und zwei +Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um, ohne nach ihren Fenstern +hinaufgesehen zu haben. Ich kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich +sie bisher noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig! +Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann würde ich die ganze Nacht +lang dort umhergehen ... + +Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie mir alles erzählen. + +Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren Brief nicht geantwortet +hatte: wenigstens heute nicht. Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in +der Ordnung. Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst kommen +... + + + Die vierte Nacht. + +Mein Gott, daß es so enden würde, so! + +Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte sie schon von +weitem: sie stand wie damals, als ich sie zum ersten Male sah, damals, +am Kai, und stützte sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich +ihr näherte. + +„Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine Erregung zu bezwingen. + +Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach mir um. + +„Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“ + +Ich sah sie verständnislos an. + +„Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den Brief gebracht?!“ Ihre Hand +griff nach dem Geländer. + +„Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam. „Ist er denn noch +nicht hier gewesen?“ + +Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange starr an. Ich hatte ihre +letzte Hoffnung vernichtet. + +„Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender Stimme und zuckenden +Lippen. „Gott mit ihm, wenn er mich so verläßt ...“ + +Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu mir aufsehen, vermochte es +aber nicht. Eine Weile stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann +wandte sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das Geländer +und brach in Tränen aus. + +„Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte ich sie zu trösten, +doch hatte ich beim Anblick ihres Kummers nicht mehr die Kraft, +fortzufahren – und was sollte ich ihr denn auch sagen? + +„Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend, „reden Sie nicht +von ihm, sagen Sie nicht, daß er noch kommen wird, und es nicht wahr +sei, daß er mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam, wie +er es getan! Und warum, warum? Sollte denn wirklich etwas Schlechtes in +meinem Brief gewesen sein, in diesem unseligen Brief? ...“ + +Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich glaubte, mein Herz müsse +brechen vor Mitleid. + +„Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann sie wieder. + +„Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens geantwortet hätte, +geschrieben, daß er mich nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so +– nicht eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen! Wie leicht +es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses Mädchen zu +verletzen, dessen einzige Schuld nur darin besteht, ihn zu lieben! Oh, +was ich in diesen drei Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! +Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten zu ihm +gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt habe, geweint, daß ich ihn +um ein wenig, nur ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein, +wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre dunklen Augen +sprühten – „es ist ja nicht möglich! Es _kann_ doch nicht so sein! Das +ist doch unmenschlich! Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie! +Vielleicht hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht weiß er bis +jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es doch nicht möglich, urteilen +Sie doch selbst, sagen Sie mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich +kann es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen so barbarisch roh +behandeln, wie er mich behandelt hat! Kein einziges Wort auf meinen +Brief! Selbst mit dem unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger +um! Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt haben?“ wandte +sie sich plötzlich an mich. „Wie? was meinen Sie?“ + +„Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen zu ihm gehen, in Ihrem +Namen.“ + +„Und?“ + +„Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles erzählen.“ + +„Und dann?“ + +„Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie nicht nein, Nasstenka, +sagen Sie nicht nein! Ich werde ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu +achten, er soll alles erfahren, und wenn er ...“ + +„Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort. „Lassen Sie es gut +sein. Von mir wird er weiter kein Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn +nicht mehr, ich liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ... ges ... +sen ...“ + +Sie sprach nicht weiter. + +„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen Sie sich hier auf die +Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr zu und führte sie ein paar Schritte +weiter, auf die Bank zu ... + +„Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal so. Diese Tränen – die +werden schon versiegen! Was glauben Sie denn – daß ich mich umbringen +werde, mich etwa ertränken werde? ...“ + +Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte sprechen, aber ich konnte +nicht. + +„Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine Hand. „Sagen Sie: Sie +würden doch nicht so gehandelt haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen, +das selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches dummes Herz +nicht zu meistern verstand – mit einem Hohnlachen antworten? Sie würden +sie doch sicherlich geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie +allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und daß sie sich nicht +in acht zu nehmen und vor der Liebe zu Ihnen zu bewahren verstand, und +daß das Ganze nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ... O +mein Gott! mein Gott!“ + +„Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung noch langer +zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern mich! Sie zerreißen mein Herz, +Sie töten mich, Nasstenka! Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß +endlich sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem Herzen heraus +muß.“ + +Während ich das sagte, erhob ich mich von der Bank. Sie nahm meine Hand +und sah mich verwundert an. + +„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich. + +„Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich entschlossen. +„Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was ich Ihnen jetzt sagen werde, ist +alles Unsinn, ist unmöglich und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals +verwirklichen wird, aber ich kann nicht länger schweigen – bei allem, +was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie und bitte ich Sie, mir im voraus +zu verzeihen! ...“ + +„Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon aufgehört, zu weinen, und +sah mich unverwandt an. In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame +Neugier. „Was haben Sie nur?!“ + +„Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber ich – ich liebe Sie, +Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie, +ob Sie so zu mir sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch, ob +Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen will ...“ + +„Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei? Ich weiß es doch schon +lange, daß Sie mich lieben, es schien mir nur immer, daß Sie mich bloß – +so ... einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“ + +„Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt aber, jetzt! ... mit +mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu +ihm gingen. Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka, denn +er liebte damals niemand. Sie aber lieben ...“ + +„Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie nicht. Aber, hören Sie, +warum denn das ... oder, nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ... +Gott! Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“ + +Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre Wangen färbten sich +purpurn und sie sah zu Boden. + +„Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich denn? Ich bin schuld, +ich habe da irgend etwas mißbraucht ... Oder nein! nein, Nasstenka, ich +habe keine Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn mein +Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann Sie doch damit nicht +kränken oder gar beleidigen! Ich war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin +ich Ihr Freund – ich habe nichts verraten und habe keine Treulosigkeit +begangen. Da sehen Sie, da rollen mir die Tränen über die Wangen, +Nasstenka. Mögen sie rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von +selbst werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“ + +„Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und sie wollte mich +förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach, mein Gott!“ + +„Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann jetzt nicht mehr lange +bleiben und Sie werden mich auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen +alles sagen – und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich Sie +liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt und hätte nicht +angefangen, Sie jetzt in dieser Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu +quälen. Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten! Sie fingen +an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie sind an allem schuld, ich +aber bin unschuldig. Sie können mich nicht so von sich stoßen ...“ + +„Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort, nein!“ beteuerte +Nasstenka, und sie gab sich die größte Mühe, ihre Verwirrung zu +verbergen. + +„Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von Ihnen fortlaufen. Ich +werde auch fortgehen, nur muß ich vorher alles sagen, denn als Sie hier +sprachen, als Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer Qual, und +das, weil ... nun, weil – ich werde es aussprechen, Nasstenka –, weil +man Sie verschmäht, da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für +Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so bitter weh, daß +ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen konnte, daß mir das Herz darüber +schier brechen wollte, und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich +mußte sprechen, Nasstenka, ich _mußte_ sprechen! ...“ + +„Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen Sie ruhig so zu mir!“ +sagte Nasstenka plötzlich mit einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie +vielleicht in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ... +sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären. Ich werde Ihnen +alles erzählen!“ + +„Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach nur Mitleid mit mir, +Kind! Nun! Was verloren ist, ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich +nicht zurücknehmen. Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt alles. Dies +wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so weit wäre alles erledigt, jetzt +hören Sie weiter. Als Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir, +– ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich dachte! – ich +dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie ... nun, mit einem Wort: daß +Sie auf irgendeine Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das +habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch vorgestern +schon – dann würde ich es unbedingt so gemacht haben, daß Sie mich +liebgewonnen hätten. Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt, +daß Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun weiter? Ja, das +ist nun fast alles, was ich sagen wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was +dann wäre, wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das! Also hören +Sie, meine Freundin – denn meine Freundin sind Sie deshalb doch nach wie +vor –: ich bin natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering, +doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß nicht, ich rede immer von +ganz anderen Dingen, aber das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –, +nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß Sie, auch wenn +Sie ihn, den ich nicht kenne, immer noch weiter lieben sollten, doch nie +merken würden, daß meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden +bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß neben Ihnen ein +dankbares, oh, so dankbares Herz schlägt, ein heißes Herz, das für Sie +... Ach, Nasstenka, Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“ + +„Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß Sie weinen!“ sagte +Nasstenka und stand schnell von der Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie, +weinen Sie nicht, so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem +Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt. Ich werde Ihnen +vielleicht etwas sagen ... Wenn er mich schon verlassen und vergessen +hat, so ... obschon ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht +verheimlichen und will Sie nicht täuschen – aber hören Sie, und dann +antworten Sie mir. Wenn ich zum Beispiel Sie liebgewönne, das heißt, +wenn ich nur ... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich bedenke, +wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen getan haben muß, als ich Sie +dafür lobte, daß Sie sich nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie +konnte ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so dumm sein, +wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich habe mich entschlossen, und ich +werde Ihnen alles sagen ...“ + +„Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich werde jetzt fortgehen von +Ihnen, das wird das beste sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da +machen Sie sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig +gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem Leid ... Ich bin +natürlich schuld daran, Nasstenka, also – leben Sie wohl!“ + +„Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an: können Sie warten?“ + +„Warten? Worauf warten?“ + +„Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß vergehen, das kann gar +nicht – nicht vergehen; es vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ... +Wer weiß, vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich hasse +ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat, während Sie hier mit mir +geweint haben ... und Sie, Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie +er es getan, denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt nicht +geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich selbst liebe ... Ja, +liebe! so liebe, wie Sie mich lieben. Ich habe es Ihnen doch schon +einmal gesagt, Sie haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie +besser sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil ... weil er +...“ + +Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren Kopf an meine +Schulter, beugte ihn aber immer mehr, bis er an meiner Brust lag: und +dann begann sie bitterlich zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie, +ich redete ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie +drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen: „Warten Sie, warten +Sie noch ein wenig. Es wird gleich vergehen ... ich höre ja schon auf +... Ich will Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese Tränen ... +das ist nur so – von der Schwäche, warten Sie, bis es vergeht ...“ + +Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf, wischte noch die +letzten Tränenspuren von den Wangen und wir gingen. Ich wollte sprechen, +aber sie bat mich immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken +zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie sich zusammen und +begann: + +„Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer Stimme, aus der +aber plötzlich ein eigenes Gefühl klang und mein Herz so traf, daß es +wie in einem süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich +unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so schnell und leicht +vergessen könne und untreu werde ... Ich habe ihn ein ganzes Jahr +geliebt und ich schwöre bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit +einem Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das mißachtet: er hat +sich mit mir nur einen Scherz erlaubt – Gott mit ihm! Aber es hat mich +doch verletzt und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr, +denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig, was mich +versteht und was anständig ist; denn ich selbst bin so, er aber ist +meiner unwürdig, – nun, noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als +wenn ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also – jetzt +hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter Freund,“ fuhr sie fort, indem +sie mir die Hand drückte, „wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe +nur eine Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann das +alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses eintönige Leben führte und +ewig an Großmutters Kleid angesteckt war? Vielleicht ist es mir +bestimmt, einen ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit mir +hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden wir nicht mehr davon,“ +unterbrach sich Nasstenka stockend und atemlos vor Erregung, „ich wollte +Ihnen nur sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl ich ihn +liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir trotzdem sagen ... Ich meine, +wenn Sie fühlen und glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die +frühere aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie soviel Mitleid +mit mir haben und mich jetzt nicht allein meinem Schicksal überlassen +wollen, ohne Trost und Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben +wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich Ihnen, daß meine +Dankbarkeit ... daß meine Liebe Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen +Sie daraufhin meine Hand nehmen?“ + +„Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen erstickten meine Stimme. +„Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“ + +„Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug sein!“ sagte sie schnell, +in augenscheinlicher Hast, und sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt +ist alles gesagt, nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und +ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort mehr davon sprechen! +Warten Sie ... schnell, erbarmen Sie sich – sprechen Sie von irgend +etwas anderem, um Gottes willen! ...“ + +„Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt glücklich, ich ... Gut, +Nasstenka, gut, sprechen wir von etwas anderem, schnell, schnell! ja! +Ich bin bereit.“ + +Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen sollten, wir lachten und +weinten und sprachen tausend Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald +gingen wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die Straße hinüber und +blieben stehen, bald kehrten wir wieder um und gingen zum Kai: wir waren +wie die Kinder ... + +„Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal, „aber ... Nun, ich bin, +versteht sich, Sie wissen es ja, Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme +jährlich nur tausendzweihundert Rubel, aber das macht ja nichts ...“ + +„Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension, so braucht sie von +uns nichts. Wir müssen doch Großmutter zu uns nehmen.“ + +„Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns nehmen ... Aber meine +Matrjona ...“ + +„Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“ + +„Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler hat sie: sie hat nämlich +gar kein Vorstellungsvermögen, Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie +begreift nur, was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet nichts +...“ + +„Natürlich nicht, die können beide zusammen leben. Nur müssen Sie schon +morgen zu uns kommen.“ + +„Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“ + +„Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben noch ein Zimmer: das +steht jetzt leer. Wir hatten eine Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige, +aber sie ist ausgezogen und abgereist, und Großmama will nun, das weiß +ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich fragte sie: ‚Warum denn +gerade einen jungen Mann?‘ Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser, +man ist auch sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb nicht +zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten will.‘ Da wußte +ich denn, daß sie es gerade deshalb will ...“ + +„Ach, Nasstenka! ...“ + +Und wir lachten beide. + +„Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen Sie denn? Ich habe ganz +vergessen, zu fragen.“ + +„Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines gewissen Barannikoff.“ + +„Das ist so ein großes Haus, nicht?“ + +„Ja, ein großes Haus.“ + +„Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur, wissen Sie, ziehen +Sie aus und kommen Sie recht bald zu uns ...“ + +„Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde dort wohl noch ein wenig +für die Wohnung, aber das schadet nichts ... Ich bekomme bald mein +Gehalt ...“ + +„Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu verdienen; ich werde +noch dazulernen, was mir fehlt, und dann kann ich Unterricht geben ...“ + +„Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich werde bald Zulage +erhalten, Nasstenka ...“ + +„Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter sein!“ + +„Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören den Barbier von Sevilla, +denn der wird bald wieder gegeben werden.“ + +„Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder nein, lieber nicht zum +Barbier von Sevilla, sondern wenn etwas anderes gegeben wird ...“ + +„Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich, das wird auch viel +besser sein, ich dachte im Augenblick nicht daran ...“ + +Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein Rausch – als hielte uns +ein Nebel umfangen und als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah. +Bald blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf einem Fleck, +bald gingen wir wieder und gingen Gott weiß wie weit, ohne es zu +bemerken, immer unter Lachen und Weinen ... Bald wollte Nasstenka +plötzlich unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten +und wir machten uns schon auf den Weg; nach einer Viertelstunde aber +bemerkten wir plötzlich, daß wir wieder auf unserer Bank am Kai +angelangt waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen rollte über +ihre Wange – ich sah sie erschrocken und verzagt an ... Da drückte sie +mir schon von neuem die Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter +... + +„Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß ich nach Hause +gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“ sagte Nasstenka endlich +entschlossen, „wir dürfen nicht gar zu kindisch sein!“ + +„Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch nicht mehr. Ich gehe +überhaupt nicht nach Hause.“ + +„Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber Sie müssen mich +noch begleiten ...“ + +„Selbstverständlich!“ + +„Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören Sie?“ + +„Nein, diesmal nicht ...“ + +„Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich nach Hause gehen!“ + +„Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“ sagte ich lachend ... + +„Nun, gehen wir!“ + +„Gehen wir.“ + +„Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie hinauf! Morgen werden wir +einen wundervollen Tag haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie +nur den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich verdecken ... +sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet am Rande vorüber ... Sehen +Sie doch, sehen Sie! ...“ + +Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den Himmel – sie stand wie +erstarrt neben mir und dann schmiegte sie sich plötzlich mit einer +seltsamen Verzagtheit an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und +ihre Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ... noch schwerer +stützte sie sich auf mich. + +In diesem Augenblick ging ein junger Mann an uns vorüber – er sah uns +scharf an, zögerte, blieb stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein +Herz erbebte ... + +„Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise. + +„Das ist _er_!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd an meinen Arm. +Ich hielt mich kaum auf den Füßen. + +„Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es da plötzlich hinter uns +und zugleich trat der junge Mann wieder ein paar Schritte näher ... + +Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie zusammenfuhr! Wie sie sich +von mir losriß und ihm entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm +hinüber, stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand gereicht, +kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen, da befreite sie sich schon +von ihm und ehe ich mich dessen versah, stand sie wieder vor mir, +umschlang mit beiden Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen +Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen, lief sie zu ihm +zurück, erfaßte seine Hände und zog ihn fort. + +Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren sie meinen Blicken +entschwunden. + + + Der Morgen. + +Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag war unfreundlich: es +regnete und die Tropfen schlugen in eintöniger Wehmut an meine +Fensterscheiben; im Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen, +und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich schwindelte und das Fieber +einer Erkältung schlich durch meine Glieder. + +„Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote hat ihn gebracht,“ +sagte Matrjona. + +„Ein Brief! Von wem?“ + +„Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen Sie nach, vielleicht +steht es drin, von wem er ist.“ + +Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr. + + „Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb mir Nasstenka. „Auf + den Knien bitte ich Sie, mir nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie + mich selbst getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ... Der + Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor Qual. Verzeihen Sie, oh, + verzeihen Sie mir! ... + + Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für Sie empfand, empfinde + ich auch jetzt noch: ich sagte Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich + liebe Sie auch jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr, + als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich lieben könnte! Oh, + wenn Sie und er doch ein Mensch wären! + + Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun würde! Ich weiß, daß + Sie nun schwer zu tragen haben und daß Sie traurig sind. Ich habe + Sie gekränkt und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen doch – wenn + man liebt, gedenkt man der Kränkung nicht lange. Sie aber lieben + mich! + + Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese Liebe. Denn in meiner + Erinnerung wird sie mich durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer + Traum, den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen kann. Nein, + nie werde ich vergessen, wie Sie mir so brüderlich Ihr Herz + offenbarten und in Ihrer Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes, + verwundetes annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu pflegen und + wieder gesund zu machen ... Wenn Sie mir verzeihen, wird die + Erinnerung an Sie sich verklären durch das Gefühl ewiger + Dankbarkeit, die in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese + Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen, denn mein Herz + ist treu. Es ist auch gestern nur zu dem zurückgekehrt, dem es von + jeher gehörte. + + Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu uns kommen, Sie werden uns + nicht verlassen, werden ewig unser Freund sein und mein Bruder ... + Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie mir Ihre Hand – ja? Sie + werden Sie mir entgegenstrecken, wenn Sie mir verziehen haben, nicht + wahr? Sie lieben mich doch unverändert? + + Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht, denn jetzt liebe ich + Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe würdig sein will, weil ich sie + verdienen will ... mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird + unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt, er hat + mich niemals vergessen ... Seien Sie nicht böse, daß ich von ihm + geschrieben habe. Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie + werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr? + + So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie mich nicht und behalten + Sie lieb Ihre + + Nasstenka.“ + +Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder, und Tränen traten mir +in die Augen; schließlich entfiel er meiner Hand und ich vergrub mein +Gesicht in den Händen. + +„Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte ich nach einer Weile +Matrjonas Stimme. + +„Was, Alte?“ + +„Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall runtergeholt, können +jetzt heiraten, wenn Sie wollen, können Gäste einladen, wenn’s Ihnen +einfällt, mir soll’s recht sein ...“ + +Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch _junge_ Alte, aber ich weiß +nicht, weshalb ich sie plötzlich mit erloschenem Blick, mit tiefen +Runzeln im Gesicht, alt und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich +weiß nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein Zimmer um +ebensoviel Jahre älter geworden sei wie sie. Die Farbe der Wände sah ich +verblichen, an der Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich +bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb es mir, als ich +durch das Fenster hinausblickte, schien, als ob das Haus gegenüber +gleichfalls gealtert sei, trübseliger und baufälliger geworden, die +Stukkatur von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig und +geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und schmutzig. + +Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der plötzlich durch die +Wolken brach, um sich gleich wieder hinter einer noch dunkleren +Regenwolke zu verstecken, so daß alles noch trüber, düsterer wurde ... +Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut und etwas Ödes, +Trauriges in ihr erblickt, etwa mich selbst, wie ich jetzt bin, nur um +fünfzehn Jahre älter, in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben +Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger geworden ist ...? + +Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein helles seliges Glück +mit dunkeln Wolken trüben, dir Vorwürfe machen, damit dein Herz sich +quäle und gräme und kummervoll poche, während es doch nichts soll als +jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt der zarten Blüten, die +du zur Trauung mit ihm in deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand +berühren ... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie! Möge dein Leben +Glück sein und so hell und lieb, wie dein süßes Lächeln, und sei +gesegnet für den Augenblick der Seligkeit und des Glücks, den du einem +anderen einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast! + +Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit! Ja, ist dann das nicht +genug für ein ganzes Menschenleben? ... + + + + + Das junge Weib + + + I. + +Ordynoff mußte sich eine neue Wohnung suchen, so ungern er es auch tat. +Die Frau, bei der er bis dahin als Zimmermieter gelebt, eine arme +bejahrte Beamtenwitwe, hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse +gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen, um in eine öde Provinz zu +ihren Verwandten zu reisen, und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf +ihres Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht hatte, bis zum +Ersten des nächsten Monats in der Wohnung zu bleiben, dachte mit +Bedauern an sein stilles Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand +ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken, dieses ihm lieb +gewordene Zimmer nun verlassen zu müssen. Er war arm, die Wohnung +übrigens für seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn schon am +Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen seine Mütze und ging, +um die Petersburger Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu +halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen waren, +namentlich nach solchen an älteren und schlechteren Häusern und +Mietskasernen, in denen er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen +armen Leuten ein Zimmer für sich zu finden. + +Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken anfangs auch +gewissenhaft bei der Sache, doch nach und nach wurde seine +Aufmerksamkeit von ganz anderen, ihm bis dahin völlig unbekannten +Empfindungen abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst nur +flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas Bestimmtes dabei zu +denken, bald jedoch aufmerksamer und schließlich mit ausgesprochener +Neugier. Die vielen Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose, +lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort begegnete, die +ungewohnte Umgebung – dieses ganze kleinliche Leben und alltägliche +Hasten nach Erwerb, das dem im tätigen Leben stehenden, stets +beschäftigten Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein +Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich einmal irgendwo +in ein warmes Nest zurückzuziehen, sich mit sich abzufinden und +zufrieden geben zu können – diese ganze schale Prosa und Langeweile +erweckte jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe, helle +Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten sich leicht, in seine Augen +trat der Glanz einer neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die +kalte, frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll leicht +zumute. + +Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames Leben geführt. Vor +etwa drei Jahren, nachdem er sein Examen bestanden und in gewissem Sinne +ein freier Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen alten kleinen +Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur vom Hörensagen gekannt, und hatte +lange gewartet, bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat, ihn +zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden. Dann trat Ordynoff in einen +hohen, dämmerigen, öden Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie +sie sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer Zeit +erhalten haben, und erblickte in ihm einen silberhaarigen, mit Orden +über und über behängten Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und +Kollege im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den Sohn, die +Vormundschaft übernommen hatte. Der Alte händigte ihm ein, was ihm noch +zukam. Die Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen Schulden +unter den Hammer gekommenen und noch von den Ureltern stammenden +Erbschaft. Ordynoff nahm das Päckchen gleichgültig in Empfang, +verabschiedete sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war ein +Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war nachdenklich und eine +seltsame, eigentlich ihm selbst unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine +Augen brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich erkältet +hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit seinen Mitteln etwa zwei +bis drei Jahre auskommen konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar +vier. Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder und erfüllte +die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins Mark drang. Er mietete im +ersten besten Hause ein kleines Zimmer – eben bei jener armen +Beamtenwitwe, die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in einer +Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte er dann wie ein +Einsiedler, ganz, als hätte er sich von aller Welt losgesagt. So kam es, +daß er in zwei Jahren vollkommen weltfremd geworden war. + +Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig kam es ihm auch gar +nicht zu Bewußtsein, daß es noch ein anderes Leben gab – ein +rauschendes, lautes, wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben, +eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen war. Natürlich wußte +er, daß es ein solches Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht +wissen sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals auf. +Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt; doch jetzt, nachdem er +herangewachsen, hatte diese Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt +angenommen. Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen, +unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines Menschen +erschöpfen, und die solchen Wesen, wie Ordynoff war, keinen auch noch so +geringen Platz in der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine +Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte sie seine +Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem berauschenden Gift den Schlaf und +seine Seelenruhe, nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft, die +niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube einzudringen: doch +Ordynoff gewahrte alles das gar nicht in seinem Rausche, und wollte es +auch nicht gewahren. Er war jung und vorläufig verlangte er nach nichts +anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren Welt gegenüber völlig +zum Kinde und für immer unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu +veranlassen, wenn das einmal erforderlich sein sollte, um für sich +selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen. Die Wissenschaft +ist für manch einen ein Kapital, das er fest in Händen hat; die +Leidenschaft Ordynoffs dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete +Waffe. + +Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen, zu ergründen und +Wissen in sich aufzunehmen, als daß es ganz bestimmte Gründe und +Schlußfolgerungen waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es bei +ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte, selbst mit den +kleinsten Dingen. Schon als Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da +er seinen Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern hatte er +früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt nicht mehr; von den +Kameraden aber mußte er wegen seines seltsamen menschenscheuen Wesens +gar manche kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn dann erst +recht menschenscheu und verschlossen machte. Doch seinen einsamen +Beschäftigungen lag niemals, auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein +System zugrunde: statt dessen leitete ihn einzig und allein die +Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des Künstlers. Er schuf +sich eine eigene Anschauung der Dinge; sie entwickelte und formte sich +in ihm im Laufe von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich, +vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon wundervoll +beseligend, seine neue Idee, die in einer ebenso neuen, gleichsam +erleuchtenden Form Gestalt gewinnen sollte; und indem sie in dieser +Gestalt aus ihm hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele. +Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre Selbständigkeit +und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung der Wahrheit erschien: mit +allen seinen Kräften spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte, +die sich vorerst freilich noch in ihm bildete, denn der Zeitpunkt der +Gestaltung selbst war ja noch weit, vielleicht sehr weit entfernt, und +vielleicht war diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich! + +Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder Einsiedler, der +plötzlich aus seiner stummen Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten +ist. Alles erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt, die +hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd geworden, daß er nicht +einmal daran dachte, sich über seine sonderbaren Empfindungen zu +wundern. Es war vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar +nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar eine ganz +eigenartig berauschende Empfindung der Freude, ähnlich dem Gefühl, wie +es ein Hungriger empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder zu +essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich seltsam erscheinen muß, +daß eine so geringfügige Änderung in der äußeren Lebenslage, wie ein +Wohnungswechsel, einen Petersburger, und wäre er selbst ein Ordynoff, +noch derart aus dem Geleise bringen konnte. Freilich ist zu +berücksichtigen, daß er all diese Jahre hindurch fast nur in seinem +Zimmer verbracht hatte, und jedenfalls niemals aus einem solchen oder +ähnlichen Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit für die +Umgebung erheischte, durch die Straßen der Stadt gegangen war. + +Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser Weise durch die +Straßen zu schlendern. Alles sah er an, auf alles horchte er hin. + +Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen den Bildern, die +sein Auge sah, wie in einem Buch zwischen den Zeilen. Alles machte +seinen besonderen Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit +denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an, schaute er sich +hinein in die Physiognomie der ganzen Umgebung, horchte er auf das +Gesumm und Gerede und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug, – +ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der Stille einsamer +Nächte gekommen war, jetzt an allem, worauf er stieß, auf ihre +Richtigkeit hin prüfen wollen. Und manche Kleinigkeit, die andere sonst +wohl übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen Gedanken, +und zum erstenmal im Leben ärgerte er sich darüber, daß er sich so lange +in seiner Zelle lebendig begraben hatte. Hier geschah alles viel +schneller: sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der +bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit fast schon mehr +ein bloßes Reagieren auf den angespannten und begeisterten Willen zur +Arbeit geworden war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und doch +ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er fast unbewußt das +Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen in dieses für ihn fremde +Leben, das er bisher nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger +gesagt, mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich +begann sein Herz schneller zu schlagen, fast wie in einer Art +Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens. Immer forschender sah er +die Menschen an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber alle fremd +und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken beschäftigt ... Da +schwand allmählich auch Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat +näher an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck, und dann +kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche Grauen einer großen +Ehrfurcht. + +Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden Flut der neuen Eindrücke, +wie ein Kranker, der freudig zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald +erschöpft vom Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten +bunten Bildern des rastlosen Lebens und den wechselnden Eindrücken die +Augen schließt und niedersinkt. Bang und traurig ward ihm zumute. Er +fing an, für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar für +die Zukunft. + +Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam ihm plötzlich in den Sinn, +daß er ja doch sein ganzes Leben lang allein gewesen war, daß es keinen +einzigen Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals +Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige der Vorübergehenden, mit +denen er unter irgendeinen Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, +sahen ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm, daß sie ihn +für einen Verrückten oder zum mindesten für irgendeinen Sonderling +hielten – was er ja übrigens auch war. Er erinnerte sich, daß ihm +eigentlich schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und in seiner +Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten, hauptsächlich wohl seines +nachdenklichen und eigensinnigen Charakters wegen. Er wußte, daß das +tiefe Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals ein Gefühl +der seelischen Gleichheit zwischen ihm und den anderen, oder auch dem +einzelnen, dem sein Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es von +allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde: und das hatte ihn +denn schon als Kind unter seinen Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es +ihm wieder ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von jeher +und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und daß man sich niemals um +seine Einsamkeit gekümmert hatte. + +In Gedanken versunken war er weitergegangen, ohne auf den Weg zu achten, +bis er schließlich merkte, daß er sich in einem vom Zentrum weit +entfernten Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren +Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und machte sich dann wieder +auf den Weg. Von neuem streifte er umher, ging durch viele Straßen, über +Plätze, an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen graue +windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte Gebäude großer Fabriken, +rot, rauchgeschwärzt, unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die +Umgebung rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde, düster und +feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff diesen Eindruck. Es +wurde Abend. Aus einer langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an +dem eine Pfarrkirche lag. + +In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst war beendet und +die Kirche schon ganz leer; nur zwei alte Weiber knieten noch nahe beim +Eingang. Der Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem Haar, +löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne ergossen sich von oben +durch ein schmales Fenster der Kuppel in einem Lichtstrom durch das +Innere der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit flimmerndem +Glanz umwoben. Die Sonne sank und das Licht wurde immer schwächer, doch +je mehr die tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um so +leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten +Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen der Wachskerzen und +Öllämpchen zuckend brannten. Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung +tiefer Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl plötzlich +aus der Vergessenheit hervorbrach und ihn nun überflutete, in der +dunkelsten Ecke an die Mauer gelehnt und vergaß dort für einen +Augenblick sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen Schall +von Schritten, die sich gemessen vom Eingang her näherten. Er sah auf +und wandte den Kopf, kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen +erblickt, da bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier. Es +waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der Alte war hoch von Wuchs, +noch stramm und rüstig, aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren +nach konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten Kaufmann +halten. Er trug einen langen, schwarzen, mit Pelz gefütterten Mantel +lose über die Schultern geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück – +darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten zugeknöpften +russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten mit zur Nationaltracht +gehörte. Um den Hals war nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In +der Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler, halb schon +ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter den überhängenden +buschigen Brauen glühte ein feuriger, fieberhaft erregter, dabei +hochmütiger und scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig Jahre +alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie trug einen hellblauen, mit +kostbarem Fell verbrämten kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes +Atlastuch, das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war. Sie ging +mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit, die seltsam ergreifend +aus ihrer ganzen Erscheinung sprach, spiegelte sich in den zarten Linien +ihrer kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger Verklärung +wieder. Es war etwas Sonderbares an diesem unerwarteten Paar. + +Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen und verneigte sich nach +allen vier Seiten, obschon die Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch +seine Begleiterin. Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie zum +großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die Kirche geweiht war, und +dessen mit Edelsteinen besetzte goldene Bekleidung und reiche Einfassung +durch den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem Glanz +erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch hier und da etwas zu +schaffen machte, grüßte den Alten mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den +Gruß jedoch nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde warf +sich das junge Weib auf die Knie nieder und berührte mit der Stirn den +Fußboden. Der Alte nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des +Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann vernahm man dumpfes +Schluchzen in der Kirche. + +Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der Szene, die sich vor +seinen Augen abspielte, und erwartete mit Ungeduld die Beendigung ihres +Gebets. Nach einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller +Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte zusammen und +trat unwillkürlich einen Schritt vor. Sie hatte ihre Hand bereits dem +Alten gereicht und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen in +ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider mit den langen dunklen +Wimpern senkte, rollten diese Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen. +Auf ihren Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte in +ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen Angst und +eines gleichsam mystischen Grauens. Zaghaft schmiegte sie sich an den +Alten, und man sah, daß sie vor Erregung zitterte. + +Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt süßen Gefühl, das wie +ein Wille war, dazu getrieben, ging Ordynoff den beiden nach – und unter +dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte sah ihn +feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm hin, jedoch so +teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr anmerkte, wie ein einziger und +ganz anderer, fernliegender Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte +ihnen in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen, weshalb +er es tat. Es war schon dunkel geworden. + +Der Alte und das junge Weib gingen in eine lange, breite, schmutzige +Straße, die geradeaus zur Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden, +billigen Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten +Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen sie in eine schmale lange +Sackgasse ein, die zwischen langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen +Mietskaserne führte, durch deren Höfe man aber wieder auf eine andere, +gleichfalls große und belebte Straße gelangen konnte. Sie näherten sich +bereits dem Hause. Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick +maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich folgte. Ordynoff +blieb wie gebannt stehen; sein Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr +sonderbar. Da sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle er +sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung nicht verfehlt +habe; dann traten sie beide, er und das junge Weib, durch die schmale +Fußpforte in den Hof des Hauses. Ordynoff kehrte um. + +Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung und ärgerte sich über sich +selbst: ganz umsonst hatte er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich +ermüdet und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen Tag mit einer +großen Dummheit gekrönt, indem er eine ganz gewöhnliche Begegnung für +eine Gott weiß wie besondere Begebenheit gehalten! + +Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert, daß er so weltfremd +und menschenscheu geworden war. Und doch war es nur sein Instinkt +gewesen, der ihn veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem +äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren Leben, das nun +einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte zerstreuen, beeinflussen und +erschüttern können. Jetzt wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer +gewissen Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte ihn eine seltsame +Traurigkeit und Sorge befiel ihn beim Gedanken an seinen künftigen +Verbleib: wo er ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er wohl +noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber verstimmte es ihn +wieder am meisten, daß ihn solche Nichtigkeiten überhaupt so +beschäftigen konnten. Ermüdet und unfähig, zwei Gedanken +aneinanderzureihen, langte er endlich – es war mittlerweile schon +ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung an, und erst +als er ins Haus trat, kam es ihm plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast +daran vorübergegangen wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen. +Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er den Kopf, schrieb sie +aber doch nur seiner Müdigkeit zu und trat, im letzten Stockwerk unter +dem Dach angelangt, in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an, +setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin. Da stand +plötzlich wieder das Bild des weinenden jungen Weibes greifbar deutlich +vor seiner Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der +Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften und frommen Züge +in sich aufgenommen und gab seine Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese +Züge, aus denen mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut und +hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich verdunkelten und +gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte. Doch die Erscheinung +zerrann. Dem Rausch folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich +eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden, wickelte er sich +in die Decke und warf sich auf sein hartes Lager ... + +Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich spät und in unruhiger und +niedergedrückter Stimmung. Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an +seine nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann wieder auf den +Weg machte, schlug er die entgegengesetzte Richtung ein, um nur ja nicht +den Weg zu gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand er bei +einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der mit seiner Tochter Tinchen +eine Giebelstube bewohnte, ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß +entfernte sogleich, nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel, +fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen er ganz ungestört +zu leben wünschte, sehr, sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich +seiner recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen Abend +einziehen werde. Als das erledigt war, wollte er sich wieder nach Haus +begeben, änderte aber unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen +Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung besser, obschon er +innerlich selbst über sich lächeln mußte. Der Weg erschien ihm diesmal +in seiner Ungeduld ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter, als er +gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der er am vergangenen Abend +gewesen war. Es wurde gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen +Platz, von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch die, die er +suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem Antlitz verließ er nach +langem vergeblichem Warten die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein +gewisses ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich mit +aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen zu lenken. Er wollte an +ganz gewöhnliche Dinge denken, und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit +zum Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging er in dasselbe +Speisehaus, in dem er tags zuvor eine Kleinigkeit genossen hatte. Dann +streifte er wieder umher, ging durch unbekannte, aber belebte Straßen +und dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich schließlich in +einer Gegend jenseits der Stadtgrenze fand, wo sich weit das herbstlich +fahl gewordene Feld hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen, +wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen, lange nicht mehr +empfundenen Eindruck aus seiner Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es +war ein trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger +Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte zu sehen, und neben ihr zwei +Heuschober. Ein kleines verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast +zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden Lefzen, als dachte +es über irgend etwas nach, abgeschirrt neben einer zweiräderigen +Tarataika. Ein gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen +Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu knurren, und ein etwa +dreijähriger Bengel, der mit nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet +war, kratzte sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert +den einsamen Städter an. Hinter der Hütte dehnten sich Gemüseplätze und +Felder aus. Am Horizont zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und +drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen Seite aber zogen +langsam trübe Schneewolken auf, die vereinzelte Wölkchen vor sich +herschoben, als trieben sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos, +ohne einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am Himmel vorüber. +Es war so ruhig und gleichsam feierlich schwermütig, alles erfüllt von +einer verborgenen, atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging weiter +und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur noch mehr. Er kehrte wieder +um und ging zurück nach der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut, +das zum Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte seine +Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder die Kirche, die ihm seit +dem gestrigen Tage so vertraut war. + +Die junge Unbekannte war schon da. + +Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen Betenden. +Ordynoff drängte sich durch das eng beieinander stehende Volk, durch die +Schar von Bettlern, alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln, die +alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten, und kniete dicht neben ihr +nieder. Seine Kleider berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen +und das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder war ihr Antlitz +von einem Gefühl hingebenden Glaubens durchgeistigt und wieder rannen +Tränen aus ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen, als +hätten sie ein furchtbares Verbrechen von ihrer Seele abzuwaschen. An +der Stelle, wo sie beide knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin +und wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten Heiligenbilde +im Winde aufflackerte, der durch eine geöffnete Zugklappe des schmalen +Fensters strich, huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und +jeder Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen Mannes +ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich unter unerträglicher Pein in +sein Herz. Nur lag in der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine +rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über seine Kraft. Er +vermochte es nicht länger auszuhalten. Seine Brust erbebte vor Schmerz, +und es war ihm, als verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem +Sehnsuchtsweh – ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn plötzlich und er +beugte seine heiße Stirn auf die kalten Fliesen der Kirche. Er fühlte +nichts als den Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen zu +wollen schien. + +Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs äußerste gesteigerte +Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte: ob sie unaufhaltsam, wie sie +durchbrach, auf das qualvoll bedrückende, erlösungslose Schweigen der +langen schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge des oft +durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter Drang, eine unklare +Sehnsucht und das herrisch ungeduldige, ringende Streben seines Geistes +ihm das Herz mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten, daß +es nun an einem Punkt angelangt war, an dem es ihn unfehlbar zerrissen +hätte, wenn es nicht eine Erlösung in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder +war einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie alles einmal +kommt, was im natürlichen Verlauf der Dinge kommen muß – wie an einem +drückend schwülen Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und ein +Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde niederrauscht, um alles, +was in der Sonnenglut zu vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen, +um in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen zu bleiben, das +Gras niederzudrücken und die zarten Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf +daß dann bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe, um wie +befreit von neuem zur Sonne zu streben und sieghaft seinen köstlichen +frischen Duft zum Himmel emporzusenden in der Freude über das erneute +Leben. Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter die +ganze Natur zu empfinden scheint, jedes Blatt, das noch feucht vom Regen +glänzt, jeder Blütenkelch, der unter der Last der Tropfen sich geneigt +hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet – dasselbe Gefühl hatte +auch Ordynoff ... Nur hätte er selbst nicht zu sagen vermocht, was mit +ihm geschah: so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt. + +Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst zu Ende ging, und +kam erst zu sich, als er, seiner Unbekannten folgend, sich abermals +durch die Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch das +hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber hatte sie ihn dann, beim +Stehenbleiben und Warten, zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich +wachsender Verwunderung wieder und wieder nach ihm umgesehen, und +plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten hellen Blick begegneten, war +sie errötet – ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr die +Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick aber tauchte auch schon +die hohe Gestalt des Alten im Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie +wortlos bei der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff mit +einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck, daß Ordynoffs Herz +plötzlich von einer ganz seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der +Dunkelheit verlor er sie bald aus den Augen: er drängte sich erschrocken +weiter durch die Menge, machte sich rücksichtslos Platz und trat aus der +Kirche. Die Abendluft berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht: +sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und sein Herz begann +langsam und stark zu schlagen, mit einer Wucht, als wolle es seine Brust +zersprengen. Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben, da +er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren weder auf der Straße noch +in der Sackgasse zu sehen. Doch zugleich entstand in ihm bereits ein +Gedanke, der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die zwar in +der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu sein pflegen, deren Ausführung +aber in solchen Fällen fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen +davon, daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die Tat umgesetzt +werden, vernünftigere dagegen sehr oft nur Pläne bleiben. + +Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht Uhr zu jenem Hause, +trat von der Gasse aus durch das Tor und befand sich auf einem schmalen, +schmutzigen Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem Spaten +hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich auf den Spatenstiel, +musterte Ordynoff vom Kopf bis zu den Füßen und fragte schließlich, was +er hier wünsche. + +Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche von etwa fünfundzwanzig +Jahren, dabei von eigentümlich altväterischem Aussehen, klein, mit +runzligem Gesicht und von offenbar tatarischer Abstammung. + +„Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig. + +„Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch und sah ihn mit einer +Miene an, als wisse er bereits um sein ganzes Vorhaben. + +„Ich will hier ein Zimmer mieten.“ + +„Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar etwas rätselhaft. + +„Aber hier?“ + +„Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder seiner Arbeit zu. + +„Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins abtreten würde?“ +fragte Ordynoff und drückte dem Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand. + +Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die Tasche und machte sich +dann wieder etwas mit seinem Spaten zu schaffen – erst nach einigem +Schweigen erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der junge +Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits auf den halbverfaulten +schwankenden Brettern, die über eine Pfütze führten, zum einzigen +Eingang des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig war, wie +das ganze Haus schmutzig aussah, und deren unterste Stufe in einer +zweiten Pfütze halbwegs versank. Unten, neben dem Eingang, wohnte ein +armer Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu fragen +vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen Treppe +hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk angelangt, fand er, mehr tastend +als sehend, eine schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen +gewesen war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig mehr als einzelne +Stücke an ihr hafteten. Er drückte auf die Klinke und öffnete die Tür. +Er hatte sich nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der Kirche +gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung starr an. + +„Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher Stimme hervor. + +„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte Ordynoff, ohne eigentlich +selbst zu wissen, was er sagte oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte +er seine Unbekannte erblickt. + +Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür zu schließen, um +Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen. + +„Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da plötzlich das junge Weib mit +freundlicher Stimme. + +Der Alte wandte sich nach ihr um. + +„Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“ sagte Ordynoff, indem er +schnell eintrat und sich an das junge Weib wandte. + +Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas Seltsames spielte sich +plötzlich vor seinen Augen ab, eine stumme und doch beredte Szene. Der +Alte war so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick ohnmächtig +zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren, unbeweglichen, +durchdringenden Blick das junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst, +dann aber stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht und in ihren +Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne ein weiteres Wort führte sie +Ordynoff in das Nebenzimmer. + +Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, allerdings recht großen +Zimmer, das durch zwei Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem +ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man vom Flur aus trat, +führte geradeaus eine Tür offenbar in das Schlafzimmer. Rechts von +dieser führte eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden +sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der durch die Scheidewand +gewissermaßen an die zwei niedrigen Fenster angedrückt erschien. +Überdies war er noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die nun +einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich und eng, aber doch nach +Möglichkeit sauber. Die Einrichtung bestand aus einem einfachen +ungestrichenen Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei +Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere an der der Tür +gegenüberliegenden Wand. Ein großes altertümliches Heiligenbild mit +einer vergoldeten Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett +und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger russischer Ofen, an +den sich die Scheidewand anschloß, stand zur Hälfte in diesem Zimmer, +zur Hälfte im Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung, daß +diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu eng war. + +Sie begannen, das Notwendige zu besprechen, sprachen aber so verwirrt +und zusammenhanglos, daß sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der +zwei Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen zu hören: +er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend auch vor Angst zitterte. +Schließlich verständigten sie sich doch irgendwie und die Sache ward +abgeschlossen. Der junge Mann erklärte, daß er sogleich einziehen wolle, +und blickte sich unwillkürlich nach dem Alten um. Der war zwar immer +noch bleich, aber auf seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar +nachdenkliches Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er Ordynoffs +Blick begegnete: sofort runzelte er wieder finster die Stirn. + +„Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter, rascher Stimme, +indem er gleichzeitig schon die Tür zum Flur öffnete. + +Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig machte. + +„Wer bist du?“ + +„Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe ganz für mich,“ +antwortete er, ebenso kurz angebunden, wie der Alte in seiner rauhen +Art. + +„Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja Murin, Kleinbürger. +Genügt dir das? – Gut, dann geh!“ ... + +Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen, eigentlich selbst +nicht weniger darüber verwundert, als es Herr Spieß und seine Tochter +Tinchen waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung kamen, +daß der verschwundene Mieter sie nur habe betrügen wollen. Ordynoff +freilich begriff selbst nicht, wie das alles so gekommen war, aber im +Grunde wollte er es auch gar nicht begreifen. + + + II. + +Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen grüne Punkte tanzen sah, +und hin und wieder erfaßte ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh. +Mechanisch machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken, +entnahm einem Bündel, das seine Wäsche enthielt, das Notwendigste, +schloß den Bücherkasten auf und begann die Bände und Schriften auf dem +Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese Arbeit seinen Händen. Was +er tun mochte – immer wieder erschien vor ihm das Bild des jungen +Weibes, das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren Banden +gleichsam umkrampft hatte, – und so viel Glück war plötzlich in sein +armes Leben geflutet, daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen +und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht mehr wußte, was er +wollte. Er nahm seinen Paß, um ihn dem Alten, dessen Mieter er nun +geworden war, einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der +Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür nur ein wenig, nahm +den Paß in Empfang, nickte bloß und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die +Tür wieder schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff. Es wurde +ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer, diesen Alten anzusehen. In +seinem Blick lag stets so etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der +unangenehme Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon den dritten +Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich zu seinem früheren stillen Leben. +Nur denken konnte er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor. +Alles hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle +Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen und von seinen +Gedanken galt kein einziger mehr der ersten Hälfte. Er empfand nur den +einen Trieb, nur die eine Erwartung ... + +Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten deuten sollte, kehrte er +in sein Zimmer zurück. Beim Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich +ein kleines, vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so schmutzig +und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit Widerwillen ansehen mochte. +Dabei schien sie eine unglaublich böse Person zu sein. Das war die +Dienstmagd. Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen hörte und ihren +zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah, redete sie an, erhielt aber +keine Antwort: es war, als schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam +die Mittagsstunde. Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen – Kohlsuppe, +Pasteten und Rindfleisch – und brachte es in das andere Zimmer. Dasselbe +Essen brachte sie auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der +Wohnung Totenstille ein. + +Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für Satz und ganze Seiten, +wobei er sich bemühte, den Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber +selbst dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las. Bald schon +warf er das Buch beiseite und schickte sich an, seine Habseligkeiten +noch weiter zu ordnen. Nur dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm +er schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf die Straße. Ohne +auf den Weg zu achten, ging er weiter und gab sich die größte Mühe, +seine Gedanken zu sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage +nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde ihm förmlich zu einer +Qual – als müsse er sich selbst foltern. Offenbar hatte er sich +erkältet: bald erfaßte ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber +und zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen, daß er sich an +eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber tot ... lieber tot sein,“ +murmelten seine fieberheißen Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte. +So irrte er noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich durch +eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit zum erstenmal +bemerkte, daß es ja in Strömen regnete. Da besann er sich und kehrte +zurück. Kurz bevor er das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht, +der ihn, wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier +beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich wieder fortsetzte, +als er sich bemerkt sah. + +Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten. + +„Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“ + +„Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar grinsend. + +„Bist du schon lange hier Hausknecht?“ + +„Das will ich meinen.“ + +„Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete wohne, ist doch +Kleinbürger?“ + +„Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“ + +„Was treibt er denn eigentlich?“ + +„Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter nichts.“ + +„Ist das seine Frau?“ + +„Welche Frau?“ + +„Die bei ihm lebt?“ + +„Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat. Leb wohl, Herr.“ + +Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in seinen Schlupfwinkel +unter dem Torbogen. + +Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. Die Alte öffnete ihm +zaudernd die Tür, wobei sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte +die Tür hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen, auf dem +sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen schien. Es dunkelte +bereits. Ordynoff wollte sich von seinen Wirtsleuten Streichhölzer +holen, doch die Tür zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte +an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen gestützt, +vom Ofen herab ihn anglotzte, als dächte sie darüber nach, was er wohl +dort an der verschlossenen Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie ihm +eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt, nahm er +wieder seine Bücher vor. Allmählich wurde ihm immer sonderbarer zumut +und obschon er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte er sich +auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen fühlte. Und +dann war ihm, als schliefe er ein. Mehrmals kam er wieder zu sich und +erriet – es war ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des +Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war, sondern nur eine +krankhafte, qualvolle Benommenheit. Einmal hörte er, wie an die Tür +gepocht und wie die Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl +die Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten. Bei der +Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen gehen mußte, um etwas zu +holen. Er erhob sich denn auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm, +daß er sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und fiel auf +einen Haufen Holz, den die Alte mitten im Zimmer hingeworfen hatte. Von +da an wußte er nichts mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach +langer, langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung, daß er noch +auf derselben Lade lag, in den Kleidern, so wie er war, und daß ein +berückend schönes junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte, +mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick. Er fühlte, wie ihm +ein Kissen unter den Kopf geschoben wurde und wie man ihn mit etwas +Warmem zudeckte, und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße Stirn +legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen, sie an seine heißen +trockenen Lippen führen, mit Tränen benetzen und küssen, eine ganze +Ewigkeit lang küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das wußte er +selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen in diesem Augenblick! +Doch seine Arme waren schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es +war ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb nicht sprechen, und +daher fühlte er nur, wie sein Blut so durch alle Adern jagte, daß er +glaubte, emporgehoben zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ... +Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit. + +Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr. Die Sonne schien in +goldenen Strahlenbündeln durch das grünliche billige Glas der +Fensterscheiben. Ein wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des +Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar glücklich. Er hatte die +Empfindung, als sei jemand soeben an seinem Bette gewesen, ganz nah an +seinem Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte er daran, +sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen, um seinen neuen Freund zu +entdecken und zum erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen, +habe Dank, mein Guter!“ + +„Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine Frauenstimme. Ordynoff +sah sich um, jemand trat an sein Bett, und über ihn neigte sich mit +einem freundlichen hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen +Wirtin. + +„Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß es genug sein; wozu +beraubst du dich der Freiheit! Die ist süßer als Brot, schöner als die +liebe Sonne. Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“ + +Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft. Er glaubte, noch +zu träumen. + +„Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee? Trink ihn, es wird dir +davon besser werden. Ich bin selbst krank gewesen und weiß, wie das +ist.“ + +„Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch matter Stimme und +versuchte, aufzustehen, was ihm auch gelang. Er fühlte sich zwar noch +recht schwach, wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ ihn +erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein Gefühl, als werde er von +den Sonnenstrahlen erwärmt und mit einer hellen, feiertäglichen Freude +erfüllt. Er fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes Leben +anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse ihn ein leichter +Schwindel. + +„Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe ich mich verhört? Hat +dich mein Herr nicht gestern so genannt?“ + +„Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff, indem er sich ihr +näherte, obschon er sich kaum auf den Füßen hielt. Plötzlich wankte er. +Sie ergriff seine Hände und lachte. + +„Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren strahlenden, blauen Augen +an. Beide hielten sie sich an den Händen. + +„Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich. + +„Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein Blick. + +„Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein Lieber, gräme dich nicht, +sei nicht traurig – komm, setze dich hierher, hier scheint die Sonne, +die wird dich erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht nach,“ +fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann eine Bewegung machte, +als wolle er sie zurückhalten – „ich werde gleich wieder bei dir sein, +da wirst du mich sehen können, soviel du nur willst!“ + +Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm den Tee, den sie auf den +Tisch stellte, und setzte sich ihm gegenüber. + +„Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf noch?“ + +„Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff, „oder ich weiß +nicht, vielleicht schmerzt er auch ... ich will nicht ... schon gut, +schon gut! ... Ich weiß nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter +Herzklopfen hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh nicht +fort von mir, gib ... gib mir wieder deine Hand ... Vor meinen Augen +dunkelt es ... In dir sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er +jedes Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde er schon +Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen konnte. Heiß stieg es in ihm auf +und schnürte ihm die Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in +einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud. + +„Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten Menschen gelebt? Bist ganz +allein und einsam in der Welt? Hast du gar keine Verwandten?“ + +„Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut das! Mir ist jetzt besser +... so ... wohl!“ Es war, als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um +ihn zu drehen. + +„Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn ... Du siehst mich so an +...“ sagte sie plötzlich nach minutenlangem Schweigen und stockte ... + +„Was ... wie denn?“ + +„So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du, wenn man jemand so liebt +... Ich habe dich doch schon bei deinen ersten Worten in mein Herz +geschlossen. Wenn du krank werden solltest, werde ich dich pflegen. Aber +du darfst nicht wieder krank werden, nein! Wenn du aber wieder ganz +gesund bist, dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja? Willst +du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden, wenn Gott einem keine +Geschwister gegeben hat.“ + +„Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff mit matter Stimme. + +„Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht dich das an? Weißt +du, die Leute erzählen, wie zwölf Brüder in einem dunklen Walde lebten +und wie in dem Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam zu +den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause, und säuberte alles, und +was sie tat, tat sie mit Liebe. Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen +sie, daß ein Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war, und sie +riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben. Und da kam sie denn +auch und blieb bei ihnen. Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen +und ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an. Kennst du +das Märchen?“ + +„Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise. + +„Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß du lebst?“ + +„Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“ phantasierte Ordynoff. + +„Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich, „ich würde doch auch +den Tod nicht missen wollen. Ob es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben, +und gute Menschen liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder +bleich geworden ...“ + +„Ja, mich schwindelt ...“ + +„Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken, und werde dir das Bett +schön aufmachen. Dann wird dir von mir träumen und das Übel wird von dir +weichen. Unsere Alte ist auch krank ...“ + +Und schon während sie sprach, machte sie das Bett zurecht, wobei sie ab +und zu über die Schulter nach Ordynoff hinüberblickte. + +„Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach beendeter Arbeit den +Koffer ein wenig abrückte. + +Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm, stützte ihn mit dem rechten +Arm und führte ihn zum Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte, +um ihn dann zuzudecken. + +„Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr sie fort und schüttelte +nachdenklich den Kopf. „Liest du gern in Büchern?“ + +„Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber, ob er schlief oder +wachte. Und wie um sich zu versichern, daß es kein Traum war, suchte er +Katherinas Hand und preßte sie in der seinen. + +„Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb mit der Linken ein +großes Format – „er sagt, es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus +ihnen immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich dir erzählen, +was er mir aus ihnen vorliest?“ + +„Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von ihr losreißen zu +können. + +„Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem Schweigen. „Weißt du +was? – ich fürchte, ich fürchte immer ...“ + +Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte sie über irgend etwas +nach. + +Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen. + +„Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten leicht. Und dann lachte +sie: „Ach nun, da! – küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin. +Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine heiße Stirn, und +plötzlich – streichelte sie ihn und dann glättete sie sein Haar, und +dabei errötete sie immer mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett +nieder und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte den feuchtwarmen +Hauch ihres Atems ... Plötzlich fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über +seine Wange rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken, wurde +aber immer schwächer, immer schwächer ... er konnte kein Glied mehr +rühren. Da stieß jemand an die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff +hörte nur noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf fühlte er, +wie Katherina sich erhob, übrigens ganz langsam, ohne jeden Schreck, +fühlte, wie sie beim Weggehen das Zeichen des Kreuzes über ihm machte. +Er lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer langer Kuß +auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte +aufschreien, verlor aber die Besinnung ... + +Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand, ein Traumleben, wie es nur +Krankheit und Fieber verursachen können. Es kamen Augenblicke, in denen +es ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er verurteilt sei, +in einem langen, endlosen Traum voll seltsamer Aufregungen, Kämpfe und +Leiden zu leben. Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen +dieses Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick des heißesten, +verzweiflungsvollsten Kampfes fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere +feindliche Kraft überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit jeder +Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor und wie wieder +undurchdringliches, bodenloses Dunkel sich vor ihm auftat, und er +glaubte sogar selbst den Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit +dem er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen wieder andere +Augenblicke eines kaum zu ertragenden, überwältigenden Glücks, wie man +es nur selten empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft im ganzen +Menschen sich krankhaft steigert und der Mensch sich wie in einer +höheren Sphäre befindet, wo alles Vergangene sich klärt und in allem +Zusammenhang offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem Licht ein +klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl auslöst und die +unbekannte Zukunft wie ein Traum im Wachen vor einem liegt, und man +nicht weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender Tau auf die +Seele legt, und aufschreien möchte vor lauter Seligkeit, während man +doch fühlt, wie schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der +Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene zurückreicht, +zerreißt und das neue Leben wie ein Leben nach einer Auferstehung vor +uns erscheint ... Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine Art +Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er in den letzten Tagen +erlebt hatte, nochmals durchlebte und das Gesehene, verschwommenen +Nebelbildern gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem +geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in diesen Visionen +alles ganz anders, seltsam und rätselhaft. Dann wieder vergaß er alles +jüngst Geschehene und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner +früheren Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es sich nicht +erklären, warum die alte gute Frau zu seinem Ofen kam, in dem noch die +letzten Kohlen glühten – er glaubte noch den schwachen, zitternden +Widerschein der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen – und warum sie +nicht, bevor sie die Ofentür schloß, ihre hageren alten Hände am +Feuerschein wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter Leute +Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem Blick nach ihrem +sonderbaren Pensionär, den sie für mindestens „nicht ganz richtig“ +hielt: von diesem ewigen Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte. +Dann wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war, aus welchem Grunde +konnte er sich freilich nicht mehr entsinnen, obschon sein ganzer Geist +ausströmen wollte in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen, +unbezähmbaren Drang ... Doch wohin, wozu es ihn drängte, was die Ursache +solcher Qual war, und wer diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein +Blut zu verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das wußte er +wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf besinnen. Oft griff er +gierig nach einem Schatten, oft glaubte er, leichte Schritte in seinem +Zimmer zu vernehmen, Schritte, die sich seinem Lager näherten, und eine +süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu hören; ihm war, als +spüre er feuchtwarmen Atem wie einen Hauch über sein Gesicht gleiten, +und ein herrliches Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten, +daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen auf seine glühenden +Wangen und plötzlich drückte sich weich und verlangend ein Kuß auf seine +Lippen: da war es, als verginge sein Leben vor brennender +unauslöschlicher Pein: es schien ihm, als stehe das ganze Sein, die +ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte rings um ihn, und über +alles sinke lange, tausendjährige Nacht ... + +Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals die sorglosen Jahre +seiner ersten Kindheit, ja er glaubte sogar, das Landhaus zu sehen, in +dem er geboren war, und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als +kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen gepflückt hatte. +Wenigstens glaubte er, alles dies zu sehen, – bis er plötzlich eine +Gestalt auftauchen sah, deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen +Entsetzen erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid und Qual und +Tränen in sein Leben brachte. Es war ihm, als habe der fremde Alte sein +ganzes zukünftiges Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines +Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und der Alte folgte ihm +überall hin: er lauerte hinter jedem Baum und Strauch hervor, nickte ihm +grinsend zu und spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in +jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf auf dem Halse +seines Steckenpferdchens und wandte sich grinsend und Gesichter +schneidend immer wieder nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen +den Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder der Deckel eines +seiner Bücher hob sich um Fingerbreite und aus dem Dunkel unter dem +Deckel sahen ihn die boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so +setzte sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte die +süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang ein wundersames +Märchen, von dem er zwar nichts verstand, so angestrengt er auch +lauschen mochte, das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit Grauen +und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft peinigte. Und der böse Alte +erzählte flüsternd weiter, bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte +und er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit einem Male, +war es ihm, als erwache er, und wieder begann ein seltsames +Zusammenspiel von halbem Bewußtsein und halbem Traum: er erwachte als +erwachsener Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten ihn. Er +wußte, wo er sich im Augenblick befand, wußte, daß er einsam und +weltfremd war, einsam unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier +begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen und in den dunklen +Winkeln flüsterten und der alten Frau zunickten, die wieder am Ofen +hockte und ihre hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen +gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag. Er fühlte sich +verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer diese Leute waren, was sie hier +wollten und warum er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam es +denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas wie eine Räuberhöhle +geraten sei, verlockt durch irgendeine ihm bis dahin unbekannte, +zwingende Macht, ohne sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine +Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte ihn und sein +Argwohn wuchs – und da begann wieder in der nächtlichen Dunkelheit das +flüsternd erzählte Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte +es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die es, vor dem Ofen +hockend, im zitternden Feuerschein der erlöschenden Glut leise, leise +vor sich hinflüsterte, während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu +nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm auf: das +geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und noch weniger verstand, wurde +zu Gestalten und Gesichtern, und er gewahrte mit Schrecken, daß alles, +was er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken und +Träume und was er in Büchern gelesen und vieles, was er schon längst +vergessen hatte – daß alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften +Gebilden sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte, umtanzte: +vor seinen Augen taten sich Zaubergärten auf, er sah ganze Städte +erstehen und wieder einstürzen, er sah unübersehbare Friedhöfe, deren +Gräber sich auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die Leichen +lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen, wachsen und vor seinen +Augen aussterben, und er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß +er ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer Form vor seinen +Augen sich verwirklichen – sein Denken war nicht mehr rein geistige +Vorstellung und Verbindung von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung +ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von Wesen – und er sah sich +selbst gleich einem Stäubchen getragen in diesem unendlichen +unbegrenzten Weltall, aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an +irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah, wie dieses ganze +Leben durch seine empörende Tyrannei ihn bedrückte und knechtete und mit +ewiger, unendlicher Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und in +Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf ewig starb; er wollte +fliehen – aber es gab keinen Winkel im ganzen All, wo er sich hätte +verbergen können. Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß alle +seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen Schrei, wie ihm schien, +und – erwachte. + +Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. Im Zimmer herrschte +Totenstille: es war tiefe Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer +noch irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen wundersamen +Märchens, als erzähle eine heisere Stimme etwas ihm scheinbar Bekanntes: +von dunklen Wäldern und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen Häuptling +einer Bande, ganz als wäre von Stenka Rasin selbst, dem Kosakenhelden, +die Rede, und dann von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden, und +von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen Wolga. War das nicht +ein Märchen? Hörte er es nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er +mit offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied zu rühren. +Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten, und mit Freude +merkte er, daß die grausame Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen +hatte. Das Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann für ihn +wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er noch so angekleidet war, +wie während seines Gesprächs mit Katherina: es konnte folglich noch +nicht gar so lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe +Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine Kraft. Wie er die +dünne Scheidewand betastete, stieß seine Hand an einen großen Nagel, den +man dort zu irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn und +richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen den dünnen +Brettern der Scheidewand entdeckte, durch die ein kaum bemerkbarer +Lichtschein in sein Zimmer drang. Er legte das Auge an die Öffnung und +hielt den Atem an. + +In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein Bett, davor ein Tisch, +über den ein bucharischer Teppich gebreitet lag und der mit großen alten +Büchern in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst welche +heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In der Ecke hing ein ebenso +altertümliches Heiligenbild wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor +dem Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett lag Murin, mit +einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet und krank und bleich wie +ein Leintuch. Auf seinen Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am +Bett saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen umschlang sie +den Alten und schmiegte sich an seine Brust. Sie sah ihn mit +aufmerksamen, kindlich verwunderten Augen an und schien mit +unersättlicher Neugier fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu +lauschen. Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers und dann trat +Leben in sein blasses Gesicht: in seinen Augen blitzte es auf, er zog +die Brauen zusammen, sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen +vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt es wie ein Lächeln über das +Antlitz des Alten, und Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich +standen Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte zärtlich über +ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind streichelt, und sie umschlang ihn +fester mit ihren weißen Armen und schmiegte sich noch liebender an seine +Brust. + +Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum, ja, er war sogar +überzeugt davon. Dennoch stieg ihm das Blut zu Kopf und in den Schläfen +hämmerte es schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ den +Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise, wankend und tastend, wie +ein Schlafwandelnder durch sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er +tat, getrieben von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so näherte er +sich der Tür zu dem Zimmer der anderen und stieß sie mit aller Kraft +auf: der verrostete Riegel brach, die Tür flog auf und unter Lärm und +Gepolter trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer +seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt emporschnellte und wie +die Augen des Alten unter den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten +und wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. Er sah, wie +der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, mit irrender Hand nach der +Flinte tastete, die an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte, +die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf seine Brust richtete – +ein Schuß tönte, und gleich darauf ein wilder, fast unmenschlicher +Schrei ... + +Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff ein +entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich über den Alten. Murin lag +in Krämpfen auf der Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht, +in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen war, völlig entstellt. +Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen ein schwerer Anfall betroffen +hatte. Zusammen mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm zu helfen +... + + + III. + +Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei dem Kranken. Am anderen +Tage ging Ordynoff trotz der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit +schon frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den Hausknecht. +Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem und blickte ihn neugierig an, +schien sich aber plötzlich zu besinnen und machte sich an seinem Besen +etwas zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff hinüber, +der sich langsam näherte. + +„Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte ihn Ordynoff. + +„Hab’ wohl gehört.“ + +„Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“ + +„Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht meine Sache.“ + +„Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“ rief Ordynoff wütend +in einer krankhaften Gereiztheit, die ihm an sich selbst ganz neu war. + +„Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine eigene Schuld – hast +Menschen erschreckt. Unten wohnt der Sargmacher, der hört sonstig +nichts, aber heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub +auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem anderen Hof, was +schon weit genug ist, hat man’s auch gehört – da siehst du! Ich werde +auf die Polizei gehen.“ + +„Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und wandte sich zur +Pforte. + +„Meinetwegen – hast selber gemietet ... Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah +sich um; der Hausknecht berührte höflich die Mütze. + +„Nun?“ + +„Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“ + +„Und?“ + +„Zieh lieber aus.“ + +„Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte sich von neuem zum Gehen. + +„Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte wieder die Mütze und +grinste halb verlegen: „Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein +Herz fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch – das ist Sünde. Gott +sagt auch, das soll man nicht – weißt doch selber!“ + +„Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun sage mir: wer ist er?“ + +„Wer er ist?“ + +„Ja.“ + +„Ich sag’ auch ohne Geld.“ + +Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-, zweimal, sah dann +wieder auf und blickte Ordynoff mit wichtiger Miene musternd an. + +„Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten Menschen leben, dann +nicht, ganz nach deinem Belieben. Da hast du gehört, was ich meine.“ + +Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller an, schien aber, als +er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte, gekränkt zu sein und machte sich +wieder mit seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er die +Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller Miene Ordynoff, machte +eine eigentümliche Geste, deren Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls +unverständlich blieb, und flüsterte: + +„Er ist – verstehst du!“ + +„Was?“ + +„Verstand ist fort.“ + +„Wieso?“ + +„Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“ fuhr er in noch +geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist krank. Er hatte eine Barke, solche +große, weißt du, und noch eine und noch eine dritte und vierte, die +fuhren alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und dann hatte +er noch eine Fabrik und die brannte nieder und so kam denn das!“ + +„Er ist also verrückt?“ + +„Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er ist ein kluger Kopf. Alles +weiß er, viele Bücher hat er gelesen und dann anderen die Wahrheit +gesagt! So – kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel, wie +gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch auf und sagt dir alles, so +und so, die ganze Wahrheit! Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld – +kein Wort!“ + +Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der Taktik Murins. + +„Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“ + +„M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung wichtig mit dem Kopf. +„Immer was wahr ist! Er betet zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! – +kommt so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner +rätselhaften Geste hinzu. + +In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof nach dem Hausknecht und +gleich darauf erschien ein kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz. +Er ging hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen grauen +spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden Schritten vorsichtig und +langsam über den Hof, als fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man +konnte glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener Greis. + +„Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig der Tatar, nickte +Ordynoff flüchtig zu und lief, die Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig +zu dem Alten, dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens mußte +er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein. Er überlegte noch, daß das +schließlich nicht weiter erstaunlich war, und verließ den Hof. Der +Hausknecht aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein. + +„Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen wollen!“ dachte er. „Gott +weiß, was noch dahintersteckt.“ + +Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke lenkten ihn bald von +den unangenehmen Gedanken ab. Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht +angenehmer Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite ein wenig. Er +fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer durchrieselten. Es war ihm, als +beginne die Erde unter ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine +bekannte Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem Tone einen guten +Morgen wünschte. + +„Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff. + +Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger Herr von etwa – dem +Aussehen nach – dreißig Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein, +das ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet – nun, wie ein +Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und mit diesem Lächeln streckte +er ihm verbindlich die Hand entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem +Jahre seine Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast auf der +Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen vom Zufall, in erster +Linie beigetragen, war die besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit +berühmten und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten, +mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens vielversprechenden +Talenten bekannt zu sein. Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr +süßliche Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung, selbst +mit den aufrichtigsten Freunden, einen ungewöhnlich selbstsicheren, +jovialen und sonoren Ton zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes +hatte – ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen +Überlegenheit von vornherein zu disponieren gewohnt, und zwar gleich in +einer Weise, als dulde er überhaupt keinen Widerspruch. + +„Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“ rief Jaroslaw Iljitsch +mit dem lebhaftesten Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte +Wiedersehen. + +„Ich wohne hier.“ + +„Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs klang sogleich um einen +Ton oder ein paar Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß +daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und ich hab’s nicht mal gewußt! +Dann bin ich ja so gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier, +sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin ich aus dem +Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt. Na, es freut mich, daß ich Sie +doch mal eingefangen habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte +sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er, plötzlich sich +zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung. „Erwarte mich bei Tarassoff, +aber daß sie dort ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem +Olssufjeffschen Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm, daß er sich +sofort nach dem Geschäft begeben soll. In einer Stunde bin ich da ...“ + +Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen, faßte er gut +gelaunt Ordynoff unter den Arm und führte ihn zum nächsten Gasthaus. + +„So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns nach der langen +Trennung gemütlich ein paar Worte miteinander reden. Nun, sagen Sie +zunächst, wie steht es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast +ehrfürchtig und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender +eingeweihter Freund es tut. + +„Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders, als früher,“ +antwortete Ordynoff etwas zerstreut, da er gerade einem ganz anderen +Gedanken nachhing. + +„Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch, sehen Sie, so etwas +erkenne ich an! Das nenne ich, sein Leben einer höheren Idee weihen!“ +Hier drückte Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott gebe +Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel! bin ich froh, daß ich Sie +getroffen habe! Doch mal ein andrer Mensch, als so der tagtägliche +Durchschnitt! Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen +gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer, geistreicher +Wassilij Michailowitsch!“ + +Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer für sich und seinen +Gast, bestellte einen Imbiß, Schnäpse, und was so dazu gehört. + +„Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er mit einschmeichelndem +Blick und in bescheidenem Tone fort. „Zunächst einmal den ganzen +Puschkin ...“ + +Ordynoff sah ihn zerstreut an. + +„Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die Schilderung der +menschlichen Leidenschaft ist allerdings ganz bewundernswert bei ihm. +Doch zunächst erlauben Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie +haben so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung einer richtigen +Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung, sozusagen ...“ + +„Aber ich bitte Sie! ...“ + +„Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich liebe es nun einmal, jedem +Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß +wenigstens dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit – in mir nicht +eingeschlummert ist.“ + +„Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst ungerecht, und ich wüßte +wirklich nicht ...“ + +„Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach Jaroslaw Iljitsch +mit ungewöhnlichem Eifer. „Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen? +Nicht wahr?“ + +„Ach, Gott ...“ + +„O ja ...“ + +Kurzes Schweigen folgte. + +„Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich eine Menge schlechter +Beziehungen aufgegeben, und damit auch, versteht sich, viele schlechte +Gewohnheiten,“ hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch wieder in +demselben Tone an. „In meiner freien Zeit nach dem Dienst sitze ich +jetzt größtenteils zu Hause, lese abends irgendein nützliches Buch und +... ich habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch, +meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel eben in meinen Kräften steht +...“ + +„Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig sein.“ + +„Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem immer Balsam auf die Wunden, +mein edler junger Freund!“ + +Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die Hand und dankte mit +einem kräftigen Druck. + +„Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich seine Erregung etwas +gelegt. + +„Ich kann nicht, ich bin krank.“ + +„Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in der Tat? Schon lange? – und +wie, wo haben Sie sich denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort +– – welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich meinen Arzt +benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin. Er ist überaus geschickt, +glauben Sie mir!“ + +Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem Hut greifen. + +„Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt nicht behandeln und +liebe Ärzte nicht ...“ + +„Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so! Wirklich: er ist überaus +geschickt!“ beteuerte Jaroslaw Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch – +nein, das muß ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade bei +ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich habe mir hier,‘ sagt er, ‚die +Hand mit meinem Werkzeug beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir +meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch sah, daß dem +Armen der Brand drohte und traf sofort seine Vorbereitungen zur +Amputation. Er amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so, sage +ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in einer so entzückenden +Weise, daß es, ich muß gestehen – wenn nicht das Mitleid mit dem +leidenden Menschen es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen gewesen +wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft halber. Aber, wie +gesagt, wann und wo haben Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“ + +„Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich bin soeben erst aufgestanden.“ + +„Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus. Sie hätten eigentlich +nicht gleich so hinausgehen sollen. Also dann leben Sie nicht mehr dort, +wo Sie früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen veranlaßt?“ + +„Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“ + +„Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch eine gute alte Frau! Sie +wissen doch? – ich empfand für sie wirklich fast so etwas wie – +Sohnesgefühle. Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten in +ihrem halb schon begrabenen Leben. Und wenn man sie so ansah, schien es +einem fast, als habe man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig +vor sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben so eine +gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich sagen will! ...“ schloß +Jaroslaw Iljitsch etwas konfus und errötete vor Verlegenheit allmählich +bis über die Ohren. + +„Ja, sie war eine gute alte Frau.“ + +„Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich denn jetzt +eingemietet?“ + +„Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“ + +„Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir sind sogar sehr gut +miteinander bekannt, kann ich sagen, – wirklich, ein netter alter Mann!