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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..d7b82bc --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,4 @@ +*.txt text eol=lf +*.htm text eol=lf +*.html text eol=lf +*.md text eol=lf diff --git a/75923-0.txt b/75923-0.txt new file mode 100644 index 0000000..a23f71b --- /dev/null +++ b/75923-0.txt @@ -0,0 +1,11154 @@ + +*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 *** + + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke + + Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski + herausgegeben von Moeller van den Bruck + + Übertragen von E. K. Rahsin + + + Zweite Abteilung: Sechzehnter Band + + + F. M. Dostojewski + + + + + Das Gut Stepantschikowo + und seine Bewohner + + + (Aufzeichnungen eines Unbekannten) + + Humoristischer Roman + + R. Piper & Co. Verlag, München, 1920 + + + R. Piper & Co. Verlag, München, 1920 + 6. bis 10. Tausend + + + Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H., + Verlag in München + + Bayer. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel, Augsburg. + + + + + Inhalt. + + + Seite + Humor in Rußland. Von Moeller van den Bruck V + Vorbemerkung. Von E. K. R. XVI + 1. Kapitel. Stepantschikowo 1 + 2. „ Herr Bachtschejeff 37 + 3. „ Mein Onkel 65 + 4. „ Beim Tee 92 + 5. „ Jeshowikin 111 + 6. „ Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja 135 + 7. „ Foma Fomitsch 148 + 8. „ Die Liebeserklärung 176 + 9. „ „Ew. Exzellenz“ 186 + 10. „ Misintschikoff 211 + 11. „ Äußerste Verwunderungen 236 + 12. „ Die Katastrophe 259 + 13. „ Die Verfolgung 270 + 14. „ Neuigkeiten 296 + 15. „ Iljuschas Namenstag 303 + 16. „ Die Vertreibung 319 + 17. „ Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen 338 + Glücks + 18. „ Schluß 367 + Nachbemerkungen 380 + + + + + Zur Einführung. + + Bemerkungen über russischen Humor. + + +Der Humor ist früher als die Dichtung. Das Humoristische umgibt ein Volk +mit einer zweiten Hautlichkeit, die schon lange an ihm bemerkt wird, +bevor das Volk selbst sie bemerkt. Der Don Quichotte im Spanier war +früher als die Figur, die Cervantes bildete. Das Figaronaturell der +Franzosen saß ihnen schon vor der Revolution im Beaumarchaistemperament. +Mit Eulenspiegeleien und Münchhausiaden, mit Streichen und Abenteuern in +Sagen und Anekdoten, entschädigten die Deutschen sich für ihre verlorene +Wirklichkeit, ehe ihnen Jean Paul mit der Laterne des gravitätischen +Kleinstädters den Nachthimmel einer kosmischen Komik entzündete, in der +Endlichkeit und Unendlichkeit durcheinanderrannen. Ebenso fand der Humor +in der russischen Dichtung seine Probleme bereits im russischen Leben +vor: in jener grotesken Unvereinbarkeit eines asiatischen und eines +europäischen Daseins, die durch die petrinische Kultur von Staats wegen +überwunden werden sollte, während sie gerade von dieser Kultur +geschaffen wurde, und die nun aus dem einzelnen Massen, der von Hause +aus ganz Natur war, durch Dressur eine Karikatur machte, deren +Widersprüche sich nicht auf das Kostüm beschränkten, sondern in der +Seele fortsetzten. + +Es war ein Humor, der zunächst in der Wirkung auf uns liegt. Peter der +Große selbst ist als Gestalt der Geschichte von dieser Wirkung nicht +frei. Schon seine große Reise ins Ausland, die Rußland in Europa +berüchtigt machte, hatte die bekannten komischen schahhaften Züge. Und +wenn er dann später seinen Russen die Bärte scheren ließ, wenn er nur +rasierten Adel an seinem europäisierten Hofe duldete, andererseits aber +sich als russischer Selbstherrscher nicht scheute, nach gewonnener +Schlacht aus Freude über den Sieg seinen Soldaten im Lager +höchsteigenbeinig einen Kasatschak vorzutanzen, dann waren dies +Gegensätze, deren Humor in ihrer Naivität lag. Aber schon ein +Menschenalter nach Peter wurde dieser Humor zum Symbol in einem Manne, +der nicht mehr den Ernst Peters besaß, der die Pioniertradition, die +Peter für Rußland hatte schaffen wollen, durch eine Scharlatantradition +unterbrach und den Russen das Beispiel eines Schwindels hinterließ, der +sich in öffentlichen Angelegenheiten an alles Russische heftete und bei +dem Rußland sich immer am wohlsten fühlte. Der Mann war Potemkin. + +Auch Potemkin hat eine Reise berühmt gemacht. Aber schon dadurch +unterschied sich die Reise der Katharina von derjenigen Peters, daß +Peter nach Europa ging, um zu lernen, Nützliches zu sehen, Erfahrungen +heimzubringen, Katharina dagegen nach dem Neurußland ihres Potemkin nur +gefahren zu sein scheint, um dem Günstling und Liebhaber die Gelegenheit +zu dem großen Betruge zu geben, der seinen Namen mit allem russischen +und menschlichen Scheinwesen dauernd verbinden sollte. Die Kulissen, mit +denen Potemkin damals seiner Kaiserin ein reichbesiedeltes wohlhabendes +glückliches Land vortäuschte, sind in Rußland nie gefallen. Ganze +Gouvernemente wurden zu den Blendzwecken dieser Reise entvölkert. +Bauern, Herden, Mensch und Vieh wurden an die Fahrstraße getrieben, über +die der Reisezug kommen sollte. Höchste Zufriedenheit der Kaiserin war +der Lohn für Potemkin. Tiefstes Elend der Bevölkerung war die Folge für +seine Provinz. Doch dies war immer gleichgültig in Rußland. Am wohlsten +fühlte Potemkin sich später als Satrap der Krim, in fanariotischen +Launen und bei echtrussischer Unmäßigkeit, im Kreise von Mätressen und +Musikanten, Schauspielern und Ballettänzern, und bei Gelagen, wo man +ihn, den ordengeschmückten Mann, wie ein französischer Bericht der Zeit +über ihn erzählt, nacheinander einen Schinken, eine gesulzte Gans und +drei Hühner, dazu durcheinander Met, Kwas und allerlei Wein vertilgen +sehen konnte. Und doch war auch dieser slawische Gargantua nicht ohne +die grübelnden und unberechenbaren Anwandlungen des echten Russen, war +bei aller fetten Gewöhnlichkeit ein sehr zusammengesetzter Mensch. Wie +ein orientalischer Großkönig konnte er fragen: Wer ist glücklicher als +ich? Aber wie ein dekadenter Bojar erhob er sich gleich darauf, nahm ein +köstliches Porzellan in die Hand, sah es hamletisch an und – warf es in +Scherben, um eilends davonzugehen und für Stunden sich einzuschließen. +Sein Hirn war unzufrieden vor Plänen, die sich nicht verwirklichen +ließen. Er selbst war, ewig genießend zwar, aber auch ewig unternehmend. +Als dann die politische Not herandrängte, wurde er freilich sehr klein. +Im Türkenkriege wollte er die eben eroberte Krim gleich wieder +herausgeben. Und während der Schlacht sah man ihn zagend und jammernd +auf dem Erdboden hocken. König von Dakien ist er nie geworden. Er starb +banal, an einem Schlagflusse. + +Potemkins Seele jedoch flog über dieses ganze russische Volk, und als +Gogols Held auf einer dritten russischen Reise, die in der Welt berühmt +geworden ist, durch das weite Land fuhr, um tote Seelen zu kaufen, da +stieß er überall auf Potemkin. Käufer und Verkäufer, Schwindler und +Beschwindelte, Ausbeuter und Ausgebeutete: sie alle waren Potemkin. „Es +gibt Menschen,“ sagt Gogol einmal, „die auf der Welt nicht als eigene +Wesen vorhanden zu sein scheinen, sondern als Pünktchen oder Fleckchen +auf anderen Wesen.“ Alle Russen, denen Gogol auf seiner Reise begegnete, +alle die Büttel und Beamte der Autokratie und Bürokratie, alle die +Verdorbenen durch Korruption, durch Betrügen und Betrogenwerden, +schienen aus dem einen großen Kadaver Potemkins hervorgekrochen zu sein +und sich wie Pünktchen und Fleckchen, die in jedes russische Dorf, in +jede russische Kreisstadt getupft waren, über Rußland zu verstreuen. +Ganz Rußland bekam Potemkincharakter. Und auch die russische Dichtung, +der Humor, mit dem in ihr Rußland sich selbst erkannte, bekam diesen +Potemkincharakter. + +Puschkin besang freilich den Helden, den ritterlichen Jüngling. Doch +Gogol meinte, daß es ein Gelächter gebe, welches sich würdig mit den +höheren, den lyrischen Regungen des Menschen vergleichen lasse und weit +entfernt von den Sprüngen eines gewöhnlichen Lustigmachers sei. Er fand +es billig, Freskocharaktere und Romanzeronaturelle zu skizzieren, Heroen +mit flammenden Augen, hängenden Brauen, einer gefurchten Stirn und einem +über die Schulter geworfenen Mantel. Deshalb wählte er das Alltägliche, +an dem ein gleichgültiger Blick vorüberzuschauen pflegt, und suchte es +mit seinen feinen und verborgenen, fast unsichtbaren und doch so +eigentümlichen Zügen zu erfassen. Er tat es gleichwohl mit Drastik, mit +einer Bildkraft, die so sicher wie neu war, mit einer Handschrift, die +das russische Land, in dem alles in größerem Maßstabe erscheint, die +Wälder und Steppen wie die Gesichter, Lippen und Füße, in einem breiten +und weiträumigen und doch wieder dichten und menschenerfüllten +Bilderbogen zusammenfaßte, volklich, holzschnitthaft und handbemalt. Er +sagte einmal: „Es gibt bekanntlich Gesichter, deren Verfertigung der +Natur nicht viel Kopfzerbrechen gekostet und zu denen sie gar keine +feineren Instrumente, als da sind Feilen, Bohrer und Zangen, gebraucht +zu haben scheint, Gesichter vielmehr, die wie mit der Axt gehauen sind, +so daß auf einen Schlag vielleicht die Nase entstand, auf einen anderen +das Auge, der Mund usw.; ohne Hobel anzulegen, schickte die Natur sie +dann in die Welt, indem sie ausrief: Gehet hin und lebt!“ Gogol tat wie +die Natur, solange es den Umriß galt, aber er gebrauchte gar viele +Feilen, Bohrer und Zangen, sobald er das Allzumenschliche hineinkerbte. +Er hatte wohl die Mitleidlosigkeit, russische Bauern wie Klötze +hinzustellen, mit Köpfen wie Brote, mit Bärten wie Holzkeile, oder auch +die Liebenswürdigkeit, einmal ein slawisches Mädchenoval mit einem +frischen Ei zu vergleichen, dessen durchsichtige Weiße die sorgfältige +Wirtschafterin durch das Sonnenlicht betrachtet. Aber sein größerer +Vorwurf war die russische Provinzgesellschaft potemkinischer Herkunft +mit ihren zweifelhaften Zwischengestalten, die in unzähligen Exemplaren +vorkommen und von denen eine jede ein Original ist. Hier verband sich im +Leben die Einfalt mit der Geriebenheit. Und hier gehörte in der Dichtung +zur Kontur die Nuance. + +Um die russische Erbsünde am russischen Menschen zu strafen, wählte +Gogol keinen Tugendhelden, sondern einen Spitzbuben. Er umgab ihn mit +seinesgleichen und belebte den patriarchalischen Hintergrund Rußlands +mit den fatalen Gestalten seines Realismus. Gogols Kenntnis des +russischen Menschen wurde zur Erkenntnis des russischen Schicksals. Er +sprach von den Eigenschaften der Rasse, sprach von seinen Landsleuten, +die nie etwas erreichen, weil sie schon gleich, wenn sie anfangen, +völlig befriedigt sind und daher alles getan glauben und sich fürder +gehen lassen. Er sprach auch davon, daß der russische Erfindungsgeist, +mochte innerlich jeder Russe noch so „nach Fortschritt lechzen“, immer +nur durch Druck zur Tätigkeit angetrieben werden könne. Er machte sich +lustig über die Reformer aller Art, zeigte in dem Versuch jeder Ordnung +das Verhängnis ewiger Unordnung auf und gab an einer grimmigen Stelle in +den „Toten Seelen“, an der er ein russisches Landgut schilderte, das nur +aus Büros und Ressorts, Zentralen und Filialen, Plakaten und Avisen +bestand, die Karikatur aller Organisationsversuche in Rußland. Den Grund +dieser Leidigkeit aber fand er dort, wo der Russe die Ordnung und die +Organisation, die das Gegenteil des Chaos sind, das er in sich trägt, in +der Vollendung suchen zu können glaubt: in den Einflüssen des +Westlertums, Europas. Er fragte, ob es nicht ärgerlich sei, so sehen zu +müssen, wie der Charakter des Russen durch Bildung verstümmelt werde: +„denn die sogenannte Humanität erzeugt, wenn sie zur Manie wird, doch +nur Don Quichotte“. Organisiert erschien in Rußland lediglich die +Korruption: sie ist die Gesamtfunktion des Staates, wie sie das +Lebensmotiv des Einzelnen ist. Gogols letzter menschlicher Rat für +Rußland war ein Lob des Landlebens, als der letzten Stätte russischer +und menschlicher Reinheit: dort, auf dem Lande „gibt es im Leben des +Menschen keinen leeren Raum, dort geht der Mensch eins und einig mit der +Natur, mit den Jahreszeiten, und nimmt Anteil an allem, was sich in der +Schöpfung vollzieht“. Sein letztes geistiges Wort an Rußland aber war +ein Gebet zu Gott: „ergreift irgendeine Beschäftigung, ergreift sie so, +als ob ihr das, was ihr tut, für Ihn und nicht für die Menschen tätet!“ + +Dostojewskis erstes und letztes Wort war dagegen der Mensch, war Gott um +des Menschen willen, Gott und Mensch in Verbundenheit. Das unterscheidet +ihn von Gogol, mit dem er als Russe den Konservativismus, das Leben aus +der Urzelle teilte, und als Dichter das Problem Rußlands, die Korruption +im Russentume, die Korrumpierung des russischen Menschen durch Bildung, +durch Westlertum, durch das petrinische Phantom. Von der tragischen +Schuld, die der Russe damit für Rußland auf sich geladen hatte, befreite +er ihn in seinen großen Romanen, in der apokalyptischen Epik, die sich +in den „Brüdern Karamasoff“ zum Berg der Läuterung türmte. Ein Inferno, +eine Messe des schwarzen Terror, machte er daraus in den „Dämonen“, in +denen der Politiker Dostojewski, der immer gegen das Zeitliche das Ewige +setzte, die revolutionäre Ideologie in ihrer ethischen Untiefe und +metaphysischen Verworrenheit bloßstellte. Und eine Groteske machte er +daraus in einer so bizarren Erzählung wie dem „Gut Stepantschikowo“, in +dem der Ironiker Dostojewski die russische Bildung, Unbildung, +Halbbildung gleich einem Teufel austrieb. + +Gogol blieb unversöhnt und unversöhnlich. Sein Lachen war wohl voll +Verliebtheit in den Gegenstand, aber blieb voll Bitterkeit zum Leben, +blieb, wie es boshaft war, böse zu den Menschen. Dostojewski dagegen +legte in seinen Humor seine Liebe zu den Menschen, zu den Russen und +Rußland. Der Humor war für ihn ein Mittler, um diese russischen +Menschen, die im Leben vielleicht hassenswert genug erschienen, wieder +liebenswert in der Dichtung zu machen. Die Komik hängte er ihnen nicht +an, gleich einer Schelle, die immer und überall den Narren verrät, wie +Gogol tat. Die Komik legte er in die Menschen nur hinein, als eine +Versöhnung mit ihnen in jeder Lage, in die das Leben sie bringt. Gogol +war mitleidlos, der unbarmherzige Charakterologe, der die Menschen in +Typen hinstellt, und einem jeden, wie mit einem Zettel, einer Marke, +einer Nummer, die er ihnen anheftet, seinen Steckbrief mitgibt. Der +Psychologe Dostojewski dagegen löste noch eine Hülle mehr von den +Menschen und legte ihre Seele bloß, die den Körper belebt, und selbst +den Kadaver belebte, auch wenn er sie verdeckte. + +Sogar der ewige Potemkin im russischen Leben war für ihn nicht nur +Figur, sondern Mensch. Er kannte diesen Menschen mit allen seinen +Schwachheiten, seinen sprunghaften europäischen Anstrengungen, seinen +ewigen russischen Unzulänglichkeiten. Er sagte einmal: „Für mich ist die +höchste Komik – eine Tätigkeit, die niemandem nützt.“ Das war russisch, +das war in Rußland beobachtet, wo die einzige bemerkenswerte Tätigkeit +seit langem die bürokratische des Staates und die dilettantische einer +Bildung waren, die beide diesen russischen Menschen nur verdarben, der +vor allem auf sich selbst beruhen will. Aber die Gestalt, die +Dostojewski dann aus diesen verdorbenen russischen Menschen machte, aus +den schuldigen und den unschuldigen, war die Gestalt der Güte, die er zu +ihnen empfand. Er hetzte dazu die Menschen durch alle ihre +Menschlichkeiten, aber er hetzte sie nur so lange, bis er sie dort +hatte, wo er sie haben wollte, wo er ihre Komik herausbekam, und er sie +durch ihre Menschlichkeit rechtfertigen konnte. Dostojewski kannte +diesen Weg zum Humor, der auch noch immer schmerzlich ist, und dennoch +erlösend für den, der den Humor besitzt, wie für den, den er betrifft: +„Humor,“ sagte er ein anderes Mal, „ist die Spitzfindigkeit eines tiefen +Gefühls.“ + +Hinter diesem Gefühl lag bei ihm der Glaube an Rußland, an die Kraft, +Jugend und Urgesundheit des russischen Volkes, das unzerstörbar ist und +alle Potemkinaden der Aufklärung, der bürokratischen wie der +literarisch-westlerischen, in innerer Unversehrtheit überdauert. Auch +sein Humor war eine Form seiner russischen Religiosität. Im Humor der +Völker mischen sich immer ein Menschliches und ein Seeliges, ein +Empirisches und ein Transzendentes. Humor ist von jener Welt und äußert +sich doch in dieser. Eine Liebe fällt aus dem Himmel auf die Erde, ein +Lachen auf das Leid. Ja, so tief im Seelischen, in der Herzlichkeit der +Dinge, die sind, und des Menschen, der sie anschaut, ist der Humor der +Russen verwurzelt, daß er selbst dort, wo er zur Satire wird, sich zu +entschuldigen und mit allem, was Anlaß zur Satire gibt, zu versöhnen +sucht. Was dieser Humor gibt, mittelbar bei Gogol, unmittelbar bei +Dostojewski, das ist in der Form einer großen Versöhnung mit Rußland +eine große Entschuldigung Rußlands. Auch Dostojewski, der große Leidende +für den russischen Menschen in jedwedem Menschen, nahm nur die +Überlieferung auf, die sich fast von den Reformen Peters an durch die +Literatur Rußlands gezogen hatte. Damals war zum ersten Male die +Schicksalsfrage des Russentums gestellt worden: Europäertum oder +Asiatentum? Fremdkultur oder Eigenkultur? oder, wie sie später +formuliert wurde, Anschluß an die Partei der Westler? oder an die der +Slawophilen? Und nicht müde war man von da an geworden, von Kantemir bis +Vonwisin und Gribojedoff, den Konflikt in dieser Frage in Satiren +auszutragen. Dann wurde die Korruption das tragikomische Thema Gogols, +des „Revisors“ und der „toten Seelen“. Die Korruption war das moralische +Nebenproblem des geistigen Grundproblems: wie kommt Rußland wieder zu +sich selbst, auf daß es von sich selbst erlöst werde? Diese Frage wurde +das zentrale Lebensproblem, das Dostojewski in Rußland vorfand und das +über die russische Gesellschaft hinaus den russischen Menschen anging. +Um dieses Problemes willen zog Dostojewski aus, um lebende Seelen zu +kaufen. Und niemals wurde es ihm klarer als damals, da er aus Sibirien +heimkehrte, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft zurücktrat. Da sah er +seines Volkes große und kleine Laster, sah seine Häßlichkeiten, und in +den Häßlichkeiten seine geheime Schönheit, aber auch seine offenbare +Lächerlichkeit. Er, der ein Dichter war, weil er ein Dulder war, +durchschaute mit einem Male die Halben und Leeren, die wandelnden +Karikaturen der Literatur und der Politik, die Poeten und Nihilisten, +die Emanzipierten und Bildungsphilister. Er wurde nicht wahnsinnig über +dieser verrückten Welt, wie Gogol über seiner verdorbenen geworden war. +Er fand in der Tragik die Schuld, und im Humor immer noch die +Entschuldigung der Menschen: Rußlands. + + M. v. d. B. + + + + + Vorbemerkung. + + +Die satirisch-humoristischen Dichtungen Dostojewskis: „Das Gut +Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“, sind die ersten, die er nach +seiner Rückkehr aus Sibirien in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben, +bzw. vollendet hat. + + E. K. R. + + + + + I. + + Stepantschikowo. + + +Mein Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostaneff, war, nachdem er seinen +Abschied genommen, auf das ihm durch Erbschaft zugefallene Gut +Stepantschikowo übergesiedelt und hatte sich daselbst alsbald in einer +Weise eingelebt, daß man ihn für einen eingefleischten, einen geborenen +Gutsherrn hätte halten und von ihm denken können, er sei in seinem +ganzen Leben noch nie über die Grenze seines Besitztums hinausgekommen. + +Es gibt Naturen, die tatsächlich mit allem zufrieden sind und sich an +alles gewöhnen können. Von dieser Art war entschieden auch die Natur +meines Onkels, des Obersten a. D. Es ist schwer, sich einen Menschen +vorzustellen, der sanftmütiger und widerspruchsloser zu allem und jedem +bereit gewesen wäre als er. Hätte jemand den Einfall gehabt, ihn etwa +mit ernstestem Gesicht zu bitten, irgendeinen ihm ganz fremden Menschen +zwei Werst weit auf seinen Schultern zu tragen, so würde er es +wahrscheinlich auch getan haben. Er war dermaßen gut, daß er am liebsten +gleich alles, was er besaß, auf die