“ + +Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm, von diesem netten +alten Mann reden und von sich sagen zu können, daß er mit ihm gut +bekannt sei. Er bestellte noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen. + +„Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“ + +„Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“ + +„Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“ + +„Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann, groß von Wuchs ...“ + +„Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem hinteren Hof, über dem +Sargmacher?“ + +„Ja.“ + +„Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“ + +„Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“ + +„Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist Ihnen noch nichts +Besonderes aufgefallen?“ + +„In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“ + +„Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja überzeugt, daß Sie es +bei ihm gut haben werden, wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ... +Ich meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will ich +vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren Charakter kenne ... Ja, +wie finden Sie denn eigentlich den Alten?“ + +„Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“ + +„Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst nichts ...? so was, hm +... Besonderes an ihm bemerkt? Haben Sie mit ihm gesprochen?“ + +„Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und wohl auch boshaft zu +sein.“ + +„Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach. + +„Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich nach längerem +Schweigen. + +„Er?“ + +„Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich seltsamer und +ungewöhnlicher Mensch. Übrigens, wenn er Sie sonst nicht belästigt ... +Verzeihen Sie, daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt +habe, aber es interessiert mich gewissermaßen selbst ...“ + +„Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt ... Ich würde jetzt +sehr gern Näheres über ihn erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“ + +„Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und das. Man sagt, der +Mensch sei früher sehr reich gewesen. Er war Kaufmann, wie Sie +wahrscheinlich bereits gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei +Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren mehrere seiner großen +Wolgabarken zerschellt und mit der ganzen Fracht untergegangen. Ferner +hat er eine große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht irre, +einem Verwandten anvertraut war, und diese Fabrik brannte nieder, wobei +der Verwandte in den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich ein +schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können. So soll denn auch +Murin, wie man erzählt, nach der Katastrophe in einer solchen Stimmung +gewesen sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann. Und +in der Tat hat er sich auch im Streit mit einem anderen Kaufmann, einem +gleichfalls reichen Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich +den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können, als eben mit +einer gewissen Geistesstörung, was ich denn auch gelten lassen will. Ich +habe noch manches andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls +sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen, – etwas, wofür es +eigentlich keine Erklärung mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach +als Schicksal auffaßt.“ + +„Und das war?“ forschte Ordynoff. + +„Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick des Wahnsinns, einen +jungen Kaufmann, den er bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe. +Nach begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen, sei er +darüber so verzweifelt gewesen, daß er sich das Leben habe nehmen +wollen. Wenigstens erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen ist, das +weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß er nämlich während der +ganzen folgenden Jahre Buße getan hat ... Aber was ist mit Ihnen, +Wassilij Michailowitsch? – strengt meine Erzählung Sie an?“ + +„Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen, er habe Buße getan, +aber vielleicht nicht er allein?“ + +„Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm niemand in diese +Angelegenheit verwickelt gewesen. Übrigens habe ich nichts Näheres +darüber gehört. Ich weiß nur ...“ + +„Nun?“ + +„Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich nichts Besonderes +hinzuzufügen ... ich will nur sagen, wenn Ihnen mal etwas +Außergewöhnliches auffallen sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß +das einfach die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind, die ihn +einer nach dem anderen betroffen haben.“ + +„Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht ist er nur +scheinheilig?“ + +„Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er hat so viel gelitten. +Mir scheint er vielmehr ein Mensch mit reinem Herzen zu sein.“ + +„Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den Eindruck macht er +wenigstens nicht.“ + +„O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er ist jetzt zweifellos +wieder im vollen Besitz aller seiner Verstandeskräfte. Nur daß er, wie +Sie ganz richtig bemerkten, sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich +wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar ein sehr +kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ... und ist, wissen Sie, +überhaupt ein findiger Kopf. Seinem Gesicht sieht man übrigens auch +jetzt noch sein stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine +Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer Mensch, und ungeheuer +belesen!“ + +„Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“ + +„Ja, er ist Mystiker.“ + +„Was?“ + +„Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt. Ich will Ihnen auch noch +verraten – aber als Geheimnis, das zwischen uns bleiben muß –, daß er +eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser Mensch hatte +nämlich einen großen Einfluß auf alle, die zu ihm kamen.“ + +„Inwiefern das?“ + +„Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen Sie, damals lebte er noch +nicht in diesem Stadtviertel. Er hatte schon einen gewissen Ruf, und +eines Tages fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger, ein +angesehener, allgemein geachteter Mann – fuhr also eines Tages mit einem +Leutnant zu ihm, natürlich nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden +empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie an. Er begann wie +gewöhnlich damit, daß er sich die Gesichter der Leute genau und prüfend +ansah, ehe er dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt +einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus, und +zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen Weise. Er fragte also +auch diese, was sie wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm +darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis von selbst +sagen. ‚Dann bitte, ins andere Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an +denjenigen wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn hatte. +Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar nicht, was er dort im anderen +Zimmer gehört oder erlebt hat – als er aber wieder herausgekommen ist, +da soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß man auch von +einer Dame der Petersburger Gesellschaft zu berichten: auch sie soll ihn +kreideweiß und in Tränen aufgelöst verlassen haben.“ + +„Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht mehr damit?“ + +„Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt es noch andere +Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel, der Sproß und die Hoffnung +einer vornehmen Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu +lächeln. ‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich der Alte +geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen wirst du das sein!‘ Und +dabei kreuzte er seine Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen +im Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“ + +„Nun, und?“ + +„Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man sagt, die Prophezeiung +sei tatsächlich eingetroffen. Er hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch +... Sie beliebten zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung. Ich +weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft, weit voraus. Aber ich +glaube nun einmal an ihn. Er ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch +Puschkin etwas Ähnliches in seinen Werken.“ + +„Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber, Sie sagten, glaube ich, +daß er nicht allein lebe?“ + +„Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube, seine Tochter lebt bei +ihm.“ + +„Seine Tochter?“ + +„Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich weiß nur, daß es irgendein +Frauenzimmer ist. Hab’ sie nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht +weiter beachtet.“ + +„Hm! Sonderbar ...“ + +Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw Iljitsch dagegen in +angenehme Beschaulichkeit. Das Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn +erfreut und fast gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst +zufrieden, da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können. Er +saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu. Plötzlich sprang er +erschrocken auf. + +„Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen und ich denke nicht +mal daran! Bester, teuerster Wassilij Michailowitsch, ich danke dem +Schicksal, daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt muß ich +eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem Gelehrtenheim aufzusuchen?“ + +„Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen. Vielleicht spreche ich +auch einmal bei Ihnen vor, wenn ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht +...“ + +„Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit würden Sie mich unendlich +erfreuen! Sie glauben nicht, wie sehr es mich ehren würde!“ + +Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die Straße hinaustraten, stürzte +ihnen Ssergejeff entgegen und meldete, daß William Jemeljanowitsch +sogleich vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich ein +Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen im Hintergrunde der +Straße. Jaroslaw Iljitsch drückte die Hand seines „besten“ Freundes, +ganz als gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte dem +Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er sich unterwegs noch zweimal +nach Ordynoff umsah und ihm zum Abschied wiederholt zunickte. + +Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen Gliedern, daß er kaum +die Füße zu bewegen vermochte. Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An +der Pforte traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam +seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet hatte und nun sehr +zuvorkommend tat. Doch Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In +der Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen, die +gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung trat. + +„Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte das Kerlchen, indem es +entsetzt zur Seite sprang. + +„Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“ + +„N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit ... O Herrgott, +Herrgott!“ + +Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich räuspernd und fromme +Sprüche flüsternd, mit äußerster Vorsicht die Treppe hinunter. Es war +das der Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so überaus +dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte sich Ordynoff, daß er +dieses gebrechliche Männlein bei Murin bereits an dem Tage gesehen +hatte, als er einzog. + +Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven erschüttert und +überreizt hatten; wußte auch, daß seine Phantasie und Empfindsamkeit +aufs äußerste erregt waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem +selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in einen Zustand +völliger Regungslosigkeit, der ihn wie ein Gefühl bleierner Schwere +gefangen hielt und seine Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte, +unter der sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine ganze Seele +war voll von lautlosen, unversiegbaren Tränen ... + +Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht hatte, und +begann von neuem zu lauschen. Deutlich unterschied er das Atmen zweier +Menschen im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft, ungleichmäßig, +das andere sanft, oft gar nicht vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie +von innerer Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in dem +gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft. Hin und wieder hörte +er ihre leisen, weichen Schritte und das Geräusch ihrer Kleider, und +jede Bewegung ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen, +qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es ihm, als höre er +ein leises Schluchzen und dann ein inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß +sie vor dem Heiligenbilde auf den Knien lag und in Verzweiflung die +Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie? Welch eine +verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte ihr Herz? Weshalb quälte es +sich und grämte es sich und ergoß es sich in so heißen und +hoffnungslosen Tränen? + +Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich ins Gedächtnis +zurückzurufen, jedes Wort, das noch wie Musik in seinen Ohren klang, und +auf jede Erinnerung, auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig +wiederholte, antwortete sein Herz mit einem dumpfen schweren Schlage ... +Einen Augenblick schien es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch +in demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes Wesen bis ins +Mark, daß er zu vergehen glaubte vor Schmerz und Sehnsucht, als er in +der Erinnerung nun wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren +glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen und verlor sich in +seligen Gefühlen. Irgendwo schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung +sank. + +Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über ihn und sehe ihn an +mit ihren wundersamen, klaren Augen, die feucht schimmerten von +glänzenden Tränen und einem hellen Glück, so still und rein, wie der +hohe unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und aus ihrem Antlitz +sprach eine so feierliche Stille und ihr Lächeln war eine solche +Verheißung von unendlicher Seligkeit, war so voll Mitleid und +Barmherzigkeit, und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung +schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein Stöhnen sich seiner +entkräfteten Brust entrang vor lauter Glück. Es war, als wolle sie ihm +etwas sagen, etwas ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer +Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig atmete er die +Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte und gleichsam mit einer +elektrischen Spannung für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die +Arme aus, schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie stand vor +ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem großen Schreck, am ganzen +Körper vor Aufregung zitternd. Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und +rang die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie sank zitternd an +seine Brust ... + + + IV. + +„Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte Ordynoff, plötzlich +erwacht, sie immer noch in starker und heißer Umarmung an sich pressend. +„Was fehlt dir, Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“ + +Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht an seiner Brust. +Lange Zeit vermochte sie nichts zu sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte, +wie nach einem großen Schreck. + +„Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie endlich kaum vernehmbar +hervor, als stehe ihr das Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht, +wie ich zu dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch fester an +ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften Gefühl küßte sie seine +Schulter, seinen Arm, seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte +sie die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als aber Ordynoff +sie in einem unsagbaren Gefühl von Beklemmung emporhob und sie neben +sich niedersetzen ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen +baten wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre Lippen zwang, +verriet, daß sie kaum zu versuchen wagte, die unbezwingbare Macht der +neuen Empfindung zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos +gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken: mißtrauisch +schob sie ihn mit der Hand zurück, sah ihn kaum mehr an und antwortete +gesenkten Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden +Fragen. – + +„Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt? Oder ist dir sonst +etwas Böses zugestoßen? Sag doch! Oder hat er dich erschreckt? ... Er +fiebert und phantasiert ... Vielleicht hat er im Fieber etwas +gesprochen, was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast etwas +Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein Traum?“ + +„Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete Katherina, mit Mühe ihre +Aufregung niederringend. „Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur +einmal rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief ihn – +ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich nicht und wachte nicht auf. +Er ist sehr schwer krank, möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich +wieder der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete, betete! Und +da, sieh, da kam das über mich ...“ + +„Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb, sei ruhig! Wir haben +dich gestern erschreckt ...“ + +„Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ... + +„Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher schon geschehen?“ + +„Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und schmiegte sich wieder wie +ein geängstigtes Kind an ihn. „Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir +gekommen,“ sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar drückte sie +ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde es mir so schwer, allein zu +sein! Also nicht mehr weinen, weine auch du nicht, wozu solltest du um +fremdes Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage, wenn es dir in +der Einsamkeit schwer wird und du keinen Menschen bei dir hast! ... +Höre, hattest du eine Geliebte?“ + +„Nein ... vor dir – keine ...“ + +„Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“ + +Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an, wollte etwas sagen, schwieg +aber und senkte den Blick. Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das +plötzlich wie in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die +vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine Frage schien auf ihren +Lippen zu schweben. Mit verschämter Schelmerei blickte sie ein-, zweimal +zu ihm auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf. + +„Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte sie, und „nein, +nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit leisem Kopfschütteln, und +allmählich erschien wieder ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein, +mein Lieber,“ fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte sein!“ + +Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel Weh aus ihrem +Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer, und so überraschend brach aus +ihrem Innersten Verzweiflung hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches +krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten Leid erfaßte: +und er sah sie an, wie einer, dessen Mitleid ihm selbst zur noch +größeren Qual wird. + +„Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit einer Stimme, die ihm ins +Herz schnitt, und sie nahm seine Hände und drückte sie, wie um +aufsteigende Tränen zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es +nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und liebe mich nicht so, +wie du mich jetzt liebst. Es wird dir dann leichter sein, du wirst dich +vor einem argen Feinde bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich +werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen und es mir +doch nicht zur Schande werden lassen, daß ich dich kennen gelernt habe. +War ich doch auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber hattest! +Nimm mich als Schwester! Wir sind doch nicht umsonst einander gut und +nicht umsonst hab’ ich unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet! +Eine andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen Erdenrund, +durchsuche den Himmel – nein, glaube mir, du wirst keine zweite finden, +die dir eine solche Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um +was dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben, werde dich ewig +so lieben wie jetzt, und werde dich deshalb lieben, weil deine Seele so +rein ist, so hell, so ... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil +ich, als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß du meines +Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter Gast, und uns nicht +ohne Grund um Aufnahme batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen +lieben, wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden. Und wenn +sie etwas sagen, dann weiß ich gleich alles, was in dir ist, und dafür +möchte man dann das Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen, +möchte alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist süß, +desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden hat ... Aber _mein_ +Leben, das gehört ja nicht mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der +Wille ist gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein Bruder und +hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder das Schlimme mich anficht. Nur +sorge du selbst, daß ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen +und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst du mich? Hat +auch dein Herz es gehört? Hast du auch alles verstanden, was ich dir +sagte? ...“ Sie wollte noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte +die Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe sie alle +Kraft, aufschluchzend sank sie an seine Brust und in einem Weinkrampf +tobte ihre Leidenschaft sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte +wie in Glut. + +„Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung die Augen umflorte +und den Atem benahm. „Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen, +was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen, zitternd +vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen Zauber zu zerstören, den ganzen +Sinnenrausch, und damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war und +was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit hielt: so entrückt +fühlte er sich! „Ich weiß nicht, ich verstehe dich nicht, ich habe +vergessen, was du mir sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur +das Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ... + +Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie schmiegte sich immer fester, +immer wärmer, glühender an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig, +sich noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit, sank er in +die Knie vor ihr. Eine Erschütterung wie ein Schluchzen brach endlich +schmerzhaft aus seiner Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen +Körper – und von der Fülle der noch nie empfundenen Verzückung bebte +seine Stimme, die tief aus seinem Innersten hervordrang, wie der Ton +einer Saite, die man in Schwingung gebracht. + +„Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du? Aus welchem Himmel bist du +zu mir herabgestiegen? Es ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch +nicht glauben, daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich +sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe schon lange +einmal sprechen wollen ... wer bist du, meine Freude, sag? Wie hast du +mein Herz gefunden? Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester? +... Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl mir, wo hast du +früher gelebt, was hast du dort geliebt? Erzähle mir alles, ich will +alles von dir wissen! Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie bei +uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor mir geliebt? Zu wem hat +dich zuerst dein Herz gedrängt? ... Hast du deine Mutter gekannt und hat +sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du wie ich unter +Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist du immer so gewesen? Erzähl mir von +deinen Träumen und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung gegangen ist +und was nicht – erzähle mir alles! ... Wer war der erste, den dein +Mädchenherz liebgewann und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir, +was soll _ich_ dafür geben, was muß _ich_ dir geben ... für – dich?! ... +Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein Schwesterchen, sag mir, womit kann +ich mir dein Herz verdienen?“ + +Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in ihren Schoß. Als er aber +aufblickte, überlief es ihn vor Schreck: Katherina saß totenblaß und +regungslos auf dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über ihn +hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in stummem, unsagbarem +Schmerz. Langsam erhob sie sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel +vor dem alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche Worte +entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie schien ohnmächtig zu werden. +Ordynoff hob sie auf, trug sie auf sein Bett und stand in atemloser +Angst über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen auf, +bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu stützen, sah sich mit +irrem Blick im Zimmer um, sah zu ihm auf und tastete nach seiner Hand. +Sie zog ihn näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie +etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich brach sie in +einen Strom von Tränen aus. + +Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen zerriß dieselben und +erstickte ihre Stimme. Als sie dann wieder den Kopf hob, sah sie mit +solch einer Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand, +sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus ihrem Munde zu verlieren. +Endlich hörte er sie deutlich flüstern: + +„Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich bin verloren!“ + +Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung an. Ein +gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte ihn. Und Katherina sah dieses +plötzliche schmerzliche Zusammenzucken seines Gesichtes. + +„Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser Mensch hat mich verführt, +– _er_, _er_ ist mein Verderber! ... Ich habe ihm meine Seele verkauft +... Warum, oh, warum hast du von der Mutter gesprochen! Wozu brauchtest +du mich daran zu erinnern: Gott möge dir ... möge dir verzeihen! ...“ + +Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz schlug so todesweh, +daß er vor Schmerz hätte aufschreien mögen. + +„Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem Atem, „er +sagt, wenn er stirbt, wird er kommen und meine sündige Seele holen ... +Ich gehöre ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ... Und jetzt +quält er mich und liest mir aus seinen Büchern vor ... Dort, sieh, das +ist sein Buch! Dort! Er sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh, +da liegt sein Buch, sieh ...“ + +Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band. Ordynoff hatte nicht +bemerkt, wie der in sein Zimmer geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es +war eines von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten Büchern der +Altgläubigen, wie er sie früher einmal gelegentlich gesehen hatte. Doch +war er unfähig, seine Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken. + +Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu. + +„Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich geängstigt und +erschreckt ... ich bin ja bei dir ... Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb, +mein Licht!“ + +„Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte wieder seine Hände. „Ich +bin ja immer so! ... Immer fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle +mich nicht, quäle mich nicht! ...“ + +„Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile fort. „Manchmal +bespricht er mich einfach mit seinen eigenen Worten, ein anderes Mal +nimmt er sein Buch, das größte, und liest mir vor – liest so drohende +und strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich verstehe auch +nicht jedes Wort, aber mich überkommt dann solch eine Angst, und wenn +ich auf seine Stimme horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er, +sondern ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts erweicht und +der so unerbittlich ist, daß es mir das Herz zermalmt und die Qual noch +größer wird, als zu Anfang mein Gram war!“ + +„Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“ sagte Ordynoff, ohne +sich dessen recht bewußt zu sein, was er sprach. + +„Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich – ich weiß es nicht ... Er +aber sagt mir immer: bete, bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler +Nacht auf und bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der Schlaf, +aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder, und dann kommt es mir +vor, daß ringsum ein dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes +droht, daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden, daß ich +keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag und mich niemand vor dem +Furchtbaren retten kann. Meine Seele will sich selbst verzehren, und es +ist, als wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ... Dann fange +ich wieder an, zu beten, und bete und bete, bis die Gottesmutter +liebevoller auf mich herabschaut. Dann erst stehe ich auf und gehe +halbtot wieder zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor dem +Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor, daß er erwacht und mich +ruft ... und dann liebkost und tröstet und beruhigt er mich ... und dann +wird mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein Unglück auch +noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht mehr. Er ist mächtig! Groß ist +sein Wort!“ + +„Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ... fragte Ordynoff zitternd, +mit Verzweiflung im Herzen. + +Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum Tode Verurteilte an, der +man die letzte Hoffnung auf Gnade nimmt. + +„Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin, meine Mutter +hat mich verflucht! Ich habe meine eigene Mutter umgebracht!“ ... + +Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte sie sich an ihn. Er +fühlte, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, als wolle sich ihre +Seele diesem Körper entringen. + +„Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“ sagte sie, ganz +beherrscht von der Erinnerung und ihrer Aufregung – und sie schien das +unwiderruflich Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen +Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es schon lange sagen, +aber er verbot es mir immer, bald mit Bitten, bald mit Vorwürfen und +zornigen Worten. Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran zu +erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher. Mir aber kommt alles +das – so auch heute nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ... +Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her, ich weiß nicht +einmal mehr, wann es war, und doch steht es vor mir, als wäre es gestern +gewesen, wie ein Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein Herz +bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch einmal so lang. Setze dich, +setze dich hierher, ich werde dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche +mich, die ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes Leben +anvertrauen ...“ + +Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am Sprechen verhindern, doch +sie faltete die Hände, wie um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch +Gehör zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung fort. +Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft, ihre Stimme verriet den Sturm, +der in ihrer Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles, denn +ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben geworden, ihr Leid auch +sein Leid. Er glaubte wieder seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind +wuchs vor ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer, und +es war ihm, als presse er mit ungeheurer Kraft sein Herz zusammen und +spotte obendrein mit höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut +begann zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken und brachte sie in +Verwirrung. Da war es ihm denn, als stehe der boshafte Alte aus seinem +Traum plötzlich auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig +vor ihm. + +„Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina, „nur viel dunkler und +grausiger, und der Wind heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie +gehört hatte ... begann schon in jener Nacht mein Verderben? ... Die +Eiche vor unseren Fenstern brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der +immer zu uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann – erzählte, +daß er sich dieser Eiche noch aus seiner Kindheit erinnere: damals sei +sie schon ebenso groß gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In +derselben Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen noch! – wurden +Vaters Barken auf dem Fluß von diesem Sturm zertrümmert, und als die +Fischer zu uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik – da fuhr der +Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er krank war. Wir blieben allein, +Mutter und ich. Wir saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber +war so traurig und weinte still ... und ich wußte, warum sie weinte. Sie +war erst vor kurzem vom Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und +sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ... Plötzlich, um +Mitternacht, höre ich: jemand klopft draußen an die Pforte. Ich sprang +auf, alles Blut strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor +Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete mich, aber ich +nahm die Laterne und ging selbst hinaus, um zu öffnen ... Das war er! +Mir wurde bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam, und das schon +von Kindheit an, soweit meine Erinnerung zurückreicht, seitdem ich +überhaupt denken kann! Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart +war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis dahin hatte er mich +noch kein einziges Mal freundlich angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter +zu Hause?‘ Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht zu Hause +sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und plötzlich sah er mich an, so +an ... zum ersten Male sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er +aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘ – ‚Ich überlege,‘ +sagte er. Langsam folgte er mir – als wir aber eintraten, fragte er +plötzlich leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu Hause +sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich schwieg ... Die Mutter +erstarrte, als sie ihn sah – und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber +schenkte ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz naß und +durchfroren – woher er kam und wo er sich aufhielt, das haben Mutter und +ich nie gewußt. Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen nicht +gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den Tisch, die Fausthandschuhe +streifte er ab – neigte sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot +keinen Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans Feuer ...“ + +Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke und quäle sie +etwas, doch schon bald erhob sie ihn wieder und fuhr fort: + +„Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen. Ich verstand kein +Wort. Früher hatte man mich immer fortgeschickt, wenn er kam; damals +aber wagte die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu sagen. Der +Böse kaufte meine Seele, ich aber sah die Mutter an, als wäre ich stolz +darauf. Ich merkte, daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen. +Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr – in der letzten +Zeit hatte ich schon mehrmals seine Hand nach dem Dolch, den er vorn im +Gürtel trug, greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich stand auf +und griff nach seinem Gürtel, um ihm den Dolch zu entreißen. Er aber +knirschte vor Wut und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die +Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe ich auf der +Stelle; es wurde mir dunkel vor den Augen und ich brach lautlos +zusammen, aber ich schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast +die Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm und den Ärmel an der +Hand aufstreifte, mit der er mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch +aus der Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab, die Hand, +räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du Stolze, werde mich dafür +tief bis zur Erde vor dir verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein +Herz begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach ihm hin. Ich weiß +noch, ich lächelte, sagte aber kein Wort und sah nur der Mutter in die +traurigen Augen, und sah sie zornig an, während zugleich ein schlechtes +Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die Mutter saß ganz bleich und +totenstill ...“ + +Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem Wort ihrer Erzählung. +Doch allmählich legte sich ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger. +Die Erinnerung überwältigte das arme junge Weib und löste ihren Gram in +ein Gefühl auf, das weit hinaus über das ganze uferlose Meer ihrer Sinne +reichte. + +„Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich nahm wieder die Laterne, um +ihn hinauszugeleiten, indem ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie +noch krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben wollte. Wir +kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm, verscheuchte die Hunde, schwieg +aber. Er blieb stehen und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich +mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie er die Hand in den +Mantel schiebt und aus der Brusttasche ein kleines, mit rotem +Saffianleder überzogenes Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe +hin: es sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘ sagte +er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich zum Gruß diese Perlen +bringen, doch nun habe ich sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes +Mädchen, schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit dem +Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie, aber zertreten wollte +ich sie nicht – das wäre zuviel Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch +und sagte kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte sie vor +der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie genommen! Sie schwieg +lange Zeit und war wie ein Handtuch so bleich, und, es war, als hatte +sie Furcht, mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘ fragte sie +endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat es der Kaufmann gebracht, +mehr weiß ich davon nicht.‘ Und ich sah, wie ihr die Tränen über die +Wangen herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde. ‚Nicht mir, +böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß noch, so weh sprach sie die +Worte, so weh, als sei ihre ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf – +ich wollte mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen sagte +ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab: ‚Nun, wenn nicht dir, dann +wohl dem Vater. Wenn er zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm +sagen, daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen haben ...‘ Da +brach sie in Tränen aus und weinte bitterlich ... ‚Das werde ich selbst +tun, werde dem Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach was +für einer Ware sie fragten ... Ich werde es ihm schon sagen, wessen +Tochter du bist, du Gottlose! Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist +eine arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘ Ich schwieg +und keine Träne trat mir ins Auge ... Ach! es war alles wie erstorben in +mir ... Ich ging hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht +horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem Sturm, das fühlte ich, +immer lauschend, entstanden in mir meine Gedanken. + +„Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend der Vater heim, düster und +böse, denn unterwegs hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich +sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet ich, daß der Feind +seinen Weg gekreuzt hatte. Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und +ich wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ... Mit der Mutter +sprach er kein Wort, nach mir fragte er nicht, die Leute ließ er alle +zusammenrufen und befahl, die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus +vor Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem Hause etwas +nicht gut war. So wachten wir denn. Die Nacht verging langsam, wieder +stürmte es draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung +geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein Gesicht glühte, meine Augen +weinten und mein Herz konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in +mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem drückenden Zimmer, und +weit weg, bis ans Ende der Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo +das Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte und zitterte ... +plötzlich, es war schon spät – ich erwachte wie aus leichtem Schlummer +... oder hatte sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt? +– plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht wird: ‚Mach auf!‘ – und +ich sehe, ein Mensch ist an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte +sogleich, wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ ihn in +mein einsames Zimmer. Das war _er_! Die Mütze nahm er nicht ab, setzte +sich auf die Truhe, und sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von +Verfolgern hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte, daß ich bleich +war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter +auch?‘ – ‚Auch die Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen +still ... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ – ‚Ein Pfeifen unter +dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du jetzt, schönes Mädchen, den Feind um +seinen Kopf bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem Verderben +preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge ich mich: was du willst, das +geschehe! Hier hast du einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir +befiehlt, für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg. – ‚Nun? +Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich +will? Von meiner alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen, einer +jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen, meine Seele verpfänden ...‘ +Ich lachte auf. Ich weiß selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz +berühren konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach unten gehen, +mein Herz prüfen und dem Vater und der Mutter meinen Gruß entbieten,‘ +sagte er und stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne +aufeinanderschlugen, und ich mein Herz wie glühendes Eisen in der Brust +fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die Tür. Doch wie er schon über die +Schwelle trat, nahm ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor: +‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht wieder, mir Geschenke zu +bringen!‘ – und ich warf ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“ + +Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie wechselte, wie schon oft +während ihrer Erzählung, wieder die Farbe: ihre blauen Augen waren +dunkel und glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von neuem und +ihre Stimme senkte sich und bebte wie in verhaltener Trauer. + +„Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir, als habe mich ein +Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre ich rufen, schreien, höre wie über +den Hof die Leute laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich +nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen; ich selbst blieb +allein mit der Mutter. Ich wußte, daß sie mit dem Tode rang, seit drei +Tagen lag sie schon im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte +es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer, nur ein ganz +schwacher, leiser Schrei, der so klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es +im Traum erschrickt, und dann war wieder alles still ... Ich löschte das +Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit, ich bedeckte das +Gesicht mit den Händen, ich fürchtete mich, mich umzusehen. Dann drang +plötzlich wieder Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der +Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich weit zum Fenster +hinaus – und ich sah: da brachten sie den Vater, tot, und ich hörte +noch, wie man sagte: ‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade +in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen haben!‘ +Ich sank auf mein Bett; kein Glied rührte sich, aber ich wartete, doch +wußte ich selbst nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar war +diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß. Ich weiß nur, daß +ich schließlich ein Gefühl hatte, als drehe sich alles rund um mich. Im +Kopf empfand ich einen dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die Augen. +Und es freute mich, daß mir das Ende nahte. Da berührte plötzlich jemand +meine Schultern und hob mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so +gut ich sehen konnte: _er_ war es – und ganz versengt waren seine +Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch und rochen nach Rauch. + +„‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe +du mich aus dem Verderben, wie du mich ins Verderben hineingeführt hast. +Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein aber kann ich für +die Sünde dieser verwünschten Nacht nicht Vergebung erflehen – es sei +denn, daß wir zwei gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der +Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von hier fortkommt, ohne +gesehen zu werden!‘ Ich nahm ihn bei der Hand und führte ihn. Wir +stiegen die Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich schloß +die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel trug ich bei mir – und +wies auf das Fenster. Dort lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich +auf seinen starken Arm und schwang sich mit mir aus dem Fenster. Hand in +Hand liefen wir weiter, lange liefen wir. Dann stand endlich der dichte +dunkle Wald vor uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns, +Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes Mädchen, aber +nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt, unser Leben zu lassen! Küsse +mich, schönes Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ – ‚Wovon +sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind meine Hände blutig, mein +Lieb? Ich habe eure Hunde gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten +Gast. Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem Waldweg meines +Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel zerrissen und war aus dem Stall +gelaufen: es hatte nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes +Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘ Ich schwieg. ‚Oder +willst du nicht? Ich bin doch kein Unchrist, kein böser Geist, da sieh, +ich bekreuzige mich, wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das +Kreuz. Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf und ich +drückte mich an ihn und vergaß an seiner Brust alles um mich her, und es +war ganz so, als hielte mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus +diesem Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem breiten, breiten +Fluß waren. Er stieg ab, hob mich vom Pferde und ging zum Schilf: dort +hatte er seinen Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier noch +den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte er, ‚geh, such dir einen +neuen Herrn, die alten haben dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah! +Ich schlang meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das Gesicht an +sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen wir in den Nachen, er nahm +die Ruder und bald lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer +nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und schaute sich rings um +auf dem Wasser. Und während er noch so schaute, murmelte er: + +„‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist manches Gottesmenschen +Ernährerin und mir meine Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt, +meine Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den Blick gesenkt, +denn mein Antlitz brannte vor Scham. ‚Hättest du doch lieber alles +genommen, du stürmische, unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und +würdest mir nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare Perle zu +hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein Wort, Mädchen, was bist du so +stumm? – strahle Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der Nacht!‘ +Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein Herz brannte nach mir, ich +fühlte es, aber doch wollte ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich +wollte etwas sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen sollte, und +so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du willst!‘ sagte dafür er zu +meinem scheuen Schweigen, sagte es wie mit Trauer, und war sehr +niedergeschlagen. ‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen. Gott +mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein Haß gegen mich groß ist! +Bin ich deinen blauen Augen so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘ +Ich hörte es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang ich mein +Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht liebwert, wie kann ich das wissen, +wohl aber eine andere Törichte, Schamlose, die ihr reines +Mädchenstübchen in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für eine +Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz nicht bezwungen hat. Das +wissen vielleicht nur meine heißen Tränen und das sollte auch der noch +wissen, der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht, +obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig macht!‘ Ich +sagte es, vermochte dann aber nicht länger an mich zu halten und brach +in Tränen aus ... Er schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt +erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann, und seine Augen +brannten auf mir, ‚es sind keine leeren Worte, die ich dir sage, sondern +es ist ein großes Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück +schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr sein, wenn du +mich aber einmal nicht mehr liebhast, – so mache keine unnützen Worte, +sage nichts, bemühe dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen, ein +Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung deines kleinen Fingers laß +genug sein und ich gebe deine Liebe frei und schenke dir deine goldene +Freiheit zurück. Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar Stolze, +mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘ Da lächelten alle meine Sinne +zu seinen Worten ...“ + +In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung inne. Sie holte +schwer Atem, lächelte sinnend vor sich hin und wollte fortfahren, doch +da begegneten ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem Blick, der +wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie zuckte zusammen, wollte etwas +sagen, aber nur das Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun – wie +fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren Kopf und warf sich mit +dem Gesicht auf das Kissen. – Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles +Gefühl, eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu geben +vermochte und die unerträglich war, ergoß sich wie ein Gift durch alle +seine Adern und wuchs, und wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb, +eine gierig verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang +sein ganzes Denken und tobte durch alle seine Gefühle. Gleichzeitig aber +begann eine unendliche, uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu +bedrücken. Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte, +aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch schweigen solle. Er +wollte sich ihr schon zu Füßen werfen und sie unter Tränen anflehen, ihm +seine früheren Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch +unverständliches reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte sich +förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon lange versiegt waren. +Sein Herz verging vor Sehnsucht und es war ihm, als sei es +blutüberströmt und schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele +nicht mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina ihm erzählte, +und das Gefühl, das das arme junge Weib in ihm erregte, machte seine +Liebe irre und scheu. In diesem Augenblick verfluchte er seine +Leidenschaft: sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war +ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch seine Glieder. + +„Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt erzählt habe!“ +sagte Katherina, sich wie nach einem plötzlichen Entschluß aufrichtend, +„nicht das, nicht das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein +neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der die ganze Qual +ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen schien. „Mein Leid und mein +Jammer ist etwas ganz anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf +der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr finden kann! Was +liegt mir daran, daß sie mich in einer bitteren Stunde verflucht hat! +Was liegt mir an meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen +Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt daran, daß ich mich +dem Bösen verkauft und meine Seele dem Verderben hingegeben habe, daß +ich für das kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es nicht, +obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter ist mir dies und es +zerreißt mein Herz, daß ich seine Sklavin geworden bin, daß meine +Entehrung und Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige Herz +sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als wäre sie eine Lust und +ein Glück – das, nur das ist mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in +ihm ist und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“ + +Der Herzschlag stockte in der Brust des armen Weibes und ein +krampfhaftes Aufschluchzen erstickte ihre Worte. Ihr Atem strich heiß +über ihre brennenden Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre +Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht war dabei in diesem +Augenblick so bezaubernd, es sprach solch eine Flut von Gefühl und +Leidenschaft aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte in +einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche Empfinden, das in +Ordynoffs Brust aufstieg, sofort wieder verschwand. Sein Herz drängte zu +ihr hin, wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll +Leidenschaft in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in den Wellen +desselben Sturmes untertauchen, in demselben Ausbruch unbeschreiblicher +Raserei, gemeinsam mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr +sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick Ordynoffs und +lächelte, daß eine doppelte Flammenglut sein Herz durchloderte. Er wußte +nicht mehr, was mit ihm geschah. + +„Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte er ihr mit verhaltener +Stimme zu und beugte sich zu ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem +mit dem ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die Augen sah. +„Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von deinem Leid nichts, meine Seele +ist verwirrt ... Was geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was +du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte mich nicht, bring +mich nicht um! ...“ + +Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen waren versiegt auf ihren +heißen Wangen. Sie wollte ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen, +wollte selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames Lächeln +erschien langsam auf ihren Lippen, ja fast war es, als wolle ein Lachen +hervorbrechen ... + +„So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“ sagte sie endlich mit +stockender Stimme. „Höre weiter ... wirst du auch mir zuhören, du heißes +Herz? Höre, was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig von +ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie ich mit ihm ein Jahr +verlebte, doch wozu ... Als aber dies Jahr vergangen war, da zog er mit +seinen Freunden stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter am +Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner Rückkehr verweilen. Ich +wartete einen Monat, wartete noch einen – da begegnete mir im Städtchen +ein junger Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich mich +meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen, liebes Schwesterchen!‘ +sagte er, als er mich erkannte, ‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad: +die Alten verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du mich +vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben Ort wie du ...‘ – ‚Was +sagt man dort von mir?‘ fragte ich. ‚Man sagt, du seist fortgegangen, +habest deine Mädchenehre vergessen und dich einem Räuber, einem +Seelenverderber hingegeben,‘ antwortete mir Aljoscha lachend. ‚Und was +sagtest du von mir, Aljoscha?‘ ‚Vieles wollte ich dir sagen, als ich +hierherkam,‘ – und sein Herz verwirrte sich – ‚vieles wollte ich dir +sagen, aber jetzt, wo ich dich sehe, habe ich alles vergessen ... +verdorben hast du mich!‘ sagte er leise. ‚So sei es denn, nimm auch +meine Seele, und solltest du mein Herz auch verspotten und über meine +Liebe lachen, du Schöne! ... Ich bin allein, habe mein Erbe und bin mein +eigener Herr, und meine Seele ist mein, habe sie keinem verkauft, wie +eine andere es getan, die ihr Gewissen begraben hat, und nicht zu kaufen +brauchst du sie, umsonst gebe ich sie dir, denn verdienen läßt sie sich +ja nicht, wie man sieht!‘ Ich lachte, und nicht ein- oder nur zweimal +hat er mir das gesagt – einen ganzen Monat lebte er dort, ließ alles +andere liegen, vergaß die Waren, entließ seine Leute, lebte dort ganz +allein. Da tat er mir schließlich leid und ich sagte eines Morgens zu +ihm: ‚Erwarte mich, Aljoscha, wenn die Nacht dunkelt, unten am +Landungsplatz; laß uns dann zu dir fahren! Ich bin meines schalen Lebens +hier überdrüssig!‘ Die Nacht kam, ich schnürte mein Bündelchen, und +meine Seele begann sich zu sehnen und sie spielte mit meinen Gedanken. +Da sehe ich – mein Herr tritt ein, ganz unerwartet, unverhofft! – ‚Sei +gegrüßt,‘ sagte er. ‚Komm. Auf dem Fluß wird es heute Sturm geben, die +Zeit drängt.‘ Ich folgte ihm; wir kamen an den Fluß, aber bis zu den +Unsrigen war es weit. Da sehen wir – ein Boot hat angelegt und in ihm +sitzt ein bekannter Ruderer, der jemand zu erwarten scheint. ‚Guten +Abend, Aljoscha, Gott helfe dir!‘ sagt mein Herr. ‚Was, – hast dich +verspätet oder willst du noch zu deinen Schiffen? Nimm uns mit, sei so +gut und bringe uns zu den Unsrigen. Mein Boot ist nicht hier und ich +kann nicht schwimmen.‘ – ‚Steige ein,‘ sagte Aljoscha, und mein ganzes +Herz erbebte, als ich seine Stimme vernahm. ‚Setzt euch, der Wind ist +für alle und in meinem Boot ist auch für euch noch ein Platz.‘ Wir +stiegen ins Boot. Die Nacht war dunkel, die Sterne hatten sich +versteckt, der Wind heulte und die Wellen wuchsen, vom Ufer aber waren +wir bald schon über eine Werst weit entfernt. Wir schwiegen alle. + +„‚Sturm!‘ sagte endlich mein Herr. ‚Der bringt diesmal nichts Gutes! +Einen solchen wie heut nacht habe ich auf dem Fluß noch niemals erlebt. +Wir sind zu schwer für das Boot! Drei Menschen kann es bei diesem Sturm +nicht tragen!‘ – ‚Ja, du hast recht, drei kann es nicht tragen, da ist +einer von uns zu viel,‘ sagte Aljoscha, und in seiner Stimme klang ein +verhaltenes Beben. ‚Nun was, Aljoscha?‘ sagte er, ‚ich kannte dich schon +als kleines Kind, hab mit deinem seligen Vater Bruderschaft getrunken, +haben uns Salz und Brot gegenseitig gebracht – nun sage mir, Aljoscha, +könntest du ohne Boot von hier aus ans Ufer gelangen ... würdest du +untergehen und dein Leben verlieren? – oder würdest du zur Not das Ufer +erreichen?‘ – ‚Nein,‘ sagte Aljoscha, ‚ich würde es nicht erreichen.‘ – +‚Aber wer weiß, vielleicht ist die Stunde dir hold und du könntest es +doch?‘ – ‚Nein, bei dem stürmischen Fluß kann ich es nicht wagen, ich +fände meinen Tod in den Wellen.‘ – ‚So höre jetzt, Katherinuschka, meine +schönste vielkostbare Perle!‘ wandte er sich da an mich. ‚Ich erinnere +mich einer ähnlichen Nacht, doch wogte da nicht die Welle, die Sterne +glänzten hell und der Mond schien ... Ich will dich nur so, ganz +harmlos, fragen, ob du sie nicht vergessen hast?‘ – ‚Nein,‘ sagte ich. +‚Und wenn du sie nicht vergessen hast, dann wirst du dich wohl auch noch +erinnern, wie ein Verwegener ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit +zurückzugewinnen, wenn ihr jemand nicht mehr liebwert erscheint – was?‘ +– ‚Auch das habe ich nicht vergessen,‘ sage ich, mehr tot als lebendig. +– ‚Ah! hast also nichts vergessen! Nun sieh – für das Boot sind drei zu +schwer. Sollte da nicht jemandes Stunde gekommen sein? Sag, meine Liebe, +sprich es aus, dein Wort, meine Taube, du Süße ...‘ + +„Ich habe damals das Wort nicht gesagt!“ flüsterte Katherina erbleichend +... Sie beendigte die Erzählung nicht. + +„Katherina!“ ertönte eine heisere dumpfe Stimme, Ordynoff fuhr zusammen. +In der Tür stand Murin. Er stand regungslos, in die Pelzdecke gehüllt, +stand totenbleich und sah sie mit starrem, fast irrsinnigem Blick an. +Katherina erblaßte und auch ihr Blick hing starr, wie gebannt an ihm. + +„Komm zu mir, Katherina!“ flüsterte der Kranke kaum vernehmbar und +verließ das Zimmer. Katherina sah aber immer noch starr auf die Tür, als +stehe er noch dort. Plötzlich jedoch stieg das Blut heiß in ihre +bleichen Wangen und sie erhob sich langsam vom Bett. Ordynoff entsann +sich der ersten Begegnung. + +„Also auf morgen denn, mein Herz!“ sagte sie, und es klang wie ein +seltsames leises Auflachen. „Also auf morgen. Vergiß aber nicht, wo ich +stehen geblieben bin: ‚Wähle einen von beiden: wer ist dir lieb und wer +nicht lieb von ihnen, du Schöne!‘ Wirst’s nicht vergessen? wirst eine +Nacht dich gedulden?“ fragte sie, indem sie die Hände auf seine +Schultern legte und zärtlich auf ihn herabsah. + +„Katherina, geh nicht zu ihm, tu’s nicht! Er ist wahnsinnig, siehst du’s +denn nicht!“ flüsterte Ordynoff, zitternd für sie. + +„Katherina!“ rief Murins Stimme hinter der Wand. + +„Warum nicht? Er wird mich ermorden, meinst du?“ fragte Katherina +lachend. „Gute Nacht, mein Geliebter, mein lieber Bruder!“ sagte sie, +zärtlich seinen Kopf an ihre Brust drückend, während plötzlich Tränen +aus ihren Augen brachen. „Das sind die letzten Tränen. Verschlafe dein +Leid, mein Geliebter, sollst morgen zur Freude erwachen!“ Und sie küßte +ihn leidenschaftlich. + +„Katherina, Katherina!“ flehte Ordynoff, und wollte vor ihr niederknien, +um sie zurückzuhalten, „Katherina!“ + +Sie wandte sich noch einmal nach ihm um, nickte ihm lächelnd zu und +verließ das Zimmer. Ordynoff hörte, wie sie bei Murin eintrat. Er hielt +den Atem an und lauschte, doch kein Laut war zu vernehmen. Der Alte +schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos ... Er wollte zu ihr gehen, +doch seine Füße versagten ... Er verlor alle Kraft und sank erschöpft +auf das Bett zurück ... + + + V. + +Als er wieder zu sich kam, vermochte er zunächst gar nicht +festzustellen: War es erste Morgen- oder späte Abenddämmerung? Das +Zimmer lag fast vollständig im Dunkel. Das Lämpchen vor dem +Heiligenbilde mußte erloschen sein. Er wußte nicht, wie lange er +geschlafen hatte, er fühlte nur, daß sein Schlaf krankhaft gewesen war. +Als er zu sich kam, strich er sich unwillkürlich mit der Hand über das +Gesicht, als wolle er einen Traum und nächtliche Visionen verscheuchen. +Doch als er aufzustehen versuchte, fühlte er sich am ganzen Körper wie +zerschlagen und seine erschöpften Glieder versagten den Dienst. Sein +Kopf schmerzte, ihm schwindelte, und Frostschauer überliefen seinen +Körper, denen dann wieder glühende Fieberwellen folgten. Mit dem +Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung zurück und sein Herz krampfte sich +zusammen und erzitterte, als er in einer Sekunde die ganze letzte Nacht +wiedererlebte. Sein Herz schlug bei der Erinnerung so stark, und seine +Empfindungen waren so heiß und unmittelbar, als wären nicht eine Nacht, +nicht lange Stunden vergangen, seit Katherina ihn verlassen, sondern +kaum eine Minute. Er fühlte, daß seine Augen noch von den Tränen +brannten – oder waren es neue Tränen seiner heißen Seele? Und doch – wie +ein Wunder schien ihm alles – in seinen Qualen lag für ihn eine Süße und +Lust, obschon er gleichzeitig mit jedem Nerv seines Körpers fühlte, daß +er eine solche Vergewaltigung ein zweites Mal nicht mehr ertragen würde. +Es kam ein Augenblick, wo er fast den Tod fühlte und bereit war, ihn wie +einen lichten Gast zu empfangen, der in weiblicher Gestalt ihm nahte: +bis zu einer solchen Spannung war seine Empfindungsfähigkeit gesteigert, +mit solch einer stürmischen und machtvollen Allgewalt wogte jetzt, nach +dem Erwachen, seine Leidenschaft von neuem auf, und solch ein Entzücken, +solch eine Begeisterung erfüllte seine Seele, daß sein Leben, bis in +schwindelnde Höhen gesteigert, gleichsam im Begriff war, +zusammenzubrechen und niederzustürzen, sofort zu verwesen und auf ewig +zu vergehen ... Fast in demselben Augenblick, als wär’s eine Antwort auf +seinen Schmerz, auf das Zittern seines Herzens, erklang eine Stimme, die +ihm so bekannt schien, wie das innere Klingen und Tönen, das die +Menschenseele in Stunden der Freude, in Stunden großen Glückes über ihr +Dasein empfindet – es war die weiche, volltönende Stimme Katherinas. +Ganz nah, fast wie am Kopfende seines Bettes begann ein Lied, zu Anfang +leise und schwermütig. Dann hob sich die Stimme und senkte sich wieder, +wie in leisem Verhallen, als vergehe sie und wiege dabei doch noch +zärtlich die unruhvolle Qual des eigenen unterdrückten Verlangens, das +in ihrem sich sehnenden Herzen für ewig gefangen war. Bald wieder +schwang sie sich hoch empor und ergoß sich zitternd und glühend von +einer Leidenschaft, die sich nicht länger zurückhalten ließ, in ein +ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer von zaubermächtigen, uferlosen +Tönen, so selig, wie der erste selige Augenblick der Liebe. Ordynoff +vernahm auch Worte: sie waren der rührend schlichte, zu Herzen gehende +Ausdruck eines reinen, ruhigen, weil selbstverständlichen und klaren +Gefühls – der Form nach alte, schon längst verklungene Worte, wie der +Volksmund sie in früheren Zeiten gedichtet. Doch Ordynoff dachte nicht +an ihren Sinn, er vergaß sie, er hörte nur die Töne, und aus den +treuherzigen naiven Strophen des alten Liedes sprachen zu ihm ganz, ganz +andere Worte – Worte, in denen dieselbe Sehnsucht zitterte, die seine +eigene Brust erfüllte, Worte, die wie ein Widerhall der geheimsten und +tiefsten, ihm selbst noch halb unverständlichen Regungen seiner +Leidenschaft waren und die nun, da sie im Liede zu ihm drangen, ihm +verrieten, wie sehr auch sie um dieselben wußte. Er glaubte, den letzten +bangen Laut eines vor Liebe vergehenden Lebens zu hören, dann wieder die +aufjauchzende Freude eines Willens, der seine Ketten gesprengt und licht +und frei ins unermeßliche Meer unversehrbarer Seligkeit strebte; dann +wieder war es ihm, als hörte er das erste zitternde Liebesgeständnis, +unter Erröten und Tränen in heimlichem zagen Flüstern von Mädchenlippen, +noch mit dem ganzen Duft süßer Scham; dann wieder stieg gleichsam der +Wunsch einer Bacchantin auf, die stolz und froh ob ihrer Macht, +unverhüllt, des Geheimnisses bar, mit sprühendem Lachen und trunken +schweifendem Blick im Kreise sich umschaut ... + +Ordynoff hielt es nicht aus bis zum Ende des Liedes und erhob sich vom +Bett. Das Lied verstummte sogleich. + +„Der gute Morgen und der gute Tag sind vorbei, mein Ersehnter!“ sagte +Katherinas Stimme hinter der Wand, „also sage ich jetzt guten Abend zu +dir! Steh auf, komm zu uns, erwache zu heller Freude: wir erwarten dich, +ich und mein Herr, beides gute Leute und dir ergeben. Lösche mit Liebe +den Haß, wenn das Herz uns die Kränkung noch nachträgt. Sage ein +freundliches Wort! ...“ + +Ordynoff verließ bereits sein Zimmer, wußte aber eigentlich selbst kaum, +daß er zu ihnen ging. Vor ihm öffnete sich die Tür und er sah und +schaute und war wie geblendet von dem goldenen Lächeln der Wundersamen, +die vor ihm stand. Er hörte und sah nichts und niemanden außer ihr. Im +Augenblick war ihre Lichtgestalt der Inbegriff seines ganzen Lebens, +seiner ganzen Freude. + +„Zwei Sonnenröten sind schon vergangen, seit wir Abschied nahmen,“ sagte +sie, und sie streckte ihm die Hände entgegen, „da sieh durch das +Fenster, auch die zweite ist schon erloschen. Sie waren ähnlich dem +Erröten eines schönen Mädchens,“ fuhr sie lachend fort, „die erste +Morgenröte war wie die Glut, mit der das Mädchen zum erstenmal das Herz +in der Brust schlagen fühlt; und die zweite wie wenn die Schöne ihre +Scheu vergißt und das Blut feurig ins Antlitz steigen spürt. ... Tritt +ein, tritt ein in unser Haus, du Junger! Was stehst du noch auf der +Schwelle? Ehre werde dir zuteil und Liebe und als erstes ein Gruß vom +Hausherrn!“ + +Und mit hellem Lachen erfaßte sie Ordynoffs Hand und führte ihn ins +Zimmer. Befangenheit überkam sein Herz. Das ganze Feuer, das in seinem +Inneren flammte, war wie im Augenblick erloschen, doch nur für einen +Augenblick. Verwirrt senkte er das Auge, um sie nicht anzusehen. Er +fühlte, sie war von so bezaubernder Schönheit, daß er ihren heißen Blick +nicht würde ertragen können. Nein, so hatte er sie noch nie gesehen! Zum +erstenmal sah er Freude und den Zauber des Lachens in ihrem Gesicht, und +ihre dunklen Wimpern glänzten nun nicht mehr von vergossenen Tränen. +Seine Hand lag bebend in ihren Händen. Hätte er den Blick erhoben, so +würde er gesehen haben, daß Katherinas strahlende Augen mit +triumphierendem Lächeln an seinen Mienen hingen, in denen sich deutlich +Verwirrung und Leidenschaft widerspiegelten. + +„Stehe auf, Alter!“ sagte sie endlich, als käme sie selbst erst und mit +einem Male zur Besinnung, „sage dem Gast ein freundliches Wort zum Gruß. +Er ist unser Gast und mir so gut wie ein leiblicher Bruder! Stehe auf, +stolzer Alter, sei nicht hochmütig, steh auf, entbiete ihm einen Gruß, +fasse seine weiße Hand, bitte ihn an den Tisch!“ + +Ordynoff sah auf, und es war ihm, als käme er jetzt erst zu sich: er +hatte Murin ganz vergessen, an seine Anwesenheit gar nicht gedacht. Die +Augen des Alten, die wie in Todesahnen erloschen schienen, sahen ihn +unbeweglich an, und mit einem stechenden Schmerzgefühl erinnerte sich +Ordynoff jenes Blickes, der ihn das letztemal unter den buschigen +überhängenden Brauen hervor getroffen hatte, und diese Brauen waren auch +jetzt wieder wie in Qual und Grimm zusammengezogen. Ein leichtes +Schwindelgefühl erfaßte ihn. Er sah sich um: und da erst kam ihm klar +zum Bewußtsein, wo er sich eigentlich befand. Murin lag noch immer auf +dem Bett, war jedoch fast vollständig angekleidet und es machte den +Eindruck, als sei er bereits am Morgen aufgestanden und tagsüber +ausgegangen. Um den Hals trug er wieder ein rotes Tuch, die Füße staken +in Hausschuhen. Die Krankheit war offenbar überstanden, nur sein Gesicht +war noch auffallend blaß und fast gelb. Katherina stand neben dem Bett, +stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sah aufmerksam von dem einen +zum anderen: doch das freundliche Lächeln schwand nicht aus ihrem +Gesicht. Es schien beinahe, als geschehe alles auf einen Wink von ihr. + +„Ja! Das bist du,“ sagte Murin, indem er sich langsam erhob und auf das +Bett setzte. „Du bist mein Mieter. Ich bin schuldig vor dir, Herr, habe +gesündigt und dich, ohne es zu wollen, erschreckt – gestern, mit der +Flinte. Wer konnt’s denn wissen, daß dich auch mitunter Krankheit +heimsucht! Bei mir aber kommt das vor,“ fügte er mit rauher, von der +Krankheit noch heiserer Stimme hinzu. Seine Stirn runzelte sich und +unwillkürlich wandte er den Blick von Ordynoff ab. „Unglück pflegt sich +nicht vorher anzumelden, wenn es kommt, schleicht es sich wie ein Dieb +heran und ist da! Auch ihr hab’ ich vor kurzem beinahe das Messer in die +Brust gestoßen ...“ brummte er, mit dem Kopf nach Katherina weisend. +„Ich bin ein kranker Mensch, habe zuweilen meine Anfälle – nun, was ist +da noch viel zu erklären, das mag dir genügen! Setz dich – wirst mein +Gast sein.“ + +Ordynoff sah ihn immer noch unverwandt an. + +„Setz dich, so setz dich doch!“ rief der Alte ungeduldig, „wenn’s ihr +nun mal Freude macht! ... Hm! Da seid ihr nun also sozusagen +Geschwister, seht doch mal an! Habt euch ja lieb, recht wie ein +Liebespaar!“ + +Ordynoff setzte sich. + +„Sieh doch, was du da für eine Schwester hast,“ fuhr der Alte lustig +fort, und er lachte, daß man alle seine ausnahmslos noch weißen, schönen +Zähne sehen konnte. „So tut doch zärtlich, meine Lieben! Hast du nicht +eine schöne Schwester, Herr? Sprich doch, antworte! Da, sieh sie doch +an, sieh, wie ihre Wangen glühen. So sage doch, daß sie eine Schönheit +ist, rühme doch vor der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, wie sehr dein +Herz nach ihr verlangt!“ + +Ordynoff runzelte die Stirn und sah den Alten an. Der zuckte zusammen +unter seinem Blick. In Ordynoffs Brust stieg eine blinde Wut auf. Mit +geradezu tierischem Instinkt fühlte er, daß er seinen Todfeind vor sich +hatte. Er begriff selbst nicht, was mit ihm geschah. Er vermochte nicht +mehr zu denken – + +„Sieh mich nicht an!“ erklang da Katherinas Stimme hinter ihm. Ordynoff +blickte sich um. + +„Sieh mich nicht an, sage ich dir, wenn der Böse dich zu Bösem verleitet +– hab Mitleid mit deiner Liebsten,“ sagte Katherina lachend, und +plötzlich legte sie ihm hinterrücks die Hände auf die Augen, – zog sie +aber sogleich wieder zurück und bedeckte mit ihnen ihr eigenes Gesicht. +Doch die flammende Röte leuchtete gleichsam durch ihre Finger: sie ließ +die Hände sinken und mühte sich, offen und furchtlos den Blicken der +beiden Männer standzuhalten. Die aber sahen sie beide nur schweigend an +– Ordynoff mit einer gewissen verwunderten Liebe, die sein Herz zum +erstenmal zu der Schönheit eines Weibes empfand, der Alte dagegen +aufmerksam, forschend und kalt. Sein bleiches Gesicht verriet nicht das +geringste, nur seine Lippen waren blaß und bebten leise. + +Katherina war gleichfalls ernst geworden, trat an den Tisch und begann, +die Bücher, Papiere, das Tintenfaß und alles übrige abzuräumen. Sie +atmete schnell und ungleichmäßig. Von Zeit zu Zeit holte sie tief Atem, +als sei’s ihr im unruhig schlagenden Herz eng und schwer. Schwer, wie +die Woge am Ufer, senkte sich und hob sich von neuem ihre Brust. Sie sah +nicht auf, und die dunkeln langen Wimpern glänzten seidig über ihren +zarten Wangen ... + +„Meine Königin!“ flüsterte Ordynoff. Er besann sich aber sofort, denn er +fühlte den Blick des Alten auf sich ruhen. Wie ein Blitz, in einem Nu +war dieser Blick aufgeflammt, gierig, bohrend, gehässig, feindlich, mit +kalter Verachtung. Ordynoff erhob sich, aber eine unsichtbare Macht +schien seine Füße gefesselt zu haben. Er setzte sich wieder. Und er +drückte seine eigene Hand, als traue er nicht der Wirklichkeit, die ja +vielleicht nur ein Traum sein konnte. Es war ihm, als ob ein Alb ihn +bedrücke und als ob seine Augen in peinvollem und krankhaftem Dämmer +geschlossen lagen. Doch sonderbar! Er wollte nicht erwachen! + +Katherina nahm den Teppich vom Tisch, öffnete eine Truhe, der sie ein +kostbares Tischtuch entnahm, das reich mit Stickereien in Seide und +Goldfäden verziert war, und breitete es über den Tisch; dann holte sie +aus dem Schrank eine altertümliche, aus schwerem Silber gearbeitete +Kanne, an der nach alter Art die silbernen Becher hingen – stellte sie +mitten auf den Tisch und nahm drei Becher von den Häkchen: einen für den +Hausherrn, einen für den Gast und einen für sich selbst. Mit ernstem, +fast nachdenklichem Blick sah sie auf den Alten, dann auf den Gast. + +„Wer ist nun von uns einem anderen lieb oder nicht lieb?“ fragte sie. +„Wer niemandem lieb ist, der soll mir lieb sein und wird mit mir aus +einem Becher trinken. Mir aber ist jeder von euch lieb, lieb, wie ein +Nahestehender: deshalb laßt uns auf die Liebe und die Eintracht +trinken!“ + +„Trinken und die schwarzen Gedanken im Wein ertränken!“ sagte der Alte +mit veränderter Stimme. „Schenke ein, Katherina!“ + +„Und dir auch?“ fragte Katherina, indem sie Ordynoff ansah. + +Der schob schweigend seinen Becher hin. + +„Wartet!“ rief plötzlich der Alte und erhob sein Glas. „Hat jemand von +uns etwas Besonderes auf dem Herzen, so möge es nach seinem Wunsch in +Erfüllung gehen!“ + +Sie stießen an und tranken. + +„Nun laß uns beide trinken,“ sagte Katherina, sich an den Alten wendend, +„trinken wir, wenn dein Herz mir gut ist! Trinken wir auf das erlebte +Glück, laß uns die vergangenen Jahre grüßen! Aus dem Herzen, dem Glück +in Liebe ein Gruß! So laß dir doch einschenken, Alter, wenn dein Herz +noch immer für mich glüht!“ + +„Dein Wein ist stark, mein Täubchen, du selbst aber hast nur die Lippen +benetzt!“ sagte der Alte lachend und hielt seinen Becher hin. + +„Ich werde dir jetzt einschenken, du aber trinke den Wein bis zur Neige! +... Wozu leben, Alterchen, und ewig schwere Gedanken mit sich +herumtragen! Das bedrückt nur das Herz. Gedanken kommen vom Kummer und +Gedanken schaffen Kummer, im Glück da lebt man ohne Gedanken! Trink, +Alter! Ertränke deine Gedanken!“ + +„Da muß ja in dir viel Kummer sich angesammelt haben, wenn du dich +plötzlich so gegen ihn wappnen willst! Möchtest wohl mit einemmal allem +ein Ende machen, meine weiße Taube? Ich trinke auf dein Wohl, Katjä! +Aber du, hast auch du einen Kummer, Herr, wenn du erlaubst, zu fragen?“ + +„Was ich habe, das habe ich für mich,“ murmelte Ordynoff, ohne seine +Augen von Katherina abzuwenden. + +„Hast du gehört, Alterchen? Ich habe mich selbst lange nicht gekannt und +an nichts zurückgedacht, da kam aber eine Stunde und ich erkannte alles +und erinnerte mich an alles: da hab’ ich alles Vergangene mit +unersättlicher Gier in der Seele nochmals erlebt.“ + +„Ja, es ist bitter, wenn man durch Vergangenes sich wieder +durchzuarbeiten anfängt,“ bemerkte der Alte nachdenklich. „Was vergangen +ist, ist wie getrunkener Wein! Was ist vergangenes Glück? Hat man einen +Rock abgetragen, dann fort mit ihm ...“ + +„Dann ist ein neuer nötig!“ fiel ihm Katherina ins Wort, mit etwas +erzwungenem Lachen, während zwei große Tränen an ihren Wimpern +erglänzten. „Da sieht man, ein Menschenalter kann nicht in einem +Augenblick vergehen, und ein Mädchenherz hat ein zähes Leben: das ist +nicht so leicht erschöpft! Hast du’s erfahren, Alter? Sieh, da habe ich +eine Träne in deinem Becher begraben!“ + +„War es denn viel Glück, für das du dein Leid verkauftest?“ fragte +Ordynoff und seine Stimme zitterte vor Erregung. + +„Du hast wohl, Herr, viel eigenes zu verkaufen,“ versetzte der Alte, +„daß du dich ungebeten vordrängst.“ Und er lachte lautlos und boshaft +und sah dabei Ordynoff frech an. + +„Wofür ich es verkaufte, das war auch danach,“ antwortete Katherina mit +einer Stimme, aus der eine gewisse Unzufriedenheit und Gekränktheit zu +klingen schien. „Dem einen scheint es viel, dem anderen wenig. Der eine +will alles hingeben, es wird ihm aber nichts dafür geboten; der andere +verheißt nichts, und doch folgt ihm das Herz gehorsam. Du aber, mach +deshalb niemandem einen Vorwurf.“ Sie wandte das Gesicht nach ihm hin +und sah ihn traurig an. „Der eine ist so ein Mensch, der andere ein +anderer – weiß man’s denn selbst, weshalb die Seele gerade zu dem einen +drängt! Fülle deinen Becher, Alter! Trinke auf das Glück deiner lieben +Tochter, deiner gehorsamen Sklavin, wie einst, als sie dich erst noch +lieben lernte. Nun, erhebe den Becher!“ + +„Wohlan! So schenke auch dir ein!“ + +„Warte, Alter! Trink noch nicht, laß mich zuvor noch ein Wort sagen! +...“ + +Katherina stützte die Ellbogen auf den Tisch und sah regungslos mit +glänzendem, leidenschaftlichem Blick dem Alten in die Augen. Eine +eigentümliche Entschlossenheit lag plötzlich in diesem Blick. Doch alle +ihre Bewegungen waren sicher, ihre Gesten kurz, unerwartet, schnell. Es +war, als sei Feuer in ihr und wunderbar nahm sich das aus. Ihre +Schönheit schien mit ihrer Erregung, mit ihrer Spannung zu wachsen. Sie +lächelte und wie Perlen erglänzten ihre gleichmäßigen Zähne zwischen den +Lippen. Ihr Atem war kurz und unterbrochen durch die Erregung. Ihre +feinen Nasenflügel bebten. Der eine ihrer schimmernden Zöpfe, die sie +zweimal um den Kopf geschlungen trug, hatte sich gelöst und gesenkt und +bedeckte das linke Ohr und einen Teil der heißen Wange. Ihre Schläfen +glänzten feucht. + +„Sage mir wahr, Alter! Sag mir wahr, mein Guter, sag, bevor du deinen +Verstand vertrinkst! Hier hast du meine weiße Hand! Nennen dich doch die +Leute bei uns nicht umsonst einen Zauberer. Du hast aus Büchern gelernt +und kennst jede schwarze Wissenschaft! So sieh dir jetzt die Linien +meiner Hand an, Alterchen, und verkünde mir mein ganzes unseliges Los! +Nur sieh zu, daß du die Wahrheit sagst! ... Nun, sage mir, wie du es +weißt und meinst – wird dein Töchterchen glücklich sein oder verzeihst +du ihr nicht und rufst ihr durch deine Zauberstücke herbes Leid auf den +Weg? Sage, wird der Winkel warm sein, in dem ich mich einnisten werde, +oder soll ich, wie ein Zugvogel, mein Leben lang gleich einer Waise bei +guten Leuten Unterkunft suchen? Sage, wer ist mein Feind und hegt Arges +gegen mich im Sinn? – und wer ist mein Freund und hat für mich nur Liebe +im Herzen? Sage, wird mein junges heißes Herz sein Lebtag einsam bleiben +und vor der Zeit verstummen, oder wird es ein anderes Herz finden, das +ihm gleich ist, und im gleichen Pulsschlag der Freude mit ihm schlagen +... bis zu neuem Leid! Und sage mir, Alterchen, wenn du schon einmal +wahrsagst, wo, unter welchem blauen Himmel, hinter welchen fernen Meeren +und Wäldern mein heller Falke denn lebt, sag mir, wo, und ob er auch mit +scharfem Auge nach seinem Falkenweibchen Ausschau hält, und ob er auch +in Liebe wartet, ob er es auch heiß lieben oder ob er die Liebe bald +verlernen und mich betrügen, oder ob er mich nicht betrügen und mir treu +bleiben wird? Und dann sprich auch schon das Letzte und Allerletzte aus, +Alter: sag, ist es uns beiden bestimmt, lang noch gemeinsam die Zeit zu +verbringen, hier im armseligen Winkel zu sitzen, dunkle Bücher zu lesen? +Oder wann werde ich von dir Abschied nehmen, mich tief vor dir neigen +und dir für deine Gastfreundschaft danken, und dafür daß du mir Speise +und Trank gegeben und mir Märchen erzählt hast? ... Aber sieh zu, daß du +mir die Wahrheit sagst, lüge nicht! Die Zeit ist gekommen, jetzt steh +für dich ein!“ + +Ihre Erregung war mit jedem weiteren Wunsche gewachsen, bis ihre Stimme +bei den letzten Worten die Gewalt über sich verlor, als risse ein +Wirbelsturm ihr Herz mit sich fort. Ihre Augen blitzten und ihre Lippen +schienen leise zu beben. Und doch hatte aus ihrer Stimme zugleich ein +boshafter Spott geklungen – wie eine Schlange wand er sich versteckt +durch ihre Worte – und es war, als habe ein Schluchzen in ihrem Spott +geklungen, der doch voll Lachen sein sollte. Sie hatte sich über den +Tisch zu dem Alten gebeugt und sah ihm mit forschender Neugier in seine +umflorten Augen. Ordynoff hörte, als sie verstummte, wie ihr Herz +plötzlich heftig zu klopfen begann; er sah sie an und wollte aufjauchzen +vor Entzücken, und war schon im Begriff, sich von der Bank zu erheben. +Da traf ihn ein flüchtiger, kurzer Blick des Alten und wie gebannt, wie +gelähmt blieb er auf seinem Platz: es war eine seltsame Mischung von +Verachtung, Spott, ungeduldiger, ärgerlicher Unruhe und zugleich +boshafter, arglistiger Neugier, die aus diesem flüchtigen jähen Blick +aufblitzte, aus diesem Blick, unter dem Ordynoff jedesmal zusammenfuhr +und der sein Herz stets mit Haß und ohnmächtiger Wut erfüllte. + +Nachdenklich und mit einer eigentümlichen traurigen Neugier betrachtete +der Alte seine Katherina. Sie hatte sein Herz getroffen, durchbohrt, das +Wort war jetzt von ihr ausgesprochen – und doch hatte er nicht einmal +mit einer Wimper gezuckt. Er lächelte nur, als sie verstummt war. + +„Willst viel auf einmal erfahren, mein flügge gewordenes, mein +flugbereites Vögelchen! Fülle mir schnell noch den tiefen Becher; und +dann laß uns trinken: zuerst auf die Entzweiung und auf den guten +Willen; sonst verderbe ich noch durch irgend jemandes bösen unsauberen +Blick meinen Wunsch. Der Teufel ist stark! Wie weit ist’s denn bis zur +Sünde!“ + +Er hob seinen Becher und leerte ihn. Je mehr er trank, um so bleicher +wurde er. Seine Augen röteten sich und glühten wie Kohlen. Es war +augenscheinlich, daß ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche +Totenblässe die Vorläufer eines baldigen neuen Anfalls waren. Der Wein +aber war schwer und feurig. Auch Ordynoff fühlte von dem einen Becher, +den er geleert, seinen Blick heiß und unsicher werden: sein durch das +Fieber erregtes Blut konnte nicht lange dem Geist des Weines widerstehen +und überstürmte sein Herz, quälte und verwirrte seinen Verstand. Seine +Unruhe wuchs mit jeder Minute. Und er schenkte sich noch von dem +schweren Wein in den Becher und trank einen Schluck, ohne selbst zu +wissen, was er tat oder wie er gegen seine wachsende Erregung ankämpfen +sollte, und das Blut jagte noch stürmischer durch seine Adern. Er war +wie von einem Fiebertraum fortgerissen und vermochte kaum noch, trotz +krampfhaftester Anspannung seiner ganzen Aufmerksamkeit, zu verfolgen, +was zwischen dem Alten und Katherina vorging. + +Der Alte klopfte laut mit dem Becher auf den Tisch. + +„Schenk ein, Katherina!“ rief er, „schenk ein, böses Töchterchen, schenk +ein, bis ich trunken bin! Beseitige den Alten, es ist auch genug für +ihn! So ist’s recht, schenk ein, meine Schöne, ganz voll – so! Nun laß +uns beide trinken! Warum hast du denn so wenig getrunken? Oder habe ich +es nicht gesehen ...?“ + +Katherina entgegnete ihm etwas, doch Ordynoff begriff die Worte kaum, +und der Alte ließ sie nicht zu Ende sprechen: er ergriff ihre Hand, als +habe er nicht mehr die Kraft, all das zurückzuhalten, was seine Brust +einschloß. Sein Gesicht war bleich und sein Blick umflorte sich bald, +bald flammte er auf und dann brannte in ihm ein unheimliches Feuer. +Seine farblosen Lippen zuckten und mit ungleichmäßiger, schwankender +Stimme, aus der hin und wieder eine seltsame Begeisterung klang, sagte +er zu ihr: + +„Gib dein Händchen, du Schöne! Ich werde dir wahrsagen, werde dir die +ganze Wahrheit sagen. Ich bin wirklich ein Zauberer, da hast du dich +nicht geirrt, Katherina! Dein goldenes Herz hat erraten, daß ich sein +einziger Wahrsager bin und ihm die Wahrheit nicht verheimlichen werde, +diesem schlichten, diesem unschlauen Herzen! Nur eines hast du nicht +erkannt: nicht ich, der Zauberer, kann dich vernünftig machen! Vernunft +ist keine Richtschnur für ein Mädchen, und wenn man ihm auch die ganze +Wahrheit sagt, so ist es doch, als habe es nichts erfahren und +begriffen! Ihr eigner Kopf – ist eine listige Schlange, wenn auch das +Herz von Tränen überfließt! Jeden Weg findet sie selbst, zwischen +Gefahren versteht sie kriechend sich durchzuschlängeln und ihren +schlauen Willen zu erreichen! Manchmal erreicht sie auch wohl mit dem +Verstande was sie will, wenn aber nicht – dann berückt sie mit ihrer +Schönheit, und verwirrt mit ihrem dunklen Auge! Schönheit bricht die +Kraft, und wenn das Herz auch von Eisen ist – sie zerspellt es mit ihrer +Macht! Ob auch Leid und Sorge deiner harrt? Schwer ist Menschenleid! +Doch nicht schwache Herzen werden von ihm heimgesucht. Das Unglück sucht +sich, wenn es kommt, ein starkes Herz zum Wohnsitz aus, aus dem dann im +stillen, aller Welt verborgen, manch blutige Träne rinnt, bösen Leuten +ein Schaustück. Dein Leid aber, Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die +der Regen verwischt, die Sonne trocknet und der frische Wind verweht! +Laß mich dir noch mehr sagen, dir wahrsagen: wer dich lieben wird, zu +dem wirst du als Sklavin gehen, wirst selbst deinen Willen und deine +Freiheit binden und ihm hingeben als Pfand und auch nie mehr +zurückverlangen; wirst es nicht verstehen, zur rechten Zeit deine Liebe +zu vergessen; ein Körnchen legst du hin und dein Verderber läßt es zur +vollen Ähre wachsen und behält alles! Mein zärtliches Kind, mein +Goldköpfchen, hast in meinem Wein dein Tränenperlchen begraben und dann +doch nicht widerstanden und darüber gleich hundert andere vergossen, +hast ein schönes Wort gesagt, dich an ihm berauscht und auf dein Leid +gepocht. Doch ob deines Tränchens, des himmlischen Tautropfens, wirst du +dich nicht zu grämen, wirst nicht zu trauern brauchen! Es wird dir in +Überfluß wiedergegeben, und mit Wucherzinsen, dein Tränenperlchen, warte +nur, in langer Nacht, in trauriger Nacht, wenn böser Kummer an deinem +Herzen nagen wird und ein arger Gedanke – dann wird auf dein heißes +Herz, für dies selbe Tränchen, eines anderen Träne fallen, eine blutige, +nicht warme oder heiße, sondern eine glühende, wie von flüssigem Erz, +und die wird dir deine weiße Brust blutig brennen, und bis zum Morgen, +dem trüben, düsteren, wie er an Regentagen graut, wirst du dich auf +deiner Lagerstätte wälzen und aus der frischen Wunde wirst du purpurnes +Blut vergießen und nimmer wird dir diese Wunde bis zum vollen Morgen +verheilen! Schenke mir noch ein, Katherina, schenke mir ein, meine +Taube, für den klugen Rat! – weiter aber, denke ich, sind keine Worte +mehr vonnöten ...“ + +Seine Stimme sank und bebte: es war, als wolle ein Schluchzen aus seiner +Brust hervorbrechen ... Er schenkte sich selbst den Wein ein und stürzte +ihn gierig hinab; dann klopfte er wieder mit dem Becher auf den Tisch. +Sein trüber Blick flammte noch einmal auf. + +„Ach! Lebe, wie es sich leben läßt!“ rief er, „was vorüber ist, ist +vorüber! Schenk mir ein, schenk mir noch einmal ein, noch einmal, und +ganz voll, bis zum Rande, damit der Wein den wilden Kopf von den +Schultern nimmt und die Seele in ihm ertränkt! Schläfere mich ein für +die lange Nacht, der kein Morgen folgt, auf daß das Gedächtnis mir +völlig schwinde! Getrunkener Wein ist wie verlebtes Leben! Da muß doch +dem Kaufmann die Ware liegen geblieben sein, wenn er sie umsonst aus der +Hand gibt! Würde er sie doch sonst nicht aus freiem Willen unter dem +Preise hingeben, würde auch der Feinde Blut vergießen, auch unschuldig +Blut würde fließen und auf den Kauf würde jener Käufer obendrein noch +seine verlorene Seele hergeben müssen! Schenk ein, schenk mir noch ein, +Katherina!“ + +Doch seine Hand, die den silbernen Becher hielt, schien plötzlich wie im +Krampf zu erstarren und rührte sich nicht mehr. Er atmete schwer und +mühsam, sein Kopf sank unwillkürlich auf die Brust. Noch einmal richtete +er den Blick starr auf Ordynoff, als wolle er ihn zum letztenmal +durchbohren, aber auch dieser Blick erlosch endlich und seine Lider +senkten sich, als wären sie bleischwer. Tödliche Blässe breitete sich +über sein Antlitz ... Ein paarmal zuckten noch seine Lippen und bewegten +sich, als wollten sie etwas sagen – und plötzlich glänzte eine große +heiße Träne an seinen Wimpern, hing, löste sich und rollte langsam über +seine bleiche Wange herab ... Ordynoff hatte nicht mehr die Kraft, noch +länger dies alles zu ertragen. Er erhob sich, trat schwankend einen +Schritt vor, näherte sich Katherina und faßte sie am Arme; sie aber +hatte nicht einmal einen Blick für ihn, und tat, als bemerke sie ihn +überhaupt nicht ... + +Es war, als verließe sie gleichfalls die Besinnung, als hielte ein +besonderer Gedanke sie in seinem Bann oder als sei sie von einem +einzigen starren Gedanken erfüllt. Sie sank an die Brust des schlafenden +Alten, schlang ihren weißen Arm um seinen Hals und sah ihn regungslos +an, als könne sie den Blick nicht losreißen von ihm. Sie fühlte es wohl +gar nicht, als Ordynoff ihren Arm erfaßte. Erst nach einer Weile hob sie +den Kopf und wandte das Gesicht ihm zu und sah ihn mit einem langen +durchdringenden Blick an. Und dann rang sich, als begreife sie endlich, +ein schweres, verwundertes Lächeln gleichsam mühselig, wie mit Schmerz +aus ihrem Innersten hervor und erschien auf ihren Lippen ... + +„Geh, geh fort,“ flüsterte sie, „du bist betrunken und böse! Du bist mir +ein schlechter Gast!“ Und sie wandte sich wieder dem Alten zu und wieder +hing ihr Blick wie gebannt an seinen Zügen. + +Sie schien jeden Atemzug des Schlafenden zu bewachen, schien seinen +Schlaf mit ihrem Blick liebkosen zu wollen. Ja, sie schien sogar ihren +eigenen Atem zurückzuhalten, als wage sie kaum, ihr Herz schlagen zu +lassen. In ihrem Gesicht, in ihrem ganzen Wesen lag eine solche +Liebesverzückung, daß Ordynoff plötzlich von Verzweiflung, Wut, Zorn und +rasendem Haß übermannt wurde ... + +„Katherina! Katherina!“ rief er, wie mit Klammern ihren Arm umspannend. + +Schmerz sprach aus ihrem Gesicht: sie erhob wieder den Kopf und sah ihn +an, doch diesmal mit solch einem Spott und solch schamloser Verachtung, +daß er sie anstarrte, ohne fassen zu können, was er sah. Sie wies auf +den schlafenden Alten und sah – als wäre der ganze Hohn seines Feindes +in ihre Augen übergegangen – sah mit einem Blick zu Ordynoff auf, unter +dem in seinem Inneren irgend etwas mit schneidendem Schmerz zerriß und +von dem es ihn mit Eiseskälte überlief. + +„Was? er wird mich ermorden, meinst du?“ stieß Ordynoff hervor, außer +sich vor Wut. + +Und als hätte ihm ein Dämon etwas ins Ohr geflüstert – begriff er sie +plötzlich ... und sein ganzes Herz lachte gellend dazu. + +„So werde ich dich denn kaufen, du Schöne, von deinem Kaufmann, wenn du +meine Seele verlangst! Sei ruhig, nicht er wird morden! ...“ + +Das starre Lachen, das nicht aus ihrem Gesicht wich, wurde ihm +fürchterlich. Der grenzenlose Hohn ihres Spottlächelns marterte ihm das +Herz. Er wußte nicht mehr, was in ihm vorging, und was er fast +mechanisch tat: er stützte sich an die Wand und nahm von einem Nagel +einen altertümlichen kostbaren Dolch. Ein Ausdruck wie Verwunderung +glitt über Katherinas Züge; zugleich jedoch trat der Ausdruck von Haß +und Verachtung mit solcher Stärke in ihre Augen, daß er alles andere +darüber vergessen ließ. Ordynoff sah sie an und ihm schwindelte ... Es +war ihm, als zerre jemand an seiner Hand, die sich zu einer unsinnigen +Tat erheben wollte, und als sei ein fremder Trieb in ihr. Er zog das +Messer aus der Scheide ... Katherina folgte regungslos, wie in atemloser +Spannung, seiner Bewegung ... + +Er sah auf den Alten ... + +Da schien es ihm plötzlich, als ob ein Augenlid des Alten sich langsam +hebe und als ob durch die Wimpern, lauernd, ein Auge ihn lächelnd +ansehe. Ihre Blicke begegneten einander, Auge ruhte in Auge. Minutenlang +sah Ordynoff ihn an, ohne zu zucken ... Plötzlich aber schien es ihm, +daß das ganze Gesicht des Alten lache und ein teuflisches Gelächter, das +ihn eisig überlief und erstarren machte, im Zimmer erschallte. Ein +scheußlicher nachtschwarzer Gedanke kroch wie eine Schlange durch sein +Gehirn. Er erzitterte: das Messer entfiel seiner Hand und klirrte auf +die Diele. Katherina schrie auf, wie aus einem Traume erwachend, wie +nach einem furchtbaren Alb, und doch noch im Bann des Schreckbildes ... +Der Alte erhob sich langsam, mit bleichem Gesicht, und stieß voll +Ingrimm mit dem Fuß das Messer in die Ecke des Zimmers. Katherina stand +totenblaß neben dem Bett und rührte sich nicht. Ihre Augen schlossen +sich; ein dumpfer, unerträglicher Schmerz drückte sich in ihren Zügen +aus; sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und mit einem +erschütternden Aufschrei warf sie sich dem Alten zu Füßen ... + +„Aljoscha! Aljoscha!“ rang es sich in äußerster Verzweiflung aus ihrer +Seele. + +Der Alte umfing sie mit seinen mächtigen Armen und erdrückte sie fast an +seiner Brust. Als sie aber ihren Kopf so an ihn schmiegte, da lachte +jeder Zug, jede Runzel im Gesicht des Alten ein so schamloses, +entblößtes nacktes Lachen, daß Ordynoff nur fühlte, wie kaltes Entsetzen +ihn ergriff. Betrug, Berechnung, eifersüchtige Tyrannei und +Vergewaltigung dieses armen, dieses zerrissenen Herzens – das war es, +was er an dem schamlosen Lachen begriff. + +„Wahnsinnige!“ flüsterte er erschauernd, von Entsetzen geschüttelt, und +stürzte hinaus. + + + VI. + +Als Ordynoff am nächsten Morgen, noch blaß und erregt von dem Erlebnis +der Nacht, gegen acht Uhr bei Jaroslaw Iljitsch eintrat – zu dem er +übrigens aus einem ihm selbst völlig unklaren Grunde gegangen war – +blieb er starr vor Überraschung auf der Schwelle stehen: denn im Zimmer +erblickte er – Murin. Der Alte war noch bleicher als Ordynoff und schien +sich vor Krankheit kaum auf den Füßen halten zu können, weigerte sich +jedoch, trotz aller Aufforderungen Jaroslaw Iljitschs, der über den +Besuch offenbar sehr erfreut war, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Als +Jaroslaw Iljitsch Ordynoff erblickte, entfuhr ihm ein Ausruf freudiger +Überraschung, doch schon im nächsten Augenblick wich seine Freude einer +recht merkbaren Verwirrung, die ihn ganz plötzlich überkam, so daß er +mitten auf dem Wege zum nächsten Stuhl, den er wohl Ordynoff hatte +anbieten wollen, ratlos stehen blieb. Man sah es ihm an, daß er nicht +wußte, was er sagen oder tun sollte und daß er es zugleich als unpassend +empfand, in dieser schwierigen Lage seine türkische Pfeife weiter zu +rauchen. Trotzdem aber – so groß war seine Verwirrung – zog er in vollen +Zügen den Rauch aus seinem Pfeifenrohr und zwar noch viel häufiger und +heftiger, als es sonst seine Art war. Inzwischen trat Ordynoff ins +Zimmer. Er warf einen flüchtigen Blick auf Murin und bemerkte in dessen +Gesicht etwas Ähnliches wie das boshafte Lächeln vom letzten Abend, das +Ordynoff auch jetzt wieder erbeben machte vor Wut und Empörung. Übrigens +verschwand alles Feindliche sofort aus Murins Zügen und sein Gesicht +nahm den Ausdruck vollständiger Verschlossenheit und Gelassenheit an. +Langsam machte er eine sehr tiefe Verbeugung vor seinem Mieter ... Diese +kurze Szene hatte indes das Gute, daß sie Ordynoff vollends zur +Besinnung brachte. Er sah Jaroslaw Iljitsch mit scharfem Blick +aufmerksam an, wie um aus dessen Antlitz sich Aufschluß über den +Sachverhalt zu verschaffen. Jaroslaw Iljitsch freilich schien dieser +forschende Blick äußerst peinlich zu sein. + +„Aber ich bitte Sie, treten Sie doch näher, teuerster Wassilij +Michailowitsch,“ brachte er endlich verwirrt hervor, „ich bitte Sie +dringend, beehren Sie mich mit Ihrem Besuch ... Geben Sie diesen meinen +einfachen Sachen hier ... die Weihe, indem Sie ihnen, wie gesagt, die +Ehre antun ... wie gesagt ...“ + +Jaroslaw Iljitsch geriet mit seinen Gedanken und Worten in einige +Unordnung, verlor den Faden, wurde bis über die Ohren rot vor Verwirrung +und auch vor Ärger darüber, daß die schöne Phrase mißlungen war und daß +er sie somit umsonst ausgespielt, sie für immer verdorben hatte. Mit +Gepolter rückte er deshalb einen Stuhl bis mitten ins Zimmer. + +„Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Jaroslaw Iljitsch, ich wollte nur +...“ + +„Aber ich bitte Sie! Sie und mich aufhalten – Wassilij Michailowitsch! +... Doch – nicht wahr – ein Glas Tee? He! Bedienung! ... Und Sie, +versteht sich, werden doch auch nicht ein Glas ablehnen!“ + +Murin nickte nur mit dem Kopf, wodurch er wohl zu verstehen gab, daß er +das Angebot ganz selbstverständlich fand. + +Jaroslaw Iljitsch schnauzte zunächst den eingetretenen Diener wegen +seiner angeblichen Saumseligkeit an und bestellte dann in strengem Tone +noch drei Glas Tee, worauf er sich auf den nächsten Stuhl neben Ordynoff +niederließ. Nachdem er sich gesetzt, drehte er den Kopf wie eine +Pappkatze bald nach rechts, bald nach links, sah von Murin zu Ordynoff +und von Ordynoff zu Murin. Seine Lage war keineswegs angenehm. Offenbar +wollte er etwas sagen, etwas vielleicht äußerst Kitzliges, wenigstens +für den einen Teil; doch ungeachtet aller seiner Gedankenanstrengungen +brachte er nichts über die Lippen ... Ordynoff schien auch nicht recht +zu wissen, was er sagen, und noch viel weniger, was er denken sollte. Es +gab einen Augenblick, wo sie plötzlich beide zugleich anfangen wollten. +... Währenddessen hatte der schweigsame Murin Zeit, sie aufmerksam zu +beobachten und in sein Gesicht wieder den Ausdruck der Ruhe zu bringen +... + +„Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,“ begann plötzlich Ordynoff, +„daß ich mich infolge eines unangenehmen Zwischenfalls gezwungen sehe, +meine Wohnung zu verlassen, und ...“ + +„Ja denken Sie sich!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch. „Ich war, offen +gestanden, baff, als mir dieser ehrenwerte Mann hier von Ihrem Entschluß +Mitteilung machte. Aber ...“ + +„Wie, _er_ hat es Ihnen bereits mitgeteilt?“ fragte Ordynoff verwundert, +und blickte auf Murin. + +Dieser strich sich über den Bart und lächelte vor sich hin. + +„Ja, was sagen Sie dazu!“ fuhr Jaroslaw Iljitsch fort. „Übrigens – oder +habe ich da vielleicht was mißverstanden? Jedenfalls muß ich sagen, daß +– ich versichere Sie bei meiner Ehre! – daß in seinen Worten auch nicht +der Schatten einer Sie kränkenden Äußerung enthalten gewesen ist ...“ + +Und Jaroslaw Iljitsch errötete hierbei und vermochte nur mit Mühe seine +Erregung niederzuhalten. Murin, der sich an der Verwirrung Jaroslaw +Iljitschs und seines Gastes inzwischen genugsam ergötzt zu haben schien, +hielt es nun wohl für angemessen, auch mit der Sprache herauszurücken, +und trat einen Schritt vor. + +„Ich habe dieserhalb, Euer Wohlgeboren,“ begann er langsam, sich nach +Bauernart vor Ordynoff verneigend, „Eure Wohlgeboren zu belästigen +gewagt. Es ist nun mal so, Herr, es kommt schon so heraus – Sie wissen +doch selber: wir – wollte sagen ich und meine Hausfrau – wir wären ja +mehr als froh und würden auch kein Wort dawider reden ... Aber – was +soll man da viel sagen – was hab’ ich denn für eine Wohnung, das wissen +und sehen Sie doch selbst, Herr! Und was haben wir denn überhaupt – grad +nur so viel, daß man satt wird, wofür wir denn auch genugsam dem +Schöpfer danken und zu ihm beten, und ihn bitten, er möge uns seine +Gnade auch fernerhin in diesem Maße zuteil werden lassen. Aber sonst, +Herr, Sie sehen doch selbst, wie’s ist, was soll man da viel reden?“ Und +Murin wischte sich nach echter Bauernart mit dem Ärmel ruhig den Bart. + +Ordynoff fühlte nur, wie ihn Ekel erfaßte. + +„Ja, es ist wahr, ich habe Ihnen auch schon von ihm erzählt: er ist +krank, tatsächlich, ^ce malheur^ ... das heißt, Verzeihung, ich wollte +... ich beherrsche die französische Sprache nicht vollkommen, aber wie +gesagt ...“ + +„Ja, wie ...“ + +„Ja eben, wie gesagt ... das heißt ...“ + +Ordynoff und Jaroslaw Iljitsch machten sich gegenseitig so etwas wie +eine halbe Verbeugung, natürlich ohne sich deshalb von den Stühlen zu +erheben, und Jaroslaw Iljitsch suchte das entstandene kleine +Mißverständnis mit einem entschuldigenden Lachen zu verwischen, fuhr +jedoch sogleich wieder fort: + +„Übrigens habe ich mich soeben ausführlich bei ihm erkundigt, und wie er +mir erklärte – und ich glaube ihm, da ich ihn als Ehrenmann kenne, aufs +Wort! – daß die Krankheit jenes ... jungen Weibes ...“ + +Hier sah der gewissenhafte Jaroslaw Iljitsch – vermutlich um einen +kleinen Zweifel zu beseitigen, der sich wieder auf Murins Gesicht +gezeigt hatte, mit fragendem Blick zu ihm auf. + +„Nun ja, unserer Hausfrau ...“ + +Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch begnügte sich sogleich mit der ihm +zuteil gewordenen Erklärung und fuhr schnell fort: + +„... Ihrer Hausfrau – das heißt, jetzt ist sie es ja nicht mehr, aber +sie war es – also Ihrer ... das heißt, pardon, ich weiß nicht ... nun +ja! Sehen Sie, sie ist eben krank und dem müssen Sie Rechnung tragen. +Sie sagt, sie störe Sie ... in Ihrer Beschäftigung, und auch er ... Sie +haben mir nämlich einen wichtigen Zwischenfall verschwiegen, Wassilij +Michailowitsch!“ + +„Welch einen?“ + +„Ja – das mit der Flinte,“ sagte in der schonendsten Weise flüsternd +Jaroslaw Iljitsch, wobei nur ein verschwindender Bruchteil, höchstens +ein Milliontel eines Vorwurfs aus dem zart-freundschaftlichen Tonfall +seiner Tenorstimme herauszuhören war. + +„Aber,“ fügte er schnell hinzu, „jetzt, wo ich alles weiß – er hat mir +nämlich den ganzen Vorgang erzählt – kann ich Ihnen nur sagen, daß es +von Ihnen höchst anständig und anerkennenswert war, ihm seine unbedachte +Tat zu verzeihen. Ich schwöre Ihnen, ich sah Tränen in seinen Augen, als +er davon sprach! ...“ + +Jaroslaw Iljitsch errötete wieder ein wenig; seine Augen glänzten und er +rückte zufrieden seinen Stuhl und sich selbst etwas von der alten +Stelle. + +„Ich, wollte sagen, wir, Herr, Euer Wohlgeboren, will sagen ich und +meine Hausfrau, wie beten wir für Euch zu Gott,“ begann wieder Murin, +sich an Ordynoff wendend – während Jaroslaw Iljitsch noch wie gewöhnlich +seine Erregung niederkämpfte – und er sah ihn dabei unverwandt an, „aber +Ihr wißt doch selbst, Herr, sie ist ein krankes, dummes Weib; und mich +wollen die Füße auch nicht so recht mehr tragen ...“ + +„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach ihn Ordynoff ungeduldig, „ich bin ja +bereit, meinetwegen sofort! ...“ + +„Nein, Herr, will sagen, wir wären ja mit Verlaub, mit Euer Wohlgeboren +mehr als zufrieden.“ (Murin verbeugte sich wieder äußerst tief.) „Ich, +Herr, ich rede nicht davon; ich wollte nur ein Wort noch sagen – sie ist +doch, Herr, fast verwandt mit mir, wenn auch nicht nah, sondern nur so +wie man beispielsweise zu sagen pflegt, etwa durch sieben Scheffel +Erbsen, will sagen, Euer Wohlgeboren mögen uns unsere einfache +Ausdrucksweise zugute halten, wir sind niedrige Leute – aber sie ist ja +schon von Kindheit an so! Eigenwillig, im Walde aufgewachsen, nur unter +den Barkenknechten und Fabrikarbeitern. Und da brannte dann noch das +Haus nieder; und ihre Mutter, Herr, verbrannte; und auch der Vater +verbrannte – aber sie selbst, Herr, erzählt das doch Gott weiß wie ... +Ich will ihr nur nicht widersprechen, aber in Moskau haben die größten +Ärzte sie untersucht, ein ganzes Kon... Konsilium, wie sie sagen ... +doch nichts war zu machen, Herr, sie ist ganz unheilbar, das ist es! Ich +allein bin ihr noch geblieben, und so lebt sie denn bei mir ... will +sagen, so leben wir denn beide, beten zu Gott und hoffen auf seine +Allmacht; sonst aber – mag sie reden, was sie will, ich widerspreche ihr +schon gar nicht mehr ...“ + +Ordynoff erbleichte. Jaroslaw Iljitsch sah wieder bald den einen, bald +den anderen an. + +„Aber ich wollte nicht davon reden, Herr ... nein!“ fuhr Murin fort und +schüttelte ernst das Haupt. „Sie ist nun einmal so, will sagen, von so +heißblütigem Schlage, das Köpfchen stürmisch, liebevoll und +liebebedürftig, ist wie’n Wirbelwind, hat alleweil Verlangen nach einem +lieben Freunde, will immer – wenn ich mit Verlaub Euer Gnaden so sagen +darf –, daß man ihrem Herzen einen Geliebten gebe; das ist eben ihre +Verrücktheit. So erzähle ich ihr denn Märchen, um sie abzulenken und zu +zerstreuen. Das ist nun mal so. Aber ich hab’ ja doch, Herr, gesehen, +wie sie – verzeiht schon, Herr, mein dummes Wort,“ entschuldigte Murin +sich mit einer Verbeugung und indem er wieder mit dem Ärmel den Bart vom +Munde nach links und rechts wischte, „wie sie beispielsweise mit Euer +Gnaden näher bekannt geworden ist, will sagen, um beispielsweise zu +reden, daß Sie, halten zu Gnaden, beispielsweise bezüglich der Liebe +sich ihr zu nähern wünschten ...“ + +Jaroslaw Iljitsch wurde feuerrot und blickte vorwurfsvoll auf Murin. +Ordynoff bezwang sich so weit, daß er äußerlich ruhig auf seinem Stuhl +sitzen blieb. + +„Nein ... will sagen, ich, Herr, ich wollte nicht davon reden ... ich +bin, halten zu Gnaden, nur ein einfacher Bauer, Herr ... wir sind +niedrige Leute, sind unwissend und ungebildet, Herr, sind Eure Diener.“ +Er machte wieder eine tiefe Verbeugung. „Und wie werden wir, ich und +mein Weib, für Euer Gnaden beten! ... Worüber hätten wir auch zu klagen? +– wenn man nur immer satt wird und gesund bleibt, dann ist man schon +zufrieden. Aber was soll ich denn, Herr, tun? – soll ich freiwillig den +Kopf in die Schlinge stecken! Ihr wißt doch, Herr, das ist eine +Lebensfrage, habt Mitleid mit uns, das würde ja sein wie mit einem +Liebhaber! ... Halten zu Gnaden, Herr, mein grobes Wort ... bin ein +Bauer und Ihr seid ein Herr ... Aber Euer Gnaden sind eben ein junger, +stolzer, heißer Mensch, sie aber, Herr, Ihr wißt doch selbst, ist noch +ein Kind, jung und unvernünftig – wie weit ist es denn da mit ihr bis +zur Sünde! Sie ist ja gewiß ein frisches, rosiges, liebes Weib, und mich +Alten plagt immer die Krankheit. Nun was? Wie man sieht, muß der Teufel +Euer Gnaden schon arg umgarnt haben! Ich zerstreue sie schon immer mit +Märchen und ähnlichen Geschichten, zerstreue sie wirklich! ... Und wie +wir für Euer Gnaden beten würden! will sagen, wirklich von +Herzensgrunde! ... Und was finden denn Euer Gnaden an ihr? Wenn sie auch +schön ist, sie bleibt doch eine Bäuerin, ein einfaches Weib, das zu mir, +dem einfachen Bauern paßt! Euch aber, Herr, steht es doch nicht an, sich +mit Bäuerinnen abzugeben! Und wie wir doch für Euer Gnaden beten werden, +wirklich von Herzensgrunde! ...“ + +Und Murin neigte sich von neuem tief, tief und blieb lange in dieser +untertänigst ergebenen Stellung, während er zugleich unausgesetzt mit +dem Ärmel den Bart vom Munde zu den Seiten strich. Jaroslaw Iljitsch +wußte kaum noch, wo er sich lassen sollte. + +„Ja ... tja, der gute Mann,“ begann er, nur so, um etwas zu sagen, +„erzählte mir da auch so einiges ... wie gesagt, es scheint eben doch +nicht so weiter zu gehen. Nur, bitte, denken Sie deshalb nicht, bester +Wassilij Michailowitsch, daß ich mir da ... vielleicht irgendwelche +Gedanken zu machen erlaube! ... Wie gesagt,“ unterbrach er sich schnell, +„ich hörte, Sie seien noch immer krank?“ fragte er teilnehmend und sah +Ordynoff vor lauter Verlegenheit mit förmlich bittendem Blick an. + +„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte Ordynoff schnell, sich an +Murin wendend. + +„Wie denn, Herr! Wir sind doch keine Räuber! Euer Gnaden werden uns doch +nicht beleidigen wollen! Nein, Herr, Euer Wohlgeboren sollten sich +schämen, – wodurch haben wir denn Euer Gnaden gekränkt? Ich bitte!“ + +„Aber ... einstweilen – erlauben Sie mal, mein Freund: so geht das doch +auch nicht! Er war immerhin Ihr Mieter – ja, fühlen Sie denn nicht, daß +umgekehrt Sie ihn durch Ihre Weigerung, eine Entschädigung dafür +anzunehmen, empfindlich kränken, ja gewissermaßen sogar beleidigen?“ +legte sich Jaroslaw Iljitsch ins Mittel, da er es für seine Pflicht +hielt, Murin die peinliche Seite seiner Handlungsweise zu Bewußtsein zu +bringen. + +„Aber ich bitte, Herr! Wie kommen Euer Wohlgeboren nur darauf? Erbarmen +Sie sich! Inwiefern sind wir denn Eurer Ehre zu nahe getreten? Haben uns +doch redlich und weidlich bemüht, alles zu tun, was in unseren Kräften +steht! Laßt es gut sein, Herr, Gott verzeihe Euch! Sind wir denn Heiden +oder Wegelagerer? Wir hätten ja nichts dawider, mag er bei uns leben, +unser einfaches Essen mit uns teilen und es zur Gesundheit verzehren, – +mag er, mag er – wir würden ja nichts dawider sagen und ... kein Wort +reden; aber da hat nun der Teufel seine Hand im Spiel, ich bin ein +kranker Mensch und auch sie ist ein krankes Weib – was soll man da tun! +Es ist niemand zum Bedienen da, sonst aber wären wir ja von Herzen froh. +Und wie wir doch für Euer Gnaden, Herr, beten werden, will sagen, wie +inbrünstig beten!“ + +Murin neigte sich wieder tief vor Ordynoff. Jaroslaw Iljitsch war vor +lauter Anteilnahme geradezu gerührt und wandte seinen Blick fast stolz +Ordynoff zu. + +„Was sagen Sie dazu, ist das nicht ein edler Zug!“ rief er begeistert +aus. „Ist es nicht ein heiliges Gefühl der Gastfreundschaft, das in +unserem russischen Volke schlummert!“ + +Ordynoff sah ihn wild an und maß ihn vom Kopf bis zu den Füßen mit einem +Blick, in dem fast Entsetzen sich ausdrückte. + +„Ja, so ist es wirklich, Herr, Gastfreundschaft ist uns heilig, und +wie!“ bestätigte Murin, und wieder wischte der Ärmel den Bart vom Munde +nach links und rechts, „und da kommt mir soeben ein Gedanke: der Herr +war bei uns eben nur zu Gast, bei Gott, nur zu Gaste,“ fuhr er fort, +indem er sich Ordynoff näherte, „und es wäre ja alles gut, Herr, – nun, +beispielsweise einen Tag, sagen wir, noch einen – ich würde ja wirklich +nichts dawider haben. Aber die Sünde verführt, und meine Hausfrau ist +nun einmal nicht ganz gesund. Ja, wenn sie nicht wäre! – will sagen, +wenn ich beispielsweise allein leben würde! – oh, wie würde ich da Euer +Gnaden dienen und alles zu Gefallen tun! – will sagen, das steht ja ganz +außer Frage! Wen sollten wir denn achten, wenn nicht Euer Gnaden? Und +ich würde Euch schon gesund machen, Herr, wirklich, ich kenne ein Mittel +... Nur zu Gaste seid Ihr bei uns gewesen, Herr, bei Gott, da habt Ihr +mein Wort darauf, wirklich nur zu Gaste! ...“ + +„Nein in der Tat, gibt es nicht ein solches Mittel?“ bemerkte Jaroslaw +Iljitsch ... brach aber kurz ab und wandte sich schleunigst zur Seite. + +Ordynoff hatte ihm entschieden unrecht getan, als er ihn mit so wilder +Verwunderung maß. + +Jaroslaw Iljitsch war natürlich einer der ehrlichsten und anständigsten +Menschen, doch jetzt, wo er endlich alles begriffen hatte, war seine +Lage allerdings eine äußerst schwierige. Er wollte, wie man so sagt, +einfach bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynoff allein gewesen, so +hätte er sich selbstverständlich (zwei so gute Freunde unter sich!) +nicht bezwungen und sich rückhaltlos dem Ausbruch seiner Heiterkeit +hingegeben. Jedenfalls hätte er, eben wie ein im Grunde anständiger +Kerl, voll Mitempfinden Ordynoff die Hand gedrückt, hätte ihm aufrichtig +und wahrheitsgemäß versichert, daß er ihn nun noch doppelt achte und es +unter allen Umständen verzeihlich finde, daß usw. ... Jugend bliebe eben +Jugend. Doch in Murins Gegenwart war das natürlich ausgeschlossen: und +so befand er sich denn in einer so peinlichen Lage, daß er nicht wußte, +wohin er mit sich sollte ... + +„Ein Mittel, will sagen, ein Heilmittel,“ versetzte Murin, dessen ganzes +Gesicht nach dem ungeschickten Zwischenruf Jaroslaw Iljitschs ins Zucken +geriet. + +„Ich, Herr, ich würde in meiner Dummheit, das heißt, bei meinem +bäuerischen Unverstand, nur das sagen,“ fuhr er fort, wieder einen +Schritt näher tretend: „Bücher, Herr, habt Ihr arg viel gelesen; ich +sage auch: klug seid Ihr sehr, seid sogar arg klug geworden und Euer +Verstand ist arg gewachsen; aber nun, wie man bei uns Bauern zu sagen +pflegt, nun ist der Verstand da angelangt, wo er stille steht ...“ + +„Genug! hören Sie auf!“ unterbrach ihn Jaroslaw Iljitsch in strengem +Ton. + +„Ich gehe,“ sagte Ordynoff. „Ich danke Ihnen, Jaroslaw Iljitsch. Gewiß, +gewiß, ich werde Sie besuchen, nächstens,“ versprach er noch schnell, +der Aufforderung zuvorkommend, da sie schon in der Gebärde lag, mit der +ihn Jaroslaw Iljitsch zurückzuhalten suchte. „Leben Sie wohl ...“ + +Ordynoff hörte nichts mehr. Halb wahnsinnig verließ er das Zimmer. + +Er war wie zerschlagen und alles Denken war in ihm erstarrt. Er hatte +eigentlich nur die dumpfe Empfindung seiner Krankheit, doch zugleich +erfaßte ihn eine kalte Verzweiflung, die ihn den einen, kaum bewußt +gefühlten Schmerz in der Brust vergessen ließ. Er dachte an den Tod, +dachte, daß es das beste wäre, jetzt schnell zu sterben. Seine Füße +versagten ihm den Dienst und er setzte sich auf eine Bank an einem Zaun, +ohne den Vorübergehenden irgendwelche Beachtung zu schenken: allen den +Leuten, die sich nach und nach um ihn zu versammeln begannen, ihn teils +neugierig und mitleidig betrachteten, teils Fragen an ihn stellten und +sich besorgt ereiferten. Da vernahm er plötzlich durch das Stimmengewirr +Murins Stimme, die ihn wie aus einem Traum schreckte, und er sah auf. +Der Alte stand neben ihm: sein bleiches Gesicht war ernst und +nachdenklich. Das war ein ganz anderer Mensch, als der, der sich bei +Jaroslaw Iljitsch in so frecher Weise über ihn lustig gemacht hatte. +Ordynoff erhob sich und Murin faßte ihn am Arm und führte ihn aus der +Menge. + +„Du mußt noch deine Habseligkeiten mitnehmen,“ sagte er, indem er +Ordynoff flüchtig von der Seite ansah und seinen Arm wieder freigab. +„Sei nicht traurig, Herr!