erste Bitte hin fortgegeben hätte – +sein letztes Hemd dem ersten besten Bettler. Sein Äußeres war +reckenhaft: er hatte eine hohe, straffe Gestalt, ein frisches Gesicht, +wie Elfenbein weiße Zähne, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart, eine +klangvolle, laute Stimme und ein offenherziges, tiefklingendes Lachen. +Er sprach schnell und in abgerissenen Sätzen. Damals, als er nach +Stepantschikowo zog, war er noch nicht vierzig Jahre alt. Von seiner +Geburt oder vielmehr von seinem sechzehnten Lebensjahre an war er Husar +gewesen. Geheiratet hatte er sehr früh, hatte seine Frau abgöttisch +geliebt, sie aber schon bald verloren. Eine unauslöschliche, tief +zärtliche Erinnerung an sie bewahrte er in seinem Herzen. Als ihm dann +eines Tages das Gut Stepantschikowo, das seinen Besitz um sechshundert +Seelen vergrößerte, durch Erbschaft zugefallen war, da hatte er den +Abschied genommen und sich, wie gesagt, auf dem Lande niedergelassen, +zusammen mit seinen beiden Kindern: dem achtjährigen Iljuscha – dessen +Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte – und der älteren, etwa +fünfzehnjährigen Tochter Alexandra, genannt Ssaschenjka oder auch +Ssaschúrka, die nach dem Tode der Mutter in einer vornehmen Moskauer +Pension erzogen worden war. + +Leider nahm das Haus meines Onkels alsbald das Aussehen einer Arche Noah +an, und das ging auf folgende Weise vor sich. + +Zur selben Zeit, als mein Onkel das Gut erbte und seinen Abschied nahm, +geschah es, daß seine Mutter, die Generalin Krachotkina, ihren zweiten +Mann verlor. Sie hatte nämlich zum zweitenmal geheiratet – vor etwa +sechzehn, siebzehn Jahren, als mein Onkel noch als Fähnrich in seinem +Regiment stand, sich aber nichtsdestoweniger auch seinerseits bereits +mit Heiratsgedanken trug. Seine „Mama“ hatte ihm damals lange ihren +Segen zur Heirat vorenthalten, dafür aber mit bitteren Tränen nicht +gekargt, ihm Eigennutz vorgeworfen, Undankbarkeit, Unehrerbietung ... +Sie hatte ihm nachgewiesen, daß heißt, mehrfach auseinandergesetzt, daß +seine Einkünfte – er besaß zweihundertundfünfzig Seelen – nicht einmal +zum Unterhalt seiner „Familie“ ausreichten (zum Unterhalt seiner „Mama“ +nämlich, mit deren ganzem Stabe von guten Freundinnen, die unentgeltlich +bei ihr lebten, ihren Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und ähnlichem +Gezeug in Mengen), bis sie dann plötzlich, inmitten dieser Vorwürfe, +Auseinandersetzungen und Tränen, ganz unerwartet, noch bevor der Sohn +dazu gekommen war, selbst heiratete, – obgleich sie nicht weniger als +zweiundvierzig Jahre zählte. Übrigens fand sie auch hierfür eine +Erklärung, die selbstredend die Schuld meinem armen Onkel in die Schuhe +schob: sie versicherte unter Tränen, daß sie einzig aus dem Grunde +heirate, um in ihren alten Tagen eine Unterkunft zu haben; denn ihr +unehrerbietiger, selbstsüchtiger Herr Sohn wolle sie ja für künftighin +ihres Obdaches berauben, jetzt, da er die unverzeihliche +„Eigenmächtigkeit“ habe, sich einen „eigenen Hausstand“ zu gründen. + +Leider habe ich nie in Erfahrung bringen können, welcher entscheidende +Grund einen anscheinend so vernünftigen Menschen wie den General +Krachotkin zu dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe bewogen +hatte. So muß ich denn als einzige Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er +sie wohl für reich gehalten haben wird. Manche Leute meinten zwar, er +hätte einfach einer Wärterin bedurft, da er schon damals jenen Schwarm +von Krankheiten vorausgeahnt habe, der sich dann im Alter auch richtig +auf ihn niederließ. Sicher ist nur eines: daß der General seine Frau +während der ganzen Zeit seines Zusammenlebens mit ihr nichts weniger als +geachtet oder gar geliebt, sondern sich bei jeder Gelegenheit mit +beißendem Spott über sie lustig gemacht hat. + +Er war ein eigentümlicher Mensch: war halbgebildet und durchaus nicht +dumm, aber er verachtete entschieden alle und jeden, befolgte keinerlei +Regeln, spottete über sämtliche Lebenserscheinungen, angefangen beim +Menschen und so weiter bis ins Endlose, und wurde in seinen alten Tagen +unter dem Einfluß all seiner Krankheiten – die eine gerechte Folge +seines nicht ganz gerechten oder rechtschaffenen Lebens waren – böse, +boshaft, reizbar und unbarmherzig. Im Dienst hatte er Glück gehabt; aber +zu guter Letzt war er doch gezwungen gewesen, wegen irgendeiner +„unangenehmen Geschichte“ etwas plötzlich seinen Abschied zu nehmen, +wobei er nur mit genauer Not dem entging, daß man ihn vor ein +Kriegsgericht stellte und um seine Pension brachte. Dieser Abschied +erbitterte ihn endgültig. Und so legte er denn, fast mittellos, nur im +Besitze eines Hunderts im Elend lebender Leibeigener, die Hände in den +Schoß und erkundigte sich hinfort bis an das Ende seiner Tage, das noch +zwölf Jahre auf sich warten ließ, kein einziges Mal weder nach den +Kosten seines Unterhalts, noch danach, wer sie für ihn bestritt. +Indessen schränkte er sich nicht im mindesten ein, hielt eine Equipage, +Pferde und einen Kutscher und verlangte nach wie vor alle +Lebensbequemlichkeiten. Bald darauf ward er noch des Gebrauches seiner +Beine beraubt und saß zehn Jahre lang in einem triumphstuhlartigen +Fauteuil, der, sobald er es nur wünschte, von zwei dazu bestimmten +Dienern geschaukelt wurde, wofür diese ausschließlich die +verschiedenartigsten Schimpfwörter von ihm zu hören bekamen. Die +Equipage, die Pferde und den kostspieligen Fauteuil bezahlte sämtlich +der unehrerbietige Herr Stiefsohn, der seiner Mutter das Letzte +schickte, sein Gut doppelt und dreifach belastete, sich selbst das +Notwendigste versagte und Schulden über Schulden auf sein armes Haupt +lud, die er bei seinem damaligen Besitzstand nie zu tilgen vermocht +hätte. Nichtsdestoweniger verblieb ihm unwandelbar die Bezeichnung des +„Egoisten“ und „undankbaren Sohnes“. Mein Onkel war aber von Natur so +veranlagt, daß er schließlich selbst glaubte, ein „Egoist“ zu sein, und +so schickte er, erstens um sich dafür zu strafen, und zweitens, um sich +den „Egoismus“ abzugewöhnen, immer noch mehr Geld. Die Generalin dagegen +war vor ihrem zweiten Gatten die Andacht selbst. Wahrscheinlich gefiel +ihr an ihm vor allem dies, daß der General und sie folglich Generalin +war. + +Im Hause bewohnte er die eine, sie die andere Hälfte. Und in dieser +anderen Hälfte gedieh sie während der ganzen Zeit des halblebendigen +Lebens ihres Mannes im Kreise von ihren daselbst wohnenden Freundinnen, +Möpsen und den zum Kaffee sich einfindenden Stadthistorikerinnen. Sie +war eine wichtige Persönlichkeit in ihrem Städtchen. Der Klatsch, die +ergebensten Bitten, Kinder aus der Taufe zu heben, sowie die geliebte +Kopekenpatience entschädigten sie vollauf für ihre häuslichen +Unannehmlichkeiten. Alle Stadtelstern erschienen bei ihr mit +ausgearbeiteten Berichten, ihr wurde überall der erste Platz eingeräumt, +– mit einem Wort, sie wußte aus ihrem Generalstitel alles +herauszuschlagen, was daraus nur herauszuschlagen war. Der General +kümmerte sich um so etwas nicht. Dafür aber verspottete er seine Frau, +und zwar mit Vorliebe in Gegenwart Fremder, fragte zum Beispiel +ungeniert, weshalb er eigentlich „ein solches Weibsbild“ geheiratet habe +– und niemand durfte dagegen Einspruch erheben. Mit der Zeit zogen sich +alle Bekannten von ihm zurück, während gerade er ohne Gesellschaft nicht +auskommen konnte: denn er wollte erzählen, schwatzen, streiten; kurz, er +wollte, daß beständig ein Zuhörer vor ihm saß. Er war ein Freigeist und +Atheist vom alten Schlage, und daher philosophierte er gern über höhere +Dinge. Zum Unglück waren aber die Zuhörer des Städtchens nicht sehr +begeistert für höhere Dinge, und so kamen sie immer seltener zu ihm. +Dann versuchte man es mit einem Whist- oder Préférenceabend, aber auch +daraus wurde nichts: das Spiel endete für den General gewöhnlich mit +solchen Wutanfällen, daß die Generalin und ihr ganzer Stab von +Freundinnen vor lauter Entsetzen vor den Heiligen Wachskerzen +anzündeten, Messen lesen ließen, sich mit weißen Bohnen und +französischen Karten im Wahrsagen übten, barmherzige Semmeln im +Gefängnis austeilten und mit Hangen und Bangen der Stunde entgegensahen, +in der sie wieder eine Partie Whist oder Préférence zustande bringen +mußten, um für das geringste Versehen abermals Geschrei, Geschimpfe und +fast sogar Prügel zum Dank zu erhalten. Wenn dem General etwas mißfiel, +so tat er sich vor keinem einzigen Menschen Zwang an: er kreischte dann +wie ein altes Weib, schimpfte wie ein Droschkenkutscher; zuweilen aber, +wenn er alle seine Partner zum Teufel gejagt, die Karten zerrissen und +ihnen an den Kopf geworfen hatte, weinte er vor Verdruß und Wut, was +alles nur wegen eines armen Buben geschah, den man statt einer Neun +ausgespielt hatte. Schließlich, als seine Sehkraft immer mehr abnahm, +bedurfte er eines Vorlesers. Und da erschien denn Foma Fomitsch Opiskin! + +Ich muß gestehen, daß ich mich mit einer gewissen Feierlichkeit +anschicke, von dieser neuen Persönlichkeit zu berichten – einer der +wichtigsten meiner Erzählung. Inwieweit er ein Recht auf die +Aufmerksamkeit des Lesers hat, will ich nicht im voraus zu erklären +versuchen; darüber zu entscheiden steht vielmehr weiterhin dem Leser +selbst zu. + +Als Foma Fomitsch sein Amt beim General Krachotkin antrat, erhielt er +lediglich freie Kost – nichts mehr und nichts weniger. Woher er kam – +ist unbekannt. Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Genaueres über das +früheres Leben dieses merkwürdigen Menschen in Erfahrung zu bringen. Es +hieß, daß er irgendeinmal irgendwo Beamter gewesen sei, daß man ihm dann +ein „Unrecht“ getan und er – selbstverständlich! – „um der Wahrheit +willen“ zum Märtyrer geworden sei. Auch verlautete von anderer Seite, +daß er sich einmal in Moskau mit Literatur abgegeben habe, was ja weiter +nicht erstaunlich gewesen wäre; die geradezu schmutzige Unwissenheit +Foma Fomitschs konnte für seine literarische Laufbahn gewiß nicht als +Hindernis in Frage kommen. Glaubwürdig ist jedoch fraglos nur das eine: +daß er es in keinem Fach sehr weit gebracht hatte und schließlich +gezwungen gewesen war, als Vorleser in den Dienst des Generals zu +treten. + +Es gibt keine Erniedrigung, die Foma nicht für einen satten Magen in den +Kauf genommen hätte. Freilich versicherte er uns nach dem Tode seines +Peinigers, als er plötzlich und ganz unerwartet zu einer wichtigen, +überaus einflußreichen Person wurde, daß er sich mit seiner +Bereitwilligkeit, den Narren zu spielen, nur großmütig dem Freunde, der +Freundschaft geopfert habe, daß der General sein Wohltäter und ein +großer, doch leider unverstandener Mann gewesen sei und nur ihm, Foma, +die tiefsten Tiefen seiner Seele vertrauensvoll erschlossen habe, und +wenn er, Foma, auf den Wunsch des Generals die verschiedensten Tiere +nachgeahmt und lebende Bilder gestellt, so sei dieses von ihm aus einzig +und allein zur Zerstreuung und Erheiterung des von Krankheiten aller Art +heimgesuchten Dulders und Freundes geschehen. Nichtsdestoweniger sind +die Versicherungen und nachträglichen Erklärungen Foma Fomitschs +bezüglich jenes Sachverhaltes unbedingtem Zweifel unterworfen. Doch wie +dem auch sei, jedenfalls spielte Foma Fomitsch bereits während seines +Narrendienstes eine durchaus andere Rolle in der Damenabteilung des +Hauses der Generalin. Wie er das fertiggebracht hat, kann sich jemand, +der in solchen Dingen nicht Spezialist ist, schwer vorstellen. Die +Generalin hegte für ihn eine gerader mystische Hochachtung, – aus +welchem Grunde sie sie hegte, vermag ich nicht zu sagen. Mit der Zeit +gewann er über alles Weibliche im Hause eine erstaunliche Macht, die in +etwas an die Macht gewisser Iwan Jakowlewitschs erinnerte, oder ähnlich +benannter Weisen und Propheten, die in Irrenhäusern von Damen, die für +dergleichen empfänglich sind, besucht zu werden pflegen. Er las ihnen +aus seelenrettenden Büchern vor, erklärte ihnen mit beredten Tränen den +tieferen Sinn verschiedener christlicher Tugenden, schilderte auch sein +eigenes Leben und seine Heldentaten, ging zum Gottesdienst (und sogar +zum Frühgottesdienst), sagte außerdem die Zukunft voraus, verstand mit +ganz besonderem Talent Träume zu deuten und meisterhaft den Nächsten zu +verdammen. Der General ahnte bald, was in der anderen Hälfte seines +Hauses geschah, und tyrannisierte seinen Krippenreiter noch +erbarmungsloser. Doch siehe, das Martyrium Foma Fomitschs verlieh diesem +in den Augen der Generalin und ihrer ganzen Suite eine um so glänzendere +Aureole, an die sich natürlich entsprechend gesteigerte Hochachtung +knüpfte. + +Da starb der General, und die Situation änderte sich. Seine Sterbestunde +soll übrigens ziemlich originell gewesen sein. Dem ehemaligen Freigeist +und Atheisten war bis zur Unglaublichkeit bange geworden. Er weinte, +bereute, küßte Heiligenbilder, rief Geistliche herbei, ließ Messen lesen +und alle für sich beten; dazwischen schrie der arme Teufel, daß er nicht +sterben wolle, und bat Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung, was +diesem in der Folge sehr zustatten kam. Doch kurz bevor sich die Seele +des Generals von seinem Körper trennte, geschah noch folgendes: Die +Tochter der Generalin, meine Tante Praskowja Iljinitschna, die +unverheiratet im Hause ihrer Mutter lebte – eines der liebsten Opfer des +Generals, da sie ihm während seiner zehnjährigen Beinlosigkeit zur +beständigen Bedienung unentbehrlich war und ihm wegen ihrer Einfachheit +und stummen Güte gefiel, – trat nun an sein Lager, bittere Tränen +vergießend, um das Kopfkissen des armen Sterbenden zu rücken. Da aber +packte sie der „arme Sterbende“ an den Haaren, und es gelang ihm noch, +sie ungefähr dreimal, fast knirschend vor Wut, mit aller und letzter +Kraft hin und her zu reißen. Nach zehn Minuten war er tot. Der Oberst, +mein Onkel, wurde sofort von seinem Hinscheiden benachrichtigt, obgleich +die Generalin hundertmal gesagt hatte, daß sie eher gleichfalls sterben +werde, als daß der Sohn ihr in einer solchen Stunde vor die Augen kommen +sollte. Die Beerdigung war großartig – selbstverständlich auf Kosten des +unehrerbietigen Sohnes, der, nebenbei bemerkt, auch dann sich nicht +unterstehen durfte, das Haus seiner Mutter zu betreten. + +Auf dem verschuldeten Gut Knjäsewka, das mehreren Herren gemeinsam +gehörte, und auf dem auch die hundert Leibeigenen des Generals lebten, +steht jetzt ein Mausoleum aus weißem Marmor, besät mit Inschriften, die +alle dem hohen Verstande, den mannigfachen Talenten, der Herzensgüte, +dem Seelenadel und den trefflichen militärischen Eigenschaften des +Entschlafenen das höchste Lob spenden. Bei der Zusammenstellung dieser +Inschriften hat Foma Fomitsch stark mitgewirkt. Es dauerte lange, bis +die Generalin ihrem unehrerbietigen Sohne Verzeihung gewährte. +Schluchzend beteuerte sie, umringt von ihrem ganzen Gefolge, +einschließlich der Möpse und Katzen, daß sie lieber trockenes Brot essen +– welches sie natürlich mit ihren Tränen anfeuchten würde – oder mit +einem Krückstock betteln gehen wolle, als daß sie der Bitte ihres +„ungehorsamen“ Sohnes nachgäbe und zu ihm nach Stepantschikowo +übersiedelte. + +„Niemals, niemals werde ich meinen _Fuß_ über seine Schwelle setzen!“ +rief sie erregt aus, wobei das Wort „mein _Fuß_“, in dieser Verbindung +gebraucht, ungewöhnlich effektvoll herausgebracht wurde. Sie sprach es +wirklich meisterhaft, geradezu künstlerisch aus. Kurz, Reden wurden von +ihr in unglaublichem Überfluß vergeudet. Nur muß ich hier bemerken, daß +gleichzeitig mit diesen Versicherungen bereits die Koffer zur +Übersiedelung nach Stepantschikowo gepackt wurden – allerdings heimlich. + +Inzwischen jagte der Oberst alle seine Pferde zuschanden, da er täglich +von seinem Gute in die vierzig Werst entfernte Stadt gefahren kam, bis +er dann endlich, vierzehn Tage nach der Beerdigung des Generals, die +Erlaubnis erhielt, bei seiner tiefgekränkten Frau Mutter zu erscheinen. +Foma Fomitsch war in dieser Zeit als Unterhändler benutzt worden. Zwei +Wochen lang warf er dem Ungehorsamen sein „unmenschliches“ Verhalten zur +Mutter vor, brachte den Armen zu aufrichtigen Tränen und fast zur +Verzweiflung. Von diesen Tagen an datiert der unbegreifliche, +unmenschlich despotische Einfluß Foma Fomitschs auf meinen armen Onkel. +Foma erriet sofort, was für einen Menschen er vor sich hatte und – daß +seine Narrenrolle zu seinem Glück zu Ende gespielt war, folglich aber +auch er, Foma, so etwas wie „Herr“ sein konnte. Und so entschädigte er +sich denn. + +„Wie würde Ihnen zumute sein,“ fragte Foma, „wenn Ihre leibliche Mutter, +sozusagen die Urheberin Ihrer Tage, einen Krückstock nähme und, mit +ihren zitternden, von Hunger abgemagerten Händen sich auf ihn stützend, +tatsächlich betteln ginge? Wäre das nicht ungeheuerlich, erstens bei +ihrem Rang als Generalin, und zweitens bei ihren Tugenden? Was würden +Sie empfinden, wenn sie eines Tages unter den Fenstern Ihres Hauses +erschiene (was natürlich nur aus Versehen geschehen könnte, aber es wäre +doch immerhin möglich), und wenn sie ihre Hand um ein Almosen bittend +ausstreckte, während Sie, ihr Sohn, gerade irgendwo in einem Daunenbett +versinken und ... nun, in Luxus, kurz gesagt, schwelgen? ... So etwas +wäre doch entsetzlich, ganz entsetzlich! Am entsetzlichsten ist aber – +gestatten Sie, Oberst, daß ich Ihnen das ganz offen sage – ja, am +entsetzlichsten hierbei ist, daß Sie jetzt wie ein gänzlich gefühlloser +Pfosten vor mir stehen, den Mund halb aufsperren und nur die Augenlider +von Zeit zu Zeit zusammenklappen, was gewissermaßen sogar unhöflich ist, +während Sie bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit sich die +Haare Ihres Hauptes mit der Wurzel ausraufen und Ihren Augen Ströme ... +was sage ich! – Flüsse, Seen, Meere, Ozeane von Tränen entfließen +müßten!“ + +Der übliche Ausgang seiner Reden war, daß er vor lauter Hingerissensein +sich fortreißen ließ und die Übersicht über die Tragweite der eigenen +Worte verlor. + +So kam es denn, daß die Generalin samt ihrem ganzen Stabe – alles +Vierbeinige inbegriffen – samt Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna, +ihrer größten Busenfreundin, endlich das Herrenhaus von Stepantschikowo +mit ihrer Ankunft beglückte. Sie erklärte, daß sie vorläufig nur +_versuchen_ wolle, bei ihrem Sohn zu leben, und gleichzeitig käme sie, +um seinen Gehorsam zu prüfen. Man kann sich wohl die Lage des Obersten +in dieser Zeit der „Prüfung seines Gehorsams“ ungefähr vorstellen! +Anfangs hielt es die Generalin, als jüngst verwitwete Frau, für ihre +Pflicht, etwa zwei- oder dreimal wöchentlich in der Erinnerung an ihren +unwiederbringlich verlorenen Gatten, in Verzweiflung zu geraten; und +diese Verzweiflung hatte die Eigentümlichkeit, sich alsbald aus +unbekannten Gründen in einem Gewitter über dem Haupte des armen Obersten +zu entladen. Zuweilen, vornehmlich wenn Besuch zugegen war, rief sie +ihre beiden Enkelkinder zu sich, den kleinen Iljuscha und die +fünfzehnjährige Ssaschenjka, hieß sie sich ihr gegenüber hinsetzen, sah +sie lange, lange, mit traurigem, kummervollem Blick an, eben wie Kinder, +die bei einem „_solchen Vater_“ dem Untergang geweiht sind, seufzte tief +und schwer und brach in wortlose, geheimnisvolle, weil unerklärliche +Tränen aus, die dann mindestens eine geschlagene Stunde unaufhaltsam +flossen. Wehe dem Obersten, wenn er diese Tränen nicht zu begreifen +_verstand_! Er aber, der Arme, verstand nie, sie zu begreifen, geriet +vielmehr in seiner Naivität wie mit Absicht gerade zu diesen +gefährlichen Stunden in ihren Gesichtskreis und mußte daher, ob er +wollte oder nicht, eine neue Prüfung bestehen. Nichtsdestoweniger +verringerte sich seine Ehrerbietung nicht – im Gegenteil, sie wuchs noch +... bis sie schließlich die äußersten Grenzen erreichte. Die Generalin +und Foma Fomitsch fühlten nun beide, daß das Gewitter, welches so lange +Jahre in der Gestalt des Generals Krachotkin in unwandelbarer +Beständigkeit über ihren Häuptern geschwebt hatte, endlich +vorübergezogen war und nie mehr wiederkehren werde. Zuweilen kam es auch +vor, daß die Generalin mir nichts dir nichts auf das Sofa sank und – „in +Ohnmacht fiel“: alles lief dann und schrie, der Oberst war aufs äußerste +erschrocken und zitterte wie ein Espenblatt. + +„Du grausamer Sohn!