“ versuchte er ihn zu ermuntern. „Du bist jung, +wozu da trauern! ...“ + +Ordynoff schwieg. + +„Bist gekränkt, Herr? Ärgerst dich also ... aber worüber denn? Jeder +verteidigt sein Gut!“ + +„Ich kenne Sie nicht,“ stieß Ordynoff hervor, „und Ihre Geheimnisse +gehen mich nichts an. Aber sie, sie!“ rief er, und Tränen entströmten +seinen Augen und rollten über seine Wangen, doch der Wind trocknete sie +schnell ... Ordynoff hob die Hand, wie um sie fortzuwischen. – Aber +seine Geste, sein Blick, die unwillkürliche Bewegung seiner bebenden +bläulichen Lippen – alles schien darauf hinzudeuten, daß sein Geist +nicht lange mehr widerstandsfähig war und er dem Wahnsinn verfallen sein +mochte. + +„Ich habe dir doch schon erklärt,“ sagte Murin, die Brauen +zusammenziehend, „sie ist eine Halbirrsinnige! Wodurch und wie sie +irrsinnig wurde ... wozu brauchst du das zu wissen? Mir ist sie auch so +– das, was sie mir ist! Ich habe sie liebgewonnen mehr als mein Leben +und werde sie niemand abtreten. Begreifst du jetzt!“ + +In Ordynoffs Augen flammte es auf. + +„Aber warum,“ stieß er hervor, „warum ist mir denn nun, als hätte ich +mein Leben verloren? Warum schmerzt denn _mein_ Herz? Warum mußte ich +Katherina kennen lernen?“ + +„Warum?“ wiederholte Murin mit kurzem Auflachen, ward aber sogleich +ernst und nachdenklich. „Ja, warum – das weiß ich auch nicht,“ murmelte +er endlich. „Weibersinn ist schließlich kein Meeresgrund, erforschen +kann man ihn schon, aber! ... Was sie wollen, das muß man ihnen geben – +ob sie’s mit List, Beharrlichkeit oder Zähheit verlangen – aber geben +muß man’s ihnen, als hätte man es nur aus der Tasche zu nehmen und +hinzulegen. Da ist es denn wohl wahr, Herr, daß sie mit Ihnen von mir +weggehen wollte,“ fuhr er nachdenklich fort. „Sie verschmähte den Alten, +nachdem sie mit ihm alles erlebt, was man erleben kann! Da müssen Sie +ihr anfangs arg in die Augen gestochen haben! Oder war’s nur so – ob +Sie, ob ein anderer ... Ich verbiete ihr ja nichts, lasse ihr in allem +ihren Willen. Und sollte sie Vogelmilch verlangen – ich verschaffe ihr +auch Vogelmilch, werde selbst den Vogel erschaffen, wenn es einen +solchen noch nicht gibt! Eitel ist sie! Nach Freiheit strebt sie und +dabei weiß sie selbst nicht, was das Herz will. Und da hat es sich denn +jetzt herausgestellt, daß es am besten doch wieder beim alten bleibt! +Ach, Herr! Jung bist du, noch arg jung! Dein Herz ist heiß wie das Herz +eines jungen Mädchens, das sich noch mit dem Ärmel die Tränen trocknet, +wenn es sich vom Liebsten verlassen sieht. Höre, Herr, was ich dir sage: +ein schwacher Mensch kann sich allein nicht halten! Gib ihm alles, was +du willst – er wird dir freiwillig alles wieder zurückgeben, und wenn du +ihm auch das halbe Erdreich schenkst und sagst: ‚Nimm und herrsche!‘ – +was meinst du, was er tut? – in den Stiebel kriecht er und versteckt +sich, so klein macht er sich! Und so ist es auch mit dem freien Willen: +gibst du ihn ihm, dem schwachen Menschen, so wird er ihn selbst binden +und ihn dir zurückgeben. Dummen Herzen nützt Freiheit nichts. Sie wissen +damit nichts anzufangen. Ich sage dir das nur so – bist noch arg jung! +Sonst aber – was gehst du mich an? Gekommen, gegangen – ob du oder ein +anderer: bleibt sich gleich. Ich hab’s ja schon von Anfang an gewußt, +wie es kommen würde. Sich widersetzen, das hilft da nichts. Kein Wort +darf man dawider sprechen, wenn man sein Glück bewahren will. Es ist +doch, Herr,“ fuhr Murin fort, in seiner Art zu philosophieren, +„gewöhnlich alles nur so ... gesagt: bis zum Ausführen hat’s noch eine +gute Weile. Aber schließlich – was kann nicht vorkommen? Im Zorn ist +auch das Messer zur Hand, oder wenn nicht, dann geht es auch unbewaffnet +mit den Zähnen dem Feinde an die Gurgel! Wird dir aber offen das Messer +angeboten und dein Feind entblößt vor dir seine breite Brust – da wirst +du wohl zurücktreten!“ + +Sie traten auf den Hof. Der Tatar, der sie schon von weitem hatte kommen +sehen, nahm vor ihnen die Mütze ab und betrachtete Ordynoff mit listiger +Neugier. + +„Wo ist deine Mutter? Zu Haus?“ wandte sich Murin barsch an ihn. + +„Zu Haus.“ + +„Sag ihr, daß sie seine Sachen herunterschleppen soll. Und auch du, +marsch! rühr dich!“ + +Sie stiegen die Treppe hinauf. Die Alte, die bei Murin diente und die, +was Ordynoff noch nicht gewußt hatte, die Mutter des Hausknechtes war, +trug seine Habseligkeiten brummend zusammen und band sie in ein großes +Bündel. + +„Warte; ich bringe dir noch etwas, was dir gehört ...“ + +Murin ging in sein Zimmer, kam aber sogleich wieder zurück und händigte +Ordynoff ein mit Seide und Perlen reich gesticktes Kissen ein, dasselbe, +das Katherina ihm unter den Kopf gelegt hatte, als er krank wurde. + +„Das schickt sie dir,“ sagte er. „Jetzt gehe mit Gott, aber sieh zu, daß +du auf dich acht gibst,“ fügte er halblaut in väterlichem Tone hinzu, +„sonst kann es schlimm werden.“ + +Augenscheinlich wollte er ihm beim Abschied nicht weh tun. Als aber +Ordynoff bereits aus der Tür trat und er den letzten Blick auf ihn warf, +da war es doch wie ein Aufflammen unendlicher Bosheit, das sich in +seinem Blick verriet. Fast wie mit Ekel schloß Murin hinter ihm die Tür. + +Zwei Stunden darauf zog Ordynoff zu Spieß, dem Deutschen. Tinchen schlug +die Hände zusammen und rief „Mein Gott und Vater!“ als sie ihn erkannte. +Das erste war, daß sie sich nach seiner Gesundheit erkundigte, und als +sie erfuhr, daß er krank war, schickte sie sich sogleich an, ihn zu +kurieren. + +Der alte Spieß erzählte ihm darauf mit Selbstzufriedenheit, daß er +gerade im Begriff gewesen sei, den Mietszettel wieder unten am Haustor +auszuhängen, da dies genau der letzte Tag sei, an dem seine Anzahlung +der Miete ablaufe. Natürlich konnte der Alte nicht umhin, bei der +Gelegenheit ein Wörtchen über den deutschen Ordnungssinn im allgemeinen +wie im besonderen einzuflechten und desgleichen auch die bekannte +deutsche Ehrlichkeit rühmend hervorzuheben. Am selben Tage erkrankte +Ordynoff ernstlich und erst nach vollen drei Monaten konnte er das Bett +verlassen. + +Seine Genesung machte nur sehr langsame Fortschritte. Das Leben bei den +Deutschen verging einförmig, ruhig, still. Der Alte schien im Grunde ein +Gemütsmensch zu sein, ohne besondere Eigenheiten, und das nette Tinchen +war, natürlich innerhalb der Gebote der Sittsamkeit, alles, was man nur +wünschen konnte. Und doch erschien das Leben Ordynoff so öde und +farblos, als hätte es für ihn auf ewig alles Licht und alle Farben +verloren. Er versank in grübelndes Sinnen und wurde reizbar; er war +gleichsam preisgegeben den Eindrücken, die er empfing und er empfand sie +mit krankhafter Nachdrücklichkeit. So kam es, daß er in einen Zustand +verfiel, der an Hypochondrie gemahnte und schließlich sein Empfinden +gegen äußere Eindrücke völlig abstumpfte. Oft rührte er wochenlang kein +Buch an. Die Zukunft war für ihn aussichtslos, sein Geld ging auf die +Neige und er ließ schon im voraus die Arme sinken; ja er dachte nicht +einmal an die Zukunft. Manchmal kam wohl seine frühere Liebe zur +Wissenschaft über ihn, das frühere Fieber, das ihn zum Schaffen gedrängt +hatte, und die Gedanken und Gestalten, die einst in seinem Geist +entstanden waren, erstanden jetzt wieder aus der Vergangenheit und +stellten sich förmlich greifbar vor ihm auf ... doch sie bedrückten ihn +jetzt nur und lähmten seine Energie. Seine Gedanken wurden nicht zu +Taten. Die Kraft zur Schöpfung war ausgeschaltet und so schien das +Schaffen wie stehen geblieben. Es war, als erständen alle diese Ideen +jetzt nur noch deshalb wie Giganten in seinem Geiste, um über seine, +ihres Schöpfers, Kraftlosigkeit zu spotten. Unwillkürlich kam es ihm in +einer traurigen Stunde in den Sinn, sich mit jenem vorwitzigen +Zauberlehrling zu vergleichen, der, nachdem er von seinem Meister den +Zauberspruch erlauscht, dem Besen befiehlt, das Wasser herbeizutragen, +und der dann schließlich in diesem Wasser ertrinkt, weil er vergessen +hat, wie man ihm Einhalt gebietet. Vielleicht, wer weiß, wäre von ihm +eine große, selbständige, neue Idee in die Welt gesetzt worden. +Vielleicht war es ihm bestimmt gewesen, ein Großer in seiner +Wissenschaft zu werden. Wenigstens hatte er früher selbst so etwas +geglaubt. Ein aufrichtiger Glaube aber ist schon eine Bürgschaft für die +Zukunft. Jetzt jedoch lachte er über diesen seinen blinden Glauben und – +kam keinen Schritt vorwärts. Ein halbes Jahr vorher war das anders +gewesen: da hatte er in klaren Zügen eine Skizze zu einem Werk +entworfen, in dem er seine Anschauungen festlegen wollte, und auf dieses +Werk hatte er, jung wie er war, die größten, auch die größten +materiellen Hoffnungen aufgebaut. Das Werk war ein Buch über +Kirchengeschichte und Worte tiefster glühendster Überzeugung +entströmten, während er an ihm schrieb, seiner Feder. Jetzt nahm er +diesen Plan wieder vor, las ihn durch, änderte, dachte über ihn nach, +las und suchte in den verschiedensten Büchern, und schließlich verwarf +er seine Idee – verwarf sie, ohne sie durch eine andere zu ersetzen. +Dafür begann so etwas wie Mystik, ja sogar so etwas wie ein Glaube an +Prädestination und ein Ahnen der letzten Geheimnisse dieser Welt sich +mehr und mehr in seine Seele einzudrängen. Der Unglückliche litt unter +seinen unendlichen Qualen und wandte sich schließlich Gott zu, um bei +ihm Erlösung zu finden. Die Aufwärterin der Deutschen, eine alte +gottesfürchtige Russin, erzählte mit Wohlgefallen, wie ihr stiller +Mieter in der Kirche bete und wie er zuweilen stundenlang regungslos auf +den Knien liege, die Stirn auf die Fliesen gebeugt ... + +Er hatte zu keinem Menschen ein Wort von seinem Erlebnis gesagt. +Zuweilen aber, namentlich in der Dämmerung, wenn die Kirchenglocken +läuteten und zur Abendandacht riefen und ihr Klang in ihm wieder die +Erinnerung an jenen Augenblick erweckte ... als zum erstenmal jenes +Gefühl über ihn kam, das er noch nie empfunden und das ihn erzittern +ließ, während er, neben ihr kniend, alles andere um sich her vergaß und +nur ihr Herz pochen hörte ... und wie da plötzlich diese lichte Hoffnung +mit einemmal sein einsames Leben durchstrahlt hatte und er vor lauter +Freude und Entzücken in Tränen ausgebrochen war – wenn er das alles +jetzt nochmals durchlebte, dann war es ihm, als risse ihn ein Sturm mit +sich fort, ein Sturm, der sich aus seiner eigenen, für immer verwundeten +Seele erhob; dann erzitterte er und die Qual der Liebe brannte wieder +wie sengendes Feuer in seiner Brust; dann tat ihm das Herz vor Leid und +Leidenschaft zum Zerspringen weh und mit der Trauer wuchs seine Liebe, +wurde noch immer größer und tiefer. Oft saß er so, stundenlang, vergaß +sich selbst und sein ganzes alltägliches Leben, vergaß alles in der Welt +und saß stundenlang auf einem Fleck, einsam, traurig – stützte dann wohl +die Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den Händen, bis +ihm die Tränen durch die Finger rannen und er hoffnungslos müde den Kopf +schüttelte, während seine Lippen leise flüsterten: „Katherina! Du Süße! +Meine Taube du! Mein Schwesterchen! ...“ + +Nach und nach jedoch begann eine häßliche Überzeugung sich immer mehr in +ihm festzusetzen, ja sie verfolgte ihn geradezu und peinigte ihn und +stand doch mit jedem Tage unabweisbarer vor ihm, bis sie aus einem +bloßen Verdacht zur Wahrscheinlichkeit und zu guter Letzt zur Gewißheit +und Überzeugung für ihn wurde. Es schien ihm – und wie gesagt, zuletzt +glaubte er selbst fest daran – es schien ihm, daß Katherinas Geist und +Vernunft keineswegs gelitten hatten, daß aber Murin seinerseits auch +nicht so unrecht hatte, wenn er sie ein „schwaches Herz“ nannte. Es +schien ihm, daß irgendein verbrecherisches Geheimnis sie mit dem Alten +verband, daß aber das Verbrechen selbst Katherina gar nicht recht zu +Bewußtsein gekommen, eben wegen ihres reinen Herzens, und daß sie so in +seine Gewalt geraten war. Wer waren sie? – er wußte es nicht. Aber ihn +verfolgte die Vorstellung einer erbarmungslosen, eifersüchtigen +Tyrannei, die der Alte mit der Beherrschung des armen schutzlosen +Geschöpfs ausübte, und sein Herz erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es +schien ihm, daß der Alte, als ihr vielleicht einmal so etwas wie eine +Ahnung des ganzen Zusammenhangs aufgegangen war, ihr dann arglistig das +„Verbrechen“ vorgehalten hatte, ihre Schuld und ihren Fall, um dann +listig das arme „_schwache_“ Herz zu quälen und den Tatbestand in +schlauer Weise zu verdrehen, wobei er mit Absicht ihre Blindheit da, wo +es ihm ratsam erschien, noch verstärkt und andererseits die Neigungen +ihres heißen, verwirrten, unerfahrenen Herzens begünstigt haben mochte, +bis er ihr auf diese Weise allmählich die Flügel gestutzt und die einst +freie unabhängige Seele so weit gebracht, daß sie schließlich weder zu +einer Selbstbefreiung durch eine Rettung ins wirkliche Leben, noch zu +überhaupt einer Auflehnung gegen seine schlaue Gewaltherrschaft fähig +war ... + +Mit der Zeit wurde Ordynoff noch menschenscheuer, als früher, seine +Deutschen hinderten ihn daran nicht im geringsten, was um der +Gerechtigkeit willen nicht verschwiegen sei. Ab und zu aber machte er +sich doch auf und ging hinaus, um dann lange ziellos durch die Straßen +zu wandern. Es geschah das vornehmlich in der Dämmerstunde und dazu +suchte er sich dann öde und entlegene Stadtteile auf, wo selten ein +Mensch zu sehen war. An einem regnerischen Vorfrühlingsabend begegnete +er in einer dieser Gassen Jaroslaw Iljitsch. + +Der war inzwischen merklich magerer geworden, seine freundlichen Augen +hatten ihren Glanz verloren und der ganze Mensch machte den Eindruck, +als habe das Leben ihn enttäuscht. Er hatte es gerade sehr eilig und +eine Angelegenheit vor, die angeblich keinen Aufschub duldete – war +dabei durchnäßt und angeschmutzt, und an seiner sonst sehr anständigen, +jetzt jedoch von der Witterung etwas blau angelaufenen Nase hing in +beinahe phantastischer Weise ein Regentropfen. Außerdem trug er einen +Backenbart, während er früher nur einen Schnurrbart gehabt hatte. + +Dieser Backenbart und der Umstand, daß Jaroslaw Iljitsch im ersten +Augenblick fast tat, als wolle er seinem alten Bekannten ausweichen, +frappierten Ordynoff ... Und sonderbar! gewissermaßen schmerzte ihn das +sogar und kränkte sein Herz, das doch bis dahin noch niemals des +Mitleids anderer Menschen bedurft hatte. Der frühere Jaroslaw Iljitsch +war ihm lieber gewesen, dieser gutmütige, dieser naive und – +entschließen wir uns, es endlich offen auszusprechen – dieser etwas +dumme Jaroslaw Iljitsch, der so gar keine Ansprüche machte auf +Enttäuschungen oder Bereicherungen. Es ist doch unangenehm, entschieden +unangenehm, wenn ein _dummer_ Mensch, den man einst vielleicht gerade +wegen seiner Dummheit gern gehabt hat, _plötzlich klüger wird_! Übrigens +verschwand das Mißtrauen, mit dem er im ersten Augenblick Ordynoff +ansah, fast noch schneller, als dieser es wahrnehmen konnte. + +Doch ungeachtet dieser Veränderung hatte er seine alten Gewohnheiten +keineswegs aufgegeben, wie ja bekanntlich fast jeder Mensch seine +Gewohnheiten ins Grab mitzunehmen pflegt: und so begann er denn auch +jetzt wieder ganz im Tone des besten Freundes die Unterhaltung. Zunächst +bemerkte er, daß er viel zu tun habe, dann, daß sie sich lange nicht +gesehen. Darauf nahm aber seine Rede plötzlich eine ganz andere und +jedenfalls ganz neue Wendung. Er begann von der Verlogenheit der +Menschen im allgemeinen zu sprechen, von der Vergänglichkeit der +irdischen Güter sowie von der irdischen Nichtigkeit überhaupt, die nur +eine einzige Sorge kenne ... versäumte auch nicht, so ganz beiläufig +Puschkin zu erwähnen, jedoch in fast herablassendem Tone, und sprach +ferner von seinen guten Bekannten sogar mit einem gewissen Zynismus, +worauf er zum Schluß sich noch ein paar Andeutungen über die Falschheit +derjenigen erlaubte, die sich öffentlich Freunde nennen, während es in +Wirklichkeit, solange die Welt stehe, überhaupt noch keine echte +Freundschaft gegeben habe. Mit einem Wort, Jaroslaw Iljitsch war _doch_ +klüger geworden! + +Ordynoff widersprach ihm nicht, aber eine unsagbare, qualvolle +Traurigkeit bemächtigte sich seiner: es war ihm, als habe er soeben +seinen besten Freund begraben! + +„Ach! Stellen Sie sich vor, da hätte ich es beinahe zu erzählen +vergessen!“ unterbrach sich plötzlich Jaroslaw Iljitsch, als fiele ihm +etwas ungeheuer Wichtiges ein. „Ich habe eine Neuigkeit! Erinnern Sie +sich noch jenes Hauses, wo Sie mal kurze Zeit wohnten?“ + +Ordynoff zuckte zusammen und erbleichte. + +„Können Sie sich denken, in diesem Hause hat man vor kurzem eine ganze +Räuberbande entdeckt! – das heißt, verstehen Sie: eine ganze Bande! +Schmuggler, Diebe, Spitzbuben der schlimmsten Art und weiß der Teufel +was noch alles! Mehrere sind schon hinter Schloß und Riegel, den andern +ist man erst noch auf der Spur. Die strengsten Weisungen sind erlassen! +Und denken Sie sich weiter: – Sie erinnern sich doch wohl noch des +Hausbesitzers? – so’n kleines Männchen, gottesfürchtig, dem Anscheine +nach ein ehrwürdiger, durch und durch anständiger, alter Mann ...“ + +„Nun?“ + +„Tja – da urteilen Sie jetzt über die Menschheit! Gerade der ist das +Haupt der Bande gewesen, der Anführer! Was sagen Sie dazu? Ist das nicht +haarsträubend!“ + +Jaroslaw Iljitsch sprach mit Leidenschaft und verurteilte mit dem einen +Sünder sogleich die ganze Welt, denn so ein Jaroslaw Iljitsch kann eben +nicht anders, als nach einem Ding alle Dinge beurteilen, das liegt nun +mal in seinem Charakter. + +„Und jene? ... Und Murin?“ stieß Ordynoff atemlos hervor. + +„Murin? Ach so – der! Nein, Murin war ein ehrwürdiger Alter ... Aber ... +erlauben Sie mal! ... erlauben Sie mal! ... Sie werfen da ein neues +Licht auf die Affäre ...“ + +„Wie denn? Gehörte er nicht auch zur Bande?“ + +Ordynoffs Herz schlug laut gegen seine Brust – er verging vor Spannung. + +„Übrigens ... nein, wie denn das ... wie kommen Sie darauf?“ Jaroslaw +Iljitsch richtete seine bleiernen Augen mit unbeweglichem Blick auf +Ordynoff – ein Zeichen, daß er überlegte. + +„Murin kann nicht darunter gewesen sein. Er hat schon drei Wochen vorher +mit der Frau Petersburg verlassen – ist in seine Heimat zurückgekehrt +... Ich erfuhr es vom Hausknecht ... jenem Tatarenfrechling, erinnern +Sie sich?“ + + + + + Ein schwaches Herz + + + In ihrer Wohnung im vierten Stock unter dem Dach lebten zwei + junge Beamte, Arkadij Iwanowitsch Nefedewitsch und Wassjä + Schumkoff. + +Ich müßte nun eigentlich den Leser darüber aufklären, warum ich den +einen Helden meiner Erzählung bei vollem Namen, den anderen dagegen nur +bei seinem Rufnamen genannt habe, sonst könnte man dieses Verfahren +leicht für unangebracht oder für allzu vertraulich halten. Das aber +setzte wieder voraus, daß ich das Alter, den Rang und Beruf der +handelnden Personen genau feststellte. Doch weil die meisten +Schriftsteller mit einer derartigen Einleitung beginnen, so habe ich mir +vorgenommen, die Erzählung sofort mit der Handlung anfangen zu lassen – +nur, um nicht in die abgeschmackte Art der anderen zu verfallen oder wie +einige behaupten werden, aus Eigendünkel und Einbildung. + +So schließe ich denn meine Einleitung und beginne. + +Um sechs Uhr am Vorabend des neuen Jahres kehrte Schumkoff nach Hause +zurück. Arkadij Iwanowitsch, der auf seinem Bett lag, erwachte und +blinzelte verstohlen den Freund an. Er bemerkte, daß dieser seinen +besten Anzug trug und ein blitzblankes Vorhemd anhatte. Das setzte ihn +natürlich in Erstaunen. Was beabsichtigte er wohl damit? Woher kam er? +Obendrein hatte er heute nicht zu Hause gespeist! + +Schumkoff zündete unterdessen Licht an und Arkadij Iwanowitsch erriet +sofort, daß sein Freund ihn durch ein scheinbar unbeabsichtigtes +Geräusch wecken wollte. Und so geschah es denn auch: Wassjä hustete +zweimal, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und ließ ganz zufällig +seine Pfeife aus der Hand fallen, als er sie in der Ecke am Ofen +ausklopfte. Arkadij Iwanowitsch mußte lachen. + +„Nun ist’s aber genug, du Schlauberger!“ sagte er. + +„Arkascha, du schläfst nicht?“ + +„Ja, weißt du: Genau kann ich’s dir nicht sagen; doch scheint es mir, +daß ich nicht schlafe.“ + +„Ach, Arkascha! Guten Tag, mein Lieber! nun Bruderherz ... Du weißt +nicht, was ich dir zu sagen habe!“ + +„Natürlich weiß ich’s nicht! Doch komm mal ein bißchen her zu mir!“ + +Wassjä kam sofort herbei, ganz als hätte er nur darauf gewartet, und +ohne von den Absichten Arkadij Iwanowitschs auch nur etwas zu ahnen. +Dieser ergriff ihn bei der Hand, drehte ihn geschickt um, drückte ihn +rückwärts aufs Bett und begann ihn, wie man sagt, „zu würgen“, was ihm, +dem immer fröhlichen Arkadij Iwanowitsch, ein ungeheueres Vergnügen zu +machen schien. + +„Hereingefallen!“ rief er, „hereingefallen!“ + +„Arkascha, Arkascha, was tust du mit mir? Laß los, um Gottes willen, laß +los, ich verderbe mir meinen Anzug!“ + +„Das tut nichts: warum hast du auch deinen guten Anzug an? Sei ein +andermal nicht so unvorsichtig und gib dich nicht selbst in meine Hände! +Sprich, wo warst du, wo hast du gespeist?“ + +„Arkascha, um Gottes willen, laß mich los!“ + +„Wo hast du gespeist?“ + +„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzählen!“ + +„Also erzähle!“ + +„Schön, aber laß mich erst los!“ + +„Nein, ich lass’ dich nicht los, bevor du nicht erzählt hast!“ + +„Arkascha, Arkascha! Ja, verstehst du denn nicht, daß es so unmöglich +ist, ganz unmöglich!“ stöhnte der schwache Wassjä und versuchte +vergeblich sich aus den kräftigen Armen seines Freundes zu befreien, „es +gibt doch gewisse Angelegenheiten, die ...“ + +„Was für Angelegenheiten?“ + +„Nun ja, Angelegenheiten, die, wenn man in solcher Lage von ihnen zu +reden beginnt, allen Ernst verlieren. Es ist mir ganz unmöglich ... es +würde nur lächerlich wirken und – die Sache ist doch durchaus nicht +lächerlich, sondern sogar sehr ernst!“ + +„Auch noch ernst! Was du dir nicht ausgedacht hast! Du, erzähle mir +lieber etwas, worüber ich lachen kann ... Etwas Ernstes, nein etwas +Ernstes will ich jetzt nicht hören. Was bist du mir für ein Freund? +Bitte, sage mir doch, was bist du für ein Freund!?“ + +„Arkascha, bei Gott, ich kann nicht!“ + +„Und ich will nichts davon wissen ...“ + +„Höre, Arkascha!“ begann Wassjä, der quer über dem Bett lag und sich mit +aller Gewalt mühte, seinen Worten Nachdruck zu geben. „Arkascha, +meinetwegen sag’ ich’s – nur ...“ + +„Nun, was denn ...“ + +„Ich habe – mich verlobt!“ + +Arkadij Iwanowitsch nahm schweigend und ohne ein Wort zu verlieren, +Wassjä wie ein kleines Kind auf seine Arme, ungeachtet dessen, daß +Wassjä durchaus nicht so klein war, sondern recht lang, wenn auch sehr +mager, und trug ihn von einer Ecke des Zimmers in die andere, ganz als +wiege er ein Kind. + +„Und ich werde dich Bräutigam einwickeln wie einen Säugling,“ gab er zur +Antwort. Doch als er bemerkte, daß Wassjä regungslos und ohne ein Wort +zu sagen in seinen Armen lag, besann er sich und begriff, daß er in +seinem Scherz offenbar zu weit gegangen war: er stellte ihn daher mitten +ins Zimmer hin und streichelte ihm auf die freundschaftlichste Weise die +Backe. + +„Wassjä, du bist doch nicht böse?“ + +„Arkascha, höre ...“ + +„Wohl zum neuen Jahr?“ + +„Bös bin ich nicht – doch, warum bist du so ein Kraftrüpel, so ein +Unmensch? Wie oft habe ich dir nicht gesagt: Arkascha, bei Gott, das ist +nicht sehr witzig, durchaus nicht sehr witzig!“ + +„Nun sei nur nicht gleich böse!“ + +„Böse? ... Auf wen bin ich denn jemals böse! Aber gekränkt hast du mich +doch, verstehst du das!“ + +„Wodurch denn gekränkt, auf welche Weise?“ + +„Ich bin zu dir gekommen, wie zu einem Freunde, mit voller Seele und um +dir mein Herz auszuschütten, um dir mein Glück mitzuteilen ...“ + +„Ja, was für ein Glück denn? Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?“ + +„Nun, ich heirate doch!“ antwortete geärgert Wassjä, denn er war +wirklich gekränkt. + +„Du! Du heiratest! Ist das wahr?“ brüllte aus voller Kehle Arkascha. +„Nein, nein ... was soll denn das? Und dabei vergießt er Tränen! ... +Wassjä, du mein Wassjuk, mein Söhnchen, höre auf! Es ist also wirklich +wahr?“ Und Arkadij Iwanowitsch umarmte ihn immer wieder von neuem. + +„Nun, also verstehst du jetzt, was soeben in mir vorging?“ sagte Wassjä. +„Du bist doch sonst gut zu mir, du bist doch mein Freund, ich weiß es. +Ich kam zu dir voll Freude und Begeisterung und plötzlich mußte ich nun +diese ganze Freude und diese ganze Begeisterung quer über dem Bette +liegend, würdelos ... Du begreifst doch, Arkascha,“ fuhr Wassjä +halblachend fort, „in einer so komischen Lage, in der ich in gewisser +Hinsicht und in diesem Augenblick nicht einmal mir selbst angehörte ... +Ich wollte doch diese Herzensangelegenheit nicht so erniedrigen ... Es +fehlt nur noch, daß du mich gefragt hättest, wie sie heißt? Ich schwöre +dir, ich hätte mir eher das Leben genommen, als dir in diesem Augenblick +ihren Namen gesagt!“ + +„Aber, Wassjä, warum hast du mir denn das nicht gleich gesagt! Ich hätte +ja sofort aufgehört mit dem Ulk!“ rief Arkadij Iwanowitsch in +aufrichtiger Verzweiflung. + +„Schon gut, schon gut! Ich sage ja nur so ... Du weißt doch ... nur – +weil ich ein so gutes Herz habe. Es ärgert mich ja bloß, daß ich es dir +nicht so sagen konnte, wie ich’s wollte! Ich wollte dir doch eine Freude +bereiten, dir alles schön und feierlich mitteilen, dich in alles +einweihen ... Wirklich, Arkascha, ich liebe dich doch so sehr, daß ich, +wenn du nicht wärest, so scheint es mir, überhaupt nicht heiraten würde, +ja, vielleicht gar nicht auf der Welt sein möchte!“ + +Arkadij Iwanowitsch, der äußerst gefühlvoll war, weinte und lachte +zugleich, als er das hörte. Wassjä gleichfalls. Beide umarmten sich +immer wieder von neuem und vergaßen alles Gegenwärtige. + +„Wie ist denn das nur, ja, wie ist denn das nur gekommen? Erzähle mir +doch alles, Wassjä! Ich bin, mein Lieber, entschuldige, ich bin +erschüttert, ganz und gar erschüttert, als hätte der Blitz mich +getroffen, bei Gott! Doch nein, mein Lieber, nein, du hast dir ganz +einfach was ausgedacht. Bei Gott, du lügst!“ brüllte Arkadij Iwanowitsch +und blickte wirklich ganz mißtrauisch Wassjä an, aber als er auf dessen +Gesicht nun wirklich die leuchtende Bestätigung seiner unumstößlichen +Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, bemerkte, warf er sich aufs +Bett und begann sich vor lauter Entzücken so in ihm herumzuwälzen, daß +die Wände zitterten. + +„Wassjä, setz dich hierher zu mir!“ rief er, endlich sich im Bett +aufrichtend. + +„Ich, Bruderherz, ich weiß wirklich nicht – wie und womit beginnen!“ + +Beide sahen in freudiger Erregung einander an. + +„Wer ist sie, Wassjä?“ + +„Eine Artemjewa! ...“ stieß Wassjä mit vor Glück zitternder und noch +ganz schwacher Stimme hervor. + +„Nein, wirklich?“ + +„Nun, ich habe dir doch schon über sie die Ohren vollgeredet! Du +bemerktest nur von alledem nichts! Und so schwieg ich denn ganz! Ach, +Arkascha, was es mich kostete, dir gegenüber das alles zu verbergen! – +doch ich fürchtete mich, fürchtete mich zu reden! Ich dachte, es könnte +am Ende alles auseinandergehen, und ich war doch so verliebt, Arkascha! +Mein Gott, mein Gott! Weißt du, was das für Geschichten waren,“ begann +er, und brach sogleich wieder vor Erregung ab, „sie war doch vor einem +Jahr bereits einmal verlobt, er aber wurde plötzlich irgendwohin +wegversetzt, ich kannte ihn auch – so einer, nun, Gott mit ihm! Er hat +dann nichts mehr von sich hören lassen und war schließlich für sie +verschollen. Sie wartete und wartete und wußte nicht, was das bedeuten +sollte? ... Plötzlich, vor vier Wochen, kehrte er zurück – bereits +verheiratet, und ohne sich bei ihnen auch nur sehen zu lassen. War das +nicht roh? Gemein? Niemand war da, der für sie eintrat. Sie weinte und +weinte, die Arme, und so verliebte ich mich denn in sie ... ja, ich war +eigentlich schon lange, eigentlich schon immer in sie verliebt! Ich +tröstete sie und ging wieder und wieder zu ihr. Nun, und da weiß ich +denn selbst nicht, wie alles gekommen ist! Auch sie hatte mich recht +liebgewonnen: und in der vorigen Woche, da hielt ich es nicht mehr aus, +da mußte ich weinen, ich schluchzte und sagte ihr alles, sagte ihr, daß +ich sie liebe – kurz, alles! ... ‚Ich würde Sie wohl auch lieben, +Wassilij Petrowitsch,‘ sagte sie, ‚ich bin aber ein armes Mädchen, darum +spotten Sie meiner nicht – ich wage es überhaupt nicht mehr, jemanden zu +lieben.‘ Nun, mein Freund, verstehst du, verstehst du mich?! ... Da +haben wir uns denn gegenseitig das Wort gegeben. Und ich habe überlegt, +wie ich es der Mutter mitteilen wollte? Lisenka sagte, es sei sehr +schwierig, ich möchte noch ein wenig warten: sie fürchtete sich, es +selbst zu tun; ‚Mutter wird mich Ihnen jetzt noch nicht geben wollen,‘ +meinte sie und weinte dazu. Ich sagte ihr weiter nichts. Heute habe ich +es nun der Alten gestanden. Lisa kniete vor ihr nieder und ich auch ... +Nun, und sie – segnete uns. Arkascha, Arkascha! mein Lieber! Wir wollen +alle zusammen leben! Nein! Ich werde mich von dir um nichts in der Welt +trennen!“ + +„Wassjä, wenn ich dich so ansehe, so kann ich es nicht glauben, bei +Gott, ich schwöre es dir, ich kann es nicht glauben. Wirklich, es +scheint mir immer ... Höre, wie kannst du dich denn verheiraten? und wie +habe ich die ganze Zeit über von nichts wissen können, sag! Jetzt, mein +Wassjä, kann ich dir auch gestehen, daß ich selbst zu heiraten gedachte: +da du es aber bereits für mich tust, so ist das ja ganz gleich! ... +Werde also glücklich, mein Lieber! ...“ + +„Ach, du, wie mir jetzt leicht und wohl zumut ist ...“ sagte Wassjä und +ging vor Erregung im Zimmer auf und ab. „Nicht wahr, nicht wahr, du +fühlst es doch auch? Wir werden arm sein, freilich, aber glücklich – und +das ist kein Hirngespinst. Unser Glück wird kein papierenes sein, wie es +in den Büchern steht, sondern wir werden in Wirklichkeit glücklich sein! +...“ + +„Wassjä, aber Wassjä, höre!“ + +„Was denn?“ sagte Wassjä und blieb vor Arkadij Iwanowitsch stehen. + +„Mir kam nur der Gedanke – wirklich, ich fürchte mich eigentlich, ihn +auszusprechen ... Verzeih mir und nimm mir meine Bedenken! Wovon wirst +du leben? Ich bin ja, weißt du, außer mir vor Freude, daß du heiratest, +kann mich vor Freude kaum lassen, doch – die Frage bleibt: wovon wirst +du leben?“ + +„Ach, mein Gott, wie du auch bist, Arkascha!“ sagte Wassjä und sah mit +tiefer Verwunderung Nefedewitsch an. „Was fällt dir denn ein? Sogar die +Alte dachte kaum zwei Minuten lang nach, als ich ihr alles das klar +machte. Frage sie doch, wovon _sie_ gelebt haben? Fünfhundert Rubel im +Jahr! für drei! so viel beträgt die ganze Pension, mit der sie auskommen +müssen! Davon lebt sie, die Alte und ein kleiner Bruder, für den noch +die Schule bezahlt werden muß – siehst du, so lebt man eben! Wir beide +aber, du und ich, wir sind wahre Kapitalisten, denn ich habe manches +Jahr, wenn es gut ging, ganze siebenhundert verdient!“ + +„Höre, Wassjä, verzeih mir: ich denke, bei Gott, nur daran, wie das +alles zu machen geht – aber welche siebenhundert sollen das gewesen +sein? Nur dreihundert ...“ + +„Dreihundert! ... Und Juljan Mastakowitsch? Den hast du ganz vergessen!“ + +„Juljan Mastakowitsch! Das ist eine Sache, die nicht ganz stimmt, mein +Lieber: das sind nicht dreihundert Rubel feststehenden Gehaltes, von +denen einem ein jeder einzelne Rubel sicher ist. Juljan Mastakowitsch +ist freilich ein großmütiger und großzügiger Mensch, ich verehre ihn und +verstehe es, daß er so hoch gestiegen ist, und, bei Gott, ich liebe ihn, +weil er dir zugetan ist und dir eine Arbeit bezahlt, für die er sonst +nichts zu bezahlen, sondern einfach nur einen Beamten zu beauftragen +brauchte – aber sage doch selbst, Wassjä! ... Höre mich an, Wassjä, ich +rede doch keinen Unsinn; ich weiß auch, daß es in ganz Petersburg eine +solche Handschrift wie die deine nicht wieder gibt, und ich bin gern +bereit, das Beste anzunehmen,“ schloß, nicht ohne Wärme, Nefedewitsch, +„aber wie, wenn du ihm plötzlich – Gott bewahre dich davor! doch nicht +mehr so gefallen und ihn zufriedenstellen solltest und wenn er mit einem +Male die Verbindung mit dir abbräche und einen anderen nähme! ... wer +weiß, was im Leben nicht alles kommen kann. Dann ist Juljan +Mastakowitsch für dich nichts mehr, dann ist er bloß – gewesen, Wassjä +...“ + +„Höre, Arkascha, ebenso kann sofort über uns die Decke einbrechen ...“ + +„Nun, freilich, freilich ... Ich will ja auch nichts ...“ + +„Nein, höre mich an: warum soll er mich denn verabschieden ... Nein, +wirklich, höre mich doch nur an! Ich erledige ja alles pünktlich und +peinlich: und er ist so gut zu mir, er hat mir doch, Arkascha, er hat +mir doch heute noch fünfzig Rubel gegeben!“ + +„Ist’s möglich, Wassjä? eine Zulage?“ + +„Was, Zulage? Nein, so: einfach aus seiner Tasche. Er sagte: wie, mein +Lieber, du hast bereits den fünften Monat kein Geld mehr erhalten. Wenn +du welches brauchst, nimm es: denn ich bin, sagte er, mit dir sehr +zufrieden ... bei Gott! Du arbeitest doch nicht umsonst für mich, sagte +er, wirklich! Das hat er gesagt. Mir rollten die Tränen über die Backen, +Arkascha. Großer Gott!“ + +„Höre, Wassjä, hast du denn die neue Abschrift fertiggestellt? ...“ + +„Nein ... noch nicht.“ + +„Wassinjka! Mein Lieber! Was hast du denn getan?“ + +„Höre, Arkadij, das tut doch nichts, ich habe noch zwei volle Tage Zeit +bis zum Termin ...“ + +„Wie, hast du denn noch gar nicht angefangen?“ + +„Na ja, na ja! Du siehst mich ja mit einem Ausdruck an, daß sich mein +ganzes Innere umdreht! Nun, was ist denn dabei? Du kannst einem so den +Mut nehmen und schreist immer gleich: a–a–a!!! Überleg es dir doch: was +ist denn dabei? Ich werde damit schon fertig werden, bei Gott, das werde +ich ...“ + +„Aber wenn du es nun nicht wirst!“ rief Arkadij und sprang auf. „Gerade +jetzt, da er dir heute eine Belohnung gegeben hat! Und obendrein willst +du heiraten ... Oh, oh, oh! ...“ + +„Das hat nichts zu sagen, gar nichts,“ schrie fast verzweifelt +Schumkoff, „ich werde mich sofort hinsetzen, noch in dieser Minute werde +ich mich hinsetzen – das tut gar nichts!“ + +„Wie hast du es denn nur so vernachlässigen können, Wassjutka!“ + +„Ach, Arkascha! Konnte ich denn hier so ruhig still sitzen! Mein Zustand +war doch so, daß ich kaum in der Kanzlei arbeiten konnte ... Ach! Ach! +Heute werde ich die Nacht durcharbeiten, morgen wieder die Nacht +durcharbeiten und übermorgen auch noch und dann – wird’s fertig sein! +...“ + +„Ist noch viel übriggeblieben?“ + +„Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich nicht! schweige mir +davon!“ + +Arkadij Iwanowitsch ging leise auf den Fußspitzen zu seinem Bett, und +setzte sich hin, darauf wollte er plötzlich wieder aufstehen, sagte sich +aber sofort, daß er seinen Freund nicht stören dürfe und blieb sitzen: +offenbar hatte ihn die Mitteilung so aufgeregt, daß er noch nicht mit +sich zur Ruhe kommen konnte. Er blickte auf Schumkoff, der sah ihn an, +lächelte und drohte ihm mit dem Finger. Darauf runzelte Schumkoff ganz +furchtbar die Brauen, als läge darin die eigentliche Kraft und der +gewünschte Erfolg seiner Arbeit, und richtete seine Augen dann wieder +aufs Papier. + +Es schien, daß auch er seine Erregung noch nicht überwunden hatte, er +wechselte beständig seine Feder, rückte auf dem Stuhle hin und her, nahm +sich zusammen, um wieder von neuem zu beginnen, doch seine Hand zitterte +und versagte offenbar den Dienst. + +„Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!“ rief er plötzlich, als +wäre es ihm soeben eingefallen. + +„Ja?“ rief Arkascha, „und ich wollte dich vorhin schon darüber fragen, +nun?“ + +„Nun! Ach, ich werde dir später alles erzählen. Sieh, bei Gott, jetzt +habe ich selbst zu sprechen angefangen und ich wollte es doch nicht tun, +bevor ich nicht wenigstens vier Blätter fertig gemacht. Mir fiel es aber +plötzlich ein, das von dir und von ihnen! Ich kann auch, mein Lieber – +ich kann gar nicht ordentlich schreiben: immer muß ich an euch denken +...“ Und Wassjä lächelte. + +Es trat Schweigen ein. + +„Pfui! Was für eine schlechte Feder!“ rief Schumkoff, schlug im Ärger +auf den Tisch und nahm wieder eine andere. + +„Wassjä! Höre! Nur ein Wort ...“ + +„Nun, aber schnell, zum letztenmal.“ + +„Hast du noch viel zu schreiben?“ + +„Ach, mein Lieber! ...“ Wassjä runzelte die Stirn, als gebe es keine +schrecklichere und tötendere Frage auf der Welt, als diese. „Viel, +furchtbar viel!“ antwortete er dann. + +„Weißt du, ich habe eine Idee ...“ + +„Was für eine?“ + +„Nein, nein, schreibe nur.“ + +„Nun, was für eine? Sag doch!“ + +„Es ist bereits sieben Uhr, Wassjä!“ + +Dabei lächelte Nefedewitsch schelmisch und blinzelte Wassjä zu, wenn +auch nur ganz schüchtern, da er nicht wußte, wie dieser es aufnehmen +würde. + +„Nun, was denn?“ sagte Wassjä und schien wirklich mit dem Schreiben +aufhören zu wollen. Er sah ihm gerade in die Augen und war ganz bleich +vor Erwartung. + +„Weißt du, was?“ + +„Um Gottes willen, was denn?“ + +„Weißt du, du bist so erregt und wirst doch nicht viel arbeiten können +... Warte, warte, warte, ich sehe, ich sehe – so höre doch!“ beeilte +sich Nefedewitsch und sprang, von seinem Gedanken gefaßt, vom Bett auf, +um mit allen Kräften einer Erwiderung Wassjäs zuvorzukommen, „es ist vor +allem nötig, daß du dich beruhigst und wieder von neuem Kräfte sammelst, +ist’s nicht so?“ + +„Arkascha! Arkascha!“ rief Wassjä aus und sprang vom Stuhl, „ich werde +die ganze Nacht aufbleiben und schreiben, bei Gott, das tu’ ich!“ + +„Nun ja, jawohl! doch gegen Morgen wirst du einschlafen ...“ + +„Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der Welt ...“ + +„Nein, das geht, das geht nicht! Natürlich wirst du um fünf Uhr +einschlafen! Und um acht Uhr werde ich dich wieder wecken. Morgen ist +ein Feiertag, da kannst du dich hinsetzen und den ganzen Tag über +schreiben ... Dann noch eine Nacht und – ist denn noch so viel +übriggeblieben?“ + +„Da! sieh!“ + +Wassjä zeigte ihm zitternd vor Erwartung und Erregung das Heft: „Da! +sieh!“ + +„Höre, Bruder, das ist nicht viel ...“ + +„Ja, mein Lieber, aber – es ist noch etwas,“ sagte Wassjä und sah dabei +schüchtern, fragend Nefedewitsch an, als würde von dessen Entschluß +alles abhängen: ob sie gingen oder nicht gingen? + +„Wieviel?“ + +„– Zwei Bogen ...“ + +„Nun, ich glaube, damit wirst du auch fertig, bei Gott, du wirst +fertig!“ + +„Arkascha!“ + +„Höre, Wassjä! Jetzt zum neuen Jahr sind doch alle in der Familie +versammelt und nur wir beide sollten – so ohne Häuslichkeit und ganz +verwaist ... Ach! Wassinjka!“ + +Nefedewitsch umarmte Wassjä und drückte ihn an seine Brust. + +„Abgemacht, Arkadij!“ + +„Wassjuk, ich wollte dir nur noch eines sagen. Siehst du, Wassjuk, mein +Junge! Höre! Höre mich an!“ + +Arkadij hielt den Mund weit aufgesperrt, als könne er vor Begeisterung +nicht mehr sprechen. Wassjä, der sich noch immer mit den Händen an +Arkadijs mächtigen Schultern hielt, sah ihm gespannt in die Augen und +bewegte seine Lippen, ganz als wollte er für ihn sprechen ... + +„Nun!“ sagte er endlich. + +„Stelle mich ihnen heute vor!“ + +„Arkadij! Ja: gehen wir hin! Trinken wir Tee bei ihnen! Aber weißt du +was? Das neue Jahr freilich wollen wir nicht abwarten, wir wollen früher +nach Haus kommen,“ rief Wassjä noch immer in aufrichtiger Begeisterung. + +„Das heißt also: zwei Stunden, nicht mehr und nicht weniger! ...“ + +„Und dann – Trennung, bis ich meine Sache fertig habe! ...“ + +„Wassjuk! ...“ + +„Arkadij! ...“ + +In drei Minuten war Arkadij im Galaanzug. Wassjä brauchte sich nur etwas +abzubürsten, da er sich mit solchem Eifer an die Arbeit gemacht hatte, +daß er nicht einmal seinen Rock ausgezogen. + +Sie beeilten sich, auf die Straße zu kommen, der eine noch freudiger als +der andere. Der Weg ging auf die Petersburger Seite[3] nach Kolomna[4]. +Arkadij Iwanowitsch schritt weit und kräftig aus, schon an seinem Gang +konnte man seine Freude über das Glück Wassjäs erkennen. Wassjäs Gang +war trippelnder, doch verlor er deshalb nichts von seiner Würde. Im +Gegenteil, Arkadij Iwanowitsch hatte noch nie einen so vorteilhaften +Eindruck von ihm gehabt. Er empfand, wie sie so gingen, fast eine +gewisse Hochachtung vor ihm, und ein körperlicher Fehler Wassjäs, von +dem der Leser bis jetzt noch nichts erfahren (Wassjä war nämlich ein +wenig schief gewachsen) und der im Herzen Arkadij Iwanowitschs immer ein +tiefes Mitgefühl für ihn erweckt hatte, trug zu einem nur noch größeren, +nur noch innigeren Gefühl für seinen Freund bei. Arkadij Iwanowitsch +hatte vor Freude weinen können, doch er beherrschte sich. + +„Wohin, wohin, Wassjä? Hier ist es doch näher!“ rief er, als er sah, daß +Wassjä in den Wosnessenskij-Prospekt abbiegen wollte. + +„Komm nur, Arkascha, komm ...“ + +„Wirklich, es ist näher, Wassjä.“ + +„Arkascha, weißt du?“ begann Wassjä geheimnisvoll und mit vor Seligkeit +flüsternder Stimme, „weißt du? Ich möchte nämlich Lisenka ein Geschenk +mitbringen ...“ + +„Was für eines?“ + +„Hier, mein Lieber – an der Ecke – wohnt Mme. Leroux ... ein +wundervoller Laden!“ + +„Was denn –“ + +„Ein Hütchen, mein Lieber, ein Hütchen. Heute morgen habe ich ein +reizendes Hütchen gesehen: ich fragte nach der Fasson, und man sagte +mir, Manon Lescaut heiße das Wunder! Die Bänder sind kirschfarben, und +wenn das Hütchen nicht zu teuer ist ... Arkascha, und schließlich, wenn +es auch teuer ist! ...“ + +„Du übertriffst wahrhaftig noch alle Poeten, Wassjä! Gehen wir also! +...“ + +Sie gingen und waren in zwei Minuten im Laden. Hier wurden sie von einer +schwarzäugigen und lockenhaarigen älteren Französin empfangen, die +sofort, beim ersten Blick auf ihre Käufer, ebenso lustig und glücklich +zu werden schien, wie diese selbst waren, sogar noch lustiger und noch +glücklicher, wenn das möglich gewesen wäre. Wassjä war bereit, Madame +Leroux vor Entzücken sofort abzuküssen ... + +„Arkascha!“ flüsterte er diesem zu, als er mit seinem Blick all das +Schöne und Hohe überflog, das an Holzständern auf dem großen Tisch des +Geschäfts ausgestellt war. „Welche Wunder! Wie ist denn das? Dies hier +zum Beispiel, dieses Bonbon hier, siehst du?“ Wassjä wies auf ein +kleines, reizendes Hütchen, doch nicht auf dasjenige, welches er kaufen +wollte, denn schon von weitem hatte dieses andere, am entgegengesetzten +Ende, seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er starrte es so an, als +wäre zu befürchten, daß es von jemandem gestohlen werden könnte oder als +ob das Hütchen selbst, nur damit Wassjä es nicht bekommen sollte, in die +Luft fliegen könnte. + +„Dieses hier,“ sagte Arkadij Iwanowitsch und wies auf ein anderes +Hütchen, „dieses hier ist meiner Meinung nach noch schöner.“ + +„Nun, Arkascha! Das legt dir Ehre ein: ich muß dir sagen, daß ich vor +deinem Geschmack Achtung bekomme,“ bemerkte Wassjä, der scheinbar aus +Liebe zu Arkascha auf dessen Geschmack einging. „Dein Hütchen ist +wirklich reizend, aber sieh einmal her!“ + +„Welches ist schöner?“ + +„Sieh mal her!“ + +„Dieses?“ sagte etwas zögernd Arkadij. + +Doch als Wassjä, der nicht fähig war, länger an sich zu halten, das +Hütchen vom Holzgestell herunterholte, von dem es scheinbar selbst +herunterfliegen wollte, als freute es sich – nach so langer Erwartung, +in der seine Bänderchen, Rüschchen und Spitzen steif hatten dastehen +müssen – über den guten Käufer: da entriß sich der mächtigen Brust +Arkadij Iwanowitschs ein Schrei des Entzückens. Sogar Madame Leroux, die +die ganze Zeit über ihre Würde gewahrt und während ihrer Auswahl zu +allen Fragen des Geschmacks herablassend geschwiegen hatte, belohnte +jetzt Wassjä mit einem begütigenden Lächeln und dieses Lächeln schien zu +sagen: ja! Sie haben es getroffen, Sie sind des Glückes würdig, das Sie +erwartet. + +„So hat es in seiner Einsamkeit kokettiert und kokettiert!“ rief Wassjä +aus, der seine ganze Zärtlichkeit auf das reizende Hütchen übertrug, +„hat sich mit Absicht versteckt, der Schelm!“ Und er küßte es, das +heißt, er küßte die Luft, die es umgab, denn er fürchtete sich, an seine +Kostbarkeit auch nur zu rühren. + +„So versteckt sich das wahre Verdienst,“ fügte Arkadij in seinem +Entzücken hinzu, um mit dieser Phrase, die er am Morgen in einer Zeitung +gelesen hatte, Humor in die Sache zu bringen. „Nun, Wassjä, wie steht es +denn?“ + +„Vivat, Arkascha! Du spielst wohl heute den Geistreichen, um Furore zu +machen, wie sich die Damen ausdrücken – nicht wahr, Madame Leroux, nicht +wahr!“ + +„Was wünschen Sie?“ + +„Nicht wahr, meine liebe Madame Leroux!“ + +Madame Leroux blickte gütig lächelnd Arkadij Iwanowitsch an. + +„Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick vergöttere ... +Erlauben Sie, daß ich Sie umarme ...“ Und Wassjä küßte wirklich die +Ladenmadame. + +Es gehörte Würde dazu, um sich in diesem Augenblick solch einem +Heißsporn gegenüber nichts zu vergeben. Und vor allem: eine angeborene +Liebenswürdigkeit und diese natürliche Grazie, mit der Madame Leroux die +Begeisterung Wassjäs aufnahm, entschuldigte ihn, und sie verstand es, +sich mit liebenswürdigem Geschick in die Situation zu finden! Es war ja +auch überhaupt unmöglich, Wassjä im Ernste böse zu sein! + +„Madame Leroux, welches ist der Preis?“ + +„Fünf Rubel,“ antwortete sie und rechtfertigte ihre Forderung mit einem +neuen Lächeln. + +„Und dieser Hut hier, Madame Leroux,“ fragte Arkadij Iwanowitsch und +wies auf den von ihm gewählten. + +„Dieser: acht Rubel.“ + +„Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Nun müssen Sie selbst entscheiden, +Madame Leroux, welcher ist schöner, welcher niedlicher, welcher von den +beiden würde Sie kleiden?“ + +„Dieser hier ist reicher, doch der, den Sie gewählt haben – ^il est plus +coquet^.“ + +„Also, nehmen wir ihn!“ + +Madame Leroux legte ihn in einen Bogen feinen, dünnen Seidenpapiers und +steckte es mit kleinen Stecknadeln fest. Das Papier aber, mit dem Hut, +schien jetzt beinahe noch leichter zu sein als früher, ohne Hut. Wassjä +nahm das Paket und wagte kaum zu atmen, er verabschiedete sich von +Madame Leroux, sagte ihr noch etwas Liebenswürdiges und verließ den +Laden. + +„Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ein geborener Lebemann!“ rief Wassjä +draußen lachend aus. Das Lachen ging aber gleich darauf in einen kaum +hörbaren nervösen feinen Ton über, den ein Lächeln begleitete – und +Wassjä selbst wich allen Vorübergehenden ängstlich aus, als ob er sie +mit einem Male im Verdacht hätte, der Versuchung, sein kostbares Hütchen +zu zerknüllen, nicht widerstehen zu können. + +„Höre, Arkadij, höre!“ begann er einen Augenblick später und etwas +Feierliches, etwas unendlich Seliges lag in seiner Stimme. „Arkadij, ich +bin so glücklich, ich bin so glücklich!“ + +„Wassinjka! Und wie ich glücklich bin, mein Liebling!“ + +„Nein, Arkascha, nein, deine Liebe zu mir ist grenzenlos, ich weiß es. +Doch du kannst nicht den zehnten Teil von dem empfinden, was ich in +diesem Augenblick fühle. Mein Herz ist so voll, so übervoll!! Arkascha! +Ich bin ja meines Glückes gar nicht würdig! Ich weiß es, ich fühle es +selbst. Womit habe ich es verdient,“ rief er mit einer Stimme aus, die +voll war von verhaltenem Schluchzen, „was habe ich denn je Gutes getan, +sage nur. Sieh doch, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen, wieviel +Kummer, wieviel Alltag ohne Feiertag! Und ich! Mich liebt ein solches +Mädchen, mich ... Du wirst sie ja selbst sehen, wirst selbst ihr edles +Herz erkennen. Ich komme aus niedrigem Stande, doch habe ich eine +Stellung und ein festes Gehalt. Ich bin mit einem Gebrechen auf die Welt +gekommen, bin schief gewachsen. Sie aber liebt mich, so wie ich bin. +Juljan Mastakowitsch war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich zu +mir. Er spricht sonst selten mit mir – doch: ‚Nun, Wassjä,‘ sagte er +heute (bei Gott, Wassjä nannte er mich) ‚wirst du in den Feiertagen auch +durchgehen, wie?‘ Dabei lachte er. ‚Nein,‘ sagte ich zuerst, ‚Euer +Exzellenz, ich habe zu tun.‘ Doch dann nahm ich mich zusammen und sagte: +‚Vielleicht werde ich mich auch mal amüsieren, Exzellenz!‘ – bei Gott, +das sagte ich. Da gab er mir denn das Geld und sprach noch ein paar +Worte mit mir. – Ich, Bruder, ich weinte beinah, die Tränen stürzten mir +aus den Augen und er, er schien auch gerührt zu sein, klopfte mir auf +die Schulter und sagte: ‚Fühle immer so, Wassjä, wie du jetzt fühlst‘ +...“ + +Wassjä verstummte auf einen Augenblick. + +„Und nicht genug,“ fuhr Wassjä fort. „Ich habe es dir gegenüber noch nie +ausgesprochen, Arkadij ... Arkadij! Du hast mir deine Freundschaft +geschenkt, ohne dich wäre ich nicht auf der Welt, – nein, nein, sage +nichts, Arkascha! Laß mich dir deine Hand drücken, gib, ich will dir +danken!“ ... Wassjä konnte seinen Satz wieder nicht beenden. + +Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassjä um den Hals fallen, doch +überschritten sie gerade die Straße, und so hörten sie denn plötzlich, +dicht hinter ihren Ohren den einschneidenden Ruf eines Kutschers: ‚Heda! +Achtung!‘ und beide, erregt und erschrocken wie sie waren, liefen so +schnell als nur möglich aufs Trottoir. Arkadij Iwanowitsch war +eigentlich froh über diesen Zwischenfall. Den Überschuß an Dankbarkeit +bei Wassjä erklärte er sich als einen Ausfluß des Augenblicks. Ihm war +er peinlich, weil er meinte, daß er Wassjä bis jetzt noch gar nichts +Gutes getan! Er schämte sich sogar vor sich selbst, weil Wassjä ihm für +das Wenige so dankte! Doch, ein ganzes Leben stand ihm noch bevor – und +Arkadij Iwanowitsch atmete frei mit einem großen Vorsatze auf ... + +Man hatte es schon aufgegeben, sie zu erwarten! Ein Beweis: daß sie +bereits beim Tee saßen! Und wirklich, manchmal ist ein älterer Mensch +ahnungsvoller als die liebe Jugend. Lisenka hatte in allem Ernst +behauptet, daß er nicht kommen werde, nicht kommen werde. „Mamenka! mein +Herz fühlt es, daß er nicht kommen wird!“ aber Mamenka hatte im +Gegenteil behauptet, ihr Herz fühle ganz genau, daß Wassjä keine Ruhe +finden und deshalb ganz sicher gelaufen kommen würde, zumal er am +Vorabend des neuen Jahres doch keinen Dienst mehr hatte! Als nun Lisenka +die Tür öffnete, traute sie ihren Augen nicht: sie errötete über und +über und ihr Herz schlug so heftig, wie bei einem gefangenen Vögelchen. +Ja, sie war rot wie eine Kirsche, der sie überhaupt ähnlich sah. + +„Mein Gott, welche Überraschung!“ Ein freudiges „Ach!“ kam über ihre +Lippen. „Du Schelm, du Betrüger, du mein Lieber du!“ rief sie aus und +fiel Wassjä um den Hals. Doch man stelle sich ihre Verwunderung vor, +ihre plötzliche Verlegenheit: denn genau hinter Wassjä, als wollte er +sich hinter ihm verstecken, stand, verwirrt wie er war, Arkadij +Iwanowitsch. Aber Arkadij Iwanowitsch verstand es nicht, mit Frauen +umzugehen: er war sogar sehr ungeschickt ... Einmal passierte es ihm, +daß ... Doch davon ein andermal. Indessen, man versetze sich in seine +Lage! Es ist nichts Lächerliches dabei: er stand im Vorzimmer, in +Gummischuhen, im Mantel und in einer Mütze mit Ohrenklappen, um den Hals +einen schrecklichen gelben Schal, der zum Überfluß hinten im Nacken dick +geknotet und gebunden war, – dieser Knoten mußte nun gelöst und der +Schal abgenommen werden, damit er selbst einen vorteilhaften Eindruck +machen konnte ... denn es gibt nun einmal keinen Menschen, der nicht +wünschte, einen vorteilhaften Eindruck zu machen! Und dieser Wassjä, +dieser unerträgliche, unausstehliche, obgleich sonst so liebe, gute +Wassjä, war jetzt ein ganz erbarmungsloser Wassjä! Schreien mußte er: + +„Lisenka, hier stelle ich dir Arkadij vor! Wer das ist? Mein bester +Freund, umarme ihn, küsse ihn, Lisenka, küsse ihn im voraus, wenn du ihn +einmal kennst, wirst du ihn immer küssen ...“ Nun, was blieb da wohl dem +armen Arkadij Iwanowitsch übrig? Er stand noch immer und versuchte +seinen Schal aufzuknoten! Nein: diese Begeisterung Wassjäs war doch +manchmal wirklich unangebracht und ganz gewissenlos! Freilich, freilich, +sie bewies sein gutes Herz, aber ... immerhin – es war doch zu peinlich! + +Endlich traten sie beide ins Zimmer ... Die Alte war unsagbar glücklich, +die Bekanntschaft Arkadij Iwanowitschs zu machen: sie hätte so viel von +ihm gehört, sie ... Doch sie beendete ihre Phrase nicht. Ein freudiges +„Ach!“ durchtönte das Zimmer und unterbrach sie. Mein Gott! Lisenka +stand vor dem enthüllten Hütchen, hielt naiv beide Hände gefaltet, und +lächelte, lächelte ... Mein Gott, warum gab es bei Madame Leroux nicht +noch ein viel, viel schöneres Hütchen! + +Ach, aber wo konnte man wohl ein noch schöneres finden?! Ich spreche im +Ernst! Mich bringt schließlich diese Undankbarkeit Verliebter wirklich +zur Verzweiflung. Möchten die beiden doch endlich einsehen, daß es gar +nichts Schöneres geben kann, als dieses Bonbon von Hütchen! Möchten sie +einsehen – doch meine Verzweiflung war umsonst: sie sind bereits wieder +alle mit mir einverstanden, es war ein Irrtum und weiter nichts! Ich bin +bereit, ihnen zu vergeben. Meine Leser aber werden entschuldigen, wenn +ich immer noch von dem Hütchen spreche: Ganz leicht und durchsichtig aus +Tüll war es, mit breiten kirschroten Bändern und mit Spitzen bedeckt. +Unter dem Tüll und den Rüschen hervor hingen hinten auf den Hals zwei +Bänder herab ... Man mußte es ein wenig in den Nacken setzen. Und nun, +nach alledem sehen Sie hin, ich bitte Sie! Sie aber scheinen nicht sehen +zu wollen! ... Sie sehen zur Seite. Sehen, wie zwei Tränen gleich Perlen +in den langen schwarzen Augenwimpern hängen und dort einen Augenblick +erzittern und auf diesen Tüll niederfallen, der dünn wie Luft ist, auf +diesen Tüll, aus dem das Kunstwerk Madame Lerouxs bestand ... Ich aber +ärgere mich: denn nicht dem Hütchen galten diese beiden Tränen! ... +Nein! eine solche Sache muß man ganz kaltblütig aufnehmen, nur dann kann +man sie wirklich schätzen! + +Man setzte sich. Wassjä setzte sich mit Lisenka zusammen und die Alte +mit Arkadij Iwanowitsch. Man begann ein Gespräch und Arkadij Iwanowitsch +behauptete sich durchaus. Mit Freuden lasse ich ihm Gerechtigkeit +widerfahren. Es war das eigentlich von ihm nicht zu erwarten. Nach ein +paar Worten über Wassjä verstand er es vorzüglich, von Juljan +Mastakowitsch, Wassjäs Wohltäter, zu erzählen. Und so klug, so +verständig sprach er, daß das Gespräch eine ganze Stunde lang nicht ins +Stocken geriet. Man müßte es gehört haben, mit welchem Takt Arkadij +Iwanowitsch einige Sonderheiten Juljan Mastakowitschs berührte, die eine +mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu Wassjä hatten. Dafür war die +Alte auch ganz entzückt, aufrichtig entzückt von ihm: sie selbst gestand +es Wassjä. Ausdrücklich rief sie ihn zu sich, um ihm zu sagen, daß sein +Freund ein prächtiger, liebenswürdiger junger Mensch sei, und was die +Hauptsache, so ein ernster, gesetzter junger Mann. Wassjä hätte am +liebsten laut aufgelacht vor Vergnügen. Er dachte daran, wie der +gesetzte Arkascha ihn noch vor einer Viertelstunde aufs Bett geworfen +hatte! Darauf machte die Alte Wassjä ein Zeichen, leise und unbemerkt +ins andere Zimmer zu kommen. Und dort handelte sie nun allerdings +Lisenka gegenüber nicht richtig: sie zeigte nämlich Wassjä das Geschenk, +das Lisenka ihm zum neuen Jahr machen wollte. Es war eine Brieftasche +mit einer goldgestickten, wundervollen Zeichnung: auf der einen Seite +war ein rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ähnlich, so +vorzüglich erfaßt. Auf der anderen Seite befand sich das Bild eines +berühmten Generals, ebenso vorzüglich, ebenso ähnlich und naturgetreu. +Ich kann es gar nicht schildern, dieses helle Entzücken Wassjäs. + +Unterdessen war in dem anderen Zimmer die Zeit nicht ungenutzt +verstrichen. Lisenka war zu Arkadij Iwanowitsch getreten, hatte ihm die +Hand gereicht und ihm gedankt – und Arkadij Iwanowitsch hatte sofort +begriffen, daß es sich um den teuren Wassjä handelte. Lisenka war tief +bewegt: sie habe erfahren, sagte sie, daß Arkadij ein so treuer Freund +ihres Verlobten sei, daß er ihn liebe und über ihn wache und ihn auf +jeden Schritt mit seinen Ratschlägen unterstütze, so daß sie, Lisenka, +es nicht unterlassen könne, ihm zu danken, und daß sie hoffe, Arkadij +Iwanowitsch würde auch sie lieb haben, und wär’s auch nur halb so wie +den Wassjä. Darauf fragte sie ihn, ob Wassjä auch seine Gesundheit in +acht nehme, sprach von der Heftigkeit seines Charakters und über sein +Unvermögen dem praktischen Leben gegenüber, sowie über seinen Mangel an +Menschenkenntnis. Sie sagte weiter, daß sie auf ihn aufpassen und ihn +vor allem bewahren würde, und daß sie hoffe, auch Arkadij Iwanowitsch +werde sie nicht verlassen und bei ihnen bleiben. + +„Wir werden alle drei zusammenbleiben und wie ein einziger Mensch sein!“ +rief sie in naiver Begeisterung aus. + +Doch die Zeit rückte vor und man mußte aufbrechen. Selbstverständlich +versuchte man, die Gäste zurückzuhalten, doch Wassjä erklärte kurz und +bündig, daß es nicht möglich sei, zu bleiben, und Arkadij Iwanowitsch +bestätigte es. Man fragte natürlich: warum? und so erfuhren sie denn, +daß es sich um eine Arbeit für Juljan Mastakowitsch handelte, eine sehr +eilige, notwendige, unangenehme, die bis übermorgen früh fertiggestellt +werden mußte, und daß sie noch sehr im Rückstande wäre. Das Mamachen +seufzte, als sie das hörte, Lisenka aber erschrak sehr und trieb sogar +selbst Wassjä zur Eile an. Der letzte Kuß verlor dabei nicht an Wert, er +war kürzer, eiliger, aber um so heißer und heftiger. Endlich trennte man +sich und die beiden Freunde gingen zusammen nach Haus. + +Sofort, kaum daß sie auf der Straße waren, tauschten sie untereinander +ihre Eindrücke aus. Ja, und es mußte wohl so sein, daß Arkadij +Iwanowitsch sich sterblich in Lisenka verliebt hatte! Wem aber war das +leichter verständlich, als dem glücklichen Wassjä? Arkadij Iwanowitsch +gestand Wassjä sofort alles ein. Wassjä lachte und freute sich sehr +darüber, und bemerkte, daß sie jetzt noch innigere Freunde sein würden, +als ehedem. „Du hast mich sofort verstanden, Wassjä,“ sagte Arkadij +Iwanowitsch, „so ist’s! Ich liebe sie, wie ich dich liebe, sie wird mein +Schutzengel sein, ganz wie sie für dich einer ist und euer Glück wird +auch auf mich übergehen und auch mich erwärmen. Sie wird auch meine +Hausfrau sein, in ihre Hände lege auch ich mein Glück: möge sie für mich +sorgen, wie sie es für dich tut. Ja, Freundschaft zu dir – Freundschaft +auch zu ihr. Ihr beide werdet für mich ganz unzertrennlich sein, nur daß +ihr eben statt ein Wesen, das du früher für mich warst, zwei Wesen sein +werdet ...“ + +Arkadij verstummte im Übermaß seiner Gefühle. Wassjä war durch seine +Worte bis in die Tiefe seiner Seele erschüttert. Niemals hatte er solche +Worte von Arkadij erwartet! Arkadij Iwanowitsch verstand es sonst nicht, +sich auszudrücken, auch liebte er durchaus nicht zu schwärmen, und doch +hatte er soeben die allerüberschwenglichsten Gedanken geäußert. „Wie +werde ich für euch beide sorgen, wie euch verwöhnen,“ begann er jetzt +von neuem. „Erstens, Wassjä, werde ich der Taufpate aller deiner Kinder +sein, aller, ohne Ausnahme, und zweitens, Wassjä, muß man auch an die +Zukunft denken. Man muß eine Wohnung mieten, Möbel kaufen, so viel, daß +jeder von uns sein Zimmer hat. Weißt du, Wassjä, ich werde bereits +morgen ausgehen und die Wohnungszettel studieren. Drei ... nein, zwei +Zimmer, mehr haben wir nicht nötig. Ich glaube jetzt selbst, Wassjä, daß +ich da heute Unsinn gesprochen habe, das Geld wird gewiß reichen. Warum +denn auch nicht? Als ich ihr heute in die Augen sah, wußte ich sofort, +daß es reicht! Alles für sie! Oh, wie werden wir arbeiten! Jetzt, +Wassjä, kann man es wagen und fünfundzwanzig Rubel für die Wohnung +zahlen. Gute Zimmer, mein Lieber, müssen es sein ... in guten Zimmern +ist der Mensch fröhlich und hat heitere Gedanken! Und zweitens, Lisenka +wird unser gemeinsamer Kassierer sein: nicht eine Kopeke wird unnütz +verausgabt! Ich sollte künftig noch einmal in eine Kneipe gehen? Ja, für +wen hältst du mich denn eigentlich?! Um nichts in der Welt! Man wird uns +Zulage geben, uns Geschenke machen, wenn wir fleißig arbeiten! Und wie +werden wir arbeiten, wie Büffel werden wir die Akten pflügen! ... Stelle +dir nur vor ... (und die Stimme Arkadij Iwanowitschs wurde ganz schwach +vor Seligkeit) – wenn plötzlich so fünfundzwanzig bis dreißig Rubel ins +Haus kämen ... Nun, dann werden wir ihr Hütchen kaufen, einen Schal, +neue Strümpfchen! Mir aber muß sie dafür durchaus ein Halstuch häkeln: +sieh nur, wie schlecht das meine ist: gelb und abgetragen – hatte es zu +meinem Unglück heute umgelegt! Ja, und du, Wassjä, bist auch gut: +stellst mich gerade in dem Augenblick vor, wie ich noch mit dem Halstuch +dastehe ... Doch, nicht darum handelt es sich! Ich, siehst du: ich werde +für das Silber sorgen! Ich bin doch verpflichtet, euch ein Geschenk zu +machen – meine Ehre verlangt es, und auch meine Eigenliebe! ... Meine +Jahreszulage wird doch dazu reichen: hoffentlich wird man sie mir bald +geben? Fürchte nichts, mein Lieber, ich werde euch echte silberne Löffel +kaufen und gute Messer – die nicht aus Silber zu sein brauchen, doch +ausgezeichnete Messer sein werden, und eine Weste werde ich kaufen, das +heißt, eine Weste für mich: denn ich werde doch Trauzeuge sein! Du aber +nimm dich mal jetzt zusammen, ich werde schon auf dich aufpassen, +Bruder; heute und morgen, die ganze Nacht werde ich mit dem Stock hinter +deinem Stuhl stehen, beende die Arbeit, Bruder beende sie schnell! Nun, +und dann gehen wir beide zum Abend wieder hin, und wir werden glücklich +sein ... werden Lotto spielen! ... Werden die Abende zusammen verbringen +– hei, wird das schön werden! Pfui, Teufel! Wie ärgerlich, daß ich dir +nicht helfen kann. Ich würde am liebsten alles, alles für dich +abschreiben ... Warum haben wir nicht dieselbe Handschrift?“ + +„Ja!“ antwortete Wassjä. „Ja! Ich muß mich beeilen. Ich glaube, es wird +jetzt elf Uhr sein – wir müssen uns beeilen ... An die Arbeit!“ Und +Wassjä, der die ganze Zeit lächelnd zugehört und bin und wieder versucht +hatte, durch irgendeine Bemerkung seine freundschaftlichen Gefühle zu +Arkadij auszudrücken, kurz, der bis dahin mit Leib und Seele dabei +gewesen war, verstummte plötzlich, wurde unruhig und schweigsam und fing +beinah an zu laufen. Offenbar hatte irgendein schwerer Gedanke plötzlich +seinen allzu heißen Kopf abgekühlt! + +Auch Arkadij Iwanowitsch wurde unruhig: auf seine dringlichen Fragen +erhielt er kaum eine Antwort von Wassjä, dessen Ausrufe anderseits gar +nicht mehr zur Sache gehörten. + +„Ja, was fehlt dir denn, Wassjä?“ rief Arkadij endlich aus, als jener +seine Schritte so beschleunigte, daß er ihm kaum zu folgen vermochte. +„Bist du wirklich so in Sorge? ...“ + +„Ach, mein Lieber, wir haben genug geredet!“ antwortete ihm Wassjä +ärgerlich. + +„Verzweifle doch nicht, Wassjä,“ unterbrach ihn Arkadij, „ich habe es +doch schon erlebt, daß du in einer kürzeren Frist noch viel mehr +abgeschrieben hast ... Was willst du denn! Du bist doch so geschickt! Im +äußersten Falle kannst du einfach etwas flüssiger schreiben: deine +Abschrift braucht doch nicht wie gestochen zu sein. Du wirst’s schon +schaffen! ... Wenn du dich jetzt aufregst, so wirst du nur zerstreut +sein und die Arbeit wird dir schwer fallen ...“ + +Wassjä antwortete nichts oder murmelte nur etwas vor sich hin, und beide +liefen voll Unruhe nach Haus. + +Wassjä setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch verhielt +sich ganz ruhig, er entkleidete sich vorsichtig und legte sich aufs +Bett, ohne Wassjä aus den Augen zu lassen ... Angst überkam ihn ... „Was +ist das nur mit ihm?“ dachte er bei sich, als er Wassjäs bleiches +Gesicht mit den glänzenden Augen darin erblickte – diese Unruhe in all +seinen Bewegungen – dies Zittern seiner Hand ... Verdammt, wirklich +verdammt! Sollte ich ihm nicht raten, sich lieber zwei Stunden +hinzulegen: vielleicht kann er seine Aufregung ausschlafen.“ + +Wassjä hatte gerade eine Seite beendet, er sah auf und sein Blick traf +zufällig Arkadij. Doch sofort schlug er die Augen nieder und griff +wieder zur Feder. + +„Höre, Wassjä,“ begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch, „wäre es nicht +wirklich besser, wenn du dich ein wenig schlafen legtest! Sieh, du bist +wie im Fieber ...“ + +Wassjä sah geärgert, sogar wütend zu Arkadij hinüber und antwortete +nichts. + +„Höre, Wassjä, was machst du mit dir? ...“ Wassjä schien sich zu +besinnen. + +„Sollte ich nicht Tee trinken, Arkascha?“ sagte er plötzlich. + +„Wie das? Warum?“ + +„Tee gibt Kraft. Schlafen will ich nicht und werde ich auch nicht! Ich +werde schreiben. Beim Teetrinken würde ich mich aber erholen, und ein +Augenblick der Ermüdung wäre leichter zu überwinden.“ + +„Famos, Bruder Wassjä, famos! So gefällst du mir: ich selbst wollte dir +schon den Vorschlag machen. Ich wundere mich nur, daß ich nicht früher +darauf verfiel. Und – weißt du was? Mawra wird nicht aufstehen, um +nichts in der Welt wird sie aufstehen ...“ + +„Ja! Das stimmt!“ + +„Ach, Unsinn, das tut auch nichts!“ rief Arkadij Iwanowitsch und sprang +barfuß aus dem Bett. „Ich selbst werde den Ssamowar aufstellen ...“ + +Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und mühte sich um den Ssamowar; +Wassjä schrieb unterdessen weiter. Dann kleidete sich Arkadij +Iwanowitsch an, um in eine Bäckerei zu gehen, damit Wassjä sich zur +Nacht stärken könnte. In einer Viertelstunde stand der Ssamowar auf dem +Tisch. Sie tranken den Tee, aber zu einem Gespräch kam es nicht mehr. +Wassjä war immer noch sehr zerstreut. + +„Ja, was ich sagen wollte,“ sagte er endlich, sich besinnend, „morgen +muß man gehen und gratulieren.“ + +„Das hast du doch nicht nötig.“ + +„Nein, mein Lieber, das muß sein,“ sagte Wassjä ... + +„Ich werde dich bei allen einschreiben. Wozu willst du gehen? Du, +arbeite morgen! Heute arbeite noch bis fünf Uhr, wie ich’s dir gesagt +habe, und dann lege dich schlafen. Denn sonst, wie wirst du morgen sonst +aussehen? Ich würde dich um Punkt acht Uhr wecken ...“ + +„Ja, geht es denn an, daß du statt meiner mich überall einschreibst?“ +fragte Wassjä halb und halb mit dem Vorschlage einverstanden. + +„Ja, warum denn nicht? So machen es doch alle!“ + +„Ich fürchte eigentlich ...“ + +„Was denn, was?“ + +„Bei den andern, weißt du, tut es nichts, aber bei Juljan Mastakowitsch +– er ist doch mein Wohltäter, Arkascha, und wenn er bemerkt, daß eine +fremde Hand ...“ + +„Bemerkt! Wie töricht du bist, Wassjuk! Wie kann er denn das bemerken? +... Ich kann doch deinen Namen so gut kopieren und dieselbe Schleife +dranmachen, bei Gott, du weißt doch. Wirklich, was soll er denn da +bemerken?“ + +Wassjä antwortete nichts und beeilte sich, sein Glas zu leeren ... +Darauf schüttelte er zweifelnd den Kopf. + +„Wassjä, mein Junge! Ach, wenn es uns doch nur gelingen würde! Wassjä, +was fehlt dir denn? Du machst mir Angst! Weißt du, ich werde mich nicht +hinlegen, Wassjä, ich werde nicht einschlafen. Zeige mir doch, ob du +noch viel zu schreiben hast?“ + +Wassjä blickte Arkadij Iwanowitsch so an, daß diesem das Herz weh tat +und er kein Wort mehr herausbrachte. + +„Wassjä! Was ist mit dir? Was hast du? Warum siehst du mich so an?“ + +„Arkadij, ich, weißt du, ich werde morgen doch selbst gehen und Juljan +Mastakowitsch gratulieren.“ + +„Nun, so gehe doch!“ sagte Arkadij und sah ihn mit großen Augen in +qualvoller Erwartung an. + +„Höre, Wassjä, schreibe doch schneller, ich werde dir doch nichts +Schlechtes raten, bei Gott, das tue ich nicht. Wie oft hat dir nicht +Juljan Mastakowitsch selbst schon gesagt, daß ihm an deiner Handschrift +am meisten die Leichtigkeit gefällt! Nur Skoroplechin liebt es, wenn die +Schrift wie gemalt ist und wie eine Schönschreibevorlage aussieht, um +sich das Papier dann unrechtmäßigerweise anzueignen und seinen Kindern +mit nach Hause zu bringen – denn eine Vorlage für sie kann sich der +Schafskopf wohl nicht kaufen! Aber Juljan Mastakowitsch verlangt immer +nur: flüssig, flüssig, flüssig! Doch was hast du nur, Wassjä, ich weiß +wirklich nicht, was ich dir noch sagen soll ... Ich fürchte mich fast +... Mit deiner Verzweiflung bringst du mich noch um!“ + +„Nichts, nichts!“ sagte Wassjä und fiel erschöpft auf seinen Stuhl +zurück. Arkadij erschrak. + +„Willst du Wasser, Wassjä? – Wassjä!“ + +„Laß nur, laß,“ sagte Wassjä, und drückte ihm die Hand. „Mir fehlt +nichts, mir ist nur etwas traurig zumut, Arkadij. Ich kann es eigentlich +selbst nicht sagen, warum. Höre, rede lieber von etwas anderem, erinnere +mich nicht daran ...“ + +„Beruhige dich, um Gottes willen, beruhige dich doch, Wassjä. Du wirst’s +schon beenden, bei Gott, wirst’s schon beenden! Und wenn nicht, – nun, +was wäre denn dabei für ein Unglück? Tust ja, als wäre das ein wahres +Verbrechen!“ + +„Arkadij,“ sagte Wassjä, seinen Freund so bedeutungsvoll ansehend, daß +dieser wieder erschrak, denn noch nie hatte er Wassjä so tief innerlich +aufgeregt gesehen. „Wenn ich allein gewesen wäre, wie früher ... Nein! +Nicht das meine ich! Ich möchte es dir immer sagen, dir anvertrauen, wie +einem Freunde ... Übrigens, wozu dich beunruhigen? ... Siehst du, +Arkadij, den einen ist viel gegeben, andere verrichten nur Kleines, wie +ich. Nun, wenn man von dir zum Beispiel Dankbarkeit und Anerkennung +verlangte – und dir wäre es nicht möglich ...?“ + +„Wassjä! Ich kann dich wahrhaftig nicht verstehen!“ + +„Ich bin niemals undankbar gewesen,“ fuhr Wassjä fort, als spräche er zu +sich selbst. „Wenn ich nun aber nicht imstande bin, alles auszudrücken, +was ich fühle, so ist es, als ob ... so hat es doch den Anschein, +Arkadij, als wäre ich tatsächlich undankbar, und das bringt mich einfach +um!“ + +„Was sagst du da, was! Besteht denn wirklich darin deine ganze +Dankbarkeit, daß du genau zum Termin fertig geworden bist? Denke doch +nach, Wassjä, was du da sagst! Wäre das wirklich die ganze Dankbarkeit?“ + +Wassjä verstummte und sah seinen Freund mit großen Augen an, als hätte +dieser unerwartete Einwand alle Bedenken genommen. Er lächelte sogar, +nahm aber sofort wieder eine nachdenkliche Miene an. Arkadij faßte +dieses Lächeln als das Ende aller Schrecken auf, die Lebhaftigkeit aber, +die wieder über Wassjä kam, als einen Entschluß zu etwas Besserem, und +freute sich bereits sehr. + +„Nun, Arkascha, du legst dich jetzt schlafen,“ sagte Wassjä. „Sieh nur, +daß ich nicht einschlafe, das wäre ein Unglück. Ich mache mich also +jetzt an die Arbeit ... Arkascha!“ + +„Was?“ + +„Nein, nichts, ich wollte nur ...“ + +Wassjä setzte sich hin, schwieg und schrieb. Arkadij legte sich +schlafen. Weder der eine noch der andere hatte ihren Besuch vom +Nachmittag erwähnt. Vielleicht fühlten sich alle beide ein wenig +schuldig, die Zeit vergeudet zu haben. Arkadij Iwanowitsch war bald +eingeschlafen – in Sorgen über Wassjä. Zu seiner Verwunderung erwachte +er genau um acht Uhr morgens. Wassjä war auf seinem Stuhl gleichfalls +eingeschlafen, die Feder in der Hand, bleich und übermüdet. Das Licht +war niedergebrannt. In der Küche machte sich Mawra am Ssamowar zu +schaffen. + +„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij erschrocken aus. „Wann bist du +eingeschlafen?“ + +Wassjä riß die Augen auf und sprang vom Stuhl. + +„Ach!“ sagte er, „ich bin nur so eingeschlafen! ...“ + +Er sah sofort nach seinen Papieren, nichts war ihnen geschehen, alles +war in Ordnung; kein Tintenfleck, kein Talgfleck, vom Licht war nichts +heruntergetröpfelt. + +„Ich glaube, ich schlief um sechs Uhr ein,“ sagte Wassjä. „Wie kalt es +in der Nacht ist! Trinken wir einen Tee und dann werde ich wieder ...“ + +„Bist du ruhig geworden?“ + +„Ja, ja, mir fehlt nichts!“ + +„Prost Neujahr, Wassjä.“ + +„Prost Neujahr, mein Lieber, prost Neujahr, wünsche dir gleichfalls +alles Gute, mein Lieber.“ + +Sie umarmten sich. Wassjäs Lippen zitterten und seine Augen schwammen in +Tränen. Arkadij Iwanowitsch schwieg: ihm war bitter zumut. Beide tranken +sie eilig den Tee ... + +„Arkadij! Ich habe beschlossen, selbst zu Juljan Mastakowitsch zu gehen +...“ + +„Aber er wird es ja doch nicht bemerken ...“ + +„Mich quält sonst das Gewissen, mein Lieber.“ + +„Du sitzt doch hier seinetwegen, seinetwegen quälst du dich ... Genug, +Wassjä! ... Und ich, weißt du, mein Lieber, werde auch dahin gehen ...“ + +„Wohin?“ fragte Wassjä. + +„Zu Artemjeffs, um auch ihnen zu gratulieren, auch für dich mit!“ + +„Schön, mein Lieber, schön! Nun! So werde ich also hier bleiben: ja, ich +sehe, das hast du dir trefflich ausgedacht. Ich werde also hier bleiben +und arbeiten und nicht feiertagsmäßig die Zeit verbringen! Warte nur +noch ein wenig, ich werde gleich einen Brief schreiben.“ + +„Schreibe nur, schreibe, es hat ja noch Zeit. Ich werde mich erst +waschen, rasieren und den Rock reinbürsten.“ + +„Wassjä, mein Bruder, weißt du, wir werden beide glücklich und zufrieden +sein! Umarme mich, Wassjä!“ + +„Ach, wenn du das meinst, Bruder! ...“ + +„Wohnt hier der Herr Beamte Schumkoff?“ ertönte in diesem Augenblick ein +Kinderstimmchen auf der Treppe. + +„Hier, mein Kleiner, hier,“ antwortete Mawra und ließ den kleinen Gast +eintreten. + +„Wer ist da? Wer, wer?“ rief Wassjä, sprang vom Stuhl auf und stürzte +ins Vorzimmer. „Petinka, du? ...“ + +„Guten Tag, habe die Ehre Ihnen zum neuen Jahre zu gratulieren, Wassilij +Petrowitsch,“ sagte ein reizender schwarzlockiger Bengel von etwa zehn +Jahren, „die Schwester läßt Sie schön grüßen, Mama auch, und die +Schwester hat mir befohlen, Sie von ihr zu küssen ...“ + +Wassjä hob den kleinen Gesandten mit beiden Armen in die Luft und +drückte einen langen leidenschaftlichen Kuß auf seine Lippen, die ganz +Lisenkas Lippen ähnlich waren. + +„Küsse ihn auch, Arkadij!“ wandte er sich an diesen und übergab ihm +Petjä – und Petjä ging, ohne die Erde zu berühren, in die mächtige und +heftige Umarmung Arkadij Iwanowitschs über. + +„Mein Kleiner, willst du Tee?“ + +„Danke bestens. Wir haben bereits Tee getrunken! Heute sind wir früh +aufgestanden. Die Unsrigen gingen zur Frühmesse. Die Schwester hat mich +zwei Stunden lang angezogen, mich gewaschen und gekämmt und mir die +Hosen genäht, die ich gestern abend, als ich mit Ssascha auf der Straße +spielte, zerrissen hatte: wir spielten nämlich Schneeball zusammen, und +da ...“ + +„Nu – nu – nu – nu!“ + +„Jawohl, die ganze Zeit hat sie mich aufgeputzt, mich zurechtgestutzt +und dann mich abgeküßt: ‚gehe zu Wassjä, gratuliere ihm und frage ihn, +ob er ruhig die Nacht verbracht hat, und noch ...‘ und ich sollte noch +etwas fragen, ja! Ob die Sache schon beendet wäre, von der Sie gestern +gesprochen ... gestern ... Ach, ich habe ja alles aufgeschrieben,“ sagte +der Kleine, zog ein Blättchen aus der Tasche, – „ja, und ob Sie +aufgeregt wären?“ + +„Ich werde fertig! Ich werde! Sag’s ihr, daß ich fertig werde, mein +Ehrenwort drauf!“ + +„Ja und noch etwas ... Ach! Ich hab’s vergessen: die Schwester hat auch +einen Brief und ein Geschenk geschickt, ja, und ich hätte es fast +vergessen! ...“ + +„Mein Gott! ... Wo denn, mein Kind, wo? Da ist’s!? – ah! Sieh doch, mein +Lieber, sieh, was sie mir schreibt, die Liebe, Gute! Weißt du, gestern +habe ich bei ihr eine Brieftasche für mich gesehen: leider ist sie nicht +fertig geworden, so schickt sie mir heute eine ihrer schwarzen Locken, +die Brieftasche wird mir deshalb jedoch nicht verloren gehen. Sieh, +Bruder, sieh nur!“ + +Und der aufgeregte Wassjä zeigte Arkadij Iwanowitsch eine schwarze +Locke, küßte sie leidenschaftlich und legte sie dann in die +Seitentasche, nahe dem Herzen. + +„Wassjä! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon kaufen!“ sagte +schließlich Arkadij Iwanowitsch. + +„Und heute haben wir einen Kalbsbraten und morgen Kalbshirn. Mama will +auch noch Kuchen backen ... Und wir werden nicht wieder Haferbrei +essen,“ sagte der Knabe, und schloß seine Erzählung. + +„Nein, was das für ein netter Kerl ist!“ meinte Arkadij Iwanowitsch. +„Wassjä, du bist der glücklichste Sterbliche!“ + +Der Kleine trank seinen Tee, erhielt ein Briefchen, tausend Küsse und +machte sich dann, frisch und fröhlich wie er gekommen war, auf den +Heimweg. + +„Nun, mein Lieber,“ meinte hocherfreut Arkadij Iwanowitsch, „siehst du, +wie gut alles ist, siehst du! Alles wendet sich zum besseren, verzage +nicht und klage nicht! Immer voran, Wassjä, mache Schluß mit dem +Trübsinn! In zwei Stunden bin ich wieder zu Haus: zuerst fahre ich zu +ihnen, dann zu Juljan Mastakowitsch.“ + +„Nun, lebe wohl, Lieber, lebe wohl ... Ach, wenn es so ist! ... Nun gut, +gut, mache, daß du wegkommst,“ sagte Wassjä, „ich, mein Lieber, werde +dann also bestimmt _nicht_ zu Juljan Mastakowitsch gehen.“ + +„Lebe wohl!“ + +„Wart, mein Lieber, wart: sage ihr ... Nun, alles was du willst – küsse +sie von mir ... Du erzählst mir dann alles später, mein Lieber, alles +...“ + +„Nun, natürlich: jetzt wirst du ja wieder der alte! Seit gestern abend +warst du noch gar nicht recht zu dir gekommen, hattest dich von all den +Eindrücken noch gar nicht erholt. Nun aber Schluß! Kopf hoch, mein +lieber Wassjä! Lebe wohl, lebe wohl!“ + +Endlich trennten sich die Freunde. Den ganzen Morgen über war Arkadij +Iwanowitsch zerstreut und dachte nur an Wassjä. Er kannte dessen +schwache und leicht erregbare Natur. Das Glück hatte ihn offenbar so +erschüttert: jawohl, das war es, das Glück! Ich habe mich nicht +getäuscht! sagte Arkadij zu sich selbst. Mein Gott! Er hat mir aber +einen Schrecken eingejagt! Und woraus er nicht eine Tragödie macht! Was +für ein Hitzkopf er ist! Wirklich, man muß ihm helfen! Jawohl: helfen! + +Bei Juljan Mastakowitsch erschien Arkadij erst um elf Uhr, um in der +Portiersloge seinen bescheidenen Namen der endlosen Reihe hoher +Persönlichkeiten hinzuzufügen, die auf einem bereits vollgekritzelten +weißen Bogen ihre Namen eingetragen hatten. Doch wie groß war seine +Verwunderung, als unmittelbar vor seinem Namen die Unterschrift Wassjä +Schumkoffs auftauchte! Nun – was ist denn mit ihm geschehen? dachte er +erschrocken. Und Arkadij Iwanowitsch, der gerade vorher soviel Hoffnung +geschöpft hatte, ging ganz bestürzt von dannen. Bereitete sich in der +Tat ein Unglück vor? Was hieß das? Was sollte daraus werden!? + +In Kolomna erschien er mit düsteren Gedanken und war anfangs sehr +zerstreut. Erst als er mit Lisenka gesprochen hatte, kam er zur +Besinnung und ging dann mit Tränen in den Augen fort: er war Wassjäs +wegen wirklich in heller Angst. Er lief so schnell wie möglich nach +Haus. Gerade an der Newa stieß er mit Schumkoff zusammen. Der lief +gleichfalls mehr als er ging. + +„Wohin?“ rief Arkadij Iwanowitsch. + +Wassjä stutzte wie ein ertappter Verbrecher. + +„Ich, mein Lieber, ich gehe nur so ... ich wollte nur ein wenig +spazieren ...“ + +„Du hast es nicht ausgehalten, du willst nach Kolomna gehen? Ach, +Wassjä, Wassjä! Warum bist du nur zu Juljan Mastakowitsch gegangen?“ + +Wassjä antwortete ihm nichts darauf, er winkte nur mit der Hand und +sagte dann: + +„Arkadij! Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht! Ich ...“ + +„Schon gut, Wassjä, schon gut! Ich weiß doch, wie das ist. Beruhige dich +doch nur! Du bist seit gestern unruhig und aufgeregt! Es ist ja auch +kein Wunder! Alle lieben dich, alle leben für dich, mit deiner Arbeit +geht’s vorwärts, bald wirst du sie beendet haben, das wirst du bestimmt, +ich weiß es: du bildest dir da nur so etwas ein, hast da irgendeine +Angst ...“ + +„Nein, durchaus nicht, durchaus nicht ...“ + +„Erinnere dich doch, Wassjä, erinnere dich doch, wie es mit dir war, +weißt du noch, als du befördert wurdest, du wußtest dich auch nicht vor +Glück und vor Dankbarkeit zu lassen, verdoppeltest deinen Eifer und eine +Woche lang verdarbst du doch nur die Arbeit! Dasselbe geschieht jetzt +wieder mit dir ...“ + +„Ja, ja, Arkadij – doch ist das jetzt etwas ganz anderes, durchaus etwas +anderes ...“ + +„Wieso denn, etwas anderes: ich bitte dich! Die Sache ist ganz sicher +nicht so eilig, du aber quälst dich dermaßen ...“ + +„Nein, nein, ich bin nur so ... Nun, gehen wir!“ + +„Wie, so willst du nach Haus und nicht zu ihnen?“ + +„Nein, mein Lieber, mit diesem Gesicht kann ich dort nicht erscheinen +... Ich habe mich bedacht. Ich konnte es nur ohne dich so allein zu +Hause nicht aushalten. Jetzt, da du wieder bei mir bist, werde ich mich +hinsetzen und weiter schreiben. Gehen wir!“ + +Sie gingen und schwiegen eine Zeitlang. Wassjä hatte es jetzt wieder +sehr eilig. + +„Warum erkundigst du dich gar nicht nach ihnen?“ fragte Arkadij +Iwanowitsch. + +„Ach, ja! Nun, Arkaschenka, wie steht’s?“ + +„Wassjä, man erkennt dich gar nicht wieder!“ + +„Nun, tut nichts, tut nichts. Erzähle mir nur alles, Arkascha!“ bat +Wassjä mit flehender Stimme, als wolle er jeder weiteren Erklärung +ausweichen. Arkadij Iwanowitsch seufzte tief auf: er wußte mit Wassjä +gar nichts mehr anzufangen. + +Die Nachrichten von den Kolomnaschen belebten jedoch Wassjä wieder. Er +sprach sogar sehr lebhaft von ihnen. Sie speisten beide zu Mittag. Die +Alte hatte die Taschen Arkadij Iwanowitschs mit Kuchen vollgestopft und +die Freunde waren lustig und guter Dinge, während sie sie aßen. Nach +Tisch wollte Wassjä sich hinlegen, um dann die Nacht durcharbeiten zu +können. Und so geschah es denn auch. Am Morgen hatte jemand Arkadij +Iwanowitsch zum Tee aufgefordert, eine Einladung, die abzuschlagen nicht +gut anging. Die Freunde trennten sich infolgedessen. Arkadij versprach, +so früh als es eben nur anging, zurückzukommen, wenn möglich schon um +acht Uhr. Diese drei Stunden Trennung kamen ihm selbst wie drei Jahre +vor. Endlich machte er sich auf, um zu Wassjä zurückzukehren. Als er ins +Zimmer trat, sah er, daß es dunkel war. Wassjä war nicht zu Haus. Er +fragte Mawra. Mawra sagte, daß Wassjä die ganze Zeit geschrieben habe, +darauf im Zimmer auf und ab gegangen sei, und schließlich vor einer +Stunde ungefähr hinausgelaufen wäre – mit der Bemerkung, er käme in +einer halben Stunde wieder: ‚wenn aber Arkadij Iwanowitsch inzwischen +kommt, so sage du ihm,‘ schloß Mawra die Erzählung, ‚daß ich nur ein +wenig spazierengegangen bin,‘ das aber habe er ihr drei- bis viermal +ausdrücklich anbefohlen. + +„Er ist sicher bei Artemjeffs!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und +schüttelte den Kopf. + +Im nächsten Augenblick sprang er auf: er hatte eine neue Hoffnung. „Er +ist wohl gar fertig geworden,“ dachte er, „ja: das wird es sein; und er +hat es nicht länger ausgehalten und ist zu ihnen gelaufen. Übrigens, +nein! Dann hätte er doch auf mich gewartet ... Sehen wir, wie es mit +seiner Arbeit steht –“. + +Er zündete das Licht an und begab sich an Wassjäs Schreibtisch: die +Arbeit ging offenbar gut vonstatten und schien sich ihrem Ende zu +nähern. Arkadij Iwanowitsch wollte sich noch näher davon überzeugen, als +plötzlich Wassjä eintrat ... + +„Ah! Du hier?“ rief er aus und schrak zusammen. + +Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete sich, an Wassjä irgendeine +Frage zu stellen. Der schlug die Augen nieder und begann schweigend +seine Papiere zu ordnen. Schließlich begegneten sich beider Augen. +Wassjäs Blick war flehend und gebrochen. Arkadij schrak zurück, als er +ihn traf. + +„Wassjä, mein Lieber, was ist das mit dir? Was hast du?“ rief er aus, +stürzte sich auf Wassjä und nahm ihn in seine Arme, „erkläre mir doch, +ich verstehe nichts von deiner Traurigkeit, was hast du, mein armer +Märtyrer? Sage mir doch alles, ohne Umschweife. Es kann doch nicht sein, +daß dieses eine ...“ + +Wassjä preßte sich ungestüm an ihn. Sprechen konnte er nicht. Der Atem +ging ihm aus. + +„Schon gut, Wassjä, schon gut! Wenn du nicht fertig wirst, was ist denn +dabei? Ich verstehe dich gar nicht, sag doch, was quält dich so? Siehst +du, ich bin doch bereit, für dich alles ... Ach, mein Gott, mein Gott!“ +sagte er, im Zimmer auf und ab gehend, während er nach allem griff, was +ihm in die Hände kam, als suchte er ein Mittel, eine Hilfe für Wassjä. +„Ich selbst werde morgen anstatt deiner zu Juljan Mastakowitsch gehen, +werde ihn bitten, ihn anflehn, daß er dir noch einen Tag Frist gebe. Ich +werde ihm alles auseinandersetzen, alles, alles, wenn es dich so quält +...“ + +„Gott bewahre mich davor!“ rief Wassjä aus und wurde weiß wie die Wand. +Er konnte sich kaum auf den Füßen halten. + +„Wassjä, Wassjä!“ + +Wassjä kam wieder zu sich. Seine Lippen zitterten; er wollte etwas +sagen, konnte aber nur schweigend Arkadij die Hand drücken. Seine Hand +war kalt. Arkadij stand vor ihm in quälender Erwartung. Wassjä sah ihn +wieder an. + +„Wassjä! Gott mir dir, Wassjä! Du zerreißt mir das Herz, mein Freund, +mein Lieber.“ + +Ströme von Tränen stürzten aus Wassjäs Augen: er warf sich an die Brust +seines Freundes. + +„Ich habe dich betrogen, Arkadij!“ schluchzte er laut auf, „ich habe +dich betrogen: vergib mir, vergib! Ich habe dich hintergangen ...“ + +„Wieso, Wassjä! Was heißt das?“ fragte Arkadij, außer sich vor Angst und +Schrecken. + +„Da! ...“ + +Und Wassjä warf mit einer verzweifelten Geste aus einem Kasten sechs +dicke Hefte auf den Tisch, die genau so aussahen wie jenes, das er +abschrieb. + +„Was soll das?“ + +„Da, das Ganze müßte ich bis übermorgen fertigstellen. Ich habe nicht +einmal ein Viertel davon!“ + +„Frage nicht, frage nicht, wie das kommen konnte!“ fuhr Wassjä fort, um +selbst alles zu erzählen, was ihn so gequält hatte. „Arkadij, lieber +Freund! Ich weiß selbst nicht, was mit mir geschehen war. Ich bin erst +jetzt wie aus einem Traum erwacht. Ich habe drei ganze Wochen verloren. +Ich bin ... immer ... zu ihr gegangen ... Mein Herz sehnte sich ... ich +quälte mich ... mit der Ungewißheit ... und ich konnte, ich konnte nicht +arbeiten. Ich dachte auch nicht einmal daran. Jetzt erst, wo das Glück +wirklich für mich begonnen hat, – da bin ich aufgewacht.“ + +„Wassjä!“ begann Arkadij Iwanowitsch entschlossen, „Wassjä, ich werde +dich retten! Ich begreife alles. Diese Sache ist kein Spaß. Ich muß dir +helfen! Höre, höre mich an: ich gehe morgen zu Juljan Mastakowitsch ... +Schüttle nicht den Kopf, nein, höre nur! Ich werde ihm alles erzählen, +wie es gewesen ist, erlaube mir, daß ich es tue ... Ich werde ihm +erklären ... ich werde alles wagen! Ich werde ihm deine Lage schildern, +werde ihm erzählen, wie du dich quälst.“ + +„Wenn du dir nur sagen wolltest, daß du mich damit einfach vernichtest?“ +erwiderte Wassjä, ganz starr vor Schreck. + +Arkadij Iwanowitsch wurde blaß, doch er beherrschte sich und fing an zu +lachen. + +„Aber was denn, Wassjä! Was denn! So höre doch! Ich sehe ja, daß ich +dich damit nur aufrege. Aber ich verstehe dich doch, ich weiß doch, was +in dir vorgeht. Wir leben doch schon fünf Jahre miteinander, und schwach +bist du, unverzeihlich schwach. Auch Lisaweta Michailowna hat es bereits +bemerkt. Außerdem bist du ein Schwärmer, und das ist auch nicht gut: man +kann da plötzlich ins Bodenlose fallen, mein Bruder! Höre mich an, ich +weiß doch, was du möchtest! Du möchtest, daß Juljan Mastakowitsch außer +sich vor Freude wäre: darüber, daß du heiratest – und womöglich sollte +er einen Ball für dich geben ... Halt, halt! Du runzelst die Brauen. +Siehst du, schon wegen dieser kleinen Bemerkung von mir bist du +beleidigt, für Juljan Mastakowitsch beleidigt! Lassen wir ihn also +beiseite. Ich verehre ihn nicht weniger als du. Du wirst mir aber doch +nicht abstreiten und mir nicht zu denken verbieten, daß du nicht +wünschtest – nun sagen wir: es gäbe keinen einzigen Unglücklichen auf +der Erde, bloß weil du heiratest ... Gib es doch zu, mein Lieber, daß du +nichts dagegen hättest, wenn ich, dein bester Freund, plötzlich in den +Besitz von hunderttausend Rubel Kapital käme: und daß alle Feinde der +Welt sich versöhnten, sich mitten auf der Straße vor Freude in die Arme +fielen und, wenn möglich, hierher zu dir zu Gaste kämen! Lieber Freund, +ich scherze nicht, es ist so! Ich habe dich schon längst erkannt. Weil +du dich glücklich fühlst, willst du, daß sich alle glücklich fühlen +sollen. Es fällt dir schwer, allein glücklich zu sein! Darum möchtest du +mit aller Gewalt dich deines Glückes würdig erweisen und zur Beruhigung +deines Gewissens sofort eine große Tat vollbringen! Nun, ich verstehe, +wie du dich quälen mußt, daß gerade dort, wo du dein Können zeigen +möchtest ... nun, sagen wir, daß dort deine Dankbarkeit, wie du dich +ausdrückst, plötzlich versagt! Der Gedanke ist dir sehr peinlich, daß +Juljan Mastakowitsch sich ärgern wird, wenn er erfährt, daß du in diesem +Falle die Hoffnungen getäuscht hast, die er auf dich gesetzt. Dir ist es +schmerzlich, daran zu denken, daß du Vorwürfe von dem hören wirst, den +du für deinen Wohltäter hältst – und das gerade jetzt! Jetzt, da dein +Herz voll Freude ist und da du nicht weißt, an wem du deine Dankbarkeit +auslassen sollst! ... Ist es nicht so? nicht wahr, es ist so!“ + +Mit zitternder Stimme schloß Arkadij Iwanowitsch seine Rede, er schwieg +und schöpfte tief Atem. + +Wassjä blickte voll Liebe auf seinen Freund. Auf seinen Lippen lag ein +Lächeln. + +In Erwartung einer Hoffnung belebte sich sogar sein Gesicht. + +„Also, höre mich an,“ begann von neuem Arkadij, auch seinerseits wieder +von Hoffnung belebt, „so ist es denn nicht nötig, daß Juljan +Mastakowitsch seine Zuneigung zu dir einbüßt. Ist es nicht so, mein +Lieber? Hier liegt doch die Frage? Wenn dem aber so ist, dann werde +ich,“ sagte Arkadij vom Stuhl aufspringend, „dann werde ich mich für +dich opfern. Ich werde morgen zu Juljan Mastakowitsch gehen ... +Widersprich mir nicht! Du, Wassjä, machst ja dein Versäumnis zu einem +Verbrechen! Er aber, Juljan Mastakowitsch, ist großmütig und mildtätig, +und denkt nicht so wie du! Er, Bruder Wassjä, wird uns anhören und aus +dem Unglück helfen. Jawohl. Nun! Hast du dich beruhigt?“ + +Wassjä drückte mit Tränen in den Augen Arkadijs Hand. + +„Schon gut, Arkadij, schon gut,“ sagte er, „die Sache ist bereits +beschlossen. Ich habe meine Sache nicht gemacht: gut! Nicht gemacht ist +– nicht gemacht. Du aber brauchst deshalb nicht hinzugehen: ich selbst +werde hingehen und ihm alles erzählen. Ich habe mich jetzt beruhigt, ich +bin vollständig gefaßt. Doch du, nein, du sollst nicht gehen ... So höre +doch ...“ + +„Wassjä, mein Lieber!“ rief Arkadij Iwanowitsch freudig aus, „meine +Worte haben auf dich gewirkt: wie freue ich mich, daß du dich besonnen +hast und dich zusammennehmen willst. Wie es mit deiner Sache auch stehen +mag, was auch geschehen wird – ich bin bei dir, vergiß das nicht! Ich +sehe, du willst nicht, daß ich mit Juljan Mastakowitsch darüber spreche +– gut: ich werde nichts sagen, nichts, du selbst wirst es tun. Siehst +du: du gehst morgen hin ... Oder nein, du wirst nicht hingehen, du wirst +hier bleiben und schreiben, verstehst du? Ich werde aber doch +herumhören, wie es mit der Sache steht, ob sie sehr eilig ist oder +nicht, ob sie zum Termin fertig sein muß oder nicht, und wenn du den +Termin versäumst, was daraus entspringen kann? Dann werde ich zu dir +kommen und dir berichten. Siehst du, siehst du! Da haben wir schon eine +Hoffnung; nun, stelle dir vor, daß die Sache keine Eile hat! Wie viel +ist dann gewonnen! Juljan Mastakowitsch kann sie vielleicht überhaupt +vergessen haben – und dann ist ja sowieso alles gerettet!“ + +Wassjä schüttelte bedenklich mit dem Kopf. Doch wandte er seinen +dankbaren Blick nicht von dem Gesicht seines Freundes. + +„Schon gut, schon gut! Ich fühle mich so schwach und bin so müde,“ sagte +er dann seufzend, „ich möchte selbst nicht mehr daran denken. Sprechen +wir von etwas anderem! Ich, siehst du, ich werde auch jetzt nicht mehr +schreiben, ich werde nur noch die Seite beenden – bis zum Absatz. Höre +... Ich wollte dich schon längst fragen: wie kommt’s, daß du mich so gut +kennst?“ + +Tränen tropften aus seinen Augen auf die Hand Arkadijs. + +„Wenn du wüßtest, Wassjä, wie sehr ich dich liebhabe, so würdest du +nicht danach fragen!“ + +„Ja, ja, Arkadij, ich weiß es nicht ... denn ich kann nicht verstehen, +für was du mich so liebhast! Ja, Arkadij, du mußt wissen, daß deine +Liebe mich geradezu erdrückt. Wie oft, wenn ich mich schlafen legte, +habe ich an dich gedacht (denn ich denke immer an dich, bevor ich +einschlafe) und mein Herz zitterte so heftig, so sehr ... so sehr ... +Weil du mich so gern hast, und ich mein Herz nicht erleichtern und dir +mit nichts danken konnte ...“ + +„Siehst du, Wassjä, siehst du, so bist du! ... Wie du dich wieder +aufregst,“ sagte Arkadij, dem das Herz weh tat, wenn er an die gestrige +Szene auf der Straße dachte. + +„Schon gut. Du willst, daß ich mich beruhige und doch war ich noch +niemals so ruhig und glücklich wie eben! Weißt du was? ... Höre, ich +möchte dir gern etwas sagen, aber ich fürchte, dich zu kränken ... du +bist immer gleich so gekränkt und schreist dann auf mich ein: ich aber +bin dann so erschrocken ... Sieh, wie ich jetzt zittere, ich weiß gar +nicht warum ... Höre, was ich dir sagen will. Ich glaube, ich habe mich +früher selbst nicht gekannt – ja! Und die anderen habe ich erst gestern +kennen gelernt. Ich, Bruder, ich verstand nicht, alles richtig zu +schätzen. Das Herz in mir war verhärtet. Höre, wie ist das nur möglich, +daß ich niemandem, niemandem auf der Welt etwas Gutes getan habe, weil +ich es eben nicht tun konnte – sogar mein Äußeres ist unglücklich ... +Alle aber haben mir Gutes erwiesen! Du als der erste: sehe ich’s denn +nicht?! Ich habe nur immer geschwiegen, geschwiegen!“ + +„Wassjä, höre auf!“ + +„Nun, was denn, was denn, Arkascha! ... Ich habe doch nichts ...“ +unterbrach sich Wassjä, der vor Tränen kaum sprechen konnte. „Ich habe +dir gestern von Juljan Mastakowitsch erzählt. Du weißt doch selbst, wie +streng er sonst ist, und wie rauh. Du selbst hast manche Bemerkung von +ihm einstecken müssen, mit mir aber hat er gestern gescherzt und mir +sein gutes Herz gezeigt, das er allen anderen gegenüber verbirgt ...“ + +„Nun, Wassjä? Das zeigt doch nur, daß du dessen würdig bist.“ + +„Ach, Arkascha! Wie gern, wie gern würde ich dies Ganze erledigt haben! +... Ich vernichte ja mein Glück damit! Ich habe so ein Vorgefühl! Nein, +nicht dadurch,“ unterbrach sich Wassjä, als er bemerkte, daß Arkadij +nach dem dicken Papierstoß auf dem Tisch schielte, „das hat nichts zu +sagen, das ist beschriebenes Papier, Unsinn! Diese Sache ist erledigt +... Ich, Arkascha, ich war heute bei ihnen ... Ich bin nicht +hineingegangen. – Es war mir zu schwer zumut! Ich stand nur an der Tür. +Sie spielte auf dem Klaviers, ich hörte es draußen. Siehst du, Arkadij,“ +sagte er mit leiser Stimme, „ich wagte nicht einzutreten ...“ + +„Höre, Wassjä, was fehlt dir? Du siehst mich so seltsam an?“ + +„Nein, nichts! Mir ist nicht ganz wohl, meine Kniee zittern, das kommt +daher, weil ich die Nacht über auf war! Ein Schleier liegt mir vor den +Augen. Und hier, hier ...“ + +Er wies auf sein Herz und zugleich sank er auch schon ohnmächtig +zusammen. + +Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij strenge Maßregeln ergreifen. +Er wollte ihn mit Gewalt ins Bett legen. Wassjä willigte aber nicht ein, +Arkadij konnte reden, was er wollte. Er weinte, rang die Hände, wollte +mit aller Gewalt weiterschreiben und seine Seite beenden. Um ihn nicht +unnötig aufzuregen, ließ ihn Arkadij schließlich zu seinen Papieren. + +„Siehst du,“ sagte Wassjä, sich auf seinen Platz setzend, „ich habe eine +Idee, eine Hoffnung. Siehst du: ich werde ihm übermorgen nicht alles +bringen. Von dem Rest sage ich ihm, daß es verbrannt ist oder verloren +gegangen ... kurz ... – Nein, ich kann nicht lügen. Ich werde ihm lieber +alles erklären, werde sagen, wie es gekommen ist, daß ich einfach nicht +konnte. Ich werde ihm von meiner Liebe erzählen: er hat ja selbst erst +vor kurzem geheiratet, er wird mich verstehen! Ich werde alles das, +versteht sich, ihm bescheiden und demütig mitteilen, er wird meine +Tränen sehen, sie werden ihn rühren ...“ + +„Ja, das ist klug von dir, gehe, gehe zu ihm, erkläre dich ihm ... +Tränen sind dazu nicht nötig! Warum denn Tränen? Aber weißt du, Wassjä, +du hast mir einen tüchtigen Schrecken eingejagt.“ + +„Schön, ich werde also gehen, ich werde also gehen. Jetzt aber laß mich +schreiben, laß mich, Arkascha. Ich störe niemanden, laß auch du mich +ruhig schreiben!“ + +Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassjä nicht, er traute ihm +wirklich nicht. Wassjä war zu allem fähig. Doch um Entschuldigung +bitten, warum!? Die Sache lag ja gar nicht so. Die Sache war doch die, +daß Wassjä tatsächlich seine Pflicht nicht erfüllt hatte, daß er vor +sich selbst schuldig war und seinem Schicksal gegenüber ein schlechtes +Gewissen hatte, daß Wassjä sich niedergedrückt und seines Glückes nicht +würdig fühlte und daß er schließlich sich einen Vorwand suchte und seit +dem gestrigen Tage, erschüttert durch die Plötzlichkeit aller +Geschehnisse, wie er war, noch nicht recht zu sich kommen konnte: ja: so +war es! sagte sich Arkadij Iwanowitsch. Deshalb muß man ihn retten, muß +ihn mit sich selbst aussöhnen! Und Arkadij dachte noch lange nach und +beschloß, unverzüglich zu Juljan Mastakowitsch zu gehen, wenn möglich +schon morgen, und ihm alles zu erzählen. + +Wassjä saß und schrieb. Der gequälte Arkadij Iwanowitsch legte sich von +neuem auf sein Bett, um noch weiter über die Sache nachzudenken, schlief +ein und erwachte erst beim Morgengrauen. + +„Ach, Teufel! Wieder!“ rief er aus, als er Wassjä erblickte; der saß und +schrieb. + +Arkadij stürzte zu ihm, umarmte ihn und brachte ihn mit aller Gewalt auf +sein Bett. Wassjä lächelte nur: seine Augen fielen ihm vor Müdigkeit zu. +Er konnte kaum sprechen. + +„Ich wollte mich selbst hinlegen,“ sagte er. „Weißt du, Arkadij, ich +habe die Idee, daß ich’s doch noch beenden werde. Ich habe schneller, +immer schneller geschrieben. Doch noch länger zu sitzen – dazu bin ich +unfähig ... wecke mich um acht Uhr ...“ + +Er konnte nicht mehr weiter und schlief wie ein Toter ein. + +„Mawra!“ wandte sich flüsternd Arkadij Iwanowitsch an die Magd, die +gerade den Tee hereinbrachte, „er bat mich, ihn nach einer Stunde zu +wecken. Das darf aber unter keiner Bedingung geschehen! Er soll +womöglich zehn Stunden hintereinander schlafen, verstehst du?“ + +„Verstehe, Herr, verstehe.“ + +„Das Mittagessen brauchst du nicht zu bereiten, nicht das Holz +hereinzuschleppen, überhaupt darfst du nicht lärmen, sieh dich vor! Wenn +er nach mir fragen sollte, so sage ihm, ich sei in den Dienst gegangen, +verstehst du?“ + +„Ich verstehe, Herr, verstehe, möge er sich ausruhen nach Belieben, was +geht’s mich an! Ich freue mich über den Schlaf meines Herrn und bemühe +mich, über ihn zu wachen. Was aber die zerschlagene Tasse anbelangt, +wegen der Sie mir Vorwürfe machten – das war gar nicht ich, das war die +Katze, die sie zerschlagen hat, ich werde es ihr noch zeigen!“ + +„Tss, sei still!“ + +Arkadij Iwanowitsch führte Mawra in die Küche, verlangte von ihr den +Schlüssel und schloß sie dort ein. Darauf begab er sich in den Dienst. +Auf dem Wege überlegte er sich’s, wie er sich bei Juljan Mastakowitsch +melden lassen sollte und ob es nicht vielleicht anmaßend sei, es zu tun? +Im Büro erschien er sehr schüchtern, fast zaghaft erkundigte er sich, ob +Seine Exzellenz da sei; man antwortete ihm, nein, und Exzellenz würden +heute wohl überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch wollte im ersten +Augenblick zu ihm in die Wohnung gehen, doch fiel es ihm noch zur +rechten Zeit ein, daß ja Juljan Mastakowitsch, wenn er hier nicht +erschienen war, dann ganz bestimmt zu Hause dringend beschäftigt sein +mußte. Er blieb also im Büro. Die Stunden schienen ihm unendlich lang zu +sein. Unterderhand erkundigte er sich nach der Abschrift, mit der +Schumkoff beauftragt worden war. Doch niemand wußte etwas von der +Angelegenheit. Man wußte nur, daß Juljan Mastakowitsch ihn mit +besonderen Aufträgen beschäftigte, mit was für welchen aber – das wußte +niemand zu sagen. Schließlich schlug es drei Uhr und Arkadij Iwanowitsch +stürzte nach Haus. Auf der Treppe des Dienstgebäudes redete ihn ein +Schreiber an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkoff um ein Uhr +dagewesen sei und gefragt habe, ob er, Arkadij, da sei, und ferner, ob +Juljan Mastakowitsch dagewesen wäre. Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, +nahm er eine Droschke und fuhr außer sich vor Angst und Schrecken nach +Hause. + +Schumkoff war zu Hause. Er ging erregt im Zimmer auf und ab. Als er +Arkadij Iwanowitsch erblickte, nahm er sich sofort zusammen und beeilte +sich sichtlich, seine Erregung zu verbergen. Er setzte sich schweigend +an die Arbeit. Offenbar wollte er den Fragen seines Freundes ausweichen. +Fast schien er sich durch ihn belästigt zu fühlen und die Absicht zu +haben, von seinen Entschlüssen jetzt nichts mehr verlauten zu lassen, da +er sich, wie er wohl denken mochte, auf die Freundschaft des anderen ja +doch nicht verlassen konnte. Arkadij fühlte das wohl und sein Herz +krampfte sich zusammen. Er setzte sich aufs Bett und schlug ein Buch +auf, das einzige, welches in seinem Besitz war – wandte aber keinen +Blick von dem armen Wassjä. Wassjä schwieg hartnäckig, schrieb und +blickte nicht auf. So vergingen einige Stunden und Arkadijs Qualen +stiegen aufs höchste. Schließlich, gegen elf Uhr abends, erhob Wassjä +seinen Kopf und sah mit stumpfem, unbeweglichem Blick Arkadij an. +Arkadij wartete schweigend. Es vergingen zwei bis drei Minuten! Wassjä +schwieg immer noch. „Wassjä!“ rief Arkadij endlich. Doch Wassjä gab +keine Antwort. „Wassjä!“ wiederholte er und sprang vom Bett auf. +„Wassjä, was fehlt dir? Was hast du?“ rief er aus und lief zu ihm hin. +Wassjä hob den Kopf und sah ihn mit demselben stumpfen und unbeweglichen +Ausdruck an. „Er hat einen Krampf!“ dachte Arkadij, und dabei überlief +ihn ein Schauer. Er griff nach der Karaffe mit Wasser und goß Wassjä das +Wasser über den Kopf, befeuchtete seine Schläfen, rieb ihm die Hände, +und richtig, Wassjä kam wieder zu sich. „Wassjä, Wassjä!“ Arkadij brach +in Tränen aus: er konnte sich nicht mehr beherrschen. „Wassjä, richte +dich doch nicht zugrunde, besinne dich doch, Wassjä! ...“ Er verstummte +und nahm Wassjä in seine Arme. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf Wassjäs +Gesicht: er rieb sich die Stirn und griff nach seinem Kopf, als fürchte +er, daß er ihm zerspränge ... + +„Ich weiß nicht, was mit mir ist!“ sagte er endlich, „ich glaube ... +Aber beunruhige dich nicht, Arkadij, beunruhige dich nicht, es ist alles +gut!“ fügte er, ihn mit traurigen Augen ansehend, hinzu. „Laß gut sein, +laß gut sein!“ + +„Du – du beruhigst noch mich!“ rief Arkadij, dessen Herz in Stücke +zerriß. „Wassjä,“ sagte er dann, „lege dich endlich zu Bett, schlaf ein +wenig, was meinst du? Quäle dich doch nicht umsonst! Besser, du setzt +dich nachher wieder an die Arbeit!“ + +„Schon gut, schon gut!“ wiederholte Wassjä, „ja: Ich werde mich +hinlegen: schon gut; ja! Siehst du, ich wollte es nämlich beenden, aber +jetzt habe ich mich doch bedacht ... ja ...“ + +Und Arkadij schleppte ihn zu Bett. + +„Höre, Wassjä,“ sagte er entschlossen, „mit dieser Sache muß ein Ende +gemacht werden! Sage mir, was hast du dir gedacht?“ + +„Ach!“ sagte Wassjä, winkte mit der Hand schwach ab und wandte seinen +Kopf auf die andere Seite. + +„Schön, Wassjä, schön! Entschließe dich, ich will nicht zu deinem Mörder +werden, ich kann nicht länger schweigen! Du wirst nicht eher +einschlafen, bis du dich nicht zu etwas Bestimmtem entschlossen haben +wirst, ich weiß es.“ + +„Wie du willst, wie du willst,“ wiederholte rätselhaft Wassjä. + +„Er ergibt sich,“ dachte Arkadij Iwanowitsch. + +„Folge mir doch, Wassjä,“ sagte er, „denke daran, was ich dir gesagt +habe: ich kann dich ja retten; morgen – morgen werde ich dein Schicksal +entscheiden! Was sage ich: Schicksal!? Du hast mich so bange gemacht, +Wassjä, daß ich schon anfange, deine Worte zu wiederholen. Was für ein +Schicksal! Das ist ja Unsinn! Du willst nicht die Liebe und Zuneigung +Juljan Mastakowitschs verlieren, ja! Und du wirst sie auch nicht +verlieren, du wirst sehen ... Ich ...“ + +Arkadij Iwanowitsch hätte noch weiter gesprochen, aber Wassjä unterbrach +ihn. Er richtete sich auf, umschlang schweigend mit beiden Händen +Arkadij Iwanowitsch und küßte ihn. + +„Schon gut!“ sagte er mit schwacher Stimme, „schon gut! Genug davon!“ + +Und wieder kehrte er seinen Kopf weg zur Wand. + +„Mein Gott!“ dachte Arkadij. „Mein Gott! Was ist mit ihm? Er ist ganz +und gar von Sinnen: was mag er vorhaben? Er wird sich ja zugrunde +richten!“ + +Arkadij sah voll Verzweiflung auf ihn. + +„Wenn er doch wirklich krank werden würde,“ dachte Arkadij, „das wäre +vielleicht noch das Beste. Durch die Krankheit würde er dann aller +Sorgen enthoben sein und man würde die Sache auf eine ganz +ausgezeichnete Weise beilegen können. Doch was sage ich? Ach, du mein +großer Gott ...“ + +Inzwischen schien Wassjä eingeschlafen zu sein. Arkadij Iwanowitsch +freute sich über das gute Zeichen, wie er es auslegte, und beschloß bei +sich, die ganze Nacht an Wassjäs Bett zu bleiben. Doch Wassjä schien +nicht zur Ruhe zu kommen, er bewegte sich alle Augenblick, warf sich im +Bett herum und öffnete von Zeit zu Zeit die Augen. Schließlich aber nahm +die Müdigkeit doch überhand und er schlief ein wie ein Toter. Es war +gegen zwei Uhr morgens, als Arkadij Iwanowitsch, mit den Ellenbogen auf +den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl ebenfalls einschlief. + +Er hatte einen sehr unruhigen und sonderbaren Traum. Ihm war es, als +wache er, während Wassjä noch immer auf dem Bett lag. Doch +sonderbarerweise war das nur eine Verstellung von Wassjä, er hinterging +Arkadij, stand vom Bett auf und setzte sich an den Schreibtisch. Schmerz +ergriff Arkadij, er war tief traurig und konnte es kaum ertragen, als er +so sehen mußte, wie Wassjä ihn hinterging. Er wollte nach ihm greifen, +ihn rufen und aufs Bett zurücktragen. Wassjä schrie aber laut auf und +als Arkadij zusah, hielt er nur seine Leiche im Arm. Kalter Schweiß trat +ihm auf die Stirn, sein Herz klopfte heftig. Er erwachte und öffnete die +Augen. Wassjä saß vor ihm am Tisch und – schrieb. + +Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und blickte aufs Bett: aber +nein, da war Wassjä nicht! Arkadij sprang auf, noch ganz unter dem +Eindruck seines Traumes. Wassjä aber rührte sich nicht. Er schrieb immer +weiter. Voll Entsetzen bemerkte plötzlich Arkadij, daß Wassjä immer nur +mit der trockenen Feder übers Papier fuhr, die weißen Seiten umblätterte +und sich eilte und eilte, ganz, als wäre er emsig an seiner Arbeit! +„Nein, das da ist kein Krampf!“ dachte Arkadij Iwanowitsch und +erzitterte am ganzen Körper. „Wassjä, Wassjä! Antworte mir doch!“ rief +er und packte ihn an der Schulter. Doch Wassjä schwieg und fuhr fort, +mit trockener Feder auf dem Papier weiter zu schreiben. + +„Endlich, endlich schreibt meine Feder so schnell, wie ich will,“ sagte +er und blickte Arkadij an. + +Arkadij ergriff seine Hand und entriß ihm die Feder. + +Ein Stöhnen kam aus Wassjäs Brust. Er ließ die Arme sinken und sah +Arkadij an, dann griff er sich mit einem quälenden, traurigen Ausdruck +an die Stirn, als wollte er einen schweren eisernen Ring entfernen, der +dort lag und ließ dann leise, wie in Nachdenken versunken, seinen Kopf +auf die Brust fallen. + +„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij Iwanowitsch verzweifelt. „Wassjä!“ + +Nach einiger Zeit sah Wassjä ihn an. Tränen standen in seinen großen +blauen Augen und das bleiche Gesicht drückte eine unendliche Qual aus +... Er flüsterte etwas. + +„Was, was sagst du?“ rief Arkadij und beugte sich zu ihm. + +„Warum nur ich, warum nur ich?“ flüsterte Wassjä, „warum? Was habe ich +denn getan?“ + +„Wassjä! Was ist dir! wen fürchtest du, Wassjä? Sprich!“ rief Arkadij +und rang die Hände in Verzweiflung. + +„Warum will man denn mich zu den Soldaten geben?“ flüsterte Wassjä +weiter und sah fragend in die Augen seines Freundes, „warum mich? Was +habe ich denn getan!“ + +Arkadij schauderte vor Entsetzen: er wollte, er konnte es nicht glauben. +Wie gebrochen stand er da. + +Im nächsten Augenblick faßte er sich wieder: „Das ist nur so, das ist +vorübergehend!“ sagte er zu sich, bleich mit blauen, zitternden Lippen +und kleidete sich an. Er wollte sofort zu einem Doktor laufen. Plötzlich +rief ihn Wassjä. Arkadij stürzte zu ihm und umarmte ihn besorgt, wie +eine Mutter ihr Kind ... + +„Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du! Mein Unglück will ich +allein tragen ...“ + +„Was hast du? Was hast du? besinne dich doch, Wassjä, besinne dich +doch!“ + +Wassjä seufzte und leise Tränen liefen über seine Wangen. + +„Warum sie vernichten? Was hat sie denn für eine Schuld daran? ...“ +murmelte er gequält und herzzerreißend. „Meine Sünde ist es, meine +Sünde! ...“ + +Er schwieg einen Augenblick. + +„Lebe wohl, meine Geliebte! Lebe wohl, meine Geliebte!“ flüsterte er und +wiegte seinen armen Kopf. Arkadij zuckte zusammen, raffte sich dann auf +und wollte zum Doktor ... „Gehen wir! Es ist Zeit!“ rief Wassjä, der die +Bewegung Arkadijs bemerkt hatte. „Gehen wir, Bruder, gehen wir! ich bin +bereit! Du wirst mich begleiten.“ Er verstummte und sah Arkadij +vernichtet und zugleich mißtrauisch an. + +„Wassjä, komme mir nicht nach, um Gottes willen! Erwarte mich hier. Ich +werde sofort, sofort zu dir zurückkehren,“ sagte Arkadij Iwanowitsch, +der selbst den Kopf verloren hatte. Und er griff nach seiner Mütze, um +nach dem Doktor zu laufen. Wassjä setzte sich wieder hin, er war still +und gehorsam, nur in seinen Augen blitzte eine verzweifelte +Entschlossenheit. Arkadij kehrte noch einmal zurück, ergriff vom Tisch +das Federmesser, sah noch zum letztenmal nach dem Armen und lief zur +Wohnung hinaus. + +Es war acht Uhr morgens. Das Licht hatte bereits die Dämmerung im Zimmer +verdrängt. + +Er fand niemanden. Er lief eine ganze Stunde umher. Alle Ärzte, deren +Adressen er von den Hausverwaltern erfuhr, bei denen er sich erkundigte, +ob nicht ein Doktor im Hause wohne, waren bereits ausgefahren: in ihre +Praxis oder in ihren privaten Angelegenheiten. Nur einen traf er +schließlich zu Hause. Dieser fragte lange und umständlich seinen Diener, +der Arkadij anmeldete: wer und woher der Herr sei, aus welchem Grunde er +käme und aus welchen Verhältnissen der frühe Besucher zu sein scheine – +bis er dann schließlich doch zu dem Entschluß kam, daß es ihm nicht +möglich sei, ihn zu empfangen, da er viel zu tun habe und nicht +ausfahren könne, und daher Arkadij sagen ließ, diese Art von Kranken +müsse man in ein Krankenhaus bringen. + +Da ließ der verzweifelte und erschütterte Arkadij, der ein solches +Ergebnis denn doch nicht erwartet hatte, alles stehen und liegen, wie es +war, alle Ärzte, die es auf der Welt gab, und begab sich nach Haus, in +höchster Angst um Wassjä. Er lief in die Wohnung. Mawra wischte gerade +den Fußboden auf, ganz, als wäre nichts geschehen und brach kleine +Hölzchen entzwei, um den Ofen anzuzünden. Er stürzte ins Zimmer: aber +Wassjä war nicht da! + +„Wohin? Wohin nur? Wohin mag der Unglückliche gelaufen sein?“ fragte +sich Arkadij im höchsten Schreck. Und er fing an, Mawra auszufragen. Die +aber wußte nichts, hatte Wassjä weder gehört noch gesehen. „Gott sei ihm +gnädig!“ sagte Arkadij und lief zu den Kolomnaschen. + +Jawohl: dort, nur dort konnte er sein! + +Es war bereits zehn Uhr, als er bei ihnen ankam. Aber auch Lisenka und +ihre Mutter hatten nichts gehört, nichts gesehen. Arkadij stand ganz +verstört vor ihnen und fragte immer nur, wo Wassjä sei. Die Alte trugen +ihre Füße nicht mehr, und sie fiel auf den Diwan hin. Lisenka, die am +ganzen Körper zitterte, begann ihn über das Geschehene auszufragen. Doch +– was sollte er ihr sagen? Arkadij Iwanowitsch versuchte, sich so +schnell als möglich von ihnen loszumachen, er dachte sich irgendeine +Ausrede aus, die ihm natürlich nicht geglaubt wurde, lief davon und ließ +sie erschüttert und in Sorgen um Wassjä zurück. Er begab sich in sein +Büro, um die Nachricht zu überbringen und darauf hinzuwirken, daß man so +schnell als möglich Maßregeln ergriff. Unterwegs kam ihm der Gedanke, +daß Wassjä ja zu Juljan Mastakowitsch gegangen sein könne. Das war wohl +auch am ehesten anzunehmen! Arkadij hatte bereits vorher, noch bevor er +zu den Kolomnaschen gegangen war, an diese Möglichkeit gedacht. Als er +am Hause der Exzellenz vorübergefahren war, hatte er schon anhalten +lassen wollen, aber er hatte dann doch wieder dem Kutscher befohlen, +weiterzufahren. Er wollte lieber erst im Büro nach Wassjä fragen und +erst dann, wenn er dort nicht sein sollte, sich zu Seiner Exzellenz +begeben, und wär’s auch nur, um Bericht zu erstatten. Irgend jemand +mußte es doch tun! + +Kaum war er in den Vorraum eingetreten, als ihn auch schon einige +jüngere Kollegen umringten, die alle im gleichen Rang mit ihm standen, +und ihn fragten, was mit Wassjä geschehen sei? Und alle sprachen sie +davon, daß Wassjä den Verstand verloren habe und sich einbilde, er müsse +zu den Soldaten, weil er sich ein Versäumnis im Dienst habe zuschulden +kommen lassen. Arkadij Iwanowitsch antwortete auf die Fragen, die auf +ihn einstürmten, oder besser gesagt, er antwortete niemandem etwas +Rechtes, und beeilte sich nur so schnell wie möglich in die inneren +Gemächer zu kommen. Auf dem Wege dorthin erfuhr er, daß Wassjä im +Kabinett Juljan Mastakowitschs sei, und daß sich die meisten der +Vorgesetzten gleichfalls dorthin begeben hatten. Vor der Tür wurde er +zurückgehalten. Einer von den höheren Beamten fragte ihn, was er +wünsche? Doch ohne den Herrn recht zu erkennen, sagte er irgend etwas +über Wassjä und ging geradeaus auf das Kabinett zu. Er war noch draußen, +als er schon die Stimme Juljan Mastakowitschs hörte. + +„Wohin wollen Sie?“ fragte ihn wieder jemand. + +Arkadij Iwanowitsch verlor fast den Mut und wäre beinahe schon umgekehrt +– als er gerade durch die geöffnete Tür seinen armen Freund Wassjä +erblickte. Und nun zwängte er sich durch die Tür in das Zimmer hinein. +Dort herrschte große Aufregung und Verwirrung. Juljan Mastakowitsch +schien sehr aufgeregt zu sein. Um ihn herum standen alle die höheren +Beamten, sprachen hin und her und wußten nicht, wozu sie sich +entschließen sollten. Weiter abseits stand Wassjä. In der Brust Arkadijs +erstarb alles, wie er ihn so stehen sah. Wassjä stand da: bleich, mit +erhobenem Kopfe, die Hände stramm an der Hosennaht, ganz als wäre er +wirklich ein Rekrut und stände vor seinen Vorgesetzten. Er blickte starr +Juljan Mastakowitsch in die Augen. Arkadij wurde natürlich sofort +bemerkt, und da einige wußten, daß er Wassjäs Freund und Stubengenosse +war, so meldete man dies sofort Seiner Exzellenz. Man führte Arkadij +vor. Er wollte die ihm gestellten Fragen beantworten, aber als er auf +Juljan Mastakowitsch sah und auf dessen Gesicht Trauer und Mitleiden +erblickte, da schluchzte er laut auf wie ein Kind. Er tat noch mehr: er +ergriff die Hand Seiner Exzellenz und drückte sie an seine Augen und +benetzte sie mit seinen Tränen, so daß Seine Exzellenz genötigt war, sie +ihm zu entziehen. Er winkte mit der Hand ab und sagte nur: „Schon gut, +lieber Mensch, ich sehe, daß du ein gutes Herz hast.“ Arkadij schluchzte +und warf den Umstehenden flehende Blicke zu. Ihm kam es so vor, als +wären sie alle Brüder seines armen Wassjä, die ebenso um ihn trauerten, +wie er selbst. „Wie – ja wie ist denn das mit ihm geschehen?“ fragte +Juljan Mastakowitsch. „Weshalb hat er seinen Verstand verloren?“ + +„Aus Dan–Dan–Dankbarkeit!“ konnte Arkadij Iwanowitsch kaum antworten. + +Diese Antwort setzte alle in Verwunderung: allen schien sie sonderbar +und unverständlich: wie konnte wohl ein Mensch aus Dankbarkeit den +Verstand verlieren? Arkadij versuchte es zu erklären, so gut er’s +konnte. + +„Gott, wie traurig!“ rief Juljan Mastakowitsch aus, „und dabei hatte die +Arbeit, mit der ich ihn beauftragt, durchaus keine Eile. Wegen nichts +hat sich der Mensch zugrunde gerichtet! ...“ Juljan Mastakowitsch wandte +sich dann von neuem an Arkadij Iwanowitsch und fragte ihn noch weiter +aus: „er bittet,“ sagte er und wies auf Wassjä, „daß man es nicht ‚Ihr‘, +wohl irgendeinem jungen Mädchen, sagen möge – ist es seine Braut?“ + +Arkadij erzählte. In der Zwischenzeit bemühte sich Wassjä ersichtlich, +über irgend etwas nachzudenken: mit der größten Anstrengung versuchte +er, sich irgendeiner sehr wichtigen und nötigen Sache zu erinnern, von +der er wohl glaubte, daß sie ihm im Augenblicke sehr zustatten käme. Mit +fragenden und zugleich gequälten Blicken sah er seine Umgebung an, als +hoffte er, andere würden sich vielleicht der Sache erinnern, die er +vergessen hatte. Er richtete seine Augen auf Arkadij – und plötzlich +flammte in seinen Augen eine Hoffnung auf. Er trat mit dem einen Fuß +einen Schritt vor, ging dann noch drei Schritte weiter und schlug +schließlich so stramm, wie es ihm möglich war, mit dem rechten Bein ans +linke: so, wie es die Soldaten tun, wenn sie von einem Offizier gerufen +und angesprochen werden. Alle warteten gespannt, was nun geschehen +würde. + +„Ich habe einen körperlichen Fehler, Eure Exzellenz, ich bin schwach und +klein von Wuchs, und tauge nicht zum Dienst,“ stieß er endlich +abgebrochen hervor. + +Alle, die im Zimmer waren, fühlten wohl, wie sich ihnen in diesem +Augenblick das Herz zusammenzog. Juljan Mastakowitsch war erschüttert, +obgleich er sonst keinen allzu weichen Charakter hatte. „Führt ihn +fort,“ sagte er und winkte mit der Hand ab. + +„Meine Stirn!