“ kreischte dann die Generalin los, kaum daß sie das +Bewußtsein wiedererlangt hatte, „du hast mich zerrissen, – ^oui, moi, ta +mère, ta mère^!“ + +„Ja aber – wann habe ich Sie denn zerrissen, Mama?“ + +„Das hast du, das hast du! Mich zerrissen hast du! Jetzt will er sich +noch rechtfertigen! Er wird noch unehrerbietig! O du grausamer, +unbarmherziger Sohn! Oh, ich sterbe!“ + +Der Oberst aber war zerknirscht. + +Nur weiß ich nicht, wie es kam, daß die Generalin es mit dem Sterben nie +wörtlich nahm. + +Nach einer halben Stunde erklärte der Oberst wohl einem seiner +„Hausgäste“, ihn am Rockknopf festhaltend, die Sache auf folgende Weise: + +„Nun, ja, sie ist doch, Freund, Grandedame, Generalin! – das mußt du +nicht vergessen. Sonst ist sie ja eine herzensgute, alte Frau, nur ist +sie, weißt du, an diesen höheren Ton gewöhnt ... nun, und ich Tölpel +verstehe eben so etwas nicht. Jetzt ärgert sie sich über mich. Es ist ja +wahr, ich bin schuldig ... obschon mir, offen gestanden, immer noch +nicht so recht klar ist, was ich denn eigentlich verschuldet habe, aber +es wird wohl so sein, selbstverständlich! ...“ + +Mitunter glaubte sich in solchen Fällen wohl auch Fräulein Perepelizyna +verpflichtet, ihm deswegen eine Moralpredigt zu halten. Sie war ein +etwas überreifes Fräulein, ohne Augenbrauen, mit falschem Haar, kleinen, +stechenden Äuglein, mit Lippen, die wie Bindfaden so schmal waren, und +mit Händen, die sie in gesalzenem Gurkenwasser wusch. + +„Das kommt daher, daß Sie unehrerbietig sind, und weil Sie egoistisch +sind, weil Sie Ihre Frau Mutter kränken, Ihre Frau Mutter aber an eine +solche Behandlung nicht gewöhnt ist ... denn sie ist doch Generalin ... +Sie aber sind nur erst Oberst.“ + +„Nein, weißt du, Freund,“ sagte dann wohl der Oberst zu seinem Zuhörer, +„Fräulein Perepelizyna ist doch im Grunde ein vorzügliches Mädchen, sie +steht wie ein Mann für meine Mutter ein! Wirklich ein seltenes Mädchen! +Glaub’ nur nicht, daß sie irgend so eine aus Gnade und Barmherzigkeit +ernährte Klatschbase sei! Bewahre! Sie ist selbst die Tochter eines +Majors. Tatsache!“ + +Doch das sind vorläufig nur so einige Beispiele. Dieselbe Generalin +aber, die so verschiedenartige Anfälle bekam, zitterte ihrerseits wie +eine Maus vor dem ehemaligen Narren ihres Gatten. Foma Fomitsch besaß +förmlich Zaubermacht über diese Dame. Sie wagte nicht zu mucken, wenn er +etwas befahl; sie hörte nur mit seinen Ohren, sah nur mit seinen Augen. +Einer meiner Vettern zweiten Grades, gleichfalls ein Husarenoffizier a. +D., ein noch junger Mensch, der aber nichtsdestoweniger sein ganzes +Vermögen bereits doppelt durchgebracht hatte und sich seit einiger Zeit +bei meinem Onkel aufhielt, erklärte mir kurz und bündig, ohne den +geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß die Generalin nach seiner +felsenfesten Überzeugung in „unerlaubten Beziehungen“ zu Foma Fomitsch +stünde. Ich ließ jedoch diese Deutung selbstverständlich nicht gelten. +Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes, viel Feineres – doch +bleibt mir zur Erklärung dieses anderen nur eines übrig: den Charakter +Foma Fomitschs so zu erklären, wie ich ihn mit der Zeit selbst +beurteilen lernte. + +Man denke sich einen der niedrigsten, kleinmütigsten Menschen, einen +Auswurf der Gesellschaft, für den niemand eine Verwendung hat, einen +vollkommen nutzlosen, erbärmlichen Wicht, der aber grenzenlos eitel, +selbstgefällig und eigennützig ist und zum Überfluß von der Natur +entschieden nichts erhalten hat, wodurch er auch nur annähernd eine +solche krankhaft überspannte Eigenliebe und Eigensucht rechtfertigen +könnte. Ich will hier eines gleich vorausschicken: Foma Fomitsch ist die +Verkörperung jener ganz besonderen schrankenlosen Eigenliebe, die sich +nur bei der größten Nichtigkeit entwickelt. Wie gewöhnlich in solchen +Fällen, scheint diese Eigenliebe ständig beleidigt und durch frühere +schwere Mißerfolge gezüchtet zu sein. Sie gärt seit vielen, vielen +Jahren, Jahrzehnten, und zeugt nur noch Neid, Gift und Galle, +gleichviel, ob es sich um einen fremden Erfolg handelt oder bloß um eine +neue Bekanntschaft. Es ist vielleicht überflüssig, noch hinzuzufügen, +daß dieser ganze Charakter von einer nahezu schändlichen unverschämten +Empfindlichkeit, dem verrücktesten Argwohn und Mißtrauen beherrscht +wird. Vielleicht wird man fragen: Woraus ist denn diese Eigenliebe +entstanden? Wie kann sie bei einer so offenkundigen Wertlosigkeit des +ganzen Menschen entstehen, bei einem so nichtigen Menschen, der doch +allein seiner sozialen Stellung nach den ihm in Wirklichkeit zukommenden +Platz kennen müßte? – Was soll man auf solche Fragen antworten? +Vielleicht gibt es Ausnahmen, zu denen dann auch mein Held gehört; denn +daß er eine Ausnahme von der Regel war, unterliegt keinem Zweifel, was +sich bei näherer Bekanntschaft sonnenklar zeigen wird. Einstweilen +erlaube man mir eine Gegenfrage: Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß +diese Menschen, die sich ganz und gar ergeben haben, die darin ihr Glück +sehen und es sich zur Ehre anrechnen, daß sie jemandes Hausnarr und +Gnadenbrotschlucker sein können – sind Sie wirklich überzeugt, daß diese +Kreaturen sich von jedem Selbstgefühl, von jeder Eigenliebe losgesagt +haben? Aber der Neid, der Klatsch, die Verleumdungen, die Ohrenbläserei +und das geheimnisvolle Gezischel in den Winkeln Ihres eigenen Hauses, +hinter Ihrem Rücken, oder die Seitenstiche an Ihrem eigenen Tisch?? Wer +weiß, ob in einigen dieser vom Schicksal erniedrigten Gnadenbrotessern, +Ihren Narren und Speichelleckern, die natürliche Eigenliebe durch die +Erniedrigung nicht etwa vermindert oder erstickt, sondern gerade durch +diese Erniedrigung, durch die Narrenrolle und die ewig erzwungene +Unterwürfigkeit und Persönlichkeitslosigkeit noch zu einer weit größeren +Eigenliebe aufgeschraubt wird? Wer weiß, vielleicht ist diese ins +Ungeheuerliche entwickelte Eigenliebe nur ein falsches, entstelltes +Empfinden der eigenen Menschenwürde, die zum erstenmal vielleicht schon +in der Kindheit durch fremdes Joch, Armut, Schmutz oder Verachtung mit +Füßen getreten worden ist. Oder vielleicht hat der Betreffende als +kleines Kind seine Eltern so behandelt gesehen? Doch ich habe gesagt, +daß Foma Fomitsch außerdem noch eine Ausnahme darstellte – er war in der +Tat ein ganz besonderer Fall. Er hatte sich einmal für einen Literaten +gehalten, war aber von den anderen nicht anerkannt und folglich +zurückgesetzt, gekränkt, beleidigt worden. Die Literatur aber – d. h. +jene, die er natürlich nicht anerkannte – kann sich wegen eines Foma +Fomitsch nicht selbst aufgeben! Ich weiß es zwar nicht genau, aber es +ist doch anzunehmen, daß Foma Fomitsch auch _vor_ seinen literarischen +Versuchen nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war; vielleicht hatte +er auch in jeder anderen von ihm versuchten Tätigkeit nur Nasenstüber +anstatt einer Belohnung erhalten – oder vielleicht noch Schlimmeres. +Doch darüber läßt sich nichts Genaues feststellen; erfahren habe ich nur +nach vielfachen Erkundigungen, daß Foma Fomitsch in Moskau tatsächlich +einmal einen kleinen Roman geschrieben hat, äußerst ähnlich jenen Werken +der dreißiger Jahre, von denen jährlich ein Dutzend erschienen, in der +Art der „Befreiungen Moskaus“ oder der „Söhne der Liebe oder der Russen +im Jahre 1104“. Das war allerdings vor langer Zeit, aber der +Schlangenbiß des literarischen Ehrgeizes verwundet oft tief und +unheilbar, was namentlich von nichtigen und dummen Leuten gilt. Foma +Fomitsch war sogleich nach seinem ersten literarischen Versuch, wie wir +annehmen müssen, in seinem Ehrgeiz getroffen, und so schloß er sich ohne +weiteres endgültig jener unzählbaren Schar der Zurückgesetzten an, aus +der dann später alle diese Sonderlinge, Hampelmänner und +gesellschaftlichen Vagabunden hervorgehen. Zu derselben Zeit begann, wie +ich glaube, auch diese unglaubliche Prahlsucht sich in ihm zu +entwickeln, dieses gierige Bedürfnis nach Lob und Auszeichnungen, +Verehrung und Bewunderung. Selbst als Narr hatte er sich einen Kreis ihn +andächtig anstaunender Idioten zu schaffen gewußt. Sein einziges +Verlangen war: stets den Vorrang zu haben, sich zeigen zu können, gelobt +zu werden. Lobten ihn die anderen nicht, so lobte er sich selbst. Ich +habe seine Reden im Hause meines Onkels in Stepantschikowo, nachdem er +dort unumschränkter Herrscher geworden war, selbst gehört. „Ich gehöre +nicht in Ihren Kreis,“ pflegte er oft genug mit einer gewissen +geheimnisvollen Feierlichkeit zu sagen. + +„Ja, ich gehöre nicht hierher in Ihren Kreis! Ich werde wirken, werde +Sie hier zuerst alle unterbringen und Ihr Leben einrichten, Sie zu leben +lehren, dann aber – lebt wohl! Dann geht’s nach Moskau, und dort werde +ich eine Zeitschrift herausgeben. Dreißigtausend Menschen werden sich +monatlich zu ihrer Lektüre zusammenfinden. Ja, dann wird mein Name +klingen ... und dann – wehe meinen Feinden!