“ sagte Wassjä halblaut vor sich hin, drehte sich linksum +und ging aus dem Zimmer. Alle, die an seinem Schicksal Anteil nahmen, +stürzten ihm nach. Auch Arkadij drängte sich mit ihnen hinaus. Man mußte +noch auf den Wagen warten, der Wassjä ins Krankenhaus bringen sollte. +Man führte ihn deshalb so lange in den Vorraum. Hier saß er schweigend +da, offenbar in großen Sorgen. Wen er wiedererkannte, dem nickte er mit +dem Kopfe zu, als wollte er sich von ihm verabschieden. Jeden Augenblick +sah er nach der Tür und schien sich darauf vorzubereiten, daß man +„jetzt“ sagte. Um ihn herum hatte sich ein enger Kreis gebildet: alle +redeten sie und schüttelten mit den Köpfen. Viele wunderten sich über +die Geschichte, die nun bekannt geworden war; die einen redeten voll +Eifer darüber; andere wiederum bemitleideten Wassjä und lobten ihn, weil +er ein so bescheidener, stiller junger Mann gewesen sei, und so viel +versprochen hätte: man erzählte sich, wie strebsam er gewesen, wie +wissensdurstig und lernbegierig. „Mit eigenen Kräften hat er sich aus +niederem Stande emporgearbeitet!“ bemerkte irgend jemand. Mit Rührung +sprach man auch von seiner Anhänglichkeit an die Exzellenz. Einige +konnten sich nicht erklären, wie Wassjä sich nur in den Kopf gesetzt und +darüber den Verstand verloren hatte, daß man ihn zu den Soldaten geben +würde, wenn er seine Arbeit nicht beendete. Man erzählte sich, daß der +Arme vor nicht langer Zeit noch ein Leibeigener gewesen sei und es nur +Juljan Mastakowitsch, der in ihm Talent, Gehorsam und eine seltene +Bescheidenheit entdeckt, zu verdanken hatte, daß er eine Anstellung +erhielt. Kurz, es gab viele solcher Meinungen und Gespräche. Besonders +bemerkbar durch seine Aufregung machte sich ein Kollege von Wassjä, ein +Männchen von sehr kleinem Wuchs in den Dreißigern. Er war weiß wie ein +Tuch, zitterte am ganzen Körper und lächelte so sonderbar, vielleicht, +weil eine jede Skandalszene und ein jedes schreckliche Erlebnis die +Zuschauer erschreckt und doch zugleich auch unterhält, fast erfreut. +Dieser hier lief um den kleinen Kreis herum, der sich um Schumkoff +gebildet hatte, und da er, wie gesagt, klein von Wuchs war, so stellte +er sich auf die Zehenspitzen und faßte jeden am Rockknopf, dem gegenüber +er sich das erlauben konnte, und versicherte allen, daß er wisse, woher +das alles gekommen und daß es ein klarer, aber schwerer Fall sei, den +man nicht so einfach behandeln könne: er erhob sich dann wieder auf die +Fußspitzen und flüsterte seinem Zuhörer etwas ins Ohr, nickte mehrmals +heftig mit dem Kopfe und lief wieder weiter. Schließlich nahm die Szene +ein Ende. Ein Wärter und ein Arzt aus der Irrenanstalt erschienen. Sie +gingen auf Wassjä zu und sagten ihm, daß er mit ihnen fahren müsse. +Wassjä sprang sofort auf, sah sich eifrig und doch gleichzeitig fragend +im Kreise um und folgte ihnen. Plötzlich schien er jemanden mit den +Augen zu suchen! „Wassjä, Wassjä!“ rief schluchzend Arkadij Iwanowitsch. +Wassjä blieb stehen und Arkadij näherte sich ihm. Sie umarmten sich +beide zum letztenmal, und wollten von einander nicht lassen. Es war +schrecklich anzusehen. Welch ein Schicksal preßte ihnen die Tränen aus +den Augen! Worüber weinten sie beide? Wo lag das Unglück? Warum +verstanden sie einander nicht mehr? + +„Da, da, nimm! Verwahre es!“ sagte Schumkoff und drückte Arkadij ein +Stückchen Papier in die Hand. „Sie würden es mir fortnehmen. Bringe es +mir später; bring es mir! hörst du; verwahre es gut“ ... Wassjä durfte +nicht weiter sprechen. Man rief ihn. Er lief eilig die Treppe hinab und +nickte allen mit dem Kopfe zum Abschied zu. Verzweiflung lag auf seinem +Gesicht. Man setzte ihn in einen geschlossenen Wagen. Die Pferde zogen +an und fort ging es. Arkadij öffnete das Stück Papier: Lisas schwarze +Locke lag darin. Was mochte in Wassjä vorgegangen sein, als er sich von +ihr trennte. Heiße Tränen stiegen Arkadij in die Augen: „Ach, arme +Lisa!“ + +Nach Schluß des Büros ging er zu den Kolomnaschen. Ich kann nicht +erzählen, was dort geschah! Sogar Petjä, der kleine Petjä, der doch noch +nicht begreifen konnte, was mit dem guten Wassjä geschehen war, ging in +die Ecke, bedeckte sein Gesicht mit den kleinen Händchen und schluchzte, +als ob ihm sein Kinderherz brechen wollte. Es wurde Abend, als Arkadij +nach Hause zurückkehrte. Als er über die Newa ging, blieb er einen +Augenblick stehen und sah mit durchdringendem Blick über den Fluß in die +rauchige, kaltneblige Ferne, die gerötet war von der letzten, blutig +purpurnen Abendsonne. + +Die Nacht senkte sich über die Stadt und die ganze unübersehbare tote +Schneefläche der Newa glänzte, vom letzten Strahl der Sonne beschienen, +in unendlichen Myriaden von diamantenen Funken. Es war eine Kälte von +zwanzig Grad. Steifer Dunst ballte sich um die vielen jagenden Pferde +und laufenden Menschen. Die Luft erzitterte beim geringsten Laut, und +wie Riesen erhoben sich zu beiden Seiten der Ufer in den kalten Himmel +die Rauchsäulen der Häuser, schoben sich und schichteten sich +übereinander, während sie aufstiegen, und es war, als ob neue Gebilde +und Gebäude über der alten eine neue Stadt in den Wolken bildeten ... +als ob sich diese ganze Welt, mit all ihren Bewohnern, den starken und +den schwachen, mit ihren Behausungen der Armen und den Palästen der +Reichen und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in einen +phantastischen Traum verwandelte, der aus dem Dunst zu dem dunkelblauen +Himmel aufstieg, um sich in ihm aufzulösen und im Wesenlosen zu vergehen +... Ein sonderbares Gefühl überkam den verwaisten Freund des armen +Wassjä. Er schrak zusammen, und plötzlich strömte, durch ein mächtiges, +ihm bis jetzt ganz ungeahntes Gefühl, eine heiße Blutwelle in sein Herz. +Er begriff mit einem Male den Sinn des ganzen Geschehnisses, begriff, +warum Wassjä sein Glück nicht tragen konnte und seinen Verstand verloren +hatte. Seine Lippen zitterten, seine Augen glänzten, er erbleichte vor +dem Neuen, das in ihm erstand ... + +Seit der Zeit war Arkadij finster und verschlossen und hatte ganz seine +frühere Fröhlichkeit verloren. Seine Wohnung wurde ihm unerträglich – er +nahm sich eine andere. Nach zwei Jahren begegnete er ganz zufällig +Lisenka in der Kirche. Sie war verheiratet: ihr folgte eine Amme mit +einem Kinde auf dem Arm. Sie begrüßten einander und vermieden es lange +Zeit, von der Vergangenheit auch nur zu sprechen. Lisa erzählte, daß sie +glücklich und auch nicht mehr so arm sei wie früher, daß ihr Mann ein +guter Mensch wäre und sie liebhabe ... Doch plötzlich, mitten in ihrer +Rede, stockte sie, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich +ab und senkte ihren Kopf über ein Betpult, um vor den Menschen ihre +Trauer zu verbergen. + + + + + Ein Roman in neun Briefen + + + I. + +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) + +Hochverehrter Iwan Petrowitsch, teuerster Freund! + +Es ist nun schon glücklich der dritte Tag, daß ich, man kann wohl sagen, +regelrecht Jagd auf Sie mache, mein Bester, zumal ich Sie in einer +höchst, höchst dringlichen Angelegenheit sprechen muß, während Sie +leider für mich unauffindbar sind. Als wir gestern bei Ssemjon +Alexejewitsch waren, erlaubte sich meine Frau einen kleinen Scherz auf +Ihre Rechnung, indem sie bemerkte, daß Sie und Tatjana Petrowna +eigentlich erstaunlich wenig Sinn für Häuslichkeit an den Tag legten: +und es ist ja wahr, noch sind Sie keine drei Monate verheiratet, und +schon hält es schwer, Sie einmal zu Hause anzutreffen. Wir haben alle +herzlich darüber gelacht – natürlich nur auf Grund unserer aufrichtigen +Zuneigung zu Ihnen. Doch ganz abgesehen von allen Scherzen, mein +Teuerster, bin ich durch Sie in eine arge Hetze geraten. Ssemjon +Alexejewitsch meinte, Sie würden vielleicht im Klub der „Vereinigten +Gesellschaft“ auf dem Balle zu finden sein. Ich ließ daraufhin meine +Frau bei der Gattin Ssemjon Alexejewitschs zurück und eilte selber nach +dem Klub. Stellen Sie sich nun die Lage vor, in der ich mich befand: ich +war auf dem Ball – allein – ohne Frau! Iwan Andrejewitsch, mit dem ich +unten im Vestibül zusammentraf, zog natürlich sogleich (der Schuft!) +bloß aus dem einen Umstande, daß ich, wie gesagt, allein eintrat, +besondere Schlüsse auf die Art meiner Vorliebe fürs Tanzvergnügen, hakte +sich daher ohne weiteres in meinen Arm und wollte mich schon mit Gewalt +in den Tanzsaal schleppen, obschon sich seine flotte Seele, wie er +vorausschickte, in der „Vereinigten Gesellschaft“ herzlich beengt fühlte +und die diversen Patschuli- und Resedadüfte ihm bereits Kopfweh +verursacht hätten. Doch weder fand ich Sie, noch Tatjana Petrowna. Dafür +versicherte mir Iwan Andrejewitsch, und er schwor förmlich darauf, daß +ich Sie unfehlbar im Alexandertheater antreffen werde, da man an dem +Abend gerade Gribojedoffs Meisterstück[5] spiele. + +Ich eile hin: auch dort sind Sie nicht zu entdecken! Heute morgen dachte +ich, Sie bei Tschistoganoff zu finden – trügerische Hoffnung! +Tschistoganoff schickt mich zu Perepalkins – gleichfalls vergeblich. Mit +einem Wort, ich fühle mich jetzt völlig, aber völlig abgehetzt, was Sie +nach obiger Schilderung meiner Irrfahrten gewiß begreiflich finden +werden: Sie können sich doch vorstellen, wie viel ich gelaufen bin! +Jetzt habe ich zur Feder gegriffen – es bleibt mir eben nichts anderes +übrig! Nur ist die Sache nicht zu schriftlicher Erledigung geeignet (Sie +verstehen mich?). Besser wäre es, unter vier Augen ... Na, jedenfalls +muß ich Sie unbedingt und zwar so bald wie möglich sprechen, und deshalb +fordere ich Sie auf, heute mit Tatjana Petrowna zum Tee und Abendbrot zu +uns zu kommen. Meine Frau wird sich über Ihren Besuch unendlich freuen. +Wirklich, Sie werden mich damit, wie man zu sagen pflegt, bis zu meinem +Lebensende verpflichten. Übrigens, mein Teuerster – da ich schon einmal +zu schreiben begonnen habe, so sei’s denn auch geschrieben – ich sehe +mich gezwungen, Sie schon jetzt etwas ins Gebet zu nehmen, jawohl +teuerster Freund, sehe mich gezwungen, Ihnen eine anscheinend ganz +unschuldige kleine Machenschaft vorzuwerfen, als deren äußerst boshaft +ausgewähltes Opfer ich mich selbst betrachten muß ... Sie verkappter +Bösewicht, Sie gewissenloser Mensch! Da führen Sie vor etwa einem Monat +einen Ihrer Bekannten bei mir ein, nämlich Jewgenij Nikolajewitsch, +versehen ihn mit Ihrer freundschaftlichen, das heißt für mich somit +heiligsten Empfehlung, weshalb ich mich aufrichtig über die neue +Bekanntschaft freue, den jungen Menschen mit offenen Armen empfange und +dabei ahnungslos den Kopf in die Schlinge stecke. Das heißt, eine +Schlinge ist es nun, genau genommen, gerade nicht. Immerhin haben Sie +mir da, wie man zu sagen pflegt, eine böse Suppe eingebrockt. Von +näheren Erklärungen will ich vorläufig Abstand nehmen – die Zeit drängt; +und brieflich, wissen Sie, ist es auch nicht immer leicht, das richtige +Wort zu finden. Infolgedessen geht denn meine inständige Bitte an Sie +dahin, mein schadenfroher Freund und Kollege, daß ich Sie sozusagen um +Ihre Meinung darüber bitte, ob es sich nicht irgendwie machen ließe – +natürlich in aller Diskretion und Höflichkeit – daß man Ihrem jungen +Mann unmißverständlich – doch natürlich ohne ihm zu nahe zu treten – +unter vier Augen oder gar ganz heimlich – ungefähr und andeutungsweise +zu verstehen gäbe, daß es in der Residenz noch viele andere Häuser außer +dem meinigen gibt? Ich kann nicht mehr, mein Bester! Meine Kraft ist zu +Ende! „Falle zu Füßen!“ wie unser polnischer Freund Ssimonewitsch sagt. +Wenn wir uns sehen, erzähle ich Ihnen alles. Ich will damit nicht etwa +gesagt haben, daß der junge Mann kein einnehmendes Wesen habe, oder daß, +sagen wir, irgendwelche seiner sonstigen Eigenschaften abstoßend seien. +Im Gegenteil, er ist sogar in jeder Beziehung ein sehr netter und +liebenswürdiger Mensch. Doch – nun, gedulden Sie sich noch ein Weilchen, +bis wir unter uns sind. Inzwischen aber, wenn Sie ihn vorher sehen +sollten, dann geben Sie ihm um Christi willen einen Wink, Verehrtester. +Ich würde es ja selbst tun, aber Sie wissen doch, wie ich bin: ich +bringe es nicht fertig – da ist nun einmal nichts zu machen. Sie haben +ihn doch nun einmal eingeführt und uns empfohlen. Übrigens werden wir +uns ja heute abend zur Genüge aussprechen können. Daher vorläufig: auf +Wiedersehen! + +Verbleibe usw. + +P. S. Mein Kleiner ist schon seit einer Woche nicht ganz gesund und mit +jedem Tage wird es schlimmer. Es sind die Zähnchen: die fangen jetzt an, +durchzubrechen. Meine Frau muß sich daher viel mit ihm abgeben und ist +recht mitgenommen, die Arme. Kommen Sie unbedingt. Sie werden uns +aufrichtig erfreuen, werter Freund. + + + II. + +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) + +Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch! + +Erhalte gestern Ihren Brief, lese ihn und staune! Sie suchen mich Gott +weiß wo und bei wem, während ich einfach zu Hause bin. Bis zehn Uhr +wartete ich auf Iwan Iwanytsch Tolokonoff, der aber nicht kam. Nach +Empfang Ihres Schreibens rief ich sogleich meine Frau – wir kleiden uns +an, ich nehme eine Droschke, scheue nicht die Ausgabe – und erscheinen +bei Ihnen gegen halb sieben. Sie aber – sind nicht zu Hause: wir werden +von Ihrer Frau empfangen. Ich warte bis halb elf. Länger kann ich nicht. +Nehme meine Frau, bezahle wieder eine Droschke, bringe meine Frau nach +Haus und begebe mich darauf allein zu Perepalkins, in der Hoffnung, Sie +vielleicht dort anzutreffen, sehe mich aber in meiner Annahme wieder +enttäuscht. Komme nach Haus gefahren, schlafe die ganze Nacht nicht, +rege mich auf, fahre am Morgen wieder dreimal zu Ihnen, um neun, um zehn +und um elf, stürze mich dreimal in Ausgaben, fahre hin und her, und +wieder lassen Sie mich mit einer langen Nase abziehen. + +Als ich Ihren Brief las, wunderte ich mich nicht wenig. Sie schreiben +von Jewgenij Nikolajewitsch, bitten ihm eine Andeutung zukommen zu +lassen, erwähnen aber mit keiner Silbe, weshalb und warum. Vorsicht ist +ja freilich ganz lobenswert, aber mein Papier ist schließlich ebensoviel +wert, wie Ihres, von mir aber weiß ich wenigstens, daß ich wichtige +Papiere nicht meiner Frau zu Papilloten gebe. Ich begreife nicht, um es +endlich auszusprechen, in welchem Sinne Sie mir eigentlich dies alles zu +schreiben beliebt haben. Und überdies, da nun einmal die Rede davon ist: +weshalb ziehen Sie denn mich in diese ganze Angelegenheit hinein? Ich +habe keine Lust, meine Nase in alles und jedes hineinzustecken. Sie +können ihm doch ebensogut selbst eine Absage geben! Ich sehe vorläufig +nur das eine: daß ich mich mit Ihnen deutlicher auseinandersetzen muß. +Inzwischen aber vergeht die Zeit. Ich muß mich sehr einschränken und +weiß nicht, was ich tun soll, wenn Sie gewisse Bedingungen nebst Ihrem +Versprechen nicht aufrechterhalten. Die Reise läßt sich nicht +aufschieben, und Reisen kostet Geld. Außerdem quält einen noch die Frau, +die mit aller Gewalt einen Samtmantel nach der neuesten Mode haben will. +Was jedoch Jewgenij Nikolajewitsch betrifft, so beeile ich mich, Ihnen +folgendes zu bemerken: habe gestern, ohne viel Zeit zu verlieren, gleich +nochmals Erkundigungen über ihn eingezogen, als ich bei Pawel +Ssemjonytsch Perepalkin auf Sie wartete. Er besitzt rund 500 Seelen im +Jaroslawschen Gouvernement, und von der Großmutter hat er Aussicht, noch +ein Gut in der Nähe von Moskau mit 300 Seelen zu erben. Wieviel er an +barem Gelde besitzt, weiß ich nicht, denke aber, daß Sie hierüber selber +besser Bescheid wissen dürften. Bitte Sie ferner, mir endgültig Ort und +Zeit eines Zusammentreffens anzugeben. Sie schreiben, Iwan Andrejewitsch +habe Ihnen gesagt, daß ich mit meiner Frau im Alexandertheater +anzutreffen sei. Darauf kann ich nur erwidern, daß es Iwan Andrejewitsch +nicht sehr auf die Wahrheit anzukommen scheint und man ihm und seinen +Worten um so weniger Glauben schenken darf, als er noch vor nicht länger +als drei Tagen seine eigene Großmutter um achthundert Rubel betrogen +hat. + +Habe die Ehre usw. + +P. S. Meine Frau ist in anderen Umständen, außerdem ist sie schreckhaft +und zeitweilig zur Melancholie geneigt. In den Theatern aber wird auf +der Bühne zuweilen geschossen, oder künstlich, mit allerlei Maschinen, +Donner erzeugt. Und deshalb, um meine Frau nicht der Gefahr des +Erschreckens auszusetzen, besuche ich mit ihr keine Theater. Auch bin +ich selbst kein großer Liebhaber theatralischer Aufführungen. + + + III. + +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) + +Teuerster Iwan Petrowitsch, bester Freund! + +Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich bitte Sie tausendmal um Vergebung, +doch will ich mich ungesäumt rechtfertigen, soweit ich es kann. + +Gestern, kurz vor sechs Uhr, gerade als wir in aufrichtigem Mitleid +Ihrer gedachten, erschien ein Abgesandter von meinem Onkel Stepan +Alexejewitsch, mit der Nachricht, daß es mit der Tante schlimm stehe. Um +meine Frau nicht aufzuregen, sagte ich ihr kein Wort davon und fuhr +unter dem Vorwande, etwas Unaufschiebbares vorzuhaben, zu meiner Tante. +Mit dieser stand es in der Tat schlimm genug: kurz vor fünf hatte sie +wieder einen Schlaganfall gehabt, den dritten im Laufe der letzten zwei +Jahre. Karl Fedorytsch, ihr Hausarzt, erklärte, daß sie vielleicht nicht +einmal diese Nacht überleben werde. Stellen Sie sich also meine Lage +vor, verehrtester Freund! Die ganze Nacht auf den Beinen, Laufereien +über Laufereien und obendrein noch Sorgen! Erst gegen Morgen streckte +ich mich, völlig erschöpft, und zwar sowohl psychisch als physisch, bei +meinem Onkel ein wenig auf dem Diwan aus, vergaß aber, vorher zu sagen, +daß man mich rechtzeitig wecken solle, und erwachte erst um halb zwölf. +Der Tante ging es besser. So fuhr ich denn nach Haus: meine Frau – nun, +Sie können sich denken: die arme Seele hatte die ganze Nacht in der +Ungewißheit über meinen Verbleib in begreiflicher Aufregung schlaflos +zugebracht. Ich nahm ein paar Bissen, küßte das Kind, beruhigte meine +Frau und begab mich zu Ihnen. Sie waren nicht zu Hause. Statt Ihrer traf +ich bei Ihnen Jewgenij Nikolajewitsch an. Dann kam ich nach Haus zurück +und jetzt sitze ich und schreibe an Sie. Murren Sie nicht und ärgern Sie +sich nicht über mich, mein bester Freund! Schlagen Sie, fällen Sie mir +meinetwegen das schuldige Haupt von den Schultern, nur entziehen Sie mir +nicht Ihre Freundschaft. Von Ihrer Frau erfuhr ich, daß Sie am Abend bei +Sslawjänoffs sein werden. Werde unbedingt auch hinkommen. Ich erwarte +Sie mit größter Ungeduld. + +Inzwischen verbleibe ich usw. + +P. S. Unser Kleiner bringt uns fast zur Verzweiflung! Karl Fedorytsch +hat ihm ein Abführmittelchen verordnet. Er fiebert, weint, gestern hat +er niemand erkannt. Heute erkennt er uns zum Glück und stammelt wieder +„Papa“, „Mama“ und schreit sein „Bu–ah“. Meine Frau ist in Tränen. + + + IV. + +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) + +Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch! + +Schreibe an Sie bei Ihnen, in Ihrem Zimmer, an Ihrem eigenen +Schreibtisch; bevor ich jedoch die Feder ergriff, habe ich gute +zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet. Jetzt erlauben Sie mir aber, +Ihnen, Pjotr Iwanytsch, in betreff dieser ganzen garstigen Angelegenheit +einmal rückhaltlos meine Meinung zu sagen. + +Aus Ihrem letzten Schreiben schloß ich, daß man Sie bei Sslawjänoffs +erwartete und daß Sie mich quasi hinbestellten: ich erscheine also, +warte geschlagene fünf Stunden, doch wer nicht kommt – sind Sie. Wie, +soll ich mich zum Narren machen lassen? um fremde Menschen zu erheitern? +oder was verlangen Sie von mir? Erlauben Sie, mein Herr ... + +Doch weiter: ich komme zu Ihnen am frühen Morgen, in der Annahme, Sie +noch in Ihren vier Pfählen anzutreffen, und ahme also nicht gewisse und +gelinde ausgedrückt irreführende Leute nach, die ihre Bekannten Gott +weiß wo und in welchen Lokalen suchen, während man sie zu jeder +anständig gewählten Tageszeit in ihrem Heim finden kann. Doch ich hatte +nicht das Vergnügen, Sie in Ihrem Hause anzutreffen. Ich weiß nicht, was +mich noch immer abhält, Ihnen unumwunden die Wahrheit zu sagen. Ich +begnüge mich also mit der Bemerkung, daß Sie gerade kein Mann von Wort +zu sein scheinen und daß Sie Ihr Versprechen jetzt wohl zurückziehen und +gewisse Verabredungen und Bedingungen anscheinend verleugnen wollen. +Nach Erwägung Ihres ganzen Verhaltens mir gegenüber, kann ich Ihnen nur +gestehen, daß ich mich über Ihre Schlauheit entschieden wundern muß. +Denn jetzt ist es mir vollkommen klar, daß Sie diese häßliche Absicht +schon seit langer Zeit hegen. Für die Richtigkeit meiner Annahme dürfte +als bester Beweis die Tatsache sprechen, daß Sie sich noch in der +vorigen Woche in einer nahezu unstatthaften Weise jenes von Ihnen an +mich gerichteten Briefes bemächtigt haben, in dem Sie selbst – zwar +ziemlich dunkel und versteckt – die Bedingungen einer gewissen, Ihnen +wohl noch erinnerlichen Abmachung schwarz auf weiß niedergeschrieben +haben. Sie fürchten also Dokumente, vernichten sie und wollen mich an +der Nase herumführen, wie’s scheint. Das aber werde ich nicht zulassen, +denn bisher hat mich noch niemand für einen Narren gehalten, vielmehr +hat ein jeder nur Gutes über mich geäußert. Jetzt sind mir die Augen +geöffnet. Sie wollen mich irreführen, wollen mir mit Ihren Andeutungen +in betreff Jewgenij Nikolajewitschs Sand in die Augen streuen, und +während ich nach Ihrem mir bis jetzt noch unverständlichen Brief vom +Siebenten dieses Monats eine Aussprache mit Ihnen suche, lassen Sie mich +bald hierhin, bald dorthin zu einem Stelldichein laufen, zu dem Sie +selbst gar nicht erscheinen: ja ganz augenscheinlich suchen Sie sich vor +mir absichtlich zu verbergen. Sie denken wohl, mein Herr, daß ich +unfähig sei, Ihre Ränke zu durchschauen? Sie versprechen mir alles +mögliche für meine Ihnen sehr gut bekannten Dienstleistungen, +versprechen Empfehlungen an verschiedene Personen usw., indessen +verstehen Sie aber in einer mir selbst rätselhaften Art und Weise es so +einzurichten, daß Sie sich sogar mit dem Anschein einer gewissen +Berechtigung noch Geld von mir leihen und zwar in beträchtlicher Höhe +und ohne irgendwelche Sicherheiten Ihrerseits, also einzig auf +geheuchelte Freundschaft hin, wie dies noch in der jüngstvergangenen +Woche geschehen ist. Jetzt jedoch, nachdem Sie das Geld erhalten haben, +verbergen Sie sich vor mir und scheinen überdies von jenem Dienst nichts +mehr wissen zu wollen, den ich Ihnen erwiesen, indem ich Sie mit +Jewgenij Nikolajewitsch bekannt machte. Vielleicht rechnen Sie auf meine +baldige Reise nach Ssimbirsk und hoffen, daß es vorher nicht zur +Abrechnung zwischen uns kommen werde. Doch wenn das der Fall ist, dann +erkläre ich Ihnen hiermit feierlichst und bekräftige es mit meinem +Ehrenwort, daß ich, wenn es darauf hinausläuft, bereit bin, meinetwegen +noch ganze zwei Monate in Petersburg zu verbleiben, daß ich mein Ziel +aber erreichen und Sie schon aufzufinden wissen werde. Auch ich verstehe +mitunter, einem Menschen zum Trotz etwas durchzusetzen. Zum Schluß +jedoch erkläre ich Ihnen, daß ich, wenn Sie mir nicht heute noch +befriedigende Erklärungen geben – zunächst schriftlich, nachher +mündlich, unter vier Augen – und wenn Sie mir in Ihrem Brief nicht alle +die Hauptbedingungen, die zwischen uns vereinbart wurden, schwarz auf +weiß bestätigen und mir endlich nicht länger Ihre Hintergedanken +bezüglich Jewgenij Nikolajewitschs vorenthalten: daß ich mich dann +gezwungen sehe, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen gewiß sehr unangenehm +und auch mir nichts weniger als angenehm sein werden. + +Gestatten Sie, daß ich verbleibe usw. + + + V. + +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) + + 11. November. + +Mein bester, verehrtester Freund Iwan Petrowitsch! + +Ihr Brief hat mich in tiefster Seele betrübt. Und Sie, der Sie mein +bester, doch leider nur zu leicht ungerechter Freund sind, Sie schämen +sich nicht, mir, der ich Ihnen doch von allen am meisten zugetan bin, so +etwas zu schreiben – so übereilt zu urteilen, das Ganze nicht einmal zu +erklären und mich dann mit so beleidigendem Argwohn zu kränken? + +Doch ich beeile mich, Ihnen Rede zu stehen und Ihre Anschuldigungen von +mir zu weisen. + +Sie, Iwan Petrowitsch, haben mich gestern nur deshalb nicht dort +angetroffen, weil ich ganz plötzlich und unvorhergesehenermaßen an ein +Sterbelager gerufen wurde. Meine Tante Jewfimija Nikolajewna ist nämlich +gestern um elf Uhr nachts sanft entschlafen. Zum Anordner der sämtlichen +traurigen Obliegenheiten wurde ich durch einstimmigen Beschluß meiner +Verwandten gewählt. Da gab es denn für mich so viel zu tun, daß ich Sie +heute unmöglich treffen, ja nicht einmal ein paar Zeilen an Sie +schreiben konnte. So tut mir das Mißverständnis, zu dem es zwischen uns +gekommen ist, in der Seele leid. Meine Bemerkung über Jewgenij +Nikolajewitsch, die von mir scherzhaft und mehr so nebenbei geäußert +war, haben Sie ganz falsch verstanden und der Geschichte einen mich tief +kränkenden Sinn untergeschoben. Sie kommen auch auf das Geld zu sprechen +und verbergen nicht Ihre Befürchtungen. Was diese letzteren betrifft, so +bin ich bereit, allen Ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, doch +möchte ich Sie heute nur kurz daran erinnern, daß das Geld, die 350 +Rubel, von mir in der vorigen Woche ausdrücklich nur unter gewissen +Bedingungen von Ihnen genommen worden sind, und zwar nicht als Darlehn! +In diesem Falle hätten Sie von mir unbedingt einen Wechsel oder eine +Quittung erhalten. Zu einer Erörterung der weiteren von Ihnen +angeführten Punkte will ich mich nicht herablassen. Ich sehe, daß alles +nur auf einem Mißverständnis Ihrerseits beruht, erkenne darin Ihre +gewohnte Übereiltheit in der Beurteilung menschlicher Verhältnisse, Ihre +Hitzigkeit und rücksichtslose Offenheit. Ich weiß jedoch, daß Ihr +Gerechtigkeitssinn und Ihr ehrlicher Charakter nicht lange bei solchem +Mißtrauen verbleiben und Sie mir noch einmal als erster die Hand zur +Versöhnung reichen werden. Sie sind in einem Irrtum befangen, Iwan +Petrowitsch, in einem sehr großen Irrtum! + +Doch ungeachtet dessen, daß Ihr Brief mich tief verletzt hat, wäre ich +als erster bereit, heute noch mit meiner Entschuldigung zu Ihnen zu +kommen, nur habe ich leider so viel zu tun – heute sogar noch mehr als +gestern – daß ich schon halbtot bin und mich kaum noch auf den Füßen zu +halten vermag. Zur Vollendung meines Unglücks hat sich nun auch noch +meine Frau zu Bett legen müssen: ich befürchte eine ernste Krankheit. +Was den Kleinen betrifft, so geht es ihm jetzt Gott sei Dank etwas +besser. Doch ich schließe ... Die Geschäfte wollen erledigt sein und ich +habe ihrer mehr als einen ganzen Berg! + +Verbleibe, teuerster Freund, + + Ihr usw. + + + VI. + +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) + + 14. November. + +Sehr geehrter Herr! + +Drei Tage habe ich gewartet; habe mich bemüht, sie nützlich zu +verbringen – indem ich, eingedenk der Regel, daß Höflichkeit und Anstand +die erste Zierde eines jeden Menschen sind, Sie nach meinem letzten +Schreiben vom Zehnten dieses Monats weder mit einem Wort noch einer Tat +an mich erinnerte, einesteils um Ihnen Zeit zu geben, ungestört Ihrer +Christenpflicht der Tante gegenüber nachzukommen, anderenteils auch +deshalb, weil ich zu gewissen Erwägungen und Ermittelungen in der +bewußten Angelegenheit selbst der Zeit bedurfte. Jetzt jedoch will ich +nicht mehr zögern, mich endgültig und entschieden mit Ihnen +auszusprechen. + +Ich gestehe Ihnen offen, daß ich beim Lesen Ihrer zwei ersten Briefe +allen Ernstes der Meinung war, Sie hätten wirklich nicht begriffen, was +ich wollte; es war dies denn auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich +Sie unbedingt zu treffen und unter vier Augen zu sprechen wünschte, +weshalb ich die Angelegenheit nicht dem Papier anzuvertrauen wagte und +mir selbst die Möglichkeit einer Unklarheit in meiner schriftlichen +Ausdrucksweise vorhielt. Wie Sie wissen, habe ich keine besondere +Erziehung genossen und habe mir auch keine feinen Manieren aneignen +können; hohles Geckentum aber ist mir fremd, denn die bittere Erfahrung +hat mich gelehrt, wie trügerisch oft das Äußere sein kann, sowie, daß +unter Blumen sich nicht selten Schlangen verbergen. Doch Sie haben mich +verstanden; geantwortet aber hatten Sie mir nur deshalb nicht so, wie es +sich gehörte, weil Sie in der Falschheit Ihrer Seele schon von Anfang an +bei sich beschlossen, Ihr Ehrenwort zu brechen und damit auch das +zwischen uns bestehende Freundschaftsverhältnis zu lösen. Der Beweis +hierfür ist Ihr schändliches Benehmen mir gegenüber, ein Benehmen, das +mir und meinen Interessen geradezu verderblich ist – was ich von Ihnen +nie erwartet hätte und woran ich bis zu diesem Augenblick nicht habe +glauben wollen, denn bestrickt, wie ich von Anfang unserer Bekanntschaft +an durch Ihre guten Manieren war, durch Ihre feinen Umgangsformen, durch +Ihre Sachkenntnis und nicht zuletzt auch durch die Vorteile, die mir aus +Ihrer Bekanntschaft erwachsen konnten, nahm ich an, daß ich in Ihnen +einen aufrichtigen Freund, einen echten Kameraden gefunden hatte, der +mir wirkliches Wohlwollen entgegenbrachte. Jetzt jedoch habe ich +erkennen müssen, daß es Menschen gibt, die unter einem trügerischen, +glänzenden Äußeren in ihrem Herzen Gift verbergen, die ihren Verstand zu +nichts anderem benutzen, als zum Ränkeschmieden wider ihren Nächsten und +zu häßlichem, hinterlistigem Betruge, und die es deshalb stets umgehen, +ihre Worte schwarz auf weiß zu geben und dabei ihre Stilgewandtheit +nicht zu Nutz und Frommen ihrer Freunde und ihres Vaterlandes +gebrauchen, sondern einzig zur Einschläferung und Umgarnung der Vernunft +derjenigen, die sich auf Unternehmungen und Vereinbarungen mit Ihnen +eingelassen haben. Ihre Falschheit mir gegenüber geht nur zu deutlich +aus folgendem hervor. + +Erstens: als ich in meinem Brief klar und unmißverständlich Ihnen, mein +sehr verehrter Herr, die Lage schilderte, in der ich mich befand, und +gleichzeitig – in meinem ersten Brief – die Frage an Sie stellte, was +Sie mit einzelnen Ausdrücken und angedeuteten Absichten, vornehmlich in +bezug auf Jewgenij Nikolajewitsch, gesagt haben wollten, da verstanden +Sie es, das Wesentliche mit Stillschweigen zu übergehen und sich, +nachdem Sie in mir Zweifel und Argwohn geweckt, ruhig wieder aus der +Affäre zu ziehen. Darauf, d. h. nachdem Sie so etwas mit mir in Szene +gesetzt hatten, was sich nicht einmal mit einem anständigen Wort +bezeichnen läßt, schrieben Sie an mich und beklagten sich in wehleidigem +Tone über mich bei mir selbst! Wie wünschen Sie wohl, daß man das nennen +soll, mein Herr? Sodann, als mir jeder Augenblick teuer war und Sie mich +im ganzen Weichbilde der Haupt- und Residenzstadt auf der Suche nach +Ihnen umherlaufen ließen, schrieben Sie mir unter der Maske der +Freundschaft Briefe, in denen Sie absichtlich mit keiner Silbe die +Hauptsache berührten, sondern sich statt dessen ausschließlich in +Nebensächlichkeiten ergingen: Sie schrieben mir von Ihrer, von mir +allerdings unter allen Umständen sehr geachteten Gemahlin und teilten +mir mit, daß der Arzt Ihrem Kleinen ein Abführmittelchen verordnet habe +und daß bei ihm das erste Zähnchen durchgebrochen sei. Von allen diesen +Dingen schrieben Sie in jedem Ihrer Briefe mit einer Regelmäßigkeit, die +für mich geradezu kränkend war. Natürlich, ich will gern zugeben, daß +die Qualen des eigenen Kindes jedes Vaterherz bedrücken können, doch +wozu davon gerade dann reden, wenn es sich um ganz Anderes, Wichtigeres, +Notwendigeres handelt? Ich schwieg und geduldete mich – so schwer es mir +auch fiel. Jetzt aber, wo die Zeit Ihrer Inanspruchnahme durch den +Todesfall Ihrer Tante verstrichen ist, glaube ich, es mir selbst +schuldig zu sein, die Auseinandersetzung nun endlich und zwar +unverzüglich herbeizuführen. Ferner haben Sie mir durch trügerische +Angaben von Orten, an denen ich Sie sollte treffen können, und an denen +ich Sie doch niemals traf, offenbar die Rolle Ihres Narren oder +Spaßmachers aufzwingen wollen, der zu sein ich nicht die geringste Lust +verspüre. Darauf, nachdem Sie mich noch vorher zu sich eingeladen und +selbstverständlich vergeblich auf sich hatten warten lassen, teilten Sie +mir mit, daß Sie zu Ihrer leidenden Tante abberufen worden seien, die um +Punkt fünf Uhr nachmittags einen Schlaganfall gehabt habe, womit Sie +anscheinend peinlich gewissenhaft den wahren Sachverhalt klarlegten. Zum +Glück jedoch habe ich, sehr geehrter Herr, im Laufe dieser drei Tage +Zeit gehabt, Erkundigungen einzuziehen, wodurch ich erfahren habe, daß +Ihre Tante bereits am Abend des Siebenten, kurz vor Mitternacht, von +einem Schlagfluß betroffen worden ist. Daraus ersehe ich, daß Sie sogar +die Heiligkeit Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gemißbraucht +haben, um andere Menschen zu betrügen. Endlich schreiben Sie in Ihrem +letzten Brief vom Tode dieser Ihrer Tante, die nach Ihrer Angabe gerade +zu der Stunde entschlafen sein soll, in der ich mich zwecks bewußter +Unterredung auf Ihre eigene Aufforderung hin bei Ihnen einfinden sollte +und mich in der Tat auch einfand. Doch hier übersteigt die +Schändlichkeit Ihrer Berechnungen und Erfindungen jede Glaubwürdigkeit, +denn, wie es mir, dank einem glücklichen Zufall, aus der sichersten +Quelle zu erfahren gelungen ist, ist Ihre Frau Tante erst runde +vierundzwanzig Stunden _nach_ der von Ihnen so gottlos angegebenen +Sterbestunde um elf Uhr nachts entschlafen, nämlich den _elften_ +November, und nicht den _zehnten_! + +Ich käme schwerlich zu einem Ende, wenn ich noch alle anderen Beweise +aufzählen wollte, die mir Ihre Falschheit offenbart haben. Doch für +jeden unparteiischen Beurteiler dürfte allein schon dieser eine Zug +genügen, daß Sie mich in jedem Ihrer Briefe ihren „aufrichtigen Freund“ +nennen und mir alle möglichen Liebenswürdigkeiten sagen, was Sie meines +Erachtens zu keinem anderen Zweck getan haben, als um mein Gewissen wie +meine Vorsicht einzuschläfern. + +Ich komme jetzt zu Ihrem Hauptbetrug und Treubruch, der in folgenden +Punkten besteht: in Ihrem, in letzter Zeit unausgesetzt beobachteten +Stillschweigen über alles das, was unsere gemeinsamen Interessen +betrifft; ferner in der sträflichen Entwendung jenes Briefes, in dem Sie +– allerdings nur andeutungsweise und mir nicht ganz verständlich – +unseren beiderseitigen Vertrag nebst allen einzelnen Bedingungen +auseinandergesetzt hatten; drittens in der Tatsache, daß Sie mich in +einer nahezu barbarisch vergewaltigenden Weise um 350 Rubel anpumpten, +ohne jede Quittung oder sonstige Bestätigung, also nur auf Grund meiner +Eigenschaft als Ihr Kompagnon, sozusagen; und schließlich in Ihrer +schändlichen Verleumdung unseres gemeinsamen Bekannten Jewgenij +Nikolajewitsch. + +Es ist mir jetzt auch vollkommen klar, was Sie mit der letztgenannten +Verleumdung eigentlich bezweckten: nämlich mir zu beweisen, daß von dem +Betreffenden, wie von einem – mit Verlaub zu sagen – Ziegenbock weder +Milch noch Wolle zu gewinnen sei; d. h. daß man von ihm gar keinen +Nutzen habe und daß er selber weder dies noch das, weder Fisch noch +Fleisch sei, was Sie ihm in Ihrem Brief vom Sechsten dieses Monats +deutlich als ein Gebrechen anrechnen. Ich aber kenne Jewgenij +Nikolajewitsch als bescheidenen und gesitteten jungen Mann: und gerade +das ist es, womit er einen für sich einnehmen, sich in der Gesellschaft +Achtung gewinnen und es in seiner Laufbahn noch einmal zu etwas bringen +kann. Auch ist es mir nicht unbekannt geblieben, daß Sie im Verlaufe von +ganzen zwei Wochen jeden Abend beim Hasardspiel mit ihm mindestens +mehrere Zehnrubelscheine, wenn nicht gar Hunderter, in Ihre Tasche +geschoben und somit auf diese Weise Jewgenij Nikolajewitsch mörderlich +gerupft haben. Jetzt aber scheint das alles von Ihnen vergessen zu sein +und anstatt mir für das, was ich durch Sie ausgestanden habe, zu danken, +eignen Sie sich auf Nimmerwiedersehen auch noch mein Geld an, indem Sie +mich vorher durch den Antrag, Ihr Kompagnon zu werden, und durch die +Aussicht auf verschiedene Vorteile, die mir dadurch erwachsen würden, +zur Hergabe einer beträchtlichen Summe verlocken. Jawohl: nachdem Sie +sich in so gesetzwidriger Weise von mir und Jewgenij Nikolajewitsch Geld +angeeignet haben, vergessen Sie jeden Dank, den Sie mir schuldig sind, +und gehen bis zur Verleumdung desjenigen, den ich allein durch meine +Empfehlungen in Ihrem Hause eingeführt habe. Sie selbst dagegen fahren, +nach den Aussagen Ihrer Freunde, bis auf den heutigen Tag fort, mit +Jewgenij Nikolajewitsch ein Herz und eine Seele zu sein, ja, im +Überschwang der Gefühle küssen Sie ihn womöglich und stellen ihn aller +Welt als Ihren besten Freund vor, obschon es, wie ich hinzusetzen +möchte, so leicht keinen einzigen Dummen geben wird, der nicht sofort +und ganz genau erriete, auf was alle Ihre Absichten eigentlich +hinauslaufen und was Ihre Freundschaftsbeteuerungen in Wirklichkeit wert +sind. Ich wenigstens sage es offen, daß sie nichts als Lug und Trug +bedeuten, Falschheit und Hohn auf alle Anstandsbegriffe und +Menschenrechte, daß sie eine Schmähung Gottes sind und der Inbegriff +aller Lasterhaftigkeit. Als Beispiel und Beleg hierfür nenne ich mich +selbst! d. h. ich wollte sagen, die Erfahrungen, die ich mit Ihnen +gemacht habe. – Wann habe ich Sie je beleidigt oder Ihnen sonst ein +Unrecht angetan, daß Sie mich auf eine so tückische Art zu behandeln +wagen? + +Ich schließe meinen Brief. Was ich zu sagen hatte, habe ich gesagt. +Jetzt füge ich nur noch einen Satz hinzu: wenn Sie, mein Herr, nicht in +der kürzesten Frist nach Empfang dieses Briefes mir, erstens, +ungeschmälert den ganzen Ihnen von mir geliehenen Betrag, in Summa 350 +Rubel, zurückerstatten, und zweitens alle mir Ihrem Versprechen gemäß +zustehenden Beträge auszahlen, so werde ich Mittel und Wege zu finden +wissen, Sie dazu zu zwingen, wenn es sein muß, sogar durch öffentliche +Anklage; denn ausdrücklich nicht unerwähnt möchte ich lassen, daß mir +der Schutz der Gesetze zu Gebote steht; und zum Schluß möchte ich Ihnen +noch mitteilen, daß ich gewisse Papiere und damit Beweise in Händen +habe, die, sobald sie nicht mehr im Besitz Ihres ergebensten Dieners +verbleiben, Sie und Ihren Namen in den Augen der ganzen Welt doch recht +tief in den Schmutz herabziehen könnten. + +Gestatten Sie usw. + + + VII. + +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) + + 15. November. + +Iwan Petrowitsch! + +Nach Empfang Ihres bäuerischen und zugleich mehr als seltsamen +Sendschreibens, wollte ich dasselbe im ersten Augenblick einfach +zerreißen und fortwerfen – habe es aber einstweilen doch als Rarität +aufbewahrt. Im übrigen tun mir unsere Mißverständnisse und +Unannehmlichkeiten von Herzen leid. Eigentlich war es meine Absicht, +Ihnen überhaupt nicht zu antworten. Aber die Notwendigkeit zwingt mich +dazu – eben die Notwendigkeit, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß es mir +ganz entschieden nichts weniger als angenehm sein würde, Sie jemals +wieder in meinem Hause zu sehen; das gleiche gilt von meiner Frau: ihre +Gesundheit ist nicht ganz auf der Höhe und der Geruch von +Schmierstiefeln ist ihr schädlich. Anbei retourniert sie Ihrer Frau +Gemahlin mit bestem Dank ein Buch, den „Don Quijote“, der bei uns +liegengeblieben war. Was aber Ihre Galoschen betrifft, die Sie angeblich +bei Ihrer letzten Anwesenheit in unserem Hause vergessen haben wollen, +so muß ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, daß man sie bisher +nirgends gefunden hat. Inzwischen werden sie noch gesucht. Sollten sie +jedoch nicht zu finden sein, so werde ich Ihnen neue kaufen. + +Im übrigen habe ich die Ehre usw. + + + VIII. + +(Am 16. November erhält Pjotr Iwanowitsch durch die Stadtpost zwei +Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt dem Kuvert ein zierlich +zusammengefaltetes blaßrosa Blättchen. Die Handschrift ist die seiner +Frau. Gerichtet ist es an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 2. +November. Im Kuvert befindet sich sonst nichts. Pjotr Iwanowitsch +liest:) + +Lieber Eugène! Gestern war es völlig unmöglich. Mein Mann war den ganzen +Abend zu Haus. Komm aber morgen unbedingt um Punkt elf. Um halb elf +fährt mein Mann nach Zarskoje und wird erst um ein Uhr zurückkehren. Ich +habe mich die ganze Nacht geärgert. Danke für die Zusendung der +Nachrichten. Welch ein Haufen Papier! Hat sie das wirklich alles selbst +geschrieben? Übrigens, der Stil geht an. Noch einmal: Hab Dank. Ich +sehe, daß du mich liebst. Sei mir nicht böse wegen gestern und komm +morgen unbedingt! A. + +(Pjotr Iwanowitsch erbricht den zweiten Brief.) + +Pjotr Iwanytsch! + +Mein Fuß hätte ohnehin niemals mehr Ihre Schwelle überschritten: Sie +haben ganz überflüssigerweise Ihr Papier verschmiert. + +In der nächsten Woche verreise ich nach Ssimbirsk, doch als +unschätzbarer und bester Freund verbleibt Ihnen: Jewgenij +Nikolajewitsch. Wünsche angenehmen Zeitvertreib. Wegen der Galoschen +bitte ich, sich nicht zu beunruhigen. + + + IX. + +(Am 17. November erhält Iwan Petrowitsch durch die Stadtpost gleichfalls +zwei Briefe. Er erbricht den ersten und entnimmt ihm einen eilig und +flüchtig beschriebenen Zettel. Die Handschrift ist die seiner Frau. +Adressiert ist er an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben den 4. August. +Außer dem Zettel enthält das Kuvert nichts weiter. Iwan Petrowitsch +liest:) + +Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Jewgenij Nikolajewitsch! Möge Gott Ihnen +auch dieses Gute vergelten. Werden Sie glücklich, das Los, das mir +zufällt, ist grausam, grauenhaft! Es war Ihr Wille. Wäre Tantchen nicht +gewesen, ich hätte mich Ihnen nicht so anvertraut. Lachen Sie nicht über +mich, und auch nicht über Tantchen. Morgen werden wir getraut. Tantchen +ist froh, daß sich ein guter Mensch gefunden hat, der mich ohne Mitgift +nimmt. Heute hab’ ich ihn mir zum erstenmal aufmerksam angesehen. Er +ist, glaube ich, ein guter Kerl. Man läßt mir keine Zeit. Leben Sie +wohl, leben Sie wohl ... Mein Liebling Sie!! Denken Sie manchmal auch an +mich, ich – ich werde Sie nie vergessen. Leben Sie wohl! Ich +unterschreibe diesen letzten Brief wie meinen ersten ... wissen Sie +noch? + + Tatjana. + +(Im zweiten Brief steht folgendes:) + +Iwan Petrowitsch! + +Morgen erhalten Sie neue Galoschen. Ich bin nicht gewohnt, fremdes +Eigentum aus fremden Taschen hervorzuholen, und ebensowenig ist es meine +Art, allerlei Fetzen auf den Straßen aufzusammeln. + +Jewgenij Nikolajewitsch wird in den nächsten Tagen nach Ssimbirsk +reisen, im Auftrage seines Großvaters, für den er dort einiges erledigen +soll, und da hat er mich denn gebeten, ihm zu einem Reisegefährten zu +verhelfen. Wollen Sie nicht? + + + + + Fußnoten + + +[1] Bei Petersburg. E. K. R. + +[2] Der Petersburger nimmt seine Hauptmahlzeit um 6 bezw. 7 Uhr +nachmittags ein. E. K. R. + +[3] Stadtteil von Petersburg. + +[4] Vorort von Petersburg. E. K. R. + +[5] „Verstand schafft Leiden“. E. K. R. + + + Anmerkungen zur Transkription + +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen +Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und +Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert +nach: + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. + Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band + R. Piper & Co. Verlag, München, 1920. + Siebentes bis zwölftes Tausend + +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen +Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den +ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, +Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt +nach der Titelseite eingefügt. + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen +(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von +Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. + +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der +Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben +„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht +(nicht verwendete Varianten in Klammern): + + Newskij (Newski) + Petjä (Petja) + Ssergejeff (Sergejeff) + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 246]: + ... ihn rückwärts auf Bett und begann ihn, wie man ... + ... ihn rückwärts aufs Bett und begann ihn, wie man ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 *** diff --git a/75698-h/75698-h.htm b/75698-h/75698-h.htm new file mode 100644 index 0000000..98769f9 --- /dev/null +++ b/75698-h/75698-h.htm @@ -0,0 +1,14953 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Sämtliche Werke 15: Helle Nächte | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Sämtliche Werke 15: Helle Nächte" --> + <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" --> + <!-- TRANSLATOR="E. K. 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M. Dostojewski: Sämtliche Werke +</p> + +<p class="ed"> +<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski</span><br> +<span class="line2">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span> +</p> + +<p class="trn"> +Übertragen von E. K. Rahsin +</p> + +<p class="division"> +Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="aut"> +F. M. Dostojewski +</p> + +<h1 class="title"> +Helle Nächte +</h1> + +<p class="subt"> +Vier Novellen +</p> + +<div class="centerpic logo"> +<img src="images/logo.jpg" alt=""></div> + +<p class="pub"> +<span class="line1">R. Piper & Co. Verlag, München, 1920</span> +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="impr"> +R. Piper & Co. Verlag, München, 1920<br> +Siebentes bis zwölftes Tausend +</p> + +<p class="cop"> +Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,<br> +Verlag in München +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="toc" id="part-1"> +<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a> +Inhalt +</h2> + +</div> + +<div class="table"> +<table class="toc"> +<tbody> + <tr> + <td class="col1">Einleitung</td> + <td class="col_page"><a href="#page-VII">VII</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Vorbemerkung</td> + <td class="col_page"><a href="#page-XV">XV</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Helle Nächte</td> + <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Das junge Weib</td> + <td class="col_page"><a href="#page-99">99</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Ein schwaches Herz</td> + <td class="col_page"><a href="#page-243">243</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Ein Roman in neun Briefen</td> + <td class="col_page"><a href="#page-317">317</a></td> + </tr> +</tbody> +</table> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-2"> +<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a> +Dostojewski, Petersburg und die +Schönheit der Stadt +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> hellen Nächte sind die Lyrik des Nordens. In ihrem +Lichte, in der geisternden Unwirklichkeit des finnischen +Sumpfes, dort, wo Norden und Osten sich treffen, hat Peter +seine Stadt gegründet. Und in dem Od dieser Stadt hat +Dostojewski seine Menschen gesehen, Petersburger Menschen, +die in dem Widerspruche leben müssen, daß sie +als Russen wirkliche und als Europäer unwirkliche Menschen +sind. Es ist nicht das Licht des reinen Nordens, das +vom Pol kommt und in der Arktis seine harten elektrischen +Phänomene empfängt. Es ist nicht das mythische Licht +der Edda, in dem die Gestirne wie Runen am Himmel +stehen und unter dem von einem großen Magus das Buch +von der Welt aufgeschlagen wurde. Es ist auch nicht das +Licht jener klaren dualistischen Nacht, in der Kant den +bestirnten Himmel über ihm und das moralische Gesetz +in ihm in Ehrfurcht bewundern lernte. Es ist vielmehr +die Macht der finnischen Zauberer, die Kalews Söhne +durchbrachen und in der Wanemuine sang: das Licht einer +weicheren Helle, in der die Fläche der unendlichen Steppe +zwischen Kaukasus und Skandinavien gen Norden zurückgeschlagen +wurde. Es ist das Stadtlicht einer Halbhelle, in +der die Menschen unsicher gehen, wie Schatten auftauchen, +wie Schatten verschwinden, ohne Willen, wie ihn nur einmal +Peter an dieser Stelle hatte, aber dafür mit einer äußersten +Verinnerlichung, die Dostojewski hier in einer schrecklichen +alltäglichen strindbergischen Wirklichkeit aufdeckte. +</p> + +<p> +Der erste Eindruck von Petersburg ist die Häßlichkeit +seiner Menschen. Die finnische Urbevölkerung scheint in +<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a> +grauen und unscheinbaren Verkümmerungen fortzuleben. +Die Verbindung zu einer neuen Stadtrasse mißlang und +in zweihundertjähriger Großstadtinzucht wurde ein Bastardgeschlecht +erzeugt, das in der Luft feuchter Stuben +in naturlosem Nebelleben vollends verdarb. Dieser Eindruck +wird noch gesteigert durch den Gegensatz, daß so +viel fade und verdächtige Hübschheit sich hineinmischt, +Schönheit, die aus polnischer, grusinischer und wer weiß +welcher orientalischen Rasse stammt und hier auf ihren +verweichlichten Rest zurückgeführt wurde: Schönheit ganz +kleiner spitzer glatter Züge, die doppelt widerlich am +Manne ist und über die auch der selbstgefällige Bart +eines Würdenträgers nicht hinwegzutäuschen vermag. +Wohl sieht man auch Erscheinungen: sieht Rasse zwischen +Entrassung. Im Wagen oder Schlitten fährt eine glücklichere +Gesellschaft vorüber, die in russischer Ungebundenheit +gepflegteste Westlichkeit nachahmt. Doch die Menge +ist ohne Bodenständigkeit, haltlos in sich, und auf den +Straßen sieht man allenthalben diese leidenden Menschen +mit dem Ausdruck von Krankheit, Verlebtheit, Verbrechen: +Menschen, denen man alle Laster zutraut, worunter +Spitzeltum und Bestechlichkeit, als die amoralischen +Grundlagen der russischen Gesellschaft wie des +russischen Staates im Volke, noch die gewöhnlichsten +und von beinahe bürgerlicher Selbstverständlichkeit sind. +Nirgendwo sonst gibt es diese mageren rachitischen Gestalten, +diese fahlen hektischen Gesichter, verkümmert +durch Not oder durch Ausschweifung, diese zweideutigen +Mienen von Winkel- oder Kellermenschen, diesen Zug +eines schlechten und doch gleichgültigen Gewissens auf +einem gestempelten Gesicht. Abgearbeitetes und schlechtentlohntes +<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a> +Beamtentum mischt sich mit einer mißverstandenen +und übertriebenen Halbwelteleganz. Verkommene +sind da, von denen man nicht weiß, ob es +Schwärmer sind, Ideologen in Entsagung, oder Zuchthäusler +in Scheuheit und Frechheit zugleich. Es ist ein +Fluch über dieser Stadt: Erbe einer großen Bestimmung +auf unsicherem Grunde zu sein, in Entwurzelung und +Ziellosigkeit, Erbe des petrinischen Irrtums und Verhängnisses, +daß es in Rußland nie eine petrinische +Nachfolge in Ebenbürtigkeit geben sollte. Doch immer +wieder warf das Land seine Menschen in diese Stadt, +Bauern, die hier zu Industriearbeitern wurden, Popensöhne, +die als Nihilisten anfingen, um als Kanzlisten +zu enden. Man glaubt sie noch herauszukennen, diese +Generation der zuletzt Angekommenen. Und an einem +Soldaten, an einem Dwornik, oder an diesen herrlichen +Kutschern mit den prallen Pelzröcken, diesen steifen +ausgestopften breitbärtigen Riesenpuppen, die mit der +Würde von Königen die Gesellschaft über den Newskij +fahren, erkennt man plötzlich, was Rasse auch hier ist, +großrussische Rasse, tatarische Rasse, volklich, eigentümlich, +ursprünglich, dort hinten, um Moskau, weit in +Rußland. +</p> + +<p> +In dieser belasteten und verdorbenen, dieser unfertigen +und doch schon frühalten Stadtbevölkerung, die +Peter aufeinander angewiesen hatte und die seitdem +von dem Staate in einer fahrlässigen und doch wieder +großzügigen Ordnung zusammengehalten wurde, während +sie selbst vorwiegend durch Betrug mit sich und +dem Staate auskam – in ihr entdeckte Dostojewski +den Menschen. Puschkin und Lermontoff hatten den +<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a> +romantischen Helden entdeckt, den byronischen Jüngling +mit skeptischen und ironischen, aber auch mit heroischen +und enthusiastischen Zügen, der freilich der Gesellschaft, +nicht dem Volke angehörte, und hatten ihn mit Gestalten +der Nation, der Sphären der Armee und Beamtenschaft, +der Kleinbürger und Bauern nur umgeben. Dostojewski +dagegen entdeckte den seelischen Menschen, die Tragödie +der Unscheinbarkeit, die im Unbemerkten, in einem +Mensch-für-sich-sein dahinlebte, und entdeckte, daß er +voll von rührenden oder erschütternden inneren Werten +war. Er tat es moralisch, mit einer leisen Beinote des +Sozialen, in seinen Jugendwerken, von den „Armen +Leuten“ bis zu den „Erniedrigten und Beleidigten“, und +schließlich religiös, nachdem ihn seine sibirische Zeit mit +den Ausgestoßenen dieser Gesellschaft und dieses Staates +zusammengebracht und er selbst im Dulden die Erlösung +von allen russischen und petersburgischen Leiden erlebt +hatte, in den Heilandgestalten seiner großen Romane. +Er tat es wohl auch humoristisch, indem er zu der Allmenschlichkeit, +mit der er diesen Leiden in Güte begegnete, +die behäbige oder verdrehte Allzumenschlichkeit +fügte, die versöhnend in den Menschen selbst lag, oder +die er hineinlegte. Und er tat es schließlich lyrisch, mit +einer Behutsamkeit der tiefen Empfindung, aber auch +der schwebenden Form, indem er die beseligte und beseligende +Schönheit offenbar machte, die ihr Leben in +der Armut seiner Geschicke und in der Häßlichkeit seiner +Umgebung von innen erleuchtete. Die Menschen selbst +wurden schön. Mädchen wurden reizend. Jünglinge +erhielten, obwohl sie Petersburger blieben, frische Knabenhaftigkeit +zurück. Und ein paar Alte bekamen die +<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a> +würdige Schönheit von Philemon und Baucis. Es war +nicht klassische, nicht romantische Schönheit, sondern russische +und seelische Schönheit, die sich von dem Nerv +der Gefühle unmittelbar auf die Linie des Körpers übertrug, +auf die Farbe des Ausdrucks, auf die Liebenswürdigkeit +der Gestalt. Es war nicht moralische Schönheit +im Sinne Kants, der aus der Schönheit eine Tugend +gemacht hatte, jenes immer etwas umständliche Symbol +des Sittlich-Guten, das man erst mit dem Verstande +erfassen muß, ehe man es am Menschen entdecken kann. +Es war eine ganz persönliche Schönheit, ohne Umwege, +ohne Symbolik, in sich selber kniend, eingeboren in +Worten und Handlungen. +</p> + +<p> +Zugleich entdeckte Dostojewski die Schönheit von Petersburg. +Puschkin hatte ihr Pathos besungen, die Stadt +des ehernen Reiters, die Nadel der Admiralität, den +Granit der Newakais, die schreckende Nähe der Peterpaulsfeste, +in deren Kirche die Romanoffs ruhen, der +kriegerischen Stätte, deren Kanonen alle Ereignisse in +der Dynastie und die Taten des Heeres donnernd über +den Fluß verkündeten. Petersburg war immer schön, +solange es petrinisch blieb. Aber zwischen Puschkin und +Dostojewski lag die Entwicklung von der Residenz, die +auch in ihren Furchtbarkeiten und Geheimnissen noch +vornehm war, zu der grauen und grausamen Großstadt, +in der die Menge die weiten Straßenzüge und +hohen Mietshäuser zu füllen begann. Nun mußte die +weiße Magie der Natur, atmosphärisches Licht und vibrierende +Stimmung, die Schönheit des Alltags ersetzen, +die Dostojewski, je länger er in ihr lebte, um so stärker +empfand. Er hat Petersburg wohl auch mit harten, +<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a> +mit verfluchenden Worten bedacht. Aber er hat die Stadt +doch immer wieder geliebt, ja die Liebe zu ihr, die Tatsache, +daß er sie lieben konnte, teilte sich ihr selbst mit, +wurde durch ihn zur Schönheit an ihr. Es war nicht ihr +Stil, den er an ihr so liebte. Er scheint ihn gar nicht gekannt, +gar nicht bemerkt zu haben. Dostojewskis Liebe +zu Petersburg war unarchitektonisch, rein sensibel. Die +majestäthaften Baulichkeiten, die immer der Ruhm der +Zaren in dieser Stadt bleiben, werden niemals erwähnt, +und nichts deutet darauf hin, daß er überhaupt wußte, +daß Petersburg die Stadt eines großartigen Klassizismus +und großer Klassizisten, der Sacharoff und Woronichin +ist. Aber Dostojewski hat dafür jedes einzelne Haus +geliebt und geliebkost. Er scheint mit allen vertraut und +befreundet gewesen zu sein, und mit den unscheinbarsten +am innigsten. An einer besonders schönen Stelle der +„Hellen Nächte“ schildert er einmal, ganz in der treuherzigen +Weise bunter russischer Märchen, wie in einer +Straße, durch die ihn sein Weg des öfteren führt, jedes +einzelne Haus vortritt und ihm sein neuestes Schicksal +erzählt. Es war mit den Häusern von Petersburg wie +mit den Menschen bei Dostojewski. Er belebte die Häuser +menschlich, gab ihnen eine seelische Schönheit, wie es +seelische Leidenschaften waren, in denen er seine Menschen +leben ließ. Man empfindet diese Geistigkeit doppelt, +wenn einmal, wie es in der Erzählung von dem „jungen +Weibe“ geschah, südliche und sinnliche Schönheit, südliche +und sinnliche Leidenschaft, wenn Menschen von +Südrußland, von der Wolga, vom Schwarzen Meere sich +in dieses Nebelland und in diese Nebelstadt verirren. +Dann verbindet sich der Mythe die Kabbala, und der +<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a> +Dithyrambos einer dunkleren Romantik klingt in die +helle Lyrik dieser nordisch-phantastischen Überwirklichkeit. +Dann wird Petersburg zu Rußland, und auf den Straßen, +die zu seiner Hauptstadt führen, ziehen seine Völker heran, +um sich in dieser einsamen grausamen frierenden Schönheit +von Petersburg zu verlieren, die sie mit ihrem +kalten Lichte aufnimmt und die doch eine so innige +Schönheit ist, daß ihr Dichter die Häuser und die Herzen +mit der gleichen Liebe umfangen kann. +</p> + +<p class="sign"> +M. v. d. B. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-3"> +<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a> +Vorbemerkung +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Band enthält die drei kürzeren Petersburger Novellen, +die Dostojewski nach dem großen Erfolge der +„Armen Leute“ zu Ende der vierziger Jahre geschrieben +hat und die in der literarischen Zeitschrift „Vaterländische +Annalen“ erschienen. +</p> + +<p> +Dem Bande ist eine kleine Halbhumoreske „Ein Roman +in neun Briefen“ hinzugefügt, die in der Zeit der „Hellen +Nächte“ mit entstand: als das erste Stück Prosa mit komischem +Unterton, in dem sich Dostojewski versuchte, und +das so hinüberleiten mag zu seiner nächsten größeren +Arbeit, dem Humoreskenroman „Das Gut Stepantschikowo“, +den der folgende Band der Ausgabe bringt. +</p> + +<p class="sign"> +E. K. R. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-4"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +Helle Nächte +</h2> + +</div> + +<p class="subt"> +Ein empfindsamer Roman +aus den Erinnerungen eines Träumers +</p> + +<div class="epi"> +<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a> +<p class="noindent"> +„... Oder ward er nur erschaffen, um eine kleine Weile lang Deinem +Herzen nah zu sein? ...“ +</p> + +<p class="attr"> +Iwan Turgenjeff. +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-1"> +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +Die erste Nacht. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">s</span> war eine wundervolle Nacht – eine Nacht, wie +wir sie vielleicht nur sehen, wenn wir jung sind, mein +lieber Leser. Der Himmel war so tief und nachthell, +daß man sich bei seinem Anblick unwillkürlich fragen +mußte, ob denn wirklich unter einem solchen Himmel +böse und launische Menschen leben können? Das ist +nun freilich eine Frage, auf die man nur in jungen +Jahren verfallen kann, nur in sehr jungen sogar, mein +lieber Leser! Doch möge der Herr sie öfter in Ihrer +Seele erwecken! ... Während ich noch in dieser Weise +an die verschiedensten Menschen dachte, mußte ich mich +unwillkürlich auch meiner eigenen löblichen Aufführung +an diesem Tage erinnern. Schon vom Morgen an +hatte mich eine wunderliche Stimmung bedrückt. Ich +hatte die Empfindung, daß ich, der ohnehin Einsame, +von allen verlassen wurde, daß alle sich von mir zurückzogen. +Natürlich hat jetzt ein jeder das Recht, mich zu +fragen: ja, wer sind denn diese „alle“? Lebe ich doch +bereits das achte Jahr in Petersburg und habe trotzdem +noch so gut wie keine einzige Bekanntschaft zu machen +verstanden. Wozu brauchte ich auch Bekannte? +Ich bin sowieso schon mit ganz Petersburg bekannt. +Eben deshalb schien es mir aber, als ob alle mich verließen, +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +als ob sich jetzt ganz Petersburg aufmachte, um +in die Sommerfrische zu gehen. Mir wurde es fast unheimlich, +allein zu bleiben, und drei Tage lang strich +ich tief bekümmert in der Stadt umher, entschieden unfähig +zu begreifen, was in mir vorging. Auf dem +Newskij, im Sommergarten, an den Kais war kein +einziges von den Gesichtern zu sehen, denen ich tagtäglich +zu bestimmter Stunde an derselben Stelle zu begegnen +pflegte. Die Betreffenden kennen mich natürlich +nicht, aber ich – ich kenne sie. Ich kenne sie sogar +ganz genau: ich habe ihre Physiognomien studiert +und freue mich, wenn sie froh sind, und fühle mich verstimmt, +wenn sie betrübt sind. Ja ich kann sogar sagen, +daß ich einmal fast eine Freundschaft geschlossen hätte: +das war mit einem alten kleinen Herrn, dem ich jeden +Tag, den Gott werden ließ, zur selben Stunde an der +Fontanka begegnete. Er hatte eine so wichtige, nachdenkliche +Miene und sein Unterkiefer bewegte sich immer, +ganz so als kaue er etwas, der linke Arm schlenkerte +ein wenig und in der rechten Hand hatte er einen +langen Knotenstock mit einem goldenen Knopf. Auch +er hatte mich bemerkt und nahm seitdem innigen Anteil +an mir. So bin ich überzeugt, daß er, wenn er mich +einmal nicht zur gewohnten Stunde an der gewohnten +Stelle der Fontanka treffen sollte, sich gleichfalls entschieden +verstimmt fühlen würde. Deshalb fehlte denn +auch nicht viel, daß wir uns grüßten, namentlich wenn +wir beide bei guter Laune waren. Vor kurzem noch, als +wir uns ganze zwei Tage nicht gesehen hatten und dann +einander am dritten Tage begegneten, hätten wir schon +beinahe an die Hüte gegriffen, besannen uns aber zum +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +Glück noch rechtzeitig, ließen die Hände sinken und gingen +mit sichtlich anteilnehmender Zuvorkommenheit aneinander +vorüber. +</p> + +<p> +Ich bin auch mit den Häusern bekannt. Wenn ich +so gehe, dann ist es, als laufe jedes, sobald es mich erblickt, +ein paar Schritte aus der Front und sehe mich +aus allen Fenstern an und sage gewissermaßen: „Guten +Tag, hier bin ich! und wie geht es Ihnen? Auch ich +bin, Gott sei Dank, ganz frisch und munter, aber im +Mai wird man mir noch ein Stockwerk aufsetzen.“ +Oder: „Guten Tag! Wie geht’s? Denken Sie sich, ich +werde morgen neu angestrichen!“ Oder: „Bei mir +gab’s Feuer und ich wäre um ein Haar niedergebrannt +– ich habe mich dabei so erschreckt!“ Und so +weiter: in dieser Art. Unter ihnen habe ich natürlich +meine Lieblinge, sogar gute Freunde. Eines von ihnen +will sich in diesem Sommer von einem Architekten operieren +lassen – umbauen, und ähnliches. Werde da +unbedingt täglich hingehen, damit man mir den Freund +nicht etwa vollkommen umbringt! Gott behüte ihn +davor! ... Doch niemals werde ich die Geschichte +mit dem einen kleinen allerliebsten hellrosa Häuschen +vergessen! Es war das solch ein reizendes Häuschen, +so freundlich sah es mich immer an und so stolz war +es auf seine Reize unter den plumpen Nachbarn, daß +mein Herz jedesmal lachte, wenn ich an ihm vorüberging. +Plötzlich, in der vorigen Woche, wie ich in die +Straße einbiege und nach meinem kleinen Liebling hinsehe +– höre ich ein jammervolles Wehklagen: „Man +tüncht mich gelb!“ Diese Barbaren! Diese Bösewichter! +Nichts hatten sie verschont. Weder die Pfeiler +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +noch die Karniese! Mein kleiner Freund war in der +Tat gelb wie ein Kanarienvogel. Ich war nahe daran, +vor Ärger selbst die Gelbsucht zu kriegen, so gallig +machte mich der Fall, und bis jetzt bin ich noch +nicht imstande gewesen, ihn wiederzusehen, meinen entstellten +armen Kleinen, den die Unbarmherzigen in +der Farbe des Reichs der Mitte angestrichen haben. +</p> + +<p> +Also folglich – jetzt begreifen Sie wohl, mein +verehrter Leser, auf welche Weise ich mit ganz Petersburg +bekannt bin. +</p> + +<p> +Ich sagte bereits, daß mich volle drei Tage eine +seltsame Unruhe quälte, bis ich endlich ihre Ursache +erriet. Auf der Straße fühlte ich mich nicht wohl (der +eine war nicht zu sehen, der andere nicht, der dritte +und vierte auch nicht – „wo mag wohl jener geblieben +sein?“) – und auch zu Hause fühlte ich mich so anders, +daß ich mich selbst kaum wiedererkannte. Zwei +Abende versuchte ich vergeblich, zu ergründen, was mir +nun eigentlich in meinen vier Wänden fehlen mochte. +Warum fühlte ich mich mit einem Male so unbehaglich +im Zimmer? Prüfend schaute ich mir meine grünen, +verräucherten Wände an, musterte die Decke, an der +Matrjona mit großem Erfolge das Spinngewebe behütete, +besah mir meine Einrichtung, insbesondere jeden +Stuhl, und fragte mich in Gedanken, ob nicht +hier der Grund liege (denn wenn bei mir auch nur +ein Stuhl nicht so steht, wie er gestern stand, dann bin +ich nicht mehr ich selbst). Ich blickte nach dem Fenster +– doch alles war umsonst ... mir ward deshalb +nicht leichter zumute! Ja ich kam sogar auf den Gedanken, +Matrjona zu rufen und ihr in väterlichem +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Tone einen gelinden Vorwurf wegen des Spinngewebes +und der allgemeinen Vernachlässigung zu machen; +aber sie sah mich nur verwundert an und ging fort, +ohne ein Wort zu erwidern, so daß das Spinngewebe +auch jetzt noch wohlbehalten an der Decke hängt. Erst +heute morgen erriet ich endlich, um was es sich handelte. +Also: sie zogen ja alle in die Sommerfrische +und ließen mich im Stich! – das war’s: sie kniffen +aus! Verzeihen Sie das triviale Wort, aber es war +mir in dem Augenblick nicht um einen klassischen Ausdruck +zu tun ... Es hatte doch wirklich alles, was in +Petersburg lebte, die Stadt bereits verlassen, oder verließ +sie noch täglich und stündlich. Wenigstens verwandelte +sich in meinen Augen jeder ältere Herr von solidem +Äußeren, der sich in eine Droschke setzte, in einen +ehrwürdigen Familienvater, der nach den alltäglichen +Geschäften in der Stadt hinausfuhr, um den Rest des +Tages im Schoße seiner Familie zu verbringen. Jeder +Mensch auf der Straße hatte jetzt ein völlig anderes +Aussehen, eines, das jedem etwa sagen zu wollen +schien: „Wir sind ja nur so, sind nur noch kurze Zeit hier, +in zwei Stunden bereits fahren wir hinaus ins Grüne!“ +Oder öffnete sich ein Fenster, an dessen Scheiben +zuerst schlanke, weiße Fingerchen getrommelt, und +beugte sich das hübsche Köpfchen eines jungen Mädchens +hinaus, um den Blumenhändler herbeizurufen, +– da stellte ich mir vor, daß diese Blumen auch „nur +so“ von ihr gekauft wurden und durchaus nicht deshalb, +um sich an diesem Blumentopf mit den paar +Knospen und Blüten wie an einem Stück Frühling +in der dumpfen Stube zu erfreuen, und daß sehr bald +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +alle die Stadt verlassen und auch die Blumen mitnehmen +würden. Doch damit noch nicht genug, ich +machte vielmehr in meinem neuen Entdeckerberuf solche +Fortschritte, daß ich bald schon allein nach dem +Äußeren unfehlbar festzustellen vermochte, welchen +Villenort ein jeder gewählt hatte. Die Bewohner der +fashionablen Inseln<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> oder der Villen an der Peterhofstraße +zeichneten sich durch auserlesene Eleganz sowohl +im Gang und in jeder Geste, wie in den Sommerkostümen +und Hüten aus und besaßen prachtvolle Equipagen, +in denen sie zur Stadt gefahren kamen. Die +Einwohner von Pargolowo und dort weiter hinaus +„imponierten“ einem auf den ersten Blick durch ihre +vernünftige Gediegenheit, und die von der Krestowskij-Insel +durch ihre unverwüstlich heitere Gemütsverfassung. +Traf es sich, daß ich einer langen Prozession +von Frachtfuhrleuten begegnete, die, die Leine in der +Hand, gemächlich einhertrotteten ... neben ihren hochbeladenen +Lastwagen, auf denen ganze Berge von Tischen, +Betten, Stühlen, türkischen und nichttürkischen +Diwans schaukelten und auf deren Gipfel oft noch +eine Küchenfee mit etwas verzagten Mienen thronte, +oder auch, wenn sie sich sicherer fühlte, das herrschaftliche +Gut mit Argusaugen bewachte, damit nur ja +nichts unterwegs verloren ginge, – oder sah ich auf +der Newa oder der Fontanka ein paar mit Hausgerät +beladene Boote nach den Inseln oder stromaufwärts +nach der Tschornaja-rjetschka ziehen, – die +Boote wie die Fuhren verzehn-, verhundertfachten sich +in meinen Augen –: so schien es mir, als mache alle Welt +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +sich auf und ziehe in Karawanen hinaus, und als verwandle +Petersburg sich in eine Wüste, so daß ich mich +zu guter Letzt entschieden beschämt und gekränkt fühlte, +und natürlich auch betrübt, denn nur ich allein hatte +keine Möglichkeit und wohl auch keinen Grund, in +die Sommerfrische hinauszuziehen. Und doch war ich +bereit, auf jeden Lastwagen zu springen, mit jedem +Herrn, der sich in eine Droschke setzte, mitzufahren; +aber nicht einer von ihnen, kein einziger forderte mich +dazu auf. Es war, als hätten sie mich plötzlich alle vergessen, +als wäre ich ihnen allen im Grunde doch vollkommen +fremd. +</p> + +<p> +Ich spazierte oft und lange umher, so daß ich meiner +Gewohnheit gemäß wieder einmal vergessen hatte, +wo ich eigentlich ging, bis ich mich schließlich an der +Stadtgrenze fand. Da ward mir im Augenblick fröhlich +zumute und ich trat hinter den Schlagbaum und ging +weiter zwischen den besäten Feldern und Wiesen, ohne +Müdigkeit zu verspüren, fühlte aber, daß mir eine Last +von der Seele genommen wurde. Alle, die an mir vorüberfuhren, +sahen mich so freundlich an, daß es fast +wie ein Gruß war; alle schienen sie über irgend etwas +froh zu sein. Und auch ich wurde so froh, wie ich noch +nie in meinem Leben gewesen ... +</p> + +<p> +Ganz als befände ich mich plötzlich in Italien – +so mächtig wirkte die Natur auf mich, den halbkranken +Städter, der zwischen den Häusermauern fast schon +erstickt war. +</p> + +<p> +Es liegt etwas unsagbar Rührendes in unserer +Petersburger Natur, wenn sie im Frühling erwacht +und plötzlich ihre ganze Macht offenbar und alle ihre +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +vom Himmel verliehenen Kräfte entfaltet: wenn sie +sich mit jungem weichem Laub umhüllt und mit bunten +Blumen und zarten Blüten schmückt ... Dann erinnert +sie mich unwillkürlich an ein sieches Mädchen, auf +das man zuweilen mit Bedauern, zuweilen mit einer +seltsam mitleidigen Liebe blickt oder das man zuweilen +auch überhaupt nicht bemerkt, das dann aber +plötzlich, auf einen Augenblick und ganz unverhofft, +nahezu märchenhaft schön wird, so schön, daß man bestürzt +und berauscht vor ihr steht und sich verwundert +fragt: welche Macht hat in ihren traurigen, verträumten +Augen dieses Leuchten erweckt? Was hat das Blut +in ihre bleichen abgezehrten Wangen getrieben und +läßt nun diese zarten Züge tiefe Leidenschaft widerspiegeln? +Weshalb hebt sich ihre Brust? Was hat so +plötzlich Kraft, Leben und Schönheit in das Antlitz des +armen Mädchens gebracht, daß es in süßem Lächeln erglänzt +und zu sprühendem Lachen fähig wird? Und +man sieht sich im Kreise um, man sucht jemand, man +beginnt zu ahnen, zu erraten ... Doch der Augenblick +ist vergänglich und vielleicht morgen schon werden +wir wieder dem zerstreuten, verträumten Blick +begegnen, wie früher, und werden wieder das blasse +Gesicht wahrnehmen und dieselbe Ergebung und +Schüchternheit in den Bewegungen und sogar so etwas +wie Reue, sogar Spuren eines lähmenden Kummers +und Ärgers über dieses kurze Aufleben ... Und es +tut einem leid, daß die Schönheit so schnell und unwiderruflich +verwelkt ist, daß sie so trügerisch und vergeblich +vor einem geleuchtet hat – leid, weil man +nicht einmal Zeit gehabt, sie liebzugewinnen ... +</p> + +<p> +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Und doch war meine Nacht noch schöner als der +Tag. +</p> + +<p> +Ich kehrte erst spät in die Stadt zurück und es +schlug bereits zehn, als ich mich meiner Wohnung +näherte. Mein Weg führte am Kanal entlang, wo zu +dieser Stunde gewöhnlich keine lebende Seele zu sehen +ist. Freilich lebe ich auch in einem sehr stillen entlegenen +Stadtteil. Ich ging und sang, denn wenn ich +glücklich bin, muß ich unbedingt irgend etwas vor mich +hinsummen, wie eben jeder glückliche Mensch, der weder +Freunde noch gute Bekannte hat, noch einen Menschen, +mit dem er seine frohen Augenblicke teilen kann. +Da nun, in dieser Nacht, hatte ich plötzlich ein überraschendes +Abenteuer. +</p> + +<p> +Nicht weit vor mir erblickte ich eine Gestalt in +Frauenkleidern: sie stand und stützte die Ellbogen auf +das Geländer des Kais und sah, wie es schien, aufmerksam +in das trübe Wasser des Kanals. Sie trug +ein entzückendes gelbes Hütchen und eine kokette kleine +schwarze Mantille. „Das ist ein junges Mädchen und +sicherlich ist sie brünett,“ dachte ich. Sie schien meine +Schritte nicht zu hören, denn sie rührte sich nicht, als +ich langsam mit angehaltenem Atem und laut pochendem +Herzen an ihr vorüberging. „Sonderbar!“ dachte +ich, „jedenfalls muß sie ganz in Gedanken versunken +sein“ – und plötzlich zuckte ich zusammen und blieb +wie gebannt stehen: ich hörte dumpfes Schluchzen ... +Ja! ich täuschte mich nicht: das junge Mädchen weinte +– nach einer Weile klang es wieder wie ein Aufschluchzen, +und dann wieder. Mein Gott! Das Herz +krampfte sich mir zusammen. Wie befangen ich auch +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +sonst Frauen gegenüber bin, diesmal – es waren aber +auch so seltsame Umstände! ... Kurz, ich entschloß +mich im Augenblick, trat auf sie zu und – würde unbedingt +„Meine Gnädigste!“ gesagt haben, wenn ich +nicht gewußt hätte, daß diese Anrede in allen russischen +Romanen, die die höheren Gesellschaftskreise +schildern, mindestens tausendmal vorkommt. Das allein +hielt mich davon ab. Doch während ich noch nach einer +passenden Anrede suchte, kam das junge Mädchen wieder +zu sich, sah sich um, erblickte mich, schlug die Augen +nieder und huschte an mir vorüber. Ich folgte ihr +sogleich, was sie jedoch zu fühlen schien, denn sie verließ +den Kai, überschritt die Straße und ging auf dem +anderen Trottoir weiter. Ich wagte nicht, ihr dorthin +zu folgen. Mein Herz zitterte wie einem gefangenen +Vogel. Da kam mir ein Zufall zu Hilfe. +</p> + +<p> +Auf jenem Trottoir tauchte plötzlich in der Nähe +meiner Unbekannten ein Herr auf – ein Herr in +zweifellos soliden Jahren, jedoch mit einer Gangart, +die sich nicht gerade als solid bezeichnen ließ. Er ging +wankend und stützte sich mitunter an die Häuser. Das +junge Mädchen schritt indes gesenkten Blicks weiter, +ohne sich umzusehen, und so schnell, wie es alle jungen +Mädchen tun, die nicht wünschen, daß jemand +sich ihnen nähere und sich erbiete, sie in der Nacht nach +Hause zu begleiten. Der wankende Herr hätte sie auch +niemals eingeholt, wenn er nicht mit einer gewissen +Schlauheit auf etwas Nichtvorherzusehendes verfallen +wäre: ohne ein Wort oder einen Anruf, raffte er +sich nämlich plötzlich auf und lief ihr möglichst leise +nach. Sie ging wie der Wind, doch der Herr kam ihr +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +schnell näher und holte sie ein – das Mädchen schrie +auf, und ... ich dankte dem Schicksal für den Rohrstock, +den ich in meiner Rechten hielt! Im Augenblick +war ich auf der anderen Seite, im Augenblick begriff +auch der Herr, um was es sich handelte, und die Vernunft +siegte in ihm: er schwieg, trat zurück, und erst als +wir fast schon außer Hörweite waren, protestierte er +in ziemlich energischen Ausdrücken gegen meine Handlungsweise. +Doch wir hörten ihn kaum. +</p> + +<p> +„Nehmen Sie meinen Arm,“ sagte ich zu der Unbekannten, +„dann wird er es nicht mehr wagen, Sie +zu belästigen.“ +</p> + +<p> +Schweigend legte sie ihr Händchen, das von der +Aufregung und dem Schreck noch zitterte, auf meinen +Arm. Oh, du ungerufener Herr! Wie segnete ich dich +in diesem Augenblick! Ich warf einen schnellen Blick +auf meine Begleiterin: sie sah reizend aus und war +brünett, wie ich es mir gleich gedacht hatte. An ihren +dunkeln Wimpern glänzten noch Tränen – ob vom +Schreck oder von dem Kummers, über den sie am Kai +geweint, das lasse ich dahingestellt. Aber ihre Lippen +versuchten schon, zu lächeln. Auch sie sah mich heimlich +an, errötete, als ich es bemerkte, und senkte den Blick. +</p> + +<p> +„Sehen Sie, nun, warum liefen Sie vorhin von +mir fort? Wäre ich bei Ihnen gewesen, so wäre nichts +geschehen ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich kannte Sie doch nicht! Ich dachte, daß +Sie ebenso ...“ +</p> + +<p> +„Ja, kennen Sie mich denn jetzt?“ +</p> + +<p> +„Ein wenig. Aber – weshalb zittern Sie?“ +</p> + +<p> +„Oh, da haben Sie gleich alles erraten!“ versetzte +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +ich entzückt, denn ich glaubte aus ihrer Bemerkung +entnehmen zu dürfen, daß sie, die so schön war, auch +klug war. „Wie Sie gleich auf den ersten Blick erkennen, +mit wem Sie es zu tun haben! Es ist wahr, +ich bin Frauen gegenüber befangen, und ich leugne auch +nicht, daß ich mich im Augenblick erregt fühle, ebenso +wie Sie vor ein paar Minuten, als jener Herr Sie erschreckte +... Auch ich fühle jetzt so etwas wie einen +Schreck: die ganze Nacht erscheint mir wie ein Traum, +mir, der ich es mir niemals habe träumen lassen, daß +ich jemals in die Lage kommen könnte, mit einem jungen +Mädchen in dieser Weise zu sprechen.“ +</p> + +<p> +„Was? Wirklich?“ +</p> + +<p> +„Mein Wort darauf; und wenn mein Arm jetzt +bebt, so kommt das nur daher, daß er noch nie von +einer so reizenden kleinen Hand, wie die Ihrige, berührt +worden ist. Ich bin jetzt des Umgangs mit Frauen +vollständig ungewohnt; das heißt, ich will damit +nicht etwa sagen, daß ich früher einmal einen solchen +Umgang gewohnt gewesen bin. Nein, ich lebe von jeher +allein und für mich ... Ich weiß nicht einmal, wie +man mit ihnen spricht. Auch jetzt zum Beispiel weiß +ich nicht, ob ich Ihnen nicht irgendeine Dummheit +gesagt habe. Ist das der Fall, so sagen Sie es mir, +bitte, ganz offen. Ich werde es Ihnen nicht übelnehmen +...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil. Und wenn +Sie schon einmal verlangen, daß ich aufrichtig sein +soll, dann will ich Ihnen sagen, daß solche Befangenheit +den Frauen sogar sehr gefällt. Und wenn Sie noch +mehr wissen wollen, dann will ich gleich gestehen, daß +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +sie auch mir gefällt, und ich werde Sie nicht früher +fortschicken, als bis ich bei unserem Hause angelangt +bin.“ +</p> + +<p> +„Sie sind ja so reizend, daß ich gleich meine ganze +Befangenheit verliere,“ rief ich entzückt, „und dann +– lebt wohl alle meine Chancen! ...“ +</p> + +<p> +„Chancen? Was für Chancen, und wozu? Nein, +das gefällt mir nun wieder gar nicht!“ +</p> + +<p> +„Verzeihung, es war mir auch nur so ... entschlüpft, +ganz gegen meinen Willen! Aber wie können +Sie auch verlangen, daß in einem solchen Augenblick +nicht der Wunsch erwachen soll ...?“ +</p> + +<p> +„Zu gefallen etwa?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, versteht sich. Aber seien Sie – oh, um +Gottes willen, seien Sie großmütig! Bedenken Sie, +wer ich bin! Ich bin schon sechsundzwanzig Jahre +alt – und noch habe ich mit keinem Menschen Verkehr +gehabt. Wie sollte ich da plötzlich nach allen Regeln +der Kunst eine Unterhaltung anzuknüpfen verstehen? +Aber Sie werden mich um so besser begreifen, wenn +alles offen vor Ihnen liegt ... Ich verstehe nicht zu +schweigen, wenn das Herz in mir spricht. Nun, gleichviel +... Glauben Sie mir, ich kenne keine einzige +Frau, keine einzige! Ich habe überhaupt keine Bekanntschaft. +Ich träume nur jeden Tag, daß ich endlich +irgend einmal irgendwo doch irgend jemand treffen +und kennen lernen werde. Ach, wenn Sie wüßten, +wie oft ich schon auf diese Weise verliebt gewesen +bin ...“ +</p> + +<p> +„Aber wie denn das, in wen denn?“ +</p> + +<p> +„Ja, in niemand, einfach in ein Ideal, das ich im +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +Traum vor mir sehe. Ich ersinne in meinen Träumen +gewöhnlich ganze Romane. Oh, Sie kennen mich noch +nicht! Doch was sage ich! – natürlich habe ich mit +zwei oder drei Frauen gesprochen, aber was waren +denn das für Frauen? Das waren ja nur solche Wirtinnen, +daß ... Aber ich will Sie lieber fröhlich machen +und Ihnen etwas erzählen: Ich habe schon mehrmals +die Absicht gehabt, so ganz ohne weiteres irgendeine +Aristokratin auf der Straße anzureden. Selbstverständlich, +wenn sie allein ist, und ebenso selbstverständlich +mit aller Ehrerbietung, aber doch mit Bangen, und +um ihr dann voll Leidenschaft zu sagen, daß ich so +allein umkomme, und um sie zu bitten, daß sie mich +nicht fortjage und daß ich sonst keine Möglichkeit habe, +auch nur je irgendeine Frau kennen zu lernen. Ich würde +ihr sagen, daß es sogar die Pflicht jeder Frau sei, +die bescheidene Bitte eines so unglücklichen Menschen, +wie ich einer bin, nicht abzuschlagen. Daß schließlich +alles, um was ich sie bitte, nichts weiter sei, als daß +sie mir erlaube, ihr brüderlich zwei Worte sagen zu +dürfen, daß sie mir nur etwas Teilnahme zeigen und +mich nicht gleich im ersten Augenblick davonjagen solle, +daß sie mir vielmehr aufs Wort glauben und daß +sie anhören möge, was ich ihr zu sagen wünsche, und +sollte sie mich auch auslachen, gleichviel! – aber daß +sie mir wenigstens etwas Hoffnung geben und mir +zwei Worte sagen müsse, nur zwei Worte, damit würde +ich mich zufrieden geben, und sollten wir uns auch nie +wiedersehen! ... Aber Sie lachen ... Übrigens rede +ich ja auch nur deshalb ...“ +</p> + +<p> +„Seien Sie mir nicht böse. Ich lache, weil Sie ja +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +Ihr eigener Feind sind ... wenn Sie es versuchten, +so würde es Ihnen schon gelingen, und wäre +es auch auf der Straße: je einfacher, desto besser. Kein +einziges Mädchen, wenn sie nur nicht schlecht oder +dumm ist oder in dem Augenblick gerade sehr geärgert +über irgend etwas, würde es übers Herz bringen, Sie +fortzuschicken, ohne Ihre zwei Worte anzuhören – +wenn Sie so bescheiden darum bitten ... Doch nein, +was sage ich! Natürlich würde sie Sie für einen Verrückten +halten! Im übrigen habe ich da nach meinem +Empfinden geurteilt. Ich weiß doch auch ein wenig, +wie die Menschen sind.“ +</p> + +<p> +„Oh, ich danke Ihnen,“ rief ich, „Sie wissen nicht, +was Sie mir mit Ihrer Antwort gegeben haben!“ +</p> + +<p> +„Gut, gut! Aber sagen Sie mir, woran haben Sie +es erkannt, daß ich ein Mädchen bin, mit dem man ... +nun, das Sie für würdig halten ... Ihrer Aufmerksamkeit +und Freundschaft ... Mit einem Wort, keine +Hauswirtin, wie Sie sagten ... Warum entschlossen +Sie sich, sich gerade mir zu nähern?“ +</p> + +<p> +„Warum? Warum! Sie waren allein, jener Herr +benahm sich so dreist und jetzt ist es Nacht: da werden +Sie doch zugeben, daß es meine Pflicht war ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, vorher, dort, auf der anderen Seite, +am Kai. Da wollten Sie sich mir doch schon nähern?“ +</p> + +<p> +„Dort, auf jener Seite? Ich weiß nicht, was ich +Ihnen darauf antworten soll ... Ich fürchte ... Ja +sehen Sie, ich war heute so glücklich: ich ging und +sang, ich war draußen vor der Stadt ... ich habe mich +noch nie so glücklich gefühlt. Sie dagegen ... aber +vielleicht schien es mir nur so ... verzeihen Sie, daß +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +ich Sie daran erinnere – es schien mir, daß Sie weinten, +und ich ... ich vermochte das nicht mitanzuhören +... es preßte mir das Herz zusammen ... Mein +Gott, konnte ich Ihnen denn nicht helfen? Durfte ich +nicht Ihren Kummer teilen? War es denn Sünde, +daß ich brüderliches Mitleid mit Ihnen empfand? ... +Verzeihen Sie, ich sagte Mitleid ... Nun gleichviel, +mit einem Wort – konnte es Sie denn beleidigen, +wenn ich da unwillkürlich das Verlangen empfand, +mich Ihnen zu nähern? ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut, hören Sie auf, sprechen Sie nicht +weiter ...“ unterbrach mich das Mädchen. Sie sah +verwirrt zu Boden und ich fühlte, wie ihre Hand +zuckte. „Es ist meine Schuld, daß ich überhaupt davon +anfing. Aber es freut mich, daß ich mich in Ihnen nicht +getäuscht habe ... So, jetzt bin ich gleich zu Hause, +ich muß hierher in die Querstraße, nur noch zwei +Schritte ... Leben Sie wohl, und ich danke Ihnen ...“ +</p> + +<p> +„Ja, sollen wir uns denn wirklich niemals wiedersehen? +... Soll das denn schon das Ende sein?“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie, wie Sie sind!“ sagte sie lachend, „anfangs +wollten Sie nur zwei Worte reden, und jetzt! +... Übrigens will ich nichts verschwören ... Vielleicht +werden wir einander noch begegnen ...“ +</p> + +<p> +„Ich werde morgen wieder hier sein,“ sagte ich +schnell. „Verzeihen Sie, ich fordere bereits ...“ +</p> + +<p> +„Ja, Sie sind recht ungeduldig ... fast fordern +Sie bereits ...“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, hören Sie!“ unterbrach ich sie, „verzeihen +Sie, wenn ich Ihnen wieder irgend so etwas +sage ... Aber sehen Sie: ich kann nicht anders, ich +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +muß morgen hierherkommen. Ich bin ein Träumer, +ich kenne so wenig wirkliches Leben, und einen solchen +Augenblick, wie diesen, erlebe ich so selten, daß es mir +ganz unmöglich wäre, ihn mir in meinen Träumen nicht +immer wieder zu vergegenwärtigen. Von Ihnen werde +ich jetzt die ganze Nacht träumen, die ganze Woche, das +ganze Jahr! Ich werde unbedingt morgen hierherkommen, +gerade hierher, wo wir jetzt stehen, und um dieselbe +Zeit, und ich werde glücklich sein in der Erinnerung +an die heutige Begegnung. Schon jetzt ist mir +diese Stelle hier lieb. So habe ich noch zwei oder drei +andere Stellen in Petersburg, die mir lieb sind. Ich +habe einmal sogar geweint, ganz wie Sie vorhin, als +plötzlich eine Erinnerung in mir erwachte ... Vielleicht +haben Sie heute dort am Kai gleichfalls nur deshalb +geweint, weil eine Erinnerung über Sie kam ... Verzeihen +Sie, ich habe wieder davon gesprochen! Sie +waren dort vielleicht einmal ganz besonders glücklich ...“ +</p> + +<p> +„Nun gut,“ sagte das Mädchen plötzlich, „also hören +Sie: ich werde morgen auch hierherkommen, um +zehn Uhr. Ich sehe, daß ich es Ihnen doch nicht verwehren +kann ... Aber Sie wissen noch nicht, um was +es sich handelt – ich muß nämlich sowieso unbedingt +hierherkommen. Denken Sie deshalb nicht, daß ich Ihnen +ein Stelldichein gebe. Ich muß vielmehr aus einem +ganz besonderen Grunde und in meinem eigenen Interesse +hierherkommen, damit Sie’s wissen. Aber ... +nun gut, ich will ganz aufrichtig sein: es tut nichts, +wenn auch Sie kommen. Erstens könnte es wieder +eine Unannehmlichkeit geben, wenn ich allein bin, +wie heute, aber das ist nicht so wichtig ... Nein, kurz, +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +ich würde Sie gern wiedersehen, um ... um ein paar +Worte mit Ihnen zu sprechen. Nur, sehen Sie, Sie +werden mich doch jetzt nicht verurteilen? Denken Sie +deshalb nicht, daß ich so leicht ein Stelldichein gebe ... +Ich würde es auch nicht tun, wenn nicht ... Nein, das +mag noch mein Geheimnis bleiben! Aber zuvor eine +Bedingung ...“ +</p> + +<p> +„Eine Bedingung?! Sagen Sie, sprechen Sie es +aus – ich bin mit allem einverstanden, bin zu allem +bereit!“ rief ich förmlich begeistert. „Ich stehe für mich +ein – ich werde gehorsam, werde ehrerbietig sein ... +Sie kennen mich –“ +</p> + +<p> +„Gerade deshalb, weil ich Sie kenne, fordere ich +Sie auch für morgen auf,“ sagte das Mädchen lachend. +„Ich kenne Sie bereits ganz genau. Aber wie gesagt, +kommen Sie nur unter einer Bedingung: seien Sie so +gut und erfüllen Sie meine Bitte, ja? Sie sehen, ich rede +ganz offen: Also: daß Sie sich nicht in mich verlieben ... +Das darf nicht geschehen, auf keinen Fall. Zur Freundschaft +bin ich herzlich gern bereit, hier, meine Hand +darauf ... Aber verlieben, nein, nur das nicht, ich +bitte Sie!“ +</p> + +<p> +„Ich schwöre Ihnen,“ rief ich und ergriff ihre +Hand. +</p> + +<p> +„Schon gut, schwören Sie nicht, ich weiß ja doch, +daß Sie fähig sind, sich wie Pulver zu entzünden. Verübeln +Sie es mir nicht, wenn ich Ihnen so etwas sage. +Aber wenn Sie wüßten ... Ich habe auch keinen Menschen, +mit dem ich ein Wort sprechen oder den ich um +Rat fragen könnte. Natürlich sucht man im allgemeinen +seine Ratgeber nicht auf der Straße, aber Sie sind +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +eine Ausnahme. Ich kenne Sie schon so gut, als wären +wir zwanzig Jahre Freunde. Nicht wahr, Sie sind doch +kein Ungetreuer, Sie werden Ihr Versprechen doch +halten? ...“ +</p> + +<p> +„Sie werden sehen, Sie werden sehen ... nur freilich, +wie ich die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben +soll, das weiß ich nicht!“ +</p> + +<p> +„Schlafen Sie so fest wie möglich. Und nun, gute +Nacht – und vergessen Sie nicht, daß ich Ihnen schon +mein Vertrauen geschenkt habe. Aber es war so hübsch, +was Sie vorhin sagten, und Sie haben recht, man kann +einander doch wirklich nicht über jedes Gefühl Rechenschaft +geben, und wenn es auch nur brüderliches Mitgefühl +ist! Wissen Sie, das sagten Sie so lieb, daß +mir sogleich der Gedanke kam, mich Ihnen anzuvertrauen +...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber worin denn?“ +</p> + +<p> +„Morgen sag’ ich’s Ihnen. Bis dahin mag es noch +mein Geheimnis bleiben. Um so besser für Sie: das +Ganze wird so wenigstens wirklich wie ein Roman +aussehen. Vielleicht werde ich es Ihnen schon morgen +sagen, vielleicht aber auch morgen noch nicht ... Ich +werde mit Ihnen vorher noch von anderem sprechen: +wir müssen uns erst näher kennen lernen ...“ +</p> + +<p> +„Oh, was mich betrifft, so erzähle ich Ihnen morgen +meinetwegen alles von mir! Aber was ist das nur? +Mir kommt es vor, als geschehe ein Wunder mit mir ... +Wo bin ich, mein Gott?! So sagen Sie doch, sind Sie +nun wirklich nicht ungehalten darüber, daß Sie mich +nicht gleich zu Anfang fortgeschickt haben? Es waren +nur zwei Minuten: und Sie haben mich für immer +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +glücklich gemacht. Ja, glücklich! Wer weiß, vielleicht +haben Sie mich sogar mit mir selbst versöhnt und alle +meine Zweifel aufgehoben ... Vielleicht habe ich Augenblicke +... Ach nein, morgen erzähle ich Ihnen alles, dann +werden Sie alles erfahren, alles ...“ +</p> + +<p> +„Gut, abgemacht! Und Sie erzählen zuerst.“ +</p> + +<p> +„Einverstanden.“ +</p> + +<p> +„Dann also auf Wiedersehen!“ +</p> + +<p> +„Auf Wiedersehen!“ +</p> + +<p> +Wir trennten uns. Ich lief noch die ganze Nacht +umher: ich konnte mich nicht entschließen, nach Haus +zurückzukehren. Ich war so glücklich ... ich dachte nur +an dieses Wiedersehen! +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-2"> +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +Die zweite Nacht. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +„Da hätten wir’s also glücklich überlebt!“ sagte +sie zum Gruß und drückte mir lachend beide Hände. +</p> + +<p> +„Ich bin schon seit zwei Stunden hier. Sie wissen +nicht, wie ich den Tag verbracht habe.“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, ich weiß ... Doch zur Sache! Was meinen +Sie wohl, weshalb ich hergekommen bin? Doch +nicht, um solchen Unsinn zu reden, wie gestern! Nein, +hören Sie mich an: wir müssen hinfort klüger sein. Ich +habe mir das reiflich überlegt.“ +</p> + +<p> +„Warum denn, warum denn klüger? Ich meinerseits +bin ja gern dazu bereit: nur ist mir sowieso schon +in meinem Leben nichts Klügeres geschehen, als gestern +...“ +</p> + +<p> +„Wirklich? Aber hören Sie – erstens bitte ich +Sie, meine Hände nicht so zu drücken; und zweitens +teile ich Ihnen mit, daß ich heute lange über Sie nachgedacht +habe.“ +</p> + +<p> +„Nun, und? Was war das Ergebnis?“ +</p> + +<p> +„Das Ergebnis? Ich kam zu der Einsicht, daß wir +von neuem anfangen müssen, denn zum Schluß sagte +ich mir doch, daß ich Sie ja noch gar nicht kenne und +daß ich mich gestern recht wie ein Kind, wie ein ganz +kleines Mädchen benommen habe. Dabei stellte es sich +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +aber heraus, daß an allem natürlich nur mein gutes +Herz schuld war, das heißt, ich habe zum Schluß vor +mir selbst ordentlich groß getan, wie das ja zu guter Letzt +immer geschieht, wenn wir uns über uns selbst Rechenschaft +geben. Und deshalb, um den Fehler wieder gutzumachen, +habe ich mir vorgenommen, zunächst alles über +Sie ganz genau in Erfahrung zu bringen. Da ich nun +aber niemand kenne, bei dem ich mich nach Ihnen erkundigen +könnte, so müssen Sie selbst mir alles erzählen, +aber auch alles und ganz ausführlich. Nun also: +was für ein Mensch sind Sie? Schnell – so fangen +Sie doch an, erzählen Sie Ihre Geschichte!“ +</p> + +<p> +„Geschichte?“ rief ich erschrocken, „meine Geschichte? +Aber wer hat Ihnen denn gesagt, daß ich eine +Geschichte habe? Ich habe keine Geschichte ...“ +</p> + +<p> +„Ja – Wie haben Sie denn überhaupt gelebt, +wenn Sie keine Geschichte haben?“ fragte sie lachend. +</p> + +<p> +„Oh, ganz ohne jede Geschichte! Also, ich habe eben +gelebt, für mich allein, wie man bei uns zu sagen +pflegt, eben ganz allein, immer allein, vollkommen allein +– wissen Sie, was das heißt, ‚allein‘?“ +</p> + +<p> +„Aber wie denn: allein? So, daß Sie niemals jemand +gesehen haben?“ +</p> + +<p> +„O nein, gesehen – das schon. Aber trotzdem war +ich immer allein.“ +</p> + +<p> +„Ja wie, ich verstehe Sie nicht. Sprechen Sie denn +mit keinem Menschen?“ +</p> + +<p> +„Strenggenommen – mit keinem einzigen.“ +</p> + +<p> +„Aber was sind Sie denn für ein Mensch, erklären +Sie mir das doch. Nein! Warten Sie, ich errate es +schon von selbst: Sie haben ganz sicher auch eine Großmutter, +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +genau wie ich. Die meinige ist blind, wissen +Sie, und nun läßt sie mich ihr Lebtag nicht von sich +fort, so daß ich fast schon zu sprechen verlernt habe. Als +ich ihr nämlich vor zwei Jahren einen kleinen Streich +spielte und sie einsehen mußte, daß sie kein Mittel +hatte, solchen Streichen vorzubeugen, da rief sie mich +zu sich und steckte mein Kleid mit einer Stecknadel an +das ihrige – und so sitzen wir denn seitdem tagaus +tagein nebeneinander. Sie strickt ihren Strumpf, obschon +sie blind ist; ich muß neben ihr sitzen, nähen oder +ihr aus einem Buch vorlesen – ... oh, oft kommt es +mir selbst ganz sonderbar vor, daß ich nun schon zwei +Jahre lang in dieser Weise angesteckt bin ...“ +</p> + +<p> +„Mein Gott, das muß allerdings furchtbar sein! +Aber ich, ich habe keine solche Großmutter.“ +</p> + +<p> +„Dann begreife ich nicht, wie Sie immer zu Hause +sitzen können?“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, Sie wollten ja wissen, wer ich bin?“ +</p> + +<p> +„Allerdings!“ +</p> + +<p> +„Im Ernst?“ +</p> + +<p> +„Natürlich!“ +</p> + +<p> +„Gut. Ich bin also: ein – Typ.“ +</p> + +<p> +„Was? Ein Typ? Was für ein Typ?“ fragte das +Mädchen verwundert und lachte dann so herzlich, als +habe sie ein ganzes Jahr lang nicht gelacht. „Aber ich +sehe schon, es ist riesig lustig, sich mit Ihnen zu unterhalten! +Warten Sie: dort ist eine Bank, setzen wir +uns! Hier geht kein Mensch vorüber, niemand kann +uns hören. So, nun fangen Sie an mit Ihrer Geschichte! +Denn, daß Sie keine haben, glaube ich Ihnen +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +nicht. Sie haben eine, Sie wollen sie nur nicht erzählen. +Aber zuerst sagen Sie mir, was ist ein Typ?“ +</p> + +<p> +„Ein Typ? Ein Typ ist ein – Original. Das ist +so ein komischer Kauz,“ erklärte ich, und mußte gleichfalls +lachen. „Es gibt nun einmal solche – wie soll +ich sagen – Charaktere. Sie wissen doch, was ein +Träumer ist?“ +</p> + +<p> +„Ein Träumer? Natürlich! Ich bin selbst eine +Träumerin! Manchmal, wenn man so neben Großmutter +sitzt – was kommt einem da nicht alles in den Sinn! +Fängt man erst einmal an, zu träumen, so spinnen sich +die Träume bald von selbst weiter und da kommt es +denn vor, daß ich in der Phantasie einfach einen chinesischen +Prinzen heirate ... Mitunter ist es auch ganz +gut – zu träumen. Nein, übrigens, weiß Gott! Namentlich +wenn man auch noch sein anderes hat, woran +man denken kann ...“ schloß das Mädchen unvermittelt +und diesmal ziemlich ernst. +</p> + +<p> +„Vortrefflich! Wenn Sie einmal einen chinesischen +Prinzen geheiratet haben, dann werden Sie mich vollkommen +verstehen! Also hören Sie ... Doch erlauben +Sie: ich weiß noch nicht einmal, wie Sie heißen.“ +</p> + +<p> +„Endlich! Es fällt Ihnen wirklich früh ein, danach +zu fragen!“ +</p> + +<p> +„Mein Gott, ja ... Ich dachte gar nicht daran, ich +war auch so schon glücklich ...“ +</p> + +<p> +„Ich heiße – Nasstenka.“ +</p> + +<p> +„Nasstenka! Nur Nasstenka?“ +</p> + +<p> +„Nur! Ist Ihnen denn das noch zu wenig, Sie +Unersättlicher?“ +</p> + +<p> +„Zu wenig? Oh, im Gegenteil, es ist viel, sehr +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +viel, Nasstenka, Sie gutes kleines Mädchen, Sie, die +für mich gleich am ersten Abend zur Nasstenka geworden +sind!“ +</p> + +<p> +„Das meine ich auch. Nun?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, also, Nasstenka, dann hören Sie mal zu, +was für eine komische Geschichte das ist.“ +</p> + +<p> +Ich setzte mich neben sie, machte eine pedantisch +ernste Miene und begann, als wäre es eine Vorlesung: +</p> + +<p> +„Es gibt, Nasstenka, wenn Sie das noch nicht +wissen, es gibt hier in Petersburg recht merkwürdige +Winkel. Es ist, als schiene dorthin niemals <em>die</em> Sonne, +die für alle Petersburger leuchtet, sondern eine andere, +neue, die gleichsam nur für diese Winkel geschaffen +ist, und es ist auch ganz so, als schiene sie auf alles andere +in der Welt mit einem ganz anderen, einem besonderen +Licht. In diesen Winkeln, liebe Nasstenka, ist +es, als rege sich ein ganz anderes Leben, eines, +das gar nicht dem gleicht, das uns sonst umgibt, +sondern eines, das es nur, wie man meinen +sollte, in einem tausend Meilen fernen Reich geben +könnte, nicht aber hier bei uns in unserer ernsten, überernsten +Zeit. Doch gerade dieses Leben ist nur eine Mischung +von etwas rein Phantastischem, glühend Idealem, +und zugleich doch – leider, Nasstenka! – trübe +Alltäglichem und glatt Gewöhnlichem um nicht zu sagen: +bis zur Verzweiflung Gemeinem.“ +</p> + +<p> +„Pfui! Großer Gott! Das ist mir mal eine Einleitung! +Was werde ich da wohl noch zu hören bekommen?“ +</p> + +<p> +„Sie werden zu hören bekommen, Nasstenka – mir +scheint, ich werde niemals müde werden, Sie Nasstenka +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +zu nennen – Sie werden hören, daß in diesen Winkeln +seltsame Menschen leben – Wesen, die man +Träumer nennt. Ein Träumer ist – wenn man es genauer +erklären soll – kein Mensch, sondern, wissen +Sie, eher so ein gewisses Geschöpf sächlichen Geschlechts. +Gewöhnlich lebt der Betreffende irgendwo in +einem von aller Welt abgeschlossenen Winkel, als wolle +er sich sogar vor dem Tageslicht verbergen, und wenn +er sich einmal in seine Behausung zurückgezogen hat, +dann wächst er mit ihr zusammen, ungefähr wie eine +Schnecke mit ihrem Haus, oder er gleicht wenigstens +in der Beziehung jenem merkwürdigen Tiere, das beides +zugleich, nämlich sowohl Tier als auch das Haus +des Tieres ist und das wir Schildkröte zu nennen pflegen. +Was meinen Sie aber, weshalb liebt er so seine +vier Wände, die unfehlbar hellgrün angestrichen, öde, +trübselig und in einem nahezu unstatthaften Maße verräuchert +sind? Weshalb ist dieser komische Mensch, +wenn ihn jemand von seinen wenigen Bekannten besucht +– übrigens endet es immer damit, daß auch diese +wenigen ihn bald vergessen – weshalb ist er dann +immer so betreten und verwirrt? Weshalb hat er ein +Gesicht, als habe er in seinem einsamen Winkel geradezu +ein Verbrechen begangen, als habe er Papiere gefälscht +oder Gedichte fabriziert, um sie an eine Zeitschrift +zu senden, natürlich mit einem Begleitbrief, in +dem er mitteilt, daß der Verfasser gestorben sei und +daß er es als Freund für seine heilige Pflicht halte, +des Verstorbenen Werke zu veröffentlichen? Weshalb, +sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb will das Gespräch +zwischen den beiden nie so recht vorwärts kommen +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +und weshalb fällt von den Lippen des plötzlich +hereingeschneiten Freundes, der doch sonst stets zu +Scherz und Lachen und Gesprächen über das schöne +Geschlecht oder über andere angenehme Themata aufgelegt +ist, kein einziges Scherzwort? Weshalb fühlt +sich dieser neue Freund bei seinem ersten Besuch – +denn ein zweiter pflegt in diesem Fall nicht zu folgen +– weshalb fühlt auch er sich befangen und weshalb +wird er trotz seiner Fähigkeit, geistreich zu sein – das +heißt, vorausgesetzt, daß er sie wirklich besitzt – immer +einsilbiger beim Anblick der verzweifelten Miene +des andern, der sich übermenschlich, doch leider vergeblich +anstrengt, das Gespräch zu beleben und zu zeigen, +daß auch er eine Unterhaltung zu führen imstande +sei und über das schöne Geschlecht zu plaudern? um so +wenigstens durch seine Bereitwilligkeit zu allem und +jedem die Enttäuschung des Gastes zu mildern, der +nun einmal das Pech hat, dorthin geraten zu sein, wohin +er nicht gehört! Weshalb greift schließlich der +Gast nach seinem Hut und empfiehlt sich schnell mit der +Entschuldigung, das ihm plötzlich etwas überaus Wichtiges +eingefallen sei, das nicht den geringsten Aufschub +dulde? und weshalb befreit er seine Hand so schnell +aus der heißen des anderen, der mit tiefster Reue im +Herzen noch gutzumachen sucht, was sich nicht mehr +gutmachen läßt? Weshalb lacht dann der fortgehende +Freund, sobald die Tür sich hinter ihm geschlossen hat, +und weshalb schwört er sich, nie wieder diesen Sonderling +aufzusuchen, obschon der im Grunde gar kein so +übler Bursche ist? und weshalb kann er seiner Phantasie +nicht das kleine Vergnügen versagen: den Gesichtsausdruck +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +des Sonderlings während der Zeit seines Besuches +wenigstens entfernt mit demjenigen eines Kätzchens +zu vergleichen, das, von unartigen Kindern unter +heimtückischen Lockungen eingefangen, tüchtig gepeinigt +worden und das endlich unter den Stuhl in einen +dunkeln Winkel geflüchtet ist, um sich dort erst einmal +das Fell durchzulecken, sein mißhandeltes Schwänzchen +mit beiden Vorderpfoten zu waschen und zu putzen und +dann noch lange feindselig auf die Natur der Dinge +und das Leben überhaupt und ebenso auch auf den +Brocken zu blicken, den ihm eine mitleidige Küchenseele +von den Leckerbissen der herrschaftlichen Tafel zuwirft?“ +</p> + +<p> +„Hören Sie,“ unterbrach mich Nasstenka, die die +ganze Zeit verwundert mit großen Augen und halboffenem +Mündchen zugehört hatte, „hören Sie: ich begreife +ganz und gar nicht, was das alles soll und weshalb +Sie gerade mich so sonderbare Dinge fragen? +Alles, was ich verstehe, ist nur, daß Sie diese Geschichte +zweifellos selbst erlebt haben.“ +</p> + +<p> +„Ganz zweifellos,“ versetzte ich mit ernster Miene. +</p> + +<p> +„Nun, wenn es wahr ist, dann fahren Sie fort,“ +sagte Nasstenka, „denn jetzt möchte ich sehr gern wissen, +wie das endet.“ +</p> + +<p> +„Sie wollen wissen, Nasstenka, was er in seinem +Winkel denn eigentlich tat, unser Held, oder richtiger, +ich, denn der Held des Ganzen bin doch ich, ich selbst +mit meiner eigenen bescheidenen Person. Sie wollen +wissen, weshalb ich mich durch den unerwarteten Besuch +des Bekannten so aus dem Gleichgewicht gebracht +fühlte und wie ein ertappter Sünder errötete, als die +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +Tür sich auftat und weshalb ich den Gast nicht zu +empfangen verstand und eine so unglückliche Rolle als +Hausherr spielte?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, selbstverständlich will ich das! Aber hören +Sie: Sie erzählen ja sehr schön, doch ließe sich das alles +nicht irgendwie weniger „schön“ erzählen? Denn sonst +reden Sie ja, als hätten Sie ein Buch vor sich, aus +dem Sie ablesen!“ +</p> + +<p> +„Nasstenka!“ versetzte ich mit wichtiger und strenger +Stimme, während ich mir nur mit Mühe das Lachen +verbiß, „liebe Nasstenka, ich weiß, daß ich schön +erzähle, aber verzeihen Sie, anders verstehe ich nun +einmal nicht zu erzählen. Jetzt, liebe Nasstenka, jetzt +gleiche ich dem Geiste des Königs Salomo, der tausend +Jahre in einer Truhe unter sieben Siegeln gefangen +war und nun von allen sieben Siegeln befreit worden +ist. Jetzt, liebe Nasstenka, wo wir uns nach so langer +Trennung wiedergefunden haben – denn ich kenne +Sie ja schon lange, lange, Nasstenka, weil ich nämlich +schon lange jemand suche ... worin zugleich der Beweis +dafür liegt, daß ich gerade Sie gesucht habe und daß +es uns vom Schicksal vorbestimmt gewesen ist, gerade +hier zusammenzutreffen – jetzt haben sich tausend +Klappen in meinem Kopf geöffnet und ich muß mein +Herz in einen Strom von Worten ausgießen – oder +ich ersticke an ihnen. Deshalb bitte ich Sie, mich nicht +zu unterbrechen, Nasstenka, und geduldig und ergeben +zuzuhören: wenn nicht – dann verstumme ich ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, nein! Das sollen Sie nicht! Erzählen +Sie! Ich werde kein Wort mehr sagen!“ +</p> + +<p> +„Ich fahre also fort: es gibt, liebe Freundin Nasstenka, +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +es gibt für mich an jedem Tage eine Stunde, +die ich ungemein liebe. Das ist die Stunde, in der die +Geschäfte, Büros und Kanzleien schließen und die +Menschen alle nach Hause eilen, um zu Mittag zu +speisen,<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> sich hinzulegen und etwas auszuruhen, und +in der die Menschen unterwegs Pläne schmieden für +den Abend, die Nacht und die ganze übrige freie Zeit, +die ihnen noch verblieben ist. In dieser Stunde pflegt +auch unser Held – Sie müssen mir schon erlauben, +Nasstenka, von mir in der dritten Person zu erzählen, +denn in der ersten würde das alles viel zu unbescheiden +klingen – also, in dieser Stunde pflegt auch unser Held, +der gleichfalls seine regelmäßige Tagesarbeit hat, mit +den anderen Menschen eines Weges zu gehen. Ein seltsames +Gefühl des Vergnügens spricht aus seinem blassen, +ein wenig erschlafften Gesicht. Nicht teilnahmlos +sieht er auf die Abendröte, die am kalten Petersburger +Himmel langsam erlischt. Nein, ich lüge, wenn ich +sage, daß er sie sieht: er sieht überhaupt nicht, sondern +er schaut, und er schaut gleichsam unbewußt, als wäre +er müde oder als wären seine Gedanken gleichzeitig mit +irgendeinem fernen, anderen, eigenartigen Gegenstande +beschäftigt, so daß er schon sehr bald für seine Umgebung +kaum noch einen flüchtigen Blick hat, und auch +diesen nur bei irgendeinem Zufall, der ihn ablenkt. Er +ist beinahe zufrieden, denn er hat bis morgen die lästige +Arbeit getan, er ist froh wie ein Schüler, der von der +Schulbank kommt und sich nun wieder seinen Lieblingsspielen +und Streichen widmen kann. Wenn Sie +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +ihn von der Seite beobachten, Nasstenka, werden Sie +sogleich bemerken, daß das frohe Gefühl auf seine angegriffenen +Nerven und auf seine krankhaft überreizte +Phantasie bereits günstig eingewirkt hat. Seine Gedanken +hüllen ihn gleichsam ein. Sie glauben, er denke +an sein Mittagessen? An den Abend, der ihm bevorsteht? +Was ist es wohl, was er so scharf ins Auge +faßt? Ist es etwa jener Herr, der so höflich und doch +so pittoresk die Dame grüßt, die in prächtiger Kalesche +an ihm vorüberfährt? Nein, Nasstenka, was gehen +ihn alle diese kleinlichen Nebensachen an! Er ist +jetzt reich in seinem eigenen, seinem ureigensten, besonderen +Leben: ganz plötzlich ist er reich geworden und +der letzte Strahl der erlöschenden Sonne hat nicht vergeblich +so lebenswarm vor ihm geglüht und in seinem +erwärmten Herzen eine Fülle von Eindrücken wachgerufen. +Jetzt bemerkt er kaum mehr den Weg, auf dem +ihm noch kurz vorher jede geringste Kleinigkeit auffallen +konnte. Die Göttin Phantasie hat bereits ihr goldenes +Netz um ihn gewebt und füllt es nun aus mit +den bunten Mustern eines unwillkürlichen und wunderlichen +Lebens: und vielleicht – wer kann es wissen? +– vielleicht hat sie ihn von dem massiven Granittrottoir, +auf dem er nach Hause geht, mit launischer +Hand bereits in den siebenten weltfernsten Himmel +entführt? Wenn Sie jetzt versuchen wollten, ihn +plötzlich anzureden und ihn zu fragen, wo er sich im +Augenblick befinde, durch welche Straßen er gegangen +– dann würde er ganz entschieden weder das eine +noch das andere anzugeben vermögen und wahrscheinlich +vor Ärger errötend irgend etwas, das ihm gerade +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +einfällt, verlegen antworten. Deshalb fährt er +auch plötzlich so zusammen und blickt sich erschrocken +um – nur weil eine alte Frau ihn mitten auf dem +Trottoir anhält und ihn nach einer Straße fragt, die +sie nicht zu finden weiß. Mit ärgerlich gerunzelter +Stirn schreitet er weiter, ohne es zu bemerken, daß +von den Vorübergehenden mehr als einer bei seinem +Anblick lächelt und mancher ihm sogar nachschaut, +und daß ein kleines Mädchen, das ihm ängstlich ausweicht, +plötzlich nach Kinderart laut auflacht, da ihren +verwundert aufgerissenen Augen sein breites traumverlorenes +Lächeln und die halben Gesten seiner Hände +so komisch erscheinen. Doch schon hat dieselbe Phantasie +in ihrem spielenden Fluge die alte Dame und die +neugierig Vorübergehenden und das lachende kleine +Mädchen und die Bauernkerle, die auf ihren Booten +Abendrast halten, unten auf der Fontanka – nehmen +wir an, daß unser Held sich in dem Augenblick an dem +Kanalkai befindet – schon hat sie alles mutwillig in +ihr Netz eingewebt, wie die Spinne die Fliegen, und +mit der neuen Beute betritt der Sonderling seine Behausung, +er setzt sich an den Tisch und ißt und beendet +die Mahlzeit und kommt nicht früher zu sich, als bis +Matrjona, seine ewig trübselige wortkarge Wirtin, +nachdem sie alles vom Tisch abgeräumt, ihm seine +Pfeife reicht: da erst, wie gesagt, kommt er zu sich und +gewahrt mit Verwunderung, daß er bereits gegessen +hat, ohne daß es ihm zu Bewußtsein gekommen wäre. +Es dunkelt im Zimmer; in seiner Seele ist es leer und +traurig. Ein ganzes Reich von Träumen ist rings um +ihn eingestürzt – geräuschlos, lautlos, spurlos wie +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +eben nur ein Traum vergehen kann, er wüßte nicht +einmal mehr zu sagen, was er gesehen hat. Aber ein +dunkles Empfinden, das in seiner Brust sich zu regen +beginnt, erweckt allmählich einen neuen Wunsch, +umschmeichelt verführerisch seine Einbildungskraft und +ruft unmerklich wieder eine ganze Schar neuer Phantome +heran. Stille herrscht in seinem kleinen Zimmer: +die Einsamkeit und das Nichtstun liebkosen die Phantasie, +sie glüht leise auf, eine leise Bewegung hebt in +ihr an, wie ein leises Wallen, ähnlich dem Wasser in +der Kaffeemaschine der alten Matrjona, die nebenan +in der Küche ruhig wirtschaftet und sich ihren Köchinnenkaffee +braut: wie lange noch und es beginnt zu brodeln ... +Da fällt auch schon das Buch, das mein Träumer +zwecklos und unbesehen aus der Reihe herausgegriffen +hat, aus seiner Hand, noch bevor er bis zur +dritten Seite gelesen. Die Einbildungskraft ist wieder +erwacht: und plötzlich ist eine neue Welt, ein neues +bezauberndes Leben um ihn herum entstanden. Ein +neuer Traum – neues Glück! neues, verfeinertes, süßes +Gift! Oh, was liegt ihm an unserem wirklichen +Leben! Nach seiner allerdings sehr einseitigen Auffassung +leben wir anderen, Nasstenka, ein Leben, das +langsam ist, träge und schlaff. In seinen Augen sind +wir alle so unzufrieden mit unserem Schicksal und quälen +uns so sehr mit unserem Dasein! Und es ist ja auch +wahr, sehen Sie nur, wie auf den ersten Blick alles +zwischen uns aussieht, wie kalt, düster, unfreundlich, +als wäre alles böse, feindselig ... Die Armen! denkt +mein Träumer. Und es ist kein Wunder, daß er so +denkt! Sie sehen nicht diese Zauberbilder, die so berückend, +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +so verschwenderisch, so uferlos breit aus dem +Nichts vor ihm erstehen, Bilder, auf deren Vordergrunde +die erste Person, versteht sich, er selbst ist, er, +unser Träumer mit seinem teuren Ich. Sie sehen nicht, +was für Abenteuer, was für eine unabsehbare Reihe +von Geschehnissen er erlebt! Sie fragen: Wovon er +denn träumt? Wozu das Fragen? – doch einfach von +allem, von allem ... vom Schicksal eines Dichters, der +anfangs nicht anerkannt wird, dann aber überall Begeisterung +erweckt; von seiner Freundschaft mit E. Th. +A. Hoffmann, der Bartholomäusnacht, Diana Vernon, +einer heroischen Rolle bei der Einnahme der Stadt +Kasan durch den Zaren Iwan Wassiljewitsch, von einer +Bühnengröße, einer Sängerin, von Johannes Huß vor +dem Konzil, von der Auferstehung der Toten in „Robert +der Teufel“ – kennen Sie die Musik? sie duftet nach +dem Friedhof – von Minna und Anderem, von der +Schlacht an der Beresina, vom Vortrag eines Gedichts +bei der Gräfin W. D., von Danton, Kleopatra ei +suoi amanti, einem Häuschen in Kolomna, vom eigenen +Winkel in Petersburg, in dem neben ihm ein liebes +Geschöpf sitzt, das mit offenem Mündchen und großen +Augen an einem Winterabend ihm zuhört – genau so, +wie Sie mir jetzt zuhören, mein junges Täubchen ... +Nein, Nasstenka, was ist ihm, dem leidenschaftlichen +Nichtstuer, was ist ihm jenes irdische Leben, das wir, +Nasstenka, so gern einmal leben möchten? Er hält es +für ein armes, ein armseliges Leben, das Mitleid verdient, +und ahnt nicht, daß auch für ihn vielleicht einmal +die Stunde schlagen wird, wo er für einen Tag +dieses wirklichen Lebens gerne alle seine phantastischen +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +Jahre hingeben würde, und nicht für einen frohen Tag, +nicht für einen Tag des Glücks hingeben, nein, er +wird nicht einmal wählen dürfen in dieser Stunde der +Trauer und Reue und des unabwendbaren Wehs. Doch +vorläufig ist diese furchtbare Zeit noch nicht angebrochen +– er wünscht nichts, weil er über allen Wünschen +steht, weil er ja alles hat, weil er schon übersättigt +und selbst der Künstler seines Lebens ist, das er +sich zu jeder Zeit nach eigenem Wunsch gestalten kann. +Und so leicht, so natürlich ersteht diese phantastische +Märchenwelt! als wären das alles gar nicht bloße Hirngespinste! +Wirklich, man ist oft zu glauben versucht, +daß dieses ganze Leben nicht eine Schöpfung des Gefühls, +nicht eine wesenlose Luftspiegelung und trügerische +Einbildung, sondern wahrhaftig Wirklichkeit, +etwas wirklich Seiendes, ein greifbar Vorhandenes sei! +Weshalb, sagen Sie mir das, Nasstenka, weshalb hält +man in solchen Augenblicken des unwirklichen Erlebens +oft den Atem an? Weshalb – woher kommt es, daß, +wie durch eine unerforschliche Zaubermacht, der Puls +schneller schlägt, daß Tränen den Augen entströmen, +daß die bleichen Wangen des Träumers zu glühen anfangen +und sein ganzes Sein von überwältigender +Lust erfüllt wird? Weshalb vergehen ganze Nächte, die +er in unerschöpflicher Freude und beseligendem Glück +schlaflos verbringt, wie ein einziger kurzer Augenblick? +Und wenn die Morgenröte rosig durch die Fensterscheiben +schimmert und die erste Dämmerung mit ihrem ungewissen +phantastischen Licht in das trübselige Zimmer +schleicht, und unser Träumer sich ermüdet und erschöpft +auf das Bett wirft, und einschlummert – weshalb hat +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +er dann ein Gefühl, als vergehe er vor Entzücken mit +seinem ganzen krankhaft erschütterten Geiste, und das +mit einem so peinvoll süßen Schmerz im Herzen? Ja, +Nasstenka, so täuscht man sich und glaubt als Fremder +unwillkürlich, daß eine wirkliche, eine körperliche Leidenschaft +unsere Seele errege! Unwillkürlich glaubt +man, daß in unseren körperlosen Träumen etwas Lebendiges, +Greifbares sei! Und was ist das doch für +ein Betrug! Da ist zum Beispiel die Liebe mit ihrer +ganzen unerschöpfbaren Freude und ihrer nimmermüden +Pein in des Träumers Brust erwacht ... Ein +Blick auf ihn genügt, um einen jeden von der Echtheit +des Gefühls zu überzeugen. Werden Sie es da glauben, +liebe Nasstenka, wenn Sie ihn so sehen, daß er diejenige, +die er in seinen verzückten Träumen so rasend +liebt, in Wirklichkeit niemals gekannt hat? Aber hat +er sie denn nun auch <em>wirklich</em> nur, <em>nur</em> in berückenden +Phantasiebildern gesehen? Und hat er diese Leidenschaft +wirklich <em>nur</em> – geträumt? Sind sie denn +wirklich nicht durch Jahre ihres Lebens Hand in Hand +gegangen – zu zweien, ohne sich um die Welt zu kümmern, +das eigene Leben mit dem des anderen vereint? +War sie denn wirklich nicht zu später Stunde, als er +Abschied von ihr nahm, weinend an seine Brust gesunken, +ohne auf den Sturm zu achten, der unter dem rauhen +Himmel tobte, ohne den Wind zu spüren, der die +Tränen an ihren schwarzen Wimpern trocknete? War +das denn wirklich alles nur ein Traum im Wachen gewesen +– auch der verwilderte einsame Garten mit den +grasbedeckten moosigen Wegen, auf denen sie so oft zu +zweien wandelten und Hoffnungen aufbauten und sich +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +sehnten und einander liebten, einander so liebten, ‚so +bang und süß‘, wie es im alten Liede heißt? Und dieses +alte, verwitterte Herrenhaus, in dem sie so lange einsam +und traurig leben mußte, mit dem alten finsteren +Mann, der, ewig schweigsam und verdrossen, die Liebenden +wie ein Schreckgespenst ängstete, sie, die ohnehin +schon wie scheue Kinder ihre Liebe voreinander +verbargen? Wie quälten sie sich, wie fürchteten sie +sich, wie schuldlos und rein war ihre Liebe und wie – +das versteht sich von selbst, Nasstenka – wie böse waren +die Menschen! Und, mein Gott, hat er sie denn später +wirklich nicht, fern von der Heimat, unter einem +fremden südlichen Himmel, in einem Palazzo – unbedingt +in einem Palazzo – in einer wundervollen ewigen +Stadt bei rauschender Musik im Ballsaal wiedergesehen? +Sind sie dann nicht auf den Balkon hinausgetreten, +den Myrten und Rosen umrankten, und hat sie +dort nicht ihre Maske abgenommen und ihm zugeflüstert: +‚Ich bin frei!‘ – und hat er sie da nicht in seine +Arme geschlossen, wie toll vor Entzücken, und haben +sie sich nicht wirklich aneinander geschmiegt und im +Augenblick alles Leid vergessen und die Trennung und +alle Qualen und das düstere Haus und den alten Grafen, +den verwilderten Garten in der fernen Heimat +und die Bank, auf der sie ihm den letzten leidenschaftlichen +Kuß gegeben, um sich dann aus seinen Armen +zu reißen ... Oh, Sie werden doch zugeben, Nasstenka, +daß es da nur natürlich ist, wenn man zusammenfährt +und wie ein ertappter Schüler verwirrt errötet, als +hätte man soeben einen aus dem Nachbargarten gestohlenen +Apfel in die Tasche gesteckt, wenn plötzlich die +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Zimmertür aufgestoßen wird und irgendein langer, gesunder +Bursche, so ein guter, immer fröhlicher Junge, +über die Schwelle tritt und mit lachendem Gruß ausruft, +als wäre nichts geschehen: ‚Freund, ich komme +soeben aus Pawlowsk!‘ Mein Gott! Der alte Graf war +gestorben und sie war frei! Unfaßbares Glück brach für +uns an. Das sagte und brachte man uns aus Pawlowsk!“ +</p> + +<p> +Ich hielt inne, da meine leidenschaftliche Rede zu +Ende war. Ich weiß noch, daß ich schreckliche Lust hatte, +laut, schallend aufzulachen, gleichsam irgend etwas +aus mir herauszulachen, denn ich fühlte, daß in der +Tat so ein feindliches Teufelchen sich bereits in mir zu +regen begann und mir schon im Halse saß, und daß es +mir im Kinn und in den Augenlidern zuckte ... +</p> + +<p> +Natürlich erwartete ich nichts anderes, als daß +Nasstenka, die mich mit ihren klugen Augen groß ansah, +nun in unbändig lustiges Kinderlachen ausbrechen +würde, und ich bereute schon, daß ich so weit gegangen +war und etwas erzählt hatte, das ich lange mit mir +herumgetragen und deshalb wie aus einem Buch ablesend +erzählen konnte. Ich hatte mich seit Jahr und +Tag darauf vorbereitet, einmal vor mich selbst wie vor +einen Richter zu treten und über mich ein Urteil zu fällen: +und da hatte ich mich nun wirklich einmal nicht +zu bezwingen vermocht und dieses Urteil gesprochen, jedoch, +offen gestanden, ohne zu erwarten, daß ich Verständnis +finden würde. Aber zu meiner Verwunderung +schwieg sie eine Weile, dann drückte sie mir leise die +Hand und fragte mit einer seltsam zartfühlenden Teilnahme: +</p> + +<p> +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +„Haben Sie wirklich Ihr ganzes Leben so verbracht?“ +</p> + +<p> +„Mein ganzes Leben, Nasstenka,“ antwortete ich, +„solange ich auf der Welt bin, und ich glaube, so +werde ich es auch beenden.“ +</p> + +<p> +„Nein, das geht nicht, das darf nicht geschehen,“ +protestierte sie, sichtlich beunruhigt, „und das geschieht +auch nicht! Dann wäre es ja ebensogut möglich, daß +auch ich mein ganzes Leben bei meiner Großmutter +verbringen muß! Hören Sie, wissen Sie auch, daß es +gar nicht gut ist, so zu leben?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es, Nasstenka, gewiß weiß ich es!“ rief +ich, ohne meine Gefühle noch länger zu unterdrücken. +</p> + +<p> +„Und jetzt weiß ich auch besser als je zuvor, daß +ich alle meine besten Jahre verloren habe! Ich weiß es, +und diese Erkenntnis schmerzt mich mehr als je, denn +Gott selbst hat Sie, mein guter Engel, mir geschickt, um +mir das zu sagen und zu beweisen. Jetzt, wo ich neben +Ihnen sitze und mit Ihnen rede, mutet es mich schon +wunderbar an, an meine Zukunft zu denken, denn in +dem Leben, das noch vor, mir liegt – sehe ich wieder +Einsamkeit, wieder nur dieses muffige, modernde, nutzlose +Leben. Und was werde ich dann noch träumen +können, das schöner ist als das Leben, nachdem ich doch +in der Wirklichkeit hier neben Ihnen so glücklich gewesen +bin! Oh, seien Sie dafür gesegnet, Sie liebes +Mädchen, daß Sie mich nicht gleich nach dem ersten +Wort zurückgestoßen haben und ich jetzt doch schon sagen +kann, daß ich wenigstens zwei Abende in meinem +Leben gelebt habe!“ +</p> + +<p> +„Ach nein, nein!“ rief Nasstenka und Tränen +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +glänzten in ihren Augen. „Nein, so soll es nicht kommen! +Wir werden nicht so auseinandergehen! Was sind +zwei Abende!“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka, Nasstenka! Wissen Sie denn überhaupt, +daß Sie mich für lange Zeit mit mir selbst versöhnt +haben? Wissen Sie, daß ich jetzt nicht mehr so Schlechtes +denken werde, wie in manchen früheren Stunden? +Wissen Sie, daß ich mich vielleicht nicht mehr darüber +grämen werde, Verbrechen und Sünde in meinem Leben +begangen zu haben, denn ein solches Leben ist Verbrechen +und Sünde! Und denken Sie nicht, daß ich irgendwie +übertrieben habe, um Gottes willen glauben Sie +das nicht, Nasstenka! Es kommen Augenblicke, in denen +ich solch eine Seelenangst empfinde, solch einen +Gram ... In diesen Augenblicken will es mir scheinen +– und ich fange schon an, daran zu glauben –, daß +ich niemals mehr fähig sein werde, ein wirkliches Leben +zu beginnen, denn ich habe schon oft die Empfindung +gehabt, als hätte ich jedes Gefühl verloren, und jede +Aufnahmefähigkeit der Sinne in allem, was Wirklichkeit, +was wirkliches Leben ist! weil ich mich schließlich +selbst verflucht habe! weil meinen phantastischen +Nächten schon Augenblicke der Ernüchterung folgen, +die so furchtbar sind! Und währenddessen hört man, wie +rings um einen die Menschenmassen lärmend im Lebensstrudel +sich drehen, man hört und sieht, wie Menschen +leben – wirklich leben, in der Wirklichkeit und im +Wachen leben, und man sieht, daß ihr Leben nicht nach +ihrer Willkür entsteht, daß ihr Leben nicht wie ein +Traum verflattert, daß ihr Leben sich ewig erneut und +ewig jung ist und keine Stunde der anderen gleicht, +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +während die schreckhafte Phantasie, diese unsere Einbildungskraft, +so trostlos und verzagt und bis zur Gemeinheit +einförmig ist, eine Sklavin des Schattens, der +bloßen Idee, eine Sklavin der ersten besten Wolke, die +plötzlich die Sonne verdeckt und in wehem Leid das +Herz zusammenpreßt, das echte Petersburger Herz, dem +seine Sonne so teuer ist! Und erst im Leiden, was für +eine Einbildung! Man fühlt, daß sie endlich doch müde +wird und sich in der ewigen Anspannung erschöpft, +diese scheinbar <em>unerschöpfliche</em> Phantasie, denn +man wird reifer und männlicher und wächst über seine +früheren Ideale hinaus: sie stürzen ein und es bleibt +nur Staub und Schutt von ihnen übrig. Und wenn es +dann kein anderes Leben gibt, muß man aus demselben +Schutt die Bruchstücke zusammenlesen und aus ihnen +sich das neue Leben aufbauen. Und dabei verlangt und +sehnt sich die Seele doch nach etwas ganz anderem! +Und vergeblich wühlt der Träumer wie in einem +Aschenhaufen in seinen alten Träumen und sucht in der +Asche nach einem, wenn auch noch so kleinen Fünkchen, +um es anzublasen und um mit dem von neuem angefachten +Feuer das kaltgewordene Herz zu erwärmen +und alles in ihm wieder zu erwecken, was ihm einst so +lieb war, was die Seele rührte und das Blut in Wallung +brachte, was den Augen Tränen entströmen ließ +und eine so herrliche Täuschung war! Wissen Sie auch, +Nasstenka, wie weit ich damit schon gekommen bin? +Wissen Sie, daß ich bereits das Jubiläum meiner Empfindungen +zu feiern gezwungen bin, Gedenktage dessen, +was früher so schön war und dabei in Wirklichkeit doch +nie gewesen ist – denn diese Jahres- und Gedenktage +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +gelten alle denselben wesenlosen törichten Träumereien +– und daß ich das tun muß, weil selbst diesen törichten +Träumen nicht mehr neue folgen, die sie verdrängen +würden: denn auch Träume müssen verdrängt werden! +Von selbst hören sie nicht auf und so überleben sie +sich nur. Wissen Sie, ich suche jetzt mit Vorliebe zu bestimmten +Stunden jene Stellen auf, an denen ich einmal +glücklich gewesen bin, in meiner Art glücklich, und +dort versuche ich dann, das Gegenwärtige in der Phantasie +nach dem unwiederbringlich Vergangenen zu gestalten +oder das Vergangene mir zu vergegenwärtigen: +und so irre ich oft wie ein Schatten ziellos und zwecklos +in den Petersburger Winkelgassen umher. Und was +für Erinnerungen das dann sind! Da erinnere ich mich +zum Beispiel, daß ich hier genau vor einem Jahr gerade +in derselben Stunde auf demselben Trottoir gegangen +bin, ebenso einsam und mutlos traurig umherirrend, +wie jetzt! Und man erinnert sich, daß auch die Gedanken +damals ebenso traurig waren, und wenn es +früher auch nicht besser war, so ist es einem doch, als sei +es irgendwie besser gewesen, als habe man ruhiger +gelebt, und man meint, daß es nicht dieses dunkle Grübeln +gegeben habe, daß einen jetzt verfolgt ... daß +ich nicht diese Gewissensbisse gekannt, die so peinvoll +und unermüdlich quälen und mir weder am Tage noch +in der Nacht Ruhe und Frieden gönnen! Und man +fragt sich: wo sind denn deine Träume geblieben? Und +schüttelt den Kopf und murmelt: wie schnell die Jahre +vergehen! Und wieder fragt man sich: was hast du +mit deinen Jahren angefangen? Wo hast du deine beste +Zeit begraben? Hast du überhaupt gelebt? oder nicht? +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Sieh, sagt man zu sich selbst, sieh, wie kalt es in der +Welt wird. Es werden noch einige Jahre vergehen und +dann kommt die grämliche Einsamkeit, kommt mit der +Krücke das zitterige Alter und bringt dir Kummer und +Leid. Verbleichen wird deine phantastische Welt, verwelken +und sterben werden deine Träume und wie das +gelbe Laub von den Bäumen, so werden sie von dir abfallen +... O Nasstenka! Wie wird es dann so öde sein, +allein zu bleiben, ganz allein, und nicht einmal etwas +zu haben, worum man trauern könnte – nichts, gar +nichts ... Denn alles, was man verloren hat, alles das +war doch nichts, war eine Null, eine reine Null, war ja +nichts als ein Träumen!“ +</p> + +<p> +„Nun aber hören Sie auf, rühren Sie mich nicht +noch mehr!“ rief Nasstenka und wischte das dumme +Tränchen fort, das ihr über die Wange rollte. +„Jetzt hat das ein Ende! Wir werden nun nicht +mehr allein sein, denn was mit mir auch geschehen +sollte, wir werden doch immer Freunde bleiben. Hören +Sie. Ich bin ein einfaches Mädchen, ich habe wenig +gelernt, obschon die Großmutter mir von einem Lehrer +Unterricht erteilen ließ, aber glauben Sie mir, ich verstehe +Sie sehr gut, denn alles, was Sie mir da erzählt +haben, habe ich selbst erlebt, wenn ich neben Großmutter +angesteckt saß. Natürlich hätte ich das nicht so gut +zu erzählen verstanden, wie Sie, ich habe das nicht gelernt,“ +fügte sie etwas kleinlaut hinzu, da meine pathetische +Rede ihr offenbar einen gewissen Respekt eingeflößt +hatte, „aber ich bin sehr froh, daß Sie mir alles +mitgeteilt haben. Jetzt kenne ich Sie, kenne Sie durch +und durch. Und wissen Sie was? Ich will Ihnen nun +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +auch meine Geschichte erzählen, alles, bis aufs Letzte, +Sie aber müssen mir dann einen Rat geben. Sie sind +ein sehr kluger Mann, ich weiß es, aber werden Sie +mir nun versprechen, daß Sie mir nachher auch wirklich +Ihren Rat geben?“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka,“ antwortete ich, „ich bin zwar +noch nie ein Ratgeber gewesen, und nun gar ein +kluger, wie Sie es von mir verlangen, aber ich sehe +jetzt, daß es, wenn wir immer so leben würden, sogar +sehr klug wäre und daß der eine dem anderen unzählige +kluge Ratschläge erteilen könnte. Nun also, +meine reizende Nasstenka, was für einen Rat brauchen +Sie? Sagen Sie es mir ohne Umschweife. Ich +bin jetzt so heiter, so glücklich, so mutvoll, daß ich +wahrscheinlich nicht auf den Mund gefallen sein werde, +wie man zu sagen pflegt.“ +</p> + +<p> +„Nein, nein!“ fiel mir Nasstenka schnell ins Wort. +„Ich brauche keinen klugen Rat, sondern einen von +Herzen kommenden, einen aufrichtig brüderlichen, einen, +der so ist, wissen Sie, als hätten Sie mich schon +ein Leben lang lieb!“ +</p> + +<p> +„Gut, Nasstenka, abgemacht!“ rief ich. „Aber wenn +ich Sie auch schon ganze zwanzig Jahre geliebt hätte, +ich könnte Sie deshalb doch nicht inniger lieben, als +ich es jetzt tue!“ +</p> + +<p> +„Geben Sie mir Ihre Hand!“ sagte Nasstenka. +</p> + +<p> +„Hier haben Sie sie!“ +</p> + +<p> +„Also schön, dann lassen Sie uns jetzt meine Geschichte +beginnen.“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-3"> +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +Nasstenkas Geschichte. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +„Die eine Hälfte meiner Geschichte kennen Sie +bereits, das heißt, Sie wissen, daß ich eine alte Großmutter +habe ...“ +</p> + +<p> +„Wenn die zweite Hälfte nicht länger ist als +diese ...“ wandte ich lachend ein. +</p> + +<p> +„Schweigen Sie und hören Sie mir zu. Ganz zuerst +eine Abmachung: Sie dürfen mich nicht unterbrechen, +sonst machen Sie mich schließlich noch verwirrt. +Also, hören Sie jetzt artig zu. +</p> + +<p> +„Ich habe eine alte Großmutter. Zu der kam ich +schon als ganz kleines Mädchen, denn meine Eltern +starben früh. Ich nehme an, daß Großmutter einmal +reicher war, denn sie spricht immer von den früheren +besseren Tagen. Sie selbst hat mich denn auch Französisch +gelehrt. Später nahm sie einen Lehrer. Als ich +fünfzehn Jahre alt war – jetzt bin ich siebzehn – hörte +der Unterricht auf. Damals war es also, daß ich +ihr meinen Streich spielte. Was ich nun eigentlich verbrach, +das werde ich Ihnen nicht sagen; genug, daß +es durchaus kein schlimmer Streich war. Immerhin +hatte er zur Folge, daß Großmutter mich eines Morgens +zu sich rief und sagte, sie könne mich, da sie blind +sei, nicht beaufsichtigen, und damit nahm sie dann eine +Stecknadel und steckte mein Kleid an das ihrige und erklärte +mir, daß wir so unser Leben verbringen würden, +wenn ich mich nicht besserte. In der ersten Zeit war +mir jede Möglichkeit genommen, mich freizumachem: +was ich auch tat, arbeiten und lesen und lernen – +alles mußte ich an Großmutters Seite tun. Einmal versuchte +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +ich es mit einer List und beredete Fjokla, sich auf +meinen Platz zu setzen. Fjokla ist unsere Magd, und die +ist taub. Sie setzte sich also auf meinen Platz, als Großmutter +in ihrem Stuhl eingeschlummert war, und ich +lief schnell in die Nachbarschaft zu einer Freundin. Das +ging aber schlecht aus. Großmutter wachte auf, bevor +ich zurück war, und fragte irgend etwas, natürlich im +Glauben, daß ich neben ihr säße, denn sie ist ja blind. +Fjokla aber, die Großmutter wohl sprechen sah, konnte +sie nicht verstehen, da sie doch nichts hört; also denkt +und denkt sie, was sie wohl tun soll, steckt dann schnell +die Stecknadel ab und kommt mir nachgelaufen ...“ +</p> + +<p> +Nasstenka begann zu lachen. Natürlich lachte ich +auch. Doch wurde sie gleich wieder ernst. +</p> + +<p> +„Hören Sie, nein, lachen Sie nicht über Großmutter. +Ich lache nur deshalb, weil es so komisch war +... Was soll man denn machen, wenn Großmutter +wirklich so ist. Trotz allem habe ich sie doch lieb. Nun +ja, mich erwartete aber doch eine schöne Strafpredigt: +ich mußte mich sofort wieder hinsetzen und wurde +von neuem angesteckt und dann: o Gott – nicht rühren +durfte ich mich! +</p> + +<p> +„Nun also – ja, da habe ich noch zu sagen vergessen, +daß wir, oder vielmehr, daß Großmutter ein +kleines Haus besitzt. Es ist ein Holzhäuschen mit nur +drei Fenstern in der Front, ein ganz kleines und ebenso +alt wie Großmama. Oben aber ist noch ein Zimmer; +und in dieses Zimmer zog ein neuer Mieter ein ...“ +</p> + +<p> +„Dann hatten Sie also auch früher schon einen +Mieter?“ fragte ich beiläufig. +</p> + +<p> +„Nun, natürlich doch,“ versetzte Nasstenka, „und +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +zwar verstand der besser zu schweigen, als Sie. Allerdings +konnte er kaum noch die Zunge bewegen. Es war +das nämlich ein altes Männlein, harthörig, hager, +stumm, blind, lahm, so daß er selbst es schließlich nicht +länger aushielt in der Welt und starb. Da ward das +Zimmer frei und wir mußten uns nach einem neuen +Mieter umsehen, denn die Miete für das Zimmer und +Großmutters Pension sind fast unser ganzes Einkommen. +Der neue Mieter war aber ein junger Mensch +und kein Petersburger. Da er von der Miete nichts +abzuhandeln versuchte, nahm ihn Großmutter, als er +aber gegangen war, fragte sie mich: ‚Nasstenka, ist +der Mieter jung oder alt?‘ Lügen wollte ich nicht und +so sagte ich: ‚Ganz jung ist er gerade nicht, Großmama, +aber er ist auch kein alter Mann.‘ +</p> + +<p> +„‚Und wie sieht er aus? Hat er ein angenehmes +Äußere?‘ fragte sie weiter. +</p> + +<p> +„Ich wollte wieder nicht lügen. ‚Ja, Großmutter,‘ +sagte ich, ‚er hat ein angenehmes Äußere.‘ Großmutter +aber seufzte: ‚Ach, du meine Güte! Das wird dann +wohl eine von Gott gesandte Prüfung sein! Ich sage +dir das deshalb, mein Enkelkind, damit du ihn dir +nicht zu oft ansiehst. Das ist mir jetzt mal eine Zeit! +Solch ein armer Zimmermieter und dabei ein angenehmes +Äußere! Das war in der alten Zeit ganz anders!‘ +</p> + +<p> +„Großmutter spricht nämlich immer von der alten +Zeit. Jünger war sie in der alten Zeit und die Sonne +schien wärmer in der alten Zeit und die Sahne wurde +nicht so schnell sauer in der alten Zeit – alles war +in der alten Zeit besser! Da saß ich denn und schwieg, +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +dachte aber bei mir: weshalb bringt denn Großmutter +mich selbst darauf, indem sie fragt, ob er gut aussieht +und jung ist? Aber das war nur so ein flüchtiger Gedanke, +ich begann wieder die Maschen zu zählen und +strickte weiter, und darüber vergaß ich dann alles. +</p> + +<p> +„Eines Morgens aber – tritt plötzlich der Mieter +bei uns ein: er wolle sich erkundigen, wo die neue +Tapete bliebe, die man ihm für das Zimmer versprochen +habe. Ein Wort gab das andere. Großmutter ist +doch geschwätzig, und da sagt sie denn zu mir: ‚Geh, +Nasstenka, in mein Schlafzimmer und hole das Rechenbrett.‘ +Ich sprang sogleich auf, das Blut schoß mir ins +Gesicht, ich weiß nicht, weshalb – dabei aber vergaß +ich ganz, daß ich angesteckt war; statt nun die Nadel +heimlich abzustecken, damit der Mieter sie nicht sähe, +riß ich so, daß Großmutters ganzer Sessel in die Höhe +ruckte. Als ich aber sah, daß der Mieter jetzt alles begriff, +wurde ich noch viel röter und blieb wie gelähmt +stehen: und plötzlich brach ich in Tränen aus – so +schämte ich mich und so bitter war es, daß ich in die +Erde hätte versinken mögen! Großmutter aber ruft mir +zu: ‚Was stehst du denn, geh doch!‘ Ich aber weinte +nur noch mehr ... Da erriet der Mieter, daß ich mich +vor ihm schämte, und verabschiedete sich und ging +schnell fort! +</p> + +<p> +„Seit jenem Vormittag stand mir, sobald ich nur +ein Geräusch im Flur hörte, gleich das Herz still. +‚Vielleicht ist es der Mieter, der zu uns kommt,‘ dachte +ich und steckte schnell auf alle Fälle die Nadel ab, +heimlich, damit Großmutter es nicht merkte. Nur war +es niemals er, – er kam nicht. So vergingen zwei +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +Wochen. Da ließ er uns eines Tages durch Fjokla sagen, +daß er viele Bücher habe; und gute Bücher, und +ob da nicht Großmutter sich von mir vorlesen +lassen wolle, um eine kleine Zerstreuung zu haben? +Großmutter nahm das Anerbieten mit Dank an, nur +fragte sie mich immer wieder, ob es auch wirklich anständige +Bücher wären, ‚denn wenn sie unmoralisch +sind,‘ sagte sie, ‚dann darfst du sie unter keinen Umständen +lesen, Nasstenka, du würdest nur Schlechtes +aus ihnen lernen.‘ +</p> + +<p> +„‚Was würde ich denn lernen, Großmama?‘ +fragte ich, ‚was steht denn in schlechten Büchern +geschrieben?‘ +</p> + +<p> +„‚Ja, mein Kind, da wird erzählt, wie junge Männer +sittsame Mädchen verführen, wie sie sie unter dem +Vorwand, sie heiraten zu wollen, aus dem Elternhause +entführen und dann ihrem Schicksal überlassen, und +wie die unglücklichen Mädchen zuletzt elend umkommen +und zugrunde gehen. Ich,‘ sagte Großmutter, ‚ich habe +viele solcher Bücher gelesen und alles,‘ sagte sie, ‚ist +so herrlich geschildert, daß man die ganze Nacht heimlich +in ihnen liest. Und deshalb, Nasstenka,‘ sagte sie, +‚sieh zu, daß du solche Bücher nicht liest. Was für Bücher +sind es denn, die er uns geschickt hat?‘ +</p> + +<p> +„‚Es sind Romane von Walter Scott, Großmutter,‘ +sagte ich. +</p> + +<p> +„‚Ah, Romane von Walter Scott! Aber sieh vorsichtshalber +nach, ob nicht irgendwelche Spitzbübereien +darin stecken. Vielleicht hat er einen Liebesbrief oder +ein Zettelchen hineingelegt.‘ +</p> + +<p> +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +„‚Nein,‘ sagte ich, ‚es ist kein Zettelchen drin, +Großmutter.‘ +</p> + +<p> +„‚Sieh mal ordentlich nach, auch unter dem Umschlagrücken; +zuweilen stecken sie es dorthin, die Spitzbuben!‘ +</p> + +<p> +„‚Nein, Großmutter,‘ sagte ich, ‚auch unter dem +Umschlagrücken ist nichts.‘ +</p> + +<p> +„‚Nun, Vorsicht kann nie schaden!‘ war ihre Antwort. +</p> + +<p> +„Und so fingen wir denn an, Walter Scott zu lesen, +und in etwa einem Monat waren wir fast schon +mit der Hälfte der Bücher fertig. Dann schickte er uns +wieder neue Bücher, auch Puschkin war darunter, so +daß ich ohne Bücher bald gar nicht mehr sein konnte +und darüber ganz vergaß, wie früher darüber zu sinnen, +wie ich wohl einen chinesischen Prinzen heiraten +könnte. +</p> + +<p> +„So standen die Dinge, als der Zufall es einmal +fügte, daß ich unserem Mieter auf der Treppe begegnete. +Ich mußte für Großmutter etwas holen. Er blieb +stehen, ich errötete – und er errötete gleichfalls; aber +da lachte er auch schon und begrüßte mich und erkundigte +sich nach Großmutters Befinden. Darauf fragte er, +ob ich die Bücher schon gelesen hätte. Ich sagte: ‚Ja, +ich habe sie gelesen.‘ – ‚Was hat Ihnen denn am +besten gefallen?‘ fragte er weiter. Ich sagte: ‚Ivanhoe +und Puschkin haben mir am besten gefallen.‘ Und +damit war unser Gespräch für diesmal beendet. +</p> + +<p> +„Nach einer Woche begegnete ich ihm wieder auf +der Treppe. Nur hatte mich an dem Tage nicht Großmutter +geschickt, ich hatte vielmehr selbst etwas nötig. +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +Es war nach zwei Uhr und um diese Zeit kam +unser Mieter nach Hause, das wußte ich. ‚Guten Tag!‘ +sagte er. ‚Guten Tag!‘ erwiderte ich. +</p> + +<p> +„‚Ist es Ihnen nicht langweilig, den ganzen Tag +bei der Großmutter zu sitzen?‘ fragte er. +</p> + +<p> +„Wie er das fragte, da – ich weiß nicht, weshalb +– errötete ich wieder und ich schämte mich und +seine Worte kränkten mich – wohl deshalb, weil nun +schon andere mich nach meiner Lebensweise bei Großmutter +zu fragen begannen. Ich wollte fortgehen, +ohne ihm zu antworten, aber ich hatte keine Kraft +zum Gehen. +</p> + +<p> +„‚Sie sind ein gutes Mädchen,‘ sagte er darauf. +‚Entschuldigen Sie, bitte, daß ich so zu Ihnen spreche, +aber, ich versichere Ihnen, ich wünsche Ihnen vielleicht +mehr Gutes, als Ihre Großmutter es zu tun +scheint. Haben Sie keine Freundinnen, die Sie besuchen +könnten?‘ +</p> + +<p> +„Ich sagte, ich hätte jetzt keine, denn Maschenka, +meine einzige Freundin, wäre nach Pskow gereist. +</p> + +<p> +„‚Wollen Sie nicht einmal mit mir ins Theater +fahren?‘ fragte er mich darauf. +</p> + +<p> +„‚Ins Theater?‘ fragte ich, ‚aber was soll denn +Großmutter –?‘ +</p> + +<p> +„‚Nun,‘ meinte er, ‚Sie brauchen es ihr ja nicht +zu sagen, – kommen Sie heimlich ...‘ +</p> + +<p> +„‚Nein,‘ sagte ich, ‚ich will Großmutter nicht betrügen. +Guten Tag!‘ +</p> + +<p> +„Er grüßte nur, sagte aber nichts. Am Nachmittag, +wir hatten gerade erst gespeist, kam er plötzlich zu uns. +Er setzte sich, unterhielt sich mit Großmutter, erkundigte +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +sich, ob sie nicht zuweilen auch ausfahre, ob sie +Bekannte habe – plötzlich aber sagte er: ‚Ich habe +für heute eine Loge genommen, im Opernhaus; der +Barbier von Sevilla wird gegeben, aber meine Bekannten, +mit denen ich die Vorstellung besuchen wollte, +sind plötzlich verhindert, und da sitze ich nun mit meinem +Billett.‘ +</p> + +<p> +„‚Der Barbier von Sevilla!‘ rief Großmutter, +‚ist das etwa derselbe Barbier, den man in der alten +Zeit gab?‘ +</p> + +<p> +„‚Ja,‘ sagte er, ‚es ist derselbe Barbier,‘ und dabei +sah er mich an. Ich aber hatte schon alles begriffen +und errötete und mein Herz hüpfte in Erwartung! +</p> + +<p> +„‚Aber den kenne ich ja!‘ rief Großmutter, ‚wie +sollte ich den nicht kennen! Ich habe doch in meiner +Jugend auf der Hausbühne die Rosine gespielt!‘ +</p> + +<p> +„‚Würden Sie dann nicht heute abend die Oper +einmal wieder hören wollen?‘ fragte er. ‚So fände +auch mein Billett noch eine Verwendung, sonst hätte +ich es unnütz gekauft.‘ +</p> + +<p> +„‚Nun, meinetwegen, fahren wir,‘ sagte Großmutter, +‚weshalb sollten wir nicht?! Meine Nasstenka +ist ja auch noch niemals im Theater gewesen.‘ +</p> + +<p> +„Mein Gott, war das eine Freude! Wir kleideten +uns an und dann fuhren wir. Großmutter ist zwar +blind, aber sie wollte doch wenigstens die Musik hören: +und dann, wissen Sie, sie ist eine gute alte Frau: +sie wollte hauptsächlich mir das Vergnügen gönnen, +denn ohne seine Aufforderung wären wir wohl niemals +in die Oper gekommen. Wie der Eindruck war, +den der Barbier von Sevilla auf mich machte – nun, +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +das brauche ich Ihnen wohl nicht zu sagen, das können +Sie sich schon ohnehin denken. Den ganzen Abend +sah er mich mit so guten Augen an und sprach so +freundlich zu mir: und ich erriet gleich, daß er mich +auf der Treppe nur hatte prüfen wollen, als er mich +aufforderte, allein mit ihm ins Theater zu fahren. Da +freute ich mich denn, daß ich ihm so geantwortet hatte! +Und als ich zu Bett ging, war ich so stolz, so froh +und mein Herz schlug so stark, daß ich sogar ein wenig +fieberte, und die ganze Nacht träumte mir vom Barbier +von Sevilla. +</p> + +<p> +„Ich dachte natürlich, unser Mieter werde jetzt +öfter zu uns kommen – aber da täuschte ich mich. Er +kam fast gar nicht mehr. Nur so, etwa einmal im Monat +sprach er vor, und auch das nur, um uns aufzufordern, +mit ihm ins Theater zu fahren. Zweimal +fuhren wir auch noch – nur wollte mir diese Art gar +nicht gefallen. Ich sah ein, daß ich ihm einfach nur +leid tat, weil ich bei Großmutter tagaus tagein angesteckt +sitzen mußte: weiter war es nichts. Und je länger +sich das so fortsetzte, um so mehr kam es über mich: +ich saß und versuchte zu lesen und zu arbeiten, aber +ich konnte weder sitzen, noch lesen, noch arbeiten. Zuweilen +lachte ich und stellte irgend etwas an, worüber +Großmutter sich ärgern mußte. Dann wieder war ich +den Tränen nahe oder weinte auch wohl wirklich. Zu +guter Letzt wurde ich fast krank. Die Opernsaison war +zu Ende und unser Mieter hörte nun ganz auf, zu +uns zu kommen. Wenn wir einander aber begegneten – +immer auf der Treppe, natürlich – da grüßte er nur +so ernst und schweigend und ging an mir vorüber, +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +als wolle er überhaupt nicht mit mir sprechen. Und +wenn er schon längst oben war, stand ich immer noch +auf der Treppe, rot wie eine Kirsche, denn das Blut +stieg mir sofort ins Gesicht, sobald ich ihn nur erblickte. +</p> + +<p> +„Meine Geschichte ist gleich zu Ende. Gerade vor +einem Jahr, im Mai, kam unser Mieter nach langer +Zeit wieder einmal zu uns und sagte der Großmutter, +daß er seine Geschäfte hier erledigt habe und wieder +auf ein Jahr nach Moskau fahren müsse. Wie ich das +hörte, erbleichte ich und sank auf einen Stuhl – ich +glaubte, vergehen zu müssen. Großmutter merkte nichts +davon, er aber verabschiedete sich kurz und ging. +</p> + +<p> +„Was sollte ich tun? Ich dachte und dachte und +marterte mein Gehirn und grämte mich, bis ich endlich +doch einen Entschluß faßte. Morgen fährt er, +dachte ich, und so beschloß ich, noch an demselben +Abend, sobald Großmutter eingeschlafen wäre, meinen +Vorsatz auszuführen. So geschah es auch. Ich +band, was ich an Kleidern und Wäsche nötig hatte, +in ein Bündel, und mit dem Bündel in der Hand, +mehr tot als lebendig, ging ich nach oben zu unserem +Mieter. Ich glaube, ich brauchte eine volle Stunde, +um die Treppe hinaufzusteigen. Als ich aber die Tür +zu seinem Zimmer öffnete, da sprang er auf und sah +mich an, als hielte er mich für ein Gespenst. Doch das +dauerte nur einen Augenblick. Dann griff er nach dem +Wasserglase und stand auch schon neben mir und gab +mir zu trinken, denn ich hielt mich kaum auf den Füßen. +Mein Herz schlug so, daß es mir im Kopf weh +tat und meine Sinne sich verwirrten. Als ich aber +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +wieder zu mir kam, tat ich nichts weiter, als daß ich +mein Bündel auf sein Bett legte, mich daneben setzte, +das Gesicht mit den Händen bedeckte und in eine Flut +von Tränen ausbrach. Ich glaube, da begriff er im +Augenblick alles, denn er stand vor mir und war bleich +und sah mich so traurig an, daß es mir das Herz zerriß. +</p> + +<p> +„‚Hören Sie,‘ begann er, ‚hören Sie, Nasstenka, +ich kann nicht! Ich bin ganz arm, ich habe vorläufig +noch nichts, nicht einmal eine Stellung: wie sollten +wir denn leben, wenn ich Sie heiratete?‘ +</p> + +<p> +„Wir sprachen lange. Schließlich war ich ganz fassungslos +und sagte, ich könne nicht länger bei Großmutter +bleiben, ich würde von ihr fortlaufen und ich +wolle nicht, daß man mich mit einer Stecknadel anstecke: +sobald er nur einwillige, wollte ich mit ihm nach +Moskau gehen, da ich ohne ihn nicht mehr leben könne. +Scham und Liebe und Stolz – alles brach da zugleich +aus mir hervor: und fast wie in einem Weinkrampf +sank ich aufs Bett. Ich fürchtete mich so vor einer +Zurückweisung! +</p> + +<p> +„Er schwieg eine Weile, dann stand er auf, trat +zu mir und ergriff meine Hand. +</p> + +<p> +„‚Hören Sie, meine gute, meine liebe Nasstenka!‘ +begann er, und seine Stimme bebte vor Tränen, ‚hören +Sie mich an. Ich schwöre Ihnen, wenn ich jemals +in der Lage sein werde, zu heiraten, so sollen Sie mein +Glück ausmachen. Ich versichere Ihnen, nur Sie allein +könnten es. Doch hören Sie weiter: ich fahre jetzt nach +Moskau und werde dort ein Jahr bleiben. Ich hoffe, +mir in dieser Zeit ein Auskommen zu schaffen. Wenn +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +ich dann, nach einem Jahr, zurückkehre und Sie mich +noch liebhaben, so werden wir glücklich sein, das +schwöre ich Ihnen. Jetzt jedoch ist es unmöglich, ich +besitze nichts und ich habe kein Recht, auch nur irgend +etwas zu versprechen. Sollte ich aber in einem Jahr +noch nicht so weit sein, so werden wir noch etwas länger +warten müssen, einmal aber werden wir unser +Ziel erreichen – natürlich nur dann, wenn Sie nicht +einem andern den Vorzug geben, denn binden will ich +Sie mit keinem Wort, das kann ich nicht und darf ich +nicht.‘ +</p> + +<p> +„So sprach er damals zu mir und am nächsten +Tage fuhr er fort. Vorher aber sprachen wir uns noch +aus und beschlossen, der Großmutter nichts zu sagen. +Er wollte es so. Nun, und ... meine Geschichte ist fast +zu Ende. Es ist jetzt genau ein Jahr vergangen. Er ist +zurückgekehrt, er ist schon ganze drei Tage hier und +... und ...“ +</p> + +<p> +„Und – was?“ fragte ich gespannt. +</p> + +<p> +„... Und ist bis jetzt noch nicht gekommen!“ schloß +Nasstenka, indem sie sich mit aller Gewalt zusammennahm, +„kein Wort von ihm, kein Brief ...“ +</p> + +<p> +Sie stockte, schwieg ein wenig, senkte den Kopf und +plötzlich brach sie, die Hände vor das Gesicht schlagend, +in Tränen aus und weinte so verzweifelt, daß es +mir das Herz zerriß. +</p> + +<p> +Eine solche Lösung hatte ich nicht erwartet. +</p> + +<p> +„Nasstenka!“ sagte ich mit aller Güte und Teilnahme +in der Stimme. „Nasstenka, um Gottes willen, +so weinen Sie doch nicht so! Woher wissen Sie es +denn? Vielleicht ist er noch gar nicht hier ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +„Doch, doch, er ist hier!“ bestätigte sie eifrig, „ich +weiß es. Wir trafen damals noch eine Verabredung, +an jenem Abend vor seiner Abreise – als wir uns +ausgesprochen und uns alles gesagt hatten, was ich +Ihnen soeben erzählt habe, da kamen wir hierher und +spazierten hier auf und ab. Es war zehn Uhr und wir +saßen auf dieser Bank. Ich weinte nicht mehr, es war +mir so süß, zu hören, was er zu mir sprach ... Er +sagte, er werde sogleich nach seiner Ankunft zu uns +kommen, und wenn ich mich dann nicht von ihm lossagte, +würden wir alles der Großmutter mitteilen. +Jetzt aber ist er zurückgekehrt, ich weiß es, und zu uns +ist er nicht gekommen, <em>nicht</em> gekommen!“ +</p> + +<p> +Und wieder brach sie in Tränen aus. +</p> + +<p> +„Mein Gott! Kann man Ihnen denn nicht irgendwie +helfen?“ rief ich und sprang in meiner Ratlosigkeit +von der Bank auf. „Sagen Sie, Nasstenka, könnte +ich nicht zu ihm gehen und mit ihm sprechen?“ +</p> + +<p> +„Ginge denn das?“ fragte sie, plötzlich aufschauend. +</p> + +<p> +„Nein, eigentlich nicht, natürlich nicht! ... Aber +hören Sie: schreiben Sie ihm einen Brief.“ +</p> + +<p> +„Nein, das ist unmöglich, das geht erst recht +nicht!“ versetzte sie schnell, senkte jedoch das Köpfchen +und sah mich nicht an. +</p> + +<p> +„Weshalb denn nicht? Weshalb sollte es unmöglich +sein?“ fuhr ich fort, denn mein Plan begann mir +zu gefallen. „Die Frage ist nur: was für einen Brief! +Zwischen Brief und Brief ist ein Unterschied und ... +Ach, Nasstenka, vertrauen Sie mir doch! Ich will +Ihnen keinen schlechten Rat geben. Es läßt sich das +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +wirklich machen, glauben Sie mir! Sie haben doch den +ersten Schritt getan – weshalb wollen Sie denn jetzt +nicht ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, es geht nicht, es geht wirklich nicht! +Damals habe ich mich schon fast – aufgedrängt ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Sie Kind!“ unterbrach ich sie, ohne mein +Lächeln zu verbergen, „nein, da irren Sie sich. Und +schließlich haben Sie dazu das volle Recht, da er Ihnen +sein Wort gegeben hat. Übrigens scheint er auch, +wie ich aus allem ersehe, ein durch und durch anständiger +Mensch zu sein,“ fuhr ich fort und ließ mich von +der Logik meiner Folgerungen und Schlüsse mehr und +mehr gefangennehmen. „Wie hat er denn an Ihnen +gehandelt? Er hat sich durch sein Versprechen gebunden. +Er hat gesagt, daß er nur Sie heiraten werde, +sobald er erst einmal so weit sein würde; Ihnen dagegen +hat er volle Freiheit gelassen, so daß Sie, wenn +Sie wollen, jeden Augenblick sich von ihm lossagen +können ... Folglich dürfen Sie jetzt ruhig den ersten +Schritt tun, denn er hat Ihnen in allem das Vorrecht +überlassen – ganz gleich, ob es sich nun um die Rückgabe +des bindenden Wortes handelt, oder um etwas +anderes ...“ +</p> + +<p> +„Sagen Sie – wie würden Sie an meiner Stelle +schreiben?“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Nun, diesen Brief an ihn.“ +</p> + +<p> +„Ich? – Oh, ganz einfach: ‚Sehr geehrter +Herr ...‘“ +</p> + +<p> +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +„Muß man unbedingt so anfangen?“ +</p> + +<p> +„Unbedingt. Übrigens, haben Sie etwas dagegen +einzuwenden? Ich denke ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, schon gut! Weiter!“ +</p> + +<p> +„Also: ‚Sehr geehrter Herr! Entschuldigen Sie, +daß ich ...‘ Übrigens nein, Entschuldigungen sind +überflüssig. Hier erklärt ja schon die Tatsache alles. +Also einfach: ‚Ich schreibe Ihnen. Verzeihen Sie meine +Ungeduld, aber ich war ein ganzes Jahr lang so glücklich, +da ich immer in meiner Hoffnung lebte – woher +sollte ich jetzt wohl die Geduld nehmen, auch nur einen +Tag der Ungewißheit zu ertragen? Jetzt, wo Sie schon +zurückgekehrt sind und mich doch noch nicht aufgesucht +haben, muß ich annehmen, daß Sie Ihre Absicht inzwischen +aufgegeben haben. In dem Fall soll dieser +Brief Ihnen nur sagen, daß ich nicht klage und Ihnen +keinen Vorwurf mache. Wie sollte ich auch, denn +es ist doch nicht Ihre Schuld, wenn ich Ihr Herz nur +für eine kurze Zeit zu fesseln vermocht habe. Dann ist +es eben mein Schicksal ... Sie sind ein vornehm +denkender Mensch und Sie werden über meine ungeschickten +Zeilen weder lächeln noch sich ärgern. Aber +trotzdem – vergessen Sie nicht, daß ein armes Mädchen +an Sie schreibt, daß sie ganz allein ist und keinen +Menschen hat, dem sie sich anvertrauen und der ihr +Rat erteilen könnte, und daß sie auch nie verstanden +hat, ihr Herz zu bezwingen. Doch seien Sie mir nicht +böse, wenn es unrecht von mir gewesen sein sollte, +auch nur für einen Augenblick in meiner Seele Zweifel +gehegt zu haben. Ich weiß, daß Sie nicht einmal +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +in Gedanken diejenige zu kränken vermögen, die Sie so +geliebt hat und noch liebt.‘“ +</p> + +<p> +„Ja, ja! So habe ich es mir auch schon gedacht!“ +rief Nasstenka und ihre Augen glänzten vor Freude. +„Oh, Sie haben mich von allen meinen Ungewißheiten +erlöst! Gott selbst hat Sie mir gesandt! Ich danke +Ihnen, ich danke Ihnen!“ +</p> + +<p> +„Wofür? Dafür, daß Gott mich zu Ihnen gesandt +hat?“ fragte ich und betrachtete entzückt ihr freudestrahlendes +Gesichtchen. +</p> + +<p> +„Ja, meinetwegen dafür!“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka! Wir sind doch wirklich manchen +Menschen nur dafür dankbar, daß sie mit uns leben +oder überhaupt nur leben. Ich zum Beispiel bin Ihnen +ganz unendlich dankbar dafür, daß Sie mir begegnet +sind und daß ich nun mein Leben lang an Sie +werde denken können.“ +</p> + +<p> +„Nun, schon gut, genug! Aber jetzt – Sie wissen +ja noch gar nicht alles – also hören Sie: Damals +verabredeten wir, daß er sogleich nach seiner Rückkehr +mir eine Nachricht zukommen lassen solle, und zwar +durch meine Bekannten: gute, einfache Leute, die von +all dem nichts wissen; falls er aber nicht schreiben +könne, da sich in einem Brief doch oft nicht alles sagen +läßt, so sollte er gleich am ersten Tage um Punkt zehn +Uhr abends hierher kommen, wo wir uns dann treffen +wollten. Daß er in Petersburg bereits angekommen ist, +das weiß ich; aber jetzt ist er bereits seit drei Tagen +hier und bis jetzt habe ich weder einen Brief von ihm +erhalten, noch ist er selbst gekommen. Am Tage ist es +mir nicht möglich, unbemerkt von Großmutter fortzugehen. +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +Deshalb – oh, seien Sie so gut und geben +Sie jenen Leuten, von denen ich sprach, meinen Brief +– sie werden ihn weiterbefördern. Wenn aber eine +Antwort von ihm eintrifft, so bringen Sie sie mir um +zehn Uhr abends hierher – ja?“ +</p> + +<p> +„Aber der Brief, der Brief! Zuerst muß doch der +Brief noch geschrieben werden! Sonst kann ich das +allenfalls erst übermorgen besorgen.“ +</p> + +<p> +„Der Brief ...“ Nasstenka sah etwas verwirrt +zu Boden, „der Brief ... ja aber ...“ +</p> + +<p> +Sie stockte und sprach nicht zu Ende, wandte das +Gesichtchen, das wie eine Rose erglühte, von mir fort, +und plötzlich fühlte ich in meiner Hand einen Brief – +einen geschlossenen und natürlich nicht erst ganz vor +kurzem geschriebenen Brief. Und zugleich – der Schalk +rief eine Erinnerung in mir wach – klang mir plötzlich +eine reizende graziöse Melodie im Ohr und – +</p> + +<p> +„Ro–osi–ina!“ sang ich. +</p> + +<p> +„Oh! ‚Ro–o–osi–i–ina!‘“ sangen wir beide, +und ich war nahe daran, sie vor lauter Wonne in +meine Arme zu schließen, während sie noch heftiger errötete +und durch Tränen lachte, die wie Tautropfen +silbern an ihren Wimpern glänzten. +</p> + +<p> +„Nun, genug, genug! Jetzt leben Sie wohl!“ +sagte sie schnell. „Den Brief haben Sie, und auf dem +Umschlag steht die Adresse, dort geben Sie ihn ab. +Leben Sie wohl! Auf Wiedersehen: morgen!“ +</p> + +<p> +Sie drückte mir fest beide Hände, nickte mir noch +einmal zu und huschte wie ein Schatten in ihre kleine +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +Querstraße. Ich stand noch lange auf demselben Fleck +und sah ihr nach. +</p> + +<p> +„Auf Wiedersehen: morgen! Morgen!“ fuhr es +mir durch den Sinn, als sie meinen Blicken entschwunden +war. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-4"> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +Die dritte Nacht. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Heute war ein trauriger regnerischer Tag, so +grau und trüb und lichtlos – ganz wie das Alter, +das mir bevorstand. Und jetzt bedrücken mich so seltsame +Gedanken, so dunkle Empfindungen, und Probleme, +die mir selbst noch völlig unklar sind, drängen sich in +meine Gedanken – und dabei habe ich doch weder die +Kraft noch den Wunsch, sie zu lösen. Nun, das ist +auch eigentlich nicht meine Sache! +</p> + +<p> +Heute haben wir uns nicht gesehen. Als wir gestern +Abschied nahmen, zogen schon dunkle Wolken auf +und Nebel erhob sich. Ich sagte noch: „Morgen werden +wir einen trüben Tag haben“. Sie antwortete +darauf nichts – was hätte sie auch antworten sollen? +Für sie war dieser Tag hell und klar und kein Wölkchen +würde auf ihr Glück einen Schatten werfen. +</p> + +<p> +„Wenn es regnet, werden wir uns nicht sehen,“ +sagte sie endlich, „dann komme ich nicht.“ +</p> + +<p> +Ich dachte, sie werde den Regen heute gar nicht +bemerkt haben, aber sie kam doch nicht. +</p> + +<p> +Gestern sahen wir uns zum drittenmal – es war +unsere dritte helle Nacht ... +</p> + +<p> +Indessen – wie doch Freude und Glück einen +Menschen schön machen! Wie atmet im Herzen die +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +Liebe! Es ist, als wolle man sein ganzes Herz in ein +anderes Herz überströmen lassen, man will, daß alles +froh sei! daß alles lache! Und wie ansteckend ist diese +Freude! Gestern war in ihren Worten soviel Zärtlichkeit +und in ihrem Herzen soviel Güte zu mir ... +Wie aufmerksam sie war, wie nett, wie freundlich und +lieb! wie sie mich ermunterte und mein Herz erquickte! +Oh, wieviel süße Schelmerei vor lauter Glück! Und +ich ... Ich nahm alles für bare Münze und dachte, daß +sie ... +</p> + +<p> +Mein Gott, wie konnte ich nur so etwas denken? +Wie konnte ich so blind sein, wo ich doch wußte, daß +alles schon einem anderen gehörte und wo ich mir doch +hätte sagen müssen, daß all ihre Zärtlichkeit und Liebe +... ja, ihre Liebe zu mir – nichts anderes war, als +ein Ausdruck ihrer Freude über das bevorstehende Wiedersehen +mit ihm und ihr Wunsch, an diesem Glücke +auch mich teilnehmen zu lassen, oder es einfach auf mich +zu übertragen? ... Als er aber nicht kam und wir vergeblich +warteten, da ward sie doch traurig und bekümmert +und verzagt. Ihre Bewegungen und ihre Worte +waren nicht mehr so leicht und gleichsam beflügelt, +nicht mehr so ausgelassen lustig. Doch sonderbarerweise +verdoppelte sie dann ihre Aufmerksamkeit und Freundlichkeit +gegen mich, und es war mir, als wolle sie alles, +was sie für sich wünschte und worum sie bangte, weil +es vielleicht für sie nie in Erfüllung gehen würde, unwillkürlich +wenigstens mir schenken. Und zitternd für +ihr eigenes Glück, voll Angst und Sehnsucht begriff +sie endlich, daß auch ich liebte, daß ich <em>sie</em> liebte, und +etwas wie Mitleid mit meiner armen Liebe ergriff sie. +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +Denn wenn wir selbst unglücklich sind, dann können wir +das Unglück anderer besser nachfühlen, und das Gefühl +zerstreut sich nicht so, sondern sammelt sich ... +</p> + +<p> +Ich kam zu ihr mit vollem Herzen, nachdem ich +die Stunde des Wiedersehens kaum hatte erwarten +können. Ich ahnte aber noch nicht, was ich in dieser +Stunde empfinden würde, und ebensowenig sah ich +voraus, wie anders alles enden sollte. Sie strahlte vor +Freude, denn sie erwartete die Antwort. Und die Antwort, +die sollte er selbst bringen ... daß er auf ihren +Ruf unverzüglich zu ihr eilen würde – davon war +sie fest überzeugt. Sie war schon eine ganze Stunde +vor mir zur Stelle. Anfangs lachte sie über alles, fast +über jedes Wort, das ich sprach. Ich wollte weitersprechen, +doch plötzlich – schwieg ich. +</p> + +<p> +„Wissen Sie, weshalb ich so froh bin?“ fragte sie, +„– und mich so freue, Sie zu sehen? – weshalb ich +Sie heute so liebe?“ +</p> + +<p> +„Nun?“ fragte ich und mein Herz bebte. +</p> + +<p> +„Ich liebe Sie, weil Sie sich nicht in mich verliebt +haben. Ein anderer zum Beispiel hätte doch an Ihrer +Stelle angefangen, mich zu beunruhigen und zu belästigen +und hätte geseufzt und den Kranken gespielt, Sie +aber sind so nett und lieb!“ +</p> + +<p> +Und sie drückte meine Hand so fest, daß ich fast +aufgeschrien hätte. Und dann lachte sie wieder. +</p> + +<p> +„Mein Gott! was sind Sie doch für ein Freund!“ +fuhr sie nach einer Weile sehr ernst fort. „Ich glaube +wirklich, daß Gott selbst Sie mir gesandt hat. Was +würde wohl aus mir werden, wenn Sie jetzt nicht bei +mir wären? Wie uneigennützig Sie sind! und mit wieviel +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +Güte Sie mich lieben! Wenn ich verheiratet bin, +werden wir gute Freunde sein – wie Brüder. Ich +werde Sie fast ebenso lieben, wie ihn ...“ +</p> + +<p> +Das tat mir weh und im Augenblick empfand ich +schmerzvolle Trauer, doch zugleich regte sich auch so +etwas wie ein Lachen in meiner Seele. +</p> + +<p> +„Sie sind unruhig,“ sagte ich, „die Angst sitzt Ihnen +im Herzen, denn Sie fürchten innerlich doch, daß +er nicht kommen wird.“ +</p> + +<p> +„Gott mit Ihnen! – wäre ich weniger glücklich, +so würden Ihr Unglaube und Ihre Vorwürfe mich +wahrscheinlich zum Weinen bringen. Übrigens haben +Sie mich auf einen Gedanken gebracht, über den ich +noch lange grübeln kann. Doch das werde ich nachher +tun; jetzt aber will ich Ihnen gestehen, daß Sie die +Wahrheit erraten haben. Ja! Ich bin irgendwie nicht +– ich selbst. Ich bin in der Tat eigentlich nichts als +Erwartung und fühle und höre und nehme alles nur +so von ungefähr ... Doch genug davon, reden wir +nicht mehr von Gefühlen ...“ +</p> + +<p> +Da plötzlich hörten wir Schritte und aus der Dunkelheit +kam uns ein Fußgänger entgegen. Wir zuckten +beide zusammen, sie hatte fast aufgeschrien. Ich zog +meinen Arm zurück, auf dem ihre Hand lag, und +machte eine Wendung, um unauffällig fortzugehen. +Doch wir täuschten uns: es war ein Fremder, der ruhig +vorüberging. +</p> + +<p> +„Was fürchten Sie? Weshalb zogen Sie Ihren +Arm zurück?“ fragte sie, indem sie wieder meinen Arm +nahm. „Was ist denn dabei? Wir werden ihm Arm +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +in Arm entgegengehen. Ich will, daß er sieht, wie wir +einander lieben.“ +</p> + +<p> +„Wie wir einander lieben!“ rief ich. +</p> + +<p> +– „Oh, Nasstenka, Nasstenka!“ dachte ich im +stillen, „wie viel du mit diesem Wort gesagt hast! Bei +solcher Liebe, Nasstenka, kann das Herz wohl erfrieren +... und die Seele ist dann tottraurig ... +Deine Hand ist kühl, Nasstenka, meine aber ist heiß +wie Feuer. Wie blind du bist, Nasstenka! ... Oh! wie +unerträglich kann doch ein glücklicher Mensch zuweilen +sein! Aber dir böse sein: das könnte ich doch nicht! ...“ +</p> + +<p> +Schließlich war mein Herz so voll von alledem, daß +ich sprechen mußte, ob ich wollte oder nicht. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Nasstenka!“ rief ich, „wissen Sie, +was heute den ganzen Tag mit mir gewesen ist?“ +</p> + +<p> +„Nun, was, was denn? Erzählen Sie schnell! +Warum haben Sie denn bis jetzt geschwiegen!“ +</p> + +<p> +„Erstens, Nasstenka, als ich alle Ihre Aufträge erfüllt, +den Brief bei Ihren guten Leuten abgegeben +hatte, da ... da ging ich nach Hause und legte mich +schlafen ...“ +</p> + +<p> +„Und das war alles?“ unterbrach sie mich lachend. +</p> + +<p> +„Ja, fast alles,“ versetzte ich, mich schnell zusammennehmend, +denn die dummen Tränen wollten mir +mit Gewalt in die Augen treten. „Ich erwachte erst +eine Stunde vor dem von uns verabredeten Wiedersehen, +aber es war mir, als hätte ich gar nicht geschlafen. +Ich weiß nicht, was mit mir war. Und als ich herkam, +da war es, als käme ich nur, um Ihnen das alles +zu erzählen. Es war, als sei die Zeit für mich stehengeblieben, +als müßte eine Empfindung, ein einziges Gefühl +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +von nun an ewig mich beherrschen, als müßte ein +Augenblick eine ganze Ewigkeit währen und als sei das +ganze Leben in mir stehen geblieben ... Als ich erwachte, +da war es mir, als erinnerte ich mich eines +musikalischen Motivs, das ich einmal vor langer Zeit +gehört und inzwischen vergessen haben mochte. Und es +schien mir, als habe es sich schon mein Leben lang aus +meiner Seele hervordrängen wollen, und jetzt erst ...“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott!“ unterbrach mich Nasstenka, +„wie kommt denn das? Ich begreife kein Wort.“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka! Ich wollte Ihnen diesen seltsamen +Eindruck irgendwie wiedergeben ...“ begann ich mit +trauriger Stimme, in der sich aber doch noch Hoffnung +verbarg, wenn auch nur eine ganz entfernte. +</p> + +<p> +„Schon gut, hören Sie auf, schon gut, schon gut!“ +sagte sie schnell – in einem Augenblick hatte sie alles +erraten, die Schelmin! +</p> + +<p> +Sie ward sehr gesprächig und lustig und sogar unartig. +Sie nahm meinen Arm, lachte, erzählte, wollte +unbedingt, daß auch ich zu lachen anfinge, und jedes +verwirrte Wort von mir rief bei ihr ein helles und +übermütiges Lachen hervor ... Ich fing an, mich zu +ärgern, und plötzlich begann sie zu kokettieren. +</p> + +<p> +„Hören Sie mal,“ hub sie an, „ein wenig ärgert +es mich doch, daß Sie sich gar nicht in mich verliebt +haben. Da werde einer jetzt klug aus den Menschen! +Immerhin, mein unbezwingbarer Herr, müssen Sie doch +wenigstens das anerkennen, daß ich so harmlos und +offenherzig bin. Ich sage Ihnen alles, alles, gleichviel +was für eine Dummheit mir gerade durch den Kopf +fährt.“ +</p> + +<p> +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +„Da! Hören Sie? Es schlägt elf,“ sagte ich, als +fernher der erste gemessene Schlag der Turmuhr erklang. +</p> + +<p> +Sie blieb stehen, ihr Lachen war verstummt, sie +zählte jeden Schlag. +</p> + +<p> +„Ja, elf,“ sagte sie endlich etwas zaghaft und unschlüssig. +</p> + +<p> +Ich bereute sogleich, daß ich sie unterbrochen und +die Schläge hatte zählen lassen. Und ich verwünschte +mich ob der Bosheit, die mich angewandelt. Es tat mir +leid um sie, und ich wußte nicht, wie ich mein Vergehen +gutmachen sollte. Ich versuchte, sie zu trösten und +Gründe für sein Fernbleiben zu suchen. Ich führte verschiedene +Beispiele an, bewies und folgerte: und wirklich +ließ sich niemand leichter überzeugen, als sie in +diesem Augenblick, wie ja wohl ein jeder unter solchen +Umständen mit Freuden jeden Trost anhören und selbst +noch für den Schatten einer Rechtfertigung dem anderen +dankbar sein würde. +</p> + +<p> +„Ja, und überhaupt,“ fuhr ich fort, indem ich mich +immer mehr für ihn einsetzte, und dabei selbst sehr eingenommen +von der Klarheit meiner Beweise war, „er +konnte ja heute noch gar nicht kommen. Sie haben Ihre +Erwartung und Unruhe auch auf mich übertragen, +Nasstenka, so daß auch ich die Zeitschätzung ganz vergaß +... Bedenken Sie doch nur: er hat ja kaum erst +den Brief erhalten können! Nehmen wir jetzt an, daß +er verhindert ist, persönlich zu erscheinen, und daß +er schreiben wird – dann können Sie den Brief doch +gar nicht früher bekommen, als morgen. Ich werde in +aller Frühe hingehen und Sie dann sogleich benachrichtigen. +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +Und überdies können wir ja noch tausend andere +Wahrscheinlichkeiten annehmen – sagen wir zum Beispiel: +er ist nicht zu Hause gewesen, als der Brief +kam, und er hat ihn vielleicht bis jetzt noch nicht gelesen. +Es ist doch alles möglich.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja!“ pflichtete mir Nasstenka schnell bei, „ich +habe daran gar nicht gedacht, natürlich ist alles möglich,“ +bestätigte sie mit bereitwillig nachgiebiger Stimme, +aus der aber doch, wie eine ärgerliche kleine Dissonanz, +ein anderer ferner Gedanke herauszuhören war. +</p> + +<p> +„Dann bleibt es dabei und wir machen es so: Sie +gehen morgen möglichst früh zu jenen guten Leuten, +und wenn Sie dort etwas erhalten, so benachrichtigen +Sie mich unverzüglich. Sie wissen doch, wo ich wohne?“ +Und sie nannte mir ihre Adresse. +</p> + +<p> +Dann wurde sie mit einemmale so zärtlich zu mir, +und dabei schien sie doch eine gewisse Schüchternheit +anzuwandeln ... Scheinbar hörte sie mir auch aufmerksam +zu ... als ich mich aber mit einer Frage an +sie wandte, da schwieg sie und kehrte verwirrt das +Köpfchen von mir fort. Ich beugte mich ein wenig vor, +um ihr ins Gesicht zu sehen – und wahrhaftig: so +war’s: sie weinte. +</p> + +<p> +„Nun, nun! Ist’s möglich? Ach, was für ein Kind +Sie sind! Was für ein kleines unvernünftiges Kind! +... Hören Sie doch auf! ... Worüber weinen Sie +denn?“ +</p> + +<p> +Sie versuchte, zu lächeln und sich zu beherrschen, +aber ihr Gesicht zuckte und ihre Brust wogte immer +noch. +</p> + +<p> +„Ich habe nur über Sie nachgedacht,“ sagte sie +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +nach längerem Schweigen. „Sie sind so gut, +daß ich von Stein sein müßte, wenn ich das +nicht herausfühlte. Wissen Sie, was mir soeben +in den Sinn kam? Ich verglich Sie beide. Warum +ist er – nicht Sie? Warum ist er nicht so wie +Sie? Er ist schlechter, als Sie und doch liebe ich ihn +mehr, als ich Sie liebe.“ +</p> + +<p> +Ich antwortete nichts. Sie aber wartete, wie es +schien, auf eine Bemerkung von mir. +</p> + +<p> +„Selbstverständlich ist es möglich, daß ich ihn vielleicht +nicht ganz verstehe, und ich kenne ihn ja auch +noch gar nicht so gut. Aber wissen Sie, es ist mir, als +hätte ich ihn immer ein wenig gefürchtet. Er war immer +so ernst und so ... wie stolz. Natürlich, ich weiß +ja, das war nur der äußere Schein. In seinem Herzen +ist sogar noch mehr Zärtlichkeit, als in meinem ... +Ich weiß noch, wie er mich damals ansah – wissen +Sie, als ich mit meinem Bündel zu ihm kam ... Aber +doch ist es so, als stellte ich ihn irgendwie gar zu hoch, +und das ist dann doch wieder so, als wären wir einander +nicht gleich, nicht ebenbürtig?“ +</p> + +<p> +„Nein, Nasstenka,“ sagte ich, „das bedeutet nur, +daß Sie ihn mehr als alles andere in der Welt lieben, +und sogar viel mehr als sich selbst.“ +</p> + +<p> +„Ja, nun gut, mag das so sein,“ entgegnete Nasstenka +naiv, „aber wissen Sie, was mir jetzt wieder in +den Sinn gekommen ist? Nur werde ich jetzt nicht mehr +von ihm sprechen, sondern im allgemeinen – ich habe +darüber eigentlich schon lange nachgedacht. Hören Sie +also und sagen Sie mir: warum sind wir nicht alle wie +Brüder zueinander? Warum kommt es einem selbst +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +beim besten Menschen immer vor, als verberge er etwas +vor dem anderen und verschweige es ihm? Warum sagt +nicht ein jeder ganz offen, was er gerade auf dem +Herzen hat, wenn man weiß, daß man seine Worte +nicht in den Wind spricht? Jetzt schaut ein jeder drein, +als sei er viel kälter und schroffer, als er es in Wirklichkeit +ist, und es ist fast, als fürchteten die Menschen, +sich etwas zu vergeben, wenn sie ihre Gefühle ohne weiteres +voreinander äußerten ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka! Sie haben gewiß recht, aber das +geschieht doch aus sehr verschiedenen Gründen,“ versetzte +ich, während ich mich gerade in diesem Augenblick +mehr denn je zusammennahm und meine innersten Gefühle +verbarg. +</p> + +<p> +„Nein, nein!“ widersprach sie mir mit tiefer Überzeugung. +„Sie zum Beispiel sind nicht so wie die anderen! +Ich ... verzeihen Sie, ich weiß nicht, wie ich +Ihnen das erklären soll, was ich empfinde, aber es +scheint mir, daß Sie ... zum Beispiel jetzt, gerade +jetzt ... ja, es scheint mir, daß Sie mir ein Opfer +bringen,“ sagte sie fast zaghaft und ihr Blick streifte +mich dabei flüchtig. „Verzeihen Sie mir, daß ich so zu +Ihnen spreche. Ich bin ein einfaches Mädchen und +habe noch wenig gesehen im Leben, und wirklich: ich +verstehe mich oft gar nicht richtig auszudrücken,“ fügte +sie mit einer Stimme hinzu, die von einem verborgenen +Gefühl zitterte, während sie sich zu einem Lächeln +zwang, „aber ich wollte Ihnen doch sagen, daß ich Ihnen +dankbar bin und daß ich dies selbst weiß und empfinde +... Oh, möge Gott Sie dafür glücklich machen! +Das aber, was Sie mir damals von Ihrem Träumer +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +erzählten, das ist ja gar nicht wahr! – ich meine: das +hat doch nichts mit Ihnen zu tun! Sie werden gesund +werden, und überhaupt – Sie sind doch ein ganz anderer +Mensch, als wie Sie sich selbst geschildert haben. +Sollten Sie aber einmal lieben, dann gebe Gott Ihnen +alles Glück! Derjenigen aber, die Sie lieben, brauche +ich nichts mehr zu wünschen, denn mit Ihnen wird sie +ohnehin glücklich sein! Ich weiß es, ich bin selbst ein +Weib, und darum können Sie mir glauben, wenn ich +es Ihnen sage ...“ +</p> + +<p> +Sie verstummte und wir tauschten einen herzlichen +Händedruck. Auch ich war zu erregt, um noch sprechen +zu können. Wir schwiegen beide. +</p> + +<p> +„Ja, heute wird er nicht mehr kommen,“ sagte sie +endlich und hob den Kopf. „Es ist zu spät ...“ +</p> + +<p> +„Er wird morgen kommen,“ sagte ich in festem, +überzeugtem Tone. +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte sie munter, „ich sehe es jetzt selbst ein, +daß es heute noch zu früh war, und daß er erst morgen +kommen wird. Nun, dann also auf Wiedersehen: morgen! +Wenn es regnet, werde ich vielleicht nicht kommen. +Aber übermorgen – übermorgen werde ich bestimmt +kommen, und Sie – kommen Sie gleichfalls +unbedingt. Ich will Sie sehen, ich werde Ihnen dann +alles erzählen.“ +</p> + +<p> +Und als wir uns verabschiedeten, reichte sie mir die +Hand und sagte, indem sie mir mit klarem Blick in die +Augen sah: +</p> + +<p> +„Von nun an werden wir doch immer beisammen +bleiben, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +Oh! Nasstenka, Nasstenka! Wenn du wüßtest, wie +einsam ich jetzt bin! +</p> + +<p> +Als es aber am anderen Abend neun schlug, da hielt +ich es in meinem Zimmer nicht mehr aus: ich kleidete +mich an und ging trotz des Regenwetters. Ich war dort +und saß auf der Bank. Nach einer Weile stand ich auf +und ging in ihre Gasse, dann aber schämte ich mich und +zwei Schritte vor ihrem Hause kehrte ich wieder um, +ohne nach ihren Fenstern hinaufgesehen zu haben. Ich +kam in einer Stimmung nach Hause, wie ich sie bisher +noch nie erlebt hatte. Wie feucht, wie öde, wie langweilig! +Wäre das Wetter schön, sagte ich mir, dann +würde ich die ganze Nacht lang dort umhergehen ... +</p> + +<p> +Doch bis morgen, bis morgen! Morgen wird sie +mir alles erzählen. +</p> + +<p> +Immerhin mußte ich mir sagen, daß er auf ihren +Brief nicht geantwortet hatte: wenigstens heute nicht. +Doch übrigens, so ist es ja auch ganz in der Ordnung. +Was sollte er auch schreiben? – Er wird ja selbst +kommen ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-5"> +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +Die vierte Nacht. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Mein Gott, daß es so enden würde, so! +</p> + +<p> +Ich kam um neun Uhr. Sie war bereits da. Ich erblickte +sie schon von weitem: sie stand wie damals, als +ich sie zum ersten Male sah, damals, am Kai, und stützte +sich auf das Geländer und hörte nicht, wie ich mich +ihr näherte. +</p> + +<p> +„Nasstenka!“ rief ich sie an, kaum fähig, meine +Erregung zu bezwingen. +</p> + +<p> +Sie fuhr zusammen und wandte sich schnell nach +mir um. +</p> + +<p> +„Nun,“ sagte sie, „nun? Schneller!“ +</p> + +<p> +Ich sah sie verständnislos an. +</p> + +<p> +„Geben Sie mir den Brief! Sie haben doch den +Brief gebracht?!“ Ihre Hand griff nach dem Geländer. +</p> + +<p> +„Nein, ich habe keinen Brief,“ sagte ich langsam. +„Ist er denn noch nicht hier gewesen?“ +</p> + +<p> +Sie ward unheimlich blaß und sah mich lange +starr an. Ich hatte ihre letzte Hoffnung vernichtet. +</p> + +<p> +„Gott mit ihm!“ sagte sie endlich mit stockender +Stimme und zuckenden Lippen. „Gott mit ihm, wenn +er mich so verläßt ...“ +</p> + +<p> +Sie schlug die Augen nieder – wollte dann zu +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +mir aufsehen, vermochte es aber nicht. Eine Weile +stand sie noch und meisterte ihre Erregung, dann wandte +sie sich plötzlich fort, stützte die Ellenbogen auf das +Geländer und brach in Tränen aus. +</p> + +<p> +„Beruhigen Sie sich! Beruhigen Sie sich!“ suchte +ich sie zu trösten, doch hatte ich beim Anblick ihres +Kummers nicht mehr die Kraft, fortzufahren – und +was sollte ich ihr denn auch sagen? +</p> + +<p> +„Suchen Sie nicht mich zu trösten,“ sagte sie weinend, +„reden Sie nicht von ihm, sagen Sie nicht, daß +er noch kommen wird, und es nicht wahr sei, daß er +mich so grausam verlassen habe, so unmenschlich grausam, +wie er es getan! Und warum, warum? Sollte +denn wirklich etwas Schlechtes in meinem Brief gewesen +sein, in diesem unseligen Brief? ...“ +</p> + +<p> +Erneutes Schluchzen erstickte ihre Stimme. Ich +glaubte, mein Herz müsse brechen vor Mitleid. +</p> + +<p> +„Oh, wie unmenschlich grausam das ist!“ begann +sie wieder. +</p> + +<p> +„Und keine Zeile, kein Wort! Wenn er doch wenigstens +geantwortet hätte, geschrieben, daß er mich +nicht brauche, daß er mich nicht wolle! Aber so – nicht +eine Zeile, nicht ein Wort in den ganzen drei Tagen! +Wie leicht es ihm fällt, mich zu kränken, ein armes schutzloses +Mädchen zu verletzen, dessen einzige Schuld nur +darin besteht, ihn zu lieben! Oh, was ich in diesen drei +Tagen durchgemacht habe! Mein Gott! Mein Gott! +Wenn ich denke, daß ich das erstemal ungerufen, ungebeten +zu ihm gegangen bin, daß ich mich vor ihm erniedrigt +habe, geweint, daß ich ihn um ein wenig, nur +ein wenig Liebe gebeten ... Und jetzt das! ... Nein, +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +wissen Sie,“ – sie wandte sich mir wieder zu und ihre +dunklen Augen sprühten – „es ist ja nicht möglich! +Es <em>kann</em> doch nicht so sein! Das ist doch unmenschlich! +Entweder habe ich mich getäuscht – oder Sie! Vielleicht +hat er den Brief gar nicht erhalten? Vielleicht +weiß er bis jetzt noch nichts von ihm? Anders ist es +doch nicht möglich, urteilen Sie doch selbst, sagen Sie +mir, um Gottes willen, erklären Sie mir – ich kann +es nicht begreifen – wie kann man einen Menschen +so barbarisch roh behandeln, wie er mich behandelt hat! +Kein einziges Wort auf meinen Brief! Selbst mit dem +unwürdigsten Menschen geht man doch mitleidiger um! +Oder – oder sollte ihm jemand etwas über mich erzählt +haben?“ wandte sie sich plötzlich an mich. „Wie? +was meinen Sie?“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie was, Nasstenka: ich werde morgen +zu ihm gehen, in Ihrem Namen.“ +</p> + +<p> +„Und?“ +</p> + +<p> +„Und ich werde ihn einfach fragen und ihm alles +erzählen.“ +</p> + +<p> +„Und dann?“ +</p> + +<p> +„Und Sie schreiben ihm einen Brief. Sagen Sie +nicht nein, Nasstenka, sagen Sie nicht nein! Ich werde +ihn zwingen, Ihre Handlungsweise zu achten, er soll +alles erfahren, und wenn er ...“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Freund, nein!“ fiel sie mir ins Wort. +„Lassen Sie es gut sein. Von mir wird er weiter kein +Wort hören, kein Wort. Ich kenne ihn nicht mehr, ich +liebe ihn nicht mehr, ich werde ihn ... ver ... +ges ... sen ...“ +</p> + +<p> +Sie sprach nicht weiter. +</p> + +<p> +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich! Setzen +Sie sich hier auf die Bank, Nasstenka,“ redete ich ihr +zu und führte sie ein paar Schritte weiter, auf die +Bank zu ... +</p> + +<p> +„Ich bin ja ruhig. Schon gut. Das ist nun einmal +so. Diese Tränen – die werden schon versiegen! Was +glauben Sie denn – daß ich mich umbringen werde, +mich etwa ertränken werde? ...“ +</p> + +<p> +Mein Herz war zum Zerspringen voll. Ich wollte +sprechen, aber ich konnte nicht. +</p> + +<p> +„Hören Sie!“ fuhr sie fort und sie ergriff meine +Hand. „Sagen Sie: Sie würden doch nicht so gehandelt +haben? Sie würden doch nicht dem Mädchen, das +selbst zu Ihnen gekommen ist, weil es sein schwaches +dummes Herz nicht zu meistern verstand – mit einem +Hohnlachen antworten? Sie würden sie doch sicherlich +geschont haben? Sie würden sich doch sagen, daß sie +allein stand? daß sie vom Leben noch nichts wußte und +daß sie sich nicht in acht zu nehmen und vor der Liebe +zu Ihnen zu bewahren verstand, und daß das Ganze +nicht ihre Schuld ist ... daß sie nichts getan hat ... +O mein Gott! mein Gott!“ +</p> + +<p> +„Nasstenka!“ rief ich, unfähig, meine Erregung +noch langer zurückzuhalten, „Nasstenka, Sie martern +mich! Sie zerreißen mein Herz, Sie töten mich, Nasstenka! +Ich kann nicht länger schweigen! Ich muß endlich +sprechen, muß es aussprechen, was hier aus meinem +Herzen heraus muß.“ +</p> + +<p> +Während ich das sagte, erhob ich mich von der +Bank. Sie nahm meine Hand und sah mich verwundert +an. +</p> + +<p> +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +„Was ist mit Ihnen?“ fragte sie schließlich. +</p> + +<p> +„Lassen Sie mich alles sagen, Nasstenka!“ bat ich +entschlossen. „Erschrecken Sie nicht, Nasstenka, was +ich Ihnen jetzt sagen werde, ist alles Unsinn, ist unmöglich +und dumm! Ich weiß, daß es sich niemals verwirklichen +wird, aber ich kann nicht länger schweigen +– bei allem, was Sie jetzt leiden, beschwöre ich Sie +und bitte ich Sie, mir im voraus zu verzeihen! ...“ +</p> + +<p> +„Aber was, was ist es denn?“ Sie hatte schon +aufgehört, zu weinen, und sah mich unverwandt an. +In ihren erstaunten Augen lag eine seltsame Neugier. +„Was haben Sie nur?!“ +</p> + +<p> +„Es ist ja unmöglich, Nasstenka, ich weiß es, aber +ich – ich liebe Sie, Nasstenka! Das ist es! So, jetzt ist +alles gesagt! ... Jetzt wissen Sie, ob Sie so zu mir +sprechen dürfen, wie Sie es soeben taten, und auch, +ob Sie das anhören dürfen, was ich Ihnen noch sagen +will ...“ +</p> + +<p> +„Ja was ... was denn? ... Was ist denn dabei? +Ich weiß es doch schon lange, daß Sie mich lieben, es +schien mir nur immer, daß Sie mich bloß – so ... +einfach irgendwie – liebhätten ... Ach Gott!“ +</p> + +<p> +„Anfangs war es auch einfach so, Nasstenka, jetzt +aber, jetzt! ... mit mir ist es ebenso wie mit Ihnen, als +Sie damals mit Ihrem Bündelchen zu ihm gingen. +Nein, ich bin noch schlimmer daran, als Sie, Nasstenka, +denn er liebte damals niemand. Sie aber +lieben ...“ +</p> + +<p> +„Was sagen Sie mir da! Ich ... ich verstehe Sie +nicht. Aber, hören Sie, warum denn das ... oder, +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +nein, wozu denn das alles, und so plötzlich ... Gott! +Was für Dummheiten ich rede! Aber Sie ...“ +</p> + +<p> +Nasstenka geriet vollends in Verwirrung, ihre +Wangen färbten sich purpurn und sie sah zu Boden. +</p> + +<p> +„Was soll ich denn tun, Nasstenka, was soll ich +denn? Ich bin schuld, ich habe da irgend etwas mißbraucht +... Oder nein! nein, Nasstenka, ich habe keine +Schuld, Nasstenka. Ich fühle das, ich spüre es, denn +mein Herz sagt mir, daß ich kein Unrecht tue, ich kann +Sie doch damit nicht kränken oder gar beleidigen! Ich +war Ihr Freund; nun, und auch jetzt bin ich Ihr +Freund – ich habe nichts verraten und habe keine +Treulosigkeit begangen. Da sehen Sie, da rollen mir +die Tränen über die Wangen, Nasstenka. Mögen sie +rollen, mögen sie – sie stören niemanden. Von selbst +werden sie wieder versiegen, Nasstenka ...“ +</p> + +<p> +„Aber so setzen Sie sich doch, setzen Sie sich!“ Und +sie wollte mich förmlich zwingen, mich hinzusetzen. „Ach, +mein Gott!“ +</p> + +<p> +„Nein, Nasstenka, ich will nicht sitzen. Ich kann +jetzt nicht mehr lange bleiben und Sie werden mich +auch nicht wiedersehen: ich werde Ihnen alles sagen – +und dann gehe ich. Sie hätten es nie erfahren, daß ich +Sie liebe. Ich hätte mein Geheimnis zu bewahren gewußt +und hätte nicht angefangen, Sie jetzt in dieser +Stunde mit mir und meinem Eigennutz zu quälen. +Nein! Aber ich – ich habe es doch nicht ausgehalten! +Sie fingen an, davon zu sprechen, Sie sind schuld, Sie +sind an allem schuld, ich aber bin unschuldig. Sie +können mich nicht so von sich stoßen ...“ +</p> + +<p> +„Aber nein, nein, ich schicke Sie ja gar nicht fort, +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +nein!“ beteuerte Nasstenka, und sie gab sich die größte +Mühe, ihre Verwirrung zu verbergen. +</p> + +<p> +„Nicht? wirklich nicht? Und ich wollte schon von +Ihnen fortlaufen. Ich werde auch fortgehen, nur muß +ich vorher alles sagen, denn als Sie hier sprachen, als +Sie hier weinten und vor mir standen mit Ihrer +Qual, und das, weil ... nun, weil – ich werde es +aussprechen, Nasstenka –, weil man Sie verschmäht, +da fühlte ich, daß in meinem Herzen soviel Liebe für +Sie ist, Nasstenka, soviel Liebe! ... Und es tat mir so +bitter weh, daß ich Ihnen mit dieser Liebe nicht helfen +konnte, daß mir das Herz darüber schier brechen wollte, +und ich, ich ... konnte nicht mehr schweigen, ich mußte +sprechen, Nasstenka, ich <em>mußte</em> sprechen! ...“ +</p> + +<p> +„Ja, ja! schon gut! Sprechen Sie nur, sprechen +Sie ruhig so zu mir!“ sagte Nasstenka plötzlich mit +einer unerklärbaren Bewegung. „Es wird Sie vielleicht +in Erstaunen setzen, daß ich Ihnen das sage, aber ... +sprechen Sie nur! Ich werde es Ihnen nachher erklären. +Ich werde Ihnen alles erzählen!“ +</p> + +<p> +„Ich tue Ihnen leid, Nasstenka, Sie haben einfach +nur Mitleid mit mir, Kind! Nun! Was verloren ist, +ist verloren. Was man gesagt hat, läßt sich nicht zurücknehmen. +Nicht wahr? Nun also, Sie wissen jetzt +alles. Dies wäre unser Ausgangspunkt. Nun gut: so +weit wäre alles erledigt, jetzt hören Sie weiter. Als +Sie hier saßen und weinten, da dachte ich bei mir, – +ach, bitte, Nasstenka, lassen Sie mich sagen, was ich +dachte! – ich dachte, daß Sie ... daß Sie da irgendwie +... nun, mit einem Wort: daß Sie auf irgendeine +Weise aufgehört hätten, ihn zu lieben. Dann – das +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +habe ich auch gestern schon gedacht, Nasstenka, und auch +vorgestern schon – dann würde ich es unbedingt so +gemacht haben, daß Sie mich liebgewonnen hätten. +Sie sagten doch, Sie selbst haben es doch gesagt, daß +Sie mich fast schon liebhätten. Nun, und – was nun +weiter? Ja, das ist nun fast alles, was ich sagen +wollte. Zu sagen bliebe nur noch, was dann wäre, +wenn Sie mich nun wirklich liebgewönnen: nur das! +Also hören Sie, meine Freundin – denn meine Freundin +sind Sie deshalb doch nach wie vor –: ich bin +natürlich nur ein einfacher Mensch, bin arm und gering, +doch handelt es sich ja nicht darum – ich weiß +nicht, ich rede immer von ganz anderen Dingen, aber +das kommt nur von der Verwirrung, Nasstenka –, +nur würde ich Sie so lieben, Nasstenka, so lieben, daß +Sie, auch wenn Sie ihn, den ich nicht kenne, immer +noch weiter lieben sollten, doch nie merken würden, daß +meine Liebe Ihnen irgendwie lästig wäre. Sie würden +bloß spüren, würden bloß in jeder Minute fühlen, daß +neben Ihnen ein dankbares, oh, so dankbares Herz +schlägt, ein heißes Herz, das für Sie ... Ach, Nasstenka, +Nasstenka! Was haben Sie aus mir gemacht!!!“ +</p> + +<p> +„Aber so weinen Sie doch nicht, ich will nicht, daß +Sie weinen!“ sagte Nasstenka und stand schnell von der +Bank auf. „Gehen wir, kommen Sie, weinen Sie nicht, +so weinen Sie doch nicht!“ Und sie wischte mit ihrem +Tüchlein über meine Wangen. „So, gehen wir jetzt. +Ich werde Ihnen vielleicht etwas sagen ... Wenn er +mich schon verlassen und vergessen hat, so ... obschon +ich ihn noch liebe – ich kann Ihnen das nicht verheimlichen +und will Sie nicht täuschen – aber hören +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +Sie, und dann antworten Sie mir. Wenn ich zum +Beispiel Sie liebgewönne, das heißt, wenn ich nur +... Oh, mein Freund, mein guter Freund! wenn ich +bedenke, wie ich Sie gekränkt und wie weh ich Ihnen +getan haben muß, als ich Sie dafür lobte, daß Sie sich +nicht in mich verliebt hätten! O Gott! Ja wie konnte +ich nur das nicht voraussehen, wie konnte ich nur so +dumm sein, wie ... aber ... Nun ... nun gut, ich +habe mich entschlossen, und ich werde Ihnen alles sagen +...“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, Nasstenka, wissen Sie was? Ich +werde jetzt fortgehen von Ihnen, das wird das beste +sein. Ich sehe doch, ich quäle Sie nur. Da machen Sie +sich jetzt Gewissensbisse, weil Sie sich über mich lustig +gemacht haben, ich will aber nicht, daß Sie außer Ihrem +Leid ... Ich bin natürlich schuld daran, Nasstenka, +also – leben Sie wohl!“ +</p> + +<p> +„Nein, bleiben Sie, hören Sie mich zuerst an: +können Sie warten?“ +</p> + +<p> +„Warten? Worauf warten?“ +</p> + +<p> +„Ich liebe ihn; aber das wird vergehen, das muß +vergehen, das kann gar nicht – nicht vergehen; es +vergeht schon, ich fühle es schon jetzt ... Wer weiß, +vielleicht wird es noch heute ganz vergehen, denn ich +hasse ihn, weil er sich über mich lustig gemacht hat, +während Sie hier mit mir geweint haben ... und Sie, +Sie hätten mich auch nicht so verstoßen, wie er es getan, +denn Sie lieben wirklich, er aber hat mich überhaupt +nicht geliebt, – und dann weil ich Sie ... schließlich +selbst liebe ... Ja, liebe! so liebe, wie Sie mich lieben. +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +Ich habe es Ihnen doch schon einmal gesagt, Sie +haben es schon gehört, – ich liebe Sie, weil Sie besser +sind, als er, weil Sie anständiger sind, als er, weil +... weil er ...“ +</p> + +<p> +Ihre Stimme versagte vor Erregung, sie legte ihren +Kopf an meine Schulter, beugte ihn aber immer mehr, +bis er an meiner Brust lag: und dann begann sie bitterlich +zu weinen. Ich tröstete, ich streichelte sie, ich redete +ihr zu, aber sie vermochte sich nicht zu beherrschen; sie +drückte meine Hand und stammelte unter Schluchzen: +„Warten Sie, warten Sie noch ein wenig. Es wird +gleich vergehen ... ich höre ja schon auf ... Ich will +Ihnen nur sagen ... denken Sie nicht, daß diese +Tränen ... das ist nur so – von der Schwäche, warten +Sie, bis es vergeht ...“ +</p> + +<p> +Endlich versiegten die Tränen, sie richtete sich auf, +wischte noch die letzten Tränenspuren von den Wangen +und wir gingen. Ich wollte sprechen, aber sie bat mich +immer wieder, ihr noch ein wenig Zeit zum Nachdenken +zu lassen. So schwiegen wir denn ... Endlich nahm sie +sich zusammen und begann: +</p> + +<p> +„Also hören Sie,“ sagte sie mit schwacher und unsicherer +Stimme, aus der aber plötzlich ein eigenes Gefühl +klang und mein Herz so traf, daß es wie in einem +süßen Schmerz erzitterte. „Denken Sie nicht, daß ich +unbeständig und leichtsinnig sei, oder daß ich so +schnell und leicht vergessen könne und untreu werde ... +Ich habe ihn ein ganzes Jahr geliebt und ich schwöre +bei Gott, daß ich niemals, niemals auch nur mit einem +Gedanken ihm untreu gewesen bin. Er aber hat das +mißachtet: er hat sich mit mir nur einen Scherz erlaubt +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +– Gott mit ihm! Aber es hat mich doch verletzt +und mein Herz gekränkt. Ich ... ich liebe ihn nicht mehr, +denn ich kann nur das lieben, was gütig ist, großmütig, +was mich versteht und was anständig ist; denn +ich selbst bin so, er aber ist meiner unwürdig, – nun, +noch einmal, Gott mit ihm! Es ist besser so, als wenn +ich später erfahren hätte, wie er eigentlich ist ... Also +– jetzt hat das ein Ende! Und wer weiß, mein guter +Freund,“ fuhr sie fort, indem sie mir die Hand drückte, +„wer weiß, vielleicht war meine ganze Liebe nur eine +Gefühlstäuschung oder nur Einbildung, vielleicht begann +das alles mit ihm nur aus Unart, weil ich dieses +eintönige Leben führte und ewig an Großmutters Kleid +angesteckt war? Vielleicht ist es mir bestimmt, einen +ganz anderen zu lieben, einen, der mehr Mitleid mit +mir hat und ... und ... Nun, lassen wir das, reden +wir nicht mehr davon,“ unterbrach sich Nasstenka stockend +und atemlos vor Erregung, „ich wollte Ihnen nur +sagen ... ich wollte Ihnen sagen, wenn Sie, obwohl +ich ihn liebe – nein, geliebt habe, – wenn Sie mir +trotzdem sagen ... Ich meine, wenn Sie fühlen und +glauben ... Ihre Liebe sei so groß, daß sie die frühere +aus meinem Herzen verdrängen könnte ... wenn Sie +soviel Mitleid mit mir haben und mich jetzt nicht allein +meinem Schicksal überlassen wollen, ohne Trost und +Hoffnung, wenn Sie mich vielmehr immer so lieben +wollen, wie Sie mich jetzt lieben, so – schwöre ich +Ihnen, daß meine Dankbarkeit ... daß meine Liebe +Ihrer Liebe wert sein wird ... Wollen Sie daraufhin +meine Hand nehmen?“ +</p> + +<p> +„Nasstenka!!“ Ich glaube, Jauchzen und Tränen +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +erstickten meine Stimme. „Nasstenka! ... Oh, Nasstenka! ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut, schon gut! Nun lassen Sie es genug +sein!“ sagte sie schnell, in augenscheinlicher Hast, und +sich nur mit Mühe beherrschend. „Jetzt ist alles gesagt, +nicht wahr? Ja? Nun, und Sie sind jetzt glücklich und +ich bin glücklich, also wollen wir weiter kein Wort +mehr davon sprechen! Warten Sie ... schnell, erbarmen +Sie sich – sprechen Sie von irgend etwas anderem, +um Gottes willen! ...“ +</p> + +<p> +„Ja, Nasstenka, ja! Genug davon, ich bin jetzt +glücklich, ich ... Gut, Nasstenka, gut, sprechen wir +von etwas anderem, schnell, schnell! ja! Ich bin bereit.“ +</p> + +<p> +Und wir wußten beide nicht, wovon wir sprechen +sollten, wir lachten und weinten und sprachen tausend +Worte ohne Gedanken und Zusammenhang. Bald gingen +wir auf dem Trottoir auf und ab, bald über die +Straße hinüber und blieben stehen, bald kehrten wir +wieder um und gingen zum Kai: wir waren wie die +Kinder ... +</p> + +<p> +„Ich lebe allein, Nasstenka,“ sagte ich einmal, +„aber ... Nun, ich bin, versteht sich, Sie wissen es ja, +Nasstenka, ich bin arm, ich bekomme jährlich nur tausendzweihundert +Rubel, aber das macht ja nichts ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich nicht, und Großmutter hat ihre Pension, +so braucht sie von uns nichts. Wir müssen doch Großmutter +zu uns nehmen.“ +</p> + +<p> +„Natürlich, die Großmutter müssen wir zu uns +nehmen ... Aber meine Matrjona ...“ +</p> + +<p> +„Ach ja, und wir haben ja auch noch Fjokla!“ +</p> + +<p> +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +„Matrjona ist eine gute Seele, nur einen Fehler +hat sie: sie hat nämlich gar kein Vorstellungsvermögen, +Nasstenka, gar keines, Nasstenka, sie begreift nur, +was sie aus Erfahrung kennt. Aber auch das schadet +nichts ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich nicht, die können beide zusammen leben. +Nur müssen Sie schon morgen zu uns kommen.“ +</p> + +<p> +„Wie das? Zu Ihnen? Gut, ich bin bereit ...“ +</p> + +<p> +„Sie mieten einfach bei uns. Wir haben doch oben +noch ein Zimmer: das steht jetzt leer. Wir hatten eine +Mieterin, eine alte Frau, eine Adlige, aber sie ist ausgezogen +und abgereist, und Großmama will nun, das +weiß ich, einen jungen Mann zum Mieter haben. Ich +fragte sie: ‚Warum denn gerade einen jungen Mann?‘ +Darauf sagte sie: ‚Es ist doch immer besser, man ist auch +sicherer, und ich bin schon alt. Du brauchst deshalb +nicht zu glauben, Nasstenka, daß ich dich mit ihm verheiraten +will.‘ Da wußte ich denn, daß sie es gerade +deshalb will ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Nasstenka! ...“ +</p> + +<p> +Und wir lachten beide. +</p> + +<p> +„Nun, genug, hören Sie auf. Aber wo wohnen +Sie denn? Ich habe ganz vergessen, zu fragen.“ +</p> + +<p> +„Dort, in der Nähe der ... Brücke, im Hause eines +gewissen Barannikoff.“ +</p> + +<p> +„Das ist so ein großes Haus, nicht?“ +</p> + +<p> +„Ja, ein großes Haus.“ +</p> + +<p> +„Ach, das kenne ich, das ist ein schönes Haus. Nur, +wissen Sie, ziehen Sie aus und kommen Sie recht bald +zu uns ...“ +</p> + +<p> +„Morgen, Nasstenka, gleich morgen! Ich schulde +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +dort wohl noch ein wenig für die Wohnung, aber das +schadet nichts ... Ich bekomme bald mein Gehalt ...“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie, ich werde Stunden geben, um auch zu +verdienen; ich werde noch dazulernen, was mir fehlt, +und dann kann ich Unterricht geben ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich, das wird vortrefflich gehen ... und ich +werde bald Zulage erhalten, Nasstenka ...“ +</p> + +<p> +„Dann werden Sie also schon morgen unser Mieter +sein!“ +</p> + +<p> +„Ja, und dann fahren wir in die Oper und hören +den Barbier von Sevilla, denn der wird bald wieder +gegeben werden.“ +</p> + +<p> +„Ja, fahren wir!“ sagte Nasstenka lachend, „oder +nein, lieber nicht zum Barbier von Sevilla, sondern +wenn etwas anderes gegeben wird ...“ +</p> + +<p> +„Gut, also zu einer anderen Aufführung. Natürlich, +das wird auch viel besser sein, ich dachte im +Augenblick nicht daran ...“ +</p> + +<p> +Und wir sprachen und gingen: alles war wie ein +Rausch – als hielte uns ein Nebel umfangen und +als wüßten wir selbst nicht, was mit uns geschah. Bald +blieben wir stehen und sprachen lange Zeit stehend auf +einem Fleck, bald gingen wir wieder und gingen Gott +weiß wie weit, ohne es zu bemerken, immer unter Lachen +und Weinen ... Bald wollte Nasstenka plötzlich +unbedingt nach Haus und ich wagte nicht, sie zurückzuhalten +und wir machten uns schon auf den Weg; +nach einer Viertelstunde aber bemerkten wir plötzlich, +daß wir wieder auf unserer Bank am Kai angelangt +waren. Bald seufzte sie tief auf und ein Tränchen +rollte über ihre Wange – ich sah sie erschrocken und +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +verzagt an ... Da drückte sie mir schon von neuem die +Hand und wir gingen abermals und sprachen weiter ... +</p> + +<p> +„Aber jetzt ist es Zeit, jetzt ist es wirklich Zeit, daß +ich nach Hause gehe! Ich glaube, es ist schon sehr spät,“ +sagte Nasstenka endlich entschlossen, „wir dürfen nicht +gar zu kindisch sein!“ +</p> + +<p> +„Ja, Nasstenka, aber schlafen werde ich heute doch +nicht mehr. Ich gehe überhaupt nicht nach Hause.“ +</p> + +<p> +„Ich werde, glaube ich, auch nicht einschlafen. Aber +Sie müssen mich noch begleiten ...“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich!“ +</p> + +<p> +„Doch diesmal drehen wir nicht mehr um, hören +Sie?“ +</p> + +<p> +„Nein, diesmal nicht ...“ +</p> + +<p> +„Ehrenwort? ... Denn einmal muß man doch wirklich +nach Hause gehen!“ +</p> + +<p> +„Also: mein Ehrenwort, diesmal wird es ernst,“ +sagte ich lachend ... +</p> + +<p> +„Nun, gehen wir!“ +</p> + +<p> +„Gehen wir.“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie den Himmel, Nasstenka, schauen Sie +hinauf! Morgen werden wir einen wundervollen Tag +haben ... Wie blau der Himmel ist, und sehen Sie nur +den Mond! Diese kleine gelbe Wolke wird ihn gleich +verdecken ... sehen Sie, sehen Sie! ... Nein, sie gleitet +am Rande vorüber ... Sehen Sie doch, sehen Sie! ...“ +</p> + +<p> +Doch Nasstenka sah weder die Wolke, noch den +Himmel – sie stand wie erstarrt neben mir und dann +schmiegte sie sich plötzlich mit einer seltsamen Verzagtheit +an mich, immer fester, als suche sie Schutz, und ihre +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +Hand erzitterte in meiner Hand. Ich sah sie an ... +noch schwerer stützte sie sich auf mich. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick ging ein junger Mann an +uns vorüber – er sah uns scharf an, zögerte, blieb +stehen und ging ein paar Schritte weiter. Mein Herz +erbebte ... +</p> + +<p> +„Nasstenka, wer ist das?“ fragte ich leise. +</p> + +<p> +„Das ist <em>er</em>!“ flüsterte sie und klammerte sich zitternd +an meinen Arm. Ich hielt mich kaum auf den +Füßen. +</p> + +<p> +„Nasstenka! Nasstenka! Bist du es?“ erscholl es +da plötzlich hinter uns und zugleich trat der junge +Mann wieder ein paar Schritte näher ... +</p> + +<p> +Mein Gott, was klang aus diesem Ruf! Wie sie +zusammenfuhr! Wie sie sich von mir losriß und ihm +entgegeneilte! ... Ich stand und sah zu ihm hinüber, +stand und sah ... Doch kaum hatte sie ihm die Hand +gereicht, kaum hatte er sie in seine Arme geschlossen, +da befreite sie sich schon von ihm und ehe ich mich dessen +versah, stand sie wieder vor mir, umschlang mit beiden +Armen fest meinen Hals und drückte mir einen heißen +Kuß auf die Lippen. Dann, ohne mir ein Wort zu sagen, +lief sie zu ihm zurück, erfaßte seine Hände und +zog ihn fort. +</p> + +<p> +Lange stand ich und sah ihnen nach ... bald waren +sie meinen Blicken entschwunden. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-6"> +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +Der Morgen. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Meine Nächte endeten mit einem Morgen. Der Tag +war unfreundlich: es regnete und die Tropfen schlugen +in eintöniger Wehmut an meine Fensterscheiben; im +Zimmer war es düster, wie gewöhnlich an Regentagen, +und draußen trübe. Mein Kopf schmerzte, mich +schwindelte und das Fieber einer Erkältung schlich +durch meine Glieder. +</p> + +<p> +„Ein Brief, Herr, durch die Stadtpost, der Postbote +hat ihn gebracht,“ sagte Matrjona. +</p> + +<p> +„Ein Brief! Von wem?“ +</p> + +<p> +„Ja, das kann ich Ihnen nicht sagen, Herr, sehen +Sie nach, vielleicht steht es drin, von wem er ist.“ +</p> + +<p> +Ich erbrach das Siegel. Der Brief war von ihr. +</p> + +<div class="letter"> +<p class="noindent"> +„Oh, verzeihen Sie, verzeihen Sie mir!“ schrieb +mir Nasstenka. „Auf den Knien bitte ich Sie, mir +nicht böse zu sein! Ich habe Sie wie mich selbst +getäuscht. Es war ein Traum, eine Täuschung ... +Der Gedanke an Sie macht mich jetzt krank vor +Qual. Verzeihen Sie, oh, verzeihen Sie mir! ... +</p> + +<p> +Beschuldigen Sie mich nicht, denn was ich für +Sie empfand, empfinde ich auch jetzt noch: ich sagte +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +Ihnen, ich würde Sie lieben, und ich liebe Sie auch +jetzt, ja ich empfinde für Sie jetzt noch viel mehr, +als Liebe. Gott, wenn ich Sie doch beide zugleich +lieben könnte! Oh, wenn Sie und er doch ein +Mensch wären! +</p> + +<p> +Gott sieht und weiß, was ich alles für Sie tun +würde! Ich weiß, daß Sie nun schwer zu tragen haben +und daß Sie traurig sind. Ich habe Sie gekränkt +und habe Ihnen weh getan, aber Sie wissen +doch – wenn man liebt, gedenkt man der Kränkung +nicht lange. Sie aber lieben mich! +</p> + +<p> +Ich danke Ihnen! Ja! Ich danke Ihnen für diese +Liebe. Denn in meiner Erinnerung wird sie mich +durchs ganze Leben begleiten wie ein süßer Traum, +den man auch nach dem Erwachen nimmer vergessen +kann. Nein, nie werde ich vergessen, wie Sie mir +so brüderlich Ihr Herz offenbarten und in Ihrer +Güte für Ihr ganzes Herz mein krankes, verwundetes +annahmen, um es mit Zartheit und Liebe zu +pflegen und wieder gesund zu machen ... Wenn +Sie mir verzeihen, wird die Erinnerung an Sie sich +verklären durch das Gefühl ewiger Dankbarkeit, die +in meiner Seele niemals erlöschen kann. Und diese +Erinnerung werde ich heilig halten und nie vergessen, +denn mein Herz ist treu. Es ist auch gestern nur +zu dem zurückgekehrt, dem es von jeher gehörte. +</p> + +<p> +Wir werden uns wiedersehen, Sie werden zu +uns kommen, Sie werden uns nicht verlassen, werden +ewig unser Freund sein und mein Bruder ... +Und wenn wir uns wiedersehen, dann geben Sie +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +mir Ihre Hand – ja? Sie werden Sie mir entgegenstrecken, +wenn Sie mir verziehen haben, nicht +wahr? Sie lieben mich doch unverändert? +</p> + +<p> +Ja, lieben Sie mich, verlassen Sie mich nicht, +denn jetzt liebe ich Sie so tief, weil ich Ihrer Liebe +würdig sein will, weil ich sie verdienen will ... +mein lieber Freund! In der nächsten Woche wird +unsere Hochzeit sein. Er ist voll Liebe zu mir zurückgekehrt, +er hat mich niemals vergessen ... Seien +Sie nicht böse, daß ich von ihm geschrieben habe. +Aber ich will mit ihm zu Ihnen kommen, und Sie +werden ihn auch liebgewinnen, nicht wahr? +</p> + +<p> +So verzeihen Sie mir denn und vergessen Sie +mich nicht und behalten Sie lieb Ihre +</p> + +<p class="sign"> +Nasstenka.“ +</p> + +</div> + +<p class="noindent"> +Lange las ich diesen Brief, las ihn immer wieder, +und Tränen traten mir in die Augen; schließlich entfiel +er meiner Hand und ich vergrub mein Gesicht in +den Händen. +</p> + +<p> +„Nun, Herr, sehen Sie denn gar nichts,“ hörte +ich nach einer Weile Matrjonas Stimme. +</p> + +<p> +„Was, Alte?“ +</p> + +<p> +„Nu, ich hab’ doch das Spinngewebe von überall +runtergeholt, können jetzt heiraten, wenn Sie wollen, +können Gäste einladen, wenn’s Ihnen einfällt, mir +soll’s recht sein ...“ +</p> + +<p> +Ich sah sie an. Sie ist eine rüstige, noch <em>junge</em> +Alte, aber ich weiß nicht, weshalb ich sie plötzlich mit +erloschenem Blick, mit tiefen Runzeln im Gesicht, alt +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +und schwächlich vor mir zu sehen glaubte ... Ich weiß +nicht, weshalb es mir plötzlich schien, daß auch mein +Zimmer um ebensoviel Jahre älter geworden sei wie +sie. Die Farbe der Wände sah ich verblichen, an der +Zimmerdecke sah ich noch mehr Spinngewebe, als sich +bisher dort angesammelt hatten. Ich weiß nicht, weshalb +es mir, als ich durch das Fenster hinausblickte, +schien, als ob das Haus gegenüber gleichfalls gealtert +sei, trübseliger und baufälliger geworden, die Stukkatur +von den Säulen abgebröckelt, die Karniese rissig +und geschwärzt und die hellbraunen Wände fleckig und +schmutzig. +</p> + +<p> +Vielleicht war der Sonnenstrahl daran schuld, der +plötzlich durch die Wolken brach, um sich gleich wieder +hinter einer noch dunkleren Regenwolke zu verstecken, +so daß alles noch trüber, düsterer wurde ... +Oder hatten meine Augen in meine Zukunft geschaut +und etwas Ödes, Trauriges in ihr erblickt, etwa mich +selbst, wie ich jetzt bin, nur um fünfzehn Jahre älter, +in demselben Zimmer, ebenso einsam, mit derselben +Matrjona, die in all den Jahren doch um nichts klüger +geworden ist ...? +</p> + +<p> +Aber die Kränkung nicht verzeihen, Nasstenka, dein +helles seliges Glück mit dunkeln Wolken trüben, dir +Vorwürfe machen, damit dein Herz sich quäle und +gräme und kummervoll poche, während es doch nichts +soll als jauchzen vor Seligkeit, oder auch nur ein Blatt +der zarten Blüten, die du zur Trauung mit ihm in +deine braunen Locken flichst, mit rauher Hand berühren +... o nein, Nasstenka, das werde ich nie, nie! +Möge dein Leben Glück sein und so hell und lieb, wie +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +dein süßes Lächeln, und sei gesegnet für den Augenblick +der Seligkeit und des Glücks, den du einem anderen +einsamen, dankbaren Herzen gegeben hast! +</p> + +<p> +Mein Gott! Einen ganzen Augenblick der Seligkeit! +Ja, ist dann das nicht genug für ein ganzes +Menschenleben? ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-5"> +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +Das junge Weib +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-1"> +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">O</span><span class="postfirstchar">rdynoff</span> mußte sich eine neue Wohnung suchen, +so ungern er es auch tat. Die Frau, bei der er bis dahin +als Zimmermieter gelebt, eine arme bejahrte Beamtenwitwe, +hatte sich durch unvorhergesehene Verhältnisse +gezwungen gesehen, Petersburg zu verlassen, +um in eine öde Provinz zu ihren Verwandten zu reisen, +und zwar ganz plötzlich, noch vor Ablauf ihres +Mietskontraktes. Der junge Mann, der das Recht +hatte, bis zum Ersten des nächsten Monats in der +Wohnung zu bleiben, dachte mit Bedauern an sein stilles +Leben in den gewohnten vier Wänden und empfand +ein ausgesprochenes Unbehagen bei dem Gedanken, +dieses ihm lieb gewordene Zimmer nun verlassen +zu müssen. Er war arm, die Wohnung übrigens für +seine Verhältnisse ziemlich teuer: so nahm er denn +schon am Tage nach der Abreise der Witwe kurz entschlossen +seine Mütze und ging, um die Petersburger +Straßen zu durchwandern, und dabei Ausschau zu +halten nach Mietszetteln, die an den Haustüren angeschlagen +waren, namentlich nach solchen an älteren +und schlechteren Häusern und Mietskasernen, in denen +er am ehesten Aussicht hatte, bei irgendwelchen armen +Leuten ein Zimmer für sich zu finden. +</p> + +<p> +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +Er suchte schon lange und war mit seinen Gedanken +anfangs auch gewissenhaft bei der Sache, doch nach +und nach wurde seine Aufmerksamkeit von ganz anderen, +ihm bis dahin völlig unbekannten Empfindungen +abgelenkt. Er begann um sich zu blicken – zunächst +nur flüchtig, wie aus Zerstreutheit, ohne sich etwas +Bestimmtes dabei zu denken, bald jedoch aufmerksamer +und schließlich mit ausgesprochener Neugier. Die vielen +Menschen um ihn her, das ganze bewegte, rastlose, +lärmende Straßenleben, all das Neue, das ihm dort +begegnete, die ungewohnte Umgebung – dieses ganze +kleinliche Leben und alltägliche Hasten nach Erwerb, +das dem im tätigen Leben stehenden, stets beschäftigten +Petersburger schon so zuwider ist, daß er bis an sein +Lebensende stets nach Mitteln und Wegen sucht, um sich +einmal irgendwo in ein warmes Nest zurückzuziehen, +sich mit sich abzufinden und zufrieden geben zu können +– diese ganze schale Prosa und Langeweile erweckte +jetzt im Gegenteil in Ordynoff eine seltsam still-frohe, +helle Empfindung. Seine bleichen Wangen röteten +sich leicht, in seine Augen trat der Glanz einer +neuen Hoffnung, und fast gierig begann er, die kalte, +frische Luft einzuatmen. Es wurde ihm so wundervoll +leicht zumute. +</p> + +<p> +Er hatte von jeher ein stilles, vollkommen einsames +Leben geführt. Vor etwa drei Jahren, nachdem er sein +Examen bestanden und in gewissem Sinne ein freier +Mensch geworden war, hatte er eines Tages einen +alten kleinen Herrn aufgesucht, den er bis dahin nur +vom Hörensagen gekannt, und hatte lange gewartet, +bis der galonierte Kammerdiener ihm die Ehre antat, +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +ihn zum zweitenmal bei seinem Herrn zu melden. +Dann trat Ordynoff in einen hohen, dämmerigen, öden +Saal, einen jener langweiligen großen Räume, wie sie +sich noch in einzelnen herrschaftlichen Häusern aus früherer +Zeit erhalten haben, und erblickte in ihm einen +silberhaarigen, mit Orden über und über behängten +Greis, der seines Vaters ehemaliger Freund und Kollege +im Staatsdienst gewesen war und der für ihn, den +Sohn, die Vormundschaft übernommen hatte. Der +Alte händigte ihm ein, was ihm noch zukam. Die +Summe war nicht groß: der Rest einer einst wegen +Schulden unter den Hammer gekommenen und noch von +den Ureltern stammenden Erbschaft. Ordynoff nahm +das Päckchen gleichgültig in Empfang, verabschiedete +sich für immer und trat wieder auf die Straße. Es war +ein Herbstabend, kalt und düster; der junge Mann war +nachdenklich und eine seltsame, eigentlich ihm selbst +unbewußte Traurigkeit überkam ihn. Seine Augen +brannten; er fühlte, daß ihn fieberte und daß er sich +erkältet hatte. Unterwegs rechnete er nach, daß er mit +seinen Mitteln etwa zwei bis drei Jahre auskommen +konnte, und wenn er hungerte, vielleicht sogar vier. +Es dunkelte bereits, ein feiner Regen sprühte nieder +und erfüllte die Luft mit einer Feuchtigkeit, die bis ins +Mark drang. Er mietete im ersten besten Hause ein +kleines Zimmer – eben bei jener armen Beamtenwitwe, +die ihn jetzt im Stich gelassen hatte – und in +einer Stunde war er auch schon eingezogen. Dort lebte +er dann wie ein Einsiedler, ganz, als hätte er sich von +aller Welt losgesagt. So kam es, daß er in zwei Jahren +vollkommen weltfremd geworden war. +</p> + +<p> +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +Er wurde es, ohne es selbst zu merken; und vorläufig +kam es ihm auch gar nicht zu Bewußtsein, daß es +noch ein anderes Leben gab – ein rauschendes, lautes, +wogendes, ewig wechselndes, ewig rufendes Leben, +eines, das früher oder später doch nicht zu umgehen +war. Natürlich wußte er, daß es ein solches +Leben gab – wie hätte er das schließlich nicht wissen +sollen! – aber er kannte es nicht und suchte es niemals +auf. Schon von Kindheit an hatte er einsam gelebt; +doch jetzt, nachdem er herangewachsen, hatte diese +Einsamkeit ihre eigene, besondere Gestalt angenommen. +Ihn verzehrte eine Leidenschaft, eine von jenen tiefen, +unersättlichen Leidenschaften, die das ganze Leben eines +Menschen erschöpfen, und die solchen Wesen, wie +Ordynoff war, keinen auch noch so geringen Platz in +der Sphäre des anderen Lebens gewähren. Diese seine +Leidenschaft war – die Wissenschaft. Zunächst verzehrte +sie seine Jugend, nahm ihm langsam mit ihrem +berauschenden Gift den Schlaf und seine Seelenruhe, +nahm ihm die gesunde Nahrung und die frische Luft, +die niemals Gelegenheit hatte, in seine dumpfe Stube +einzudringen: doch Ordynoff gewahrte alles das gar +nicht in seinem Rausche, und wollte es auch nicht gewahren. +Er war jung und vorläufig verlangte er nach +nichts anderem. Die Leidenschaft machte ihn der äußeren +Welt gegenüber völlig zum Kinde und für immer +unfähig, gewisse gute Leute zum Platzmachen zu veranlassen, +wenn das einmal erforderlich sein sollte, um +für sich selbst ein Unterkommen zwischen ihnen zu verschaffen. +Die Wissenschaft ist für manch einen ein Kapital, +das er fest in Händen hat; die Leidenschaft Ordynoffs +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +dagegen war wie eine gegen ihn selbst gerichtete +Waffe. +</p> + +<p> +Es lebte in ihm mehr ein unbewußter Trieb, zu lernen, +zu ergründen und Wissen in sich aufzunehmen, als +daß es ganz bestimmte Gründe und Schlußfolgerungen +waren, die ihn dazu veranlaßten, – und so war es +bei ihm mit allem, gleichviel womit er sich nun beschäftigte, +selbst mit den kleinsten Dingen. Schon als +Kind hielt man ihn für einen Sonderling, da er seinen +Kameraden so durchaus unähnlich war. Seine Eltern +hatte er früh verloren, er erinnerte sich ihrer überhaupt +nicht mehr; von den Kameraden aber mußte er wegen +seines seltsamen menschenscheuen Wesens gar manche +kindlichen Angriffe und Roheiten ertragen, was ihn +dann erst recht menschenscheu und verschlossen machte. +Doch seinen einsamen Beschäftigungen lag niemals, +auch jetzt nicht, ein Plan oder gar ein System zugrunde: +statt dessen leitete ihn einzig und allein die +Begeisterung für die Idee, der Drang, das Fieber des +Künstlers. Er schuf sich eine eigene Anschauung der +Dinge; sie entwickelte und formte sich in ihm im Laufe +von Jahren und in seiner Seele erstand allmählich, +vorläufig noch dunkel und unklar, aber dabei doch schon +wundervoll beseligend, seine neue Idee, die in einer +ebenso neuen, gleichsam erleuchtenden Form Gestalt gewinnen +sollte; und indem sie in dieser Gestalt aus ihm +hervordrängte, peinigte, quälte, zerriß sie seine Seele. +Noch fühlte er bloß schüchtern ihre Originalität, ihre +Selbständigkeit und Richtigkeit, die ihm wie eine Offenbarung +der Wahrheit erschien: mit allen seinen Kräften +spürte er, daß es ihn zu der Schöpfung hindrängte, +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +die sich vorerst freilich noch in ihm bildete, +denn der Zeitpunkt der Gestaltung selbst war ja noch +weit, vielleicht sehr weit entfernt, und vielleicht war +diese Gestaltung überhaupt ganz unmöglich! +</p> + +<p> +Jetzt ging er also durch die Straßen wie ein weltfremder +Einsiedler, der plötzlich aus seiner stummen +Einöde in eine laut lärmende Stadt geraten ist. Alles +erschien ihm neu und seltsam. Er war aber dieser Welt, +die hier rings um ihn wogte und rauschte, so fremd +geworden, daß er nicht einmal daran dachte, sich über +seine sonderbaren Empfindungen zu wundern. Es war +vielmehr, als bemerke er seine Weltfremdheit selbst gar +nicht; im Gegenteil, es bemächtigte sich seiner sogar +eine ganz eigenartig berauschende Empfindung der +Freude, ähnlich dem Gefühl, wie es ein Hungriger +empfindet, wenn man ihm nach langem Fasten wieder +zu essen und zu trinken gibt – obschon es natürlich +seltsam erscheinen muß, daß eine so geringfügige Änderung +in der äußeren Lebenslage, wie ein Wohnungswechsel, +einen Petersburger, und wäre er selbst ein +Ordynoff, noch derart aus dem Geleise bringen konnte. +Freilich ist zu berücksichtigen, daß er all diese Jahre +hindurch fast nur in seinem Zimmer verbracht hatte, +und jedenfalls niemals aus einem solchen oder ähnlichen +Grunde wie heute, der unbedingte Aufmerksamkeit +für die Umgebung erheischte, durch die Straßen +der Stadt gegangen war. +</p> + +<p> +Er fand aber mehr und mehr Gefallen daran, in dieser +Weise durch die Straßen zu schlendern. Alles sah +er an, auf alles horchte er hin. +</p> + +<p> +Doch auch jetzt las er, seiner Art getreu, zwischen +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +den Bildern, die sein Auge sah, wie in einem Buch +zwischen den Zeilen. Alles machte seinen besonderen +Eindruck auf ihn und kein Eindruck entging ihm; mit +denkendem Blick sah er sich die Menschengesichter an, +schaute er sich hinein in die Physiognomie der ganzen +Umgebung, horchte er auf das Gesumm und Gerede +und den Volkston, der bisweilen an sein Ohr schlug, +– ganz als hätte er die Schlüsse, zu denen er in der +Stille einsamer Nächte gekommen war, jetzt an allem, +worauf er stieß, auf ihre Richtigkeit hin prüfen wollen. +Und manche Kleinigkeit, die andere sonst wohl +übersehen, fiel ihm auf und erweckte in ihm einen neuen +Gedanken, und zum erstenmal im Leben ärgerte er +sich darüber, daß er sich so lange in seiner Zelle lebendig +begraben hatte. Hier geschah alles viel schneller: +sein Pulsschlag war voll und belebt, sein Verstand, der +bedrückenden Einsamkeit entrückt, in der seine Tätigkeit +fast schon mehr ein bloßes Reagieren auf den angespannten +und begeisterten Willen zur Arbeit geworden +war, arbeitete jetzt ganz von selbst, schnell, und +doch ruhig, sicher und kühn. Und überdies empfand er +fast unbewußt das Verlangen, auch sich selbst hineinzuzwängen +in dieses für ihn fremde Leben, das er bisher +nicht gekannt, oder das er doch nur, richtiger gesagt, +mit dem Instinkt des Künstlers geahnt hatte. Unwillkürlich +begann sein Herz schneller zu schlagen, fast +wie in einer Art Liebessehnsucht und glühenden Mitempfindens. +Immer forschender sah er die Menschen +an, die an ihm vorübergingen: sie waren ihm aber +alle fremd und alle mit ihren eigenen Sorgen und Gedanken +beschäftigt ... Da schwand allmählich auch +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +Ordynoffs Sorglosigkeit: die Wirklichkeit trat näher +an ihn heran, schon empfand er sie als lastenden Druck, +und dann kam es über ihn wie das seltsam unwillkürliche +Grauen einer großen Ehrfurcht. +</p> + +<p> +Er wurde müde unter der auf ihn eindringenden +Flut der neuen Eindrücke, wie ein Kranker, der freudig +zum erstenmal aufgestanden ist, doch bald erschöpft vom +Licht und Glanz, betäubt und schwindlig von den lauten +bunten Bildern des rastlosen Lebens und den +wechselnden Eindrücken die Augen schließt und niedersinkt. +Bang und traurig ward ihm zumute. Er fing an, +für sich zu fürchten, für seine ganze Tätigkeit und sogar +für die Zukunft. +</p> + +<p> +Ein neuer Gedanke raubte ihm die Ruhe: es kam +ihm plötzlich in den Sinn, daß er ja doch sein ganzes +Leben lang allein gewesen war, daß es keinen einzigen +Menschen gab, der ihn liebhatte, und daß auch er niemals +Gelegenheit gehabt, jemanden zu lieben. Einige +der Vorübergehenden, mit denen er unter irgendeinen +Vorwande ein Gespräch anzuknüpfen versuchte, sahen +ihn verwundert und recht sonderbar an. Es schien ihm, +daß sie ihn für einen Verrückten oder zum mindesten +für irgendeinen Sonderling hielten – was er ja übrigens +auch war. Er erinnerte sich, daß ihm eigentlich +schon von Kindheit an alle ausgewichen waren und +in seiner Gesellschaft sich unbehaglich gefühlt hatten, +hauptsächlich wohl seines nachdenklichen und eigensinnigen +Charakters wegen. Er wußte, daß das tiefe +Mitempfinden, zu dem er wohl fähig war, doch niemals +ein Gefühl der seelischen Gleichheit zwischen ihm +und den anderen, oder auch dem einzelnen, dem sein +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +Mitempfinden galt, aufkommen ließ, weshalb es +von allen, eben von ihrem Gefühl aus, abgelehnt wurde: +und das hatte ihn denn schon als Kind unter seinen +Spielgefährten gequält. Jetzt fiel es ihm wieder +ein und er sagte sich, daß ihn ja tatsächlich schon von +jeher und zu jeder Zeit alle Menschen gemieden, und +daß man sich niemals um seine Einsamkeit gekümmert +hatte. +</p> + +<p> +In Gedanken versunken war er weitergegangen, +ohne auf den Weg zu achten, bis er schließlich merkte, +daß er sich in einem vom Zentrum weit entfernten +Stadtteil befand. In einem billigen und menschenleeren +Speisehaus ließ er sich etwas zu essen geben und +machte sich dann wieder auf den Weg. Von neuem +streifte er umher, ging durch viele Straßen, über Plätze, +an grauen und gelben Zäunen entlang. Dann kamen +graue windschiefe Häuschen, dann wieder riesenhafte +Gebäude großer Fabriken, rot, rauchgeschwärzt, +unförmig mit ragenden Schloten. Dabei war die Umgebung +rings doch wie ausgestorben, so verlassen, öde, +düster und feindselig – wenigstens machte sie auf Ordynoff +diesen Eindruck. Es wurde Abend. Aus einer +langen Gasse kam er auf einen freien Platz, an dem +eine Pfarrkirche lag. +</p> + +<p> +In seiner Zerstreutheit ging er hinein. Der Gottesdienst +war beendet und die Kirche schon ganz leer; nur +zwei alte Weiber knieten noch nahe beim Eingang. Der +Kirchendiener, ein altes Männlein mit silbergrauem +Haar, löschte die Lichter. Die Strahlen der Abendsonne +ergossen sich von oben durch ein schmales Fenster +der Kuppel in einem Lichtstrom durch das Innere +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +der Kirche bis zu einem der Nebenaltäre, den sie mit +flimmerndem Glanz umwoben. Die Sonne sank und +das Licht wurde immer schwächer, doch je mehr die +tiefe Dämmerung unter den Gewölben dunkelte, um +so leuchtender erglänzten an manchen Stellen die vergoldeten +Heiligenbilder, vor denen die kleinen Flammen +der Wachskerzen und Öllämpchen zuckend brannten. +Ordynoff hatte sich in einer Anwandlung tiefer +Schwermut, die wie ein bis dahin unterdrücktes Gefühl +plötzlich aus der Vergessenheit hervorbrach und +ihn nun überflutete, in der dunkelsten Ecke an die +Mauer gelehnt und vergaß dort für einen Augenblick +sich und alles um ihn her. Da vernahm er den dumpfen +Schall von Schritten, die sich gemessen vom Eingang +her näherten. Er sah auf und wandte den Kopf, +kaum aber hatte er die beiden Eingetretenen erblickt, da +bemächtigte sich seiner eine ganz unerklärliche Neugier. +Es waren ein alter Mann und ein junges Weib. Der +Alte war hoch von Wuchs, noch stramm und rüstig, +aber hager und krankhaft bleich. Seinem Äußeren nach +konnte man ihn für einen aus weiter Ferne angereisten +Kaufmann halten. Er trug einen langen, schwarzen, +mit Pelz gefütterten Mantel lose über die Schultern +geworfen – offenbar ein Sonntagskleidungsstück – +darunter einen gleichfalls langen, von oben bis unten +zugeknöpften russischen Leibrock, wie er in alten Zeiten +mit zur Nationaltracht gehörte. Um den Hals war +nachlässig ein grellrotes Tuch geschlungen. In der +Hand hatte er eine Pelzmütze. Ein langer schmaler, +halb schon ergrauter Bart fiel auf seine Brust und unter +den überhängenden buschigen Brauen glühte ein +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +feuriger, fieberhaft erregter, dabei hochmütiger und +scharfer Blick. Das junge Weib, das etwa zwanzig +Jahre alt sein mochte, war bezaubernd schön. Sie +trug einen hellblauen, mit kostbarem Fell verbrämten +kleinen Pelz und um den Kopf ein weißes Atlastuch, +das unter dem Kinn zu einem Knoten geschlungen war. +Sie ging mit gesenktem Blick, und eine sinnende Hoheit, +die seltsam ergreifend aus ihrer ganzen Erscheinung +sprach, spiegelte sich in den zarten Linien ihrer +kindlich reinen und frommen Züge wie in trauriger +Verklärung wieder. Es war etwas Sonderbares an +diesem unerwarteten Paar. +</p> + +<p> +Unter der mittleren Kuppel blieb der Alte stehen +und verneigte sich nach allen vier Seiten, obschon die +Kirche ganz leer war; dasselbe tat auch seine Begleiterin. +Dann nahm er sie bei der Hand und führte sie +zum großen Heiligenbilde der Mutter Gottes, der die +Kirche geweiht war, und dessen mit Edelsteinen besetzte +goldene Bekleidung und reiche Einfassung durch +den Flammenschein der vielen Wachskerzen in blendendem +Glanz erstrahlte. Der Kirchendiener, der sich noch +hier und da etwas zu schaffen machte, grüßte den Alten +mit Ehrerbietung; dieser erwiderte den Gruß jedoch +nur mit einem kurzen Kopfnicken. Vor dem Heiligenbilde +warf sich das junge Weib auf die Knie nieder +und berührte mit der Stirn den Fußboden. Der Alte +nahm das Ende des Schleiers, der am Fußgestell des +Bildes hing, und breitete ihn über ihren Kopf. Dann +vernahm man dumpfes Schluchzen in der Kirche. +</p> + +<p> +Ordynoff war betroffen durch die Feierlichkeit der +Szene, die sich vor seinen Augen abspielte, und erwartete +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +mit Ungeduld die Beendigung ihres Gebets. Nach +einer Weile erhob sie den Kopf und wieder fiel heller +Lichtschein auf ihr entzückendes Gesicht. Ordynoff zuckte +zusammen und trat unwillkürlich einen Schritt vor. +Sie hatte ihre Hand bereits dem Alten gereicht +und beide verließen langsam die Kirche. Tränen standen +in ihren dunkelblauen Augen und als sie die Lider +mit den langen dunklen Wimpern senkte, rollten diese +Tränen über ihre zarten, bleichen Wangen. Auf ihren +Lippen erschien flüchtig ein Lächeln, aber es verwischte +in ihrem Antlitz doch nicht die Spuren einer fast kindlichen +Angst und eines gleichsam mystischen Grauens. +Zaghaft schmiegte sie sich an den Alten, und man sah, +daß sie vor Erregung zitterte. +</p> + +<p> +Betroffen und im Grunde doch von einem ungeahnt +süßen Gefühl, das wie ein Wille war, dazu getrieben, +ging Ordynoff den beiden nach – und unter +dem Rundbogen vor dem Portal überholte er sie. Der Alte +sah ihn feindselig und streng an; auch sie sah nach ihm +hin, jedoch so teilnahmslos und zerstreut, daß man ihr +anmerkte, wie ein einziger und ganz anderer, fernliegender +Gedanke sie beschäftigte. Ordynoff folgte ihnen +in einiger Entfernung, ohne eigentlich selbst zu wissen, +weshalb er es tat. Es war schon dunkel geworden. +</p> + +<p> +Der Alte und das junge Weib gingen in eine +lange, breite, schmutzige Straße, die geradeaus zur +Stadtgrenze führte – eine Straße der Buden, billigen +Herbergen und Einkehrhöfe, in der die verschiedensten +Kleinhändler ihre Läden hatten; dann bogen +sie in eine schmale lange Sackgasse ein, die zwischen +langen Zäunen zu einer großen vierstöckigen Mietskaserne +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +führte, durch deren Höfe man aber wieder auf +eine andere, gleichfalls große und belebte Straße gelangen +konnte. Sie näherten sich bereits dem Hause. +Plötzlich wandte sich der Alte zurück und sein Blick +maß unwillig den jungen Mann, der ihnen so beharrlich +folgte. Ordynoff blieb wie gebannt stehen; sein +Tun erschien ihm selbst plötzlich sehr sonderbar. Da +sah sich der Alte noch einmal nach ihm um, als wolle +er sich überzeugen, ob sein drohender Blick die Wirkung +nicht verfehlt habe; dann traten sie beide, er und das +junge Weib, durch die schmale Fußpforte in den Hof +des Hauses. Ordynoff kehrte um. +</p> + +<p> +Er befand sich in der unangenehmsten Stimmung +und ärgerte sich über sich selbst: ganz umsonst hatte +er einen Tag verloren, umsonst hatte er sich ermüdet +und überdies noch diesen sowieso schon mißlungenen +Tag mit einer großen Dummheit gekrönt, indem er +eine ganz gewöhnliche Begegnung für eine Gott weiß +wie besondere Begebenheit gehalten! +</p> + +<p> +Am Vormittage hatte er sich noch darüber geärgert, +daß er so weltfremd und menschenscheu geworden war. +Und doch war es nur sein Instinkt gewesen, der ihn +veranlaßt hatte, alles zu fliehen, was ihn in seinem +äußeren und dadurch vielleicht auch in seinem inneren +Leben, das nun einmal ganz seiner Idee gehörte, hätte +zerstreuen, beeinflussen und erschüttern können. Jetzt +wenigstens gedachte er mit Wehmut und einer gewissen +Reue seines ungestörten Winkels; dann erfaßte +ihn eine seltsame Traurigkeit und Sorge befiel ihn +beim Gedanken an seinen künftigen Verbleib: wo er +ein neues Unterkommen finden könne und wie lange er +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +wohl noch ein solches werde suchen müssen. Dabei aber +verstimmte es ihn wieder am meisten, daß ihn solche +Nichtigkeiten überhaupt so beschäftigen konnten. Ermüdet +und unfähig, zwei Gedanken aneinanderzureihen, +langte er endlich – es war mittlerweile schon +ziemlich spät geworden – wieder bei seiner alten Wohnung +an, und erst als er ins Haus trat, kam es ihm +plötzlich zum Bewußtsein, daß er fast daran vorübergegangen +wäre, ohne es zu bemerken, noch zu erkennen. +Verwundert über seine Zerstreutheit schüttelte er +den Kopf, schrieb sie aber doch nur seiner Müdigkeit zu +und trat, im letzten Stockwerk unter dem Dach angelangt, +in sein kleines Zimmer. Er zündete ein Licht an, +setzte sich und brütete gedankenverloren vor sich hin. +Da stand plötzlich wieder das Bild des weinenden +jungen Weibes greifbar deutlich vor seiner +Seele. Und so glühend heiß, so tief und stark war der +Eindruck, so voll Liebe hatte sein Geist diese sanften +und frommen Züge in sich aufgenommen und gab seine +Phantasie sie ihm jetzt wieder, diese Züge, aus denen +mystische Rührung und Grauen, kindliche Demut +und hingebender Glaube sprachen, daß seine Augen sich +verdunkelten und gleichsam Feuer seine Glieder durchströmte. +Doch die Erscheinung zerrann. Dem Rausch +folgte dumpfes Grübeln, dann Ärger und schließlich +eine gewisse ohnmächtige Wut. Ohne sich auszukleiden, +wickelte er sich in die Decke und warf sich auf sein +hartes Lager ... +</p> + +<p> +Ordynoff erwachte am anderen Morgen ziemlich +spät und in unruhiger und niedergedrückter Stimmung. +Er mußte sich nahezu Gewalt antun, um nur an seine +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +nächstliegenden Sorgen zu denken. Als er sich dann +wieder auf den Weg machte, schlug er die entgegengesetzte +Richtung ein, um nur ja nicht den Weg zu +gehen, den er tags zuvor gegangen war. Endlich fand +er bei einem armen Deutschen, Spieß mit Namen, der +mit seiner Tochter Tinchen eine Giebelstube bewohnte, +ein Stübchen für seine Ansprüche. Spieß entfernte sogleich, +nachdem er das Handgeld erhalten, den Mietszettel, +fand Ordynoffs Liebe zur Wissenschaft, um derentwillen +er ganz ungestört zu leben wünschte, sehr, +sehr lobenswert und versprach zum Schluß, sich seiner +recht annehmen zu wollen. Ordynoff erklärte, daß er gegen +Abend einziehen werde. Als das erledigt war, +wollte er sich wieder nach Haus begeben, änderte aber +unterwegs seine Absicht und schlug einen anderen +Weg ein: im Augenblick wurde auch seine Stimmung +besser, obschon er innerlich selbst über sich lächeln +mußte. Der Weg erschien ihm diesmal in seiner Ungeduld +ungeheuer weit, wenigstens bedeutend weiter, +als er gedacht. Endlich erreichte er die Kirche, in der +er am vergangenen Abend gewesen war. Es wurde +gerade die Messe gelesen. Er suchte sich einen Platz, +von dem aus er fast alle Betenden sehen konnte: doch +die, die er suchte, waren nicht darunter. Mit gerötetem +Antlitz verließ er nach langem vergeblichem Warten +die Kirche. Hartnäckig bemühte er sich, ein gewisses +ungewolltes Gefühl in sich zu ersticken und zwang sich +mit aller Gewalt, seine Gedanken nach seinem Willen +zu lenken. Er wollte an ganz gewöhnliche Dinge denken, +und da fiel ihm denn ein, daß es ja Zeit zum +Mittagessen sei – und da er Hunger verspürte, ging +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +er in dasselbe Speisehaus, in dem er tags zuvor eine +Kleinigkeit genossen hatte. Dann streifte er wieder umher, +ging durch unbekannte, aber belebte Straßen und +dann wieder durch menschenleere Gassen, bis er sich +schließlich in einer Gegend jenseits der Stadtgrenze +fand, wo sich weit das herbstlich fahl gewordene Feld +hinzog. Er wäre unversehens noch weiter gegangen, +wenn ihn nicht die Stelle ringsum mit einem neuen, +lange nicht mehr empfundenen Eindruck aus seiner +Gedankenversunkenheit geweckt hätte. Es war ein +trockener kalter Tag, wie sie nicht selten sind im Petersburger +Oktober. Nicht allzu fern war eine Hütte +zu sehen, und neben ihr zwei Heuschober. Ein kleines +verhungertes Bauernpferd, dessen Rippen man fast +zählen konnte, stand mit gesenktem Kopf und hängenden +Lefzen, als dachte es über irgend etwas nach, abgeschirrt +neben einer zweiräderigen Tarataika. Ein +gewöhnlicher Hofhund, der in der Nähe eines zerbrochenen +Wagenrades einen Knochen benagte, begann zu +knurren, und ein etwa dreijähriger Bengel, der mit +nichts weiter als einem Hemdchen bekleidet war, kratzte +sich seinen weißblonden Lockenkopf und starrte verwundert +den einsamen Städter an. Hinter der Hütte +dehnten sich Gemüseplätze und Felder aus. Am Horizont +zogen sich Streifen dunkler Wälder hin und +drüber war der Himmel klar und blau. Von der anderen +Seite aber zogen langsam trübe Schneewolken auf, +die vereinzelte Wölkchen vor sich herschoben, als trieben +sie eine Schar schwebender Zugvögel lautlos, ohne +einen Schrei, ohne einen Flügelschlag, hoch oben am +Himmel vorüber. Es war so ruhig und gleichsam feierlich +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +schwermütig, alles erfüllt von einer verborgenen, +atembeklemmenden Erwartung ... Ordynoff ging +weiter und weiter, doch die Öde bedrückte ihn nur +noch mehr. Er kehrte wieder um und ging zurück nach +der Stadt, von wo jetzt fernes Kirchengeläut, das zum +Abendgottesdienst rief, zu ihm drang. Er beschleunigte +seine Schritte, und nach kurzer Zeit betrat er wieder +die Kirche, die ihm seit dem gestrigen Tage so vertraut +war. +</p> + +<p> +Die junge Unbekannte war schon da. +</p> + +<p> +Sie kniete nicht weit vom Eingang unter vielen anderen +Betenden. Ordynoff drängte sich durch das eng +beieinander stehende Volk, durch die Schar von Bettlern, +alten zerlumpten Weibern, Kranken und Krüppeln, +die alle bei der Kirchentür auf Almosen warteten, +und kniete dicht neben ihr nieder. Seine Kleider +berührten die ihrigen, er hörte ihr erregtes Atmen und +das inbrünstig betende Flüstern ihrer Lippen. Wieder +war ihr Antlitz von einem Gefühl hingebenden Glaubens +durchgeistigt und wieder rannen Tränen aus +ihren Augen und versiegten auf ihren glühenden Wangen, +als hätten sie ein furchtbares Verbrechen von +ihrer Seele abzuwaschen. An der Stelle, wo sie beide +knieten, war es so gut wie ganz dunkel, nur hin und +wieder, wenn die Flamme im Lämpchen vor dem nächsten +Heiligenbilde im Winde aufflackerte, der durch +eine geöffnete Zugklappe des schmalen Fensters strich, +huschte zitternder Lichtschein über ihr Gesicht und jeder +Zug desselben schnitt sich in das Gedächtnis des jungen +Mannes ein, umflorte seinen Blick und bohrte sich +unter unerträglicher Pein in sein Herz. Nur lag in +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +der Qual zugleich auch eine trunkene Wonne, eine +rasende Lust. Doch zuletzt ging dieser Zustand über +seine Kraft. Er vermochte es nicht länger auszuhalten. +Seine Brust erbebte vor Schmerz, und es war ihm, als +verginge etwas in ihm vor unsagbar süßem Sehnsuchtsweh +– ein tiefes Schluchzen erschütterte ihn +plötzlich und er beugte seine heiße Stirn auf die kalten +Fliesen der Kirche. Er fühlte nichts als den +Schmerz in seinem Herzen, das in süßer Qual vergehen +zu wollen schien. +</p> + +<p> +Es wäre schwer zu sagen, was diese seine aufs +äußerste gesteigerte Eindrucksfähigkeit bewirkt hatte: +ob sie unaufhaltsam, wie sie durchbrach, auf das qualvoll +bedrückende, erlösungslose Schweigen der langen +schlaflosen Nächte zurückzuführen war, als eine Folge +des oft durchlebten Zustandes, in dem ein unbewußter +Drang, eine unklare Sehnsucht und das herrisch ungeduldige, +ringende Streben seines Geistes ihm das Herz +mit einer unausgesprochenen Qual so überfüllt hatten, +daß es nun an einem Punkt angelangt war, an dem +es ihn unfehlbar zerrissen hätte, wenn es nicht eine Erlösung +in ebendiesem Ausbruch gefunden. Oder war +einfach nur die Zeit des Ausbruches gekommen, wie +alles einmal kommt, was im natürlichen Verlauf der +Dinge kommen muß – wie an einem drückend schwülen +Sommertage der Himmel plötzlich dunkel wird und +ein Gewitterregen unter Donner und Blitz zur Erde +niederrauscht, um alles, was in der Sonnenglut zu +vergehen droht, von Hitze und Durst zu erlösen, um +in klaren Regentropfen an smaragdenen Zweigen hängen +zu bleiben, das Gras niederzudrücken und die zarten +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +Blumenkelche zur Erde zu biegen, auf daß dann +bei den ersten Sonnenstrahlen alles sich wieder erhebe, +um wie befreit von neuem zur Sonne zu streben und +sieghaft seinen köstlichen frischen Duft zum Himmel +emporzusenden in der Freude über das erneute Leben. +Dieselbe berauschende Lebenswonne, die nach dem Gewitter +die ganze Natur zu empfinden scheint, jedes +Blatt, das noch feucht vom Regen glänzt, jeder Blütenkelch, +der unter der Last der Tropfen sich geneigt +hat und nun sich wieder zur Sonne aufrichtet – +dasselbe Gefühl hatte auch Ordynoff ... Nur hätte er +selbst nicht zu sagen vermocht, was mit ihm geschah: +so wenig, so gar nicht war er sich seiner selbst bewußt. +</p> + +<p> +Deshalb bemerkte er auch nicht, wie der Gottesdienst +zu Ende ging, und kam erst zu sich, als er, seiner +Unbekannten folgend, sich abermals durch die +Volksmenge drängte. Sie wurden immer wieder durch +das hinausströmende Volk aufgehalten: dabei aber +hatte sie ihn dann, beim Stehenbleiben und Warten, +zum erstenmal bemerkt, hatte sich mit merklich wachsender +Verwunderung wieder und wieder nach ihm +umgesehen, und plötzlich, als seine Augen ihrem erstaunten +hellen Blick begegneten, war sie errötet – +ganz plötzlich wie in einem jähen Begreifen, das ihr +die Glut ins Gesicht trieb. In demselben Augenblick +aber tauchte auch schon die hohe Gestalt des Alten im +Gedränge vor ihnen auf: und er nahm sie wortlos bei +der Hand. Und wieder traf der Blick des Alten Ordynoff +mit einem so gehässigen, boshaft spöttischen Ausdruck, +daß Ordynoffs Herz plötzlich von einer ganz +seltsamen rasenden Wut erfaßt wurde. In der Dunkelheit +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +verlor er sie bald aus den Augen: er drängte +sich erschrocken weiter durch die Menge, machte sich +rücksichtslos Platz und trat aus der Kirche. Die Abendluft +berührte ihn kalt, aber sie erfrischte ihn nicht: +sie benahm ihm den Atem, beengte seine Brust und +sein Herz begann langsam und stark zu schlagen, mit +einer Wucht, als wolle es seine Brust zersprengen. +Er suchte sie lange, mußte es aber dann doch aufgeben, +da er sie nirgends mehr finden konnte: sie waren +weder auf der Straße noch in der Sackgasse zu sehen. +Doch zugleich entstand in ihm bereits ein Gedanke, +der sich alsbald zu einem jener Pläne entwickelte, die +zwar in der Regel mehr oder weniger wahnwitzig zu +sein pflegen, deren Ausführung aber in solchen Fällen +fast immer glänzend gelingt – ganz abgesehen davon, +daß gerade diese unsinnigen Pläne am ehesten in die +Tat umgesetzt werden, vernünftigere dagegen sehr oft +nur Pläne bleiben. +</p> + +<p> +Ordynoff begab sich am nächsten Morgen gegen acht +Uhr zu jenem Hause, trat von der Gasse aus durch +das Tor und befand sich auf einem schmalen, schmutzigen +Hinterhof. Der Hausknecht, der dort mit einem +Spaten hantierte, sah von seiner Arbeit auf, stützte sich +auf den Spatenstiel, musterte Ordynoff vom Kopf +bis zu den Füßen und fragte schließlich, was er hier +wünsche. +</p> + +<p> +Dieser Hausknecht war ein noch junger Bursche +von etwa fünfundzwanzig Jahren, dabei von eigentümlich +altväterischem Aussehen, klein, mit runzligem Gesicht +und von offenbar tatarischer Abstammung. +</p> + +<p> +„Ich suche ein Zimmer,“ sagte Ordynoff ungeduldig. +</p> + +<p> +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +„Was für eins denn?