“ + +Inzwischen aber forderte das Genie die Belohnung im voraus. Es ist ja im +allgemeinen sehr angenehm, im voraus belohnt zu werden, um wieviel mehr +aber ist es das in einem solchen Fall. Wie ich genau weiß, hat er meinem +Onkel in allem Ernst versichert, daß ihm eine große Tat bevorstehe, eine +Tat, zu der er allein berufen und geboren sei, und zu deren Vollbringung +ihn ein geflügeltes Wesen von Menschenart, das in der Nacht bei ihm +erscheine, zwinge. Und diese Tat sei: ein tiefsinniges, die Seelen der +Menschen errettendes Werk zu schreiben, von dem „ein allgemeines +Erdbeben ausgehen“ und das „ganz Rußland erzittern machen“ werde. Doch +wenn dann sein Name in aller Mund sei, dann werde er, Foma, den Ruhm und +die Ehre verachtend, sich ins Kijewsche Höhlenkloster zurückziehen, um +dort unter der Erde Tag und Nacht für das Glück des Vaterlandes zu beten +... So etwas aber rührte meinen Onkel. + +Jetzt stelle man sich vor, zu was sich dieser Foma entwickeln konnte, +dieser selbe Foma, der sein ganzes Leben lang geknechtet und vielleicht +sogar tatsächlich geprügelt worden war, dieser selbe Foma, der im +geheimen so genußgierig und so eigenliebig war wie kein zweiter, Foma, +der enttäuschte, erbitterte Literat, Foma, der für das tägliche Brot den +Narren gespielt, Foma, der im Grunde seiner Seele der größte Despot war, +ungeachtet seiner ganzen vorhergehenden Niedrigkeit und +Bedeutungslosigkeit, Foma, der Prahlhans und unverschämte Frechling +(sobald er nur Gelegenheit hatte, es zu sein), dieser selbe Foma, der +dann plötzlich zu Ruhm und Ehre gelangte, verhätschelt und gelobt und in +den Himmel gehoben wurde, dank einer törichten, kindisch-dummen +Beschützerin und einem ahnungslosen, von vornherein mit allem +einverstandenen Beschützer, in dessen Hause er sich endlich nach langen +Irrfahrten zur Ruhe setzen konnte! Freilich muß ich auch den Charakter +meines Onkels eingehender erklären; denn sonst würde der Erfolg Foma +Fomitschs immerhin nicht ganz verständlich sein. Auf Foma paßte +vorzüglich das Sprichwort: läßt du den Ziegenbock in die Kirche hinein, +so steigt er sofort auf die Kanzel. Ja, Foma verstand es wahrlich, sich +für das Vergangene zu entschädigen! Ein niedriger Charakter wird, sobald +er von seinem Bedrücker befreit ist, sofort andere bedrücken. Foma nun +war tyrannisiert worden – und er empfand sofort das Bedürfnis, jetzt +selbst zu tyrannisieren; man hatte ihn zum besten gehabt, – folglich +wollte auch er jetzt andere zum besten haben; er war Narr gewesen, nun +mußte auch er unbedingt Narren haben. Er prahlte bis zur Verrücktheit, +war herrschsüchtig bis zur Unmenschlichkeit, war anspruchsvoll ohne +jedes Maß, verlangte womöglich Vogelmilch – so daß Leute, die von ihm +nur erzählen hörten, ihn aber nicht persönlich kannten, diese +Geschichten aus Stepantschikowo für Märchen hielten oder für des Teufels +Machwerk, sich bekreuzten und ausspien. + +Ich sagte vorhin, daß ohne eine Erklärung des bemerkenswerten Charakters +meines Onkels diese freche Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden +Hause unbegreiflich erscheinen müsse, unbegreiflich diese Metamorphose +aus einem Narren in eine große Persönlichkeit. Mein Onkel war nicht nur +unsäglich gut, sondern trotz seiner ganzen militärischen Erscheinung +auch ein selten zartfühlender Mensch, ein überaus edler, männlicher +Charakter. Ich sage mit Absicht „männlich“ und betone dieses Wort. Wenn +es für ihn hieß, eine Pflicht zu erfüllen, dann kannte er nie ein +Hindernis, dann schrak er vor nichts zurück. Seine Seele war rein wie +die eines Kindes. Man konnte ihn wirklich ein fast vierzigjähriges Kind +nennen. Er war äußerst mitteilsam, stets heiter gestimmt, sah in jedem +Menschen einen Engel, hielt alle fremden Mängel nur für Folgen seiner +eigenen Fehler, vergrößerte die guten Eigenschaften der anderen +unendlich und sah solche sogar dort, wo sie überhaupt nicht vorhanden +sein konnten. Er war einer jener durch und durch edlen Menschen, die so +keuschen Herzens sind, daß sie sich geradezu schämen, in einem anderen +Menschen etwas Schlechtes zu vermuten, ja, daß sie sich beeilen, ihre +Nächsten mit allen Tugenden auszuschmücken; einer jener Menschen, die +sich über jeden Erfolg anderer freuen, auf diese Weise beständig in +einer idealen Welt leben und bei einem Unglück immer sich zuerst, sich +ganz allein beschuldigen. Sich selbst den Interessen anderer zu opfern, +scheint ihre Lebensaufgabe zu sein. Manch einer hätte meinen Onkel +vielleicht sogar kleinmütig, charakterlos, schwach genannt. Allerdings +war er schwach bei seinem gar zu weichen Herzen; nur war er es nicht aus +Mangel an Charakterfestigkeit, sondern aus Furcht, zu kränken, grausam +zu sein, oder aus gar zu großer Hochachtung vor anderen – vor dem +Menschen überhaupt. Und übrigens war er nur dann schwach und kleinmütig, +wenn es sich um seine eigenen Interessen handelte, die er immer +hintansetzte, wofür er sich sein Leben lang dem Gespött der Menschen +aussetzte, und nicht selten dem Gespött gerade derjenigen, für die er +sich opferte. Niemals hätte er geglaubt, daß er Feinde haben könnte, und +dennoch hatte er sie – nur bemerkte er sie nicht. Zwist und Geschrei im +Hause fürchtete er mehr als Feuer, und so gab er allen in allem sofort +nach und ergab und beschied sich stets. Er tat es aus einer gewissen +schüchternen Gutmütigkeit heraus, aus einem fast zärtlichen Zartgefühl, +– „damit, weißt du,“ sagte er schnell, gewissermaßen, um sich gegen +etwaige Vorwürfe zu verteidigen, – „damit, weißt du ... nun, damit alle +zufrieden und glücklich sind!“ Es versteht sich von selbst, daß er jedem +edlen Einfluß zugänglich war; ja, ein gewandter Spitzbube hätte sich +seiner vollkommen bemächtigen und ihn sogar zu einer schlechten Tat +verleiten können, d. h. wenn er diese schlechte Tat als edel hingestellt +hätte. Mein Onkel ließ sich leicht von anderen lenken, besonders wenn er +dem Betreffenden einmal sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte; in dieser +Beziehung war er also durchaus nicht fehlerfrei. Wenn er sich aber dann +nach lange gezahltem schmerzlichen Lehrgeld endlich entschloß, daran zu +glauben, daß der ihn Betrügende ein unehrlicher Mensch war, so +beschuldigte er vor allen anderen sich selbst, und nicht selten nur sich +allein. Nun denke man sich in seinem stillen Hause diese plötzlich die +Herrschaft an sich reißende, launenhafte, verschrobene Idiotin von +Mutter, zusammen mit einem anderen Idioten – ihrem Abgott –, eine +Idiotin, die bis dahin nur ihren General gefürchtet hatte, jetzt aber +nichts mehr fürchtete und sogar das Bedürfnis empfand, sich für die +schlechten Lebensjahre zu entschädigen – eine Idiotin, der der Oberst +frommen Gehorsam schuldig zu sein glaubte, und zwar einzig aus dem +Grunde, weil sie seine Mutter war. + +Man begann damit, daß man dem Oberst bewies, daß er ein roher Mensch +sei, unduldsam, unwissend und vor allen Dingen ein „Egoist ersten +Ranges“. Bemerkenswert war dabei, daß die blödsinnige Alte selbst +vollkommen an das glaubte, was sie predigte. Ja, ich vermute sogar, auch +Foma Fomitsch tat das, oder wenigstens zum Teil. Man überzeugte den +Oberst, daß Foma von Gott selbst zur Rettung seiner, des Obersten, Seele +vom Himmel herabgesandt sei, desgleichen zur Besänftigung seiner +zügellosen Leidenschaften; daß er stolz sei, mit seinem Reichtum prahle +und fähig wäre, Foma Fomitsch wegen des täglichen Brotes, das er von ihm +empfing, Vorwürfe zu machen. Mein armer Onkel glaubte bald selbst an die +Tiefe seiner sittlichen Gesunkenheit und war bereit, sich die Haare vor +Reue auszuraufen und Foma um Verzeihung zu bitten ... + +„Weißt du, Freund, ich bin selbst daran schuld,“ sagte er zuweilen einem +seiner Hausgäste, mit dem er sich gerade unterhielt, „und zwar an allem! +Man muß doppelt zartfühlend sein im Umgang mit einem Menschen, dem man +Gutes tut ... Das heißt ... was sage ich! Was Gutes tut! Was schwatze +ich da wieder! Durchaus nicht Gutes tut, sondern im Gegenteil – er ist +es, der mir Gutes tut, indem er bei mir wohnt, aber nicht umgekehrt! ... +Das heißt, ich habe ihm meines Wissens noch nie auch nur das Geringste +vorgeworfen, aber ich muß es doch wohl getan haben ... wahrscheinlich +ist mir wieder einmal so etwas entschlüpft, – mir entschlüpft oft etwas +Unüberlegtes ... Nun, und schließlich – der Mensch hat gelitten, hat +Großes vollbracht, hat zehn Jahre lang, ohne auf die Kränkungen zu +achten, seinen kranken Freund gepflegt: so etwas muß belohnt werden! Ja, +und dann die Wissenschaft ... Er ist doch Schriftsteller! Ungemein +gebildet! Ein überaus edler Mensch, mit einem Wort! ...“ + +Ja, Foma, der Gebildete und Unglückliche, der bei einem launischen und +grausamen Freunde den Narren hatte spielen müssen, erweckte in dem edlen +Herzen meines Onkels das tiefste Mitleid. Alle Seltsamkeiten Fomas, +sowie alle seine schändlichen Ausfälle dem Hausherrn gegenüber, wurden +von diesem ohne weiteres mit seinen früheren Leiden, seiner Erniedrigung +und Verbitterung entschuldigt. Er sagte sich in seiner gutmütigen, stets +nachsichtigen Seele, daß man von einem Gemarterten nicht dasselbe +verlangen könne wie von einem gewöhnlichen Menschen, daß man ihm nicht +nur alles verzeihen, sondern mit Demut seine Wunden heilen, ihn +aufrichten und mit der Menschheit wieder aussöhnen müsse. Nachdem er +sich dieses einmal zum Ziel gesetzt hatte, begeisterte er sich geradezu +für seine Aufgabe und verlor gänzlich die Fähigkeit, auch nur entfernt +zu erraten, daß sein neuer Freund ein gieriger, eigennütziger Lump war, +ein Egoist, Faulpelz und Aussauger – und weiter nichts. An das Wissen +und die Genialität Fomas glaubte er einwandlos. Ich habe noch vergessen +zu sagen, daß mein Onkel vor Worten wie „Wissenschaft“ oder „Literatur“ +eine Hochachtung empfand, die von der größten Naivität war, um so mehr, +als er selbst niemals etwas gelernt hatte. Das war nun einmal eine +seiner wirklichen und unschuldigsten Schwächen. + +„Pst! Er schreibt an seinem Werk!“ sagte er zuweilen zur Erklärung, wenn +er schon in einem Zimmer, das noch ganz fern von Foma Fomitschs +„Arbeitskabinett“ lag, nur auf den Fußspitzen zu gehen wagte. „Ich weiß +nicht, was er da eigentlich schreibt,“ fügte er mit halbwegs stolzer und +geheimnisvoller Miene hinzu; „aber sicherlich wird es, Freund, ein +solches Durcheinander sein ... Das heißt selbstverständlich, was sage +ich! – nur im guten Sinne ein Durcheinander! Für manch einen wird es ja +klar wie Tinte sein, für unsereinen aber, Bruder, sind das solche +Gedankenpurzelbäume, daß ... Ich glaube, er schreibt da von gewissen +erzeugenden Kräften – so sagt er wenigstens selbst. Es ist +wahrscheinlich etwas Politisches. Ja, ja, einmal wird sein Name einen +großen Klang haben! Dann werden auch wir beide durch ihn berühmt werden! +Das hat er mir, weißt du, selbst gesagt ...