“ fragte der Kerl spöttisch +und sah ihn mit einer Miene an, als wisse er bereits +um sein ganzes Vorhaben. +</p> + +<p> +„Ich will hier ein Zimmer mieten.“ +</p> + +<p> +„Im Vorderhaus gibt’s keins,“ versetzte der Tatar +etwas rätselhaft. +</p> + +<p> +„Aber hier?“ +</p> + +<p> +„Hier auch nicht.“ Und damit wandte er sich wieder +seiner Arbeit zu. +</p> + +<p> +„Vielleicht gibt es doch einen Mieter, der mir eins +abtreten würde?“ fragte Ordynoff und drückte dem +Hausknecht ein Trinkgeld in die Hand. +</p> + +<p> +Der Tatar sah ihn an, steckte das Geld in die +Tasche und machte sich dann wieder etwas mit seinem +Spaten zu schaffen – erst nach einigem Schweigen +erklärte er nochmals: „Nein, hier gibt’s keins.“ Der +junge Mann hörte ihn aber nicht mehr: er ging bereits +auf den halbverfaulten schwankenden Brettern, +die über eine Pfütze führten, zum einzigen Eingang +des Hinterhauses, zu einer Treppe, die ebenso schmutzig +war, wie das ganze Haus schmutzig aussah, und deren +unterste Stufe in einer zweiten Pfütze halbwegs versank. +Unten, neben dem Eingang, wohnte ein armer +Sargmacher, an dessen Werkstätte Ordynoff ohne zu +fragen vorüberging, um auf der halbzerbrochenen gewundenen +Treppe hinaufzusteigen. Im oberen Stockwerk +angelangt, fand er, mehr tastend als sehend, eine +schwere Tür, die einst mit Bastmatten beschlagen gewesen +war, von denen jetzt jedoch nur noch wenig +mehr als einzelne Stücke an ihr hafteten. Er drückte +auf die Klinke und öffnete die Tür. Er hatte sich +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +nicht geirrt. Vor ihm stand der Alte, den er in der +Kirche gesehen, und blickte ihn mit äußerster Verwunderung +starr an. +</p> + +<p> +„Was willst du?“ stieß er halblaut mit rauher +Stimme hervor. +</p> + +<p> +„Haben Sie ein Zimmer zu vermieten?“ fragte +Ordynoff, ohne eigentlich selbst zu wissen, was er sagte +oder sagen wollte. Hinter dem Alten hatte er seine +Unbekannte erblickt. +</p> + +<p> +Der Alte sagte nichts, er bemühte sich nur, die Tür +zu schließen, um Ordynoff auf diese Weise hinauszudrängen. +</p> + +<p> +„Ja doch! – wir haben ein Zimmer!“ sagte da +plötzlich das junge Weib mit freundlicher Stimme. +</p> + +<p> +Der Alte wandte sich nach ihr um. +</p> + +<p> +„Ich brauche nicht viel mehr als einen Winkel,“ +sagte Ordynoff, indem er schnell eintrat und sich an +das junge Weib wandte. +</p> + +<p> +Doch das Wort erstarb ihm auf den Lippen: etwas +Seltsames spielte sich plötzlich vor seinen Augen ab, +eine stumme und doch beredte Szene. Der Alte war +so leichenblaß geworden, als würde er im Augenblick +ohnmächtig zusammenbrechen, und sah mit einem bleischweren, +unbeweglichen, durchdringenden Blick das +junge Weib an. Auch sie erblaßte zunächst, dann aber +stieg ihr mit einem Male jäh das Blut ins Gesicht +und in ihren Augen blitzte etwas Seltsames auf. Ohne +ein weiteres Wort führte sie Ordynoff in das Nebenzimmer. +</p> + +<p> +Die ganze Wohnung bestand aus einem einzigen, +allerdings recht großen Zimmer, das durch zwei +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +Scheidewände in drei Räume geteilt war. Aus dem +ziemlich dunklen und schmalen Vorzimmer, in das man +vom Flur aus trat, führte geradeaus eine Tür offenbar +in das Schlafzimmer. Rechts von dieser führte +eine andere Tür nach dem Zimmer, das vermietet werden +sollte. Es war das ein schmaler, enger Raum, der +durch die Scheidewand gewissermaßen an die zwei niedrigen +Fenster angedrückt erschien. Überdies war er +noch vollgepackt mit den verschiedensten Sachen, die +nun einmal zu einem Haushalt gehören. Es war ärmlich +und eng, aber doch nach Möglichkeit sauber. Die +Einrichtung bestand aus einem einfachen ungestrichenen +Tisch, zwei ebenso einfachen Stühlen und zwei +Bettladen, die eine an der Scheidewand, die andere +an der der Tür gegenüberliegenden Wand. Ein großes +altertümliches Heiligenbild mit einer vergoldeten +Strahlenkrone stand in der Ecke auf einem Winkelbrett +und vor ihm brannte das Öllämpchen. Ein mächtiger +russischer Ofen, an den sich die Scheidewand anschloß, +stand zur Hälfte in diesem Zimmer, zur Hälfte im +Vorzimmer. Eigentlich bedurfte es keiner Versicherung, +daß diese Wohnung für drei erwachsene Menschen zu +eng war. +</p> + +<p> +Sie begannen, das Notwendige zu besprechen, +sprachen aber so verwirrt und zusammenhanglos, daß +sie einander kaum verstanden. Ordynoff, der zwei +Schritte von ihr entfernt stand, glaubte ihr Herz pochen +zu hören: er sah, daß sie vor Erregung und anscheinend +auch vor Angst zitterte. Schließlich verständigten +sie sich doch irgendwie und die Sache ward abgeschlossen. +Der junge Mann erklärte, daß er sogleich +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +einziehen wolle, und blickte sich unwillkürlich nach dem +Alten um. Der war zwar immer noch bleich, aber auf +seinen Lippen lag bereits ein stilles, sogar nachdenkliches +Lächeln, das jedoch schnell verschwand, als er +Ordynoffs Blick begegnete: sofort runzelte er wieder +finster die Stirn. +</p> + +<p> +„Hast du einen Paß?“ fragte er plötzlich mit lauter, +rascher Stimme, indem er gleichzeitig schon die +Tür zum Flur öffnete. +</p> + +<p> +Ordynoff bejahte die Frage, die ihn etwas stutzig +machte. +</p> + +<p> +„Wer bist du?“ +</p> + +<p> +„Wassilij Ordynoff. Habe keine Anstellung. Lebe +ganz für mich,“ antwortete er, ebenso kurz angebunden, +wie der Alte in seiner rauhen Art. +</p> + +<p> +„Ich gleichfalls,“ versetzte der Alte. „Ich bin Ilja +Murin, Kleinbürger. Genügt dir das? – Gut, dann +geh!“ ... +</p> + +<p> +Innerhalb zweier Stunden war Ordynoff eingezogen, +eigentlich selbst nicht weniger darüber verwundert, +als es Herr Spieß und seine Tochter Tinchen +waren, die nach vergeblichem Warten zu der Überzeugung +kamen, daß der verschwundene Mieter sie nur +habe betrügen wollen. Ordynoff freilich begriff selbst +nicht, wie das alles so gekommen war, aber im Grunde +wollte er es auch gar nicht begreifen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-2"> +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Sein Herz pochte so stark, daß er vor den Augen +grüne Punkte tanzen sah, und hin und wieder erfaßte +ihn ein Schwindel. Der Kopf tat ihm weh. Mechanisch +machte er sich daran, sein geringes Hab und Gut auszupacken, +entnahm einem Bündel, das seine Wäsche +enthielt, das Notwendigste, schloß den Bücherkasten +auf und begann die Bände und Schriften auf dem +Tische zu ordnen. Bald aber entfiel auch diese +Arbeit seinen Händen. Was er tun mochte – immer +wieder erschien vor ihm das Bild des jungen Weibes, +das vom ersten Augenblick an sein Herz mit so unlösbaren +Banden gleichsam umkrampft hatte, – und +so viel Glück war plötzlich in sein armes Leben geflutet, +daß seine Gedanken wie in einem Rausch untergingen +und sein Geist ganz wirr ward und er selbst nicht +mehr wußte, was er wollte. Er nahm seinen Paß, um +ihn dem Alten, dessen Mieter er nun geworden war, +einzuhändigen – natürlich in der Hoffnung, bei der +Gelegenheit sie zu sehen. Murin öffnete aber die Tür +nur ein wenig, nahm den Paß in Empfang, nickte bloß +und sagte „Gott mit dir!“, worauf er die Tür wieder +schloß. Ein unangenehmes Gefühl überkam Ordynoff. +Es wurde ihm, ohne daß er wußte warum, so schwer, +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +diesen Alten anzusehen. In seinem Blick lag stets so +etwas wie Verachtung und Bosheit. Doch der unangenehme +Eindruck verwischte sich bald. Er lebte ja schon +den dritten Tag wie in einem Wirbel, im Vergleich +zu seinem früheren stillen Leben. Nur denken konnte +er jetzt nicht, ja, er fürchtete sich förmlich davor. Alles +hatte sich für ihn plötzlich verändert: er hatte die dunkle +Empfindung, als sei sein Leben in zwei Hälften gebrochen +und von seinen Gedanken galt kein einziger mehr +der ersten Hälfte. Er empfand nur den einen Trieb, +nur die eine Erwartung ... +</p> + +<p> +Ohne zu wissen, wie er das Benehmen des Alten +deuten sollte, kehrte er in sein Zimmer zurück. Beim +Ofen, in dem das Essen kochte, machte sich ein kleines, +vor Alter krummes Weib zu schaffen. Sie war so +schmutzig und zerlumpt gekleidet, daß man sie nur mit +Widerwillen ansehen mochte. Dabei schien sie eine unglaublich +böse Person zu sein. Das war die Dienstmagd. +Ordynoff, der sie etwas vor sich hinbrummen +hörte und ihren zahnlosen Unterkiefer sich bewegen sah, +redete sie an, erhielt aber keine Antwort: es war, als +schwiege sie vor lauter Bosheit. Endlich kam die Mittagsstunde. +Die Alte nahm das Essen aus dem Ofen +– Kohlsuppe, Pasteten und Rindfleisch – und brachte +es in das andere Zimmer. Dasselbe Essen brachte sie +auch Ordynoff. Nach dem Mittagessen trat in der +Wohnung Totenstille ein. +</p> + +<p> +Ordynoff nahm ein Buch zur Hand, las Satz für +Satz und ganze Seiten, wobei er sich bemühte, den +Sinn des Gelesenen zu erfassen, der ihm aber selbst +dann unklar blieb, wenn er das Gelesene nochmals las. +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +Bald schon warf er das Buch beiseite und schickte sich +an, seine Habseligkeiten noch weiter zu ordnen. Nur +dauerte auch das nicht lange. Ungeduldig nahm er +schließlich seine Mütze, seinen Mantel und ging auf +die Straße. Ohne auf den Weg zu achten, ging er weiter +und gab sich die größte Mühe, seine Gedanken zu +sammeln und wenigstens etwas über seine neue Lage +nachzudenken. Doch diese Willensanspannung wurde +ihm förmlich zu einer Qual – als müsse er sich selbst +foltern. Offenbar hatte er sich erkältet: bald erfaßte +ihn ein Schüttelfrost, bald glühte er im Fieber und +zuweilen begann sein Herz so stürmisch zu schlagen, +daß er sich an eine Wand lehnen mußte. „Nein, lieber +tot ... lieber tot sein,“ murmelten seine fieberheißen +Lippen, ohne daß er es selbst recht wußte. So irrte er +noch lange in den Straßen umher – bis er schließlich +durch eine starke Empfindung von Kälte und Feuchtigkeit +zum erstenmal bemerkte, daß es ja in Strömen regnete. +Da besann er sich und kehrte zurück. Kurz bevor er +das Haus erreichte, erblickte er den Hausknecht, der ihn, +wie ihm schien, schon eine Weile stillstehend mit Neugier +beobachtet hatte, seinen Weg nach Hause aber sogleich +wieder fortsetzte, als er sich bemerkt sah. +</p> + +<p> +Ordynoff erreichte ihn mit ein paar Schritten. +</p> + +<p> +„Guten Tag. Übrigens, wie heißt du?“ +</p> + +<p> +„Hausknecht heiß’ ich,“ antwortete der Tatar +grinsend. +</p> + +<p> +„Bist du schon lange hier Hausknecht?“ +</p> + +<p> +„Das will ich meinen.“ +</p> + +<p> +„Mein Wirt, der Murin, bei dem ich zur Miete +wohne, ist doch Kleinbürger?“ +</p> + +<p> +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +„Das wird er wohl sein, wenn er’s gesagt hat.“ +</p> + +<p> +„Was treibt er denn eigentlich?“ +</p> + +<p> +„Treibt? – Er lebt. Ist krank, betet. Weiter +nichts.“ +</p> + +<p> +„Ist das seine Frau?“ +</p> + +<p> +„Welche Frau?“ +</p> + +<p> +„Die bei ihm lebt?“ +</p> + +<p> +„Das wird sie wohl sein, wenn er’s gesagt hat. +Leb wohl, Herr.“ +</p> + +<p> +Der Tatar berührte den Mützenschirm und trat in +seinen Schlupfwinkel unter dem Torbogen. +</p> + +<p> +Ordynoff stieg die Treppe hinauf zu seinem Zimmer. +Die Alte öffnete ihm zaudernd die Tür, wobei +sie wieder etwas vor sich hinbrummte, klinkte die Tür +hinter ihm ein und kroch langsam zurück auf den Ofen, +auf dem sie den größten Teil ihres Lebens zuzubringen +schien. Es dunkelte bereits. Ordynoff wollte sich von +seinen Wirtsleuten Streichhölzer holen, doch die Tür +zu ihrem Zimmer war verschlossen. Er rief die Alte +an, die sich etwas aufgerichtet hatte und, auf den Ellbogen +gestützt, vom Ofen herab ihn anglotzte, als +dächte sie darüber nach, was er wohl dort an der verschlossenen +Tür zu suchen habe. Schweigend warf sie +ihm eine Streichholzschachtel zu. In sein Zimmer zurückgekehrt, +nahm er wieder seine Bücher vor. Allmählich +wurde ihm immer sonderbarer zumut und obschon +er selbst nicht begriff, was in ihm vorging, setzte +er sich auf die Bettlade, zu der er sich eigentümlich hingezogen +fühlte. Und dann war ihm, als schliefe er ein. +Mehrmals kam er wieder zu sich und erriet – es war +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +ein Erraten und sich Merken in einem Zustande des +Halbbewußtseins –, daß es gar kein Schlaf war, +sondern nur eine krankhafte, qualvolle Benommenheit. +Einmal hörte er, wie an die Tür gepocht und wie die +Tür geöffnet wurde, und er sagte sich, daß es wohl die +Wirtsleute waren, die von der Abendmesse zurückkehrten. +Bei der Gelegenheit fiel ihm ein, daß er zu ihnen +gehen mußte, um etwas zu holen. Er erhob sich denn +auch und ging zu ihnen – d. h. es schien ihm, daß er +sich erhob und ging – doch plötzlich stolperte er und +fiel auf einen Haufen Holz, den die Alte mitten im +Zimmer hingeworfen hatte. Von da an wußte er nichts +mehr, und als er die Augen, wie ihm deuchte, nach langer, +langer Zeit öffnete, gewahrte er mit Verwunderung, +daß er noch auf derselben Lade lag, in den Kleidern, +so wie er war, und daß ein berückend schönes +junges Weib in zärtlicher Sorge sich über ihn beugte, +mit einem stillen und mütterlichen Ausdruck im Blick. +Er fühlte, wie ihm ein Kissen unter den Kopf geschoben +wurde und wie man ihn mit etwas Warmem zudeckte, +und wie eine zarte Hand sich auf seine heiße +Stirn legte. Er wollte danken, wollte diese Hand fassen, +sie an seine heißen trockenen Lippen führen, mit +Tränen benetzen und küssen, eine ganze Ewigkeit lang +küssen. Er wollte so vieles sagen, aber was – das +wußte er selbst nicht! Oh, sterben hätte er mögen, vergehen +in diesem Augenblick! Doch seine Arme waren +schwer wie Blei und ließen sich nicht bewegen. Es war +ihm, als sei er stumm geworden und könne deshalb +nicht sprechen, und daher fühlte er nur, wie sein Blut +so durch alle Adern jagte, daß er glaubte, emporgehoben +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +zu werden. Jemand gab ihm Wasser zu trinken ... +Dann sank er wieder in tiefe Bewußtlosigkeit. +</p> + +<p> +Am anderen Morgen erwachte er gegen acht Uhr. +Die Sonne schien in goldenen Strahlenbündeln durch +das grünliche billige Glas der Fensterscheiben. Ein +wundervolles Gefühl durchströmte alle Glieder des +Kranken. Er war ruhig und still – war unsagbar +glücklich. Er hatte die Empfindung, als sei jemand soeben +an seinem Bette gewesen, ganz nah an seinem +Kopfkissen. Und während er vollends zu sich kam, dachte +er daran, sich nach diesem Menschen im Zimmer umzusehen, +um seinen neuen Freund zu entdecken und zum +erstenmal im Leben zu ihm zu sagen: „Guten Morgen, +habe Dank, mein Guter!“ +</p> + +<p> +„Wie lange du schläfst?“ sagte da zärtlich eine +Frauenstimme. Ordynoff sah sich um, jemand trat an +sein Bett, und über ihn neigte sich mit einem freundlichen +hellen Lächeln das Gesicht seiner schönen jungen +Wirtin. +</p> + +<p> +„Wie krank du warst,“ fuhr sie fort, „aber nun laß +es genug sein; wozu beraubst du dich der Freiheit! +Die ist süßer als Brot, schöner als die liebe Sonne. +Steh auf, mein Täubchen, steh auf!“ +</p> + +<p> +Ordynoff ergriff ihre Hand und drückte sie krampfhaft. +Er glaubte, noch zu träumen. +</p> + +<p> +„Warte, ich habe dir Tee gemacht. Willst du Tee? +Trink ihn, es wird dir davon besser werden. Ich bin +selbst krank gewesen und weiß, wie das ist.“ +</p> + +<p> +„Ja, gib mir zu trinken,“ sagte Ordynoff mit noch +matter Stimme und versuchte, aufzustehen, was ihm +auch gelang. Er fühlte sich zwar noch recht schwach, +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +wie zerschlagen, und ein Kältegefühl im Rücken ließ +ihn erschauern. In seinem Herzen aber hatte er ein +Gefühl, als werde er von den Sonnenstrahlen erwärmt +und mit einer hellen, feiertäglichen Freude erfüllt. Er +fühlte das Unsichtbare: daß für ihn ein neues, starkes +Leben anbrach. Einen Augenblick war ihm, als erfasse +ihn ein leichter Schwindel. +</p> + +<p> +„Du heißt doch Wassilij?“ fragte sie. „Oder habe +ich mich verhört? Hat dich mein Herr nicht gestern so +genannt?“ +</p> + +<p> +„Ja, Wassilij. Und wie heißt du?“ fragte Ordynoff, +indem er sich ihr näherte, obschon er sich kaum auf +den Füßen hielt. Plötzlich wankte er. Sie ergriff seine +Hände und lachte. +</p> + +<p> +„Ich? – Katherina!“ Und sie sah ihn mit ihren +strahlenden, blauen Augen an. Beide hielten sie sich +an den Händen. +</p> + +<p> +„Du willst mir etwas sagen?“ fragte sie endlich. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht ...“ Ihm war, als trübe sich sein +Blick. +</p> + +<p> +„Wie sonderbar du bist! Laß gut sein, du, mein +Lieber, gräme dich nicht, sei nicht traurig – komm, +setze dich hierher, hier scheint die Sonne, die wird dich +erwärmen. So, nun sei ganz ruhig! Komme mir nicht +nach,“ fügte sie hinzu, als sie sah, daß der junge Mann +eine Bewegung machte, als wolle er sie zurückhalten +– „ich werde gleich wieder bei dir sein, da wirst du +mich sehen können, soviel du nur willst!“ +</p> + +<p> +Sie kam denn auch sogleich wieder, brachte ihm +den Tee, den sie auf den Tisch stellte, und setzte sich +ihm gegenüber. +</p> + +<p> +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +„Da, nun trinke! – Wie, schmerzt dir der Kopf +noch?“ +</p> + +<p> +„Nein, jetzt schmerzt er nicht mehr,“ sagte Ordynoff, +„oder ich weiß nicht, vielleicht schmerzt er auch ... +ich will nicht ... schon gut, schon gut! ... Ich weiß +nicht, was mit mir ist ...“ stieß er unter Herzklopfen +hervor, und er suchte ihre Hand. „Bleibe hier, geh +nicht fort von mir, gib ... gib mir wieder deine +Hand ... Vor meinen Augen dunkelt es ... In dir +sehe ich meine Sonne,“ sagte er, als risse er jedes +Wort aus seinem Herzen, und es war doch, als empfinde +er schon Seligkeit, wenn er zu ihr nur sprechen +konnte. Heiß stieg es in ihm auf und schnürte ihm die +Kehle zusammen – bis die Spannung sich plötzlich in +einem dumpfen, erschütternden Schluchzen entlud. +</p> + +<p> +„Du Armer! Du hast wohl noch nie mit guten +Menschen gelebt? Bist ganz allein und einsam in der +Welt? Hast du gar keine Verwandten?“ +</p> + +<p> +„Niemand, ich bin ganz allein ... laß, was tut +das! Mir ist jetzt besser ... so ... wohl!“ Es war, +als phantasiere er. Das Zimmer schien sich um ihn zu +drehen. +</p> + +<p> +„Auch ich habe jahrelang keine Menschen gesehn +... Du siehst mich so an ...“ sagte sie plötzlich +nach minutenlangem Schweigen und stockte ... +</p> + +<p> +„Was ... wie denn?“ +</p> + +<p> +„So, als wärmten dich meine Augen! Weißt du, +wenn man jemand so liebt ... Ich habe dich doch +schon bei deinen ersten Worten in mein Herz geschlossen. +Wenn du krank werden solltest, werde ich dich +pflegen. Aber du darfst nicht wieder krank werden, +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +nein! Wenn du aber wieder ganz gesund bist, +dann wollen wir wie Bruder und Schwester leben, ja? +Willst du? Es ist doch schwer, eine Schwester zu finden, +wenn Gott einem keine Geschwister gegeben hat.“ +</p> + +<p> +„Wer bist du? Woher kommst du?“ stammelte Ordynoff +mit matter Stimme. +</p> + +<p> +„Oh, nicht hier ist meine Heimat ... aber was geht +dich das an? Weißt du, die Leute erzählen, wie zwölf +Brüder in einem dunklen Walde lebten und wie in dem +Walde ein schönes Mädchen sich verirrte. Und sie kam +zu den zwölf Brüdern und machte Ordnung im Hause, +und säuberte alles, und was sie tat, tat sie mit Liebe. +Als nun die Brüder zurückkehrten, sahen sie, daß ein +Schwesterchen den Tag über bei ihnen gewesen war, +und sie riefen sie und baten sie, doch bei ihnen zu bleiben. +Und da kam sie denn auch und blieb bei ihnen. +Und die Brüder nannten sie ihr Schwesterchen und +ließen ihr alle Freiheit und allen gehörte sie gleich an. +Kennst du das Märchen?“ +</p> + +<p> +„Ich kenne es,“ sagte Ordynoff leise. +</p> + +<p> +„Schön ist es doch zu leben. Sag, bist du froh, daß +du lebst?“ +</p> + +<p> +„Ja – ja! eine Ewigkeit leben ... lange leben!“ +phantasierte Ordynoff. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht,“ meinte Katherina nachdenklich, +„ich würde doch auch den Tod nicht missen wollen. Ob +es gut ist, zu leben? – ja, zu lieben, und gute Menschen +liebzuhaben, ja ... Sieh, da bist du aber wieder +bleich geworden ...“ +</p> + +<p> +„Ja, mich schwindelt ...“ +</p> + +<p> +„Wart, ich bringe dir meine Kissen und Decken, +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +und werde dir das Bett schön aufmachen. Dann wird +dir von mir träumen und das Übel wird von dir weichen. +Unsere Alte ist auch krank ...“ +</p> + +<p> +Und schon während sie sprach, machte sie das Bett +zurecht, wobei sie ab und zu über die Schulter nach +Ordynoff hinüberblickte. +</p> + +<p> +„Wie viele Bücher du hast!“ sagte sie, als sie nach +beendeter Arbeit den Koffer ein wenig abrückte. +</p> + +<p> +Dann brachte sie die Decken und trat zu ihm, +stützte ihn mit dem rechten Arm und führte ihn zum +Bett, auf dem sie ihm die Kissen zurechtrückte, um ihn +dann zuzudecken. +</p> + +<p> +„Man sagt, Bücher verdürben die Menschen,“ fuhr +sie fort und schüttelte nachdenklich den Kopf. „Liest du +gern in Büchern?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ antwortete Ordynoff, selbst im Zweifel darüber, +ob er schlief oder wachte. Und wie um sich zu versichern, +daß es kein Traum war, suchte er Katherinas +Hand und preßte sie in der seinen. +</p> + +<p> +„Mein Herr hat viele Bücher: solche!“ – sie beschrieb +mit der Linken ein großes Format – „er sagt, +es seien heilige Bücher. Und er liest mir aus ihnen +immer vor. Ich werde sie dir später zeigen. Soll ich +dir erzählen, was er mir aus ihnen vorliest?“ +</p> + +<p> +„Erzähle,“ flüsterte Ordynoff, ohne den Blick von +ihr losreißen zu können. +</p> + +<p> +„Betest du gern?“ fragte sie wieder nach kurzem +Schweigen. „Weißt du was? – ich fürchte, ich fürchte +immer ...“ +</p> + +<p> +Sie sprach es nicht aus, und wie es schien, dachte +sie über irgend etwas nach. +</p> + +<p> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +Ordynoff führte ihre Hand an seine Lippen. +</p> + +<p> +„Was küßt du meine Hand?“ Ihre Wangen erröteten +leicht. Und dann lachte sie: „Ach nun, da! – +küsse sie nur!“ und sie hielt ihm beide Hände hin. +Dann befreite sie die eine Hand und legte sie auf seine +heiße Stirn, und plötzlich – streichelte sie ihn und +dann glättete sie sein Haar, und dabei errötete sie immer +mehr. Endlich kniete sie neben seinem Bett nieder +und lehnte ihre Wange an seine Wange: er spürte +den feuchtwarmen Hauch ihres Atems ... Plötzlich +fühlte Ordynoff, daß heiße Tränen über seine Wange +rollten – sie weinte. Er wollte etwas sagen, denken, +wurde aber immer schwächer, immer schwächer ... er +konnte kein Glied mehr rühren. Da stieß jemand an +die Tür und die Klinke klapperte. Ordynoff hörte nur +noch, wie der Alte, sein Wirt, eintrat. Und darauf +fühlte er, wie Katherina sich erhob, übrigens ganz +langsam, ohne jeden Schreck, fühlte, wie sie beim Weggehen +das Zeichen des Kreuzes über ihm machte. Er +lag mit geschlossenen Augen. Plötzlich brannte ein heißer +langer Kuß auf seinen Lippen: der fuhr ihm wie +ein Dolchstoß ins Herz. Er wollte aufschreien, verlor +aber die Besinnung ... +</p> + +<p> +Damit begann für ihn ein sonderbarer Zustand, +ein Traumleben, wie es nur Krankheit und Fieber verursachen +können. Es kamen Augenblicke, in denen es +ihm in einer Art unklaren Bewußtseins schien, daß er +verurteilt sei, in einem langen, endlosen Traum voll +seltsamer Aufregungen, Kämpfe und Leiden zu leben. +Empört und entsetzt suchte er sich aufzulehnen gegen dieses +Fatum, das ihn knechten wollte, doch im Augenblick +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +des heißesten, verzweiflungsvollsten Kampfes +fühlte er, wie ihn plötzlich eine andere feindliche Kraft +überfiel und niederrang, und dabei empfand er mit +jeder Fiber, wie er von neuem die Besinnung verlor +und wie wieder undurchdringliches, bodenloses Dunkel +sich vor ihm auftat, und er glaubte sogar selbst den +Schrei der Qual und Verzweiflung zu hören, mit dem +er in diesen offenen Schlund versank. Dann aber kamen +wieder andere Augenblicke eines kaum zu ertragenden, +überwältigenden Glücks, wie man es nur selten +empfindet: Augenblicke, in denen die Lebenskraft +im ganzen Menschen sich krankhaft steigert und der +Mensch sich wie in einer höheren Sphäre befindet, wo +alles Vergangene sich klärt und in allem Zusammenhang +offenbart, wo die kurze Gegenwart mit ihrem +Licht ein klingendes, tönendes Triumph- und Freudengefühl +auslöst und die unbekannte Zukunft wie ein +Traum im Wachen vor einem liegt, und man nicht +weiß, woher sich unsagbare Hoffnung wie erquickender +Tau auf die Seele legt, und aufschreien möchte +vor lauter Seligkeit, während man doch fühlt, wie +schwach und hilflos das Fleisch vor dieser Wucht der +Eindrücke ist, und der Lebensfaden, der ins Vergangene +zurückreicht, zerreißt und das neue Leben wie ein +Leben nach einer Auferstehung vor uns erscheint ... +Dann schwand ihm wieder das Bewußtsein und eine +Art Halbschlaf umfing ihn, in dem er alles, was er +in den letzten Tagen erlebt hatte, nochmals durchlebte +und das Gesehene, verschwommenen Nebelbildern +gleich, in wirrer, hastend drängender Folge an seinem +geistigen Auge vorüberzog. Es erschien ihm dabei in +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +diesen Visionen alles ganz anders, seltsam und rätselhaft. +Dann wieder vergaß er alles jüngst Geschehene +und wunderte sich, daß er nicht mehr in seiner früheren +Wohnung bei seiner alten Wirtin war. Er konnte es +sich nicht erklären, warum die alte gute Frau zu seinem +Ofen kam, in dem noch die letzten Kohlen glühten +– er glaubte noch den schwachen, zitternden Widerschein +der verlöschenden Glut an der Wand zu sehen +– und warum sie nicht, bevor sie die Ofentür +schloß, ihre hageren alten Hände am Feuerschein +wärmte, wie sie es sonst immer getan, stets nach alter +Leute Art vor sich hinmurmelnd, ab und zu mit einem +Blick nach ihrem sonderbaren Pensionär, den sie für +mindestens „nicht ganz richtig“ hielt: von diesem ewigen +Sitzen „hinter den Büchern“, wie sie meinte. Dann +wieder fiel es ihm ein, daß er ja umgezogen war, +aus welchem Grunde konnte er sich freilich nicht mehr +entsinnen, obschon sein ganzer Geist ausströmen wollte +in einen ewigen, ununterbrochen empfundenen, unbezähmbaren +Drang ... Doch wohin, wozu es ihn +drängte, was die Ursache solcher Qual war, und wer +diesen unerträglichen Feuerbrand, der sein Blut zu +verzehren schien, in seine Adern geschleudert – das +wußte er wieder nicht und konnte sich auch nicht darauf +besinnen. Oft griff er gierig nach einem Schatten, oft +glaubte er, leichte Schritte in seinem Zimmer zu vernehmen, +Schritte, die sich seinem Lager näherten, und +eine süße, weiche Stimme zärtliche Worte flüstern zu +hören; ihm war, als spüre er feuchtwarmen Atem wie +einen Hauch über sein Gesicht gleiten, und ein herrliches +Gefühl der Liebe erschütterte ihn tief im Innersten, +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +daß seine Seele erbebte. Und heiße Tränen fielen +auf seine glühenden Wangen und plötzlich drückte sich +weich und verlangend ein Kuß auf seine Lippen: da +war es, als verginge sein Leben vor brennender unauslöschlicher +Pein: es schien ihm, als stehe das ganze +Sein, die ganze Welt still, als stürbe sie für Jahrhunderte +rings um ihn, und über alles sinke lange, tausendjährige +Nacht ... +</p> + +<p> +Dann war es ihm wieder, als erlebe er nochmals +die sorglosen Jahre seiner ersten Kindheit, ja er glaubte +sogar, das Landhaus zu sehen, in dem er geboren war, +und die saftigen Wiesen und Auen, auf denen er als +kleiner Junge umhergelaufen und vielleicht Blumen +gepflückt hatte. Wenigstens glaubte er, alles dies zu +sehen, – bis er plötzlich eine Gestalt auftauchen sah, +deren Anblick ihn mit einem mehr als kindlichen Entsetzen +erfüllte und das erste schleichende Gift von Leid +und Qual und Tränen in sein Leben brachte. Es war +ihm, als habe der fremde Alte sein ganzes zukünftiges +Leben in seiner Macht, doch vermochte er trotz seines +Entsetzens nicht, den Blick von ihm abzuwenden, und +der Alte folgte ihm überall hin: er lauerte hinter jedem +Baum und Strauch hervor, nickte ihm grinsend zu und +spottete seiner und neckte ihn und verwandelte sich in +jedes Spielzeug und saß plötzlich wie ein Gnomenkopf +auf dem Halse seines Steckenpferdchens und wandte +sich grinsend und Gesichter schneidend immer wieder +nach ihm um. Und in der Schule saß er zwischen den +Schülern, oder versteckte sich unter der Bank. Oder +der Deckel eines seiner Bücher hob sich um Fingerbreite +und aus dem Dunkel unter dem Deckel sahen ihn die +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +boshaften Augen heimtückisch an. Schlief er, so setzte +sich der scheußliche Geist an sein Bett und verscheuchte +die süßen Kinderträume und erzählte flüsternd nächtelang +ein wundersames Märchen, von dem er zwar +nichts verstand, so angestrengt er auch lauschen mochte, +das aber nichtsdestoweniger sein Kinderherz mit +Grauen und einer nicht mehr kindlichen Leidenschaft +peinigte. Und der böse Alte erzählte flüsternd weiter, +bis eine dumpfe Betäubung seine Sinne lähmte und +er schließlich wieder ohnmächtig wurde. Und dann, mit +einem Male, war es ihm, als erwache er, und wieder +begann ein seltsames Zusammenspiel von halbem Bewußtsein +und halbem Traum: er erwachte als erwachsener +Mensch, und Bilder des jüngst Erlebten umgaukelten +ihn. Er wußte, wo er sich im Augenblick befand, +wußte, daß er einsam und weltfremd war, einsam +unter fremden, verdächtigen Leuten, die – hier +begann wieder ein Traum – in sein Zimmer schlichen +und in den dunklen Winkeln flüsterten und der alten +Frau zunickten, die wieder am Ofen hockte und ihre +hageren alten Hände am Feuer wärmte und ihnen +gleichfalls zunickend auf das Bett wies, in dem er lag. +Er fühlte sich verwirrt, erregt: er wollte wissen, wer +diese Leute waren, was sie hier wollten und warum +er sich selbst in diesem Zimmer befand, und da kam +es denn wie ein Begreifen über ihn, daß er in so etwas +wie eine Räuberhöhle geraten sei, verlockt durch irgendeine +ihm bis dahin unbekannte, zwingende Macht, ohne +sich vorher die Hausbewohner und namentlich seine +Wirtsleute näher anzusehen. Die Ungewißheit peinigte +ihn und sein Argwohn wuchs – und da begann wieder +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +in der nächtlichen Dunkelheit das flüsternd erzählte +Märchen, doch nicht der heimtückische Alte erzählte +es jetzt, sondern eine kleine fremde Greisin, die +es, vor dem Ofen hockend, im zitternden Feuerschein +der erlöschenden Glut leise, leise vor sich hinflüsterte, +während ihr alter Kopf mit dem Silberhaar dazu +nickte. Aber schon stiegen neue Schreckbilder vor ihm +auf: das geflüsterte Märchen, das er kaum hörte und +noch weniger verstand, wurde zu Gestalten und Gesichtern, +und er gewahrte mit Schrecken, daß alles, was +er je in seinem Leben erlebt hatte, selbst alle seine Gedanken +und Träume und was er in Büchern gelesen +und vieles, was er schon längst vergessen hatte – daß +alles wieder lebendig wurde, in riesenhaften Gebilden +sich vor ihm erhob, durcheinanderschob, ihn umringte, +umtanzte: vor seinen Augen taten sich Zaubergärten +auf, er sah ganze Städte erstehen und wieder einstürzen, +er sah unübersehbare Friedhöfe, deren Gräber sich +auftaten und ihre Leichen zu ihm entsandten, und die +Leichen lebten – er sah ganze Rassen und Völker kommen, +wachsen und vor seinen Augen aussterben, und +er sah schließlich jeden seiner Gedanken, kaum daß er +ihn zu denken begann, schon in leibhaftig greifbarer +Form vor seinen Augen sich verwirklichen – sein Denken +war nicht mehr rein geistige Vorstellung und Verbindung +von Begriffen, sondern Schöpfung, Schöpfung +ganzer Welten, Schöpfung ganzer Scharen von +Wesen – und er sah sich selbst gleich einem Stäubchen +getragen in diesem unendlichen unbegrenzten Weltall, +aus dem es kein Entrinnen gab, keine Flucht an +irgendeiner Grenze. Und er überschaute alles und sah, +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +wie dieses ganze Leben durch seine empörende Tyrannei +ihn bedrückte und knechtete und mit ewiger, unendlicher +Ironie verfolgte. Er fühlte, wie er starb und +in Staub und Asche zerfiel, ohne Auferstehung, auf +ewig starb; er wollte fliehen – aber es gab keinen +Winkel im ganzen All, wo er sich hätte verbergen können. +Da packte ihn die Wut der Verzweiflung, er riß +alle seine Kräfte zusammen, mit einem wahnsinnigen +Schrei, wie ihm schien, und – erwachte. +</p> + +<p> +Sein ganzer Körper war mit kaltem Schweiß bedeckt. +Im Zimmer herrschte Totenstille: es war tiefe +Nacht. Und doch war ihm, als vernehme er immer noch +irgendwoher die Erzählung des ihm unverständlichen +wundersamen Märchens, als erzähle eine heisere Stimme +etwas ihm scheinbar Bekanntes: von dunklen Wäldern +und tollkühnen Räubern, von dem verwegenen +Häuptling einer Bande, ganz als wäre von Stenka +Rasin selbst, dem Kosakenhelden, die Rede, und dann +von heiteren Kumpanen und sorglosen Vagabunden, +und von einer jungen Schönheit und von dem Mütterchen +Wolga. War das nicht ein Märchen? Hörte er es +nicht im Wachen? Wohl eine ganze Stunde lag er mit +offenen Augen in peinvoller Erstarrung, ohne ein Glied +zu rühren. Endlich versuchte er, sich vorsichtig aufzurichten, +und mit Freude merkte er, daß die grausame +Folter seine Kraft nicht ganz gebrochen hatte. Das +Fieber mit seinen Visionen war gewichen, jetzt begann +für ihn wieder die Wirklichkeit. Er gewahrte, daß er +noch so angekleidet war, wie während seines Gesprächs +mit Katherina: es konnte folglich noch nicht gar so +lange her sein, daß sie ihn verlassen hatte. Eine jähe +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +Entschlossenheit durchströmte ihn und stählte seine +Kraft. Wie er die dünne Scheidewand betastete, stieß +seine Hand an einen großen Nagel, den man dort zu +irgendeinem Zweck eingeschlagen hatte. Er erfaßte ihn +und richtete sich auf, wobei er eine feine Spalte zwischen +den dünnen Brettern der Scheidewand entdeckte, +durch die ein kaum bemerkbarer Lichtschein in sein Zimmer +drang. Er legte das Auge an die Öffnung und +hielt den Atem an. +</p> + +<p> +In der einen Ecke des anderen Zimmers stand ein +Bett, davor ein Tisch, über den ein bucharischer Teppich +gebreitet lag und der mit großen alten Büchern +in Einbänden, die an alte Kirchenbücher oder sonst +welche heiligen Schriften erinnerten, beladen war. In +der Ecke hing ein ebenso altertümliches Heiligenbild +wie dasjenige in Ordynoffs Zimmer, und vor dem +Bilde brannte gleichfalls ein Lämpchen. Auf dem Bett +lag Murin, mit einer Pelzdecke bedeckt, sichtlich entkräftet +und krank und bleich wie ein Leintuch. Auf seinen +Knien lag ein aufgeschlagenes Buch. Dicht am Bett +saß auf einer kleinen Bank Katherina; mit den Armen +umschlang sie den Alten und schmiegte sich an seine +Brust. Sie sah ihn mit aufmerksamen, kindlich verwunderten +Augen an und schien mit unersättlicher Neugier +fast bebend vor Erwartung seiner Erzählung zu lauschen. +Hin und wieder hob sich die Stimme des Erzählers +und dann trat Leben in sein blasses Gesicht: +in seinen Augen blitzte es auf, er zog die Brauen zusammen, +sein Mund zuckte und Katherina schien zu erbleichen +vor Angst und Aufregung. Dann wieder glitt +es wie ein Lächeln über das Antlitz des Alten, und +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +Katherina begann leise zu lachen. Plötzlich standen +Tränen in ihren Augen: und da streichelte der Alte +zärtlich über ihr Köpfchen, wie man ein kleines Kind +streichelt, und sie umschlang ihn fester mit ihren weißen +Armen und schmiegte sich noch liebender an seine +Brust. +</p> + +<p> +Anfangs dachte Ordynoff, es sei noch ein Traum, +ja, er war sogar überzeugt davon. Dennoch stieg ihm +das Blut zu Kopf und in den Schläfen hämmerte es +schmerzhaft, als wolle es die Adern sprengen. Er ließ +den Nagel los, erhob sich vom Bett und ging leise, +wankend und tastend, wie ein Schlafwandelnder durch +sein Zimmer, ohne selbst zu wissen, was er tat, getrieben +von dem Feuerbrand in seinem Blut – und so +näherte er sich der Tür zu dem Zimmer der anderen +und stieß sie mit aller Kraft auf: der verrostete Riegel +brach, die Tür flog auf und unter Lärm und Gepolter +trat er einen Schritt über die Schwelle in das Schlafzimmer +seiner Wirtsleute. Er sah, wie Katherina entsetzt +emporschnellte und wie die Augen des Alten unter +den zornig zusammengezogenen Brauen funkelten und +wie furchtbarer Jähzorn sein ganzes Gesicht entstellte. +Er sah, wie der Alte, ohne die Augen von ihm abzuwenden, +mit irrender Hand nach der Flinte tastete, die +an der Wand hing, wie es in der Mündung aufblitzte, +die die unsichere Hand des Ergrimmten gerade auf +seine Brust richtete – ein Schuß tönte, und gleich +darauf ein wilder, fast unmenschlicher Schrei ... +</p> + +<p> +Als der Rauch sich verflüchtigt hatte, bot sich Ordynoff +ein entsetzlicher Anblick. Zitternd beugte er sich +über den Alten. Murin lag in Krämpfen auf der +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +Diele, Schaum vor dem Munde, das zuckende Gesicht, +in dem von den Augen nur das Weiße zu sehen +war, völlig entstellt. Ordynoff erriet, daß den Unglücklichen +ein schwerer Anfall betroffen hatte. Zusammen +mit Katherina kniete er bei ihm nieder, um ihm +zu helfen ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-3"> +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +III. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Die ganze Nacht verbrachten sie in Aufregung bei +dem Kranken. Am anderen Tage ging Ordynoff trotz +der eigenen noch nicht überstandenen Krankheit schon +frühmorgens hinaus. Auf dem Hofe traf er wieder den +Hausknecht. Diesmal grüßte der Tatar schon von weitem +und blickte ihn neugierig an, schien sich aber plötzlich +zu besinnen und machte sich an seinem Besen etwas +zu schaffen – schielte aber doch heimlich nach Ordynoff +hinüber, der sich langsam näherte. +</p> + +<p> +„Nun, hast du in der Nacht nichts gehört?“ fragte +ihn Ordynoff. +</p> + +<p> +„Hab’ wohl gehört.“ +</p> + +<p> +„Was ist das für ein Mensch? Wer ist er überhaupt?“ +</p> + +<p> +„Hast selber gemietet, mußt selber wissen. Nicht +meine Sache.“ +</p> + +<p> +„Zum Teufel, Bursche, sprich, wenn ich dich frage!“ +rief Ordynoff wütend in einer krankhaften Gereiztheit, +die ihm an sich selbst ganz neu war. +</p> + +<p> +„Was denn? Ist doch nicht meine Schuld. Deine +eigene Schuld – hast Menschen erschreckt. Unten +wohnt der Sargmacher, der hört sonstig nichts, aber +heut hat er doch gehört, und seine Alte ist sonstig taub +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +auf beiden Ohren, hat’s aber auch gehört, und auf dem +anderen Hof, was schon weit genug ist, hat man’s +auch gehört – da siehst du! Ich werde auf die Polizei +gehen.“ +</p> + +<p> +„Nicht nötig, ich gehe bereits,“ sagte Ordynoff und +wandte sich zur Pforte. +</p> + +<p> +„Meinetwegen – hast selber gemietet ... +Herr, Herr, wart!“ Ordynoff sah sich um; der Hausknecht +berührte höflich die Mütze. +</p> + +<p> +„Nun?“ +</p> + +<p> +„Wenn du gehst, geh ich zum Hauswirt.“ +</p> + +<p> +„Und?“ +</p> + +<p> +„Zieh lieber aus.“ +</p> + +<p> +„Du bist dumm,“ versetzte Ordynoff und wandte +sich von neuem zum Gehen. +</p> + +<p> +„Herr, Herr, wart doch!“ Der Hausknecht berührte +wieder die Mütze und grinste halb verlegen: +„Herr, ich möchte was raten: halt lieber dein Herz +fest. Wozu armen Mensch verfolgen? Weißt doch – +das ist Sünde. Gott sagt auch, das soll man nicht – +weißt doch selber!“ +</p> + +<p> +„Nun höre mal – hier, nimm dies. Und nun +sage mir: wer ist er?“ +</p> + +<p> +„Wer er ist?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Ich sag’ auch ohne Geld.“ +</p> + +<p> +Hier griff er wieder nach dem Besen, fegte ein-, +zweimal, sah dann wieder auf und blickte Ordynoff +mit wichtiger Miene musternd an. +</p> + +<p> +„Du bist ein guter Herr. Willst du nicht mit guten +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +Menschen leben, dann nicht, ganz nach deinem Belieben. +Da hast du gehört, was ich meine.“ +</p> + +<p> +Hieran blickte ihn der Tatar noch ausdrucksvoller +an, schien aber, als er Ordynoffs Gleichgültigkeit bemerkte, +gekränkt zu sein und machte sich wieder mit +seinem Besen zu schaffen. Endlich tat er, als habe er +die Arbeit beendet, näherte sich mit geheimnisvoller +Miene Ordynoff, machte eine eigentümliche Geste, deren +Bedeutung Ordynoff jedoch gleichfalls unverständlich +blieb, und flüsterte: +</p> + +<p> +„Er ist – verstehst du!“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Verstand ist fort.“ +</p> + +<p> +„Wieso?“ +</p> + +<p> +„Wenn ich dir sage! Ich weiß, was ich weiß!“ +fuhr er in noch geheimnisvollerem Tone fort. „Er ist +krank. Er hatte eine Barke, solche große, weißt du, und +noch eine und noch eine dritte und vierte, die fuhren +alle auf der Wolga, ich bin selber von der Wolga, und +dann hatte er noch eine Fabrik und die brannte nieder +und so kam denn das!“ +</p> + +<p> +„Er ist also verrückt?“ +</p> + +<p> +„Nein doch, nein! Gar nichts von verrückt! Er +ist ein kluger Kopf. Alles weiß er, viele Bücher hat er +gelesen und dann anderen die Wahrheit gesagt! So +– kam jemand: zwei Rubel, drei Rubel, vierzig Rubel, +wie gerade ein jeder gibt – er schlägt das Buch +auf und sagt dir alles, so und so, die ganze Wahrheit! +Aber zuerst Geld auf den Tisch, ohne Geld – kein +Wort!“ +</p> + +<p> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +Und der Tatar lachte vor lauter Gefallen an der +Taktik Murins. +</p> + +<p> +„Er hat geweissagt, die Zukunft prophezeit?“ +</p> + +<p> +„M–hm!“ Der Hausknecht nickte zur Bestätigung +wichtig mit dem Kopf. „Immer was wahr ist! Er betet +zu Gott, betet viel. Aber das – versteh! – kommt +so zuweilen über ihn,“ fügte der Tatar wieder mit seiner +rätselhaften Geste hinzu. +</p> + +<p> +In dem Augenblick rief jemand vom anderen Hof +nach dem Hausknecht und gleich darauf erschien ein +kleiner gebeugter alter Mann in einem Pelz. Er ging +hüstelnd und, wie es schien, irgend etwas in seinen +grauen spärlichen Bart murmelnd, mit schleppenden +Schritten vorsichtig und langsam über den Hof, als +fürchte er, jeden Augenblick auszugleiten. Man konnte +glauben, es sei ein vor Altersschwäche kindisch gewordener +Greis. +</p> + +<p> +„Der Hauswirt! Der Hauswirt!“ flüsterte hastig +der Tatar, nickte Ordynoff flüchtig zu und lief, die +Mütze vom Kopf reißend, diensteifrig zu dem Alten, +dessen Gesicht Ordynoff bekannt schien, wenigstens +mußte er ihm unlängst irgendwo schon begegnet sein. +Er überlegte noch, daß das schließlich nicht weiter erstaunlich +war, und verließ den Hof. Der Hausknecht +aber schien ihm jetzt ein geriebener Betrüger zu sein. +</p> + +<p> +„Der Kerl hat mich ja einfach dumm machen +wollen!“ dachte er. „Gott weiß, was noch dahintersteckt.“ +</p> + +<p> +Damit trat er auf die Straße. Doch neue Eindrücke +lenkten ihn bald von den unangenehmen Gedanken ab. +Übrigens waren diese Eindrücke auch nicht angenehmer +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +Art: Der Tag war grau und kalt und es schneite +ein wenig. Er fühlte, wie ihn wieder Kälteschauer +durchrieselten. Es war ihm, als beginne die Erde unter +ihm zu schaukeln. Da vernahm er plötzlich eine bekannte +Stimme, die ihm in übertrieben freundlichem +Tone einen guten Morgen wünschte. +</p> + +<p> +„Jaroslaw Iljitsch!“ sagte Ordynoff. +</p> + +<p> +Vor ihm stand ein gesund aussehender rotwangiger +Herr von etwa – dem Aussehen nach – dreißig +Jahren, nicht groß, mit grauen, blanken Äuglein, das +ganze Gesicht ein einziges Lächeln, und gekleidet – +nun, wie ein Jaroslaw Iljitsch immer gekleidet ist. Und +mit diesem Lächeln streckte er ihm verbindlich die Hand +entgegen. Ordynoff hatte vor genau einem Jahre seine +Bekanntschaft gemacht, und zwar ganz zufällig, fast +auf der Straße. Was zu dieser Bekanntschaft, abgesehen +vom Zufall, in erster Linie beigetragen, war die +besondere Vorliebe Jaroslaw Iljitschs, mit berühmten +und angesehenen Leuten, namentlich mit literarisch gebildeten, +mit bekannten Schriftstellern oder doch wenigstens +vielversprechenden Talenten bekannt zu sein. +Obschon dieser Jaroslaw Iljitsch nur eine sehr süßliche +Stimme besaß, so wußte er ihr doch in der Unterhaltung, +selbst mit den aufrichtigsten Freunden, einen +ungewöhnlich selbstsicheren, jovialen und sonoren Ton +zu verleihen, der etwas förmlich Imponierendes hatte +– ganz als sei er nun einmal auf Grund einer gewissen +Überlegenheit von vornherein zu disponieren +gewohnt, und zwar gleich in einer Weise, als dulde +er überhaupt keinen Widerspruch. +</p> + +<p> +„Wie kommen Sie denn hierher? in diese Gegend?“ +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +rief Jaroslaw Iljitsch mit dem lebhaftesten +Ausdruck herzlicher Freude über das unverhoffte Wiedersehen. +</p> + +<p> +„Ich wohne hier.“ +</p> + +<p> +„Seit wann denn?“ Die Stimme Jaroslaw Iljitschs +klang sogleich um einen Ton oder ein paar +Töne höher, denn er war wirklich überrascht und vergaß +daher sozusagen seinen anderen Ton. „Und +ich hab’s nicht mal gewußt! Dann bin ich ja so +gut wie Ihr Nachbar! Ich wohne nämlich auch hier, +sogar in nächster Nähe. Schon über einen Monat bin +ich aus dem Rjäsanschen Gouvernement zurückgekehrt. +Na, es freut mich, daß ich Sie doch mal eingefangen +habe, bester Freund!“ Und Jaroslaw Iljitsch lachte +sein gutmütiges Lachen. „Ssergejeff!“ rief er, +plötzlich sich zurückwendend, in aufgeräumtester Stimmung. +„Erwarte mich bei Tarassoff, aber daß sie dort +ohne mich keinen Sack anrühren! Und dem Olssufjeffschen +Hausknecht gib einen Rüffel und sag ihm, +daß er sich sofort nach dem Geschäft begeben soll. In +einer Stunde bin ich da ...“ +</p> + +<p> +Und nachdem er diesen Auftrag einem anderen zugerufen, +faßte er gut gelaunt Ordynoff unter den Arm +und führte ihn zum nächsten Gasthaus. +</p> + +<p> +„So, das wäre erledigt. Aber jetzt lassen Sie uns +nach der langen Trennung gemütlich ein paar Worte +miteinander reden. Nun, sagen Sie zunächst, wie steht +es mit Ihrer Arbeit?“ erkundigte er sich fast ehrfürchtig +und mit gesenkter Stimme, wie eben ein teilnehmender +eingeweihter Freund es tut. +</p> + +<p> +„Ja ... was soll ich Ihnen sagen ... nicht anders, +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +als früher,“ antwortete Ordynoff etwas zerstreut, +da er gerade einem ganz anderen Gedanken +nachhing. +</p> + +<p> +„Das ist edel von Ihnen, Wassilij Michailowitsch, +sehen Sie, so etwas erkenne ich an! Das nenne ich, +sein Leben einer höheren Idee weihen!“ Hier drückte +Jaroslaw Iljitsch Ordynoff kräftig die Hand. „Gott +gebe Ihnen Erfolg auf Ihrem Gebiet ... Himmel! +bin ich froh, daß ich Sie getroffen habe! Doch mal +ein andrer Mensch, als so der tagtägliche Durchschnitt! +Wie oft hab’ ich dort an Sie gedacht und mich im stillen +gefragt, wo er wohl jetzt sein mag, unser genialer, +geistreicher Wassilij Michailowitsch!“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch verlangte ein besonderes Zimmer +für sich und seinen Gast, bestellte einen Imbiß, +Schnäpse, und was so dazu gehört. +</p> + +<p> +„Ich habe inzwischen recht viel gelesen,“ fuhr er +mit einschmeichelndem Blick und in bescheidenem Tone +fort. „Zunächst einmal den ganzen Puschkin ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff sah ihn zerstreut an. +</p> + +<p> +„Ja, in der Tat, das muß man ihm lassen: die +Schilderung der menschlichen Leidenschaft ist allerdings +ganz bewundernswert bei ihm. Doch zunächst erlauben +Sie mir, Ihnen meinen Dank auszudrücken. Sie haben +so viel für mich getan, eben durch die Klarlegung +einer richtigen Denkart, Ihrer eigenen Weltanschauung, +sozusagen ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie! ...“ +</p> + +<p> +„Nein! – erlauben Sie: keine Widerrede! Ich +liebe es nun einmal, jedem Gerechtigkeit widerfahren +zu lassen. Und ich bin stolz darauf, daß wenigstens +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +dieses Gefühl – eben das für die Gerechtigkeit – +in mir nicht eingeschlummert ist.“ +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie, dann sind Sie gegen sich selbst +ungerecht, und ich wüßte wirklich nicht ...“ +</p> + +<p> +„Nein, im Gegenteil, durchaus gerecht,“ widersprach +Jaroslaw Iljitsch mit ungewöhnlichem Eifer. +„Was bin ich denn im Vergleich mit Ihnen? Nicht +wahr?“ +</p> + +<p> +„Ach, Gott ...“ +</p> + +<p> +„O ja ...“ +</p> + +<p> +Kurzes Schweigen folgte. +</p> + +<p> +„Als ich aber Ihrem Rat nachkam, habe ich zugleich +eine Menge schlechter Beziehungen aufgegeben, +und damit auch, versteht sich, viele schlechte Gewohnheiten,“ +hub nach einem Weilchen Jaroslaw Iljitsch +wieder in demselben Tone an. „In meiner freien Zeit +nach dem Dienst sitze ich jetzt größtenteils zu Hause, +lese abends irgendein nützliches Buch und ... ich +habe wirklich nur den einen Wunsch, Wassilij Michailowitsch, +meinem Vaterlande zu dienen, d. h. soviel +eben in meinen Kräften steht ...“ +</p> + +<p> +„Das würde bei Ihren Möglichkeiten nicht wenig +sein.“ +</p> + +<p> +„Meinen Sie? ... Weiß Gott, Sie legen einem +immer Balsam auf die Wunden, mein edler junger +Freund!“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch reichte Ordynoff ungestüm die +Hand und dankte mit einem kräftigen Druck. +</p> + +<p> +„Sie trinken nicht?“ fragte er dann, nachdem sich +seine Erregung etwas gelegt. +</p> + +<p> +„Ich kann nicht, ich bin krank.“ +</p> + +<p> +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +„Krank? Was Sie sagen? Nein, wirklich – in +der Tat? Schon lange? – und wie, wo haben Sie sich +denn das zugezogen? Wollen Sie, ich werde sofort – +– welcher Arzt behandelt Sie? Ich werde sogleich +meinen Arzt benachrichtigen, ich eile selbst zu ihm hin. +Er ist überaus geschickt, glauben Sie mir!“ +</p> + +<p> +Und Jaroslaw Iljitsch wollte bereits nach seinem +Hut greifen. +</p> + +<p> +„Nein, danke, nicht nötig! Ich lasse mich überhaupt +nicht behandeln und liebe Ärzte nicht ...“ +</p> + +<p> +„Was Sie sagen? Aber das geht doch nicht so! +Wirklich: er ist überaus geschickt!“ beteuerte Jaroslaw +Iljitsch überzeugt. „Vor kurzem noch – nein, das muß +ich Ihnen doch erzählen! – Vor kurzem, ich war gerade +bei ihm, kam ein armer Schlosser zu ihm. ‚Ich +habe mir hier,‘ sagt er, ‚die Hand mit meinem Werkzeug +beschädigt. Bitte, Herr Doktor, machen Sie mir +meine Hand wieder gesund ...‘ Nun, Ssemjon Pafnutjitsch +sah, daß dem Armen der Brand drohte und +traf sofort seine Vorbereitungen zur Amputation. Er +amputierte in meiner Gegenwart. Aber das tat er so, +sage ich Ihnen, mit solch einer Eleg... das heißt in +einer so entzückenden Weise, daß es, ich muß gestehen +– wenn nicht das Mitleid mit dem leidenden Menschen +es verhindert hätte – einfach ein Vergnügen +gewesen wäre, zuzusehen! – ich meine so der Wissenschaft +halber. Aber, wie gesagt, wann und wo haben +Sie sich denn Ihre Krankheit geholt?“ +</p> + +<p> +„Beim Umzug in meine neue Wohnung ... Ich +bin soeben erst aufgestanden.“ +</p> + +<p> +„Ja, Sie sehen auch noch recht angegriffen aus. +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Sie hätten eigentlich nicht gleich so hinausgehen sollen. +Also dann leben Sie nicht mehr dort, wo Sie +früher wohnten? Aber was hat Sie denn zum Umziehen +veranlaßt?“ +</p> + +<p> +„Meine alte Wirtin verließ Petersburg.“ +</p> + +<p> +„Domna Ssawischna? Ist’s möglich? ... Solch +eine gute alte Frau! Sie wissen doch? – ich empfand +für sie wirklich fast so etwas wie – Sohnesgefühle. +Es war so etwas ... etwas wie aus Urgroßväterzeiten +in ihrem halb schon begrabenen Leben. Und +wenn man sie so ansah, schien es einem fast, als habe +man die guten alten Zeiten selber noch leibhaftig vor +sich ... Das heißt, ich meine so jene gewisse ... eben +so eine gewisse Poesie – Sie verstehen schon, was ich +sagen will! ...“ schloß Jaroslaw Iljitsch etwas konfus +und errötete vor Verlegenheit allmählich bis über +die Ohren. +</p> + +<p> +„Ja, sie war eine gute alte Frau.“ +</p> + +<p> +„Aber erlauben Sie, zu fragen, wo haben Sie sich +denn jetzt eingemietet?“ +</p> + +<p> +„Nicht weit von hier, im Hause eines Koschmaroff.“ +</p> + +<p> +„Ah! den kenne ich. Ein prächtiger Alter! Wir +sind sogar sehr gut miteinander bekannt, kann ich sagen, +– wirklich, ein netter alter Mann!“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch war es sichtlich sehr angenehm, +von diesem netten alten Mann reden und von sich sagen +zu können, daß er mit ihm gut bekannt sei. Er bestellte +noch ein Schnäpschen und begann zu rauchen. +</p> + +<p> +„Haben Sie Ihre eigene Wohnung?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich lebe wieder bei einem Vermieter.“ +</p> + +<p> +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +„Bei wem denn? Vielleicht kenne ich ihn gleichfalls.“ +</p> + +<p> +„Bei Murin, einem Kleinbürger. Ein alter Mann, +groß von Wuchs ...“ +</p> + +<p> +„Murin ... Murin ... warten Sie mal: auf dem +hinteren Hof, über dem Sargmacher?“ +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Hm ... und haben Sie es dort ruhig?“ +</p> + +<p> +„Ich bin erst vor kurzem eingezogen.“ +</p> + +<p> +„Hm ... ich meinte nur, hm ... übrigens, ist +Ihnen noch nichts Besonderes aufgefallen?“ +</p> + +<p> +„In welchem Sinne? Wie meinen Sie das?“ +</p> + +<p> +„Ich will ja nichts gesagt haben ... ich bin ja +überzeugt, daß Sie es bei ihm gut haben werden, +wenn Sie mit Ihrem Zimmer zufrieden sind ... Ich +meinte es durchaus nicht in diesem Sinne. Das will +ich vorausgeschickt haben. Aber – da ich eben Ihren +Charakter kenne ... Ja, wie finden Sie denn eigentlich +den Alten?“ +</p> + +<p> +„Er ist, glaube ich, ein sehr kranker Mensch.“ +</p> + +<p> +„Ja, er ist sehr leidend ... Aber haben Sie sonst +nichts ...? so was, hm ... Besonderes an ihm bemerkt? +Haben Sie mit ihm gesprochen?“ +</p> + +<p> +„Nur sehr wenig. Er scheint menschenscheu und +wohl auch boshaft zu sein.“ +</p> + +<p> +„Hm ...“ Jaroslaw Iljitsch sann nach. +</p> + +<p> +„Ein unglücklicher Mensch!“ sagte er schließlich +nach längerem Schweigen. +</p> + +<p> +„Er?“ +</p> + +<p> +„Ja ... Ein unglücklicher und dabei unglaublich +seltsamer und ungewöhnlicher Mensch. Übrigens, +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +wenn er Sie sonst nicht belästigt ... Verzeihen Sie, +daß ich überhaupt Ihre Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt +habe, aber es interessiert mich gewissermaßen +selbst ...“ +</p> + +<p> +„Ja, da haben Sie nun auch mein Interesse erweckt +... Ich würde jetzt sehr gern Näheres über ihn +erfahren, da ich nun einmal bei ihm wohne –“ +</p> + +<p> +„Tja, sehen Sie mal, ich weiß nur so ... dies und +das. Man sagt, der Mensch sei früher sehr reich gewesen. +Er war Kaufmann, wie Sie wahrscheinlich bereits +gehört haben. Dann aber traf ihn mancherlei +Unglück und er verarmte. Bei einem Sturm waren +mehrere seiner großen Wolgabarken zerschellt und mit +der ganzen Fracht untergegangen. Ferner hat er eine +große Fabrik besessen, deren Leitung, wenn ich nicht +irre, einem Verwandten anvertraut war, und diese +Fabrik brannte nieder, wobei der Verwandte in +den Flammen umgekommen sein soll. Das war natürlich +ein schrecklicher Verlust, wie Sie sich denken können. +So soll denn auch Murin, wie man erzählt, nach +der Katastrophe in einer solchen Stimmung gewesen +sein, daß man schon für seinen Verstand zu fürchten begann. +Und in der Tat hat er sich auch im Streit mit +einem anderen Kaufmann, einem gleichfalls reichen +Barkenbesitzer, so sonderbar benommen, daß man sich +den Vorfall schließlich nicht anders hat erklären können, +als eben mit einer gewissen Geistesstörung, was +ich denn auch gelten lassen will. Ich habe noch manches +andere gehört, was für diese Auffassung gleichfalls +sprechen könnte. Dann ist da noch etwas vorgefallen, +– etwas, wofür es eigentlich keine Erklärung +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +mehr gibt, es sei denn, daß man es einfach als Schicksal +auffaßt.“ +</p> + +<p> +„Und das war?“ forschte Ordynoff. +</p> + +<p> +„Man sagt, daß er, vermutlich in einem Augenblick +des Wahnsinns, einen jungen Kaufmann, den er +bis dahin sogar liebgehabt, umgebracht habe. Nach +begangener Tat aber, als er wieder zur Besinnung gekommen, +sei er darüber so verzweifelt gewesen, +daß er sich das Leben habe nehmen wollen. Wenigstens +erzählt man so. Wie dann die Sache verlaufen +ist, das weiß ich nicht genau, eines aber steht fest: daß +er nämlich während der ganzen folgenden Jahre Buße +getan hat ... Aber was ist mit Ihnen, Wassilij Michailowitsch? +– strengt meine Erzählung Sie an?“ +</p> + +<p> +„Oh, nein, bitte, fahren Sie nur fort ... Sie sagen, +er habe Buße getan, aber vielleicht nicht er allein?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht. Wenigstens ist außer ihm +niemand in diese Angelegenheit verwickelt gewesen. +Übrigens habe ich nichts Näheres darüber gehört. Ich +weiß nur ...“ +</p> + +<p> +„Nun?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nur – das heißt, ich habe eigentlich +nichts Besonderes hinzuzufügen ... ich will nur sagen, +wenn Ihnen mal etwas Außergewöhnliches auffallen +sollte, dann müssen Sie sich eben sagen, daß das einfach +die Folgen der verschiedenen Schicksalsschläge sind, +die ihn einer nach dem anderen betroffen haben.“ +</p> + +<p> +„Er scheint recht gottesfürchtig zu sein. Vielleicht +ist er nur scheinheilig?“ +</p> + +<p> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +„Das glaube ich nicht, Wassilij Michailowitsch. Er +hat so viel gelitten. Mir scheint er vielmehr ein Mensch +mit reinem Herzen zu sein.“ +</p> + +<p> +„Aber jetzt ist er doch nicht mehr wahnsinnig? Den +Eindruck macht er wenigstens nicht.“ +</p> + +<p> +„O nein, nein! Dessen kann ich Sie versichern. Er +ist jetzt zweifellos wieder im vollen Besitz aller seiner +Verstandeskräfte. Nur daß er, wie Sie ganz richtig bemerkten, +sehr gottesfürchtig und wohl auch ziemlich +wortkarg ist. Aber im allgemeinen, wie gesagt, ist er sogar +ein sehr kluger Mensch. Spricht gewandt, sicher ... +und ist, wissen Sie, überhaupt ein findiger Kopf. Seinem +Gesicht sieht man übrigens auch jetzt noch sein +stürmisches Leben an. Das pflegt ja gewöhnlich seine +Spuren zu hinterlassen. Wie gesagt, ein seltsamer +Mensch, und ungeheuer belesen!“ +</p> + +<p> +„Er liest aber, wie mir scheint, nur religiöse Bücher?“ +</p> + +<p> +„Ja, er ist Mystiker.“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Ein Mystiker. Aber das ganz unter uns gesagt. +Ich will Ihnen auch noch verraten – aber als Geheimnis, +das zwischen uns bleiben muß –, daß er +eine Zeitlang unter strengster Aufsicht stand. Dieser +Mensch hatte nämlich einen großen Einfluß auf alle, +die zu ihm kamen.“ +</p> + +<p> +„Inwiefern das?“ +</p> + +<p> +„Es klingt zwar kaum glaublich, aber ... Sehen +Sie, damals lebte er noch nicht in diesem Stadtviertel. +Er hatte schon einen gewissen Ruf, und eines Tages +fuhr Alexander Ignatjewitsch – erblicher Ehrenbürger, +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +ein angesehener, allgemein geachteter Mann – +fuhr also eines Tages mit einem Leutnant zu ihm, natürlich +nur aus Neugier. Sie kommen zu ihm, werden +empfangen, und der sonderbare Mensch sieht sie +an. Er begann wie gewöhnlich damit, daß er sich die +Gesichter der Leute genau und prüfend ansah, ehe er +dareinwilligte, sich mit den Betreffenden überhaupt +einzulassen. Gefielen sie ihm nicht, so schickte er sie hinaus, +und zwar, wie man sagt, oft in einer sehr unhöflichen +Weise. Er fragte also auch diese, was sie +wünschten? Alexander Ignatjewitsch antwortete ihm +darauf, das könne ihm ja seine Gabe und Menschenkenntnis +von selbst sagen. ‚Dann bitte, ins andere +Zimmer,‘ antwortete er, indem er sich an denjenigen +wandte, der von beiden allein ein Anliegen an ihn +hatte. Alexander Ignatjewitsch erzählt nun zwar +nicht, was er dort im anderen Zimmer gehört oder erlebt +hat – als er aber wieder herausgekommen ist, da +soll er weiß wie Kreide gewesen sein. Dasselbe weiß +man auch von einer Dame der Petersburger Gesellschaft +zu berichten: auch sie soll ihn kreideweiß und in +Tränen aufgelöst verlassen haben.“ +</p> + +<p> +„Sonderbar. Aber jetzt beschäftigt er sich doch nicht +mehr damit?“ +</p> + +<p> +„Es ist ihm strengstens untersagt. Übrigens gibt +es noch andere Vorfälle. Ein junger Fähnrich zum Beispiel, +der Sproß und die Hoffnung einer vornehmen +Familie, hat es sich einmal erlaubt, über ihn zu lächeln. +‚Was lachst du?‘ – Mit diesen Worten soll sich +der Alte geärgert zu ihm gewandt haben. ‚In drei Tagen +wirst du das sein!‘ Und dabei kreuzte er seine +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +Arme so über der Brust, wie man sie den Leichen im +Sarge über der Brust zu kreuzen pflegt.“ +</p> + +<p> +„Nun, und?“ +</p> + +<p> +„Tja, ich wage nicht, daran zu glauben, aber man +sagt, die Prophezeiung sei tatsächlich eingetroffen. Er +hat die Gabe, Wassilij Michailowitsch ... Sie beliebten +zu lächeln während meiner treuherzigen Erzählung. +Ich weiß, Sie sind mir, was Aufklärung betrifft, +weit voraus. Aber ich glaube nun einmal an ihn. Er +ist kein Scharlatan. Übrigens erwähnt auch Puschkin +etwas Ähnliches in seinen Werken.“ +</p> + +<p> +„Hm! Ich will Ihnen nicht widersprechen. Aber, +Sie sagten, glaube ich, daß er nicht allein lebe?“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich nicht ... Ach so, ja, ich glaube, +seine Tochter lebt bei ihm.“ +</p> + +<p> +„Seine Tochter?“ +</p> + +<p> +„Ja, – oder nein: seine Frau, glaube ich. Ich +weiß nur, daß es irgendein Frauenzimmer ist. Hab’ sie +nur flüchtig vom Rücken gesehen und nicht weiter beachtet.“ +</p> + +<p> +„Hm! Sonderbar ...“ +</p> + +<p> +Der junge Mann verfiel in Nachdenken. Jaroslaw +Iljitsch dagegen in angenehme Beschaulichkeit. Das +Wiedersehen mit Ordynoff hatte ihn erfreut und fast +gerührt, überdies war er sehr mit sich selbst zufrieden, +da er eine so anregende Geschichte hatte erzählen können. +Er saß, betrachtete Ordynoff und rauchte dazu. +Plötzlich sprang er erschrocken auf. +</p> + +<p> +„Mein Gott, da ist schon eine ganze Stunde vergangen +und ich denke nicht mal daran! Bester, teuerster +Wassilij Michailowitsch, ich danke dem Schicksal, +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +daß es uns zusammengeführt hat, aber jetzt – jetzt +muß ich eilen! Ist es erlaubt, Sie einmal in Ihrem +Gelehrtenheim aufzusuchen?“ +</p> + +<p> +„Warum nicht, bitte, es wird mich sehr freuen. +Vielleicht spreche ich auch einmal bei Ihnen vor, wenn +ich Zeit finde ... ich weiß noch nicht ...“ +</p> + +<p> +„Was Sie sagen? – Wollen Sie wirklich? Damit +würden Sie mich unendlich erfreuen! Sie glauben +nicht, wie sehr es mich ehren würde!“ +</p> + +<p> +Sie verließen das Gasthaus. Als sie auf die +Straße hinaustraten, stürzte ihnen Ssergejeff entgegen +und meldete, daß William Jemeljanowitsch sogleich +vorüberfahren werde – und sie erblickten auch tatsächlich +ein Paar hellgelber Pferde und ein elegantes Wägelchen +im Hintergrunde der Straße. Jaroslaw Iljitsch +drückte die Hand seines „besten“ Freundes, ganz als +gelte es, sie zu zerdrücken, griff an den Hut und eilte +dem Gefährt des Würdenträgers entgegen, wobei er +sich unterwegs noch zweimal nach Ordynoff umsah +und ihm zum Abschied wiederholt zunickte. +</p> + +<p> +Ordynoff empfand eine solche Müdigkeit in allen +Gliedern, daß er kaum die Füße zu bewegen vermochte. +Mit Mühe schleppte er sich nach Hause. An der Pforte +traf er wieder den Hausknecht, der aus der Ferne aufmerksam +seinen Abschied von Jaroslaw Iljitsch beobachtet +hatte und nun sehr zuvorkommend tat. Doch +Ordynoff ging ohne ein Wort an ihm vorüber. In der +Tür stieß er mit einer kleinen grauen Gestalt zusammen, +die gesenkten Blickes gerade aus Murins Wohnung +trat. +</p> + +<p> +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +„Herrgott, vergib mir meine Sünden!“ flüsterte +das Kerlchen, indem es entsetzt zur Seite sprang. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, habe ich Sie verletzt?“ +</p> + +<p> +„N–nein, danke untertänigst für die Aufmerksamkeit +... O Herrgott, Herrgott!“ +</p> + +<p> +Und das kleine Männlein stieg murmelnd, sich +räuspernd und fromme Sprüche flüsternd, mit äußerster +Vorsicht die Treppe hinunter. Es war das der +Hauswirt: derselbe, dem gegenüber der Tatar sich so +überaus dienstfertig gezeigt hatte. Und jetzt erinnerte +sich Ordynoff, daß er dieses gebrechliche Männlein bei +Murin bereits an dem Tage gesehen hatte, als er einzog. +</p> + +<p> +Er fühlte, daß die letzten Erlebnisse seine Nerven +erschüttert und überreizt hatten; wußte auch, daß seine +Phantasie und Empfindsamkeit aufs äußerste erregt +waren, und er nahm sich daher vor, sich vor allem +selbst nicht zu trauen. Allmählich verfiel er wieder in +einen Zustand völliger Regungslosigkeit, der ihn wie +ein Gefühl bleierner Schwere gefangen hielt und seine +Brust wie mit einer Zentnerlast bedrückte, unter der +sich sein Herz in dumpfer Sehnsucht quälte. Seine +ganze Seele war voll von lautlosen, unversiegbaren +Tränen ... +</p> + +<p> +Er sank wieder auf das Bett, das sie für ihn zurechtgemacht +hatte, und begann von neuem zu lauschen. +Deutlich unterschied er das Atmen zweier Menschen +im Nebenzimmer, das eine war schwer, krankhaft, +ungleichmäßig, das andere sanft, oft gar nicht +vernehmbar, auch unregelmäßig, doch wie von innerer +Erregung beherrscht: als schlage dort ein Herz in +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +dem gleichen Verlangen, in der gleichen Leidenschaft. +Hin und wieder hörte er ihre leisen, weichen Schritte +und das Geräusch ihrer Kleider, und jede Bewegung +ihrer Füße erweckte in seiner Brust einen dumpfen, +qualvollen und doch süßen Schmerz. Endlich schien es +ihm, als höre er ein leises Schluchzen und dann ein +inbrünstiges Gebet. Da wußte er, daß sie vor dem Heiligenbilde +auf den Knien lag und in Verzweiflung die +Hände rang ... Wer war sie? Für wen betete sie? +Welch eine verzweiflungsvolle Leidenschaft marterte +ihr Herz? Weshalb quälte es sich und grämte es +sich und ergoß es sich in so heißen und hoffnungslosen +Tränen? +</p> + +<p> +Er begann, alles, was sie zu ihm gesprochen, sich +ins Gedächtnis zurückzurufen, jedes Wort, das noch +wie Musik in seinen Ohren klang, und auf jede Erinnerung, +auf jeden Ausdruck, den er in Gedanken andächtig +wiederholte, antwortete sein Herz mit einem +dumpfen schweren Schlage ... Einen Augenblick schien +es ihm, als sehe er das alles nur im Traum. Doch in +demselben Augenblick erbebte auch schon sein ganzes +Wesen bis ins Mark, daß er zu vergehen glaubte vor +Schmerz und Sehnsucht, als er in der Erinnerung nun +wieder ihren heißen Atem, ihre weiche Wange und ihren +glühenden Kuß zu spüren meinte. Er schloß die Augen +und verlor sich in seligen Gefühlen. Irgendwo +schlug eine Uhr. Es wurde spät. Die Dämmerung sank. +</p> + +<p> +Plötzlich war ihm, als neige sie sich wieder über +ihn und sehe ihn an mit ihren wundersamen, klaren +Augen, die feucht schimmerten von glänzenden Tränen +und einem hellen Glück, so still und rein, wie der hohe +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +unendliche Himmel an einem heißen Sommertage. Und +aus ihrem Antlitz sprach eine so feierliche Stille und +ihr Lächeln war eine solche Verheißung von unendlicher +Seligkeit, war so voll Mitleid und Barmherzigkeit, +und so voll kindlicher, vertrauensseliger Hingebung +schmiegte sie sich an seine Schulter, daß ein +Stöhnen sich seiner entkräfteten Brust entrang vor lauter +Glück. Es war, als wolle sie ihm etwas sagen, etwas +ihm anvertrauen. Wieder glaubte er, den Klang einer +Stimme zu vernehmen, der sein Herz durchbohrte. Gierig +atmete er die Luft ein, die ihr naher Atem erwärmte +und gleichsam mit einer elektrischen Spannung +für ihn erfüllte. In Sehnsucht streckte er die Arme aus, +schöpfte tief Atem und schlug die Augen auf ... Sie +stand vor ihm, über ihn gebeugt, bleich wie nach einem +großen Schreck, am ganzen Körper vor Aufregung zitternd. +Sie sprach etwas zu ihm, sie flehte und rang +die Hände. Er umschlang sie mit seinen Armen, sie +sank zitternd an seine Brust ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-4"> +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +IV. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +„Was hast du? Was ist dir geschehen?“ fragte +Ordynoff, plötzlich erwacht, sie immer noch in starker +und heißer Umarmung an sich pressend. „Was fehlt dir, +Katherina? Was ist dir zugestoßen, mein Lieb?“ +</p> + +<p> +Sie weinte leise und verbarg ihr glühendes Gesicht +an seiner Brust. Lange Zeit vermochte sie nichts zu +sprechen. Ihr ganzer Körper zitterte, wie nach einem +großen Schreck. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, ich weiß es nicht,“ brachte sie +endlich kaum vernehmbar hervor, als stehe ihr das +Herz still vor Angst, „ich weiß auch nicht, wie ich zu +dir gekommen bin ...“ Und sie schmiegte sich noch +fester an ihn, und in einem unbezwingbaren, krankhaften +Gefühl küßte sie seine Schulter, seinen Arm, +seine Brust. Endlich, wie in Verzweiflung, preßte sie +die Hände vor das Gesicht und sank in die Kniee. Als +aber Ordynoff sie in einem unsagbaren Gefühl von +Beklemmung emporhob und sie neben sich niedersetzen +ließ, da errötete sie heiß vor Scham und ihre Augen baten +wie um Gnade, und das Lächeln, das sie auf ihre +Lippen zwang, verriet, daß sie kaum zu versuchen +wagte, die unbezwingbare Macht der neuen Empfindung +zu brechen, denn der Versuch wäre ja doch fruchtlos +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +gewesen. Plötzlich schien wieder etwas sie zu erschrecken: +mißtrauisch schob sie ihn mit der Hand zurück, +sah ihn kaum mehr an und antwortete gesenkten +Blickes nur angstvoll und leise auf seine sich überstürzenden +Fragen. – +</p> + +<p> +„Hat dich vielleicht ein böser Traum geängstigt? +Oder ist dir sonst etwas Böses zugestoßen? Sag doch! +Oder hat er dich erschreckt? ... Er fiebert und phantasiert +... Vielleicht hat er im Fieber etwas gesprochen, +was du nicht hättest hören sollen? ... Du hast +etwas Furchtbares gehört? Ja? Oder war es nur ein +Traum?“ +</p> + +<p> +„Nein ... ich schlief ja gar nicht,“ antwortete +Katherina, mit Mühe ihre Aufregung niederringend. +„Ich fand keinen Schlaf. Er aber schwieg, nur einmal +rief er mich. Ich trat an sein Bett, sprach zu ihm, rief +ihn – ich ängstigte mich so! – aber er hörte mich +nicht und wachte nicht auf. Er ist sehr schwer krank, +möge der liebe Gott ihm helfen! Da senkte sich wieder +der Gram in mein Herz, bitterer Gram, und ich betete, +betete! Und da, sieh, da kam das über mich ...“ +</p> + +<p> +„Beruhige dich, Katherina, sei ruhig, mein Lieb, +sei ruhig! Wir haben dich gestern erschreckt ...“ +</p> + +<p> +„Nein, ich erschrak ja gar nicht!“ ... +</p> + +<p> +„Was ist es denn? Ist dir denn das auch früher +schon geschehen?“ +</p> + +<p> +„Ja, auch früher schon!“ Und sie erbebte und +schmiegte sich wieder wie ein geängstigtes Kind an ihn. +„Sieh, ich bin doch nicht umsonst zu dir gekommen,“ +sagte sie, ihr Weinen unterbrechend, und dankbar +drückte sie ihm die Hände, „und nicht umsonst wurde +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +es mir so schwer, allein zu sein! Also nicht mehr weinen, +weine auch du nicht, wozu solltest du um fremdes +Leid Tränen vergießen! Spare sie für trübe Tage, +wenn es dir in der Einsamkeit schwer wird und du keinen +Menschen bei dir hast! ... Höre, hattest du eine +Geliebte?“ +</p> + +<p> +„Nein ... vor dir – keine ...“ +</p> + +<p> +„Vor mir? ... Du nennst mich deine Geliebte?“ +</p> + +<p> +Sie sah ihn plötzlich mit Verwunderung an, +wollte etwas sagen, schwieg aber und senkte den Blick. +Leise stieg ihr die Röte ins Gesicht, das plötzlich wie +in Flammenglut getaucht stand. Leuchtender, durch die +vergossenen Tränen glänzten ihre Augen und eine +Frage schien auf ihren Lippen zu schweben. Mit verschämter +Schelmerei blickte sie ein-, zweimal zu ihm +auf, dann senkte sie plötzlich wieder den Kopf. +</p> + +<p> +„Nein, ich kann nicht deine erste Liebe sein,“ sagte +sie, und „nein, nein,“ wiederholte sie nachdenklich mit +leisem Kopfschütteln, und allmählich erschien wieder +ein stilles Lächeln auf ihren Lippen, „nein, mein Lieber,“ +fuhr sie fort, „ich werde nicht deine Geliebte +sein!“ +</p> + +<p> +Und sie sah ihn an, aber da sprach plötzlich so viel +Weh aus ihrem Gesicht, eine so hoffnungslose Trauer, +und so überraschend brach aus ihrem Innersten Verzweiflung +hervor, daß Ordynoff ein unbegreifliches +krankhaftes Gefühl des Mitleids mit ihrem ihm unbekannten +Leid erfaßte: und er sah sie an, wie einer, dessen +Mitleid ihm selbst zur noch größeren Qual wird. +</p> + +<p> +„Höre, was ich dir sagen werde,“ sagte sie mit +einer Stimme, die ihm ins Herz schnitt, und sie nahm +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +seine Hände und drückte sie, wie um aufsteigende Tränen +zu ersticken. „Höre mich an, Lieber, und vergiß es +nicht, was ich dir sage: bezähme du dein Herz und +liebe mich nicht so, wie du mich jetzt liebst. Es wird dir +dann leichter sein, du wirst dich vor einem argen Feinde +bewahren und eine liebe Schwester gewinnen. Ich +werde zu dir kommen, wenn du willst, werde dich liebkosen +und es mir doch nicht zur Schande werden lassen, +daß ich dich kennen gelernt habe. War ich doch +auch Tag und Nacht bei dir, als du das böse Fieber +hattest! Nimm mich als Schwester! Wir sind doch +nicht umsonst einander gut und nicht umsonst hab’ ich +unter Tränen für dich zur Gottesmutter gebetet! Eine +andere wirst du nicht finden. Suche auf dem ganzen +Erdenrund, durchsuche den Himmel – nein, glaube +mir, du wirst keine zweite finden, die dir eine solche +Geliebte sein wird, wie ich, wenn es Liebe ist, um was +dein Herz bittet. Oh, glühend werde ich dich lieben, +werde dich ewig so lieben wie jetzt, und werde dich +deshalb lieben, weil deine Seele so rein ist, so hell, so +... so durchsichtig! – ich werde dich lieben, weil ich, +als ich dich zum ersten Male sah, sogleich fühlte, daß +du meines Hauses Gast bist, ein erwünschter, ein ersehnter +Gast, und uns nicht ohne Grund um Aufnahme +batest. Ich werde dich lieben, weil deine Augen lieben, +wenn du einen ansiehst, und von deinem Herzen künden. +Und wenn sie etwas sagen, dann weiß ich gleich +alles, was in dir ist, und dafür möchte man dann das +Leben hingeben, um dieser deiner Liebe willen, möchte +alle Freiheit dem eigenen Willen nehmen, denn es ist +süß, desjenigen Sklavin zu sein, dessen Herz man gefunden +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +hat ... Aber <em>mein</em> Leben, das gehört ja nicht +mir, das ist schon fremdes Eigentum, und der Wille ist +gebunden! Doch die Schwester nimm und sei mir ein +Bruder und hilf mir mit deinem Herzen, wenn wieder +das Schlimme mich anficht. Nur sorge du selbst, daß +ich mich nicht zu schämen brauche, zu dir zu kommen +und die lange Nacht wie jetzt bei dir zu bleiben. Hörst +du mich? Hat auch dein Herz es gehört? Hast du auch +alles verstanden, was ich dir sagte? ...“ Sie wollte +noch etwas hinzufügen, sah zu ihm auf und legte die +Hand auf seine Schulter, doch da war es, als verließe +sie alle Kraft, aufschluchzend sank sie an seine +Brust und in einem Weinkrampf tobte ihre Leidenschaft +sich aus. Ihre Brust wogte, ihr Gesicht brannte wie +in Glut. +</p> + +<p> +„Mein Leben!“ stammelte Ordynoff, dem die Erregung +die Augen umflorte und den Atem benahm. +„Meine Wonne ... du!“ flüsterte er, ohne zu wissen, +was er sagte, ohne die Worte, ohne sich selbst zu begreifen, +zitternd vor Furcht, mit einem Hauch den ganzen +Zauber zu zerstören, den ganzen Sinnenrausch, und +damit alles, was mit ihm geschah und um ihn war +und was er eher für Unwirklichkeit als für Wirklichkeit +hielt: so entrückt fühlte er sich! „Ich weiß nicht, +ich verstehe dich nicht, ich habe vergessen, was du mir +sagtest, alle Vernunft ist in mir erloschen – nur das +Herz fühle ich ... meine Königin du!“ ... +</p> + +<p> +Seine Stimme versagte vor Aufregung. Sie +schmiegte sich immer fester, immer wärmer, glühender +an ihn. Da erhob er sich taumelnd und, unfähig, sich +noch länger zu bezwingen, wie entkräftet vor Seligkeit, +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +sank er in die Knie vor ihr. Eine Erschütterung +wie ein Schluchzen brach endlich schmerzhaft aus seiner +Brust hervor und durchrieselte seinen ganzen Körper +– und von der Fülle der noch nie empfundenen +Verzückung bebte seine Stimme, die tief aus seinem +Innersten hervordrang, wie der Ton einer Saite, die +man in Schwingung gebracht. +</p> + +<p> +„Wer bist du, wer warst du? Woher kommst du? +Aus welchem Himmel bist du zu mir herabgestiegen? Es +ist ja alles wie ein Traum, ich kann noch nicht glauben, +daß du wirklich bist! Schilt mich nicht ... laß mich +sprechen, laß mich alles dir sagen, alles! ... Ich habe +schon lange einmal sprechen wollen ... wer bist du, +meine Freude, sag? Wie hast du mein Herz gefunden? +Erzähle mir, bist du schon lange meine Schwester? ... +Wo warst du bisher, erzähl mir von dir, – erzähl +mir, wo hast du früher gelebt, was hast du dort geliebt? +Erzähle mir alles, ich will alles von dir wissen! +Wo ist deine Heimat? Ist der Himmel dort wie +bei uns? Wer war dir dort nahe, wer hat dich vor +mir geliebt? Zu wem hat dich zuerst dein Herz gedrängt? +... Hast du deine Mutter gekannt und hat +sie dich als Kind geliebkost und gepflegt oder bist du +wie ich unter Fremden aufgewachsen? Sage mir, bist +du immer so gewesen? Erzähl mir von deinen Träumen +und Wünschen und was von ihnen in Erfüllung +gegangen ist und was nicht – erzähle mir alles! ... +Wer war der erste, den dein Mädchenherz liebgewann +und wofür hast du es ihm hingegeben? Sage mir, was +soll <em>ich</em> dafür geben, was muß <em>ich</em> dir geben ... für +– dich?! ... Sag mir, mein Lieb, meine Sonne, mein +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +Schwesterchen, sag mir, womit kann ich mir dein Herz +verdienen?“ +</p> + +<p> +Seine Stimme versagte und er preßte den Kopf in +ihren Schoß. Als er aber aufblickte, überlief es ihn vor +Schreck: Katherina saß totenblaß und regungslos auf +dem Bett, ihre Augen starrten mit leerem Blick über +ihn hinweg in die Luft, nur ihre Lippen zitterten in +stummem, unsagbarem Schmerz. Langsam erhob sie +sich, wankte zwei Schritte vom Bett und fiel vor dem +alten Heiligenbilde nieder ... sinnlose, unverständliche +Worte entrangen sich stoßweise ihrer Brust. Sie +schien ohnmächtig zu werden. Ordynoff hob sie auf, +trug sie auf sein Bett und stand in atemloser Angst +über sie gebeugt. Nach einer Weile schlug sie die Augen +auf, bewegte sich, wie um sich auf den Ellbogen zu +stützen, sah sich mit irrem Blick im Zimmer um, sah zu +ihm auf und tastete nach seiner Hand. Sie zog ihn +näher zu sich, ihre Lippen bewegten sich, als wollte sie +etwas sagen, aber sie konnte nichts hervorbringen. Endlich +brach sie in einen Strom von Tränen aus. +</p> + +<p> +Sie stammelte ein paar Worte, aber das Schluchzen +zerriß dieselben und erstickte ihre Stimme. Als sie +dann wieder den Kopf hob, sah sie mit solch einer +Verzweiflung Ordynoff an, daß er, der sie nicht verstand, +sich näher über sie beugte, um keinen Laut aus +ihrem Munde zu verlieren. Endlich hörte er sie deutlich +flüstern: +</p> + +<p> +„Ich bin verdorben, man hat mich verdorben, ich +bin verloren!“ +</p> + +<p> +Ordynoff erhob jäh den Kopf und sah sie voll Bestürzung +an. Ein gemeiner, scheußlicher Gedanke durchzuckte +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +ihn. Und Katherina sah dieses plötzliche schmerzliche +Zusammenzucken seines Gesichtes. +</p> + +<p> +„Ja! Verdorben!“ stieß sie hervor, „ein böser +Mensch hat mich verführt, – <em>er</em>, <em>er</em> ist mein Verderber! +... Ich habe ihm meine Seele verkauft ... Warum, +oh, warum hast du von der Mutter gesprochen! +Wozu brauchtest du mich daran zu erinnern: Gott +möge dir ... möge dir verzeihen! ...“ +</p> + +<p> +Und sie weinte still vor sich hin. Ordynoffs Herz +schlug so todesweh, daß er vor Schmerz hätte aufschreien +mögen. +</p> + +<p> +„Er sagt,“ flüsterte sie geheimnisvoll, mit zurückgehaltenem +Atem, „er sagt, wenn er stirbt, wird er +kommen und meine sündige Seele holen ... Ich gehöre +ihm, ich hab’ ihm meine sündige Seele verkauft ... +Und jetzt quält er mich und liest mir aus seinen Büchern +vor ... Dort, sieh, das ist sein Buch! Dort! Er +sagt, ich habe eine Todsünde begangen ... Sieh, da +liegt sein Buch, sieh ...“ +</p> + +<p> +Und sie wies mit Grauen auf einen großen Band. +Ordynoff hatte nicht bemerkt, wie der in sein Zimmer +geraten war. Er nahm ihn mechanisch – es war eines +von jenen mit reichem Bilderschmuck ausgestatteten +Büchern der Altgläubigen, wie er sie früher einmal +gelegentlich gesehen hatte. Doch war er unfähig, seine +Aufmerksamkeit auf irgend etwas zu lenken. +</p> + +<p> +Sacht umfing er sie und redete ihr beruhigend zu. +</p> + +<p> +„Denk nicht daran, laß das jetzt ... Man hat dich +geängstigt und erschreckt ... ich bin ja bei dir ... +Ruhe dich bei mir aus, mein Lieb, mein Licht!“ +</p> + +<p> +„Du weißt noch nichts! nichts!“ Sie umklammerte +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +wieder seine Hände. „Ich bin ja immer so! ... Immer +fürchte ich mich ... Aber du, nein, du quäle mich +nicht, quäle mich nicht! ...“ +</p> + +<p> +„Ich gehe dann zu ihm,“ fuhr sie nach einer Weile +fort. „Manchmal bespricht er mich einfach mit seinen +eigenen Worten, ein anderes Mal nimmt er sein Buch, +das größte, und liest mir vor – liest so drohende und +strenge Worte! – ich weiß nicht, was es ist, und ich +verstehe auch nicht jedes Wort, aber mich überkommt +dann solch eine Angst, und wenn ich auf seine Stimme +horche, ist es mir, als spräche das gar nicht er, sondern +ein anderer, kein guter, sondern einer, den nichts +erweicht und der so unerbittlich ist, daß es mir das +Herz zermalmt und die Qual noch größer wird, als +zu Anfang mein Gram war!“ +</p> + +<p> +„Geh nicht mehr zu ihm! Warum gehst du zu ihm?“ +sagte Ordynoff, ohne sich dessen recht bewußt zu sein, +was er sprach. +</p> + +<p> +„Warum bin ich zu dir gekommen? Frag mich – +ich weiß es nicht ... Er aber sagt mir immer: bete, +bete, bete! Zuweilen stehe ich in dunkler Nacht auf und +bete lange –, stundenlang. Oft übermannt mich der +Schlaf, aber die Angst weckt mich wieder, immer wieder, +und dann kommt es mir vor, daß ringsum ein +dunkles Gewitter aufsteigt, daß mir Schlimmes droht, +daß die Bösen mich zu Tode quälen und zerreißen werden, +daß ich keines Menschen Hilfe zu erflehen vermag +und mich niemand vor dem Furchtbaren retten kann. +Meine Seele will sich selbst verzehren, und es ist, als +wolle sich mein ganzer Körper in Tränen auflösen ... +Dann fange ich wieder an, zu beten, und bete und +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +bete, bis die Gottesmutter liebevoller auf mich herabschaut. +Dann erst stehe ich auf und gehe halbtot wieder +zu Bett, manchmal aber schlafe ich auch so vor +dem Heiligenbilde kniend ein. Da kommt es denn vor, +daß er erwacht und mich ruft ... und dann liebkost +und tröstet und beruhigt er mich ... und dann wird +mir wohl viel leichter. Ja, gleichviel was für ein +Unglück auch noch käme, bei ihm fürchte ich mich nicht +mehr. Er ist mächtig! Groß ist sein Wort!“ +</p> + +<p> +„Aber was, was ist denn dein Unglück?!“ ... +fragte Ordynoff zitternd, mit Verzweiflung im Herzen. +</p> + +<p> +Katherina erbleichte. Sie sah ihn wie eine zum +Tode Verurteilte an, der man die letzte Hoffnung auf +Gnade nimmt. +</p> + +<p> +„Ich ... ich bin verflucht, ich bin eine Seelenmörderin, +meine Mutter hat mich verflucht! Ich habe +meine eigene Mutter umgebracht!“ ... +</p> + +<p> +Ordynoff umschlang sie wortlos. Bebend schmiegte +sie sich an ihn. Er fühlte, wie ein Zittern ihren Körper +durchlief, als wolle sich ihre Seele diesem Körper +entringen. +</p> + +<p> +„Ich habe sie unter die feuchte Erde gebracht,“ +sagte sie, ganz beherrscht von der Erinnerung und +ihrer Aufregung – und sie schien das unwiderruflich +Geschehene, unwiederbringlich Vergangene in diesen +Augenblicken noch einmal zu erleben. „Ich wollte es +schon lange sagen, aber er verbot es mir immer, bald +mit Bitten, bald mit Vorwürfen und zornigen Worten. +Zuweilen freilich beginnt er selbst, mich daran +zu erinnern, als wäre er mein Feind und Widersacher. +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +Mir aber kommt alles das – so auch heute +nacht – wie stets und immer gegenwärtig vor ... +Höre, höre mich! Das ist schon lange, sehr lange her, +ich weiß nicht einmal mehr, wann es war, und doch +steht es vor mir, als wäre es gestern gewesen, wie ein +Traum der letzten Nacht, der bis zum Morgen mein +Herz bedrückt hat. Der Gram macht die Zeit noch +einmal so lang. Setze dich, setze dich hierher, ich werde +dir mein ganzes Leid erzählen – verfluche mich, die +ich schon verflucht bin ... Ich will dir mein ganzes +Leben anvertrauen ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff wollte sie aufhalten, wollte sie am +Sprechen verhindern, doch sie faltete die Hände, wie +um ihn bei seiner Liebe anzuflehen, ihr doch Gehör +zu schenken, und dann fuhr sie in noch größerer Erregung +fort. Ihre Erzählung war wirr und sprunghaft, +ihre Stimme verriet den Sturm, der in ihrer +Seele tobte, aber trotzdem verstand Ordynoff alles, +denn ihr Leben war für ihn zu seinem eigenen Leben +geworden, ihr Leid auch sein Leid. Er glaubte wieder +seinen Feind vor sich zu sehen. Der Feind wuchs vor +ihm auf mit jedem ihrer Worte und ward immer greifbarer, +und es war ihm, als presse er mit ungeheurer +Kraft sein Herz zusammen und spotte obendrein mit +höhnischen Schimpfworten seiner Wut. Sein Blut begann +zu sieden, drängte sich heiß in seine Gedanken +und brachte sie in Verwirrung. Da war es ihm denn, +als stehe der boshafte Alte aus seinem Traum plötzlich +auf (Ordynoff war davon überzeugt) und stände leibhaftig +vor ihm. +</p> + +<p> +„Es war eine Nacht wie heute,“ begann Katherina, +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +„nur viel dunkler und grausiger, und der Wind +heulte durch unseren Wald, wie ich es noch nie gehört +hatte ... begann schon in jener Nacht mein +Verderben? ... Die Eiche vor unseren Fenstern +brach. Ich weiß noch, der alte Bettler, der immer zu +uns kam – er war schon ein ganz, ganz alter Mann +– erzählte, daß er sich dieser Eiche noch aus seiner +Kindheit erinnere: damals sei sie schon ebenso groß +gewesen, wie dann, als der Sturm sie brach. In derselben +Nacht – wie heute entsinne ich mich dessen +noch! – wurden Vaters Barken auf dem Fluß von +diesem Sturm zertrümmert, und als die Fischer zu +uns gelaufen kamen – wir wohnten bei der Fabrik – +da fuhr der Vater gleich selbst zum Fluß, obschon er +krank war. Wir blieben allein, Mutter und ich. Wir +saßen beide im Zimmer, ich schlummerte, Mutter aber +war so traurig und weinte still ... und ich wußte, +warum sie weinte. Sie war erst vor kurzem vom +Krankenbett aufgestanden, war noch ganz blaß und +sagte mir immer, ich solle ihr das Totenhemd nähen ... +Plötzlich, um Mitternacht, höre ich: jemand klopft +draußen an die Pforte. Ich sprang auf, alles Blut +strömte mir zum Herzen – die Mutter schrie auf vor +Schreck ... Ich sah nicht nach ihr hin, ich fürchtete +mich, aber ich nahm die Laterne und ging selbst hinaus, +um zu öffnen ... Das war er! Mir wurde +bange, denn ich bangte mich immer, wenn er kam, +und das schon von Kindheit an, soweit meine Erinnerung +zurückreicht, seitdem ich überhaupt denken kann! +Damals hatte er noch kein graues Haar: sein Bart +war dunkel und sein Blick brannte wie Feuer. Bis +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +dahin hatte er mich noch kein einziges Mal freundlich +angesehen. Er fragte: ‚Ist die Mutter zu Hause?‘ +Ich schloß die Pforte und sagte, daß der Vater nicht +zu Hause sei. Er sagte darauf nur: ‚Ich weiß,‘ und +plötzlich sah er mich an, so an ... zum ersten Male +sah er so auf mich. Ich wandte mich zum Gehen, er +aber stand immer noch. ‚Warum kommst du nicht herein?‘ +– ‚Ich überlege,‘ sagte er. Langsam folgte er +mir – als wir aber eintraten, fragte er plötzlich +leise: ‚Warum sagtest du mir, daß der Vater nicht zu +Hause sei, als ich nach deiner Mutter fragte?‘ Ich +schwieg ... Die Mutter erstarrte, als sie ihn sah – +und wollte dann zu ihm stürzen ... Er aber schenkte +ihr kaum einen Blick – ich sah alles. Er war ganz +naß und durchfroren – woher er kam und wo er +sich aufhielt, das haben Mutter und ich nie gewußt. +Damals hatten wir ihn schon ganze neun Wochen +nicht gesehen ... Die Mütze warf er nun auf den +Tisch, die Fausthandschuhe streifte er ab – neigte +sich aber nicht vor den Heiligenbildern, bot keinen +Gruß der Hausfrau – sondern setzte sich ans +Feuer ...“ +</p> + +<p> +Katherina stützte den Kopf in die Hand, als bedrücke +und quäle sie etwas, doch schon bald erhob sie +ihn wieder und fuhr fort: +</p> + +<p> +„Er fing an, mit der Mutter tatarisch zu sprechen. +Ich verstand kein Wort. Früher hatte man mich +immer fortgeschickt, wenn er kam; damals aber wagte +die Mutter nicht, ihrem eigenen Kinde ein Wort zu +sagen. Der Böse kaufte meine Seele, ich aber sah +die Mutter an, als wäre ich stolz darauf. Ich merkte, +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +daß sie von mir sprachen. Mutter begann zu weinen. +Ich sah, wie seine Hand wieder an seinen Dolch fuhr +– in der letzten Zeit hatte ich schon mehrmals seine +Hand nach dem Dolch, den er vorn im Gürtel trug, +greifen sehen, wenn er mit der Mutter sprach. Ich +stand auf und griff nach seinem Gürtel, um ihm +den Dolch zu entreißen. Er aber knirschte vor Wut +und wollte mich fortstoßen – stieß mich auch vor die +Brust, doch ich ließ nicht los. Ich dachte, jetzt sterbe +ich auf der Stelle; es wurde mir dunkel vor den +Augen und ich brach lautlos zusammen, aber ich +schrie nicht auf. Und da sah ich, obschon mir fast die +Sinne schwanden, – wie er seinen Gürtel abnahm +und den Ärmel an der Hand aufstreifte, mit der er +mich gestoßen, und den kaukasischen Dolch aus der +Scheide zog und ihn mir reichte: ‚Da, schneide sie ab, +die Hand, räche an ihr, was sie dir tat; ich aber, du +Stolze, werde mich dafür tief bis zur Erde vor dir +verneigen.‘ Ich legte den Dolch beiseite. Mein Herz +begann dumpf zu schlagen, aber ich sah nicht nach +ihm hin. Ich weiß noch, ich lächelte, sagte aber kein +Wort und sah nur der Mutter in die traurigen Augen, +und sah sie zornig an, während zugleich ein +schlechtes Lächeln auf meinen Lippen blieb. Und die +Mutter saß ganz bleich und totenstill ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff lauschte mit unendlicher Spannung jedem +Wort ihrer Erzählung. Doch allmählich legte sich +ihre Erregung und ihre Rede wurde ruhiger. Die Erinnerung +überwältigte das arme junge Weib und löste +ihren Gram in ein Gefühl auf, das weit hinaus über +das ganze uferlose Meer ihrer Sinne reichte. +</p> + +<p> +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +„Er nahm die Mütze, ohne zu grüßen. Und ich +nahm wieder die Laterne, um ihn hinauszugeleiten, indem +ich der Mutter zuvorkam, die, obwohl sie noch +krank war, doch aufstehen und ihm das Geleit geben +wollte. Wir kamen zur Pforte, ich öffnete sie ihm, +verscheuchte die Hunde, schwieg aber. Er blieb stehen +und plötzlich nimmt er die Mütze ab und grüßt mich +mit einem Gruß bis zur Erde. Zugleich sehe ich, wie +er die Hand in den Mantel schiebt und aus der Brusttasche +ein kleines, mit rotem Saffianleder überzogenes +Kästchen hervorholt und es öffnet. Ich sehe hin: es +sind echte Perlen. Sie sollten für mich sein. ‚Ich habe,‘ +sagte er, ‚im Städtchen eine Schöne, der wollte ich +zum Gruß diese Perlen bringen, doch nun habe ich +sie nicht ihr gebracht: nimm sie, schönes Mädchen, +schmücke mit ihnen deine Schönheit oder zertritt sie mit +dem Fuß, wie du willst, aber nimm sie.‘ Ich nahm sie, +aber zertreten wollte ich sie nicht – das wäre zuviel +Ehre gewesen. So nahm ich sie tückisch und sagte +kein Wort. Ich kehrte zurück in das Zimmer und legte +sie vor der Mutter auf den Tisch – dazu hatte ich sie +genommen! Sie schwieg lange Zeit und war wie ein +Handtuch so bleich, und, es war, als hatte sie Furcht, +mit mir zu sprechen. ‚Was bedeutet das, Katjä?‘ +fragte sie endlich. Ich aber sagte: ‚Dir, Mutter, hat +es der Kaufmann gebracht, mehr weiß ich davon nicht.‘ +Und ich sah, wie ihr die Tränen über die Wangen +herabrollten und wie das Atmen ihr schwer wurde. +‚Nicht mir, böses Töchterchen, nicht mir!‘ Ich weiß +noch, so weh sprach sie die Worte, so weh, als sei ihre +ganze Seele voll Tränen. Und ich sah auf – ich wollte +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +mich zu ihren Füßen niederwerfen, aber statt dessen +sagte ich, was mir der böse Geist plötzlich eingab: +‚Nun, wenn nicht dir, dann wohl dem Vater. Wenn er +zurückkehrt, werde ich sie ihm geben und ihm sagen, +daß Kaufleute hier waren und ihre Ware vergessen +haben ...‘ Da brach sie in Tränen aus und weinte +bitterlich ... ‚Das werde ich selbst tun, werde dem +Vater sagen, was für Kaufleute hier waren und nach +was für einer Ware sie fragten ... Ich werde es +ihm schon sagen, wessen Tochter du bist, du Gottlose! +Du bist nicht mehr meine Tochter, du bist eine +arglistige Schlange! Als mein Kind verfluche ich dich!‘ +Ich schwieg und keine Träne trat mir ins Auge ... +Ach! es war alles wie erstorben in mir ... Ich ging +hinauf in mein Mädchenzimmer und die ganze Nacht +horchte ich auf den Sturm und zusammen mit dem +Sturm, das fühlte ich, immer lauschend, entstanden +in mir meine Gedanken. +</p> + +<p> +„Fünf Tage vergingen. Dann kehrte gegen Abend +der Vater heim, düster und böse, denn unterwegs +hatte ihn die Krankheit noch mehr mitgenommen. Ich +sah, den einen Arm trug er in der Binde – da erriet +ich, daß der Feind seinen Weg gekreuzt hatte. +Und der Feind hatte ihn krank gemacht. Und ich +wußte auch, wer sein Feind war: Ich wußte alles! ... +Mit der Mutter sprach er kein Wort, nach mir fragte +er nicht, die Leute ließ er alle zusammenrufen und befahl, +die Fabrik stillstehen zu lassen und das Haus vor +Fremden zu hüten. Da ahnte mein Herz, daß in unserem +Hause etwas nicht gut war. So wachten wir +denn. Die Nacht verging langsam, wieder stürmte es +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +draußen im Dunkeln und meine Seele wurde von Erregung +geschüttelt. Ich öffnete das Fenster – mein +Gesicht glühte, meine Augen weinten und mein Herz +konnte keine Ruhe finden. Wie Feuer brannte es in +mir! So – hinaus hätte ich mögen, hinaus aus dem +drückenden Zimmer, und weit weg, bis ans Ende der +Welt, wo die Blitze und Stürme entstehen, wo das +Unwetter geboren wird! Meine Mädchenbrust bebte +und zitterte ... plötzlich, es war schon spät – ich +erwachte wie aus leichtem Schlummer ... oder hatte +sich ein Nebel auf meine Seele gesenkt und mich verwirrt? +– plötzlich höre ich, wie ans Fenster gepocht +wird: ‚Mach auf!‘ – und ich sehe, ein Mensch ist +an einem Strick heraufgeklettert. Ich ahnte sogleich, +wer der späte Gast war, öffnete das Fenster und ließ +ihn in mein einsames Zimmer. Das war <em>er</em>! Die +Mütze nahm er nicht ab, setzte sich auf die Truhe, und +sein Atem ging keuchend, als sei eine Meute von Verfolgern +hinter ihm her gewesen. Ich stand und wußte, +daß ich bleich war. ‚Ist der Vater zu Hause?‘ fragte +er. – ‚Ja.‘ – ‚Und die Mutter auch?‘ – ‚Auch die +Mutter,‘ sagte ich. ‚Dann sei jetzt ein Weilchen still +... Hörst du nichts?‘ – ‚Ich höre.‘ – ‚Was?‘ – +‚Ein Pfeifen unter dem Fenster!‘ – ‚Nun, willst du +jetzt, schönes Mädchen, den Feind um seinen Kopf +bringen? Willst du den Vater rufen und mich dem +Verderben preisgeben? Deinem Mädchenwillen füge +ich mich: was du willst, das geschehe! Hier hast du +einen Strick, binde mich, wenn dein Herz dir befiehlt, +für deine Mädchenehre einzustehen.‘ – Ich schwieg. +– ‚Nun? Sprich doch, meine Schöne!‘ – ‚Was +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +willst du?‘ fragte ich. – ‚Was ich will? Von meiner +alten Liebe Abschied nehmen und einer neuen, +einer jungen Liebe – dir, mein schönes Mädchen, +meine Seele verpfänden ...‘ Ich lachte auf. Ich weiß +selbst nicht, wie seine freche Rede mein Herz berühren +konnte. ‚So laß mich jetzt, schönes Mädchen, nach +unten gehen, mein Herz prüfen und dem Vater und +der Mutter meinen Gruß entbieten,‘ sagte er und +stand auf. Ich zitterte so, daß mir die Zähne aufeinanderschlugen, +und ich mein Herz wie glühendes Eisen +in der Brust fühlte. Und ich ging, öffnete ihm die +Tür. Doch wie er schon über die Schwelle trat, nahm +ich alle meine Kraft zusammen und stieß noch hervor: +‚Da hast du dein Geschmeide, und wage es nicht +wieder, mir Geschenke zu bringen!‘ – und ich warf +ihm das rote Kästchen mit den Perlen nach.“ +</p> + +<p> +Katherina hielt inne, um Atem zu schöpfen. Sie +wechselte, wie schon oft während ihrer Erzählung, wieder +die Farbe: ihre blauen Augen waren dunkel und +glänzten seltsam. Plötzlich aber erblaßte sie von +neuem und ihre Stimme senkte sich und bebte wie in +verhaltener Trauer. +</p> + +<p> +„Ich blieb allein,“ fuhr sie fort, „und es war mir, +als habe mich ein Wirbelsturm erfaßt. Plötzlich höre +ich rufen, schreien, höre wie über den Hof die Leute +laufen, höre: ‚Die Fabrik brennt!‘ Ich rührte mich +nicht, ich hörte nur, wie alle aus dem Hause liefen; +ich selbst blieb allein mit der Mutter. Ich wußte, daß +sie mit dem Tode rang, seit drei Tagen lag sie schon +im Sterben, ich, ihre verfluchte Tochter, ich wußte +es! ... Plötzlich tönte ein Schrei unter meinem Zimmer, +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +nur ein ganz schwacher, leiser Schrei, der so +klang, wie ein Kind aufschreit, wenn es im Traum erschrickt, +und dann war wieder alles still ... Ich löschte +das Licht aus – es überlief mich kalt in der Dunkelheit, +ich bedeckte das Gesicht mit den Händen, ich fürchtete +mich, mich umzusehen. Dann drang plötzlich wieder +Stimmengewirr zu mir, lauter und lauter – von der +Fabrik her kamen Menschen gelaufen. Ich beugte mich +weit zum Fenster hinaus – und ich sah: da brachten +sie den Vater, tot, und ich hörte noch, wie man sagte: +‚Von der Treppe fiel er, von der Treppe ... gerade +in den siedenden Kessel – der Teufel muß ihn hinuntergestoßen +haben!‘ Ich sank auf mein Bett; kein Glied +rührte sich, aber ich wartete, doch wußte ich selbst +nicht, auf was und auf wen ich wartete. Furchtbar +war diese Stunde. Ich weiß nicht, wie lange ich so saß. +Ich weiß nur, daß ich schließlich ein Gefühl hatte, als +drehe sich alles rund um mich. Im Kopf empfand ich einen +dumpfen Druck und der Rauch biß mir in die +Augen. Und es freute mich, daß mir das Ende nahte. +Da berührte plötzlich jemand meine Schultern und hob +mich auf. Ich schlug die Augen auf und sah, so gut ich +sehen konnte: <em>er</em> war es – und ganz versengt waren +seine Kleider und heiß, ich glaube, sie schwelten noch +und rochen nach Rauch. +</p> + +<p> +„‚Ich bin gekommen, um dich zu holen, schönes +Mädchen,‘ sagte er. ‚Führe du mich aus dem Verderben, +wie du mich ins Verderben hineingeführt hast. +Meine Seele habe ich heut für dich geopfert. Allein +aber kann ich für die Sünde dieser verwünschten Nacht +nicht Vergebung erflehen – es sei denn, daß wir zwei +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +gemeinsam beten und bitten!‘ Und er lachte dann, der +Böse! ‚Nun weise den Weg,‘ sagte er, ‚wie man von +hier fortkommt, ohne gesehen zu werden!‘ Ich nahm +ihn bei der Hand und führte ihn. Wir stiegen die +Treppe hinunter, gingen leise durch den Korridor, ich +schloß die Tür der Vorratskammer auf – die Schlüssel +trug ich bei mir – und wies auf das Fenster. Dort +lag der Garten. Da ergriff er mich, hob mich auf seinen +starken Arm und schwang sich mit mir aus dem +Fenster. Hand in Hand liefen wir weiter, lange liefen +wir. Dann stand endlich der dichte dunkle Wald vor +uns. Er blieb stehen und horchte. ‚Sie verfolgen uns, +Katjä! Die Verfolger sind uns auf den Fersen, schönes +Mädchen, aber nicht in dieser Stunde ist es uns bestimmt, +unser Leben zu lassen! Küsse mich, schönes +Mädchen, verheiße mir Liebe und ewiges Glück!‘ – +‚Wovon sind deine Hände blutig?‘ fragte ich. – ‚Sind +meine Hände blutig, mein Lieb? Ich habe eure Hunde +gemetzelt. Sie bellten zu laut für den späten Gast. +Komm!‘ Und wir liefen weiter. Da sahen wir auf dem +Waldweg meines Vaters Reitpferd, das hatte die Zügel +zerrissen und war aus dem Stall gelaufen: es hatte +nicht mit verbrennen wollen! ‚Das schickt uns Gottes +Hilfe!‘ sagte er, ‚ich hebe dich, Katjä, aufs Pferd!‘ +Ich schwieg. ‚Oder willst du nicht? Ich bin doch kein +Unchrist, kein böser Geist, da sieh, ich bekreuzige mich, +wenn du willst,‘ und er schlug auch wirklich das Kreuz. +Dann schwang er sich aufs Pferd, hob mich zu sich hinauf +und ich drückte mich an ihn und vergaß an seiner +Brust alles um mich her, und es war ganz so, als hielte +mich nur ein Traum umfangen. Als ich aber aus diesem +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +Traum erwachte, da sah ich, daß wir an einem +breiten, breiten Fluß waren. Er stieg ab, hob mich +vom Pferde und ging zum Schilf: dort hatte er seinen +Nachen versteckt. Zum Abschied klopfte er dem Tier +noch den Hals: ‚Nun leb wohl, alter Freund!‘ sagte +er, ‚geh, such dir einen neuen Herrn, die alten haben +dich alle verlassen.‘ Das ging mir so nah! Ich schlang +meine Arme um den Hals des Tieres und preßte das +Gesicht an sein glattes Fell und küßte es. Dann stiegen +wir in den Nachen, er nahm die Ruder und bald +lag das Ufer weit hinter uns. Und sobald das Ufer +nicht mehr zu sehen war, zog er die Ruder ein und +schaute sich rings um auf dem Wasser. Und während +er noch so schaute, murmelte er: +</p> + +<p> +„‚Grüße dich, Mütterchen, du freier Strom, bist +manches Gottesmenschen Ernährerin und mir meine +Beschützerin! Hast du mein Gut auch bewahrt, meine +Waren sanft getragen?‘ Ich schwieg und hatte den +Blick gesenkt, denn mein Antlitz brannte vor Scham. +‚Hättest du doch lieber alles genommen, du stürmische, +unersättliche,‘ murmelte er weiter, ‚und würdest mir +nun dafür versprechen, meine schönste, vielkostbare +Perle zu hüten und zu wiegen! Sag mir doch nur ein +Wort, Mädchen, was bist du so stumm? – strahle +Wärme, sei Sonne und verscheuche das Dunkel der +Nacht!‘ Und er sagte es und lachte selbst dazu! Sein +Herz brannte nach mir, ich fühlte es, aber doch wollte +ich, in meiner Scham, das nicht dulden. Ich wollte etwas +sagen, aber ich wußte nicht, wie ich es sagen +sollte, und so sagte ich nichts. ‚Nun, wohlan, wie du +willst!‘ sagte dafür er zu meinem scheuen Schweigen, +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +sagte es wie mit Trauer, und war sehr niedergeschlagen. +‚Mit Gewalt läßt sich Liebe doch nicht erzwingen. +Gott mit dir, du Hochmütige! Da sieht man, daß dein +Haß gegen mich groß ist! Bin ich deinen blauen Augen +so wenig liebwert erschienen, meine Taube?‘ Ich hörte +es und Haß kam über mich, Haß aus Liebe; doch bezwang +ich mein Herz und sagte: ‚Liebwert oder nicht +liebwert, wie kann ich das wissen, wohl aber eine andere +Törichte, Schamlose, die ihr reines Mädchenstübchen +in dunkler Nacht entweiht, die ihre Seele für +eine Todsünde verkauft und die ihr unkluges Herz +nicht bezwungen hat. Das wissen vielleicht nur meine +heißen Tränen und das sollte auch der noch wissen, +der wie ein Verbrecher auf das Leid, das er verursacht, +obendrein stolz ist und über ein Mädchenherz sich lustig +macht!‘ Ich sagte es, vermochte dann aber nicht länger +an mich zu halten und brach in Tränen aus ... Er +schwieg, und sah mich nur an, daß ich wie ein Blatt +erzitterte. ‚So höre denn, Mädchen,‘ sagte er dann, +und seine Augen brannten auf mir, ‚es sind keine leeren +Worte, die ich dir sage, sondern es ist ein großes +Wort, das ich dir jetzt gebe: solange du mir Glück +schenken wirst, so lange werde ich dir ein milder Herr +sein, wenn du mich aber einmal nicht mehr liebhast, +– so mache keine unnützen Worte, sage nichts, bemühe +dich nicht: nur ein Zucken deiner Zobelbrauen, +ein Blick aus deinem dunklen Auge, eine Bewegung +deines kleinen Fingers laß genug sein und ich gebe deine +Liebe frei und schenke dir deine goldene Freiheit zurück. +Nur wird das zu derselben Stunde, du wunderbar +Stolze, mein Leben enden und mir den Tod bringen.‘ +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +Da lächelten alle meine Sinne zu seinen Worten +...“ +</p> + +<p> +In tiefer Erregung hielt Katherina in ihrer Erzählung +inne. Sie holte schwer Atem, lächelte sinnend +vor sich hin und wollte fortfahren, doch da begegneten +ihre glänzenden Augen Ordynoffs fieberglühendem +Blick, der wie gebannt an ihrem Antlitz hing. Sie +zuckte zusammen, wollte etwas sagen, aber nur das +Blut stieg ihr wieder ins Gesicht ... Und nun – +wie fassungslos hob sie die Hände, umklammerte ihren +Kopf und warf sich mit dem Gesicht auf das Kissen. +– Alles erbebte in Ordynoff! Ein qualvolles Gefühl, +eine Erregung, über die er sich keine Rechenschaft zu +geben vermochte und die unerträglich war, ergoß sich +wie ein Gift durch alle seine Adern und wuchs, und +wuchs: ein wilder und doch gefesselter Trieb, eine gierig +verlangende, nicht zu ertragende Leidenschaft verschlang +sein ganzes Denken und tobte durch alle seine +Gefühle. Gleichzeitig aber begann eine unendliche, +uferlose Trauer immer lastender sein Herz zu bedrücken. +Mehr als einmal hatte er, während Katherina erzählte, +aufschreien und ihr zurufen wollen, daß sie doch +schweigen solle. Er wollte sich ihr schon zu Füßen werfen +und sie unter Tränen anflehen, ihm seine früheren +Liebesqualen, sein erstes, ihm selbst noch unverständliches +reines Verlangen wiederzugeben, und er sehnte +sich förmlich zurück nach den Tränen, die nun schon +lange versiegt waren. Sein Herz verging vor Sehnsucht +und es war ihm, als sei es blutüberströmt und +schließe alle Tränen in sich ein, die seine Seele nicht +mehr erlösen wollten. Er begriff kaum, was Katherina +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +ihm erzählte, und das Gefühl, das das arme junge +Weib in ihm erregte, machte seine Liebe irre und scheu. +In diesem Augenblick verfluchte er seine Leidenschaft: +sie drohte, ihn zu ersticken, sie marterte ihn und es war +ihm, als fließe nicht Blut, sondern siedendes Blei durch +seine Glieder. +</p> + +<p> +„Ach, nicht das ist mein Elend, was ich dir bis jetzt +erzählt habe!“ sagte Katherina, sich wie nach einem +plötzlichen Entschluß aufrichtend, „nicht das, nicht +das!“ stieß sie mit einer Stimme hervor, in der ein +neues, sie überwältigendes Gefühl zitterte und in der +die ganze Qual ihrer Seele lag, die sich zu zerreißen +schien. „Mein Leid und mein Jammer ist etwas ganz +anderes! Was ist mir die Mutter, wenn ich auch auf +der ganzen Welt keine zweite leibliche Mutter mehr +finden kann! Was liegt mir daran, daß sie mich in einer +bitteren Stunde verflucht hat! Was liegt mir an +meinem früheren sonnigen Leben, an meinem warmen +Stübchen und meiner Mädchenfreiheit! und was liegt +daran, daß ich mich dem Bösen verkauft und meine +Seele dem Verderben hingegeben habe, daß ich für das +kurze Glück ewige Schuld trage! Ach, nein, das ist es +nicht, obschon darin mein Verderben liegt! Aber bitter +ist mir dies und es zerreißt mein Herz, daß ich seine +Sklavin geworden bin, daß meine Entehrung und +Schande mir Schamlosen lieb sind, daß das gierige +Herz sich daran freut, seiner Schmach zu gedenken, als +wäre sie eine Lust und ein Glück – das, nur das ist +mein Elend, daß keine Kraft zur Empörung in ihm ist +und kein Zorn über die ihm angetane Schmach! ...“ +</p> + +<p> +Der Herzschlag stockte in der Brust des armen +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +Weibes und ein krampfhaftes Aufschluchzen erstickte +ihre Worte. Ihr Atem strich heiß über ihre brennenden +Lippen, ihre Brust hob und senkte sich und ihre +Augen blitzten in wildem Zorn. Ihr ganzes Gesicht +war dabei in diesem Augenblick so bezaubernd, es +sprach solch eine Flut von Gefühl und Leidenschaft +aus ihm und jeder Zug, jede Linie ihres Antlitzes bebte +in einer so berauschenden Schönheit, daß alles feindliche +Empfinden, das in Ordynoffs Brust aufstieg, sofort +wieder verschwand. Sein Herz drängte zu ihr hin, +wollte sich an ihr zitterndes Herz drücken und voll Leidenschaft +in sinnlosem Rausch gemeinsam mit ihr in +den Wellen desselben Sturmes untertauchen, in demselben +Ausbruch unbeschreiblicher Raserei, gemeinsam +mit ihr vergehen und, wenn es sein mußte, mit ihr +sterben. Katherina begegnete dem flimmernden Blick +Ordynoffs und lächelte, daß eine doppelte Flammenglut +sein Herz durchloderte. Er wußte nicht mehr, was +mit ihm geschah. +</p> + +<p> +„Hab Erbarmen mit mir, hab Gnade!“ flüsterte +er ihr mit verhaltener Stimme zu und beugte sich zu +ihr nieder, so nah, so nah, daß sein Atem mit dem +ihren zusammenströmte, während er ihr zugleich in die +Augen sah. „Du richtest mich zugrunde! Ich weiß von +deinem Leid nichts, meine Seele ist verwirrt ... Was +geht es mich an, worüber dein Herz weint! Sage, was +du verlangst ... ich werde es tun. So komm, laß, töte +mich nicht, bring mich nicht um! ...“ +</p> + +<p> +Regungslos sah ihn Katherina an. Die Tränen +waren versiegt auf ihren heißen Wangen. Sie wollte +ihn unterbrechen, wollte seine Hand erfassen, wollte +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +selbst etwas sagen und fand doch kein Wort. Ein seltsames +Lächeln erschien langsam auf ihren Lippen, ja +fast war es, als wolle ein Lachen hervorbrechen ... +</p> + +<p> +„So habe ich dir wohl noch nicht alles erzählt,“ +sagte sie endlich mit stockender Stimme. „Höre weiter +... wirst du auch mir zuhören, du heißes Herz? Höre, +was deine Schwester dir erzählt. Du hast noch wenig +von ihrem Leid erfahren! Ich wollte dir erzählen, wie +ich mit ihm ein Jahr verlebte, doch wozu ... Als aber +dies Jahr vergangen war, da zog er mit seinen Freunden +stromabwärts und ich blieb bei seiner Pflegemutter +am Landungsort. Ich wollte dort bis zu seiner +Rückkehr verweilen. Ich wartete einen Monat, wartete +noch einen – da begegnete mir im Städtchen ein junger +Kaufmann, und wie ich ihn erblickte, erinnerte ich +mich meiner früheren goldenen Jahre. ‚Schwesterchen, +liebes Schwesterchen!‘ sagte er, als er mich erkannte, +‚ich bin Aljoscha, dein Spielkamerad: die Alten +verlobten uns als Kinder – weißt du noch? Hast du +mich vergessen? Erinnere dich, ich bin aus demselben +Ort wie du ...‘ – ‚Was sagt man dort von mir?‘ +fragte ich. ‚Man sagt, du seist fortgegangen, habest +deine Mädchenehre vergessen und dich einem Räuber, +einem Seelenverderber hingegeben,‘ antwortete mir +Aljoscha lachend. ‚Und was sagtest du von mir, Aljoscha?‘ +‚Vieles wollte ich dir sagen, als ich hierherkam,‘ +– und sein Herz verwirrte sich – ‚vieles wollte +ich dir sagen, aber jetzt, wo ich dich sehe, habe ich alles +vergessen ... verdorben hast du mich!‘ sagte er leise. +‚So sei es denn, nimm auch meine Seele, und solltest +du mein Herz auch verspotten und über meine Liebe lachen, +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +du Schöne! ... Ich bin allein, habe mein Erbe und +bin mein eigener Herr, und meine Seele ist mein, habe +sie keinem verkauft, wie eine andere es getan, die ihr +Gewissen begraben hat, und nicht zu kaufen brauchst +du sie, umsonst gebe ich sie dir, denn verdienen läßt sie +sich ja nicht, wie man sieht!‘ Ich lachte, und nicht ein- +oder nur zweimal hat er mir das gesagt – einen ganzen +Monat lebte er dort, ließ alles andere liegen, vergaß +die Waren, entließ seine Leute, lebte dort ganz +allein. Da tat er mir schließlich leid und ich sagte eines +Morgens zu ihm: ‚Erwarte mich, Aljoscha, wenn die +Nacht dunkelt, unten am Landungsplatz; laß uns dann +zu dir fahren! Ich bin meines schalen Lebens hier überdrüssig!‘ +Die Nacht kam, ich schnürte mein Bündelchen, +und meine Seele begann sich zu sehnen und sie +spielte mit meinen Gedanken. Da sehe ich – mein Herr +tritt ein, ganz unerwartet, unverhofft! – ‚Sei gegrüßt,‘ +sagte er. ‚Komm. Auf dem Fluß wird es heute +Sturm geben, die Zeit drängt.‘ Ich folgte ihm; wir +kamen an den Fluß, aber bis zu den Unsrigen war es +weit. Da sehen wir – ein Boot hat angelegt und in +ihm sitzt ein bekannter Ruderer, der jemand zu erwarten +scheint. ‚Guten Abend, Aljoscha, Gott helfe dir!‘ +sagt mein Herr. ‚Was, – hast dich verspätet oder +willst du noch zu deinen Schiffen? Nimm uns mit, +sei so gut und bringe uns zu den Unsrigen. Mein Boot +ist nicht hier und ich kann nicht schwimmen.‘ – ‚Steige +ein,‘ sagte Aljoscha, und mein ganzes Herz erbebte, +als ich seine Stimme vernahm. ‚Setzt euch, der Wind +ist für alle und in meinem Boot ist auch für euch noch +ein Platz.‘ Wir stiegen ins Boot. Die Nacht war dunkel, +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +die Sterne hatten sich versteckt, der Wind heulte +und die Wellen wuchsen, vom Ufer aber waren wir +bald schon über eine Werst weit entfernt. Wir schwiegen +alle. +</p> + +<p> +„‚Sturm!‘ sagte endlich mein Herr. ‚Der bringt diesmal +nichts Gutes! Einen solchen wie heut nacht habe +ich auf dem Fluß noch niemals erlebt. Wir sind zu +schwer für das Boot! Drei Menschen kann es bei diesem +Sturm nicht tragen!‘ – ‚Ja, du hast recht, drei +kann es nicht tragen, da ist einer von uns zu viel,‘ sagte +Aljoscha, und in seiner Stimme klang ein verhaltenes +Beben. ‚Nun was, Aljoscha?‘ sagte er, ‚ich kannte +dich schon als kleines Kind, hab mit deinem seligen +Vater Bruderschaft getrunken, haben uns Salz und +Brot gegenseitig gebracht – nun sage mir, Aljoscha, +könntest du ohne Boot von hier aus ans Ufer gelangen +... würdest du untergehen und dein Leben verlieren? +– oder würdest du zur Not das Ufer erreichen?‘ +– ‚Nein,‘ sagte Aljoscha, ‚ich würde es nicht +erreichen.‘ – ‚Aber wer weiß, vielleicht ist die Stunde +dir hold und du könntest es doch?‘ – ‚Nein, bei dem +stürmischen Fluß kann ich es nicht wagen, ich fände meinen +Tod in den Wellen.‘ – ‚So höre jetzt, Katherinuschka, +meine schönste vielkostbare Perle!‘ wandte er +sich da an mich. ‚Ich erinnere mich einer ähnlichen +Nacht, doch wogte da nicht die Welle, die Sterne glänzten +hell und der Mond schien ... Ich will dich nur so, +ganz harmlos, fragen, ob du sie nicht vergessen hast?‘ +– ‚Nein,‘ sagte ich. ‚Und wenn du sie nicht vergessen +hast, dann wirst du dich wohl auch noch erinnern, wie +ein Verwegener ein schönes Mädchen lehrte, ihre Freiheit +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +zurückzugewinnen, wenn ihr jemand nicht mehr +liebwert erscheint – was?‘ – ‚Auch das habe ich +nicht vergessen,‘ sage ich, mehr tot als lebendig. – +‚Ah! hast also nichts vergessen! Nun sieh – für das +Boot sind drei zu schwer. Sollte da nicht jemandes +Stunde gekommen sein? Sag, meine Liebe, sprich es +aus, dein Wort, meine Taube, du Süße ...‘ +</p> + +<p> +„Ich habe damals das Wort nicht gesagt!“ flüsterte +Katherina erbleichend ... Sie beendigte die Erzählung +nicht. +</p> + +<p> +„Katherina!“ ertönte eine heisere dumpfe Stimme, +Ordynoff fuhr zusammen. In der Tür stand Murin. +Er stand regungslos, in die Pelzdecke gehüllt, stand +totenbleich und sah sie mit starrem, fast irrsinnigem +Blick an. Katherina erblaßte und auch ihr Blick hing +starr, wie gebannt an ihm. +</p> + +<p> +„Komm zu mir, Katherina!“ flüsterte der Kranke +kaum vernehmbar und verließ das Zimmer. Katherina +sah aber immer noch starr auf die Tür, als stehe er +noch dort. Plötzlich jedoch stieg das Blut heiß in ihre +bleichen Wangen und sie erhob sich langsam vom Bett. +Ordynoff entsann sich der ersten Begegnung. +</p> + +<p> +„Also auf morgen denn, mein Herz!“ sagte sie, +und es klang wie ein seltsames leises Auflachen. „Also +auf morgen. Vergiß aber nicht, wo ich stehen geblieben +bin: ‚Wähle einen von beiden: wer ist dir lieb und +wer nicht lieb von ihnen, du Schöne!‘ Wirst’s nicht +vergessen? wirst eine Nacht dich gedulden?“ fragte sie, +indem sie die Hände auf seine Schultern legte und +zärtlich auf ihn herabsah. +</p> + +<p> +„Katherina, geh nicht zu ihm, tu’s nicht! Er ist +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +wahnsinnig, siehst du’s denn nicht!“ flüsterte Ordynoff, +zitternd für sie. +</p> + +<p> +„Katherina!“ rief Murins Stimme hinter der +Wand. +</p> + +<p> +„Warum nicht? Er wird mich ermorden, meinst +du?“ fragte Katherina lachend. „Gute Nacht, mein Geliebter, +mein lieber Bruder!“ sagte sie, zärtlich seinen +Kopf an ihre Brust drückend, während plötzlich Tränen +aus ihren Augen brachen. „Das sind die letzten +Tränen. Verschlafe dein Leid, mein Geliebter, sollst +morgen zur Freude erwachen!“ Und sie küßte ihn leidenschaftlich. +</p> + +<p> +„Katherina, Katherina!“ flehte Ordynoff, und +wollte vor ihr niederknien, um sie zurückzuhalten, „Katherina!“ +</p> + +<p> +Sie wandte sich noch einmal nach ihm um, nickte ihm +lächelnd zu und verließ das Zimmer. Ordynoff hörte, +wie sie bei Murin eintrat. Er hielt den Atem an und +lauschte, doch kein Laut war zu vernehmen. Der Alte +schwieg oder war vielleicht wieder bewußtlos ... Er +wollte zu ihr gehen, doch seine Füße versagten ... Er +verlor alle Kraft und sank erschöpft auf das Bett zurück +... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-5"> +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +V. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Als er wieder zu sich kam, vermochte er zunächst +gar nicht festzustellen: War es erste Morgen- oder +späte Abenddämmerung? Das Zimmer lag fast vollständig +im Dunkel. Das Lämpchen vor dem Heiligenbilde +mußte erloschen sein. Er wußte nicht, wie lange +er geschlafen hatte, er fühlte nur, daß sein Schlaf +krankhaft gewesen war. Als er zu sich kam, strich er sich +unwillkürlich mit der Hand über das Gesicht, als wolle +er einen Traum und nächtliche Visionen verscheuchen. +Doch als er aufzustehen versuchte, fühlte er sich am ganzen +Körper wie zerschlagen und seine erschöpften Glieder +versagten den Dienst. Sein Kopf schmerzte, ihm schwindelte, +und Frostschauer überliefen seinen Körper, denen +dann wieder glühende Fieberwellen folgten. Mit dem +Bewußtsein kehrte auch die Erinnerung zurück und sein +Herz krampfte sich zusammen und erzitterte, als er in +einer Sekunde die ganze letzte Nacht wiedererlebte. +Sein Herz schlug bei der Erinnerung so stark, und seine +Empfindungen waren so heiß und unmittelbar, als +wären nicht eine Nacht, nicht lange Stunden vergangen, +seit Katherina ihn verlassen, sondern kaum eine +Minute. Er fühlte, daß seine Augen noch von den Tränen +brannten – oder waren es neue Tränen seiner +heißen Seele? Und doch – wie ein Wunder schien ihm +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +alles – in seinen Qualen lag für ihn eine Süße und +Lust, obschon er gleichzeitig mit jedem Nerv seines Körpers +fühlte, daß er eine solche Vergewaltigung ein zweites +Mal nicht mehr ertragen würde. Es kam ein Augenblick, +wo er fast den Tod fühlte und bereit war, ihn +wie einen lichten Gast zu empfangen, der in weiblicher +Gestalt ihm nahte: bis zu einer solchen Spannung war +seine Empfindungsfähigkeit gesteigert, mit solch einer +stürmischen und machtvollen Allgewalt wogte jetzt, +nach dem Erwachen, seine Leidenschaft von neuem auf, +und solch ein Entzücken, solch eine Begeisterung erfüllte +seine Seele, daß sein Leben, bis in schwindelnde Höhen +gesteigert, gleichsam im Begriff war, zusammenzubrechen +und niederzustürzen, sofort zu verwesen und auf +ewig zu vergehen ... Fast in demselben Augenblick, als +wär’s eine Antwort auf seinen Schmerz, auf das Zittern +seines Herzens, erklang eine Stimme, die ihm so +bekannt schien, wie das innere Klingen und Tönen, das +die Menschenseele in Stunden der Freude, in Stunden +großen Glückes über ihr Dasein empfindet – es +war die weiche, volltönende Stimme Katherinas. Ganz +nah, fast wie am Kopfende seines Bettes begann ein +Lied, zu Anfang leise und schwermütig. Dann hob sich +die Stimme und senkte sich wieder, wie in leisem Verhallen, +als vergehe sie und wiege dabei doch noch zärtlich +die unruhvolle Qual des eigenen unterdrückten +Verlangens, das in ihrem sich sehnenden Herzen für +ewig gefangen war. Bald wieder schwang sie sich hoch +empor und ergoß sich zitternd und glühend von einer +Leidenschaft, die sich nicht länger zurückhalten ließ, in +ein ganzes Meer von Entzücken, in ein Meer von zaubermächtigen, +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +uferlosen Tönen, so selig, wie der erste +selige Augenblick der Liebe. Ordynoff vernahm auch +Worte: sie waren der rührend schlichte, zu Herzen gehende +Ausdruck eines reinen, ruhigen, weil selbstverständlichen +und klaren Gefühls – der Form nach alte, +schon längst verklungene Worte, wie der Volksmund sie +in früheren Zeiten gedichtet. Doch Ordynoff dachte +nicht an ihren Sinn, er vergaß sie, er hörte nur die +Töne, und aus den treuherzigen naiven Strophen des +alten Liedes sprachen zu ihm ganz, ganz andere Worte +– Worte, in denen dieselbe Sehnsucht zitterte, die seine +eigene Brust erfüllte, Worte, die wie ein Widerhall der +geheimsten und tiefsten, ihm selbst noch halb unverständlichen +Regungen seiner Leidenschaft waren und die +nun, da sie im Liede zu ihm drangen, ihm verrieten, wie +sehr auch sie um dieselben wußte. Er glaubte, den letzten +bangen Laut eines vor Liebe vergehenden Lebens zu +hören, dann wieder die aufjauchzende Freude eines +Willens, der seine Ketten gesprengt und licht und frei +ins unermeßliche Meer unversehrbarer Seligkeit strebte; +dann wieder war es ihm, als hörte er das erste zitternde +Liebesgeständnis, unter Erröten und Tränen in heimlichem +zagen Flüstern von Mädchenlippen, noch mit +dem ganzen Duft süßer Scham; dann wieder stieg +gleichsam der Wunsch einer Bacchantin auf, die stolz +und froh ob ihrer Macht, unverhüllt, des Geheimnisses +bar, mit sprühendem Lachen und trunken schweifendem +Blick im Kreise sich umschaut ... +</p> + +<p> +Ordynoff hielt es nicht aus bis zum Ende des Liedes +und erhob sich vom Bett. Das Lied verstummte sogleich. +</p> + +<p> +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +„Der gute Morgen und der gute Tag sind vorbei, +mein Ersehnter!“ sagte Katherinas Stimme hinter der +Wand, „also sage ich jetzt guten Abend zu dir! Steh +auf, komm zu uns, erwache zu heller Freude: wir erwarten +dich, ich und mein Herr, beides gute Leute und +dir ergeben. Lösche mit Liebe den Haß, wenn das Herz +uns die Kränkung noch nachträgt. Sage ein freundliches +Wort! ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff verließ bereits sein Zimmer, wußte aber +eigentlich selbst kaum, daß er zu ihnen ging. Vor ihm +öffnete sich die Tür und er sah und schaute und war +wie geblendet von dem goldenen Lächeln der Wundersamen, +die vor ihm stand. Er hörte und sah nichts und +niemanden außer ihr. Im Augenblick war ihre Lichtgestalt +der Inbegriff seines ganzen Lebens, seiner ganzen +Freude. +</p> + +<p> +„Zwei Sonnenröten sind schon vergangen, seit wir +Abschied nahmen,“ sagte sie, und sie streckte ihm die +Hände entgegen, „da sieh durch das Fenster, auch die +zweite ist schon erloschen. Sie waren ähnlich dem Erröten +eines schönen Mädchens,“ fuhr sie lachend fort, +„die erste Morgenröte war wie die Glut, mit der das +Mädchen zum erstenmal das Herz in der Brust schlagen +fühlt; und die zweite wie wenn die Schöne ihre Scheu +vergißt und das Blut feurig ins Antlitz steigen spürt. +... Tritt ein, tritt ein in unser Haus, du Junger! +Was stehst du noch auf der Schwelle? Ehre werde dir +zuteil und Liebe und als erstes ein Gruß vom Hausherrn!“ +</p> + +<p> +Und mit hellem Lachen erfaßte sie Ordynoffs Hand +und führte ihn ins Zimmer. Befangenheit überkam sein +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +Herz. Das ganze Feuer, das in seinem Inneren flammte, +war wie im Augenblick erloschen, doch nur für einen +Augenblick. Verwirrt senkte er das Auge, um sie nicht +anzusehen. Er fühlte, sie war von so bezaubernder +Schönheit, daß er ihren heißen Blick nicht würde ertragen +können. Nein, so hatte er sie noch nie gesehen! +Zum erstenmal sah er Freude und den Zauber des Lachens +in ihrem Gesicht, und ihre dunklen Wimpern +glänzten nun nicht mehr von vergossenen Tränen. Seine +Hand lag bebend in ihren Händen. Hätte er den +Blick erhoben, so würde er gesehen haben, daß Katherinas +strahlende Augen mit triumphierendem Lächeln an +seinen Mienen hingen, in denen sich deutlich Verwirrung +und Leidenschaft widerspiegelten. +</p> + +<p> +„Stehe auf, Alter!“ sagte sie endlich, als käme sie +selbst erst und mit einem Male zur Besinnung, „sage +dem Gast ein freundliches Wort zum Gruß. Er ist unser +Gast und mir so gut wie ein leiblicher Bruder! +Stehe auf, stolzer Alter, sei nicht hochmütig, steh auf, +entbiete ihm einen Gruß, fasse seine weiße Hand, bitte +ihn an den Tisch!“ +</p> + +<p> +Ordynoff sah auf, und es war ihm, als käme er +jetzt erst zu sich: er hatte Murin ganz vergessen, an +seine Anwesenheit gar nicht gedacht. Die Augen des +Alten, die wie in Todesahnen erloschen schienen, sahen +ihn unbeweglich an, und mit einem stechenden Schmerzgefühl +erinnerte sich Ordynoff jenes Blickes, der ihn +das letztemal unter den buschigen überhängenden +Brauen hervor getroffen hatte, und diese Brauen waren +auch jetzt wieder wie in Qual und Grimm zusammengezogen. +Ein leichtes Schwindelgefühl erfaßte ihn. +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +Er sah sich um: und da erst kam ihm klar zum Bewußtsein, +wo er sich eigentlich befand. Murin lag noch +immer auf dem Bett, war jedoch fast vollständig angekleidet +und es machte den Eindruck, als sei er bereits +am Morgen aufgestanden und tagsüber ausgegangen. +Um den Hals trug er wieder ein rotes Tuch, die Füße +staken in Hausschuhen. Die Krankheit war offenbar +überstanden, nur sein Gesicht war noch auffallend +blaß und fast gelb. Katherina stand neben dem Bett, +stützte sich mit der Hand auf den Tisch und sah aufmerksam +von dem einen zum anderen: doch das freundliche +Lächeln schwand nicht aus ihrem Gesicht. Es schien +beinahe, als geschehe alles auf einen Wink von ihr. +</p> + +<p> +„Ja! Das bist du,“ sagte Murin, indem er sich +langsam erhob und auf das Bett setzte. „Du bist mein +Mieter. Ich bin schuldig vor dir, Herr, habe gesündigt +und dich, ohne es zu wollen, erschreckt – gestern, mit +der Flinte. Wer konnt’s denn wissen, daß dich auch +mitunter Krankheit heimsucht! Bei mir aber kommt +das vor,“ fügte er mit rauher, von der Krankheit noch +heiserer Stimme hinzu. Seine Stirn runzelte sich und +unwillkürlich wandte er den Blick von Ordynoff ab. +„Unglück pflegt sich nicht vorher anzumelden, wenn es +kommt, schleicht es sich wie ein Dieb heran und ist da! +Auch ihr hab’ ich vor kurzem beinahe das Messer in die +Brust gestoßen ...“ brummte er, mit dem Kopf nach +Katherina weisend. „Ich bin ein kranker Mensch, habe +zuweilen meine Anfälle – nun, was ist da noch viel zu +erklären, das mag dir genügen! Setz dich – wirst mein +Gast sein.“ +</p> + +<p> +Ordynoff sah ihn immer noch unverwandt an. +</p> + +<p> +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +„Setz dich, so setz dich doch!“ rief der Alte ungeduldig, +„wenn’s ihr nun mal Freude macht! ... Hm! +Da seid ihr nun also sozusagen Geschwister, seht doch +mal an! Habt euch ja lieb, recht wie ein Liebespaar!“ +</p> + +<p> +Ordynoff setzte sich. +</p> + +<p> +„Sieh doch, was du da für eine Schwester hast,“ +fuhr der Alte lustig fort, und er lachte, daß man alle +seine ausnahmslos noch weißen, schönen Zähne sehen +konnte. „So tut doch zärtlich, meine Lieben! Hast du +nicht eine schöne Schwester, Herr? Sprich doch, antworte! +Da, sieh sie doch an, sieh, wie ihre Wangen +glühen. So sage doch, daß sie eine Schönheit ist, rühme +doch vor der ganzen Welt ihre Schönheit! Zeige, wie +sehr dein Herz nach ihr verlangt!“ +</p> + +<p> +Ordynoff runzelte die Stirn und sah den Alten +an. Der zuckte zusammen unter seinem Blick. In Ordynoffs +Brust stieg eine blinde Wut auf. Mit geradezu +tierischem Instinkt fühlte er, daß er seinen Todfeind +vor sich hatte. Er begriff selbst nicht, was mit ihm geschah. +Er vermochte nicht mehr zu denken – +</p> + +<p> +„Sieh mich nicht an!“ erklang da Katherinas +Stimme hinter ihm. Ordynoff blickte sich um. +</p> + +<p> +„Sieh mich nicht an, sage ich dir, wenn der Böse +dich zu Bösem verleitet – hab Mitleid mit deiner +Liebsten,“ sagte Katherina lachend, und plötzlich legte +sie ihm hinterrücks die Hände auf die Augen, – zog +sie aber sogleich wieder zurück und bedeckte mit ihnen +ihr eigenes Gesicht. Doch die flammende Röte leuchtete +gleichsam durch ihre Finger: sie ließ die Hände sinken +und mühte sich, offen und furchtlos den Blicken der +beiden Männer standzuhalten. Die aber sahen sie +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +beide nur schweigend an – Ordynoff mit einer gewissen +verwunderten Liebe, die sein Herz zum erstenmal +zu der Schönheit eines Weibes empfand, der Alte dagegen +aufmerksam, forschend und kalt. Sein bleiches +Gesicht verriet nicht das geringste, nur seine Lippen +waren blaß und bebten leise. +</p> + +<p> +Katherina war gleichfalls ernst geworden, trat an +den Tisch und begann, die Bücher, Papiere, das Tintenfaß +und alles übrige abzuräumen. Sie atmete schnell +und ungleichmäßig. Von Zeit zu Zeit holte sie tief +Atem, als sei’s ihr im unruhig schlagenden Herz eng +und schwer. Schwer, wie die Woge am Ufer, senkte sich +und hob sich von neuem ihre Brust. Sie sah nicht auf, +und die dunkeln langen Wimpern glänzten seidig über +ihren zarten Wangen ... +</p> + +<p> +„Meine Königin!“ flüsterte Ordynoff. Er besann +sich aber sofort, denn er fühlte den Blick des Alten +auf sich ruhen. Wie ein Blitz, in einem Nu war dieser +Blick aufgeflammt, gierig, bohrend, gehässig, feindlich, +mit kalter Verachtung. Ordynoff erhob sich, aber eine +unsichtbare Macht schien seine Füße gefesselt zu haben. +Er setzte sich wieder. Und er drückte seine eigene Hand, +als traue er nicht der Wirklichkeit, die ja vielleicht nur +ein Traum sein konnte. Es war ihm, als ob ein Alb +ihn bedrücke und als ob seine Augen in peinvollem +und krankhaftem Dämmer geschlossen lagen. Doch sonderbar! +Er wollte nicht erwachen! +</p> + +<p> +Katherina nahm den Teppich vom Tisch, öffnete +eine Truhe, der sie ein kostbares Tischtuch entnahm, +das reich mit Stickereien in Seide und Goldfäden verziert +war, und breitete es über den Tisch; dann holte +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +sie aus dem Schrank eine altertümliche, aus schwerem +Silber gearbeitete Kanne, an der nach alter Art die +silbernen Becher hingen – stellte sie mitten auf den +Tisch und nahm drei Becher von den Häkchen: einen +für den Hausherrn, einen für den Gast und einen für +sich selbst. Mit ernstem, fast nachdenklichem Blick sah +sie auf den Alten, dann auf den Gast. +</p> + +<p> +„Wer ist nun von uns einem anderen lieb oder +nicht lieb?“ fragte sie. „Wer niemandem lieb ist, der +soll mir lieb sein und wird mit mir aus einem Becher +trinken. Mir aber ist jeder von euch lieb, lieb, wie ein +Nahestehender: deshalb laßt uns auf die Liebe und die +Eintracht trinken!“ +</p> + +<p> +„Trinken und die schwarzen Gedanken im Wein +ertränken!“ sagte der Alte mit veränderter Stimme. +„Schenke ein, Katherina!“ +</p> + +<p> +„Und dir auch?“ fragte Katherina, indem sie Ordynoff +ansah. +</p> + +<p> +Der schob schweigend seinen Becher hin. +</p> + +<p> +„Wartet!“ rief plötzlich der Alte und erhob sein +Glas. „Hat jemand von uns etwas Besonderes auf +dem Herzen, so möge es nach seinem Wunsch in Erfüllung +gehen!“ +</p> + +<p> +Sie stießen an und tranken. +</p> + +<p> +„Nun laß uns beide trinken,“ sagte Katherina, +sich an den Alten wendend, „trinken wir, wenn dein +Herz mir gut ist! Trinken wir auf das erlebte Glück, +laß uns die vergangenen Jahre grüßen! Aus dem +Herzen, dem Glück in Liebe ein Gruß! So laß dir doch +einschenken, Alter, wenn dein Herz noch immer für +mich glüht!“ +</p> + +<p> +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +„Dein Wein ist stark, mein Täubchen, du selbst +aber hast nur die Lippen benetzt!“ sagte der Alte lachend +und hielt seinen Becher hin. +</p> + +<p> +„Ich werde dir jetzt einschenken, du aber trinke den +Wein bis zur Neige! ... Wozu leben, Alterchen, und +ewig schwere Gedanken mit sich herumtragen! Das +bedrückt nur das Herz. Gedanken kommen vom Kummer +und Gedanken schaffen Kummer, im Glück da lebt +man ohne Gedanken! Trink, Alter! Ertränke deine Gedanken!“ +</p> + +<p> +„Da muß ja in dir viel Kummer sich angesammelt +haben, wenn du dich plötzlich so gegen ihn wappnen +willst! Möchtest wohl mit einemmal allem ein Ende machen, +meine weiße Taube? Ich trinke auf dein Wohl, +Katjä! Aber du, hast auch du einen Kummer, Herr, +wenn du erlaubst, zu fragen?“ +</p> + +<p> +„Was ich habe, das habe ich für mich,“ murmelte +Ordynoff, ohne seine Augen von Katherina abzuwenden. +</p> + +<p> +„Hast du gehört, Alterchen? Ich habe mich selbst +lange nicht gekannt und an nichts zurückgedacht, da +kam aber eine Stunde und ich erkannte alles und erinnerte +mich an alles: da hab’ ich alles Vergangene mit +unersättlicher Gier in der Seele nochmals erlebt.“ +</p> + +<p> +„Ja, es ist bitter, wenn man durch Vergangenes +sich wieder durchzuarbeiten anfängt,“ bemerkte der Alte +nachdenklich. „Was vergangen ist, ist wie getrunkener +Wein! Was ist vergangenes Glück? Hat man einen +Rock abgetragen, dann fort mit ihm ...“ +</p> + +<p> +„Dann ist ein neuer nötig!“ fiel ihm Katherina +ins Wort, mit etwas erzwungenem Lachen, während +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +zwei große Tränen an ihren Wimpern erglänzten. „Da +sieht man, ein Menschenalter kann nicht in einem Augenblick +vergehen, und ein Mädchenherz hat ein zähes Leben: +das ist nicht so leicht erschöpft! Hast du’s erfahren, +Alter? Sieh, da habe ich eine Träne in deinem +Becher begraben!“ +</p> + +<p> +„War es denn viel Glück, für das du dein Leid +verkauftest?“ fragte Ordynoff und seine Stimme zitterte +vor Erregung. +</p> + +<p> +„Du hast wohl, Herr, viel eigenes zu verkaufen,“ +versetzte der Alte, „daß du dich ungebeten vordrängst.“ +Und er lachte lautlos und boshaft und sah dabei Ordynoff +frech an. +</p> + +<p> +„Wofür ich es verkaufte, das war auch danach,“ +antwortete Katherina mit einer Stimme, aus der eine +gewisse Unzufriedenheit und Gekränktheit zu klingen +schien. „Dem einen scheint es viel, dem anderen wenig. +Der eine will alles hingeben, es wird ihm aber +nichts dafür geboten; der andere verheißt nichts, und +doch folgt ihm das Herz gehorsam. Du aber, mach deshalb +niemandem einen Vorwurf.“ Sie wandte das Gesicht +nach ihm hin und sah ihn traurig an. „Der eine +ist so ein Mensch, der andere ein anderer – weiß +man’s denn selbst, weshalb die Seele gerade zu dem +einen drängt! Fülle deinen Becher, Alter! Trinke auf +das Glück deiner lieben Tochter, deiner gehorsamen +Sklavin, wie einst, als sie dich erst noch lieben lernte. +Nun, erhebe den Becher!“ +</p> + +<p> +„Wohlan! So schenke auch dir ein!“ +</p> + +<p> +„Warte, Alter! Trink noch nicht, laß mich zuvor +noch ein Wort sagen! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +Katherina stützte die Ellbogen auf den Tisch und +sah regungslos mit glänzendem, leidenschaftlichem +Blick dem Alten in die Augen. Eine eigentümliche Entschlossenheit +lag plötzlich in diesem Blick. Doch alle ihre +Bewegungen waren sicher, ihre Gesten kurz, unerwartet, +schnell. Es war, als sei Feuer in ihr und wunderbar +nahm sich das aus. Ihre Schönheit schien mit ihrer +Erregung, mit ihrer Spannung zu wachsen. Sie lächelte +und wie Perlen erglänzten ihre gleichmäßigen +Zähne zwischen den Lippen. Ihr Atem war kurz und +unterbrochen durch die Erregung. Ihre feinen Nasenflügel +bebten. Der eine ihrer schimmernden Zöpfe, +die sie zweimal um den Kopf geschlungen trug, hatte +sich gelöst und gesenkt und bedeckte das linke Ohr und +einen Teil der heißen Wange. Ihre Schläfen glänzten +feucht. +</p> + +<p> +„Sage mir wahr, Alter! Sag mir wahr, mein Guter, +sag, bevor du deinen Verstand vertrinkst! Hier hast +du meine weiße Hand! Nennen dich doch die Leute bei +uns nicht umsonst einen Zauberer. Du hast aus Büchern +gelernt und kennst jede schwarze Wissenschaft! +So sieh dir jetzt die Linien meiner Hand an, Alterchen, +und verkünde mir mein ganzes unseliges Los! Nur sieh +zu, daß du die Wahrheit sagst! ... Nun, sage mir, wie +du es weißt und meinst – wird dein Töchterchen glücklich +sein oder verzeihst du ihr nicht und rufst ihr durch +deine Zauberstücke herbes Leid auf den Weg? Sage, +wird der Winkel warm sein, in dem ich mich einnisten +werde, oder soll ich, wie ein Zugvogel, mein Leben lang +gleich einer Waise bei guten Leuten Unterkunft suchen? +Sage, wer ist mein Feind und hegt Arges gegen mich +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +im Sinn? – und wer ist mein Freund und hat für +mich nur Liebe im Herzen? Sage, wird mein junges +heißes Herz sein Lebtag einsam bleiben und vor der +Zeit verstummen, oder wird es ein anderes Herz finden, +das ihm gleich ist, und im gleichen Pulsschlag der +Freude mit ihm schlagen ... bis zu neuem Leid! Und +sage mir, Alterchen, wenn du schon einmal wahrsagst, +wo, unter welchem blauen Himmel, hinter welchen fernen +Meeren und Wäldern mein heller Falke denn lebt, +sag mir, wo, und ob er auch mit scharfem Auge nach +seinem Falkenweibchen Ausschau hält, und ob er auch +in Liebe wartet, ob er es auch heiß lieben oder ob er +die Liebe bald verlernen und mich betrügen, oder ob +er mich nicht betrügen und mir treu bleiben wird? Und +dann sprich auch schon das Letzte und Allerletzte aus, +Alter: sag, ist es uns beiden bestimmt, lang noch gemeinsam +die Zeit zu verbringen, hier im armseligen +Winkel zu sitzen, dunkle Bücher zu lesen? Oder wann +werde ich von dir Abschied nehmen, mich tief vor dir +neigen und dir für deine Gastfreundschaft danken, und +dafür daß du mir Speise und Trank gegeben und mir +Märchen erzählt hast? ... Aber sieh zu, daß du mir die +Wahrheit sagst, lüge nicht! Die Zeit ist gekommen, jetzt +steh für dich ein!“ +</p> + +<p> +Ihre Erregung war mit jedem weiteren Wunsche +gewachsen, bis ihre Stimme bei den letzten Worten +die Gewalt über sich verlor, als risse ein Wirbelsturm +ihr Herz mit sich fort. Ihre Augen blitzten und ihre +Lippen schienen leise zu beben. Und doch hatte aus ihrer +Stimme zugleich ein boshafter Spott geklungen – +wie eine Schlange wand er sich versteckt durch ihre +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +Worte – und es war, als habe ein Schluchzen +in ihrem Spott geklungen, der doch voll Lachen sein +sollte. Sie hatte sich über den Tisch zu dem Alten gebeugt +und sah ihm mit forschender Neugier in seine +umflorten Augen. Ordynoff hörte, als sie verstummte, +wie ihr Herz plötzlich heftig zu klopfen begann; er sah +sie an und wollte aufjauchzen vor Entzücken, und war +schon im Begriff, sich von der Bank zu erheben. Da +traf ihn ein flüchtiger, kurzer Blick des Alten und wie +gebannt, wie gelähmt blieb er auf seinem Platz: es war +eine seltsame Mischung von Verachtung, Spott, ungeduldiger, +ärgerlicher Unruhe und zugleich boshafter, +arglistiger Neugier, die aus diesem flüchtigen jähen +Blick aufblitzte, aus diesem Blick, unter dem Ordynoff +jedesmal zusammenfuhr und der sein Herz stets mit +Haß und ohnmächtiger Wut erfüllte. +</p> + +<p> +Nachdenklich und mit einer eigentümlichen traurigen +Neugier betrachtete der Alte seine Katherina. Sie +hatte sein Herz getroffen, durchbohrt, das Wort war +jetzt von ihr ausgesprochen – und doch hatte er nicht +einmal mit einer Wimper gezuckt. Er lächelte nur, als +sie verstummt war. +</p> + +<p> +„Willst viel auf einmal erfahren, mein flügge gewordenes, +mein flugbereites Vögelchen! Fülle mir +schnell noch den tiefen Becher; und dann laß uns trinken: +zuerst auf die Entzweiung und auf den guten Willen; +sonst verderbe ich noch durch irgend jemandes bösen +unsauberen Blick meinen Wunsch. Der Teufel ist +stark! Wie weit ist’s denn bis zur Sünde!“ +</p> + +<p> +Er hob seinen Becher und leerte ihn. Je mehr er +trank, um so bleicher wurde er. Seine Augen röteten +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +sich und glühten wie Kohlen. Es war augenscheinlich, +daß ihr fieberhafter Glanz und die plötzliche Totenblässe +die Vorläufer eines baldigen neuen Anfalls waren. +Der Wein aber war schwer und feurig. Auch Ordynoff +fühlte von dem einen Becher, den er geleert, +seinen Blick heiß und unsicher werden: sein durch das +Fieber erregtes Blut konnte nicht lange dem Geist des +Weines widerstehen und überstürmte sein Herz, quälte +und verwirrte seinen Verstand. Seine Unruhe wuchs +mit jeder Minute. Und er schenkte sich noch von dem +schweren Wein in den Becher und trank einen Schluck, +ohne selbst zu wissen, was er tat oder wie er gegen seine +wachsende Erregung ankämpfen sollte, und das Blut +jagte noch stürmischer durch seine Adern. Er war wie +von einem Fiebertraum fortgerissen und vermochte kaum +noch, trotz krampfhaftester Anspannung seiner ganzen +Aufmerksamkeit, zu verfolgen, was zwischen dem Alten +und Katherina vorging. +</p> + +<p> +Der Alte klopfte laut mit dem Becher auf den +Tisch. +</p> + +<p> +„Schenk ein, Katherina!“ rief er, „schenk ein, böses +Töchterchen, schenk ein, bis ich trunken bin! Beseitige +den Alten, es ist auch genug für ihn! So ist’s recht, +schenk ein, meine Schöne, ganz voll – so! Nun laß +uns beide trinken! Warum hast du denn so wenig getrunken? +Oder habe ich es nicht gesehen ...?“ +</p> + +<p> +Katherina entgegnete ihm etwas, doch Ordynoff +begriff die Worte kaum, und der Alte ließ sie nicht +zu Ende sprechen: er ergriff ihre Hand, als habe er +nicht mehr die Kraft, all das zurückzuhalten, was seine +Brust einschloß. Sein Gesicht war bleich und sein Blick +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +umflorte sich bald, bald flammte er auf und dann +brannte in ihm ein unheimliches Feuer. Seine farblosen +Lippen zuckten und mit ungleichmäßiger, schwankender +Stimme, aus der hin und wieder eine seltsame +Begeisterung klang, sagte er zu ihr: +</p> + +<p> +„Gib dein Händchen, du Schöne! Ich werde dir +wahrsagen, werde dir die ganze Wahrheit sagen. Ich +bin wirklich ein Zauberer, da hast du dich nicht geirrt, +Katherina! Dein goldenes Herz hat erraten, daß ich +sein einziger Wahrsager bin und ihm die Wahrheit +nicht verheimlichen werde, diesem schlichten, diesem unschlauen +Herzen! Nur eines hast du nicht erkannt: nicht +ich, der Zauberer, kann dich vernünftig machen! Vernunft +ist keine Richtschnur für ein Mädchen, und wenn +man ihm auch die ganze Wahrheit sagt, so ist es doch, +als habe es nichts erfahren und begriffen! Ihr eigner +Kopf – ist eine listige Schlange, wenn auch das Herz +von Tränen überfließt! Jeden Weg findet sie selbst, +zwischen Gefahren versteht sie kriechend sich durchzuschlängeln +und ihren schlauen Willen zu erreichen! +Manchmal erreicht sie auch wohl mit dem Verstande +was sie will, wenn aber nicht – dann berückt sie mit +ihrer Schönheit, und verwirrt mit ihrem dunklen Auge! +Schönheit bricht die Kraft, und wenn das Herz auch +von Eisen ist – sie zerspellt es mit ihrer Macht! Ob +auch Leid und Sorge deiner harrt? Schwer ist Menschenleid! +Doch nicht schwache Herzen werden von ihm +heimgesucht. Das Unglück sucht sich, wenn es kommt, +ein starkes Herz zum Wohnsitz aus, aus dem dann im +stillen, aller Welt verborgen, manch blutige Träne +rinnt, bösen Leuten ein Schaustück. Dein Leid +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +aber, Mädchen, ist wie die Spur im Sande, die +der Regen verwischt, die Sonne trocknet und der +frische Wind verweht! Laß mich dir noch mehr +sagen, dir wahrsagen: wer dich lieben wird, zu +dem wirst du als Sklavin gehen, wirst selbst deinen +Willen und deine Freiheit binden und ihm hingeben als +Pfand und auch nie mehr zurückverlangen; wirst es +nicht verstehen, zur rechten Zeit deine Liebe zu vergessen; +ein Körnchen legst du hin und dein Verderber läßt +es zur vollen Ähre wachsen und behält alles! Mein +zärtliches Kind, mein Goldköpfchen, hast in meinem +Wein dein Tränenperlchen begraben und dann doch +nicht widerstanden und darüber gleich hundert andere +vergossen, hast ein schönes Wort gesagt, dich an ihm berauscht +und auf dein Leid gepocht. Doch ob deines +Tränchens, des himmlischen Tautropfens, wirst du dich +nicht zu grämen, wirst nicht zu trauern brauchen! Es +wird dir in Überfluß wiedergegeben, und mit Wucherzinsen, +dein Tränenperlchen, warte nur, in langer +Nacht, in trauriger Nacht, wenn böser Kummer an +deinem Herzen nagen wird und ein arger Gedanke – +dann wird auf dein heißes Herz, für dies selbe Tränchen, +eines anderen Träne fallen, eine blutige, nicht +warme oder heiße, sondern eine glühende, wie von +flüssigem Erz, und die wird dir deine weiße Brust blutig +brennen, und bis zum Morgen, dem trüben, düsteren, +wie er an Regentagen graut, wirst du dich auf +deiner Lagerstätte wälzen und aus der frischen Wunde +wirst du purpurnes Blut vergießen und nimmer wird +dir diese Wunde bis zum vollen Morgen verheilen! +Schenke mir noch ein, Katherina, schenke mir ein, meine +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +Taube, für den klugen Rat! – weiter aber, denke ich, +sind keine Worte mehr vonnöten ...“ +</p> + +<p> +Seine Stimme sank und bebte: es war, als wolle +ein Schluchzen aus seiner Brust hervorbrechen ... Er +schenkte sich selbst den Wein ein und stürzte ihn gierig +hinab; dann klopfte er wieder mit dem Becher auf den +Tisch. Sein trüber Blick flammte noch einmal auf. +</p> + +<p> +„Ach! Lebe, wie es sich leben läßt!“ rief er, „was +vorüber ist, ist vorüber! Schenk mir ein, schenk mir noch +einmal ein, noch einmal, und ganz voll, bis zum Rande, +damit der Wein den wilden Kopf von den Schultern +nimmt und die Seele in ihm ertränkt! Schläfere mich +ein für die lange Nacht, der kein Morgen folgt, auf daß +das Gedächtnis mir völlig schwinde! Getrunkener Wein +ist wie verlebtes Leben! Da muß doch dem Kaufmann +die Ware liegen geblieben sein, wenn er sie umsonst +aus der Hand gibt! Würde er sie doch sonst nicht aus +freiem Willen unter dem Preise hingeben, würde auch +der Feinde Blut vergießen, auch unschuldig Blut würde +fließen und auf den Kauf würde jener Käufer obendrein +noch seine verlorene Seele hergeben müssen! Schenk +ein, schenk mir noch ein, Katherina!“ +</p> + +<p> +Doch seine Hand, die den silbernen Becher hielt, +schien plötzlich wie im Krampf zu erstarren und rührte +sich nicht mehr. Er atmete schwer und mühsam, sein +Kopf sank unwillkürlich auf die Brust. Noch einmal +richtete er den Blick starr auf Ordynoff, als wolle er +ihn zum letztenmal durchbohren, aber auch dieser Blick +erlosch endlich und seine Lider senkten sich, als wären +sie bleischwer. Tödliche Blässe breitete sich über sein +Antlitz ... Ein paarmal zuckten noch seine Lippen und +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +bewegten sich, als wollten sie etwas sagen – und plötzlich +glänzte eine große heiße Träne an seinen Wimpern, +hing, löste sich und rollte langsam über seine +bleiche Wange herab ... Ordynoff hatte nicht mehr die +Kraft, noch länger dies alles zu ertragen. Er erhob sich, +trat schwankend einen Schritt vor, näherte sich Katherina +und faßte sie am Arme; sie aber hatte nicht einmal +einen Blick für ihn, und tat, als bemerke sie ihn überhaupt +nicht ... +</p> + +<p> +Es war, als verließe sie gleichfalls die Besinnung, +als hielte ein besonderer Gedanke sie in seinem Bann +oder als sei sie von einem einzigen starren Gedanken erfüllt. +Sie sank an die Brust des schlafenden Alten, +schlang ihren weißen Arm um seinen Hals und sah ihn +regungslos an, als könne sie den Blick nicht losreißen +von ihm. Sie fühlte es wohl gar nicht, als Ordynoff +ihren Arm erfaßte. Erst nach einer Weile hob sie den +Kopf und wandte das Gesicht ihm zu und sah ihn mit +einem langen durchdringenden Blick an. Und dann rang +sich, als begreife sie endlich, ein schweres, verwundertes +Lächeln gleichsam mühselig, wie mit Schmerz aus ihrem +Innersten hervor und erschien auf ihren Lippen ... +</p> + +<p> +„Geh, geh fort,“ flüsterte sie, „du bist betrunken und +böse! Du bist mir ein schlechter Gast!“ Und sie wandte +sich wieder dem Alten zu und wieder hing ihr Blick wie +gebannt an seinen Zügen. +</p> + +<p> +Sie schien jeden Atemzug des Schlafenden zu bewachen, +schien seinen Schlaf mit ihrem Blick liebkosen zu +wollen. Ja, sie schien sogar ihren eigenen Atem zurückzuhalten, +als wage sie kaum, ihr Herz schlagen zu lassen. +In ihrem Gesicht, in ihrem ganzen Wesen lag eine +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +solche Liebesverzückung, daß Ordynoff plötzlich von +Verzweiflung, Wut, Zorn und rasendem Haß übermannt +wurde ... +</p> + +<p> +„Katherina! Katherina!“ rief er, wie mit Klammern +ihren Arm umspannend. +</p> + +<p> +Schmerz sprach aus ihrem Gesicht: sie erhob wieder +den Kopf und sah ihn an, doch diesmal mit solch +einem Spott und solch schamloser Verachtung, daß er +sie anstarrte, ohne fassen zu können, was er sah. Sie +wies auf den schlafenden Alten und sah – als wäre +der ganze Hohn seines Feindes in ihre Augen übergegangen +– sah mit einem Blick zu Ordynoff auf, unter +dem in seinem Inneren irgend etwas mit schneidendem +Schmerz zerriß und von dem es ihn mit Eiseskälte +überlief. +</p> + +<p> +„Was? er wird mich ermorden, meinst du?“ stieß +Ordynoff hervor, außer sich vor Wut. +</p> + +<p> +Und als hätte ihm ein Dämon etwas ins Ohr geflüstert +– begriff er sie plötzlich ... und sein ganzes +Herz lachte gellend dazu. +</p> + +<p> +„So werde ich dich denn kaufen, du Schöne, von +deinem Kaufmann, wenn du meine Seele verlangst! +Sei ruhig, nicht er wird morden! ...“ +</p> + +<p> +Das starre Lachen, das nicht aus ihrem Gesicht +wich, wurde ihm fürchterlich. Der grenzenlose Hohn +ihres Spottlächelns marterte ihm das Herz. Er wußte +nicht mehr, was in ihm vorging, und was er fast mechanisch +tat: er stützte sich an die Wand und nahm +von einem Nagel einen altertümlichen kostbaren Dolch. +Ein Ausdruck wie Verwunderung glitt über Katherinas +Züge; zugleich jedoch trat der Ausdruck von Haß +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +und Verachtung mit solcher Stärke in ihre Augen, daß +er alles andere darüber vergessen ließ. Ordynoff sah +sie an und ihm schwindelte ... Es war ihm, als zerre +jemand an seiner Hand, die sich zu einer unsinnigen +Tat erheben wollte, und als sei ein fremder Trieb in +ihr. Er zog das Messer aus der Scheide ... Katherina +folgte regungslos, wie in atemloser Spannung, +seiner Bewegung ... +</p> + +<p> +Er sah auf den Alten ... +</p> + +<p> +Da schien es ihm plötzlich, als ob ein Augenlid des +Alten sich langsam hebe und als ob durch die Wimpern, +lauernd, ein Auge ihn lächelnd ansehe. Ihre +Blicke begegneten einander, Auge ruhte in Auge. Minutenlang +sah Ordynoff ihn an, ohne zu zucken ... +Plötzlich aber schien es ihm, daß das ganze Gesicht des +Alten lache und ein teuflisches Gelächter, das ihn eisig +überlief und erstarren machte, im Zimmer erschallte. +Ein scheußlicher nachtschwarzer Gedanke kroch wie eine +Schlange durch sein Gehirn. Er erzitterte: das Messer +entfiel seiner Hand und klirrte auf die Diele. Katherina +schrie auf, wie aus einem Traume erwachend, +wie nach einem furchtbaren Alb, und doch noch im +Bann des Schreckbildes ... Der Alte erhob sich langsam, +mit bleichem Gesicht, und stieß voll Ingrimm mit +dem Fuß das Messer in die Ecke des Zimmers. Katherina +stand totenblaß neben dem Bett und rührte sich +nicht. Ihre Augen schlossen sich; ein dumpfer, unerträglicher +Schmerz drückte sich in ihren Zügen aus; sie +bedeckte das Gesicht mit den Händen und mit einem +erschütternden Aufschrei warf sie sich dem Alten zu +Füßen ... +</p> + +<p> +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +„Aljoscha! Aljoscha!“ rang es sich in äußerster +Verzweiflung aus ihrer Seele. +</p> + +<p> +Der Alte umfing sie mit seinen mächtigen Armen +und erdrückte sie fast an seiner Brust. Als sie aber ihren +Kopf so an ihn schmiegte, da lachte jeder Zug, jede +Runzel im Gesicht des Alten ein so schamloses, entblößtes +nacktes Lachen, daß Ordynoff nur fühlte, wie +kaltes Entsetzen ihn ergriff. Betrug, Berechnung, eifersüchtige +Tyrannei und Vergewaltigung dieses armen, +dieses zerrissenen Herzens – das war es, was +er an dem schamlosen Lachen begriff. +</p> + +<p> +„Wahnsinnige!“ flüsterte er erschauernd, von Entsetzen +geschüttelt, und stürzte hinaus. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-6"> +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +VI. +</h3> + +</div> + +<p class="noindent"> +Als Ordynoff am nächsten Morgen, noch blaß und +erregt von dem Erlebnis der Nacht, gegen acht Uhr +bei Jaroslaw Iljitsch eintrat – zu dem er übrigens +aus einem ihm selbst völlig unklaren Grunde gegangen +war – blieb er starr vor Überraschung auf der +Schwelle stehen: denn im Zimmer erblickte er – Murin. +Der Alte war noch bleicher als Ordynoff und +schien sich vor Krankheit kaum auf den Füßen halten +zu können, weigerte sich jedoch, trotz aller Aufforderungen +Jaroslaw Iljitschs, der über den Besuch offenbar +sehr erfreut war, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. +Als Jaroslaw Iljitsch Ordynoff erblickte, entfuhr ihm +ein Ausruf freudiger Überraschung, doch schon im +nächsten Augenblick wich seine Freude einer recht merkbaren +Verwirrung, die ihn ganz plötzlich überkam, so +daß er mitten auf dem Wege zum nächsten Stuhl, den +er wohl Ordynoff hatte anbieten wollen, ratlos stehen +blieb. Man sah es ihm an, daß er nicht wußte, was +er sagen oder tun sollte und daß er es zugleich als unpassend +empfand, in dieser schwierigen Lage seine türkische +Pfeife weiter zu rauchen. Trotzdem aber – so +groß war seine Verwirrung – zog er in vollen Zügen +den Rauch aus seinem Pfeifenrohr und zwar noch viel +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +häufiger und heftiger, als es sonst seine Art war. Inzwischen +trat Ordynoff ins Zimmer. Er warf einen +flüchtigen Blick auf Murin und bemerkte in dessen Gesicht +etwas Ähnliches wie das boshafte Lächeln vom +letzten Abend, das Ordynoff auch jetzt wieder erbeben +machte vor Wut und Empörung. Übrigens verschwand +alles Feindliche sofort aus Murins Zügen und sein +Gesicht nahm den Ausdruck vollständiger Verschlossenheit +und Gelassenheit an. Langsam machte er eine sehr +tiefe Verbeugung vor seinem Mieter ... Diese kurze +Szene hatte indes das Gute, daß sie Ordynoff vollends +zur Besinnung brachte. Er sah Jaroslaw Iljitsch +mit scharfem Blick aufmerksam an, wie um aus +dessen Antlitz sich Aufschluß über den Sachverhalt zu +verschaffen. Jaroslaw Iljitsch freilich schien dieser +forschende Blick äußerst peinlich zu sein. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, treten Sie doch näher, teuerster +Wassilij Michailowitsch,“ brachte er endlich verwirrt +hervor, „ich bitte Sie dringend, beehren Sie mich +mit Ihrem Besuch ... Geben Sie diesen meinen einfachen +Sachen hier ... die Weihe, indem Sie ihnen, +wie gesagt, die Ehre antun ... wie gesagt ...“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch geriet mit seinen Gedanken und +Worten in einige Unordnung, verlor den Faden, wurde +bis über die Ohren rot vor Verwirrung und auch vor +Ärger darüber, daß die schöne Phrase mißlungen war +und daß er sie somit umsonst ausgespielt, sie für immer +verdorben hatte. Mit Gepolter rückte er deshalb +einen Stuhl bis mitten ins Zimmer. +</p> + +<p> +„Ich werde Sie nicht lange aufhalten, Jaroslaw +Iljitsch, ich wollte nur ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +„Aber ich bitte Sie! Sie und mich aufhalten – +Wassilij Michailowitsch! ... Doch – nicht wahr – +ein Glas Tee? He! Bedienung! ... Und Sie, versteht +sich, werden doch auch nicht ein Glas ablehnen!“ +</p> + +<p> +Murin nickte nur mit dem Kopf, wodurch er wohl +zu verstehen gab, daß er das Angebot ganz selbstverständlich +fand. +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch schnauzte zunächst den eingetretenen +Diener wegen seiner angeblichen Saumseligkeit +an und bestellte dann in strengem Tone noch drei Glas +Tee, worauf er sich auf den nächsten Stuhl neben Ordynoff +niederließ. Nachdem er sich gesetzt, drehte er +den Kopf wie eine Pappkatze bald nach rechts, bald +nach links, sah von Murin zu Ordynoff und von Ordynoff +zu Murin. Seine Lage war keineswegs angenehm. +Offenbar wollte er etwas sagen, etwas vielleicht +äußerst Kitzliges, wenigstens für den einen Teil; +doch ungeachtet aller seiner Gedankenanstrengungen +brachte er nichts über die Lippen ... Ordynoff schien +auch nicht recht zu wissen, was er sagen, und noch viel +weniger, was er denken sollte. Es gab einen Augenblick, +wo sie plötzlich beide zugleich anfangen wollten. +... Währenddessen hatte der schweigsame Murin Zeit, +sie aufmerksam zu beobachten und in sein Gesicht wieder +den Ausdruck der Ruhe zu bringen ... +</p> + +<p> +„Ich bin gekommen, um Ihnen mitzuteilen,“ begann +plötzlich Ordynoff, „daß ich mich infolge eines +unangenehmen Zwischenfalls gezwungen sehe, meine +Wohnung zu verlassen, und ...“ +</p> + +<p> +„Ja denken Sie sich!“ unterbrach ihn Jaroslaw +Iljitsch. „Ich war, offen gestanden, baff, als mir dieser +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +ehrenwerte Mann hier von Ihrem Entschluß Mitteilung +machte. Aber ...“ +</p> + +<p> +„Wie, <em>er</em> hat es Ihnen bereits mitgeteilt?“ fragte +Ordynoff verwundert, und blickte auf Murin. +</p> + +<p> +Dieser strich sich über den Bart und lächelte vor +sich hin. +</p> + +<p> +„Ja, was sagen Sie dazu!“ fuhr Jaroslaw Iljitsch +fort. „Übrigens – oder habe ich da vielleicht +was mißverstanden? Jedenfalls muß ich sagen, daß +– ich versichere Sie bei meiner Ehre! – daß in seinen +Worten auch nicht der Schatten einer Sie kränkenden +Äußerung enthalten gewesen ist ...“ +</p> + +<p> +Und Jaroslaw Iljitsch errötete hierbei und vermochte +nur mit Mühe seine Erregung niederzuhalten. +Murin, der sich an der Verwirrung Jaroslaw Iljitschs +und seines Gastes inzwischen genugsam ergötzt zu haben +schien, hielt es nun wohl für angemessen, auch mit +der Sprache herauszurücken, und trat einen Schritt +vor. +</p> + +<p> +„Ich habe dieserhalb, Euer Wohlgeboren,“ begann +er langsam, sich nach Bauernart vor Ordynoff +verneigend, „Eure Wohlgeboren zu belästigen gewagt. +Es ist nun mal so, Herr, es kommt schon so heraus – +Sie wissen doch selber: wir – wollte sagen ich und +meine Hausfrau – wir wären ja mehr als froh und +würden auch kein Wort dawider reden ... Aber – +was soll man da viel sagen – was hab’ ich denn für +eine Wohnung, das wissen und sehen Sie doch selbst, +Herr! Und was haben wir denn überhaupt – grad +nur so viel, daß man satt wird, wofür wir denn auch +genugsam dem Schöpfer danken und zu ihm beten, und +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +ihn bitten, er möge uns seine Gnade auch fernerhin +in diesem Maße zuteil werden lassen. Aber sonst, Herr, +Sie sehen doch selbst, wie’s ist, was soll man da viel +reden?“ Und Murin wischte sich nach echter Bauernart +mit dem Ärmel ruhig den Bart. +</p> + +<p> +Ordynoff fühlte nur, wie ihn Ekel erfaßte. +</p> + +<p> +„Ja, es ist wahr, ich habe Ihnen auch schon von +ihm erzählt: er ist krank, tatsächlich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ce malheur</span> ... +das heißt, Verzeihung, ich wollte ... ich beherrsche die +französische Sprache nicht vollkommen, aber wie gesagt +...“ +</p> + +<p> +„Ja, wie ...“ +</p> + +<p> +„Ja eben, wie gesagt ... das heißt ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff und Jaroslaw Iljitsch machten sich gegenseitig +so etwas wie eine halbe Verbeugung, natürlich +ohne sich deshalb von den Stühlen zu erheben, und +Jaroslaw Iljitsch suchte das entstandene kleine Mißverständnis +mit einem entschuldigenden Lachen zu verwischen, +fuhr jedoch sogleich wieder fort: +</p> + +<p> +„Übrigens habe ich mich soeben ausführlich bei +ihm erkundigt, und wie er mir erklärte – und ich +glaube ihm, da ich ihn als Ehrenmann kenne, aufs +Wort! – daß die Krankheit jenes ... jungen Weibes +...“ +</p> + +<p> +Hier sah der gewissenhafte Jaroslaw Iljitsch – +vermutlich um einen kleinen Zweifel zu beseitigen, der +sich wieder auf Murins Gesicht gezeigt hatte, mit fragendem +Blick zu ihm auf. +</p> + +<p> +„Nun ja, unserer Hausfrau ...“ +</p> + +<p> +Der zartfühlende Jaroslaw Iljitsch begnügte sich +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +sogleich mit der ihm zuteil gewordenen Erklärung und +fuhr schnell fort: +</p> + +<p> +„... Ihrer Hausfrau – das heißt, jetzt ist sie es +ja nicht mehr, aber sie war es – also Ihrer ... das +heißt, pardon, ich weiß nicht ... nun ja! Sehen Sie, +sie ist eben krank und dem müssen Sie Rechnung tragen. +Sie sagt, sie störe Sie ... in Ihrer Beschäftigung, +und auch er ... Sie haben mir nämlich einen +wichtigen Zwischenfall verschwiegen, Wassilij Michailowitsch!“ +</p> + +<p> +„Welch einen?“ +</p> + +<p> +„Ja – das mit der Flinte,“ sagte in der schonendsten +Weise flüsternd Jaroslaw Iljitsch, wobei nur ein +verschwindender Bruchteil, höchstens ein Milliontel +eines Vorwurfs aus dem zart-freundschaftlichen Tonfall +seiner Tenorstimme herauszuhören war. +</p> + +<p> +„Aber,“ fügte er schnell hinzu, „jetzt, wo ich alles +weiß – er hat mir nämlich den ganzen Vorgang erzählt +– kann ich Ihnen nur sagen, daß es von Ihnen +höchst anständig und anerkennenswert war, ihm seine +unbedachte Tat zu verzeihen. Ich schwöre Ihnen, ich +sah Tränen in seinen Augen, als er davon sprach! ...“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch errötete wieder ein wenig; seine +Augen glänzten und er rückte zufrieden seinen Stuhl +und sich selbst etwas von der alten Stelle. +</p> + +<p> +„Ich, wollte sagen, wir, Herr, Euer Wohlgeboren, +will sagen ich und meine Hausfrau, wie beten wir für +Euch zu Gott,“ begann wieder Murin, sich an Ordynoff +wendend – während Jaroslaw Iljitsch noch +wie gewöhnlich seine Erregung niederkämpfte – und +er sah ihn dabei unverwandt an, „aber Ihr wißt doch +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +selbst, Herr, sie ist ein krankes, dummes Weib; und +mich wollen die Füße auch nicht so recht mehr tragen +...“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie,“ unterbrach ihn Ordynoff ungeduldig, +„ich bin ja bereit, meinetwegen sofort! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Herr, will sagen, wir wären ja mit Verlaub, +mit Euer Wohlgeboren mehr als zufrieden.“ +(Murin verbeugte sich wieder äußerst tief.) „Ich, Herr, +ich rede nicht davon; ich wollte nur ein Wort noch +sagen – sie ist doch, Herr, fast verwandt mit mir, +wenn auch nicht nah, sondern nur so wie man beispielsweise +zu sagen pflegt, etwa durch sieben Scheffel +Erbsen, will sagen, Euer Wohlgeboren mögen uns +unsere einfache Ausdrucksweise zugute halten, wir +sind niedrige Leute – aber sie ist ja schon von Kindheit +an so! Eigenwillig, im Walde aufgewachsen, nur +unter den Barkenknechten und Fabrikarbeitern. Und +da brannte dann noch das Haus nieder; und ihre Mutter, +Herr, verbrannte; und auch der Vater verbrannte +– aber sie selbst, Herr, erzählt das doch Gott weiß +wie ... Ich will ihr nur nicht widersprechen, aber in +Moskau haben die größten Ärzte sie untersucht, ein +ganzes Kon... Konsilium, wie sie sagen ... doch +nichts war zu machen, Herr, sie ist ganz unheilbar, das +ist es! Ich allein bin ihr noch geblieben, und so lebt +sie denn bei mir ... will sagen, so leben wir denn +beide, beten zu Gott und hoffen auf seine Allmacht; +sonst aber – mag sie reden, was sie will, ich widerspreche +ihr schon gar nicht mehr ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff erbleichte. Jaroslaw Iljitsch sah wieder +bald den einen, bald den anderen an. +</p> + +<p> +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +„Aber ich wollte nicht davon reden, Herr ... nein!“ +fuhr Murin fort und schüttelte ernst das Haupt. „Sie +ist nun einmal so, will sagen, von so heißblütigem +Schlage, das Köpfchen stürmisch, liebevoll und liebebedürftig, +ist wie’n Wirbelwind, hat alleweil Verlangen +nach einem lieben Freunde, will immer – wenn +ich mit Verlaub Euer Gnaden so sagen darf –, daß +man ihrem Herzen einen Geliebten gebe; das ist eben +ihre Verrücktheit. So erzähle ich ihr denn Märchen, +um sie abzulenken und zu zerstreuen. Das ist nun mal +so. Aber ich hab’ ja doch, Herr, gesehen, wie sie – verzeiht +schon, Herr, mein dummes Wort,“ entschuldigte +Murin sich mit einer Verbeugung und indem er wieder +mit dem Ärmel den Bart vom Munde nach links und +rechts wischte, „wie sie beispielsweise mit Euer Gnaden +näher bekannt geworden ist, will sagen, um beispielsweise +zu reden, daß Sie, halten zu Gnaden, beispielsweise +bezüglich der Liebe sich ihr zu nähern +wünschten ...“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch wurde feuerrot und blickte vorwurfsvoll +auf Murin. Ordynoff bezwang sich so weit, +daß er äußerlich ruhig auf seinem Stuhl sitzen blieb. +</p> + +<p> +„Nein ... will sagen, ich, Herr, ich wollte nicht +davon reden ... ich bin, halten zu Gnaden, nur ein +einfacher Bauer, Herr ... wir sind niedrige Leute, sind +unwissend und ungebildet, Herr, sind Eure Diener.“ +Er machte wieder eine tiefe Verbeugung. „Und wie +werden wir, ich und mein Weib, für Euer Gnaden beten! +... Worüber hätten wir auch zu klagen? – +wenn man nur immer satt wird und gesund bleibt, +dann ist man schon zufrieden. Aber was soll ich denn, +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +Herr, tun? – soll ich freiwillig den Kopf in die +Schlinge stecken! Ihr wißt doch, Herr, das ist eine Lebensfrage, +habt Mitleid mit uns, das würde ja sein +wie mit einem Liebhaber! ... Halten zu Gnaden, +Herr, mein grobes Wort ... bin ein Bauer und Ihr +seid ein Herr ... Aber Euer Gnaden sind eben ein +junger, stolzer, heißer Mensch, sie aber, Herr, Ihr wißt +doch selbst, ist noch ein Kind, jung und unvernünftig +– wie weit ist es denn da mit ihr bis zur Sünde! +Sie ist ja gewiß ein frisches, rosiges, liebes Weib, und +mich Alten plagt immer die Krankheit. Nun was? Wie +man sieht, muß der Teufel Euer Gnaden schon arg +umgarnt haben! Ich zerstreue sie schon immer mit +Märchen und ähnlichen Geschichten, zerstreue sie wirklich! +... Und wie wir für Euer Gnaden beten würden! +will sagen, wirklich von Herzensgrunde! ... Und +was finden denn Euer Gnaden an ihr? Wenn sie auch +schön ist, sie bleibt doch eine Bäuerin, ein einfaches +Weib, das zu mir, dem einfachen Bauern paßt! Euch +aber, Herr, steht es doch nicht an, sich mit Bäuerinnen +abzugeben! Und wie wir doch für Euer Gnaden beten +werden, wirklich von Herzensgrunde! ...“ +</p> + +<p> +Und Murin neigte sich von neuem tief, tief und +blieb lange in dieser untertänigst ergebenen Stellung, +während er zugleich unausgesetzt mit dem Ärmel den +Bart vom Munde zu den Seiten strich. Jaroslaw Iljitsch +wußte kaum noch, wo er sich lassen sollte. +</p> + +<p> +„Ja ... tja, der gute Mann,“ begann er, nur so, +um etwas zu sagen, „erzählte mir da auch so einiges +... wie gesagt, es scheint eben doch nicht so weiter zu +gehen. Nur, bitte, denken Sie deshalb nicht, bester +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +Wassilij Michailowitsch, daß ich mir da ... vielleicht +irgendwelche Gedanken zu machen erlaube! ... Wie +gesagt,“ unterbrach er sich schnell, „ich hörte, Sie seien +noch immer krank?“ fragte er teilnehmend und sah +Ordynoff vor lauter Verlegenheit mit förmlich bittendem +Blick an. +</p> + +<p> +„Wie viel bin ich Ihnen schuldig?“ fragte Ordynoff +schnell, sich an Murin wendend. +</p> + +<p> +„Wie denn, Herr! Wir sind doch keine Räuber! +Euer Gnaden werden uns doch nicht beleidigen wollen! +Nein, Herr, Euer Wohlgeboren sollten sich schämen, +– wodurch haben wir denn Euer Gnaden gekränkt? +Ich bitte!“ +</p> + +<p> +„Aber ... einstweilen – erlauben Sie mal, mein +Freund: so geht das doch auch nicht! Er war immerhin +Ihr Mieter – ja, fühlen Sie denn nicht, daß umgekehrt +Sie ihn durch Ihre Weigerung, eine Entschädigung +dafür anzunehmen, empfindlich kränken, ja gewissermaßen +sogar beleidigen?“ legte sich Jaroslaw +Iljitsch ins Mittel, da er es für seine Pflicht hielt, +Murin die peinliche Seite seiner Handlungsweise zu +Bewußtsein zu bringen. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte, Herr! Wie kommen Euer Wohlgeboren +nur darauf? Erbarmen Sie sich! Inwiefern +sind wir denn Eurer Ehre zu nahe getreten? Haben +uns doch redlich und weidlich bemüht, alles zu tun, +was in unseren Kräften steht! Laßt es gut sein, Herr, +Gott verzeihe Euch! Sind wir denn Heiden oder Wegelagerer? +Wir hätten ja nichts dawider, mag er bei +uns leben, unser einfaches Essen mit uns teilen und +es zur Gesundheit verzehren, – mag er, mag er – +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +wir würden ja nichts dawider sagen und ... kein Wort +reden; aber da hat nun der Teufel seine Hand im +Spiel, ich bin ein kranker Mensch und auch sie ist +ein krankes Weib – was soll man da tun! Es ist +niemand zum Bedienen da, sonst aber wären wir ja +von Herzen froh. Und wie wir doch für Euer Gnaden, +Herr, beten werden, will sagen, wie inbrünstig beten!“ +</p> + +<p> +Murin neigte sich wieder tief vor Ordynoff. Jaroslaw +Iljitsch war vor lauter Anteilnahme geradezu +gerührt und wandte seinen Blick fast stolz Ordynoff +zu. +</p> + +<p> +„Was sagen Sie dazu, ist das nicht ein edler Zug!“ +rief er begeistert aus. „Ist es nicht ein heiliges Gefühl +der Gastfreundschaft, das in unserem russischen +Volke schlummert!“ +</p> + +<p> +Ordynoff sah ihn wild an und maß ihn vom Kopf +bis zu den Füßen mit einem Blick, in dem fast Entsetzen +sich ausdrückte. +</p> + +<p> +„Ja, so ist es wirklich, Herr, Gastfreundschaft ist +uns heilig, und wie!“ bestätigte Murin, und wieder +wischte der Ärmel den Bart vom Munde nach links +und rechts, „und da kommt mir soeben ein Gedanke: +der Herr war bei uns eben nur zu Gast, bei Gott, nur +zu Gaste,“ fuhr er fort, indem er sich Ordynoff näherte, +„und es wäre ja alles gut, Herr, – nun, beispielsweise +einen Tag, sagen wir, noch einen – ich +würde ja wirklich nichts dawider haben. Aber die +Sünde verführt, und meine Hausfrau ist nun einmal +nicht ganz gesund. Ja, wenn sie nicht wäre! – will +sagen, wenn ich beispielsweise allein leben würde! – +oh, wie würde ich da Euer Gnaden dienen und alles +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +zu Gefallen tun! – will sagen, das steht ja ganz außer +Frage! Wen sollten wir denn achten, wenn nicht +Euer Gnaden? Und ich würde Euch schon gesund machen, +Herr, wirklich, ich kenne ein Mittel ... Nur +zu Gaste seid Ihr bei uns gewesen, Herr, bei Gott, da +habt Ihr mein Wort darauf, wirklich nur zu Gaste! +...“ +</p> + +<p> +„Nein in der Tat, gibt es nicht ein solches Mittel?“ +bemerkte Jaroslaw Iljitsch ... brach aber kurz +ab und wandte sich schleunigst zur Seite. +</p> + +<p> +Ordynoff hatte ihm entschieden unrecht getan, als +er ihn mit so wilder Verwunderung maß. +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch war natürlich einer der ehrlichsten +und anständigsten Menschen, doch jetzt, wo er +endlich alles begriffen hatte, war seine Lage allerdings +eine äußerst schwierige. Er wollte, wie man so +sagt, einfach bersten vor Lachen! Wäre er mit Ordynoff +allein gewesen, so hätte er sich selbstverständlich +(zwei so gute Freunde unter sich!) nicht bezwungen +und sich rückhaltlos dem Ausbruch seiner Heiterkeit +hingegeben. Jedenfalls hätte er, eben wie ein im Grunde +anständiger Kerl, voll Mitempfinden Ordynoff die +Hand gedrückt, hätte ihm aufrichtig und wahrheitsgemäß +versichert, daß er ihn nun noch doppelt achte und +es unter allen Umständen verzeihlich finde, daß usw. +... Jugend bliebe eben Jugend. Doch in Murins Gegenwart +war das natürlich ausgeschlossen: und so befand +er sich denn in einer so peinlichen Lage, daß er +nicht wußte, wohin er mit sich sollte ... +</p> + +<p> +„Ein Mittel, will sagen, ein Heilmittel,“ versetzte +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +Murin, dessen ganzes Gesicht nach dem ungeschickten +Zwischenruf Jaroslaw Iljitschs ins Zucken geriet. +</p> + +<p> +„Ich, Herr, ich würde in meiner Dummheit, das +heißt, bei meinem bäuerischen Unverstand, nur das sagen,“ +fuhr er fort, wieder einen Schritt näher tretend: +„Bücher, Herr, habt Ihr arg viel gelesen; ich sage +auch: klug seid Ihr sehr, seid sogar arg klug geworden +und Euer Verstand ist arg gewachsen; aber nun, wie +man bei uns Bauern zu sagen pflegt, nun ist der Verstand +da angelangt, wo er stille steht ...“ +</p> + +<p> +„Genug! hören Sie auf!“ unterbrach ihn Jaroslaw +Iljitsch in strengem Ton. +</p> + +<p> +„Ich gehe,“ sagte Ordynoff. „Ich danke Ihnen, +Jaroslaw Iljitsch. Gewiß, gewiß, ich werde Sie besuchen, +nächstens,“ versprach er noch schnell, der Aufforderung +zuvorkommend, da sie schon in der Gebärde +lag, mit der ihn Jaroslaw Iljitsch zurückzuhalten suchte. +„Leben Sie wohl ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff hörte nichts mehr. Halb wahnsinnig verließ +er das Zimmer. +</p> + +<p> +Er war wie zerschlagen und alles Denken war in +ihm erstarrt. Er hatte eigentlich nur die dumpfe Empfindung +seiner Krankheit, doch zugleich erfaßte ihn eine +kalte Verzweiflung, die ihn den einen, kaum bewußt gefühlten +Schmerz in der Brust vergessen ließ. Er dachte +an den Tod, dachte, daß es das beste wäre, jetzt schnell +zu sterben. Seine Füße versagten ihm den Dienst und +er setzte sich auf eine Bank an einem Zaun, ohne den +Vorübergehenden irgendwelche Beachtung zu schenken: +allen den Leuten, die sich nach und nach um ihn zu +versammeln begannen, ihn teils neugierig und mitleidig +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +betrachteten, teils Fragen an ihn stellten und sich +besorgt ereiferten. Da vernahm er plötzlich durch das +Stimmengewirr Murins Stimme, die ihn wie aus +einem Traum schreckte, und er sah auf. Der Alte stand +neben ihm: sein bleiches Gesicht war ernst und nachdenklich. +Das war ein ganz anderer Mensch, als der, +der sich bei Jaroslaw Iljitsch in so frecher Weise über +ihn lustig gemacht hatte. Ordynoff erhob sich und Murin +faßte ihn am Arm und führte ihn aus der Menge. +</p> + +<p> +„Du mußt noch deine Habseligkeiten mitnehmen,“ +sagte er, indem er Ordynoff flüchtig von der Seite ansah +und seinen Arm wieder freigab. „Sei nicht traurig, +Herr!“ versuchte er ihn zu ermuntern. „Du bist jung, +wozu da trauern! ...“ +</p> + +<p> +Ordynoff schwieg. +</p> + +<p> +„Bist gekränkt, Herr? Ärgerst dich also ... aber +worüber denn? Jeder verteidigt sein Gut!“ +</p> + +<p> +„Ich kenne Sie nicht,“ stieß Ordynoff hervor, „und +Ihre Geheimnisse gehen mich nichts an. Aber sie, sie!“ +rief er, und Tränen entströmten seinen Augen und +rollten über seine Wangen, doch der Wind trocknete sie +schnell ... Ordynoff hob die Hand, wie um sie fortzuwischen. +– Aber seine Geste, sein Blick, die unwillkürliche +Bewegung seiner bebenden bläulichen Lippen +– alles schien darauf hinzudeuten, daß sein Geist nicht +lange mehr widerstandsfähig war und er dem Wahnsinn +verfallen sein mochte. +</p> + +<p> +„Ich habe dir doch schon erklärt,“ sagte Murin, die +Brauen zusammenziehend, „sie ist eine Halbirrsinnige! +Wodurch und wie sie irrsinnig wurde ... wozu brauchst +du das zu wissen? Mir ist sie auch so – das, was sie +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +mir ist! Ich habe sie liebgewonnen mehr als mein Leben +und werde sie niemand abtreten. Begreifst du jetzt!“ +</p> + +<p> +In Ordynoffs Augen flammte es auf. +</p> + +<p> +„Aber warum,“ stieß er hervor, „warum ist mir +denn nun, als hätte ich mein Leben verloren? Warum +schmerzt denn <em>mein</em> Herz? Warum mußte ich Katherina +kennen lernen?“ +</p> + +<p> +„Warum?“ wiederholte Murin mit kurzem Auflachen, +ward aber sogleich ernst und nachdenklich. „Ja, +warum – das weiß ich auch nicht,“ murmelte er endlich. +„Weibersinn ist schließlich kein Meeresgrund, erforschen +kann man ihn schon, aber! ... Was sie wollen, +das muß man ihnen geben – ob sie’s mit List, Beharrlichkeit +oder Zähheit verlangen – aber geben muß +man’s ihnen, als hätte man es nur aus der Tasche zu +nehmen und hinzulegen. Da ist es denn wohl wahr, +Herr, daß sie mit Ihnen von mir weggehen wollte,“ +fuhr er nachdenklich fort. „Sie verschmähte den Alten, +nachdem sie mit ihm alles erlebt, was man erleben +kann! Da müssen Sie ihr anfangs arg in die Augen +gestochen haben! Oder war’s nur so – ob Sie, ob ein +anderer ... Ich verbiete ihr ja nichts, lasse ihr in +allem ihren Willen. Und sollte sie Vogelmilch verlangen +– ich verschaffe ihr auch Vogelmilch, werde selbst +den Vogel erschaffen, wenn es einen solchen noch nicht +gibt! Eitel ist sie! Nach Freiheit strebt sie und dabei +weiß sie selbst nicht, was das Herz will. Und da hat es +sich denn jetzt herausgestellt, daß es am besten doch wieder +beim alten bleibt! Ach, Herr! Jung bist du, noch +arg jung! Dein Herz ist heiß wie das Herz eines jungen +Mädchens, das sich noch mit dem Ärmel die Tränen +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +trocknet, wenn es sich vom Liebsten verlassen sieht. +Höre, Herr, was ich dir sage: ein schwacher Mensch +kann sich allein nicht halten! Gib ihm alles, was du +willst – er wird dir freiwillig alles wieder zurückgeben, +und wenn du ihm auch das halbe Erdreich schenkst und +sagst: ‚Nimm und herrsche!‘ – was meinst du, was er +tut? – in den Stiebel kriecht er und versteckt sich, so +klein macht er sich! Und so ist es auch mit dem freien +Willen: gibst du ihn ihm, dem schwachen Menschen, +so wird er ihn selbst binden und ihn dir zurückgeben. +Dummen Herzen nützt Freiheit nichts. Sie wissen damit +nichts anzufangen. Ich sage dir das nur so – bist +noch arg jung! Sonst aber – was gehst du mich an? +Gekommen, gegangen – ob du oder ein anderer: bleibt +sich gleich. Ich hab’s ja schon von Anfang an gewußt, +wie es kommen würde. Sich widersetzen, das hilft da +nichts. Kein Wort darf man dawider sprechen, wenn +man sein Glück bewahren will. Es ist doch, Herr,“ fuhr +Murin fort, in seiner Art zu philosophieren, „gewöhnlich +alles nur so ... gesagt: bis zum Ausführen hat’s +noch eine gute Weile. Aber schließlich – was kann +nicht vorkommen? Im Zorn ist auch das Messer zur +Hand, oder wenn nicht, dann geht es auch unbewaffnet +mit den Zähnen dem Feinde an die Gurgel! Wird +dir aber offen das Messer angeboten und dein Feind +entblößt vor dir seine breite Brust – da wirst du wohl +zurücktreten!“ +</p> + +<p> +Sie traten auf den Hof. Der Tatar, der sie schon +von weitem hatte kommen sehen, nahm vor ihnen die +Mütze ab und betrachtete Ordynoff mit listiger Neugier. +</p> + +<p> +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +„Wo ist deine Mutter? Zu Haus?“ wandte sich +Murin barsch an ihn. +</p> + +<p> +„Zu Haus.“ +</p> + +<p> +„Sag ihr, daß sie seine Sachen herunterschleppen +soll. Und auch du, marsch! rühr dich!“ +</p> + +<p> +Sie stiegen die Treppe hinauf. Die Alte, die bei +Murin diente und die, was Ordynoff noch nicht gewußt +hatte, die Mutter des Hausknechtes war, trug +seine Habseligkeiten brummend zusammen und band +sie in ein großes Bündel. +</p> + +<p> +„Warte; ich bringe dir noch etwas, was dir gehört +...“ +</p> + +<p> +Murin ging in sein Zimmer, kam aber sogleich wieder +zurück und händigte Ordynoff ein mit Seide und +Perlen reich gesticktes Kissen ein, dasselbe, das Katherina +ihm unter den Kopf gelegt hatte, als er krank +wurde. +</p> + +<p> +„Das schickt sie dir,“ sagte er. „Jetzt gehe mit Gott, +aber sieh zu, daß du auf dich acht gibst,“ fügte er halblaut +in väterlichem Tone hinzu, „sonst kann es schlimm +werden.“ +</p> + +<p> +Augenscheinlich wollte er ihm beim Abschied nicht +weh tun. Als aber Ordynoff bereits aus der Tür trat +und er den letzten Blick auf ihn warf, da war es doch +wie ein Aufflammen unendlicher Bosheit, das sich in +seinem Blick verriet. Fast wie mit Ekel schloß Murin +hinter ihm die Tür. +</p> + +<p> +Zwei Stunden darauf zog Ordynoff zu Spieß, dem +Deutschen. Tinchen schlug die Hände zusammen und +rief „Mein Gott und Vater!“ als sie ihn erkannte. Das +erste war, daß sie sich nach seiner Gesundheit erkundigte, +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +und als sie erfuhr, daß er krank war, schickte sie sich +sogleich an, ihn zu kurieren. +</p> + +<p> +Der alte Spieß erzählte ihm darauf mit Selbstzufriedenheit, +daß er gerade im Begriff gewesen sei, den +Mietszettel wieder unten am Haustor auszuhängen, da +dies genau der letzte Tag sei, an dem seine Anzahlung +der Miete ablaufe. Natürlich konnte der Alte nicht +umhin, bei der Gelegenheit ein Wörtchen über den +deutschen Ordnungssinn im allgemeinen wie im besonderen +einzuflechten und desgleichen auch die bekannte +deutsche Ehrlichkeit rühmend hervorzuheben. Am selben +Tage erkrankte Ordynoff ernstlich und erst nach +vollen drei Monaten konnte er das Bett verlassen. +</p> + +<p> +Seine Genesung machte nur sehr langsame Fortschritte. +Das Leben bei den Deutschen verging einförmig, +ruhig, still. Der Alte schien im Grunde ein Gemütsmensch +zu sein, ohne besondere Eigenheiten, und +das nette Tinchen war, natürlich innerhalb der Gebote +der Sittsamkeit, alles, was man nur wünschen konnte. +Und doch erschien das Leben Ordynoff so öde und +farblos, als hätte es für ihn auf ewig alles Licht und +alle Farben verloren. Er versank in grübelndes Sinnen +und wurde reizbar; er war gleichsam preisgegeben den +Eindrücken, die er empfing und er empfand sie mit +krankhafter Nachdrücklichkeit. So kam es, daß er in +einen Zustand verfiel, der an Hypochondrie gemahnte +und schließlich sein Empfinden gegen äußere Eindrücke +völlig abstumpfte. Oft rührte er wochenlang kein Buch +an. Die Zukunft war für ihn aussichtslos, sein Geld +ging auf die Neige und er ließ schon im voraus die +Arme sinken; ja er dachte nicht einmal an die Zukunft. +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +Manchmal kam wohl seine frühere Liebe zur Wissenschaft +über ihn, das frühere Fieber, das ihn zum +Schaffen gedrängt hatte, und die Gedanken und Gestalten, +die einst in seinem Geist entstanden waren, erstanden +jetzt wieder aus der Vergangenheit und stellten +sich förmlich greifbar vor ihm auf ... doch sie bedrückten +ihn jetzt nur und lähmten seine Energie. Seine Gedanken +wurden nicht zu Taten. Die Kraft zur Schöpfung war +ausgeschaltet und so schien das Schaffen wie stehen geblieben. +Es war, als erständen alle diese Ideen jetzt nur +noch deshalb wie Giganten in seinem Geiste, um über +seine, ihres Schöpfers, Kraftlosigkeit zu spotten. Unwillkürlich +kam es ihm in einer traurigen Stunde in +den Sinn, sich mit jenem vorwitzigen Zauberlehrling +zu vergleichen, der, nachdem er von seinem Meister +den Zauberspruch erlauscht, dem Besen befiehlt, das +Wasser herbeizutragen, und der dann schließlich in +diesem Wasser ertrinkt, weil er vergessen hat, wie man +ihm Einhalt gebietet. Vielleicht, wer weiß, wäre von +ihm eine große, selbständige, neue Idee in die Welt gesetzt +worden. Vielleicht war es ihm bestimmt gewesen, ein +Großer in seiner Wissenschaft zu werden. Wenigstens +hatte er früher selbst so etwas geglaubt. Ein aufrichtiger +Glaube aber ist schon eine Bürgschaft für die Zukunft. +Jetzt jedoch lachte er über diesen seinen blinden +Glauben und – kam keinen Schritt vorwärts. Ein halbes +Jahr vorher war das anders gewesen: da hatte er in +klaren Zügen eine Skizze zu einem Werk entworfen, in +dem er seine Anschauungen festlegen wollte, und auf +dieses Werk hatte er, jung wie er war, die größten, +auch die größten materiellen Hoffnungen aufgebaut. +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +Das Werk war ein Buch über Kirchengeschichte und +Worte tiefster glühendster Überzeugung entströmten, +während er an ihm schrieb, seiner Feder. Jetzt nahm er +diesen Plan wieder vor, las ihn durch, änderte, dachte +über ihn nach, las und suchte in den verschiedensten +Büchern, und schließlich verwarf er seine Idee – verwarf +sie, ohne sie durch eine andere zu ersetzen. Dafür +begann so etwas wie Mystik, ja sogar so etwas wie ein +Glaube an Prädestination und ein Ahnen der letzten +Geheimnisse dieser Welt sich mehr und mehr in seine +Seele einzudrängen. Der Unglückliche litt unter seinen +unendlichen Qualen und wandte sich schließlich Gott zu, +um bei ihm Erlösung zu finden. Die Aufwärterin der +Deutschen, eine alte gottesfürchtige Russin, erzählte +mit Wohlgefallen, wie ihr stiller Mieter in der Kirche +bete und wie er zuweilen stundenlang regungslos auf +den Knien liege, die Stirn auf die Fliesen gebeugt ... +</p> + +<p> +Er hatte zu keinem Menschen ein Wort von seinem +Erlebnis gesagt. Zuweilen aber, namentlich in der +Dämmerung, wenn die Kirchenglocken läuteten und zur +Abendandacht riefen und ihr Klang in ihm wieder die +Erinnerung an jenen Augenblick erweckte ... als zum +erstenmal jenes Gefühl über ihn kam, das er noch nie +empfunden und das ihn erzittern ließ, während er, neben +ihr kniend, alles andere um sich her vergaß und +nur ihr Herz pochen hörte ... und wie da plötzlich +diese lichte Hoffnung mit einemmal sein einsames Leben +durchstrahlt hatte und er vor lauter Freude und Entzücken +in Tränen ausgebrochen war – wenn er das alles +jetzt nochmals durchlebte, dann war es ihm, als risse +ihn ein Sturm mit sich fort, ein Sturm, der sich aus +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +seiner eigenen, für immer verwundeten Seele erhob; +dann erzitterte er und die Qual der Liebe brannte wieder +wie sengendes Feuer in seiner Brust; dann tat ihm +das Herz vor Leid und Leidenschaft zum Zerspringen +weh und mit der Trauer wuchs seine Liebe, wurde noch +immer größer und tiefer. Oft saß er so, stundenlang, +vergaß sich selbst und sein ganzes alltägliches Leben, +vergaß alles in der Welt und saß stundenlang auf +einem Fleck, einsam, traurig – stützte dann wohl die +Ellbogen auf die Knie und bedeckte das Gesicht mit den +Händen, bis ihm die Tränen durch die Finger rannen +und er hoffnungslos müde den Kopf schüttelte, während +seine Lippen leise flüsterten: „Katherina! Du Süße! +Meine Taube du! Mein Schwesterchen! ...“ +</p> + +<p> +Nach und nach jedoch begann eine häßliche Überzeugung +sich immer mehr in ihm festzusetzen, ja sie verfolgte +ihn geradezu und peinigte ihn und stand doch mit +jedem Tage unabweisbarer vor ihm, bis sie aus einem +bloßen Verdacht zur Wahrscheinlichkeit und zu guter Letzt +zur Gewißheit und Überzeugung für ihn wurde. Es +schien ihm – und wie gesagt, zuletzt glaubte er selbst +fest daran – es schien ihm, daß Katherinas Geist und +Vernunft keineswegs gelitten hatten, daß aber Murin +seinerseits auch nicht so unrecht hatte, wenn er sie +ein „schwaches Herz“ nannte. Es schien ihm, daß irgendein +verbrecherisches Geheimnis sie mit dem Alten +verband, daß aber das Verbrechen selbst Katherina gar +nicht recht zu Bewußtsein gekommen, eben wegen ihres +reinen Herzens, und daß sie so in seine Gewalt geraten +war. Wer waren sie? – er wußte es nicht. Aber ihn +verfolgte die Vorstellung einer erbarmungslosen, eifersüchtigen +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +Tyrannei, die der Alte mit der Beherrschung +des armen schutzlosen Geschöpfs ausübte, und sein Herz +erbebte in ohnmächtiger Empörung. Es schien ihm, daß +der Alte, als ihr vielleicht einmal so etwas wie eine +Ahnung des ganzen Zusammenhangs aufgegangen war, +ihr dann arglistig das „Verbrechen“ vorgehalten hatte, +ihre Schuld und ihren Fall, um dann listig das arme +„<em>schwache</em>“ Herz zu quälen und den Tatbestand in +schlauer Weise zu verdrehen, wobei er mit Absicht ihre +Blindheit da, wo es ihm ratsam erschien, noch verstärkt +und andererseits die Neigungen ihres heißen, verwirrten, +unerfahrenen Herzens begünstigt haben mochte, bis +er ihr auf diese Weise allmählich die Flügel gestutzt und +die einst freie unabhängige Seele so weit gebracht, daß +sie schließlich weder zu einer Selbstbefreiung durch +eine Rettung ins wirkliche Leben, noch zu überhaupt +einer Auflehnung gegen seine schlaue Gewaltherrschaft +fähig war ... +</p> + +<p> +Mit der Zeit wurde Ordynoff noch menschenscheuer, +als früher, seine Deutschen hinderten ihn daran nicht +im geringsten, was um der Gerechtigkeit willen nicht +verschwiegen sei. Ab und zu aber machte er sich doch +auf und ging hinaus, um dann lange ziellos durch die +Straßen zu wandern. Es geschah das vornehmlich in +der Dämmerstunde und dazu suchte er sich dann öde +und entlegene Stadtteile auf, wo selten ein Mensch zu +sehen war. An einem regnerischen Vorfrühlingsabend +begegnete er in einer dieser Gassen Jaroslaw Iljitsch. +</p> + +<p> +Der war inzwischen merklich magerer geworden, +seine freundlichen Augen hatten ihren Glanz verloren +und der ganze Mensch machte den Eindruck, als habe +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +das Leben ihn enttäuscht. Er hatte es gerade sehr eilig +und eine Angelegenheit vor, die angeblich keinen Aufschub +duldete – war dabei durchnäßt und angeschmutzt, +und an seiner sonst sehr anständigen, jetzt jedoch von +der Witterung etwas blau angelaufenen Nase hing in +beinahe phantastischer Weise ein Regentropfen. Außerdem +trug er einen Backenbart, während er früher nur +einen Schnurrbart gehabt hatte. +</p> + +<p> +Dieser Backenbart und der Umstand, daß Jaroslaw +Iljitsch im ersten Augenblick fast tat, als wolle er seinem +alten Bekannten ausweichen, frappierten Ordynoff +... Und sonderbar! gewissermaßen schmerzte ihn +das sogar und kränkte sein Herz, das doch bis dahin +noch niemals des Mitleids anderer Menschen bedurft +hatte. Der frühere Jaroslaw Iljitsch war ihm lieber +gewesen, dieser gutmütige, dieser naive und – entschließen +wir uns, es endlich offen auszusprechen – +dieser etwas dumme Jaroslaw Iljitsch, der so gar keine +Ansprüche machte auf Enttäuschungen oder Bereicherungen. +Es ist doch unangenehm, entschieden unangenehm, +wenn ein <em>dummer</em> Mensch, den man einst +vielleicht gerade wegen seiner Dummheit gern gehabt +hat, <em>plötzlich klüger wird</em>! Übrigens verschwand +das Mißtrauen, mit dem er im ersten Augenblick +Ordynoff ansah, fast noch schneller, als dieser es +wahrnehmen konnte. +</p> + +<p> +Doch ungeachtet dieser Veränderung hatte er seine +alten Gewohnheiten keineswegs aufgegeben, wie ja bekanntlich +fast jeder Mensch seine Gewohnheiten ins +Grab mitzunehmen pflegt: und so begann er denn auch +jetzt wieder ganz im Tone des besten Freundes die Unterhaltung. +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +Zunächst bemerkte er, daß er viel zu tun +habe, dann, daß sie sich lange nicht gesehen. Darauf +nahm aber seine Rede plötzlich eine ganz andere und jedenfalls +ganz neue Wendung. Er begann von der Verlogenheit +der Menschen im allgemeinen zu sprechen, von +der Vergänglichkeit der irdischen Güter sowie von der +irdischen Nichtigkeit überhaupt, die nur eine einzige +Sorge kenne ... versäumte auch nicht, so ganz beiläufig +Puschkin zu erwähnen, jedoch in fast herablassendem +Tone, und sprach ferner von seinen guten Bekannten sogar +mit einem gewissen Zynismus, worauf er zum +Schluß sich noch ein paar Andeutungen über die Falschheit +derjenigen erlaubte, die sich öffentlich Freunde +nennen, während es in Wirklichkeit, solange die Welt +stehe, überhaupt noch keine echte Freundschaft gegeben +habe. Mit einem Wort, Jaroslaw Iljitsch war <em>doch</em> +klüger geworden! +</p> + +<p> +Ordynoff widersprach ihm nicht, aber eine unsagbare, +qualvolle Traurigkeit bemächtigte sich seiner: es +war ihm, als habe er soeben seinen besten Freund begraben! +</p> + +<p> +„Ach! Stellen Sie sich vor, da hätte ich es beinahe +zu erzählen vergessen!“ unterbrach sich plötzlich Jaroslaw +Iljitsch, als fiele ihm etwas ungeheuer Wichtiges +ein. „Ich habe eine Neuigkeit! Erinnern Sie sich noch +jenes Hauses, wo Sie mal kurze Zeit wohnten?“ +</p> + +<p> +Ordynoff zuckte zusammen und erbleichte. +</p> + +<p> +„Können Sie sich denken, in diesem Hause hat man +vor kurzem eine ganze Räuberbande entdeckt! – das +heißt, verstehen Sie: eine ganze Bande! Schmuggler, +Diebe, Spitzbuben der schlimmsten Art und weiß der +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +Teufel was noch alles! Mehrere sind schon hinter +Schloß und Riegel, den andern ist man erst noch auf +der Spur. Die strengsten Weisungen sind erlassen! +Und denken Sie sich weiter: – Sie erinnern sich doch +wohl noch des Hausbesitzers? – so’n kleines Männchen, +gottesfürchtig, dem Anscheine nach ein ehrwürdiger, +durch und durch anständiger, alter Mann ...“ +</p> + +<p> +„Nun?“ +</p> + +<p> +„Tja – da urteilen Sie jetzt über die Menschheit! +Gerade der ist das Haupt der Bande gewesen, +der Anführer! Was sagen Sie dazu? Ist das nicht +haarsträubend!“ +</p> + +<p> +Jaroslaw Iljitsch sprach mit Leidenschaft und verurteilte +mit dem einen Sünder sogleich die ganze +Welt, denn so ein Jaroslaw Iljitsch kann eben nicht +anders, als nach einem Ding alle Dinge beurteilen, +das liegt nun mal in seinem Charakter. +</p> + +<p> +„Und jene? ... Und Murin?“ stieß Ordynoff +atemlos hervor. +</p> + +<p> +„Murin? Ach so – der! Nein, Murin war ein ehrwürdiger +Alter ... Aber ... erlauben Sie mal! ... +erlauben Sie mal! ... Sie werfen da ein neues Licht +auf die Affäre ...“ +</p> + +<p> +„Wie denn? Gehörte er nicht auch zur Bande?“ +</p> + +<p> +Ordynoffs Herz schlug laut gegen seine Brust – +er verging vor Spannung. +</p> + +<p> +„Übrigens ... nein, wie denn das ... wie kommen +Sie darauf?“ Jaroslaw Iljitsch richtete seine bleiernen +Augen mit unbeweglichem Blick auf Ordynoff +– ein Zeichen, daß er überlegte. +</p> + +<p> +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +„Murin kann nicht darunter gewesen sein. Er hat +schon drei Wochen vorher mit der Frau Petersburg +verlassen – ist in seine Heimat zurückgekehrt ... Ich +erfuhr es vom Hausknecht ... jenem Tatarenfrechling, +erinnern Sie sich?“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-6"> +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Ein schwaches Herz +</h2> + +</div> + +<p class="chapter first"> +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">n</span> ihrer Wohnung im vierten Stock unter dem +Dach lebten zwei junge Beamte, Arkadij Iwanowitsch +Nefedewitsch und Wassjä Schumkoff. +</p> + +<p class="noindent"> +Ich müßte nun eigentlich den Leser darüber aufklären, +warum ich den einen Helden meiner Erzählung +bei vollem Namen, den anderen dagegen nur bei seinem +Rufnamen genannt habe, sonst könnte man dieses +Verfahren leicht für unangebracht oder für allzu vertraulich +halten. Das aber setzte wieder voraus, daß ich +das Alter, den Rang und Beruf der handelnden Personen +genau feststellte. Doch weil die meisten Schriftsteller +mit einer derartigen Einleitung beginnen, so +habe ich mir vorgenommen, die Erzählung sofort mit +der Handlung anfangen zu lassen – nur, um nicht +in die abgeschmackte Art der anderen zu verfallen oder +wie einige behaupten werden, aus Eigendünkel und +Einbildung. +</p> + +<p> +So schließe ich denn meine Einleitung und beginne. +</p> + +<p> +Um sechs Uhr am Vorabend des neuen Jahres +kehrte Schumkoff nach Hause zurück. Arkadij Iwanowitsch, +der auf seinem Bett lag, erwachte und blinzelte +verstohlen den Freund an. Er bemerkte, daß dieser +seinen besten Anzug trug und ein blitzblankes Vorhemd +anhatte. Das setzte ihn natürlich in Erstaunen. +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +Was beabsichtigte er wohl damit? Woher kam er? +Obendrein hatte er heute nicht zu Hause gespeist! +</p> + +<p> +Schumkoff zündete unterdessen Licht an und Arkadij +Iwanowitsch erriet sofort, daß sein Freund ihn +durch ein scheinbar unbeabsichtigtes Geräusch wecken +wollte. Und so geschah es denn auch: Wassjä hustete +zweimal, ging mehrmals im Zimmer auf und ab, und +ließ ganz zufällig seine Pfeife aus der Hand fallen, +als er sie in der Ecke am Ofen ausklopfte. Arkadij +Iwanowitsch mußte lachen. +</p> + +<p> +„Nun ist’s aber genug, du Schlauberger!“ sagte +er. +</p> + +<p> +„Arkascha, du schläfst nicht?“ +</p> + +<p> +„Ja, weißt du: Genau kann ich’s dir nicht sagen; +doch scheint es mir, daß ich nicht schlafe.“ +</p> + +<p> +„Ach, Arkascha! Guten Tag, mein Lieber! nun +Bruderherz ... Du weißt nicht, was ich dir zu sagen +habe!“ +</p> + +<p> +„Natürlich weiß ich’s nicht! Doch komm mal ein +bißchen her zu mir!“ +</p> + +<p> +Wassjä kam sofort herbei, ganz als hätte er nur +darauf gewartet, und ohne von den Absichten Arkadij +Iwanowitschs auch nur etwas zu ahnen. Dieser ergriff +ihn bei der Hand, drehte ihn geschickt um, drückte +ihn rückwärts <a id="corr-10"></a>aufs Bett und begann ihn, wie man +sagt, „zu würgen“, was ihm, dem immer fröhlichen +Arkadij Iwanowitsch, ein ungeheueres Vergnügen zu +machen schien. +</p> + +<p> +„Hereingefallen!“ rief er, „hereingefallen!“ +</p> + +<p> +„Arkascha, Arkascha, was tust du mit mir? Laß +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +los, um Gottes willen, laß los, ich verderbe mir meinen +Anzug!“ +</p> + +<p> +„Das tut nichts: warum hast du auch deinen guten +Anzug an? Sei ein andermal nicht so unvorsichtig und +gib dich nicht selbst in meine Hände! Sprich, wo warst +du, wo hast du gespeist?“ +</p> + +<p> +„Arkascha, um Gottes willen, laß mich los!“ +</p> + +<p> +„Wo hast du gespeist?“ +</p> + +<p> +„Ja, das wollte ich dir doch gerade erzählen!“ +</p> + +<p> +„Also erzähle!“ +</p> + +<p> +„Schön, aber laß mich erst los!“ +</p> + +<p> +„Nein, ich lass’ dich nicht los, bevor du nicht erzählt +hast!“ +</p> + +<p> +„Arkascha, Arkascha! Ja, verstehst du denn nicht, +daß es so unmöglich ist, ganz unmöglich!“ stöhnte der +schwache Wassjä und versuchte vergeblich sich aus den +kräftigen Armen seines Freundes zu befreien, „es +gibt doch gewisse Angelegenheiten, die ...“ +</p> + +<p> +„Was für Angelegenheiten?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Angelegenheiten, die, wenn man in solcher +Lage von ihnen zu reden beginnt, allen Ernst verlieren. +Es ist mir ganz unmöglich ... es würde nur +lächerlich wirken und – die Sache ist doch durchaus +nicht lächerlich, sondern sogar sehr ernst!“ +</p> + +<p> +„Auch noch ernst! Was du dir nicht ausgedacht +hast! Du, erzähle mir lieber etwas, worüber ich lachen +kann ... Etwas Ernstes, nein etwas Ernstes will ich +jetzt nicht hören. Was bist du mir für ein Freund? +Bitte, sage mir doch, was bist du für ein Freund!?“ +</p> + +<p> +„Arkascha, bei Gott, ich kann nicht!“ +</p> + +<p> +„Und ich will nichts davon wissen ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +„Höre, Arkascha!“ begann Wassjä, der quer über +dem Bett lag und sich mit aller Gewalt mühte, seinen +Worten Nachdruck zu geben. „Arkascha, meinetwegen +sag’ ich’s – nur ...“ +</p> + +<p> +„Nun, was denn ...“ +</p> + +<p> +„Ich habe – mich verlobt!“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch nahm schweigend und ohne +ein Wort zu verlieren, Wassjä wie ein kleines Kind auf +seine Arme, ungeachtet dessen, daß Wassjä durchaus +nicht so klein war, sondern recht lang, wenn auch sehr +mager, und trug ihn von einer Ecke des Zimmers in die +andere, ganz als wiege er ein Kind. +</p> + +<p> +„Und ich werde dich Bräutigam einwickeln wie +einen Säugling,“ gab er zur Antwort. Doch als er +bemerkte, daß Wassjä regungslos und ohne ein Wort +zu sagen in seinen Armen lag, besann er sich und begriff, +daß er in seinem Scherz offenbar zu weit gegangen +war: er stellte ihn daher mitten ins Zimmer hin +und streichelte ihm auf die freundschaftlichste Weise +die Backe. +</p> + +<p> +„Wassjä, du bist doch nicht böse?“ +</p> + +<p> +„Arkascha, höre ...“ +</p> + +<p> +„Wohl zum neuen Jahr?“ +</p> + +<p> +„Bös bin ich nicht – doch, warum bist du so +ein Kraftrüpel, so ein Unmensch? Wie oft habe ich dir +nicht gesagt: Arkascha, bei Gott, das ist nicht sehr +witzig, durchaus nicht sehr witzig!“ +</p> + +<p> +„Nun sei nur nicht gleich böse!“ +</p> + +<p> +„Böse? ... Auf wen bin ich denn jemals böse! +Aber gekränkt hast du mich doch, verstehst du das!“ +</p> + +<p> +„Wodurch denn gekränkt, auf welche Weise?“ +</p> + +<p> +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +„Ich bin zu dir gekommen, wie zu einem Freunde, +mit voller Seele und um dir mein Herz auszuschütten, +um dir mein Glück mitzuteilen ...“ +</p> + +<p> +„Ja, was für ein Glück denn? Warum hast du mir +das nicht gleich gesagt?“ +</p> + +<p> +„Nun, ich heirate doch!“ antwortete geärgert +Wassjä, denn er war wirklich gekränkt. +</p> + +<p> +„Du! Du heiratest! Ist das wahr?“ brüllte aus +voller Kehle Arkascha. „Nein, nein ... was soll denn +das? Und dabei vergießt er Tränen! ... Wassjä, du +mein Wassjuk, mein Söhnchen, höre auf! Es ist also +wirklich wahr?“ Und Arkadij Iwanowitsch umarmte +ihn immer wieder von neuem. +</p> + +<p> +„Nun, also verstehst du jetzt, was soeben in mir +vorging?“ sagte Wassjä. „Du bist doch sonst gut zu mir, +du bist doch mein Freund, ich weiß es. Ich kam zu dir +voll Freude und Begeisterung und plötzlich mußte ich +nun diese ganze Freude und diese ganze Begeisterung +quer über dem Bette liegend, würdelos ... Du begreifst +doch, Arkascha,“ fuhr Wassjä halblachend fort, +„in einer so komischen Lage, in der ich in gewisser +Hinsicht und in diesem Augenblick nicht einmal mir +selbst angehörte ... Ich wollte doch diese Herzensangelegenheit +nicht so erniedrigen ... Es fehlt nur noch, +daß du mich gefragt hättest, wie sie heißt? Ich schwöre +dir, ich hätte mir eher das Leben genommen, als dir in +diesem Augenblick ihren Namen gesagt!“ +</p> + +<p> +„Aber, Wassjä, warum hast du mir denn das nicht +gleich gesagt! Ich hätte ja sofort aufgehört mit dem +Ulk!“ rief Arkadij Iwanowitsch in aufrichtiger Verzweiflung. +</p> + +<p> +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +„Schon gut, schon gut! Ich sage ja nur so ... Du +weißt doch ... nur – weil ich ein so gutes Herz habe. +Es ärgert mich ja bloß, daß ich es dir nicht so sagen +konnte, wie ich’s wollte! Ich wollte dir doch eine +Freude bereiten, dir alles schön und feierlich mitteilen, +dich in alles einweihen ... Wirklich, Arkascha, ich liebe +dich doch so sehr, daß ich, wenn du nicht wärest, so +scheint es mir, überhaupt nicht heiraten würde, ja, +vielleicht gar nicht auf der Welt sein möchte!“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch, der äußerst gefühlvoll war, +weinte und lachte zugleich, als er das hörte. Wassjä +gleichfalls. Beide umarmten sich immer wieder von +neuem und vergaßen alles Gegenwärtige. +</p> + +<p> +„Wie ist denn das nur, ja, wie ist denn das nur +gekommen? Erzähle mir doch alles, Wassjä! Ich bin, +mein Lieber, entschuldige, ich bin erschüttert, ganz und +gar erschüttert, als hätte der Blitz mich getroffen, bei +Gott! Doch nein, mein Lieber, nein, du hast dir ganz +einfach was ausgedacht. Bei Gott, du lügst!“ brüllte +Arkadij Iwanowitsch und blickte wirklich ganz mißtrauisch +Wassjä an, aber als er auf dessen Gesicht nun +wirklich die leuchtende Bestätigung seiner unumstößlichen +Absicht, so schnell als möglich zu heiraten, bemerkte, +warf er sich aufs Bett und begann sich vor +lauter Entzücken so in ihm herumzuwälzen, daß die +Wände zitterten. +</p> + +<p> +„Wassjä, setz dich hierher zu mir!“ rief er, endlich +sich im Bett aufrichtend. +</p> + +<p> +„Ich, Bruderherz, ich weiß wirklich nicht – wie +und womit beginnen!“ +</p> + +<p> +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Beide sahen in freudiger Erregung einander an. +</p> + +<p> +„Wer ist sie, Wassjä?“ +</p> + +<p> +„Eine Artemjewa! ...“ stieß Wassjä mit vor Glück +zitternder und noch ganz schwacher Stimme hervor. +</p> + +<p> +„Nein, wirklich?“ +</p> + +<p> +„Nun, ich habe dir doch schon über sie die Ohren +vollgeredet! Du bemerktest nur von alledem nichts! Und +so schwieg ich denn ganz! Ach, Arkascha, was es mich +kostete, dir gegenüber das alles zu verbergen! – doch +ich fürchtete mich, fürchtete mich zu reden! Ich dachte, +es könnte am Ende alles auseinandergehen, und ich +war doch so verliebt, Arkascha! Mein Gott, mein Gott! +Weißt du, was das für Geschichten waren,“ begann er, +und brach sogleich wieder vor Erregung ab, „sie war +doch vor einem Jahr bereits einmal verlobt, er aber +wurde plötzlich irgendwohin wegversetzt, ich kannte ihn +auch – so einer, nun, Gott mit ihm! Er hat dann +nichts mehr von sich hören lassen und war schließlich +für sie verschollen. Sie wartete und wartete und wußte +nicht, was das bedeuten sollte? ... Plötzlich, vor vier +Wochen, kehrte er zurück – bereits verheiratet, und +ohne sich bei ihnen auch nur sehen zu lassen. War das +nicht roh? Gemein? Niemand war da, der für sie eintrat. +Sie weinte und weinte, die Arme, und so verliebte +ich mich denn in sie ... ja, ich war eigentlich +schon lange, eigentlich schon immer in sie verliebt! Ich +tröstete sie und ging wieder und wieder zu ihr. Nun, +und da weiß ich denn selbst nicht, wie alles gekommen +ist! Auch sie hatte mich recht liebgewonnen: und in der +vorigen Woche, da hielt ich es nicht mehr aus, da +mußte ich weinen, ich schluchzte und sagte ihr alles, +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +sagte ihr, daß ich sie liebe – kurz, alles! ... ‚Ich +würde Sie wohl auch lieben, Wassilij Petrowitsch,‘ +sagte sie, ‚ich bin aber ein armes Mädchen, darum +spotten Sie meiner nicht – ich wage es überhaupt +nicht mehr, jemanden zu lieben.‘ Nun, mein Freund, +verstehst du, verstehst du mich?! ... Da haben wir uns +denn gegenseitig das Wort gegeben. Und ich habe überlegt, +wie ich es der Mutter mitteilen wollte? Lisenka +sagte, es sei sehr schwierig, ich möchte noch ein wenig +warten: sie fürchtete sich, es selbst zu tun; ‚Mutter +wird mich Ihnen jetzt noch nicht geben wollen,‘ meinte +sie und weinte dazu. Ich sagte ihr weiter nichts. Heute +habe ich es nun der Alten gestanden. Lisa kniete vor +ihr nieder und ich auch ... Nun, und sie – segnete +uns. Arkascha, Arkascha! mein Lieber! Wir wollen alle +zusammen leben! Nein! Ich werde mich von dir um +nichts in der Welt trennen!“ +</p> + +<p> +„Wassjä, wenn ich dich so ansehe, so kann ich es +nicht glauben, bei Gott, ich schwöre es dir, ich kann es +nicht glauben. Wirklich, es scheint mir immer ... Höre, +wie kannst du dich denn verheiraten? und wie habe ich +die ganze Zeit über von nichts wissen können, sag! +Jetzt, mein Wassjä, kann ich dir auch gestehen, daß ich +selbst zu heiraten gedachte: da du es aber bereits für +mich tust, so ist das ja ganz gleich! ... Werde also +glücklich, mein Lieber! ...“ +</p> + +<p> +„Ach, du, wie mir jetzt leicht und wohl zumut ist +...“ sagte Wassjä und ging vor Erregung im Zimmer +auf und ab. „Nicht wahr, nicht wahr, du fühlst es +doch auch? Wir werden arm sein, freilich, aber glücklich +– und das ist kein Hirngespinst. Unser Glück wird +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +kein papierenes sein, wie es in den Büchern steht, sondern +wir werden in Wirklichkeit glücklich sein! ...“ +</p> + +<p> +„Wassjä, aber Wassjä, höre!“ +</p> + +<p> +„Was denn?“ sagte Wassjä und blieb vor Arkadij +Iwanowitsch stehen. +</p> + +<p> +„Mir kam nur der Gedanke – wirklich, ich fürchte +mich eigentlich, ihn auszusprechen ... Verzeih mir und +nimm mir meine Bedenken! Wovon wirst du leben? +Ich bin ja, weißt du, außer mir vor Freude, daß du +heiratest, kann mich vor Freude kaum lassen, doch – +die Frage bleibt: wovon wirst du leben?“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott, wie du auch bist, Arkascha!“ sagte +Wassjä und sah mit tiefer Verwunderung Nefedewitsch +an. „Was fällt dir denn ein? Sogar die Alte dachte +kaum zwei Minuten lang nach, als ich ihr alles das +klar machte. Frage sie doch, wovon <em>sie</em> gelebt haben? +Fünfhundert Rubel im Jahr! für drei! so viel beträgt +die ganze Pension, mit der sie auskommen müssen! Davon +lebt sie, die Alte und ein kleiner Bruder, für den +noch die Schule bezahlt werden muß – siehst du, so +lebt man eben! Wir beide aber, du und ich, wir sind +wahre Kapitalisten, denn ich habe manches Jahr, wenn +es gut ging, ganze siebenhundert verdient!“ +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä, verzeih mir: ich denke, bei Gott, +nur daran, wie das alles zu machen geht – aber welche +siebenhundert sollen das gewesen sein? Nur dreihundert +...“ +</p> + +<p> +„Dreihundert! ... Und Juljan Mastakowitsch? +Den hast du ganz vergessen!“ +</p> + +<p> +„Juljan Mastakowitsch! Das ist eine Sache, die +nicht ganz stimmt, mein Lieber: das sind nicht dreihundert +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +Rubel feststehenden Gehaltes, von denen einem +ein jeder einzelne Rubel sicher ist. Juljan Mastakowitsch +ist freilich ein großmütiger und großzügiger Mensch, ich +verehre ihn und verstehe es, daß er so hoch gestiegen ist, +und, bei Gott, ich liebe ihn, weil er dir zugetan ist und +dir eine Arbeit bezahlt, für die er sonst nichts zu bezahlen, +sondern einfach nur einen Beamten zu beauftragen +brauchte – aber sage doch selbst, Wassjä! ... Höre +mich an, Wassjä, ich rede doch keinen Unsinn; ich weiß +auch, daß es in ganz Petersburg eine solche Handschrift +wie die deine nicht wieder gibt, und ich bin gern bereit, +das Beste anzunehmen,“ schloß, nicht ohne Wärme, +Nefedewitsch, „aber wie, wenn du ihm plötzlich – Gott +bewahre dich davor! doch nicht mehr so gefallen und +ihn zufriedenstellen solltest und wenn er mit einem Male +die Verbindung mit dir abbräche und einen anderen +nähme! ... wer weiß, was im Leben nicht alles kommen +kann. Dann ist Juljan Mastakowitsch für dich nichts +mehr, dann ist er bloß – gewesen, Wassjä ...“ +</p> + +<p> +„Höre, Arkascha, ebenso kann sofort über uns die +Decke einbrechen ...“ +</p> + +<p> +„Nun, freilich, freilich ... Ich will ja auch nichts ...“ +</p> + +<p> +„Nein, höre mich an: warum soll er mich denn verabschieden +... Nein, wirklich, höre mich doch nur an! +Ich erledige ja alles pünktlich und peinlich: und er ist +so gut zu mir, er hat mir doch, Arkascha, er hat mir doch +heute noch fünfzig Rubel gegeben!“ +</p> + +<p> +„Ist’s möglich, Wassjä? eine Zulage?“ +</p> + +<p> +„Was, Zulage? Nein, so: einfach aus seiner +Tasche. Er sagte: wie, mein Lieber, du hast bereits den +fünften Monat kein Geld mehr erhalten. Wenn du +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +welches brauchst, nimm es: denn ich bin, sagte er, mit +dir sehr zufrieden ... bei Gott! Du arbeitest doch nicht +umsonst für mich, sagte er, wirklich! Das hat er gesagt. +Mir rollten die Tränen über die Backen, Arkascha. +Großer Gott!“ +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä, hast du denn die neue Abschrift +fertiggestellt? ...“ +</p> + +<p> +„Nein ... noch nicht.“ +</p> + +<p> +„Wassinjka! Mein Lieber! Was hast du denn getan?“ +</p> + +<p> +„Höre, Arkadij, das tut doch nichts, ich habe noch +zwei volle Tage Zeit bis zum Termin ...“ +</p> + +<p> +„Wie, hast du denn noch gar nicht angefangen?“ +</p> + +<p> +„Na ja, na ja! Du siehst mich ja mit einem +Ausdruck an, daß sich mein ganzes Innere umdreht! +Nun, was ist denn dabei? Du kannst einem so den Mut +nehmen und schreist immer gleich: a–a–a!!! Überleg +es dir doch: was ist denn dabei? Ich werde damit +schon fertig werden, bei Gott, das werde ich ...“ +</p> + +<p> +„Aber wenn du es nun nicht wirst!“ rief Arkadij +und sprang auf. „Gerade jetzt, da er dir heute eine +Belohnung gegeben hat! Und obendrein willst du heiraten +... Oh, oh, oh! ...“ +</p> + +<p> +„Das hat nichts zu sagen, gar nichts,“ schrie fast +verzweifelt Schumkoff, „ich werde mich sofort hinsetzen, +noch in dieser Minute werde ich mich hinsetzen – das +tut gar nichts!“ +</p> + +<p> +„Wie hast du es denn nur so vernachlässigen können, +Wassjutka!“ +</p> + +<p> +„Ach, Arkascha! Konnte ich denn hier so ruhig still +sitzen! Mein Zustand war doch so, daß ich kaum in +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +der Kanzlei arbeiten konnte ... Ach! Ach! Heute werde +ich die Nacht durcharbeiten, morgen wieder die Nacht +durcharbeiten und übermorgen auch noch und dann +– wird’s fertig sein! ...“ +</p> + +<p> +„Ist noch viel übriggeblieben?“ +</p> + +<p> +„Störe mich nicht, um Gottes willen, störe mich +nicht! schweige mir davon!“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch ging leise auf den Fußspitzen +zu seinem Bett, und setzte sich hin, darauf wollte er +plötzlich wieder aufstehen, sagte sich aber sofort, daß er +seinen Freund nicht stören dürfe und blieb sitzen: offenbar +hatte ihn die Mitteilung so aufgeregt, daß er noch +nicht mit sich zur Ruhe kommen konnte. Er blickte auf +Schumkoff, der sah ihn an, lächelte und drohte ihm +mit dem Finger. Darauf runzelte Schumkoff ganz +furchtbar die Brauen, als läge darin die eigentliche +Kraft und der gewünschte Erfolg seiner Arbeit, und +richtete seine Augen dann wieder aufs Papier. +</p> + +<p> +Es schien, daß auch er seine Erregung noch nicht +überwunden hatte, er wechselte beständig seine Feder, +rückte auf dem Stuhle hin und her, nahm sich zusammen, +um wieder von neuem zu beginnen, doch seine +Hand zitterte und versagte offenbar den Dienst. +</p> + +<p> +„Arkascha! Ich habe ihnen auch von dir erzählt!“ +rief er plötzlich, als wäre es ihm soeben eingefallen. +</p> + +<p> +„Ja?“ rief Arkascha, „und ich wollte dich vorhin +schon darüber fragen, nun?“ +</p> + +<p> +„Nun! Ach, ich werde dir später alles erzählen. +Sieh, bei Gott, jetzt habe ich selbst zu sprechen angefangen +und ich wollte es doch nicht tun, bevor ich nicht +wenigstens vier Blätter fertig gemacht. Mir fiel es +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +aber plötzlich ein, das von dir und von ihnen! Ich +kann auch, mein Lieber – ich kann gar nicht ordentlich +schreiben: immer muß ich an euch denken ...“ Und +Wassjä lächelte. +</p> + +<p> +Es trat Schweigen ein. +</p> + +<p> +„Pfui! Was für eine schlechte Feder!“ rief Schumkoff, +schlug im Ärger auf den Tisch und nahm wieder +eine andere. +</p> + +<p> +„Wassjä! Höre! Nur ein Wort ...“ +</p> + +<p> +„Nun, aber schnell, zum letztenmal.“ +</p> + +<p> +„Hast du noch viel zu schreiben?“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Lieber! ...“ Wassjä runzelte die Stirn, +als gebe es keine schrecklichere und tötendere Frage auf +der Welt, als diese. „Viel, furchtbar viel!“ antwortete +er dann. +</p> + +<p> +„Weißt du, ich habe eine Idee ...“ +</p> + +<p> +„Was für eine?“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, schreibe nur.“ +</p> + +<p> +„Nun, was für eine? Sag doch!“ +</p> + +<p> +„Es ist bereits sieben Uhr, Wassjä!“ +</p> + +<p> +Dabei lächelte Nefedewitsch schelmisch und blinzelte +Wassjä zu, wenn auch nur ganz schüchtern, da er +nicht wußte, wie dieser es aufnehmen würde. +</p> + +<p> +„Nun, was denn?“ sagte Wassjä und schien wirklich +mit dem Schreiben aufhören zu wollen. Er sah ihm +gerade in die Augen und war ganz bleich vor Erwartung. +</p> + +<p> +„Weißt du, was?“ +</p> + +<p> +„Um Gottes willen, was denn?“ +</p> + +<p> +„Weißt du, du bist so erregt und wirst doch nicht +viel arbeiten können ... Warte, warte, warte, ich sehe, +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +ich sehe – so höre doch!“ beeilte sich Nefedewitsch und +sprang, von seinem Gedanken gefaßt, vom Bett auf, +um mit allen Kräften einer Erwiderung Wassjäs zuvorzukommen, +„es ist vor allem nötig, daß du dich beruhigst +und wieder von neuem Kräfte sammelst, ist’s +nicht so?“ +</p> + +<p> +„Arkascha! Arkascha!“ rief Wassjä aus und sprang +vom Stuhl, „ich werde die ganze Nacht aufbleiben und +schreiben, bei Gott, das tu’ ich!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, jawohl! doch gegen Morgen wirst du einschlafen +...“ +</p> + +<p> +„Ich werde nicht einschlafen, um nichts in der +Welt ...“ +</p> + +<p> +„Nein, das geht, das geht nicht! Natürlich wirst +du um fünf Uhr einschlafen! Und um acht Uhr werde +ich dich wieder wecken. Morgen ist ein Feiertag, da +kannst du dich hinsetzen und den ganzen Tag über +schreiben ... Dann noch eine Nacht und – ist denn +noch so viel übriggeblieben?“ +</p> + +<p> +„Da! sieh!“ +</p> + +<p> +Wassjä zeigte ihm zitternd vor Erwartung und Erregung +das Heft: „Da! sieh!“ +</p> + +<p> +„Höre, Bruder, das ist nicht viel ...“ +</p> + +<p> +„Ja, mein Lieber, aber – es ist noch etwas,“ sagte +Wassjä und sah dabei schüchtern, fragend Nefedewitsch +an, als würde von dessen Entschluß alles abhängen: ob +sie gingen oder nicht gingen? +</p> + +<p> +„Wieviel?“ +</p> + +<p> +„– Zwei Bogen ...“ +</p> + +<p> +„Nun, ich glaube, damit wirst du auch fertig, bei +Gott, du wirst fertig!“ +</p> + +<p> +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +„Arkascha!“ +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä! Jetzt zum neuen Jahr sind doch +alle in der Familie versammelt und nur wir beide sollten +– so ohne Häuslichkeit und ganz verwaist ... Ach! +Wassinjka!“ +</p> + +<p> +Nefedewitsch umarmte Wassjä und drückte ihn an +seine Brust. +</p> + +<p> +„Abgemacht, Arkadij!“ +</p> + +<p> +„Wassjuk, ich wollte dir nur noch eines sagen. Siehst +du, Wassjuk, mein Junge! Höre! Höre mich an!“ +</p> + +<p> +Arkadij hielt den Mund weit aufgesperrt, als könne +er vor Begeisterung nicht mehr sprechen. Wassjä, der +sich noch immer mit den Händen an Arkadijs mächtigen +Schultern hielt, sah ihm gespannt in die Augen und bewegte +seine Lippen, ganz als wollte er für ihn sprechen +... +</p> + +<p> +„Nun!“ sagte er endlich. +</p> + +<p> +„Stelle mich ihnen heute vor!“ +</p> + +<p> +„Arkadij! Ja: gehen wir hin! Trinken wir Tee bei +ihnen! Aber weißt du was? Das neue Jahr freilich +wollen wir nicht abwarten, wir wollen früher nach +Haus kommen,“ rief Wassjä noch immer in aufrichtiger +Begeisterung. +</p> + +<p> +„Das heißt also: zwei Stunden, nicht mehr und +nicht weniger! ...“ +</p> + +<p> +„Und dann – Trennung, bis ich meine Sache fertig +habe! ...“ +</p> + +<p> +„Wassjuk! ...“ +</p> + +<p> +„Arkadij! ...“ +</p> + +<p> +In drei Minuten war Arkadij im Galaanzug. Wassjä +brauchte sich nur etwas abzubürsten, da er sich mit +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +solchem Eifer an die Arbeit gemacht hatte, daß er nicht +einmal seinen Rock ausgezogen. +</p> + +<p> +Sie beeilten sich, auf die Straße zu kommen, der +eine noch freudiger als der andere. Der Weg ging auf +die Petersburger Seite<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a> nach Kolomna<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a>. Arkadij +Iwanowitsch schritt weit und kräftig aus, schon an +seinem Gang konnte man seine Freude über das Glück +Wassjäs erkennen. Wassjäs Gang war trippelnder, +doch verlor er deshalb nichts von seiner Würde. Im +Gegenteil, Arkadij Iwanowitsch hatte noch nie einen +so vorteilhaften Eindruck von ihm gehabt. Er empfand, +wie sie so gingen, fast eine gewisse Hochachtung vor ihm, +und ein körperlicher Fehler Wassjäs, von dem der Leser +bis jetzt noch nichts erfahren (Wassjä war nämlich ein +wenig schief gewachsen) und der im Herzen Arkadij +Iwanowitschs immer ein tiefes Mitgefühl für ihn erweckt +hatte, trug zu einem nur noch größeren, nur +noch innigeren Gefühl für seinen Freund bei. Arkadij +Iwanowitsch hatte vor Freude weinen können, doch er +beherrschte sich. +</p> + +<p> +„Wohin, wohin, Wassjä? Hier ist es doch näher!“ +rief er, als er sah, daß Wassjä in den Wosnessenskij-Prospekt +abbiegen wollte. +</p> + +<p> +„Komm nur, Arkascha, komm ...“ +</p> + +<p> +„Wirklich, es ist näher, Wassjä.“ +</p> + +<p> +„Arkascha, weißt du?“ begann Wassjä geheimnisvoll +und mit vor Seligkeit flüsternder Stimme, „weißt +du? Ich möchte nämlich Lisenka ein Geschenk mitbringen +...“ +</p> + +<p> +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +„Was für eines?“ +</p> + +<p> +„Hier, mein Lieber – an der Ecke – wohnt Mme. +Leroux ... ein wundervoller Laden!“ +</p> + +<p> +„Was denn –“ +</p> + +<p> +„Ein Hütchen, mein Lieber, ein Hütchen. Heute +morgen habe ich ein reizendes Hütchen gesehen: ich +fragte nach der Fasson, und man sagte mir, Manon +Lescaut heiße das Wunder! Die Bänder sind kirschfarben, +und wenn das Hütchen nicht zu teuer ist ... Arkascha, +und schließlich, wenn es auch teuer ist! ...“ +</p> + +<p> +„Du übertriffst wahrhaftig noch alle Poeten, Wassjä! +Gehen wir also! ...“ +</p> + +<p> +Sie gingen und waren in zwei Minuten im Laden. +Hier wurden sie von einer schwarzäugigen und lockenhaarigen +älteren Französin empfangen, die sofort, beim +ersten Blick auf ihre Käufer, ebenso lustig und glücklich +zu werden schien, wie diese selbst waren, sogar noch +lustiger und noch glücklicher, wenn das möglich gewesen +wäre. Wassjä war bereit, Madame Leroux vor +Entzücken sofort abzuküssen ... +</p> + +<p> +„Arkascha!“ flüsterte er diesem zu, als er mit seinem +Blick all das Schöne und Hohe überflog, das an Holzständern +auf dem großen Tisch des Geschäfts ausgestellt +war. „Welche Wunder! Wie ist denn das? Dies hier +zum Beispiel, dieses Bonbon hier, siehst du?“ Wassjä +wies auf ein kleines, reizendes Hütchen, doch nicht auf +dasjenige, welches er kaufen wollte, denn schon von +weitem hatte dieses andere, am entgegengesetzten Ende, +seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er starrte es so +an, als wäre zu befürchten, daß es von jemandem gestohlen +werden könnte oder als ob das Hütchen selbst, +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +nur damit Wassjä es nicht bekommen sollte, in die Luft +fliegen könnte. +</p> + +<p> +„Dieses hier,“ sagte Arkadij Iwanowitsch und wies +auf ein anderes Hütchen, „dieses hier ist meiner Meinung +nach noch schöner.“ +</p> + +<p> +„Nun, Arkascha! Das legt dir Ehre ein: ich muß +dir sagen, daß ich vor deinem Geschmack Achtung bekomme,“ +bemerkte Wassjä, der scheinbar aus Liebe zu +Arkascha auf dessen Geschmack einging. „Dein Hütchen +ist wirklich reizend, aber sieh einmal her!“ +</p> + +<p> +„Welches ist schöner?“ +</p> + +<p> +„Sieh mal her!“ +</p> + +<p> +„Dieses?“ sagte etwas zögernd Arkadij. +</p> + +<p> +Doch als Wassjä, der nicht fähig war, länger an +sich zu halten, das Hütchen vom Holzgestell herunterholte, +von dem es scheinbar selbst herunterfliegen wollte, +als freute es sich – nach so langer Erwartung, in der +seine Bänderchen, Rüschchen und Spitzen steif hatten +dastehen müssen – über den guten Käufer: da entriß sich +der mächtigen Brust Arkadij Iwanowitschs ein Schrei +des Entzückens. Sogar Madame Leroux, die die ganze +Zeit über ihre Würde gewahrt und während ihrer Auswahl +zu allen Fragen des Geschmacks herablassend geschwiegen +hatte, belohnte jetzt Wassjä mit einem begütigenden +Lächeln und dieses Lächeln schien zu sagen: +ja! Sie haben es getroffen, Sie sind des Glückes würdig, +das Sie erwartet. +</p> + +<p> +„So hat es in seiner Einsamkeit kokettiert und kokettiert!“ +rief Wassjä aus, der seine ganze Zärtlichkeit +auf das reizende Hütchen übertrug, „hat sich mit Absicht +versteckt, der Schelm!“ Und er küßte es, das heißt, +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +er küßte die Luft, die es umgab, denn er fürchtete sich, +an seine Kostbarkeit auch nur zu rühren. +</p> + +<p> +„So versteckt sich das wahre Verdienst,“ fügte Arkadij +in seinem Entzücken hinzu, um mit dieser Phrase, +die er am Morgen in einer Zeitung gelesen hatte, Humor +in die Sache zu bringen. „Nun, Wassjä, wie steht +es denn?“ +</p> + +<p> +„Vivat, Arkascha! Du spielst wohl heute den Geistreichen, +um Furore zu machen, wie sich die Damen ausdrücken +– nicht wahr, Madame Leroux, nicht wahr!“ +</p> + +<p> +„Was wünschen Sie?“ +</p> + +<p> +„Nicht wahr, meine liebe Madame Leroux!“ +</p> + +<p> +Madame Leroux blickte gütig lächelnd Arkadij Iwanowitsch +an. +</p> + +<p> +„Sie glauben nicht, wie ich Sie in diesem Augenblick +vergöttere ... Erlauben Sie, daß ich Sie umarme +...“ Und Wassjä küßte wirklich die Ladenmadame. +</p> + +<p> +Es gehörte Würde dazu, um sich in diesem Augenblick +solch einem Heißsporn gegenüber nichts zu vergeben. +Und vor allem: eine angeborene Liebenswürdigkeit +und diese natürliche Grazie, mit der Madame Leroux +die Begeisterung Wassjäs aufnahm, entschuldigte +ihn, und sie verstand es, sich mit liebenswürdigem Geschick +in die Situation zu finden! Es war ja auch überhaupt +unmöglich, Wassjä im Ernste böse zu sein! +</p> + +<p> +„Madame Leroux, welches ist der Preis?“ +</p> + +<p> +„Fünf Rubel,“ antwortete sie und rechtfertigte ihre +Forderung mit einem neuen Lächeln. +</p> + +<p> +„Und dieser Hut hier, Madame Leroux,“ fragte Arkadij +Iwanowitsch und wies auf den von ihm gewählten. +</p> + +<p> +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +„Dieser: acht Rubel.“ +</p> + +<p> +„Aber erlauben Sie, erlauben Sie! Nun müssen +Sie selbst entscheiden, Madame Leroux, welcher ist schöner, +welcher niedlicher, welcher von den beiden würde +Sie kleiden?“ +</p> + +<p> +„Dieser hier ist reicher, doch der, den Sie gewählt +haben – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">il est plus coquet</span>.“ +</p> + +<p> +„Also, nehmen wir ihn!“ +</p> + +<p> +Madame Leroux legte ihn in einen Bogen feinen, +dünnen Seidenpapiers und steckte es mit kleinen Stecknadeln +fest. Das Papier aber, mit dem Hut, schien jetzt +beinahe noch leichter zu sein als früher, ohne Hut. +Wassjä nahm das Paket und wagte kaum zu atmen, er +verabschiedete sich von Madame Leroux, sagte ihr noch +etwas Liebenswürdiges und verließ den Laden. +</p> + +<p> +„Ich bin ein Lebemann, Arkascha, ein geborener +Lebemann!“ rief Wassjä draußen lachend aus. Das +Lachen ging aber gleich darauf in einen kaum hörbaren +nervösen feinen Ton über, den ein Lächeln begleitete – +und Wassjä selbst wich allen Vorübergehenden ängstlich +aus, als ob er sie mit einem Male im Verdacht hätte, der +Versuchung, sein kostbares Hütchen zu zerknüllen, nicht +widerstehen zu können. +</p> + +<p> +„Höre, Arkadij, höre!“ begann er einen Augenblick +später und etwas Feierliches, etwas unendlich Seliges +lag in seiner Stimme. „Arkadij, ich bin so glücklich, ich +bin so glücklich!“ +</p> + +<p> +„Wassinjka! Und wie ich glücklich bin, mein Liebling!“ +</p> + +<p> +„Nein, Arkascha, nein, deine Liebe zu mir ist grenzenlos, +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +ich weiß es. Doch du kannst nicht den zehnten +Teil von dem empfinden, was ich in diesem Augenblick +fühle. Mein Herz ist so voll, so übervoll!! Arkascha! Ich +bin ja meines Glückes gar nicht würdig! Ich weiß es, +ich fühle es selbst. Womit habe ich es verdient,“ rief er +mit einer Stimme aus, die voll war von verhaltenem +Schluchzen, „was habe ich denn je Gutes getan, sage +nur. Sieh doch, wieviel Menschen es gibt, wieviel Tränen, +wieviel Kummer, wieviel Alltag ohne Feiertag! +Und ich! Mich liebt ein solches Mädchen, mich ... Du +wirst sie ja selbst sehen, wirst selbst ihr edles Herz erkennen. +Ich komme aus niedrigem Stande, doch habe ich +eine Stellung und ein festes Gehalt. Ich bin mit einem +Gebrechen auf die Welt gekommen, bin schief gewachsen. +Sie aber liebt mich, so wie ich bin. Juljan Mastakowitsch +war heute so zärtlich, so aufmerksam, so höflich +zu mir. Er spricht sonst selten mit mir – doch: ‚Nun, +Wassjä,‘ sagte er heute (bei Gott, Wassjä nannte er +mich) ‚wirst du in den Feiertagen auch durchgehen, +wie?‘ Dabei lachte er. ‚Nein,‘ sagte ich zuerst, ‚Euer +Exzellenz, ich habe zu tun.‘ Doch dann nahm ich mich +zusammen und sagte: ‚Vielleicht werde ich mich auch +mal amüsieren, Exzellenz!‘ – bei Gott, das sagte ich. +Da gab er mir denn das Geld und sprach noch ein paar +Worte mit mir. – Ich, Bruder, ich weinte beinah, die +Tränen stürzten mir aus den Augen und er, er schien +auch gerührt zu sein, klopfte mir auf die Schulter und +sagte: ‚Fühle immer so, Wassjä, wie du jetzt fühlst‘ ...“ +</p> + +<p> +Wassjä verstummte auf einen Augenblick. +</p> + +<p> +„Und nicht genug,“ fuhr Wassjä fort. „Ich habe es +dir gegenüber noch nie ausgesprochen, Arkadij ... Arkadij! +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +Du hast mir deine Freundschaft geschenkt, ohne +dich wäre ich nicht auf der Welt, – nein, nein, sage +nichts, Arkascha! Laß mich dir deine Hand drücken, +gib, ich will dir danken!“ ... Wassjä konnte seinen Satz +wieder nicht beenden. +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch wollte schon Wassjä um den +Hals fallen, doch überschritten sie gerade die Straße, +und so hörten sie denn plötzlich, dicht hinter ihren Ohren +den einschneidenden Ruf eines Kutschers: ‚Heda! +Achtung!‘ und beide, erregt und erschrocken wie sie waren, +liefen so schnell als nur möglich aufs Trottoir. +Arkadij Iwanowitsch war eigentlich froh über diesen +Zwischenfall. Den Überschuß an Dankbarkeit bei +Wassjä erklärte er sich als einen Ausfluß des Augenblicks. +Ihm war er peinlich, weil er meinte, daß er +Wassjä bis jetzt noch gar nichts Gutes getan! Er schämte +sich sogar vor sich selbst, weil Wassjä ihm für das +Wenige so dankte! Doch, ein ganzes Leben stand ihm +noch bevor – und Arkadij Iwanowitsch atmete frei +mit einem großen Vorsatze auf ... +</p> + +<p> +Man hatte es schon aufgegeben, sie zu erwarten! +Ein Beweis: daß sie bereits beim Tee saßen! Und +wirklich, manchmal ist ein älterer Mensch ahnungsvoller +als die liebe Jugend. Lisenka hatte in allem Ernst +behauptet, daß er nicht kommen werde, nicht kommen +werde. „Mamenka! mein Herz fühlt es, daß er nicht +kommen wird!“ aber Mamenka hatte im Gegenteil behauptet, +ihr Herz fühle ganz genau, daß Wassjä keine +Ruhe finden und deshalb ganz sicher gelaufen kommen +würde, zumal er am Vorabend des neuen Jahres doch +keinen Dienst mehr hatte! Als nun Lisenka die Tür +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +öffnete, traute sie ihren Augen nicht: sie errötete über +und über und ihr Herz schlug so heftig, wie bei einem +gefangenen Vögelchen. Ja, sie war rot wie eine Kirsche, +der sie überhaupt ähnlich sah. +</p> + +<p> +„Mein Gott, welche Überraschung!“ Ein freudiges +„Ach!“ kam über ihre Lippen. „Du Schelm, du +Betrüger, du mein Lieber du!“ rief sie aus und fiel +Wassjä um den Hals. Doch man stelle sich ihre Verwunderung +vor, ihre plötzliche Verlegenheit: denn genau +hinter Wassjä, als wollte er sich hinter ihm verstecken, +stand, verwirrt wie er war, Arkadij Iwanowitsch. +Aber Arkadij Iwanowitsch verstand es nicht, +mit Frauen umzugehen: er war sogar sehr ungeschickt +... Einmal passierte es ihm, daß ... Doch davon ein +andermal. Indessen, man versetze sich in seine Lage! +Es ist nichts Lächerliches dabei: er stand im Vorzimmer, +in Gummischuhen, im Mantel und in einer Mütze +mit Ohrenklappen, um den Hals einen schrecklichen gelben +Schal, der zum Überfluß hinten im Nacken dick geknotet +und gebunden war, – dieser Knoten mußte nun +gelöst und der Schal abgenommen werden, damit er +selbst einen vorteilhaften Eindruck machen konnte ... +denn es gibt nun einmal keinen Menschen, der nicht +wünschte, einen vorteilhaften Eindruck zu machen! Und +dieser Wassjä, dieser unerträgliche, unausstehliche, obgleich +sonst so liebe, gute Wassjä, war jetzt ein ganz +erbarmungsloser Wassjä! Schreien mußte er: +</p> + +<p> +„Lisenka, hier stelle ich dir Arkadij vor! Wer das +ist? Mein bester Freund, umarme ihn, küsse ihn, Lisenka, +küsse ihn im voraus, wenn du ihn einmal kennst, +wirst du ihn immer küssen ...“ Nun, was blieb da wohl +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +dem armen Arkadij Iwanowitsch übrig? Er stand noch +immer und versuchte seinen Schal aufzuknoten! Nein: +diese Begeisterung Wassjäs war doch manchmal wirklich +unangebracht und ganz gewissenlos! Freilich, freilich, +sie bewies sein gutes Herz, aber ... immerhin – +es war doch zu peinlich! +</p> + +<p> +Endlich traten sie beide ins Zimmer ... Die Alte +war unsagbar glücklich, die Bekanntschaft Arkadij +Iwanowitschs zu machen: sie hätte so viel von ihm gehört, +sie ... Doch sie beendete ihre Phrase nicht. Ein +freudiges „Ach!