“ + +Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat sich mein Onkel auf Fomas Befehl +seinen prächtigen dunkelblonden Backenbart abrasieren müssen, da jener +gefunden hatte, daß er mit dem Backenbart wie ein Engländer aussehe und +folglich „wenig Vaterlandsliebe“ habe. Mit der Zeit begann Foma sich +auch in die Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge zu +erteilen, die, nebenbei bemerkt, fürchterlich waren. Die Bauern errieten +denn auch bald, wie es sich damit verhielt, und wer der wahre Herr auf +dem Gute war – und sie kratzten sich bedenklich hinterm Ohr. Ich habe +späterhin selbst Gelegenheit gehabt, einem Gespräch Foma Fomitschs mit +den Bauern zuzuhören. Ich will gleich gestehen, daß ich heimlich +gelauscht habe. Foma hatte oft genug gesagt, daß er gern mit einem +klugen russischen Bauern rede. Eines Tages ging er zur Tenne. Er sprach +mit den Bauern über die Feldarbeit, die Landwirtschaft – obgleich er +selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden verstand, – sprach von +den heiligen Pflichten des Bauern seinem Herrn gegenüber, berührte +darauf Themen wie Industrialismus, Elektrizität und die Erleichterung +der Arbeit – wovon er selbst natürlich kein Wort begriff, – erklärte +seinen Zuhörern, in welcher Weise die Erde sich um die Sonne drehe, um +dann schließlich, ganz gerührt von seinen eigenen Kenntnissen, auf die +Minister zu sprechen zu kommen. Ich verstand ihn. Erzählt doch Puschkin +von einem Vater, der seinem vierjährigen Söhnchen sagt, er, sein +„Papachen“, sei so „brav und tapfer, daß der Kaiser ihn ganz besonders +liebe“. Auch dieser Vater bedurfte eines Zuhörers, und wenn der Zuhörer +auch erst vier Jahre zählte ... Die Bauern aber hörten Foma stets voll +Ehrerbietung zu. + +„Aber was, Väterchen, bekommst du auch viel kaiserliches Gehalt?“ fragte +ihn plötzlich ein kleiner Alter, Archip Korotkij genannt, aus der Schar +der vor ihm stehenden Bauern, mit der unverhohlenen Absicht, etwas +Angenehmes zu fragen. Foma Fomitsch fand jedoch diese Frage zu +„familiär“. „Familiarität“ aber konnte er nicht ertragen. + +„Was geht das dich an, du Lümmel?“ antwortete er mit verächtlichem Blick +auf das arme Bäuerlein. „Was steckst du hier deine Schnauze vor – soll +ich sie etwa anspeien?“ + +Foma Fomitsch sprach nie in einem anderen Tone mit dem „verständigen +russischen Bauern“. + +„Ach, Väterchen, wir sind doch unwissende Leute,“ sagte ein anderes +Bäuerlein. „Was wissen wir viel, vielleicht bist du Major, vielleicht +Oberst, vielleicht sogar ganzer General – wir wissen ja nicht einmal, +wie man dich betiteln muß.“ + +„Lümmel!“ wiederholte bloß Foma Fomitsch, war aber doch sogleich +nachsichtiger gestimmt. „Zwischen Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied, +Dummkopf! Manch einer ist General und erhält überhaupt nichts; denn es +ist kein Grund vorhanden, ihm etwas zu geben, weil er dem Kaiser keinen +Nutzen bringt. Ich dagegen erhielt zwanzigtausend Rubel jährlich, als +ich beim Minister angestellt war, und selbst dieses Geld nahm ich nicht; +denn ich diente um der Ehre willen und hatte außerdem eigenes genug. +Mein Gehalt aber stiftete ich für staatlichen Unterricht und für die +niedergebrannten Einwohner der Stadt Kasanj.“ + +„Dann hast du ja halb Kasanj von neuem aufgebaut?“ fragte verwundert +derselbe Bauer. + +Überhaupt kann man sagen, daß alle Bauern sich nicht wenig über Foma +Fomitsch wunderten ... + +„Nun, ja, versteht sich, auch mein Teil ist dabei ...“ sagte Foma, +gleichsam ungehalten über sich, daß er einen _solchen_ Menschen eines +_solchen_ Gesprächs gewürdigt hatte. + +Mit meinem Onkel dagegen waren seine Gespräche anderer Art. + +„Was waren Sie früher für ein Mensch?“ fragte zum Beispiel Foma, sich +nach dem opulenten Mittagsmahl im Lehnstuhl streckend – hinter dem ein +Diener stehen und mit einem frischen Lindenzweig die Fliegen sanft +fortwedeln mußte. + +„Wem glichen Sie früher, bevor ich kam? Jetzt habe ich in Ihnen einen +Funken jenes himmlischen Feuers entzündet, das seitdem in Ihrer Seele +brennt. Habe ich das himmlische Feuer in Sie hineingelegt oder nicht? +Antworten Sie: ja oder nein?“ + +Foma Fomitsch wußte, genau genommen, selbst nicht, weshalb er diese +Frage stellte. Aber das Schweigen und die gewisse Betretenheit in der +Miene meines Onkels reizten ihn sogleich. Er, der früher geduldig alles +ertragen hatte, war jetzt zu wahrem Schießpulver geworden, das bei +jedem, auch dem geringsten Widerspruch aufflammte. Da er das Schweigen +des Obersten als Beleidigung auffaßte, bestand er mit doppeltem +Eigensinn auf der Antwort. + +„Antworten Sie: brennt in Ihnen dieses Feuer oder nicht?“ + +Der arme Oberst wand sich innerlich in seiner Ratlosigkeit: er wußte +wirklich nicht, was er tun oder sagen sollte. + +„Gestatten Sie, Sie daran zu erinnern, daß ich warte,“ bemerkte Foma mit +gekränkter Stimme. + +„^Mais répondez donc^, Jegóruschka!“ mischte sich auch die Generalin mit +einem Achselzucken ein. + +„Ich frage Sie: Glimmt in Ihnen noch dieser Funke oder nicht?“ +wiederholte Foma mit nachsichtiger Herablassung und nahm einen Bonbon +aus der Bonbonnière, die immer und überall vor ihn hingesetzt wurde. Das +geschah auf Anordnung der Generalin. + +„Bei Gott, ich weiß es nicht, Foma,“ antwortete der Oberst schließlich, +Verzweiflung im Blick – „es muß doch wahrscheinlich etwas von der Art +... Nein wirklich, frag’ mich lieber nicht, sonst lüge ich noch irgend +etwas zusammen ...“ + +„Gut! So bin ich denn Ihrer Meinung nach so wertlos, daß ich nicht +einmal einer Antwort wert bin – das ist es doch, was Sie damit sagen +wollten? Nun, mag es denn so sein; mag ich also nichts bedeuten!“ + +„Aber nein doch, Foma, um Gottes willen! Wann habe ich denn so etwas +sagen wollen?“ + +„Sie haben gerade dieses und nichts anderes damit sagen wollen.“ + +„Aber ich schwöre dir, – _nein_!“ + +„Gut! Mag ich also ein Lügner sein! Mag ich also, nach Ihrer +Anschuldigung, absichtlich einen Vorwand zum Streit suchen! Mag also zu +allen anderen Beleidigungen auch diese noch hinzukommen – ich trage +alles ...“ + +„^Mais mon fils!^“ rief erschrocken die Generalin aus. + +„Aber Foma Fomitsch! Mama!“ beschwor der Oberst verzweifelt. „Bei Gott, +ich bin doch nicht daran schuld! Es ist mir vielleicht nur wieder etwas, +ohne zu wollen, entschlüpft! ... Sieh mich doch nicht so an, Foma: ich +bin ja ein ungebildeter Mensch – ich fühle ja selbst, daß ich dumm bin, +ich fühle ja selbst, daß etwas nicht stimmt ... Ich weiß es, Foma, +glaub’ mir, ich weiß alles! Du brauchst es mir ja gar nicht erst zu +sagen!“ wehrte er sich, immer verzweifelter. „Ich habe vierzig Jahre +verlebt und die ganze Zeit, bis zu dem Augenblick, da ich dich kennen +lernte, immer von mir geglaubt, daß ich ein Mensch sei ... Nun, und +alles, was daraus folgt, mit einem Wort: eben ein Mensch! ... Und ich +habe ja wirklich bis jetzt nicht gewußt, daß ich sündig bin wie nur +einer, ein Egoist erster Sorte – und so viel Schlechtes in meinem Leben +getan habe, daß man sich nur wundern kann, wie die Erde mich noch +trägt!“ + +„Ja, Sie sind allerdings ein beispielloser Egoist, das muß ich sagen!“ +bemerkte überzeugt Foma Fomitsch. + +„Aber ich begreife es ja jetzt selbst, daß ich ein Egoist bin! Nein, +Kreuzmillionen, ich muß mich bessern, und ich werde es!“ + +„Gott geb’s!“ schloß Foma Fomitsch mit einem frommen Aufseufzen und +erhob sich aus seinem Lehnstuhl, um sich zu seinem Nachmittagsschläfchen +zurückzuziehen. Foma Fomitsch pflegte jedesmal nach dem Essen zu +schlafen. + +Zum Schlusse dieses Kapitels muß ich noch einiges von meinen +persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel sagen und vor allem erklären, +wie es kam, daß ich plötzlich Auge in Auge Foma Fomitsch gegenüberstand +und ungewollt und unverhofft in den Strudel der größten Ereignisse +hineingeriet, die sich jemals in dem gesegneten Herrenhause von +Stepantschikowo zugetragen haben. Damit beabsichtige ich diese +Einleitung zu schließen, um alsdann zur eigentlichen Erzählung +überzugehen. + +In meiner Kindheit, als ich verwaist und ohne Geld in der Welt +zurückblieb, nahm sich mein Onkel meiner an, erzog mich auf seine Kosten +und tat für mich, kurz gesagt, manches, was oft selbst ein leiblicher +Vater nicht getan hätte. Schon am ersten Tage, an dem er mich zu sich +nahm, hing ich mich mit ganzer Seele an ihn. Damals war ich zehn Jahre +alt, und ich weiß noch, daß wir bald die besten Freunde waren und +einander vorzüglich verstanden. Wir drehten beide Brummkreisel, +stibitzten beide die Nachthaube einer alten, giftigen Jungfer, mit der +wir entfernt verwandt waren. Die Nachthaube band ich übrigens an den +Schweif meines Papierdrachens und ließ sie mit diesem in die Lüfte +steigen. Darauf vergingen viele Jahre, und ich sah meinen Onkel erst in +Petersburg wieder, wohin er auf ein paar Tage gekommen war, als ich – +immer auf seine Kosten – das Gymnasium absolvierte. Während dieses +Besuches hing ich mich wieder mit der ganzen Leidenschaft der Jugend an +ihn: es war etwas Edles, Vornehmes, Aufrichtiges in seinem Charakter, +und es war vor allem seine Heiterkeit und seine unglaubliche Naivität, +die mich und jeden anderen anzogen. Nachdem ich dann mein Studium auf +der Universität beendet hatte, lebte ich eine Zeitlang in Petersburg, +ohne mit etwas beschäftigt zu sein, und war, wie so mancher Milchbart, +fest überzeugt, daß ich in allernächster Zeit ungeheuer viel +Bemerkenswertes und sogar Großes vollbringen werde. Petersburg verlassen +wollte ich noch nicht. Meinem Onkel schrieb ich nicht allzuoft, +eigentlich nur dann, wenn ich Geld brauchte, das er mir nie verweigerte. +Da geschah es, daß ich von einem Hofbauern meines Onkels, der zufällig +in Geschäften nach Petersburg gekommen war, hörte, daß bei ihnen in +Stepantschikowo wunderliche Dinge vor sich gingen. Die betreffenden +Mitteilungen setzten mich in Erstaunen und erweckten sogleich mein +Interesse. Ich begann meinem Onkel öfter zu schreiben. Er antwortete mir +immer etwas undeutlich