“ durchtönte das Zimmer und unterbrach +sie. Mein Gott! Lisenka stand vor dem enthüllten +Hütchen, hielt naiv beide Hände gefaltet, und lächelte, +lächelte ... Mein Gott, warum gab es bei Madame +Leroux nicht noch ein viel, viel schöneres Hütchen! +</p> + +<p> +Ach, aber wo konnte man wohl ein noch schöneres +finden?! Ich spreche im Ernst! Mich bringt schließlich +diese Undankbarkeit Verliebter wirklich zur Verzweiflung. +Möchten die beiden doch endlich einsehen, daß +es gar nichts Schöneres geben kann, als dieses Bonbon +von Hütchen! Möchten sie einsehen – doch meine +Verzweiflung war umsonst: sie sind bereits wieder alle +mit mir einverstanden, es war ein Irrtum und weiter +nichts! Ich bin bereit, ihnen zu vergeben. Meine Leser +aber werden entschuldigen, wenn ich immer noch von +dem Hütchen spreche: Ganz leicht und durchsichtig aus +Tüll war es, mit breiten kirschroten Bändern und mit +Spitzen bedeckt. Unter dem Tüll und den Rüschen hervor +hingen hinten auf den Hals zwei Bänder herab +... Man mußte es ein wenig in den Nacken setzen. Und +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +nun, nach alledem sehen Sie hin, ich bitte Sie! Sie +aber scheinen nicht sehen zu wollen! ... Sie sehen zur +Seite. Sehen, wie zwei Tränen gleich Perlen in den +langen schwarzen Augenwimpern hängen und dort +einen Augenblick erzittern und auf diesen Tüll niederfallen, +der dünn wie Luft ist, auf diesen Tüll, aus dem +das Kunstwerk Madame Lerouxs bestand ... Ich aber +ärgere mich: denn nicht dem Hütchen galten diese beiden +Tränen! ... Nein! eine solche Sache muß man +ganz kaltblütig aufnehmen, nur dann kann man sie +wirklich schätzen! +</p> + +<p> +Man setzte sich. Wassjä setzte sich mit Lisenka zusammen +und die Alte mit Arkadij Iwanowitsch. Man +begann ein Gespräch und Arkadij Iwanowitsch behauptete +sich durchaus. Mit Freuden lasse ich ihm Gerechtigkeit +widerfahren. Es war das eigentlich von +ihm nicht zu erwarten. Nach ein paar Worten über +Wassjä verstand er es vorzüglich, von Juljan Mastakowitsch, +Wassjäs Wohltäter, zu erzählen. Und so klug, +so verständig sprach er, daß das Gespräch eine ganze +Stunde lang nicht ins Stocken geriet. Man müßte es +gehört haben, mit welchem Takt Arkadij Iwanowitsch +einige Sonderheiten Juljan Mastakowitschs berührte, +die eine mittelbare oder unmittelbare Beziehung zu +Wassjä hatten. Dafür war die Alte auch ganz entzückt, +aufrichtig entzückt von ihm: sie selbst gestand es Wassjä. +Ausdrücklich rief sie ihn zu sich, um ihm zu sagen, +daß sein Freund ein prächtiger, liebenswürdiger junger +Mensch sei, und was die Hauptsache, so ein ernster, gesetzter +junger Mann. Wassjä hätte am liebsten laut aufgelacht +vor Vergnügen. Er dachte daran, wie der gesetzte +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +Arkascha ihn noch vor einer Viertelstunde aufs +Bett geworfen hatte! Darauf machte die Alte Wassjä +ein Zeichen, leise und unbemerkt ins andere Zimmer zu +kommen. Und dort handelte sie nun allerdings Lisenka +gegenüber nicht richtig: sie zeigte nämlich Wassjä das +Geschenk, das Lisenka ihm zum neuen Jahr machen +wollte. Es war eine Brieftasche mit einer goldgestickten, +wundervollen Zeichnung: auf der einen Seite war +ein rennender Hirsch dargestellt, so natürlich, so ähnlich, +so vorzüglich erfaßt. Auf der anderen Seite befand +sich das Bild eines berühmten Generals, ebenso +vorzüglich, ebenso ähnlich und naturgetreu. Ich kann +es gar nicht schildern, dieses helle Entzücken Wassjäs. +</p> + +<p> +Unterdessen war in dem anderen Zimmer die Zeit +nicht ungenutzt verstrichen. Lisenka war zu Arkadij Iwanowitsch +getreten, hatte ihm die Hand gereicht und ihm +gedankt – und Arkadij Iwanowitsch hatte sofort begriffen, +daß es sich um den teuren Wassjä handelte. Lisenka +war tief bewegt: sie habe erfahren, sagte sie, daß +Arkadij ein so treuer Freund ihres Verlobten sei, daß er +ihn liebe und über ihn wache und ihn auf jeden Schritt +mit seinen Ratschlägen unterstütze, so daß sie, Lisenka, +es nicht unterlassen könne, ihm zu danken, und daß sie +hoffe, Arkadij Iwanowitsch würde auch sie lieb haben, +und wär’s auch nur halb so wie den Wassjä. Darauf +fragte sie ihn, ob Wassjä auch seine Gesundheit in acht +nehme, sprach von der Heftigkeit seines Charakters und +über sein Unvermögen dem praktischen Leben gegenüber, +sowie über seinen Mangel an Menschenkenntnis. +Sie sagte weiter, daß sie auf ihn aufpassen und ihn vor +allem bewahren würde, und daß sie hoffe, auch Arkadij +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +Iwanowitsch werde sie nicht verlassen und bei ihnen +bleiben. +</p> + +<p> +„Wir werden alle drei zusammenbleiben und wie ein +einziger Mensch sein!“ rief sie in naiver Begeisterung +aus. +</p> + +<p> +Doch die Zeit rückte vor und man mußte aufbrechen. +Selbstverständlich versuchte man, die Gäste zurückzuhalten, +doch Wassjä erklärte kurz und bündig, daß es nicht +möglich sei, zu bleiben, und Arkadij Iwanowitsch bestätigte +es. Man fragte natürlich: warum? und so erfuhren +sie denn, daß es sich um eine Arbeit für Juljan +Mastakowitsch handelte, eine sehr eilige, notwendige, +unangenehme, die bis übermorgen früh fertiggestellt +werden mußte, und daß sie noch sehr im Rückstande +wäre. Das Mamachen seufzte, als sie das hörte, Lisenka +aber erschrak sehr und trieb sogar selbst Wassjä zur +Eile an. Der letzte Kuß verlor dabei nicht an Wert, er +war kürzer, eiliger, aber um so heißer und heftiger. +Endlich trennte man sich und die beiden Freunde gingen +zusammen nach Haus. +</p> + +<p> +Sofort, kaum daß sie auf der Straße waren, tauschten +sie untereinander ihre Eindrücke aus. Ja, und es mußte +wohl so sein, daß Arkadij Iwanowitsch sich sterblich in +Lisenka verliebt hatte! Wem aber war das leichter verständlich, +als dem glücklichen Wassjä? Arkadij Iwanowitsch +gestand Wassjä sofort alles ein. Wassjä lachte +und freute sich sehr darüber, und bemerkte, daß sie jetzt +noch innigere Freunde sein würden, als ehedem. „Du +hast mich sofort verstanden, Wassjä,“ sagte Arkadij +Iwanowitsch, „so ist’s! Ich liebe sie, wie ich dich liebe, +sie wird mein Schutzengel sein, ganz wie sie für dich +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +einer ist und euer Glück wird auch auf mich übergehen +und auch mich erwärmen. Sie wird auch meine Hausfrau +sein, in ihre Hände lege auch ich mein Glück: +möge sie für mich sorgen, wie sie es für dich tut. Ja, +Freundschaft zu dir – Freundschaft auch zu ihr. Ihr +beide werdet für mich ganz unzertrennlich sein, nur daß +ihr eben statt ein Wesen, das du früher für mich warst, +zwei Wesen sein werdet ...“ +</p> + +<p> +Arkadij verstummte im Übermaß seiner Gefühle. +Wassjä war durch seine Worte bis in die Tiefe seiner +Seele erschüttert. Niemals hatte er solche Worte von +Arkadij erwartet! Arkadij Iwanowitsch verstand es +sonst nicht, sich auszudrücken, auch liebte er durchaus +nicht zu schwärmen, und doch hatte er soeben die allerüberschwenglichsten +Gedanken geäußert. „Wie werde ich +für euch beide sorgen, wie euch verwöhnen,“ begann +er jetzt von neuem. „Erstens, Wassjä, werde ich der +Taufpate aller deiner Kinder sein, aller, ohne Ausnahme, +und zweitens, Wassjä, muß man auch an die +Zukunft denken. Man muß eine Wohnung mieten, Möbel +kaufen, so viel, daß jeder von uns sein Zimmer hat. +Weißt du, Wassjä, ich werde bereits morgen ausgehen +und die Wohnungszettel studieren. Drei ... nein, zwei +Zimmer, mehr haben wir nicht nötig. Ich glaube jetzt +selbst, Wassjä, daß ich da heute Unsinn gesprochen habe, +das Geld wird gewiß reichen. Warum denn auch nicht? +Als ich ihr heute in die Augen sah, wußte ich sofort, +daß es reicht! Alles für sie! Oh, wie werden wir arbeiten! +Jetzt, Wassjä, kann man es wagen und fünfundzwanzig +Rubel für die Wohnung zahlen. Gute Zimmer, +mein Lieber, müssen es sein ... in guten Zimmern +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +ist der Mensch fröhlich und hat heitere Gedanken! Und +zweitens, Lisenka wird unser gemeinsamer Kassierer +sein: nicht eine Kopeke wird unnütz verausgabt! Ich +sollte künftig noch einmal in eine Kneipe gehen? Ja, +für wen hältst du mich denn eigentlich?! Um nichts in +der Welt! Man wird uns Zulage geben, uns Geschenke +machen, wenn wir fleißig arbeiten! Und wie +werden wir arbeiten, wie Büffel werden wir die Akten +pflügen! ... Stelle dir nur vor ... (und die Stimme +Arkadij Iwanowitschs wurde ganz schwach vor Seligkeit) +– wenn plötzlich so fünfundzwanzig bis dreißig +Rubel ins Haus kämen ... Nun, dann werden wir +ihr Hütchen kaufen, einen Schal, neue Strümpfchen! +Mir aber muß sie dafür durchaus ein Halstuch häkeln: +sieh nur, wie schlecht das meine ist: gelb und abgetragen +– hatte es zu meinem Unglück heute umgelegt! Ja, und +du, Wassjä, bist auch gut: stellst mich gerade in dem +Augenblick vor, wie ich noch mit dem Halstuch dastehe +... Doch, nicht darum handelt es sich! Ich, siehst du: +ich werde für das Silber sorgen! Ich bin doch verpflichtet, +euch ein Geschenk zu machen – meine Ehre +verlangt es, und auch meine Eigenliebe! ... Meine +Jahreszulage wird doch dazu reichen: hoffentlich wird +man sie mir bald geben? Fürchte nichts, mein Lieber, +ich werde euch echte silberne Löffel kaufen und gute +Messer – die nicht aus Silber zu sein brauchen, doch +ausgezeichnete Messer sein werden, und eine Weste +werde ich kaufen, das heißt, eine Weste für mich: denn +ich werde doch Trauzeuge sein! Du aber nimm dich mal +jetzt zusammen, ich werde schon auf dich aufpassen, +Bruder; heute und morgen, die ganze Nacht werde ich +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +mit dem Stock hinter deinem Stuhl stehen, beende die +Arbeit, Bruder beende sie schnell! Nun, und dann gehen +wir beide zum Abend wieder hin, und wir werden +glücklich sein ... werden Lotto spielen! ... Werden +die Abende zusammen verbringen – hei, wird das schön +werden! Pfui, Teufel! Wie ärgerlich, daß ich dir nicht +helfen kann. Ich würde am liebsten alles, alles für dich +abschreiben ... Warum haben wir nicht dieselbe Handschrift?“ +</p> + +<p> +„Ja!“ antwortete Wassjä. „Ja! Ich muß mich beeilen. +Ich glaube, es wird jetzt elf Uhr sein – wir +müssen uns beeilen ... An die Arbeit!“ Und Wassjä, +der die ganze Zeit lächelnd zugehört und bin und wieder +versucht hatte, durch irgendeine Bemerkung seine +freundschaftlichen Gefühle zu Arkadij auszudrücken, +kurz, der bis dahin mit Leib und Seele dabei gewesen +war, verstummte plötzlich, wurde unruhig und schweigsam +und fing beinah an zu laufen. Offenbar hatte irgendein +schwerer Gedanke plötzlich seinen allzu heißen +Kopf abgekühlt! +</p> + +<p> +Auch Arkadij Iwanowitsch wurde unruhig: auf +seine dringlichen Fragen erhielt er kaum eine Antwort +von Wassjä, dessen Ausrufe anderseits gar nicht mehr +zur Sache gehörten. +</p> + +<p> +„Ja, was fehlt dir denn, Wassjä?“ rief Arkadij +endlich aus, als jener seine Schritte so beschleunigte, +daß er ihm kaum zu folgen vermochte. „Bist du wirklich +so in Sorge? ...“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Lieber, wir haben genug geredet!“ antwortete +ihm Wassjä ärgerlich. +</p> + +<p> +„Verzweifle doch nicht, Wassjä,“ unterbrach ihn +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +Arkadij, „ich habe es doch schon erlebt, daß du in einer +kürzeren Frist noch viel mehr abgeschrieben hast ... +Was willst du denn! Du bist doch so geschickt! Im äußersten +Falle kannst du einfach etwas flüssiger schreiben: +deine Abschrift braucht doch nicht wie gestochen +zu sein. Du wirst’s schon schaffen! ... Wenn du +dich jetzt aufregst, so wirst du nur zerstreut sein und die +Arbeit wird dir schwer fallen ...“ +</p> + +<p> +Wassjä antwortete nichts oder murmelte nur etwas +vor sich hin, und beide liefen voll Unruhe nach Haus. +</p> + +<p> +Wassjä setzte sich sofort an die Arbeit. Arkadij Iwanowitsch +verhielt sich ganz ruhig, er entkleidete sich +vorsichtig und legte sich aufs Bett, ohne Wassjä aus +den Augen zu lassen ... Angst überkam ihn ... „Was +ist das nur mit ihm?“ dachte er bei sich, als er Wassjäs +bleiches Gesicht mit den glänzenden Augen darin +erblickte – diese Unruhe in all seinen Bewegungen – +dies Zittern seiner Hand ... Verdammt, wirklich verdammt! +Sollte ich ihm nicht raten, sich lieber zwei +Stunden hinzulegen: vielleicht kann er seine Aufregung +ausschlafen.“ +</p> + +<p> +Wassjä hatte gerade eine Seite beendet, er sah auf +und sein Blick traf zufällig Arkadij. Doch sofort schlug +er die Augen nieder und griff wieder zur Feder. +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä,“ begann plötzlich Arkadij Iwanowitsch, +„wäre es nicht wirklich besser, wenn du dich ein +wenig schlafen legtest! Sieh, du bist wie im Fieber ...“ +</p> + +<p> +Wassjä sah geärgert, sogar wütend zu Arkadij hinüber +und antwortete nichts. +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä, was machst du mit dir? ...“ Wassjä +schien sich zu besinnen. +</p> + +<p> +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +„Sollte ich nicht Tee trinken, Arkascha?“ sagte er +plötzlich. +</p> + +<p> +„Wie das? Warum?“ +</p> + +<p> +„Tee gibt Kraft. Schlafen will ich nicht und werde +ich auch nicht! Ich werde schreiben. Beim Teetrinken +würde ich mich aber erholen, und ein Augenblick der +Ermüdung wäre leichter zu überwinden.“ +</p> + +<p> +„Famos, Bruder Wassjä, famos! So gefällst du +mir: ich selbst wollte dir schon den Vorschlag machen. +Ich wundere mich nur, daß ich nicht früher darauf verfiel. +Und – weißt du was? Mawra wird nicht aufstehen, +um nichts in der Welt wird sie aufstehen ...“ +</p> + +<p> +„Ja! Das stimmt!“ +</p> + +<p> +„Ach, Unsinn, das tut auch nichts!“ rief Arkadij +Iwanowitsch und sprang barfuß aus dem Bett. „Ich +selbst werde den Ssamowar aufstellen ...“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch lief in die Küche und mühte +sich um den Ssamowar; Wassjä schrieb unterdessen +weiter. Dann kleidete sich Arkadij Iwanowitsch an, +um in eine Bäckerei zu gehen, damit Wassjä sich zur +Nacht stärken könnte. In einer Viertelstunde stand der +Ssamowar auf dem Tisch. Sie tranken den Tee, aber +zu einem Gespräch kam es nicht mehr. Wassjä war immer +noch sehr zerstreut. +</p> + +<p> +„Ja, was ich sagen wollte,“ sagte er endlich, sich +besinnend, „morgen muß man gehen und gratulieren.“ +</p> + +<p> +„Das hast du doch nicht nötig.“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Lieber, das muß sein,“ sagte Wassjä +... +</p> + +<p> +„Ich werde dich bei allen einschreiben. Wozu willst +du gehen? Du, arbeite morgen! Heute arbeite noch bis +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +fünf Uhr, wie ich’s dir gesagt habe, und dann lege dich +schlafen. Denn sonst, wie wirst du morgen sonst aussehen? +Ich würde dich um Punkt acht Uhr wecken ...“ +</p> + +<p> +„Ja, geht es denn an, daß du statt meiner mich +überall einschreibst?“ fragte Wassjä halb und halb mit +dem Vorschlage einverstanden. +</p> + +<p> +„Ja, warum denn nicht? So machen es doch alle!“ +</p> + +<p> +„Ich fürchte eigentlich ...“ +</p> + +<p> +„Was denn, was?“ +</p> + +<p> +„Bei den andern, weißt du, tut es nichts, aber bei +Juljan Mastakowitsch – er ist doch mein Wohltäter, +Arkascha, und wenn er bemerkt, daß eine fremde +Hand ...“ +</p> + +<p> +„Bemerkt! Wie töricht du bist, Wassjuk! Wie +kann er denn das bemerken? ... Ich kann doch +deinen Namen so gut kopieren und dieselbe Schleife +dranmachen, bei Gott, du weißt doch. Wirklich, was +soll er denn da bemerken?“ +</p> + +<p> +Wassjä antwortete nichts und beeilte sich, sein Glas +zu leeren ... Darauf schüttelte er zweifelnd den Kopf. +</p> + +<p> +„Wassjä, mein Junge! Ach, wenn es uns doch nur +gelingen würde! Wassjä, was fehlt dir denn? Du machst +mir Angst! Weißt du, ich werde mich nicht hinlegen, +Wassjä, ich werde nicht einschlafen. Zeige mir doch, ob +du noch viel zu schreiben hast?“ +</p> + +<p> +Wassjä blickte Arkadij Iwanowitsch so an, daß diesem +das Herz weh tat und er kein Wort mehr herausbrachte. +</p> + +<p> +„Wassjä! Was ist mit dir? Was hast du? Warum +siehst du mich so an?“ +</p> + +<p> +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +„Arkadij, ich, weißt du, ich werde morgen doch selbst +gehen und Juljan Mastakowitsch gratulieren.“ +</p> + +<p> +„Nun, so gehe doch!“ sagte Arkadij und sah ihn +mit großen Augen in qualvoller Erwartung an. +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä, schreibe doch schneller, ich werde dir +doch nichts Schlechtes raten, bei Gott, das tue ich nicht. +Wie oft hat dir nicht Juljan Mastakowitsch selbst schon +gesagt, daß ihm an deiner Handschrift am meisten die +Leichtigkeit gefällt! Nur Skoroplechin liebt es, wenn +die Schrift wie gemalt ist und wie eine Schönschreibevorlage +aussieht, um sich das Papier dann unrechtmäßigerweise +anzueignen und seinen Kindern mit nach +Hause zu bringen – denn eine Vorlage für sie kann +sich der Schafskopf wohl nicht kaufen! Aber Juljan +Mastakowitsch verlangt immer nur: flüssig, flüssig, +flüssig! Doch was hast du nur, Wassjä, ich weiß wirklich +nicht, was ich dir noch sagen soll ... Ich fürchte +mich fast ... Mit deiner Verzweiflung bringst du mich +noch um!“ +</p> + +<p> +„Nichts, nichts!“ sagte Wassjä und fiel erschöpft +auf seinen Stuhl zurück. Arkadij erschrak. +</p> + +<p> +„Willst du Wasser, Wassjä? – Wassjä!“ +</p> + +<p> +„Laß nur, laß,“ sagte Wassjä, und drückte ihm die +Hand. „Mir fehlt nichts, mir ist nur etwas traurig zumut, +Arkadij. Ich kann es eigentlich selbst nicht sagen, +warum. Höre, rede lieber von etwas anderem, erinnere +mich nicht daran ...“ +</p> + +<p> +„Beruhige dich, um Gottes willen, beruhige dich +doch, Wassjä. Du wirst’s schon beenden, bei Gott, +wirst’s schon beenden! Und wenn nicht, – nun, was +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +wäre denn dabei für ein Unglück? Tust ja, als wäre +das ein wahres Verbrechen!“ +</p> + +<p> +„Arkadij,“ sagte Wassjä, seinen Freund so bedeutungsvoll +ansehend, daß dieser wieder erschrak, denn +noch nie hatte er Wassjä so tief innerlich aufgeregt gesehen. +„Wenn ich allein gewesen wäre, wie früher ... +Nein! Nicht das meine ich! Ich möchte es dir immer +sagen, dir anvertrauen, wie einem Freunde ... Übrigens, +wozu dich beunruhigen? ... Siehst du, Arkadij, +den einen ist viel gegeben, andere verrichten nur Kleines, +wie ich. Nun, wenn man von dir zum Beispiel +Dankbarkeit und Anerkennung verlangte – und dir +wäre es nicht möglich ...?“ +</p> + +<p> +„Wassjä! Ich kann dich wahrhaftig nicht verstehen!“ +</p> + +<p> +„Ich bin niemals undankbar gewesen,“ fuhr Wassjä +fort, als spräche er zu sich selbst. „Wenn ich nun +aber nicht imstande bin, alles auszudrücken, was ich +fühle, so ist es, als ob ... so hat es doch den Anschein, +Arkadij, als wäre ich tatsächlich undankbar, und das +bringt mich einfach um!“ +</p> + +<p> +„Was sagst du da, was! Besteht denn wirklich darin +deine ganze Dankbarkeit, daß du genau zum Termin +fertig geworden bist? Denke doch nach, Wassjä, was +du da sagst! Wäre das wirklich die ganze Dankbarkeit?“ +</p> + +<p> +Wassjä verstummte und sah seinen Freund mit großen +Augen an, als hätte dieser unerwartete Einwand +alle Bedenken genommen. Er lächelte sogar, nahm aber +sofort wieder eine nachdenkliche Miene an. Arkadij faßte +dieses Lächeln als das Ende aller Schrecken auf, die Lebhaftigkeit +aber, die wieder über Wassjä kam, als einen +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +Entschluß zu etwas Besserem, und freute sich bereits +sehr. +</p> + +<p> +„Nun, Arkascha, du legst dich jetzt schlafen,“ sagte +Wassjä. „Sieh nur, daß ich nicht einschlafe, das wäre +ein Unglück. Ich mache mich also jetzt an die Arbeit +... Arkascha!“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Nein, nichts, ich wollte nur ...“ +</p> + +<p> +Wassjä setzte sich hin, schwieg und schrieb. Arkadij +legte sich schlafen. Weder der eine noch der andere hatte +ihren Besuch vom Nachmittag erwähnt. Vielleicht +fühlten sich alle beide ein wenig schuldig, die Zeit vergeudet +zu haben. Arkadij Iwanowitsch war bald eingeschlafen +– in Sorgen über Wassjä. Zu seiner Verwunderung +erwachte er genau um acht Uhr morgens. +Wassjä war auf seinem Stuhl gleichfalls eingeschlafen, +die Feder in der Hand, bleich und übermüdet. Das +Licht war niedergebrannt. In der Küche machte sich +Mawra am Ssamowar zu schaffen. +</p> + +<p> +„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij erschrocken aus. +„Wann bist du eingeschlafen?“ +</p> + +<p> +Wassjä riß die Augen auf und sprang vom Stuhl. +</p> + +<p> +„Ach!“ sagte er, „ich bin nur so eingeschlafen! ...“ +</p> + +<p> +Er sah sofort nach seinen Papieren, nichts war +ihnen geschehen, alles war in Ordnung; kein Tintenfleck, +kein Talgfleck, vom Licht war nichts heruntergetröpfelt. +</p> + +<p> +„Ich glaube, ich schlief um sechs Uhr ein,“ sagte +Wassjä. „Wie kalt es in der Nacht ist! Trinken wir +einen Tee und dann werde ich wieder ...“ +</p> + +<p> +„Bist du ruhig geworden?“ +</p> + +<p> +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +„Ja, ja, mir fehlt nichts!“ +</p> + +<p> +„Prost Neujahr, Wassjä.“ +</p> + +<p> +„Prost Neujahr, mein Lieber, prost Neujahr, +wünsche dir gleichfalls alles Gute, mein Lieber.“ +</p> + +<p> +Sie umarmten sich. Wassjäs Lippen zitterten und +seine Augen schwammen in Tränen. Arkadij Iwanowitsch +schwieg: ihm war bitter zumut. Beide tranken sie +eilig den Tee ... +</p> + +<p> +„Arkadij! Ich habe beschlossen, selbst zu Juljan +Mastakowitsch zu gehen ...“ +</p> + +<p> +„Aber er wird es ja doch nicht bemerken ...“ +</p> + +<p> +„Mich quält sonst das Gewissen, mein Lieber.“ +</p> + +<p> +„Du sitzt doch hier seinetwegen, seinetwegen quälst +du dich ... Genug, Wassjä! ... Und ich, weißt du, +mein Lieber, werde auch dahin gehen ...“ +</p> + +<p> +„Wohin?“ fragte Wassjä. +</p> + +<p> +„Zu Artemjeffs, um auch ihnen zu gratulieren, auch +für dich mit!“ +</p> + +<p> +„Schön, mein Lieber, schön! Nun! So werde ich +also hier bleiben: ja, ich sehe, das hast du dir trefflich +ausgedacht. Ich werde also hier bleiben und arbeiten +und nicht feiertagsmäßig die Zeit verbringen! Warte +nur noch ein wenig, ich werde gleich einen Brief schreiben.“ +</p> + +<p> +„Schreibe nur, schreibe, es hat ja noch Zeit. Ich +werde mich erst waschen, rasieren und den Rock reinbürsten.“ +</p> + +<p> +„Wassjä, mein Bruder, weißt du, wir werden beide +glücklich und zufrieden sein! Umarme mich, Wassjä!“ +</p> + +<p> +„Ach, wenn du das meinst, Bruder! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +„Wohnt hier der Herr Beamte Schumkoff?“ ertönte +in diesem Augenblick ein Kinderstimmchen auf der +Treppe. +</p> + +<p> +„Hier, mein Kleiner, hier,“ antwortete Mawra und +ließ den kleinen Gast eintreten. +</p> + +<p> +„Wer ist da? Wer, wer?“ rief Wassjä, sprang +vom Stuhl auf und stürzte ins Vorzimmer. „Petinka, +du? ...“ +</p> + +<p> +„Guten Tag, habe die Ehre Ihnen zum neuen Jahre +zu gratulieren, Wassilij Petrowitsch,“ sagte ein reizender +schwarzlockiger Bengel von etwa zehn Jahren, +„die Schwester läßt Sie schön grüßen, Mama auch, +und die Schwester hat mir befohlen, Sie von ihr zu +küssen ...“ +</p> + +<p> +Wassjä hob den kleinen Gesandten mit beiden Armen +in die Luft und drückte einen langen leidenschaftlichen +Kuß auf seine Lippen, die ganz Lisenkas Lippen +ähnlich waren. +</p> + +<p> +„Küsse ihn auch, Arkadij!“ wandte er sich an diesen +und übergab ihm Petjä – und Petjä ging, ohne +die Erde zu berühren, in die mächtige und heftige Umarmung +Arkadij Iwanowitschs über. +</p> + +<p> +„Mein Kleiner, willst du Tee?“ +</p> + +<p> +„Danke bestens. Wir haben bereits Tee getrunken! +Heute sind wir früh aufgestanden. Die Unsrigen gingen +zur Frühmesse. Die Schwester hat mich zwei Stunden +lang angezogen, mich gewaschen und gekämmt und +mir die Hosen genäht, die ich gestern abend, als ich mit +Ssascha auf der Straße spielte, zerrissen hatte: wir +spielten nämlich Schneeball zusammen, und da ...“ +</p> + +<p> +„Nu – nu – nu – nu!“ +</p> + +<p> +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +„Jawohl, die ganze Zeit hat sie mich aufgeputzt, +mich zurechtgestutzt und dann mich abgeküßt: ‚gehe zu +Wassjä, gratuliere ihm und frage ihn, ob er ruhig die +Nacht verbracht hat, und noch ...‘ und ich sollte noch +etwas fragen, ja! Ob die Sache schon beendet wäre, +von der Sie gestern gesprochen ... gestern ... Ach, +ich habe ja alles aufgeschrieben,“ sagte der Kleine, zog +ein Blättchen aus der Tasche, – „ja, und ob Sie aufgeregt +wären?“ +</p> + +<p> +„Ich werde fertig! Ich werde! Sag’s ihr, daß +ich fertig werde, mein Ehrenwort drauf!“ +</p> + +<p> +„Ja und noch etwas ... Ach! Ich hab’s vergessen: +die Schwester hat auch einen Brief und ein Geschenk +geschickt, ja, und ich hätte es fast vergessen! ...“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! ... Wo denn, mein Kind, wo? Da +ist’s!? – ah! Sieh doch, mein Lieber, sieh, was sie mir +schreibt, die Liebe, Gute! Weißt du, gestern habe ich bei +ihr eine Brieftasche für mich gesehen: leider ist sie nicht +fertig geworden, so schickt sie mir heute eine ihrer +schwarzen Locken, die Brieftasche wird mir deshalb jedoch +nicht verloren gehen. Sieh, Bruder, sieh nur!“ +</p> + +<p> +Und der aufgeregte Wassjä zeigte Arkadij +Iwanowitsch eine schwarze Locke, küßte sie leidenschaftlich +und legte sie dann in die Seitentasche, nahe dem +Herzen. +</p> + +<p> +„Wassjä! Ich werde dir für diese Locke ein Medaillon +kaufen!“ sagte schließlich Arkadij Iwanowitsch. +</p> + +<p> +„Und heute haben wir einen Kalbsbraten und +morgen Kalbshirn. Mama will auch noch Kuchen +backen ... Und wir werden nicht wieder Haferbrei +essen,“ sagte der Knabe, und schloß seine Erzählung. +</p> + +<p> +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +„Nein, was das für ein netter Kerl ist!“ meinte Arkadij +Iwanowitsch. „Wassjä, du bist der glücklichste +Sterbliche!“ +</p> + +<p> +Der Kleine trank seinen Tee, erhielt ein Briefchen, +tausend Küsse und machte sich dann, frisch und fröhlich +wie er gekommen war, auf den Heimweg. +</p> + +<p> +„Nun, mein Lieber,“ meinte hocherfreut Arkadij +Iwanowitsch, „siehst du, wie gut alles ist, siehst du! +Alles wendet sich zum besseren, verzage nicht und klage +nicht! Immer voran, Wassjä, mache Schluß mit dem +Trübsinn! In zwei Stunden bin ich wieder zu Haus: +zuerst fahre ich zu ihnen, dann zu Juljan Mastakowitsch.“ +</p> + +<p> +„Nun, lebe wohl, Lieber, lebe wohl ... Ach, wenn +es so ist! ... Nun gut, gut, mache, daß du wegkommst,“ +sagte Wassjä, „ich, mein Lieber, werde dann also bestimmt +<em>nicht</em> zu Juljan Mastakowitsch gehen.“ +</p> + +<p> +„Lebe wohl!“ +</p> + +<p> +„Wart, mein Lieber, wart: sage ihr ... Nun, alles +was du willst – küsse sie von mir ... Du erzählst mir +dann alles später, mein Lieber, alles ...“ +</p> + +<p> +„Nun, natürlich: jetzt wirst du ja wieder der alte! +Seit gestern abend warst du noch gar nicht recht zu +dir gekommen, hattest dich von all den Eindrücken noch +gar nicht erholt. Nun aber Schluß! Kopf hoch, mein +lieber Wassjä! Lebe wohl, lebe wohl!“ +</p> + +<p> +Endlich trennten sich die Freunde. Den ganzen +Morgen über war Arkadij Iwanowitsch zerstreut und +dachte nur an Wassjä. Er kannte dessen schwache und +leicht erregbare Natur. Das Glück hatte ihn offenbar +so erschüttert: jawohl, das war es, das Glück! Ich habe +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +mich nicht getäuscht! sagte Arkadij zu sich selbst. Mein +Gott! Er hat mir aber einen Schrecken eingejagt! Und +woraus er nicht eine Tragödie macht! Was für ein +Hitzkopf er ist! Wirklich, man muß ihm helfen! Jawohl: +helfen! +</p> + +<p> +Bei Juljan Mastakowitsch erschien Arkadij erst um +elf Uhr, um in der Portiersloge seinen bescheidenen +Namen der endlosen Reihe hoher Persönlichkeiten hinzuzufügen, +die auf einem bereits vollgekritzelten weißen +Bogen ihre Namen eingetragen hatten. Doch wie groß +war seine Verwunderung, als unmittelbar vor seinem +Namen die Unterschrift Wassjä Schumkoffs auftauchte! +Nun – was ist denn mit ihm geschehen? dachte +er erschrocken. Und Arkadij Iwanowitsch, der gerade +vorher soviel Hoffnung geschöpft hatte, ging ganz bestürzt +von dannen. Bereitete sich in der Tat ein Unglück +vor? Was hieß das? Was sollte daraus werden!? +</p> + +<p> +In Kolomna erschien er mit düsteren Gedanken und +war anfangs sehr zerstreut. Erst als er mit Lisenka gesprochen +hatte, kam er zur Besinnung und ging dann +mit Tränen in den Augen fort: er war Wassjäs wegen +wirklich in heller Angst. Er lief so schnell wie möglich +nach Haus. Gerade an der Newa stieß er mit Schumkoff +zusammen. Der lief gleichfalls mehr als er ging. +</p> + +<p> +„Wohin?“ rief Arkadij Iwanowitsch. +</p> + +<p> +Wassjä stutzte wie ein ertappter Verbrecher. +</p> + +<p> +„Ich, mein Lieber, ich gehe nur so ... ich wollte nur +ein wenig spazieren ...“ +</p> + +<p> +„Du hast es nicht ausgehalten, du willst nach Kolomna +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +gehen? Ach, Wassjä, Wassjä! Warum bist du +nur zu Juljan Mastakowitsch gegangen?“ +</p> + +<p> +Wassjä antwortete ihm nichts darauf, er winkte nur +mit der Hand und sagte dann: +</p> + +<p> +„Arkadij! Ich weiß nicht, was mit mir vorgeht! +Ich ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut, Wassjä, schon gut! Ich weiß doch, wie +das ist. Beruhige dich doch nur! Du bist seit gestern +unruhig und aufgeregt! Es ist ja auch kein Wunder! +Alle lieben dich, alle leben für dich, mit deiner Arbeit +geht’s vorwärts, bald wirst du sie beendet haben, das +wirst du bestimmt, ich weiß es: du bildest dir da nur so +etwas ein, hast da irgendeine Angst ...“ +</p> + +<p> +„Nein, durchaus nicht, durchaus nicht ...“ +</p> + +<p> +„Erinnere dich doch, Wassjä, erinnere dich doch, +wie es mit dir war, weißt du noch, als du befördert +wurdest, du wußtest dich auch nicht vor Glück und vor +Dankbarkeit zu lassen, verdoppeltest deinen Eifer und +eine Woche lang verdarbst du doch nur die Arbeit! +Dasselbe geschieht jetzt wieder mit dir ...“ +</p> + +<p> +„Ja, ja, Arkadij – doch ist das jetzt etwas ganz +anderes, durchaus etwas anderes ...“ +</p> + +<p> +„Wieso denn, etwas anderes: ich bitte dich! Die +Sache ist ganz sicher nicht so eilig, du aber quälst dich +dermaßen ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, ich bin nur so ... Nun, gehen +wir!“ +</p> + +<p> +„Wie, so willst du nach Haus und nicht zu ihnen?“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Lieber, mit diesem Gesicht kann ich +dort nicht erscheinen ... Ich habe mich bedacht. Ich +konnte es nur ohne dich so allein zu Hause nicht aushalten. +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +Jetzt, da du wieder bei mir bist, werde ich mich +hinsetzen und weiter schreiben. Gehen wir!“ +</p> + +<p> +Sie gingen und schwiegen eine Zeitlang. Wassjä +hatte es jetzt wieder sehr eilig. +</p> + +<p> +„Warum erkundigst du dich gar nicht nach ihnen?“ +fragte Arkadij Iwanowitsch. +</p> + +<p> +„Ach, ja! Nun, Arkaschenka, wie steht’s?“ +</p> + +<p> +„Wassjä, man erkennt dich gar nicht wieder!“ +</p> + +<p> +„Nun, tut nichts, tut nichts. Erzähle mir nur alles, +Arkascha!“ bat Wassjä mit flehender Stimme, als +wolle er jeder weiteren Erklärung ausweichen. Arkadij +Iwanowitsch seufzte tief auf: er wußte mit Wassjä +gar nichts mehr anzufangen. +</p> + +<p> +Die Nachrichten von den Kolomnaschen belebten +jedoch Wassjä wieder. Er sprach sogar sehr lebhaft von +ihnen. Sie speisten beide zu Mittag. Die Alte hatte die +Taschen Arkadij Iwanowitschs mit Kuchen vollgestopft +und die Freunde waren lustig und guter Dinge, während +sie sie aßen. Nach Tisch wollte Wassjä sich hinlegen, um +dann die Nacht durcharbeiten zu können. Und so geschah +es denn auch. Am Morgen hatte jemand Arkadij +Iwanowitsch zum Tee aufgefordert, eine Einladung, +die abzuschlagen nicht gut anging. Die Freunde trennten +sich infolgedessen. Arkadij versprach, so früh als es +eben nur anging, zurückzukommen, wenn möglich schon +um acht Uhr. Diese drei Stunden Trennung kamen +ihm selbst wie drei Jahre vor. Endlich machte er sich +auf, um zu Wassjä zurückzukehren. Als er ins Zimmer +trat, sah er, daß es dunkel war. Wassjä war nicht zu +Haus. Er fragte Mawra. Mawra sagte, daß Wassjä +die ganze Zeit geschrieben habe, darauf im Zimmer +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +auf und ab gegangen sei, und schließlich vor einer +Stunde ungefähr hinausgelaufen wäre – mit der Bemerkung, +er käme in einer halben Stunde wieder: +‚wenn aber Arkadij Iwanowitsch inzwischen kommt, so +sage du ihm,‘ schloß Mawra die Erzählung, ‚daß ich +nur ein wenig spazierengegangen bin,‘ das aber habe +er ihr drei- bis viermal ausdrücklich anbefohlen. +</p> + +<p> +„Er ist sicher bei Artemjeffs!“ dachte Arkadij Iwanowitsch +und schüttelte den Kopf. +</p> + +<p> +Im nächsten Augenblick sprang er auf: er hatte +eine neue Hoffnung. „Er ist wohl gar fertig geworden,“ +dachte er, „ja: das wird es sein; und er hat es nicht +länger ausgehalten und ist zu ihnen gelaufen. Übrigens, +nein! Dann hätte er doch auf mich gewartet ... +Sehen wir, wie es mit seiner Arbeit steht –“. +</p> + +<p> +Er zündete das Licht an und begab sich an Wassjäs +Schreibtisch: die Arbeit ging offenbar gut vonstatten +und schien sich ihrem Ende zu nähern. Arkadij Iwanowitsch +wollte sich noch näher davon überzeugen, als +plötzlich Wassjä eintrat ... +</p> + +<p> +„Ah! Du hier?“ rief er aus und schrak zusammen. +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch schwieg. Er fürchtete sich, an +Wassjä irgendeine Frage zu stellen. Der schlug die Augen +nieder und begann schweigend seine Papiere zu +ordnen. Schließlich begegneten sich beider Augen. Wassjäs +Blick war flehend und gebrochen. Arkadij schrak +zurück, als er ihn traf. +</p> + +<p> +„Wassjä, mein Lieber, was ist das mit dir? Was +hast du?“ rief er aus, stürzte sich auf Wassjä und nahm +ihn in seine Arme, „erkläre mir doch, ich verstehe nichts +von deiner Traurigkeit, was hast du, mein armer Märtyrer? +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +Sage mir doch alles, ohne Umschweife. Es kann +doch nicht sein, daß dieses eine ...“ +</p> + +<p> +Wassjä preßte sich ungestüm an ihn. Sprechen +konnte er nicht. Der Atem ging ihm aus. +</p> + +<p> +„Schon gut, Wassjä, schon gut! Wenn du nicht +fertig wirst, was ist denn dabei? Ich verstehe dich gar +nicht, sag doch, was quält dich so? Siehst du, ich bin +doch bereit, für dich alles ... Ach, mein Gott, mein +Gott!“ sagte er, im Zimmer auf und ab gehend, während +er nach allem griff, was ihm in die Hände kam, +als suchte er ein Mittel, eine Hilfe für Wassjä. „Ich +selbst werde morgen anstatt deiner zu Juljan Mastakowitsch +gehen, werde ihn bitten, ihn anflehn, daß er +dir noch einen Tag Frist gebe. Ich werde ihm alles +auseinandersetzen, alles, alles, wenn es dich so quält ...“ +</p> + +<p> +„Gott bewahre mich davor!“ rief Wassjä aus und +wurde weiß wie die Wand. Er konnte sich kaum auf +den Füßen halten. +</p> + +<p> +„Wassjä, Wassjä!“ +</p> + +<p> +Wassjä kam wieder zu sich. Seine Lippen zitterten; +er wollte etwas sagen, konnte aber nur schweigend Arkadij +die Hand drücken. Seine Hand war kalt. Arkadij +stand vor ihm in quälender Erwartung. Wassjä sah ihn +wieder an. +</p> + +<p> +„Wassjä! Gott mir dir, Wassjä! Du zerreißt mir +das Herz, mein Freund, mein Lieber.“ +</p> + +<p> +Ströme von Tränen stürzten aus Wassjäs Augen: +er warf sich an die Brust seines Freundes. +</p> + +<p> +„Ich habe dich betrogen, Arkadij!“ schluchzte er +laut auf, „ich habe dich betrogen: vergib mir, vergib! +Ich habe dich hintergangen ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +„Wieso, Wassjä! Was heißt das?“ fragte Arkadij, +außer sich vor Angst und Schrecken. +</p> + +<p> +„Da! ...“ +</p> + +<p> +Und Wassjä warf mit einer verzweifelten Geste aus +einem Kasten sechs dicke Hefte auf den Tisch, die genau +so aussahen wie jenes, das er abschrieb. +</p> + +<p> +„Was soll das?“ +</p> + +<p> +„Da, das Ganze müßte ich bis übermorgen fertigstellen. +Ich habe nicht einmal ein Viertel davon!“ +</p> + +<p> +„Frage nicht, frage nicht, wie das kommen konnte!“ +fuhr Wassjä fort, um selbst alles zu erzählen, was ihn +so gequält hatte. „Arkadij, lieber Freund! Ich weiß +selbst nicht, was mit mir geschehen war. Ich bin erst +jetzt wie aus einem Traum erwacht. Ich habe drei ganze +Wochen verloren. Ich bin ... immer ... zu ihr gegangen +... Mein Herz sehnte sich ... ich quälte mich +... mit der Ungewißheit ... und ich konnte, ich konnte +nicht arbeiten. Ich dachte auch nicht einmal daran. Jetzt +erst, wo das Glück wirklich für mich begonnen hat, – +da bin ich aufgewacht.“ +</p> + +<p> +„Wassjä!“ begann Arkadij Iwanowitsch entschlossen, +„Wassjä, ich werde dich retten! Ich begreife alles. +Diese Sache ist kein Spaß. Ich muß dir helfen! Höre, +höre mich an: ich gehe morgen zu Juljan Mastakowitsch +... Schüttle nicht den Kopf, nein, höre nur! Ich werde +ihm alles erzählen, wie es gewesen ist, erlaube mir, daß +ich es tue ... Ich werde ihm erklären ... ich werde +alles wagen! Ich werde ihm deine Lage schildern, werde +ihm erzählen, wie du dich quälst.“ +</p> + +<p> +„Wenn du dir nur sagen wolltest, daß du mich damit +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +einfach vernichtest?“ erwiderte Wassjä, ganz starr +vor Schreck. +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch wurde blaß, doch er beherrschte +sich und fing an zu lachen. +</p> + +<p> +„Aber was denn, Wassjä! Was denn! So höre +doch! Ich sehe ja, daß ich dich damit nur aufrege. Aber +ich verstehe dich doch, ich weiß doch, was in dir vorgeht. +Wir leben doch schon fünf Jahre miteinander, und +schwach bist du, unverzeihlich schwach. Auch Lisaweta +Michailowna hat es bereits bemerkt. Außerdem bist du +ein Schwärmer, und das ist auch nicht gut: man kann +da plötzlich ins Bodenlose fallen, mein Bruder! Höre +mich an, ich weiß doch, was du möchtest! Du möchtest, +daß Juljan Mastakowitsch außer sich vor Freude wäre: +darüber, daß du heiratest – und womöglich sollte er +einen Ball für dich geben ... Halt, halt! Du runzelst +die Brauen. Siehst du, schon wegen dieser kleinen Bemerkung +von mir bist du beleidigt, für Juljan Mastakowitsch +beleidigt! Lassen wir ihn also beiseite. Ich +verehre ihn nicht weniger als du. Du wirst mir aber +doch nicht abstreiten und mir nicht zu denken verbieten, +daß du nicht wünschtest – nun sagen wir: es gäbe keinen +einzigen Unglücklichen auf der Erde, bloß weil du +heiratest ... Gib es doch zu, mein Lieber, daß du nichts +dagegen hättest, wenn ich, dein bester Freund, plötzlich +in den Besitz von hunderttausend Rubel Kapital käme: +und daß alle Feinde der Welt sich versöhnten, sich mitten +auf der Straße vor Freude in die Arme fielen und, +wenn möglich, hierher zu dir zu Gaste kämen! Lieber +Freund, ich scherze nicht, es ist so! Ich habe dich +schon längst erkannt. Weil du dich glücklich fühlst, +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +willst du, daß sich alle glücklich fühlen sollen. Es fällt +dir schwer, allein glücklich zu sein! Darum möchtest du +mit aller Gewalt dich deines Glückes würdig erweisen +und zur Beruhigung deines Gewissens sofort eine große +Tat vollbringen! Nun, ich verstehe, wie du dich quälen +mußt, daß gerade dort, wo du dein Können zeigen möchtest +... nun, sagen wir, daß dort deine Dankbarkeit, wie +du dich ausdrückst, plötzlich versagt! Der Gedanke ist dir +sehr peinlich, daß Juljan Mastakowitsch sich ärgern +wird, wenn er erfährt, daß du in diesem Falle die +Hoffnungen getäuscht hast, die er auf dich gesetzt. Dir +ist es schmerzlich, daran zu denken, daß du Vorwürfe +von dem hören wirst, den du für deinen Wohltäter hältst +– und das gerade jetzt! Jetzt, da dein Herz voll Freude +ist und da du nicht weißt, an wem du deine Dankbarkeit +auslassen sollst! ... Ist es nicht so? nicht wahr, +es ist so!“ +</p> + +<p> +Mit zitternder Stimme schloß Arkadij Iwanowitsch +seine Rede, er schwieg und schöpfte tief Atem. +</p> + +<p> +Wassjä blickte voll Liebe auf seinen Freund. Auf +seinen Lippen lag ein Lächeln. +</p> + +<p> +In Erwartung einer Hoffnung belebte sich sogar +sein Gesicht. +</p> + +<p> +„Also, höre mich an,“ begann von neuem Arkadij, +auch seinerseits wieder von Hoffnung belebt, „so ist es +denn nicht nötig, daß Juljan Mastakowitsch seine Zuneigung +zu dir einbüßt. Ist es nicht so, mein Lieber? +Hier liegt doch die Frage? Wenn dem aber so ist, dann +werde ich,“ sagte Arkadij vom Stuhl aufspringend, +„dann werde ich mich für dich opfern. Ich werde morgen +zu Juljan Mastakowitsch gehen ... Widersprich +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +mir nicht! Du, Wassjä, machst ja dein Versäumnis zu +einem Verbrechen! Er aber, Juljan Mastakowitsch, ist +großmütig und mildtätig, und denkt nicht so wie du! +Er, Bruder Wassjä, wird uns anhören und aus dem +Unglück helfen. Jawohl. Nun! Hast du dich beruhigt?“ +</p> + +<p> +Wassjä drückte mit Tränen in den Augen Arkadijs +Hand. +</p> + +<p> +„Schon gut, Arkadij, schon gut,“ sagte er, „die Sache +ist bereits beschlossen. Ich habe meine Sache nicht +gemacht: gut! Nicht gemacht ist – nicht gemacht. Du +aber brauchst deshalb nicht hinzugehen: ich selbst werde +hingehen und ihm alles erzählen. Ich habe mich jetzt +beruhigt, ich bin vollständig gefaßt. Doch du, nein, du +sollst nicht gehen ... So höre doch ...“ +</p> + +<p> +„Wassjä, mein Lieber!“ rief Arkadij Iwanowitsch +freudig aus, „meine Worte haben auf dich gewirkt: wie +freue ich mich, daß du dich besonnen hast und dich zusammennehmen +willst. Wie es mit deiner Sache auch +stehen mag, was auch geschehen wird – ich bin bei dir, +vergiß das nicht! Ich sehe, du willst nicht, daß ich mit +Juljan Mastakowitsch darüber spreche – gut: ich +werde nichts sagen, nichts, du selbst wirst es tun. +Siehst du: du gehst morgen hin ... Oder nein, du +wirst nicht hingehen, du wirst hier bleiben und schreiben, +verstehst du? Ich werde aber doch herumhören, wie +es mit der Sache steht, ob sie sehr eilig ist oder nicht, +ob sie zum Termin fertig sein muß oder nicht, und +wenn du den Termin versäumst, was daraus entspringen +kann? Dann werde ich zu dir kommen und dir berichten. +Siehst du, siehst du! Da haben wir schon eine +Hoffnung; nun, stelle dir vor, daß die Sache keine Eile +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +hat! Wie viel ist dann gewonnen! Juljan Mastakowitsch +kann sie vielleicht überhaupt vergessen haben – und +dann ist ja sowieso alles gerettet!“ +</p> + +<p> +Wassjä schüttelte bedenklich mit dem Kopf. Doch +wandte er seinen dankbaren Blick nicht von dem Gesicht +seines Freundes. +</p> + +<p> +„Schon gut, schon gut! Ich fühle mich so schwach +und bin so müde,“ sagte er dann seufzend, „ich möchte +selbst nicht mehr daran denken. Sprechen wir von etwas +anderem! Ich, siehst du, ich werde auch jetzt nicht mehr +schreiben, ich werde nur noch die Seite beenden – bis +zum Absatz. Höre ... Ich wollte dich schon längst fragen: +wie kommt’s, daß du mich so gut kennst?“ +</p> + +<p> +Tränen tropften aus seinen Augen auf die Hand +Arkadijs. +</p> + +<p> +„Wenn du wüßtest, Wassjä, wie sehr ich dich liebhabe, +so würdest du nicht danach fragen!“ +</p> + +<p> +„Ja, ja, Arkadij, ich weiß es nicht ... denn ich +kann nicht verstehen, für was du mich so liebhast! Ja, +Arkadij, du mußt wissen, daß deine Liebe mich geradezu +erdrückt. Wie oft, wenn ich mich schlafen legte, habe ich +an dich gedacht (denn ich denke immer an dich, bevor +ich einschlafe) und mein Herz zitterte so heftig, so sehr +... so sehr ... Weil du mich so gern hast, und ich +mein Herz nicht erleichtern und dir mit nichts danken +konnte ...“ +</p> + +<p> +„Siehst du, Wassjä, siehst du, so bist du! ... Wie +du dich wieder aufregst,“ sagte Arkadij, dem das Herz +weh tat, wenn er an die gestrige Szene auf der Straße +dachte. +</p> + +<p> +„Schon gut. Du willst, daß ich mich beruhige und +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +doch war ich noch niemals so ruhig und glücklich wie +eben! Weißt du was? ... Höre, ich möchte dir gern +etwas sagen, aber ich fürchte, dich zu kränken ... du +bist immer gleich so gekränkt und schreist dann auf mich +ein: ich aber bin dann so erschrocken ... Sieh, wie ich +jetzt zittere, ich weiß gar nicht warum ... Höre, was ich +dir sagen will. Ich glaube, ich habe mich früher selbst +nicht gekannt – ja! Und die anderen habe ich erst gestern +kennen gelernt. Ich, Bruder, ich verstand nicht, +alles richtig zu schätzen. Das Herz in mir war verhärtet. +Höre, wie ist das nur möglich, daß ich niemandem, niemandem +auf der Welt etwas Gutes getan habe, weil ich +es eben nicht tun konnte – sogar mein Äußeres ist +unglücklich ... Alle aber haben mir Gutes erwiesen! +Du als der erste: sehe ich’s denn nicht?! Ich habe nur +immer geschwiegen, geschwiegen!“ +</p> + +<p> +„Wassjä, höre auf!“ +</p> + +<p> +„Nun, was denn, was denn, Arkascha! ... Ich +habe doch nichts ...“ unterbrach sich Wassjä, der vor +Tränen kaum sprechen konnte. „Ich habe dir gestern +von Juljan Mastakowitsch erzählt. Du weißt doch +selbst, wie streng er sonst ist, und wie rauh. Du selbst +hast manche Bemerkung von ihm einstecken müssen, mit +mir aber hat er gestern gescherzt und mir sein gutes +Herz gezeigt, das er allen anderen gegenüber verbirgt +...“ +</p> + +<p> +„Nun, Wassjä? Das zeigt doch nur, daß du dessen +würdig bist.“ +</p> + +<p> +„Ach, Arkascha! Wie gern, wie gern würde ich dies +Ganze erledigt haben! ... Ich vernichte ja mein Glück +damit! Ich habe so ein Vorgefühl! Nein, nicht +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +dadurch,“ unterbrach sich Wassjä, als er bemerkte, daß +Arkadij nach dem dicken Papierstoß auf dem Tisch +schielte, „das hat nichts zu sagen, das ist beschriebenes +Papier, Unsinn! Diese Sache ist erledigt ... Ich, Arkascha, +ich war heute bei ihnen ... Ich bin nicht hineingegangen. +– Es war mir zu schwer zumut! Ich +stand nur an der Tür. Sie spielte auf dem Klaviers, ich +hörte es draußen. Siehst du, Arkadij,“ sagte er mit leiser +Stimme, „ich wagte nicht einzutreten ...“ +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä, was fehlt dir? Du siehst mich so +seltsam an?“ +</p> + +<p> +„Nein, nichts! Mir ist nicht ganz wohl, meine +Kniee zittern, das kommt daher, weil ich die Nacht über +auf war! Ein Schleier liegt mir vor den Augen. Und +hier, hier ...“ +</p> + +<p> +Er wies auf sein Herz und zugleich sank er auch +schon ohnmächtig zusammen. +</p> + +<p> +Als er wieder zu sich kam, wollte Arkadij strenge +Maßregeln ergreifen. Er wollte ihn mit Gewalt ins +Bett legen. Wassjä willigte aber nicht ein, Arkadij konnte +reden, was er wollte. Er weinte, rang die Hände, wollte +mit aller Gewalt weiterschreiben und seine Seite beenden. +Um ihn nicht unnötig aufzuregen, ließ ihn Arkadij +schließlich zu seinen Papieren. +</p> + +<p> +„Siehst du,“ sagte Wassjä, sich auf seinen Platz +setzend, „ich habe eine Idee, eine Hoffnung. Siehst du: +ich werde ihm übermorgen nicht alles bringen. Von +dem Rest sage ich ihm, daß es verbrannt ist oder verloren +gegangen ... kurz ... – Nein, ich kann nicht +lügen. Ich werde ihm lieber alles erklären, werde sagen, +wie es gekommen ist, daß ich einfach nicht konnte. Ich +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +werde ihm von meiner Liebe erzählen: er hat ja selbst +erst vor kurzem geheiratet, er wird mich verstehen! Ich +werde alles das, versteht sich, ihm bescheiden und demütig +mitteilen, er wird meine Tränen sehen, sie werden +ihn rühren ...“ +</p> + +<p> +„Ja, das ist klug von dir, gehe, gehe zu ihm, erkläre +dich ihm ... Tränen sind dazu nicht nötig! Warum +denn Tränen? Aber weißt du, Wassjä, du hast mir +einen tüchtigen Schrecken eingejagt.“ +</p> + +<p> +„Schön, ich werde also gehen, ich werde also gehen. +Jetzt aber laß mich schreiben, laß mich, Arkascha. +Ich störe niemanden, laß auch du mich ruhig schreiben!“ +</p> + +<p> +Arkadij warf sich aufs Bett. Er traute Wassjä +nicht, er traute ihm wirklich nicht. Wassjä war zu allem +fähig. Doch um Entschuldigung bitten, warum!? +Die Sache lag ja gar nicht so. Die Sache war doch die, +daß Wassjä tatsächlich seine Pflicht nicht erfüllt hatte, +daß er vor sich selbst schuldig war und seinem Schicksal +gegenüber ein schlechtes Gewissen hatte, daß Wassjä +sich niedergedrückt und seines Glückes nicht würdig +fühlte und daß er schließlich sich einen Vorwand suchte +und seit dem gestrigen Tage, erschüttert durch die Plötzlichkeit +aller Geschehnisse, wie er war, noch nicht recht +zu sich kommen konnte: ja: so war es! sagte sich Arkadij +Iwanowitsch. Deshalb muß man ihn retten, muß ihn +mit sich selbst aussöhnen! Und Arkadij dachte noch lange +nach und beschloß, unverzüglich zu Juljan Mastakowitsch +zu gehen, wenn möglich schon morgen, und ihm +alles zu erzählen. +</p> + +<p> +Wassjä saß und schrieb. Der gequälte Arkadij Iwanowitsch +legte sich von neuem auf sein Bett, um noch +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +weiter über die Sache nachzudenken, schlief ein und +erwachte erst beim Morgengrauen. +</p> + +<p> +„Ach, Teufel! Wieder!“ rief er aus, als er Wassjä +erblickte; der saß und schrieb. +</p> + +<p> +Arkadij stürzte zu ihm, umarmte ihn und brachte +ihn mit aller Gewalt auf sein Bett. Wassjä lächelte nur: +seine Augen fielen ihm vor Müdigkeit zu. Er konnte +kaum sprechen. +</p> + +<p> +„Ich wollte mich selbst hinlegen,“ sagte er. „Weißt +du, Arkadij, ich habe die Idee, daß ich’s doch noch beenden +werde. Ich habe schneller, immer schneller geschrieben. +Doch noch länger zu sitzen – dazu bin ich unfähig +... wecke mich um acht Uhr ...“ +</p> + +<p> +Er konnte nicht mehr weiter und schlief wie ein +Toter ein. +</p> + +<p> +„Mawra!“ wandte sich flüsternd Arkadij Iwanowitsch +an die Magd, die gerade den Tee hereinbrachte, +„er bat mich, ihn nach einer Stunde zu wecken. Das +darf aber unter keiner Bedingung geschehen! Er soll +womöglich zehn Stunden hintereinander schlafen, verstehst +du?“ +</p> + +<p> +„Verstehe, Herr, verstehe.“ +</p> + +<p> +„Das Mittagessen brauchst du nicht zu bereiten, +nicht das Holz hereinzuschleppen, überhaupt darfst du +nicht lärmen, sieh dich vor! Wenn er nach mir fragen +sollte, so sage ihm, ich sei in den Dienst gegangen, verstehst +du?“ +</p> + +<p> +„Ich verstehe, Herr, verstehe, möge er sich ausruhen +nach Belieben, was geht’s mich an! Ich freue mich über +den Schlaf meines Herrn und bemühe mich, über ihn +zu wachen. Was aber die zerschlagene Tasse anbelangt, +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +wegen der Sie mir Vorwürfe machten – das war gar +nicht ich, das war die Katze, die sie zerschlagen hat, ich +werde es ihr noch zeigen!“ +</p> + +<p> +„Tss, sei still!“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch führte Mawra in die Küche, +verlangte von ihr den Schlüssel und schloß sie dort ein. +Darauf begab er sich in den Dienst. Auf dem Wege +überlegte er sich’s, wie er sich bei Juljan Mastakowitsch +melden lassen sollte und ob es nicht vielleicht anmaßend +sei, es zu tun? Im Büro erschien er sehr schüchtern, +fast zaghaft erkundigte er sich, ob Seine Exzellenz +da sei; man antwortete ihm, nein, und Exzellenz würden +heute wohl überhaupt nicht kommen. Arkadij Iwanowitsch +wollte im ersten Augenblick zu ihm in die +Wohnung gehen, doch fiel es ihm noch zur rechten Zeit +ein, daß ja Juljan Mastakowitsch, wenn er hier nicht +erschienen war, dann ganz bestimmt zu Hause dringend +beschäftigt sein mußte. Er blieb also im Büro. Die +Stunden schienen ihm unendlich lang zu sein. Unterderhand +erkundigte er sich nach der Abschrift, mit der +Schumkoff beauftragt worden war. Doch niemand +wußte etwas von der Angelegenheit. Man wußte nur, +daß Juljan Mastakowitsch ihn mit besonderen Aufträgen +beschäftigte, mit was für welchen aber – das +wußte niemand zu sagen. Schließlich schlug es drei Uhr +und Arkadij Iwanowitsch stürzte nach Haus. Auf der +Treppe des Dienstgebäudes redete ihn ein Schreiber +an und sagte, daß Wassilij Petrowitsch Schumkoff um +ein Uhr dagewesen sei und gefragt habe, ob er, Arkadij, +da sei, und ferner, ob Juljan Mastakowitsch dagewesen +wäre. Als Arkadij Iwanowitsch das hörte, nahm er +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +eine Droschke und fuhr außer sich vor Angst und +Schrecken nach Hause. +</p> + +<p> +Schumkoff war zu Hause. Er ging erregt im Zimmer +auf und ab. Als er Arkadij Iwanowitsch erblickte, +nahm er sich sofort zusammen und beeilte sich sichtlich, +seine Erregung zu verbergen. Er setzte sich schweigend +an die Arbeit. Offenbar wollte er den Fragen seines +Freundes ausweichen. Fast schien er sich durch ihn belästigt +zu fühlen und die Absicht zu haben, von seinen +Entschlüssen jetzt nichts mehr verlauten zu lassen, da +er sich, wie er wohl denken mochte, auf die Freundschaft +des anderen ja doch nicht verlassen konnte. Arkadij +fühlte das wohl und sein Herz krampfte sich zusammen. +Er setzte sich aufs Bett und schlug ein Buch +auf, das einzige, welches in seinem Besitz war – +wandte aber keinen Blick von dem armen Wassjä. +Wassjä schwieg hartnäckig, schrieb und blickte nicht auf. +So vergingen einige Stunden und Arkadijs Qualen +stiegen aufs höchste. Schließlich, gegen elf Uhr abends, +erhob Wassjä seinen Kopf und sah mit stumpfem, unbeweglichem +Blick Arkadij an. Arkadij wartete schweigend. +Es vergingen zwei bis drei Minuten! Wassjä +schwieg immer noch. „Wassjä!“ rief Arkadij endlich. +Doch Wassjä gab keine Antwort. „Wassjä!“ wiederholte +er und sprang vom Bett auf. „Wassjä, was fehlt +dir? Was hast du?“ rief er aus und lief zu ihm hin. +Wassjä hob den Kopf und sah ihn mit demselben +stumpfen und unbeweglichen Ausdruck an. „Er hat +einen Krampf!“ dachte Arkadij, und dabei überlief ihn +ein Schauer. Er griff nach der Karaffe mit Wasser und +goß Wassjä das Wasser über den Kopf, befeuchtete +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +seine Schläfen, rieb ihm die Hände, und richtig, Wassjä +kam wieder zu sich. „Wassjä, Wassjä!“ Arkadij brach +in Tränen aus: er konnte sich nicht mehr beherrschen. +„Wassjä, richte dich doch nicht zugrunde, besinne dich +doch, Wassjä! ...“ Er verstummte und nahm Wassjä +in seine Arme. Ein sonderbarer Ausdruck lag auf Wassjäs +Gesicht: er rieb sich die Stirn und griff nach seinem +Kopf, als fürchte er, daß er ihm zerspränge ... +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, was mit mir ist!“ sagte er endlich, +„ich glaube ... Aber beunruhige dich nicht, Arkadij, +beunruhige dich nicht, es ist alles gut!“ fügte er, ihn +mit traurigen Augen ansehend, hinzu. „Laß gut sein, +laß gut sein!“ +</p> + +<p> +„Du – du beruhigst noch mich!“ rief Arkadij, +dessen Herz in Stücke zerriß. „Wassjä,“ sagte er dann, +„lege dich endlich zu Bett, schlaf ein wenig, was meinst +du? Quäle dich doch nicht umsonst! Besser, du setzt dich +nachher wieder an die Arbeit!“ +</p> + +<p> +„Schon gut, schon gut!“ wiederholte Wassjä, „ja: +Ich werde mich hinlegen: schon gut; ja! Siehst du, ich +wollte es nämlich beenden, aber jetzt habe ich mich doch +bedacht ... ja ...“ +</p> + +<p> +Und Arkadij schleppte ihn zu Bett. +</p> + +<p> +„Höre, Wassjä,“ sagte er entschlossen, „mit dieser +Sache muß ein Ende gemacht werden! Sage mir, was +hast du dir gedacht?“ +</p> + +<p> +„Ach!“ sagte Wassjä, winkte mit der Hand schwach +ab und wandte seinen Kopf auf die andere Seite. +</p> + +<p> +„Schön, Wassjä, schön! Entschließe dich, ich will +nicht zu deinem Mörder werden, ich kann nicht länger +schweigen! Du wirst nicht eher einschlafen, bis du dich +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +nicht zu etwas Bestimmtem entschlossen haben wirst, ich +weiß es.“ +</p> + +<p> +„Wie du willst, wie du willst,“ wiederholte rätselhaft +Wassjä. +</p> + +<p> +„Er ergibt sich,“ dachte Arkadij Iwanowitsch. +</p> + +<p> +„Folge mir doch, Wassjä,“ sagte er, „denke daran, +was ich dir gesagt habe: ich kann dich ja retten; morgen +– morgen werde ich dein Schicksal entscheiden! +Was sage ich: Schicksal!? Du hast mich so bange gemacht, +Wassjä, daß ich schon anfange, deine Worte zu +wiederholen. Was für ein Schicksal! Das ist ja Unsinn! +Du willst nicht die Liebe und Zuneigung Juljan Mastakowitschs +verlieren, ja! Und du wirst sie auch nicht verlieren, +du wirst sehen ... Ich ...“ +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch hätte noch weiter gesprochen, +aber Wassjä unterbrach ihn. Er richtete sich auf, umschlang +schweigend mit beiden Händen Arkadij Iwanowitsch +und küßte ihn. +</p> + +<p> +„Schon gut!“ sagte er mit schwacher Stimme, +„schon gut! Genug davon!“ +</p> + +<p> +Und wieder kehrte er seinen Kopf weg zur Wand. +</p> + +<p> +„Mein Gott!“ dachte Arkadij. „Mein Gott! Was +ist mit ihm? Er ist ganz und gar von Sinnen: was mag +er vorhaben? Er wird sich ja zugrunde richten!“ +</p> + +<p> +Arkadij sah voll Verzweiflung auf ihn. +</p> + +<p> +„Wenn er doch wirklich krank werden würde,“ +dachte Arkadij, „das wäre vielleicht noch das Beste. +Durch die Krankheit würde er dann aller Sorgen enthoben +sein und man würde die Sache auf eine ganz +ausgezeichnete Weise beilegen können. Doch was sage +ich? Ach, du mein großer Gott ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +Inzwischen schien Wassjä eingeschlafen zu sein. Arkadij +Iwanowitsch freute sich über das gute Zeichen, +wie er es auslegte, und beschloß bei sich, die ganze +Nacht an Wassjäs Bett zu bleiben. Doch Wassjä schien +nicht zur Ruhe zu kommen, er bewegte sich alle Augenblick, +warf sich im Bett herum und öffnete von Zeit zu +Zeit die Augen. Schließlich aber nahm die Müdigkeit +doch überhand und er schlief ein wie ein Toter. Es war +gegen zwei Uhr morgens, als Arkadij Iwanowitsch, mit +den Ellenbogen auf den Tisch gestützt, auf seinem Stuhl +ebenfalls einschlief. +</p> + +<p> +Er hatte einen sehr unruhigen und sonderbaren +Traum. Ihm war es, als wache er, während Wassjä +noch immer auf dem Bett lag. Doch sonderbarerweise +war das nur eine Verstellung von Wassjä, er hinterging +Arkadij, stand vom Bett auf und setzte sich an den +Schreibtisch. Schmerz ergriff Arkadij, er war tief traurig +und konnte es kaum ertragen, als er so sehen +mußte, wie Wassjä ihn hinterging. Er wollte nach ihm +greifen, ihn rufen und aufs Bett zurücktragen. Wassjä +schrie aber laut auf und als Arkadij zusah, hielt er nur +seine Leiche im Arm. Kalter Schweiß trat ihm auf die +Stirn, sein Herz klopfte heftig. Er erwachte und öffnete +die Augen. Wassjä saß vor ihm am Tisch und – +schrieb. +</p> + +<p> +Arkadij wollte seinen Augen nicht trauen und blickte +aufs Bett: aber nein, da war Wassjä nicht! Arkadij +sprang auf, noch ganz unter dem Eindruck seines Traumes. +Wassjä aber rührte sich nicht. Er schrieb immer +weiter. Voll Entsetzen bemerkte plötzlich Arkadij, daß +Wassjä immer nur mit der trockenen Feder übers Papier +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +fuhr, die weißen Seiten umblätterte und sich eilte +und eilte, ganz, als wäre er emsig an seiner Arbeit! +„Nein, das da ist kein Krampf!“ dachte Arkadij Iwanowitsch +und erzitterte am ganzen Körper. „Wassjä, +Wassjä! Antworte mir doch!“ rief er und packte ihn an +der Schulter. Doch Wassjä schwieg und fuhr fort, mit +trockener Feder auf dem Papier weiter zu schreiben. +</p> + +<p> +„Endlich, endlich schreibt meine Feder so schnell, +wie ich will,“ sagte er und blickte Arkadij an. +</p> + +<p> +Arkadij ergriff seine Hand und entriß ihm die Feder. +</p> + +<p> +Ein Stöhnen kam aus Wassjäs Brust. Er ließ die +Arme sinken und sah Arkadij an, dann griff er sich mit +einem quälenden, traurigen Ausdruck an die Stirn, als +wollte er einen schweren eisernen Ring entfernen, der +dort lag und ließ dann leise, wie in Nachdenken versunken, +seinen Kopf auf die Brust fallen. +</p> + +<p> +„Wassjä, Wassjä!“ rief Arkadij Iwanowitsch verzweifelt. +„Wassjä!“ +</p> + +<p> +Nach einiger Zeit sah Wassjä ihn an. Tränen standen +in seinen großen blauen Augen und das bleiche Gesicht +drückte eine unendliche Qual aus ... Er flüsterte +etwas. +</p> + +<p> +„Was, was sagst du?“ rief Arkadij und beugte sich +zu ihm. +</p> + +<p> +„Warum nur ich, warum nur ich?“ flüsterte Wassjä, +„warum? Was habe ich denn getan?“ +</p> + +<p> +„Wassjä! Was ist dir! wen fürchtest du, Wassjä? +Sprich!“ rief Arkadij und rang die Hände in Verzweiflung. +</p> + +<p> +„Warum will man denn mich zu den Soldaten geben?“ +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +flüsterte Wassjä weiter und sah fragend in die +Augen seines Freundes, „warum mich? Was habe ich +denn getan!“ +</p> + +<p> +Arkadij schauderte vor Entsetzen: er wollte, er +konnte es nicht glauben. Wie gebrochen stand er da. +</p> + +<p> +Im nächsten Augenblick faßte er sich wieder: „Das +ist nur so, das ist vorübergehend!“ sagte er zu sich, +bleich mit blauen, zitternden Lippen und kleidete sich an. +Er wollte sofort zu einem Doktor laufen. Plötzlich rief +ihn Wassjä. Arkadij stürzte zu ihm und umarmte ihn +besorgt, wie eine Mutter ihr Kind ... +</p> + +<p> +„Arkadij, Arkadij, sage es niemandem! Hörst du! +Mein Unglück will ich allein tragen ...“ +</p> + +<p> +„Was hast du? Was hast du? besinne dich doch, +Wassjä, besinne dich doch!“ +</p> + +<p> +Wassjä seufzte und leise Tränen liefen über seine +Wangen. +</p> + +<p> +„Warum sie vernichten? Was hat sie denn für eine +Schuld daran? ...“ murmelte er gequält und herzzerreißend. +„Meine Sünde ist es, meine Sünde! ...“ +</p> + +<p> +Er schwieg einen Augenblick. +</p> + +<p> +„Lebe wohl, meine Geliebte! Lebe wohl, meine Geliebte!“ +flüsterte er und wiegte seinen armen Kopf. Arkadij +zuckte zusammen, raffte sich dann auf und wollte +zum Doktor ... „Gehen wir! Es ist Zeit!“ rief Wassjä, +der die Bewegung Arkadijs bemerkt hatte. „Gehen +wir, Bruder, gehen wir! ich bin bereit! Du wirst mich +begleiten.“ Er verstummte und sah Arkadij vernichtet +und zugleich mißtrauisch an. +</p> + +<p> +„Wassjä, komme mir nicht nach, um Gottes willen! +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +Erwarte mich hier. Ich werde sofort, sofort zu dir zurückkehren,“ +sagte Arkadij Iwanowitsch, der selbst den +Kopf verloren hatte. Und er griff nach seiner Mütze, +um nach dem Doktor zu laufen. Wassjä setzte sich wieder +hin, er war still und gehorsam, nur in seinen Augen +blitzte eine verzweifelte Entschlossenheit. Arkadij kehrte +noch einmal zurück, ergriff vom Tisch das Federmesser, +sah noch zum letztenmal nach dem Armen und lief zur +Wohnung hinaus. +</p> + +<p> +Es war acht Uhr morgens. Das Licht hatte bereits +die Dämmerung im Zimmer verdrängt. +</p> + +<p> +Er fand niemanden. Er lief eine ganze Stunde umher. +Alle Ärzte, deren Adressen er von den Hausverwaltern +erfuhr, bei denen er sich erkundigte, ob nicht +ein Doktor im Hause wohne, waren bereits ausgefahren: +in ihre Praxis oder in ihren privaten Angelegenheiten. +Nur einen traf er schließlich zu Hause. Dieser +fragte lange und umständlich seinen Diener, der Arkadij +anmeldete: wer und woher der Herr sei, aus welchem +Grunde er käme und aus welchen Verhältnissen der +frühe Besucher zu sein scheine – bis er dann schließlich +doch zu dem Entschluß kam, daß es ihm nicht möglich +sei, ihn zu empfangen, da er viel zu tun habe und nicht +ausfahren könne, und daher Arkadij sagen ließ, diese Art +von Kranken müsse man in ein Krankenhaus bringen. +</p> + +<p> +Da ließ der verzweifelte und erschütterte Arkadij, +der ein solches Ergebnis denn doch nicht erwartet +hatte, alles stehen und liegen, wie es war, alle Ärzte, +die es auf der Welt gab, und begab sich nach Haus, +in höchster Angst um Wassjä. Er lief in die Wohnung. +Mawra wischte gerade den Fußboden auf, ganz, als +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +wäre nichts geschehen und brach kleine Hölzchen entzwei, +um den Ofen anzuzünden. Er stürzte ins Zimmer: +aber Wassjä war nicht da! +</p> + +<p> +„Wohin? Wohin nur? Wohin mag der Unglückliche +gelaufen sein?“ fragte sich Arkadij im höchsten +Schreck. Und er fing an, Mawra auszufragen. Die aber +wußte nichts, hatte Wassjä weder gehört noch gesehen. +„Gott sei ihm gnädig!“ sagte Arkadij und lief zu den +Kolomnaschen. +</p> + +<p> +Jawohl: dort, nur dort konnte er sein! +</p> + +<p> +Es war bereits zehn Uhr, als er bei ihnen ankam. +Aber auch Lisenka und ihre Mutter hatten nichts gehört, +nichts gesehen. Arkadij stand ganz verstört vor ihnen und +fragte immer nur, wo Wassjä sei. Die Alte trugen ihre +Füße nicht mehr, und sie fiel auf den Diwan hin. Lisenka, +die am ganzen Körper zitterte, begann ihn über +das Geschehene auszufragen. Doch – was sollte er ihr +sagen? Arkadij Iwanowitsch versuchte, sich so schnell +als möglich von ihnen loszumachen, er dachte sich irgendeine +Ausrede aus, die ihm natürlich nicht geglaubt +wurde, lief davon und ließ sie erschüttert und in Sorgen +um Wassjä zurück. Er begab sich in sein Büro, um +die Nachricht zu überbringen und darauf hinzuwirken, +daß man so schnell als möglich Maßregeln ergriff. Unterwegs +kam ihm der Gedanke, daß Wassjä ja zu Juljan +Mastakowitsch gegangen sein könne. Das war wohl +auch am ehesten anzunehmen! Arkadij hatte bereits vorher, +noch bevor er zu den Kolomnaschen gegangen war, +an diese Möglichkeit gedacht. Als er am Hause der Exzellenz +vorübergefahren war, hatte er schon anhalten +lassen wollen, aber er hatte dann doch wieder dem Kutscher +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +befohlen, weiterzufahren. Er wollte lieber erst +im Büro nach Wassjä fragen und erst dann, wenn er +dort nicht sein sollte, sich zu Seiner Exzellenz begeben, +und wär’s auch nur, um Bericht zu erstatten. Irgend +jemand mußte es doch tun! +</p> + +<p> +Kaum war er in den Vorraum eingetreten, als ihn +auch schon einige jüngere Kollegen umringten, die alle +im gleichen Rang mit ihm standen, und ihn fragten, +was mit Wassjä geschehen sei? Und alle sprachen sie +davon, daß Wassjä den Verstand verloren habe und sich +einbilde, er müsse zu den Soldaten, weil er sich ein +Versäumnis im Dienst habe zuschulden kommen lassen. +Arkadij Iwanowitsch antwortete auf die Fragen, die +auf ihn einstürmten, oder besser gesagt, er antwortete +niemandem etwas Rechtes, und beeilte sich nur so +schnell wie möglich in die inneren Gemächer zu kommen. +Auf dem Wege dorthin erfuhr er, daß Wassjä im +Kabinett Juljan Mastakowitschs sei, und daß sich die +meisten der Vorgesetzten gleichfalls dorthin begeben +hatten. Vor der Tür wurde er zurückgehalten. Einer +von den höheren Beamten fragte ihn, was er wünsche? +Doch ohne den Herrn recht zu erkennen, sagte er irgend +etwas über Wassjä und ging geradeaus auf das Kabinett +zu. Er war noch draußen, als er schon die Stimme +Juljan Mastakowitschs hörte. +</p> + +<p> +„Wohin wollen Sie?“ fragte ihn wieder jemand. +</p> + +<p> +Arkadij Iwanowitsch verlor fast den Mut und wäre +beinahe schon umgekehrt – als er gerade durch die geöffnete +Tür seinen armen Freund Wassjä erblickte. +Und nun zwängte er sich durch die Tür in das Zimmer +hinein. Dort herrschte große Aufregung und Verwirrung. +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +Juljan Mastakowitsch schien sehr aufgeregt +zu sein. Um ihn herum standen alle die höheren Beamten, +sprachen hin und her und wußten nicht, wozu sie +sich entschließen sollten. Weiter abseits stand Wassjä. +In der Brust Arkadijs erstarb alles, wie er ihn so stehen +sah. Wassjä stand da: bleich, mit erhobenem Kopfe, +die Hände stramm an der Hosennaht, ganz als wäre er +wirklich ein Rekrut und stände vor seinen Vorgesetzten. +Er blickte starr Juljan Mastakowitsch in die Augen. +Arkadij wurde natürlich sofort bemerkt, und da einige +wußten, daß er Wassjäs Freund und Stubengenosse +war, so meldete man dies sofort Seiner Exzellenz. Man +führte Arkadij vor. Er wollte die ihm gestellten Fragen +beantworten, aber als er auf Juljan Mastakowitsch sah +und auf dessen Gesicht Trauer und Mitleiden erblickte, +da schluchzte er laut auf wie ein Kind. Er tat noch +mehr: er ergriff die Hand Seiner Exzellenz und drückte +sie an seine Augen und benetzte sie mit seinen Tränen, +so daß Seine Exzellenz genötigt war, sie ihm zu entziehen. +Er winkte mit der Hand ab und sagte nur: +„Schon gut, lieber Mensch, ich sehe, daß du ein gutes +Herz hast.“ Arkadij schluchzte und warf den Umstehenden +flehende Blicke zu. Ihm kam es so vor, als wären +sie alle Brüder seines armen Wassjä, die ebenso um ihn +trauerten, wie er selbst. „Wie – ja wie ist denn das mit +ihm geschehen?“ fragte Juljan Mastakowitsch. „Weshalb +hat er seinen Verstand verloren?“ +</p> + +<p> +„Aus Dan–Dan–Dankbarkeit!“ konnte Arkadij +Iwanowitsch kaum antworten. +</p> + +<p> +Diese Antwort setzte alle in Verwunderung: allen +schien sie sonderbar und unverständlich: wie konnte +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +wohl ein Mensch aus Dankbarkeit den Verstand verlieren? +Arkadij versuchte es zu erklären, so gut er’s konnte. +</p> + +<p> +„Gott, wie traurig!“ rief Juljan Mastakowitsch +aus, „und dabei hatte die Arbeit, mit der ich ihn beauftragt, +durchaus keine Eile. Wegen nichts hat sich +der Mensch zugrunde gerichtet! ...“ Juljan Mastakowitsch +wandte sich dann von neuem an Arkadij Iwanowitsch +und fragte ihn noch weiter aus: „er bittet,“ +sagte er und wies auf Wassjä, „daß man es nicht ‚Ihr‘, +wohl irgendeinem jungen Mädchen, sagen möge – ist +es seine Braut?“ +</p> + +<p> +Arkadij erzählte. In der Zwischenzeit bemühte sich +Wassjä ersichtlich, über irgend etwas nachzudenken: +mit der größten Anstrengung versuchte er, sich irgendeiner +sehr wichtigen und nötigen Sache zu erinnern, +von der er wohl glaubte, daß sie ihm im Augenblicke +sehr zustatten käme. Mit fragenden und zugleich gequälten +Blicken sah er seine Umgebung an, als hoffte +er, andere würden sich vielleicht der Sache erinnern, +die er vergessen hatte. Er richtete seine Augen auf Arkadij +– und plötzlich flammte in seinen Augen eine +Hoffnung auf. Er trat mit dem einen Fuß einen Schritt +vor, ging dann noch drei Schritte weiter und schlug +schließlich so stramm, wie es ihm möglich war, mit dem +rechten Bein ans linke: so, wie es die Soldaten tun, +wenn sie von einem Offizier gerufen und angesprochen +werden. Alle warteten gespannt, was nun geschehen +würde. +</p> + +<p> +„Ich habe einen körperlichen Fehler, Eure Exzellenz, +ich bin schwach und klein von Wuchs, und tauge nicht +zum Dienst,“ stieß er endlich abgebrochen hervor. +</p> + +<p> +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +Alle, die im Zimmer waren, fühlten wohl, wie sich +ihnen in diesem Augenblick das Herz zusammenzog. +Juljan Mastakowitsch war erschüttert, obgleich er sonst +keinen allzu weichen Charakter hatte. „Führt ihn fort,“ +sagte er und winkte mit der Hand ab. +</p> + +<p> +„Meine Stirn!“ sagte Wassjä halblaut vor sich +hin, drehte sich linksum und ging aus dem Zimmer. +Alle, die an seinem Schicksal Anteil nahmen, stürzten +ihm nach. Auch Arkadij drängte sich mit ihnen hinaus. +Man mußte noch auf den Wagen warten, der Wassjä +ins Krankenhaus bringen sollte. Man führte ihn deshalb +so lange in den Vorraum. Hier saß er schweigend +da, offenbar in großen Sorgen. Wen er wiedererkannte, +dem nickte er mit dem Kopfe zu, als wollte er sich von +ihm verabschieden. Jeden Augenblick sah er nach der +Tür und schien sich darauf vorzubereiten, daß man +„jetzt“ sagte. Um ihn herum hatte sich ein enger Kreis +gebildet: alle redeten sie und schüttelten mit den Köpfen. +Viele wunderten sich über die Geschichte, die nun +bekannt geworden war; die einen redeten voll Eifer darüber; +andere wiederum bemitleideten Wassjä und lobten +ihn, weil er ein so bescheidener, stiller junger Mann gewesen +sei, und so viel versprochen hätte: man erzählte +sich, wie strebsam er gewesen, wie wissensdurstig und +lernbegierig. „Mit eigenen Kräften hat er sich aus niederem +Stande emporgearbeitet!“ bemerkte irgend jemand. +Mit Rührung sprach man auch von seiner Anhänglichkeit +an die Exzellenz. Einige konnten sich nicht +erklären, wie Wassjä sich nur in den Kopf gesetzt und +darüber den Verstand verloren hatte, daß man ihn zu +den Soldaten geben würde, wenn er seine Arbeit nicht +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +beendete. Man erzählte sich, daß der Arme vor nicht +langer Zeit noch ein Leibeigener gewesen sei und es nur +Juljan Mastakowitsch, der in ihm Talent, Gehorsam +und eine seltene Bescheidenheit entdeckt, zu verdanken +hatte, daß er eine Anstellung erhielt. Kurz, es gab viele +solcher Meinungen und Gespräche. Besonders bemerkbar +durch seine Aufregung machte sich ein Kollege von Wassjä, +ein Männchen von sehr kleinem Wuchs in den Dreißigern. +Er war weiß wie ein Tuch, zitterte am ganzen Körper +und lächelte so sonderbar, vielleicht, weil eine jede +Skandalszene und ein jedes schreckliche Erlebnis die +Zuschauer erschreckt und doch zugleich auch unterhält, +fast erfreut. Dieser hier lief um den kleinen Kreis herum, +der sich um Schumkoff gebildet hatte, und da er, +wie gesagt, klein von Wuchs war, so stellte er sich auf +die Zehenspitzen und faßte jeden am Rockknopf, dem +gegenüber er sich das erlauben konnte, und versicherte +allen, daß er wisse, woher das alles gekommen und daß +es ein klarer, aber schwerer Fall sei, den man nicht so +einfach behandeln könne: er erhob sich dann wieder auf +die Fußspitzen und flüsterte seinem Zuhörer etwas ins +Ohr, nickte mehrmals heftig mit dem Kopfe und lief +wieder weiter. Schließlich nahm die Szene ein Ende. +Ein Wärter und ein Arzt aus der Irrenanstalt erschienen. +Sie gingen auf Wassjä zu und sagten ihm, daß er mit +ihnen fahren müsse. Wassjä sprang sofort auf, sah sich +eifrig und doch gleichzeitig fragend im Kreise um und +folgte ihnen. Plötzlich schien er jemanden mit den Augen +zu suchen! „Wassjä, Wassjä!“ rief schluchzend Arkadij +Iwanowitsch. Wassjä blieb stehen und Arkadij näherte +sich ihm. Sie umarmten sich beide zum letztenmal, und +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +wollten von einander nicht lassen. Es war schrecklich anzusehen. +Welch ein Schicksal preßte ihnen die Tränen aus +den Augen! Worüber weinten sie beide? Wo lag das +Unglück? Warum verstanden sie einander nicht mehr? +</p> + +<p> +„Da, da, nimm! Verwahre es!“ sagte Schumkoff +und drückte Arkadij ein Stückchen Papier in die Hand. +„Sie würden es mir fortnehmen. Bringe es mir später; +bring es mir! hörst du; verwahre es gut“ ... Wassjä +durfte nicht weiter sprechen. Man rief ihn. Er lief eilig +die Treppe hinab und nickte allen mit dem Kopfe zum +Abschied zu. Verzweiflung lag auf seinem Gesicht. Man +setzte ihn in einen geschlossenen Wagen. Die Pferde zogen +an und fort ging es. Arkadij öffnete das Stück Papier: +Lisas schwarze Locke lag darin. Was mochte in Wassjä +vorgegangen sein, als er sich von ihr trennte. Heiße +Tränen stiegen Arkadij in die Augen: „Ach, arme Lisa!“ +</p> + +<p> +Nach Schluß des Büros ging er zu den Kolomnaschen. +Ich kann nicht erzählen, was dort geschah! Sogar +Petjä, der kleine Petjä, der doch noch nicht begreifen +konnte, was mit dem guten Wassjä geschehen war, +ging in die Ecke, bedeckte sein Gesicht mit den kleinen +Händchen und schluchzte, als ob ihm sein Kinderherz +brechen wollte. Es wurde Abend, als Arkadij nach +Hause zurückkehrte. Als er über die Newa ging, blieb +er einen Augenblick stehen und sah mit durchdringendem +Blick über den Fluß in die rauchige, kaltneblige Ferne, +die gerötet war von der letzten, blutig purpurnen +Abendsonne. +</p> + +<p> +Die Nacht senkte sich über die Stadt und die ganze +unübersehbare tote Schneefläche der Newa glänzte, +vom letzten Strahl der Sonne beschienen, in unendlichen +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +Myriaden von diamantenen Funken. Es war eine +Kälte von zwanzig Grad. Steifer Dunst ballte sich um +die vielen jagenden Pferde und laufenden Menschen. +Die Luft erzitterte beim geringsten Laut, und wie Riesen +erhoben sich zu beiden Seiten der Ufer in den kalten +Himmel die Rauchsäulen der Häuser, schoben sich und +schichteten sich übereinander, während sie aufstiegen, +und es war, als ob neue Gebilde und Gebäude über der +alten eine neue Stadt in den Wolken bildeten +... als ob sich diese ganze Welt, mit all ihren +Bewohnern, den starken und den schwachen, mit ihren +Behausungen der Armen und den Palästen der Reichen +und Mächtigen der Erde in dieser Dämmerstunde in +einen phantastischen Traum verwandelte, der aus dem +Dunst zu dem dunkelblauen Himmel aufstieg, um sich in +ihm aufzulösen und im Wesenlosen zu vergehen ... Ein +sonderbares Gefühl überkam den verwaisten Freund des +armen Wassjä. Er schrak zusammen, und plötzlich +strömte, durch ein mächtiges, ihm bis jetzt ganz ungeahntes +Gefühl, eine heiße Blutwelle in sein Herz. Er +begriff mit einem Male den Sinn des ganzen Geschehnisses, +begriff, warum Wassjä sein Glück nicht tragen +konnte und seinen Verstand verloren hatte. Seine Lippen +zitterten, seine Augen glänzten, er erbleichte vor +dem Neuen, das in ihm erstand ... +</p> + +<p> +Seit der Zeit war Arkadij finster und verschlossen +und hatte ganz seine frühere Fröhlichkeit verloren. +Seine Wohnung wurde ihm unerträglich – er nahm +sich eine andere. Nach zwei Jahren begegnete er ganz +zufällig Lisenka in der Kirche. Sie war verheiratet: ihr +folgte eine Amme mit einem Kinde auf dem Arm. Sie +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +begrüßten einander und vermieden es lange Zeit, von +der Vergangenheit auch nur zu sprechen. Lisa erzählte, +daß sie glücklich und auch nicht mehr so arm sei wie +früher, daß ihr Mann ein guter Mensch wäre und sie +liebhabe ... Doch plötzlich, mitten in ihrer Rede, stockte +sie, ihre Augen füllten sich mit Tränen, sie wandte sich +ab und senkte ihren Kopf über ein Betpult, um vor +den Menschen ihre Trauer zu verbergen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-7"> +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +Ein Roman +in neun Briefen +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-1"> +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) +</p> + +<p class="addr"> +Hochverehrter Iwan Petrowitsch, teuerster Freund! +</p> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">s</span> ist nun schon glücklich der dritte Tag, daß ich, +man kann wohl sagen, regelrecht Jagd auf Sie mache, +mein Bester, zumal ich Sie in einer höchst, höchst dringlichen +Angelegenheit sprechen muß, während Sie leider +für mich unauffindbar sind. Als wir gestern bei Ssemjon +Alexejewitsch waren, erlaubte sich meine Frau +einen kleinen Scherz auf Ihre Rechnung, indem sie bemerkte, +daß Sie und Tatjana Petrowna eigentlich erstaunlich +wenig Sinn für Häuslichkeit an den Tag legten: +und es ist ja wahr, noch sind Sie keine drei Monate +verheiratet, und schon hält es schwer, Sie einmal +zu Hause anzutreffen. Wir haben alle herzlich darüber +gelacht – natürlich nur auf Grund unserer aufrichtigen +Zuneigung zu Ihnen. Doch ganz abgesehen von allen +Scherzen, mein Teuerster, bin ich durch Sie in eine +arge Hetze geraten. Ssemjon Alexejewitsch meinte, Sie +würden vielleicht im Klub der „Vereinigten Gesellschaft“ +auf dem Balle zu finden sein. Ich ließ daraufhin +meine Frau bei der Gattin Ssemjon Alexejewitschs +zurück und eilte selber nach dem Klub. Stellen Sie sich +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +nun die Lage vor, in der ich mich befand: ich war auf +dem Ball – allein – ohne Frau! Iwan Andrejewitsch, +mit dem ich unten im Vestibül zusammentraf, zog natürlich +sogleich (der Schuft!) bloß aus dem einen Umstande, +daß ich, wie gesagt, allein eintrat, besondere +Schlüsse auf die Art meiner Vorliebe fürs Tanzvergnügen, +hakte sich daher ohne weiteres in meinen Arm +und wollte mich schon mit Gewalt in den Tanzsaal +schleppen, obschon sich seine flotte Seele, wie er vorausschickte, +in der „Vereinigten Gesellschaft“ herzlich +beengt fühlte und die diversen Patschuli- und Resedadüfte +ihm bereits Kopfweh verursacht hätten. Doch weder +fand ich Sie, noch Tatjana Petrowna. Dafür versicherte +mir Iwan Andrejewitsch, und er schwor förmlich +darauf, daß ich Sie unfehlbar im Alexandertheater +antreffen werde, da man an dem Abend gerade Gribojedoffs +Meisterstück<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a> spiele. +</p> + +<p> +Ich eile hin: auch dort sind Sie nicht zu entdecken! +Heute morgen dachte ich, Sie bei Tschistoganoff zu finden +– trügerische Hoffnung! Tschistoganoff schickt +mich zu Perepalkins – gleichfalls vergeblich. Mit einem +Wort, ich fühle mich jetzt völlig, aber völlig abgehetzt, +was Sie nach obiger Schilderung meiner Irrfahrten +gewiß begreiflich finden werden: Sie können sich +doch vorstellen, wie viel ich gelaufen bin! Jetzt habe ich +zur Feder gegriffen – es bleibt mir eben nichts anderes +übrig! Nur ist die Sache nicht zu schriftlicher Erledigung +geeignet (Sie verstehen mich?). Besser wäre es, +unter vier Augen ... Na, jedenfalls muß ich Sie unbedingt +und zwar so bald wie möglich sprechen, und +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +deshalb fordere ich Sie auf, heute mit Tatjana Petrowna +zum Tee und Abendbrot zu uns zu kommen. +Meine Frau wird sich über Ihren Besuch unendlich +freuen. Wirklich, Sie werden mich damit, wie man zu +sagen pflegt, bis zu meinem Lebensende verpflichten. +Übrigens, mein Teuerster – da ich schon einmal +zu schreiben begonnen habe, so sei’s denn auch geschrieben +– ich sehe mich gezwungen, Sie schon jetzt etwas +ins Gebet zu nehmen, jawohl teuerster Freund, sehe +mich gezwungen, Ihnen eine anscheinend ganz unschuldige +kleine Machenschaft vorzuwerfen, als deren äußerst +boshaft ausgewähltes Opfer ich mich selbst betrachten +muß ... Sie verkappter Bösewicht, Sie gewissenloser +Mensch! Da führen Sie vor etwa einem Monat +einen Ihrer Bekannten bei mir ein, nämlich Jewgenij +Nikolajewitsch, versehen ihn mit Ihrer freundschaftlichen, +das heißt für mich somit heiligsten Empfehlung, +weshalb ich mich aufrichtig über die neue Bekanntschaft +freue, den jungen Menschen mit offenen Armen empfange +und dabei ahnungslos den Kopf in die Schlinge +stecke. Das heißt, eine Schlinge ist es nun, genau genommen, +gerade nicht. Immerhin haben Sie mir da, +wie man zu sagen pflegt, eine böse Suppe eingebrockt. +Von näheren Erklärungen will ich vorläufig +Abstand nehmen – die Zeit drängt; und brieflich, wissen +Sie, ist es auch nicht immer leicht, das richtige +Wort zu finden. Infolgedessen geht denn meine inständige +Bitte an Sie dahin, mein schadenfroher Freund +und Kollege, daß ich Sie sozusagen um Ihre Meinung +darüber bitte, ob es sich nicht irgendwie machen ließe +– natürlich in aller Diskretion und Höflichkeit – +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +daß man Ihrem jungen Mann unmißverständlich – +doch natürlich ohne ihm zu nahe zu treten – unter +vier Augen oder gar ganz heimlich – ungefähr und andeutungsweise +zu verstehen gäbe, daß es in der Residenz +noch viele andere Häuser außer dem meinigen gibt? +Ich kann nicht mehr, mein Bester! Meine Kraft ist zu +Ende! „Falle zu Füßen!“ wie unser polnischer Freund +Ssimonewitsch sagt. Wenn wir uns sehen, erzähle ich +Ihnen alles. Ich will damit nicht etwa gesagt haben, +daß der junge Mann kein einnehmendes Wesen habe, +oder daß, sagen wir, irgendwelche seiner sonstigen Eigenschaften +abstoßend seien. Im Gegenteil, er ist sogar +in jeder Beziehung ein sehr netter und liebenswürdiger +Mensch. Doch – nun, gedulden Sie sich noch ein Weilchen, +bis wir unter uns sind. Inzwischen aber, wenn +Sie ihn vorher sehen sollten, dann geben Sie ihm um +Christi willen einen Wink, Verehrtester. Ich würde es +ja selbst tun, aber Sie wissen doch, wie ich bin: ich +bringe es nicht fertig – da ist nun einmal nichts zu +machen. Sie haben ihn doch nun einmal eingeführt und +uns empfohlen. Übrigens werden wir uns ja heute +abend zur Genüge aussprechen können. Daher vorläufig: +auf Wiedersehen! +</p> + +<p> +Verbleibe usw. +</p> + +<p> +P. S. Mein Kleiner ist schon seit einer Woche nicht +ganz gesund und mit jedem Tage wird es schlimmer. +Es sind die Zähnchen: die fangen jetzt an, durchzubrechen. +Meine Frau muß sich daher viel mit ihm abgeben +und ist recht mitgenommen, die Arme. Kommen Sie +unbedingt. Sie werden uns aufrichtig erfreuen, werter +Freund. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-2"> +<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) +</p> + +<p class="addr"> +Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Erhalte gestern Ihren Brief, lese ihn und staune! +Sie suchen mich Gott weiß wo und bei wem, während +ich einfach zu Hause bin. Bis zehn Uhr wartete ich auf +Iwan Iwanytsch Tolokonoff, der aber nicht kam. Nach +Empfang Ihres Schreibens rief ich sogleich meine +Frau – wir kleiden uns an, ich nehme eine Droschke, +scheue nicht die Ausgabe – und erscheinen bei Ihnen +gegen halb sieben. Sie aber – sind nicht zu Hause: +wir werden von Ihrer Frau empfangen. Ich warte bis +halb elf. Länger kann ich nicht. Nehme meine Frau, bezahle +wieder eine Droschke, bringe meine Frau nach +Haus und begebe mich darauf allein zu Perepalkins, in +der Hoffnung, Sie vielleicht dort anzutreffen, sehe mich +aber in meiner Annahme wieder enttäuscht. Komme +nach Haus gefahren, schlafe die ganze Nacht nicht, rege +mich auf, fahre am Morgen wieder dreimal zu Ihnen, +um neun, um zehn und um elf, stürze mich dreimal in +Ausgaben, fahre hin und her, und wieder lassen Sie +mich mit einer langen Nase abziehen. +</p> + +<p> +Als ich Ihren Brief las, wunderte ich mich nicht +<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> +wenig. Sie schreiben von Jewgenij Nikolajewitsch, +bitten ihm eine Andeutung zukommen zu lassen, erwähnen +aber mit keiner Silbe, weshalb und warum. Vorsicht +ist ja freilich ganz lobenswert, aber mein Papier +ist schließlich ebensoviel wert, wie Ihres, von mir aber +weiß ich wenigstens, daß ich wichtige Papiere nicht meiner +Frau zu Papilloten gebe. Ich begreife nicht, um es +endlich auszusprechen, in welchem Sinne Sie mir eigentlich +dies alles zu schreiben beliebt haben. Und überdies, +da nun einmal die Rede davon ist: weshalb ziehen +Sie denn mich in diese ganze Angelegenheit hinein? +Ich habe keine Lust, meine Nase in alles und jedes +hineinzustecken. Sie können ihm doch ebensogut +selbst eine Absage geben! Ich sehe vorläufig nur das +eine: daß ich mich mit Ihnen deutlicher auseinandersetzen +muß. Inzwischen aber vergeht die Zeit. Ich muß +mich sehr einschränken und weiß nicht, was ich tun +soll, wenn Sie gewisse Bedingungen nebst Ihrem Versprechen +nicht aufrechterhalten. Die Reise läßt sich +nicht aufschieben, und Reisen kostet Geld. Außerdem +quält einen noch die Frau, die mit aller Gewalt einen +Samtmantel nach der neuesten Mode haben will. Was +jedoch Jewgenij Nikolajewitsch betrifft, so beeile ich +mich, Ihnen folgendes zu bemerken: habe gestern, ohne +viel Zeit zu verlieren, gleich nochmals Erkundigungen +über ihn eingezogen, als ich bei Pawel Ssemjonytsch +Perepalkin auf Sie wartete. Er besitzt rund 500 Seelen +im Jaroslawschen Gouvernement, und von der +Großmutter hat er Aussicht, noch ein Gut in der Nähe +von Moskau mit 300 Seelen zu erben. Wieviel er an +barem Gelde besitzt, weiß ich nicht, denke aber, daß Sie +<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> +hierüber selber besser Bescheid wissen dürften. Bitte +Sie ferner, mir endgültig Ort und Zeit eines Zusammentreffens +anzugeben. Sie schreiben, Iwan Andrejewitsch +habe Ihnen gesagt, daß ich mit meiner Frau +im Alexandertheater anzutreffen sei. Darauf kann ich +nur erwidern, daß es Iwan Andrejewitsch nicht sehr +auf die Wahrheit anzukommen scheint und man ihm und +seinen Worten um so weniger Glauben schenken darf, +als er noch vor nicht länger als drei Tagen seine eigene +Großmutter um achthundert Rubel betrogen hat. +</p> + +<p> +Habe die Ehre usw. +</p> + +<p> +P. S. Meine Frau ist in anderen Umständen, außerdem +ist sie schreckhaft und zeitweilig zur Melancholie +geneigt. In den Theatern aber wird auf der Bühne zuweilen +geschossen, oder künstlich, mit allerlei Maschinen, +Donner erzeugt. Und deshalb, um meine +Frau nicht der Gefahr des Erschreckens auszusetzen, +besuche ich mit ihr keine Theater. Auch bin ich selbst +kein großer Liebhaber theatralischer Aufführungen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-3"> +<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> +III. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) +</p> + +<p class="addr"> +Teuerster Iwan Petrowitsch, bester Freund! +</p> + +<p class="noindent"> +Verzeihen Sie, verzeihen Sie, ich bitte Sie tausendmal +um Vergebung, doch will ich mich ungesäumt rechtfertigen, +soweit ich es kann. +</p> + +<p> +Gestern, kurz vor sechs Uhr, gerade als wir in aufrichtigem +Mitleid Ihrer gedachten, erschien ein Abgesandter +von meinem Onkel Stepan Alexejewitsch, mit +der Nachricht, daß es mit der Tante schlimm stehe. Um +meine Frau nicht aufzuregen, sagte ich ihr kein Wort +davon und fuhr unter dem Vorwande, etwas Unaufschiebbares +vorzuhaben, zu meiner Tante. Mit dieser +stand es in der Tat schlimm genug: kurz vor fünf hatte +sie wieder einen Schlaganfall gehabt, den dritten im +Laufe der letzten zwei Jahre. Karl Fedorytsch, ihr +Hausarzt, erklärte, daß sie vielleicht nicht einmal diese +Nacht überleben werde. Stellen Sie sich also meine +Lage vor, verehrtester Freund! Die ganze Nacht auf +den Beinen, Laufereien über Laufereien und obendrein +noch Sorgen! Erst gegen Morgen streckte ich mich, völlig +erschöpft, und zwar sowohl psychisch als physisch, +bei meinem Onkel ein wenig auf dem Diwan aus, vergaß +<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> +aber, vorher zu sagen, daß man mich rechtzeitig +wecken solle, und erwachte erst um halb zwölf. Der +Tante ging es besser. So fuhr ich denn nach Haus: +meine Frau – nun, Sie können sich denken: die arme +Seele hatte die ganze Nacht in der Ungewißheit über +meinen Verbleib in begreiflicher Aufregung schlaflos +zugebracht. Ich nahm ein paar Bissen, küßte das Kind, +beruhigte meine Frau und begab mich zu Ihnen. Sie +waren nicht zu Hause. Statt Ihrer traf ich bei Ihnen +Jewgenij Nikolajewitsch an. Dann kam ich nach Haus +zurück und jetzt sitze ich und schreibe an Sie. Murren +Sie nicht und ärgern Sie sich nicht über mich, mein +bester Freund! Schlagen Sie, fällen Sie mir meinetwegen +das schuldige Haupt von den Schultern, nur +entziehen Sie mir nicht Ihre Freundschaft. Von Ihrer +Frau erfuhr ich, daß Sie am Abend bei Sslawjänoffs +sein werden. Werde unbedingt auch hinkommen. Ich +erwarte Sie mit größter Ungeduld. +</p> + +<p> +Inzwischen verbleibe ich usw. +</p> + +<p> +P. S. Unser Kleiner bringt uns fast zur Verzweiflung! +Karl Fedorytsch hat ihm ein Abführmittelchen +verordnet. Er fiebert, weint, gestern hat er niemand +erkannt. Heute erkennt er uns zum Glück und +stammelt wieder „Papa“, „Mama“ und schreit sein +„Bu–ah“. Meine Frau ist in Tränen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-4"> +<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> +IV. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) +</p> + +<p class="addr"> +Sehr geehrter Pjotr Iwanytsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Schreibe an Sie bei Ihnen, in Ihrem Zimmer, an +Ihrem eigenen Schreibtisch; bevor ich jedoch die Feder +ergriff, habe ich gute zweieinhalb Stunden auf Sie gewartet. +Jetzt erlauben Sie mir aber, Ihnen, Pjotr +Iwanytsch, in betreff dieser ganzen garstigen Angelegenheit +einmal rückhaltlos meine Meinung zu sagen. +</p> + +<p> +Aus Ihrem letzten Schreiben schloß ich, daß man +Sie bei Sslawjänoffs erwartete und daß Sie mich +quasi hinbestellten: ich erscheine also, warte geschlagene +fünf Stunden, doch wer nicht kommt – sind Sie. Wie, +soll ich mich zum Narren machen lassen? um fremde +Menschen zu erheitern? oder was verlangen Sie von +mir? Erlauben Sie, mein Herr ... +</p> + +<p> +Doch weiter: ich komme zu Ihnen am frühen Morgen, +in der Annahme, Sie noch in Ihren vier Pfählen +anzutreffen, und ahme also nicht gewisse und gelinde +ausgedrückt irreführende Leute nach, die ihre Bekannten +Gott weiß wo und in welchen Lokalen suchen, während +man sie zu jeder anständig gewählten Tageszeit +in ihrem Heim finden kann. Doch ich hatte nicht das +<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a> +Vergnügen, Sie in Ihrem Hause anzutreffen. Ich weiß +nicht, was mich noch immer abhält, Ihnen unumwunden +die Wahrheit zu sagen. Ich begnüge mich also mit der +Bemerkung, daß Sie gerade kein Mann von Wort zu +sein scheinen und daß Sie Ihr Versprechen jetzt wohl +zurückziehen und gewisse Verabredungen und Bedingungen +anscheinend verleugnen wollen. Nach Erwägung +Ihres ganzen Verhaltens mir gegenüber, kann ich Ihnen +nur gestehen, daß ich mich über Ihre Schlauheit +entschieden wundern muß. Denn jetzt ist es mir vollkommen +klar, daß Sie diese häßliche Absicht schon seit +langer Zeit hegen. Für die Richtigkeit meiner Annahme +dürfte als bester Beweis die Tatsache sprechen, daß +Sie sich noch in der vorigen Woche in einer nahezu +unstatthaften Weise jenes von Ihnen an mich gerichteten +Briefes bemächtigt haben, in dem Sie selbst – +zwar ziemlich dunkel und versteckt – die Bedingungen +einer gewissen, Ihnen wohl noch erinnerlichen Abmachung +schwarz auf weiß niedergeschrieben haben. Sie +fürchten also Dokumente, vernichten sie und wollen +mich an der Nase herumführen, wie’s scheint. Das +aber werde ich nicht zulassen, denn bisher hat mich noch +niemand für einen Narren gehalten, vielmehr hat ein +jeder nur Gutes über mich geäußert. Jetzt sind mir die +Augen geöffnet. Sie wollen mich irreführen, wollen +mir mit Ihren Andeutungen in betreff Jewgenij Nikolajewitschs +Sand in die Augen streuen, und während +ich nach Ihrem mir bis jetzt noch unverständlichen +Brief vom Siebenten dieses Monats eine Aussprache +mit Ihnen suche, lassen Sie mich bald +hierhin, bald dorthin zu einem Stelldichein laufen, +<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a> +zu dem Sie selbst gar nicht erscheinen: +ja ganz augenscheinlich suchen Sie sich vor +mir absichtlich zu verbergen. Sie denken wohl, +mein Herr, daß ich unfähig sei, Ihre Ränke zu durchschauen? +Sie versprechen mir alles mögliche für meine +Ihnen sehr gut bekannten Dienstleistungen, versprechen +Empfehlungen an verschiedene Personen usw., +indessen verstehen Sie aber in einer mir selbst rätselhaften +Art und Weise es so einzurichten, daß Sie sich +sogar mit dem Anschein einer gewissen Berechtigung +noch Geld von mir leihen und zwar in beträchtlicher +Höhe und ohne irgendwelche Sicherheiten Ihrerseits, +also einzig auf geheuchelte Freundschaft hin, wie +dies noch in der jüngstvergangenen Woche geschehen +ist. Jetzt jedoch, nachdem Sie das Geld erhalten haben, +verbergen Sie sich vor mir und scheinen überdies von +jenem Dienst nichts mehr wissen zu wollen, den ich +Ihnen erwiesen, indem ich Sie mit Jewgenij Nikolajewitsch +bekannt machte. Vielleicht rechnen Sie auf meine +baldige Reise nach Ssimbirsk und hoffen, daß es vorher +nicht zur Abrechnung zwischen uns kommen werde. Doch +wenn das der Fall ist, dann erkläre ich Ihnen hiermit +feierlichst und bekräftige es mit meinem Ehrenwort, +daß ich, wenn es darauf hinausläuft, bereit bin, meinetwegen +noch ganze zwei Monate in Petersburg zu +verbleiben, daß ich mein Ziel aber erreichen und Sie +schon aufzufinden wissen werde. Auch ich verstehe mitunter, +einem Menschen zum Trotz etwas durchzusetzen. +Zum Schluß jedoch erkläre ich Ihnen, daß ich, wenn +Sie mir nicht heute noch befriedigende Erklärungen geben +– zunächst schriftlich, nachher mündlich, unter +<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a> +vier Augen – und wenn Sie mir in Ihrem Brief nicht +alle die Hauptbedingungen, die zwischen uns vereinbart +wurden, schwarz auf weiß bestätigen und mir endlich +nicht länger Ihre Hintergedanken bezüglich Jewgenij +Nikolajewitschs vorenthalten: daß ich mich dann +gezwungen sehe, Maßregeln zu ergreifen, die Ihnen +gewiß sehr unangenehm und auch mir nichts weniger +als angenehm sein werden. +</p> + +<p> +Gestatten Sie, daß ich verbleibe usw. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-5"> +<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a> +V. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) +</p> + +<p class="date"> +11. November. +</p> + +<p class="addr"> +Mein bester, verehrtester Freund Iwan Petrowitsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Ihr Brief hat mich in tiefster Seele betrübt. Und +Sie, der Sie mein bester, doch leider nur zu leicht ungerechter +Freund sind, Sie schämen sich nicht, mir, der +ich Ihnen doch von allen am meisten zugetan bin, so etwas +zu schreiben – so übereilt zu urteilen, das Ganze +nicht einmal zu erklären und mich dann mit so beleidigendem +Argwohn zu kränken? +</p> + +<p> +Doch ich beeile mich, Ihnen Rede zu stehen und +Ihre Anschuldigungen von mir zu weisen. +</p> + +<p> +Sie, Iwan Petrowitsch, haben mich gestern nur +deshalb nicht dort angetroffen, weil ich ganz plötzlich +und unvorhergesehenermaßen an ein Sterbelager gerufen +wurde. Meine Tante Jewfimija Nikolajewna ist +nämlich gestern um elf Uhr nachts sanft entschlafen. +Zum Anordner der sämtlichen traurigen Obliegenheiten +wurde ich durch einstimmigen Beschluß meiner Verwandten +gewählt. Da gab es denn für mich so viel zu +tun, daß ich Sie heute unmöglich treffen, ja nicht einmal +ein paar Zeilen an Sie schreiben konnte. So tut +<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a> +mir das Mißverständnis, zu dem es zwischen uns gekommen +ist, in der Seele leid. Meine Bemerkung über +Jewgenij Nikolajewitsch, die von mir scherzhaft und +mehr so nebenbei geäußert war, haben Sie ganz falsch +verstanden und der Geschichte einen mich tief kränkenden +Sinn untergeschoben. Sie kommen auch auf das +Geld zu sprechen und verbergen nicht Ihre Befürchtungen. +Was diese letzteren betrifft, so bin ich bereit, allen +Ihren Wünschen und Forderungen nachzukommen, doch +möchte ich Sie heute nur kurz daran erinnern, daß das +Geld, die 350 Rubel, von mir in der vorigen Woche +ausdrücklich nur unter gewissen Bedingungen von Ihnen +genommen worden sind, und zwar nicht als Darlehn! +In diesem Falle hätten Sie von mir unbedingt +einen Wechsel oder eine Quittung erhalten. Zu einer +Erörterung der weiteren von Ihnen angeführten Punkte +will ich mich nicht herablassen. Ich sehe, daß alles +nur auf einem Mißverständnis Ihrerseits beruht, erkenne +darin Ihre gewohnte Übereiltheit in der Beurteilung +menschlicher Verhältnisse, Ihre Hitzigkeit und rücksichtslose +Offenheit. Ich weiß jedoch, daß Ihr Gerechtigkeitssinn +und Ihr ehrlicher Charakter nicht lange bei +solchem Mißtrauen verbleiben und Sie mir noch einmal +als erster die Hand zur Versöhnung reichen werden. +Sie sind in einem Irrtum befangen, Iwan Petrowitsch, +in einem sehr großen Irrtum! +</p> + +<p> +Doch ungeachtet dessen, daß Ihr Brief mich tief +verletzt hat, wäre ich als erster bereit, heute noch mit +meiner Entschuldigung zu Ihnen zu kommen, nur habe +ich leider so viel zu tun – heute sogar noch mehr als +gestern – daß ich schon halbtot bin und mich kaum noch +<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a> +auf den Füßen zu halten vermag. Zur Vollendung meines +Unglücks hat sich nun auch noch meine Frau zu Bett legen +müssen: ich befürchte eine ernste Krankheit. Was +den Kleinen betrifft, so geht es ihm jetzt Gott sei Dank +etwas besser. Doch ich schließe ... Die Geschäfte wollen +erledigt sein und ich habe ihrer mehr als einen ganzen +Berg! +</p> + +<p> +Verbleibe, teuerster Freund, +</p> + +<p class="sign"> +Ihr usw. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-6"> +<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a> +VI. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Iwan Petrowitsch an Pjotr Iwanowitsch.) +</p> + +<p class="date"> +14. November. +</p> + +<p class="addr"> +Sehr geehrter Herr! +</p> + +<p class="noindent"> +Drei Tage habe ich gewartet; habe mich bemüht, +sie nützlich zu verbringen – indem ich, eingedenk der +Regel, daß Höflichkeit und Anstand die erste Zierde eines +jeden Menschen sind, Sie nach meinem letzten Schreiben +vom Zehnten dieses Monats weder mit einem Wort +noch einer Tat an mich erinnerte, einesteils um Ihnen +Zeit zu geben, ungestört Ihrer Christenpflicht der Tante +gegenüber nachzukommen, anderenteils auch deshalb, +weil ich zu gewissen Erwägungen und Ermittelungen +in der bewußten Angelegenheit selbst der Zeit bedurfte. +Jetzt jedoch will ich nicht mehr zögern, mich endgültig +und entschieden mit Ihnen auszusprechen. +</p> + +<p> +Ich gestehe Ihnen offen, daß ich beim Lesen Ihrer +zwei ersten Briefe allen Ernstes der Meinung war, Sie +hätten wirklich nicht begriffen, was ich wollte; es war +dies denn auch hauptsächlich der Grund, weshalb ich +Sie unbedingt zu treffen und unter vier Augen zu sprechen +wünschte, weshalb ich die Angelegenheit nicht dem +Papier anzuvertrauen wagte und mir selbst die Möglichkeit +<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a> +einer Unklarheit in meiner schriftlichen Ausdrucksweise +vorhielt. Wie Sie wissen, habe ich keine +besondere Erziehung genossen und habe mir auch keine +feinen Manieren aneignen können; hohles Geckentum +aber ist mir fremd, denn die bittere Erfahrung hat +mich gelehrt, wie trügerisch oft das Äußere sein kann, +sowie, daß unter Blumen sich nicht selten Schlangen +verbergen. Doch Sie haben mich verstanden; geantwortet +aber hatten Sie mir nur deshalb nicht so, wie es +sich gehörte, weil Sie in der Falschheit Ihrer Seele +schon von Anfang an bei sich beschlossen, Ihr Ehrenwort +zu brechen und damit auch das zwischen uns bestehende +Freundschaftsverhältnis zu lösen. Der Beweis +hierfür ist Ihr schändliches Benehmen mir gegenüber, +ein Benehmen, das mir und meinen Interessen geradezu +verderblich ist – was ich von Ihnen nie erwartet +hätte und woran ich bis zu diesem Augenblick nicht habe +glauben wollen, denn bestrickt, wie ich von Anfang +unserer Bekanntschaft an durch Ihre guten Manieren +war, durch Ihre feinen Umgangsformen, durch Ihre +Sachkenntnis und nicht zuletzt auch durch die Vorteile, +die mir aus Ihrer Bekanntschaft erwachsen konnten, +nahm ich an, daß ich in Ihnen einen aufrichtigen +Freund, einen echten Kameraden gefunden hatte, der +mir wirkliches Wohlwollen entgegenbrachte. Jetzt jedoch +habe ich erkennen müssen, daß es Menschen gibt, +die unter einem trügerischen, glänzenden Äußeren in +ihrem Herzen Gift verbergen, die ihren Verstand zu +nichts anderem benutzen, als zum Ränkeschmieden wider +ihren Nächsten und zu häßlichem, hinterlistigem Betruge, +und die es deshalb stets umgehen, ihre Worte +<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a> +schwarz auf weiß zu geben und dabei ihre Stilgewandtheit +nicht zu Nutz und Frommen ihrer Freunde +und ihres Vaterlandes gebrauchen, sondern einzig zur +Einschläferung und Umgarnung der Vernunft derjenigen, +die sich auf Unternehmungen und Vereinbarungen +mit Ihnen eingelassen haben. Ihre Falschheit mir gegenüber +geht nur zu deutlich aus folgendem hervor. +</p> + +<p> +Erstens: als ich in meinem Brief klar und unmißverständlich +Ihnen, mein sehr verehrter Herr, die Lage +schilderte, in der ich mich befand, und gleichzeitig – +in meinem ersten Brief – die Frage an Sie stellte, was +Sie mit einzelnen Ausdrücken und angedeuteten Absichten, +vornehmlich in bezug auf Jewgenij Nikolajewitsch, +gesagt haben wollten, da verstanden Sie es, +das Wesentliche mit Stillschweigen zu übergehen und +sich, nachdem Sie in mir Zweifel und Argwohn geweckt, +ruhig wieder aus der Affäre zu ziehen. Darauf, d. h. +nachdem Sie so etwas mit mir in Szene gesetzt hatten, +was sich nicht einmal mit einem anständigen Wort bezeichnen +läßt, schrieben Sie an mich und beklagten sich +in wehleidigem Tone über mich bei mir selbst! Wie +wünschen Sie wohl, daß man das nennen soll, mein +Herr? Sodann, als mir jeder Augenblick teuer war +und Sie mich im ganzen Weichbilde der Haupt- und +Residenzstadt auf der Suche nach Ihnen umherlaufen +ließen, schrieben Sie mir unter der Maske der Freundschaft +Briefe, in denen Sie absichtlich mit keiner Silbe +die Hauptsache berührten, sondern sich statt dessen ausschließlich +in Nebensächlichkeiten ergingen: Sie schrieben +mir von Ihrer, von mir allerdings unter allen +Umständen sehr geachteten Gemahlin und teilten mir +<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a> +mit, daß der Arzt Ihrem Kleinen ein Abführmittelchen +verordnet habe und daß bei ihm das erste Zähnchen +durchgebrochen sei. Von allen diesen Dingen schrieben +Sie in jedem Ihrer Briefe mit einer Regelmäßigkeit, +die für mich geradezu kränkend war. Natürlich, ich +will gern zugeben, daß die Qualen des eigenen Kindes +jedes Vaterherz bedrücken können, doch wozu davon gerade +dann reden, wenn es sich um ganz Anderes, Wichtigeres, +Notwendigeres handelt? Ich schwieg und geduldete +mich – so schwer es mir auch fiel. Jetzt aber, +wo die Zeit Ihrer Inanspruchnahme durch den Todesfall +Ihrer Tante verstrichen ist, glaube ich, es mir +selbst schuldig zu sein, die Auseinandersetzung nun endlich +und zwar unverzüglich herbeizuführen. Ferner haben +Sie mir durch trügerische Angaben von Orten, an +denen ich Sie sollte treffen können, und an denen ich +Sie doch niemals traf, offenbar die Rolle Ihres Narren +oder Spaßmachers aufzwingen wollen, der zu sein +ich nicht die geringste Lust verspüre. Darauf, nachdem +Sie mich noch vorher zu sich eingeladen und selbstverständlich +vergeblich auf sich hatten warten lassen, teilten +Sie mir mit, daß Sie zu Ihrer leidenden Tante +abberufen worden seien, die um Punkt fünf Uhr nachmittags +einen Schlaganfall gehabt habe, womit Sie +anscheinend peinlich gewissenhaft den wahren Sachverhalt +klarlegten. Zum Glück jedoch habe ich, sehr geehrter +Herr, im Laufe dieser drei Tage Zeit gehabt, Erkundigungen +einzuziehen, wodurch ich erfahren habe, +daß Ihre Tante bereits am Abend des Siebenten, kurz +vor Mitternacht, von einem Schlagfluß betroffen worden +ist. Daraus ersehe ich, daß Sie sogar die Heiligkeit +<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a> +Ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen gemißbraucht +haben, um andere Menschen zu betrügen. Endlich +schreiben Sie in Ihrem letzten Brief vom Tode +dieser Ihrer Tante, die nach Ihrer Angabe gerade zu +der Stunde entschlafen sein soll, in der ich mich zwecks +bewußter Unterredung auf Ihre eigene Aufforderung +hin bei Ihnen einfinden sollte und mich in der Tat auch +einfand. Doch hier übersteigt die Schändlichkeit Ihrer +Berechnungen und Erfindungen jede Glaubwürdigkeit, +denn, wie es mir, dank einem glücklichen Zufall, aus +der sichersten Quelle zu erfahren gelungen ist, ist Ihre +Frau Tante erst runde vierundzwanzig Stunden <em>nach</em> +der von Ihnen so gottlos angegebenen Sterbestunde um +elf Uhr nachts entschlafen, nämlich den <em>elften</em> November, +und nicht den <em>zehnten</em>! +</p> + +<p> +Ich käme schwerlich zu einem Ende, wenn ich noch +alle anderen Beweise aufzählen wollte, die mir Ihre +Falschheit offenbart haben. Doch für jeden unparteiischen +Beurteiler dürfte allein schon dieser eine Zug +genügen, daß Sie mich in jedem Ihrer Briefe ihren +„aufrichtigen Freund“ nennen und mir alle möglichen +Liebenswürdigkeiten sagen, was Sie meines Erachtens +zu keinem anderen Zweck getan haben, als um mein +Gewissen wie meine Vorsicht einzuschläfern. +</p> + +<p> +Ich komme jetzt zu Ihrem Hauptbetrug und Treubruch, +der in folgenden Punkten besteht: in Ihrem, in +letzter Zeit unausgesetzt beobachteten Stillschweigen +über alles das, was unsere gemeinsamen Interessen betrifft; +ferner in der sträflichen Entwendung jenes +Briefes, in dem Sie – allerdings nur andeutungsweise +und mir nicht ganz verständlich – unseren beiderseitigen +<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a> +Vertrag nebst allen einzelnen Bedingungen +auseinandergesetzt hatten; drittens in der Tatsache, daß +Sie mich in einer nahezu barbarisch vergewaltigenden +Weise um 350 Rubel anpumpten, ohne jede Quittung +oder sonstige Bestätigung, also nur auf Grund meiner +Eigenschaft als Ihr Kompagnon, sozusagen; und +schließlich in Ihrer schändlichen Verleumdung unseres +gemeinsamen Bekannten Jewgenij Nikolajewitsch. +</p> + +<p> +Es ist mir jetzt auch vollkommen klar, was Sie mit +der letztgenannten Verleumdung eigentlich bezweckten: +nämlich mir zu beweisen, daß von dem Betreffenden, +wie von einem – mit Verlaub zu sagen – Ziegenbock +weder Milch noch Wolle zu gewinnen sei; d. h. daß man +von ihm gar keinen Nutzen habe und daß er selber weder +dies noch das, weder Fisch noch Fleisch sei, was +Sie ihm in Ihrem Brief vom Sechsten dieses Monats +deutlich als ein Gebrechen anrechnen. Ich aber kenne +Jewgenij Nikolajewitsch als bescheidenen und gesitteten +jungen Mann: und gerade das ist es, womit er +einen für sich einnehmen, sich in der Gesellschaft Achtung +gewinnen und es in seiner Laufbahn noch einmal zu etwas +bringen kann. Auch ist es mir nicht unbekannt geblieben, +daß Sie im Verlaufe von ganzen zwei Wochen +jeden Abend beim Hasardspiel mit ihm mindestens mehrere +Zehnrubelscheine, wenn nicht gar Hunderter, in Ihre +Tasche geschoben und somit auf diese Weise Jewgenij +Nikolajewitsch mörderlich gerupft haben. Jetzt aber +scheint das alles von Ihnen vergessen zu sein und anstatt +mir für das, was ich durch Sie ausgestanden habe, +zu danken, eignen Sie sich auf Nimmerwiedersehen auch +noch mein Geld an, indem Sie mich vorher durch den +<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a> +Antrag, Ihr Kompagnon zu werden, und durch die +Aussicht auf verschiedene Vorteile, die mir dadurch erwachsen +würden, zur Hergabe einer beträchtlichen +Summe verlocken. Jawohl: nachdem Sie sich in so gesetzwidriger +Weise von mir und Jewgenij Nikolajewitsch +Geld angeeignet haben, vergessen Sie jeden Dank, den +Sie mir schuldig sind, und gehen bis zur Verleumdung +desjenigen, den ich allein durch meine Empfehlungen +in Ihrem Hause eingeführt habe. Sie selbst dagegen +fahren, nach den Aussagen Ihrer Freunde, bis auf +den heutigen Tag fort, mit Jewgenij Nikolajewitsch ein +Herz und eine Seele zu sein, ja, im Überschwang der +Gefühle küssen Sie ihn womöglich und stellen ihn aller +Welt als Ihren besten Freund vor, obschon es, wie ich +hinzusetzen möchte, so leicht keinen einzigen Dummen +geben wird, der nicht sofort und ganz genau erriete, +auf was alle Ihre Absichten eigentlich hinauslaufen und +was Ihre Freundschaftsbeteuerungen in Wirklichkeit +wert sind. Ich wenigstens sage es offen, daß sie nichts +als Lug und Trug bedeuten, Falschheit und Hohn auf +alle Anstandsbegriffe und Menschenrechte, daß sie eine +Schmähung Gottes sind und der Inbegriff aller Lasterhaftigkeit. +Als Beispiel und Beleg hierfür nenne ich +mich selbst! d. h. ich wollte sagen, die Erfahrungen, die +ich mit Ihnen gemacht habe. – Wann habe ich Sie je +beleidigt oder Ihnen sonst ein Unrecht angetan, daß +Sie mich auf eine so tückische Art zu behandeln wagen? +</p> + +<p> +Ich schließe meinen Brief. Was ich zu sagen hatte, +habe ich gesagt. Jetzt füge ich nur noch einen Satz hinzu: +wenn Sie, mein Herr, nicht in der kürzesten Frist +nach Empfang dieses Briefes mir, erstens, ungeschmälert +<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a> +den ganzen Ihnen von mir geliehenen Betrag, in +Summa 350 Rubel, zurückerstatten, und zweitens alle +mir Ihrem Versprechen gemäß zustehenden Beträge auszahlen, +so werde ich Mittel und Wege zu finden wissen, +Sie dazu zu zwingen, wenn es sein muß, sogar durch +öffentliche Anklage; denn ausdrücklich nicht unerwähnt +möchte ich lassen, daß mir der Schutz der Gesetze zu Gebote +steht; und zum Schluß möchte ich Ihnen noch mitteilen, +daß ich gewisse Papiere und damit Beweise in +Händen habe, die, sobald sie nicht mehr im Besitz Ihres +ergebensten Dieners verbleiben, Sie und Ihren Namen +in den Augen der ganzen Welt doch recht tief in +den Schmutz herabziehen könnten. +</p> + +<p> +Gestatten Sie usw. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-7"> +<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a> +VII. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Pjotr Iwanowitsch an Iwan Petrowitsch.) +</p> + +<p class="date"> +15. November. +</p> + +<p class="addr"> +Iwan Petrowitsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Nach Empfang Ihres bäuerischen und zugleich mehr +als seltsamen Sendschreibens, wollte ich dasselbe im +ersten Augenblick einfach zerreißen und fortwerfen – +habe es aber einstweilen doch als Rarität aufbewahrt. +Im übrigen tun mir unsere Mißverständnisse und Unannehmlichkeiten +von Herzen leid. Eigentlich war es +meine Absicht, Ihnen überhaupt nicht zu antworten. +Aber die Notwendigkeit zwingt mich dazu – eben die +Notwendigkeit, Ihnen hierdurch mitzuteilen, daß es mir +ganz entschieden nichts weniger als angenehm sein +würde, Sie jemals wieder in meinem Hause zu sehen; +das gleiche gilt von meiner Frau: ihre Gesundheit ist +nicht ganz auf der Höhe und der Geruch von Schmierstiefeln +ist ihr schädlich. Anbei retourniert sie Ihrer +Frau Gemahlin mit bestem Dank ein Buch, den „Don +Quijote“, der bei uns liegengeblieben war. Was aber +Ihre Galoschen betrifft, die Sie angeblich bei Ihrer +letzten Anwesenheit in unserem Hause vergessen haben +wollen, so muß ich Ihnen zu meinem Bedauern mitteilen, +<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a> +daß man sie bisher nirgends gefunden hat. Inzwischen +werden sie noch gesucht. Sollten sie jedoch +nicht zu finden sein, so werde ich Ihnen neue kaufen. +</p> + +<p> +Im übrigen habe ich die Ehre usw. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-8"> +<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a> +VIII. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Am 16. November erhält Pjotr Iwanowitsch durch +die Stadtpost zwei Briefe. Er erbricht den ersten und +entnimmt dem Kuvert ein zierlich zusammengefaltetes +blaßrosa Blättchen. Die Handschrift ist die seiner Frau. +Gerichtet ist es an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben +den 2. November. Im Kuvert befindet sich sonst nichts. +Pjotr Iwanowitsch liest:) +</p> + +<p class="noindent"> +Lieber Eugène! Gestern war es völlig unmöglich. +Mein Mann war den ganzen Abend zu Haus. Komm +aber morgen unbedingt um Punkt elf. Um halb elf +fährt mein Mann nach Zarskoje und wird erst um ein +Uhr zurückkehren. Ich habe mich die ganze Nacht geärgert. +Danke für die Zusendung der Nachrichten. Welch +ein Haufen Papier! Hat sie das wirklich alles selbst geschrieben? +Übrigens, der Stil geht an. Noch einmal: +Hab Dank. Ich sehe, daß du mich liebst. Sei mir nicht +böse wegen gestern und komm morgen unbedingt! A. +</p> + +<p class="sender"> +(Pjotr Iwanowitsch erbricht den zweiten Brief.) +</p> + +<p class="addr"> +Pjotr Iwanytsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Mein Fuß hätte ohnehin niemals mehr Ihre +Schwelle überschritten: Sie haben ganz überflüssigerweise +Ihr Papier verschmiert. +</p> + +<p> +<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a> +In der nächsten Woche verreise ich nach Ssimbirsk, +doch als unschätzbarer und bester Freund verbleibt Ihnen: +Jewgenij Nikolajewitsch. Wünsche angenehmen +Zeitvertreib. Wegen der Galoschen bitte ich, sich nicht zu +beunruhigen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-7-9"> +<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a> +IX. +</h3> + +</div> + +<p class="sender"> +(Am 17. November erhält Iwan Petrowitsch durch +die Stadtpost gleichfalls zwei Briefe. Er erbricht den +ersten und entnimmt ihm einen eilig und flüchtig beschriebenen +Zettel. Die Handschrift ist die seiner Frau. +Adressiert ist er an Jewgenij Nikolajewitsch, geschrieben +den 4. August. Außer dem Zettel enthält das Kuvert +nichts weiter. Iwan Petrowitsch liest:) +</p> + +<p class="noindent"> +Leben Sie wohl, leben Sie wohl, Jewgenij Nikolajewitsch! +Möge Gott Ihnen auch dieses Gute vergelten. +Werden Sie glücklich, das Los, das mir zufällt, ist grausam, +grauenhaft! Es war Ihr Wille. Wäre Tantchen +nicht gewesen, ich hätte mich Ihnen nicht so anvertraut. +Lachen Sie nicht über mich, und auch nicht über Tantchen. +Morgen werden wir getraut. Tantchen ist froh, +daß sich ein guter Mensch gefunden hat, der mich ohne +Mitgift nimmt. Heute hab’ ich ihn mir zum erstenmal +aufmerksam angesehen. Er ist, glaube ich, ein guter +Kerl. Man läßt mir keine Zeit. Leben Sie wohl, leben +Sie wohl ... Mein Liebling Sie!! Denken Sie manchmal +auch an mich, ich – ich werde Sie nie vergessen. +Leben Sie wohl! Ich unterschreibe diesen letzten Brief +wie meinen ersten ... wissen Sie noch? +</p> + +<p class="sign"> +Tatjana. +</p> + +<p class="sender"> +<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a> +(Im zweiten Brief steht folgendes:) +</p> + +<p class="addr"> +Iwan Petrowitsch! +</p> + +<p class="noindent"> +Morgen erhalten Sie neue Galoschen. Ich bin nicht +gewohnt, fremdes Eigentum aus fremden Taschen hervorzuholen, +und ebensowenig ist es meine Art, allerlei +Fetzen auf den Straßen aufzusammeln. +</p> + +<p> +Jewgenij Nikolajewitsch wird in den nächsten Tagen +nach Ssimbirsk reisen, im Auftrage seines Großvaters, +für den er dort einiges erledigen soll, und da +hat er mich denn gebeten, ihm zu einem Reisegefährten +zu verhelfen. Wollen Sie nicht? +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-8"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bei Petersburg. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Der Petersburger nimmt seine Hauptmahlzeit um 6 bezw. +7 Uhr nachmittags ein. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Stadtteil von Petersburg. +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Vorort von Petersburg. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> „Verstand schafft Leiden“. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung +der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren +Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde +transkribiert nach: +</p> + +<p class="nowrap center"> +F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br> +Zweite Abteilung: Fünfzehnter Band<br> +R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.<br> +Siebentes bis zwölftes Tausend +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen +Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ +vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen +Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. +sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) +eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen +wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. +</p> + +<p> +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: +Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. +Die Schreibweise häufig vorkommender Namen +wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): +</p> + +<p class="list"> +Newskij (Newski)<br> +Petjä (Petja)<br> +Ssergejeff (Sergejeff) +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... ihn rückwärts <span class="underline">auf</span> Bett und begann ihn, wie man ...<br> +... ihn rückwärts <a href="#corr-10"><span class="underline">aufs</span></a> Bett und begann ihn, wie man ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75698 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75698-h/images/cover.jpg b/75698-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..00014bb --- /dev/null +++ b/75698-h/images/cover.jpg diff --git a/75698-h/images/logo.jpg b/75698-h/images/logo.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e569b5e --- /dev/null +++ b/75698-h/images/logo.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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