und eigentümlich, und schien sich offenbar beim +Schreiben eines jeden Briefes krampfhaft zu bemühen, nur von der +Wissenschaft zu reden, da er von mir in Zukunft große Dinge erwartete, +und auf meine etwaigen Erfolge bereits im voraus nicht wenig stolz war. +Dann aber erhielt ich eines schönen Tages, nach längerem Schweigen, +einen Brief von ihm, der allen vorhergehenden Briefen durchaus unähnlich +war. Er setzte sich aus so seltsamen Andeutungen zusammen, aus so +wunderlichen Widersprüchen, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht +verstand. Ich fühlte nur heraus, daß der Schreiber des Briefes sich in +großer Aufregung befunden haben mußte. Nichtsdestoweniger ging aus dem +ganzen Schreiben die Hauptsache ziemlich klar hervor: der Onkel bat mich +in allem Ernst, ja, fast flehte er mich an, sobald wie möglich die +Erzieherin seiner Kinder, die Tochter eines armen Provinzialbeamten +Jeshowikin, die in Moskau, gleichfalls auf Kosten meines Onkels, in +einer vorzüglichen Anstalt erzogen worden war, – zu heiraten. Er +schrieb, sie sei unglücklich, ich aber könnte sie glücklich machen, ganz +abgesehen davon, daß es eine großmütige Handlung meinerseits wäre. Er +rief noch den Edelmut meines Herzens an und versprach gleichzeitig, dem +jungen Mädchen eine gute Mitgift zu geben. Von der Mitgift schrieb er +übrigens sehr ängstlich, wie von einer dummen Nebensache – +wahrscheinlich in der Furcht, mich zu kränken – und schloß den Brief mit +der flehenden Bitte, tiefstes Schweigen in dieser ganzen Angelegenheit +zu wahren. + +Dieser Brief stieß mich dermaßen vor den Kopf, daß mir förmlich +schwindlig wurde. Aber auf welchen jungen Menschen, der wie ich kaum +erst von der Schule und Universität kam, würde ein solches Anerbieten +keinen tiefen Eindruck machen, und wär’s auch nur, sagen wir, von der +romanhaften Seite? Zudem hatte ich schon gehört, daß diese junge +Gouvernante – eine ganz reizende junge Dame sei. Indessen wußte ich +wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn ich auch meinem Onkel umgehend +schrieb, daß ich mich unverzüglich nach Stepantschikowo begeben werde. +Mein Onkel hatte mir gleichzeitig mit dem Brief auch das Reisegeld +übersandt. Doch trotz alledem konnte ich mich nicht so schnell +entschließen und zögerte noch ganze drei Wochen in Petersburg. Da traf +ich plötzlich einen Freund meines Onkels, der mit ihm früher im selben +Regiment gestanden und nun auf der Rückreise aus dem Kaukasus nach +Petersburg ihn unterwegs in Stepantschikowo besucht hatte. Es war dies +ein schon älterer, sonst vernünftig denkender Mensch, doch ein +eingefleischter Junggeselle. Ganz empört erzählte er mir von Foma +Fomitsch, und dann teilte er mir noch etwas mit, wovon ich bis dahin +keine Ahnung gehabt hatte: daß Foma und die Generalin beschlossen +hätten, den Obersten mit einem äußerst seltsamen alten Mädchen, das +mindestens halbverrückt sei, eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und +wenigstens eine halbe Million Mitgift habe, zu verkuppeln. Die Generalin +habe ihre zukünftige Schwiegertochter zu überzeugen gewußt, daß sie +verwandt seien und sie folglich bei ihnen leben müsse; der Oberst sei +natürlich verzweifelt, doch werde es aller Voraussicht nach damit enden, +daß er die halbe Million heirate; und zum Schluß fügte der Betreffende +noch hinzu, daß die beiden Diplomaten, Foma wie die Generalin, die arme, +schutzlose Erzieherin der Kinder meines Onkels entsetzlich behandelten +und sie mit aller Gewalt zum Hause hinaustreiben wollten, wahrscheinlich +in der Angst, der Oberst könnte sich in sie verlieben, oder weil er sich +vielleicht schon in sie verliebt hatte. Diese letzte Mitteilung machte +mich stutzig. Doch auf alle meine Fragen, ob der Oberst sich inzwischen +nicht tatsächlich in sie verliebt habe, konnte oder wollte er mir keine +bestimmte Antwort geben – und überhaupt sprach er ziemlich einsilbig und +ersichtlich ungern von der ganzen Angelegenheit, ja, er umging einfach +alle näheren Erklärungen. Ich wurde nachdenklich: diese neuen +Aufschlüsse widersprachen so auffallend dem Briefe meines Onkels und +seinem Vorschlag! ... Aber wozu Zeit verlieren, dachte ich. Ich +beschloß, sofort nach Stepantschikowo zu fahren, nicht nur, um meinen +Onkel zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen, sondern auch, um ihn zu +retten, nämlich Foma vor die Tür zu setzen, zu verhindern, daß er mit +der alten Jungfer verkuppelt wurde, und dann – da mir nach reiflicher +Überlegung die Liebe meines Onkels zu der jungen Erzieherin als +entschiedenes Hirngespinst Foma Fomitschs erschien – die Unglückliche zu +beglücken, mit anderen Worten, um die Hand des interessanten jungen +Mädchens anzuhalten usw. Allmählich begeisterte ich mich immer mehr für +mein Vorhaben, so daß ich – wie das so in der Jugend zu geschehen pflegt +– aus den stärksten Bedenken alsbald in das entgegengesetzte Extrem +geriet. Mich verzehrte förmlich das Verlangen, möglichst schnell die +größten Wunder und Heldentaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß +ich ungewöhnliche Großmut bekunde, mich edelmütig opfere, um ein +unschuldiges, prachtvolles Geschöpf zu beglücken, – kurz, ich war +während der ganzen Fahrt überaus zufrieden mit mir. Es war Juli; die +Sonne schien strahlend hell; ringsum sah ich, soweit nur das Auge +schweifen konnte, die unermeßliche Weite reifender Erntefelder. Ich aber +hatte so lange in Petersburg eingeschlossen gelebt, daß ich, wie mir +schien, zum erstenmal Gottes freie Welt erblickte. + + + + + II. + + Herr Bachtschejeff. + + +Ich näherte mich bereits dem Ziele meiner Reise, als ich in dem kleinen +Städtchen B., kaum zehn Werst von Stepantschikowo entfernt, an der +Schmiede in der nächsten Nähe des Schlagbaums aussteigen mußte, um den +gesprungenen Reifen des einen Vorderrades meiner kleinen Postkutsche +ausbessern zu lassen. Für die Strecke von zehn Werst, die mir noch +bevorstanden, ließ sich die Reparatur leicht machen; daher beschloß ich, +so lange daselbst bei der Schmiede zu warten und mich nicht erst in das +Städtchen zu begeben. Als ich ausstieg, bemerkte ich einen dicken Herrn, +der gleichfalls eine Ausbesserung an seinem Gefährt, einer Landequipage, +vornehmen ließ. Er stand, wie ich später erfuhr, schon seit einer Stunde +im unerträglichen Sonnenbrand, schrie, schimpfte und trieb mit der +ganzen Ungeduld eines Eigensinnigen und ewig Unzufriedenen die +Schmiedegesellen, die an seinem prächtigen Wagen arbeiteten, zur Eile +an. Ein Blick in das Gesicht dieses Herrn genügte, um in ihm den Typ +eines Brummbären zu erkennen. Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt, +mittelgroß, sehr dick und pockennarbig. Sein Schmerbauch, das +Doppelkinn, die aufgeblasenen, hängenden Wangen zeigten anschaulich, daß +er ein bequemes Gutsherrnleben führte. Es war etwas Weibisches an ihm, +das sofort ins Auge fiel. Seine Kleider waren sehr breit zugeschnitten, +jedenfalls beengten sie ihn nicht, waren sauber und nicht billig, doch +nicht gerade allzu modisch. + +Ich weiß nicht, weshalb er sich sogleich über mich ärgerte, wozu er doch +um so weniger Veranlassung hatte, als er mich zum erstenmal im Leben sah +und noch kein Wort mit mir gesprochen hatte. Seinen Ärger aber bemerkte +ich sofort an seinem unglaublich wütenden Blick, den er auf mich +richtete, als ich kaum meinen Fuß auf die Landstraße gesetzt hatte. +Gleichwohl wollte ich ihn ungeheuer gern näher kennen lernen. Aus dem +Gespräch seiner Leute erriet ich, daß er aus Stepantschikowo kam, +wahrscheinlich also von einem Besuch bei meinem Onkel nach Hause fuhr – +so war’s denn doppelt begreiflich, daß ich ihn gern ein wenig ausgefragt +hätte, um mir von dem, was mich erwartete, ein Bild machen zu können. +Ich lüftete also den Hut und bemühte mich, möglichst liebenswürdig zu +bemerken, wie unangenehm doch solch unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs +zu sein pflege – aber der dicke Herr maß mich nur mit einem +unzufriedenen, mürrischen Blick vom Hut bis zu den Stiefeln, brummte +darauf etwas Unverständliches in seinen Schnurrbart und drehte mir dann +behäbig seine Rückseite zu. Wenn nun auch dieser Teil seiner Person für +einen Beobachter ein sehr bemerkenswertes Objekt abgegeben hätte – eine +angenehme Unterhaltung war von ihm nicht zu erwarten. + +„Grischka! Was brummst du da wieder! Durchbleuen werde ich dich!“ schrie +er plötzlich seinen Diener an, als hätte er meine Äußerung über die +Unterbrechungen einer Reise überhaupt nicht gehört. + +Dieser „Grischka“ war ein alter Kammerdiener mit langem, grauem +Backenbart und in einem langschößigen Dienerrock. Nach einigen Anzeichen +zu urteilen, war er gleichfalls sehr schlechter Laune. Er knurrte +beständig etwas vor sich hin. So kam es denn zwischen dem Herrn und dem +Diener alsbald zu einer Auseinandersetzung. + +„Durchbleuen! Schrei nur noch mehr!“ brummte Grischka, anscheinend nur +vor sich hin – tat es aber doch so laut, daß alle es hörten – und wandte +sich unwillig weg, um sich am Wagen zu schaffen zu machen. + +„Was? Was sagst du? ‚Schrei nur noch mehr?‘ Willst du grob werden!“ +schrie der Dicke, puterrot im Gesicht. + +„Weshalb belieben der Herr über einen herzufallen? Man darf wohl kein +Wort mehr sagen?“ + +„Wieso herzufallen? Hört ihr, Leute? Selbst knurrst du die ganze Zeit, +und dann soll ich nicht einmal über dich herfallen!“ + +„Weshalb soll ich denn knurren, möcht’ ich wissen!“ + +„Weshalb! ... Als ob! ... Ich weiß ja ganz genau, weshalb du knurrst: +weil ich vom Mittagsmahl weggefahren bin, – deshalb!“ + +„Was geht das mich an! Meinethalben brauchten der Herr überhaupt nicht +zu essen! Ich knurre nicht des Essens wegen, ich habe hier nur den +Schmiedegesellen ein Wort gesagt.“ + +„Den Schmiedegesellen ... Was hast du denn für einen Grund, die +Schmiedegesellen anzuknurren?“ + +„Nu, wenn nicht sie, dann knurre ich eben die Equipage an.“ + +„Was hast du denn die Equipage anzuknurren?“ + +„So! – warum ist sie denn entzweigegangen? Hinfort hat sie zu gehorchen +und heil zu bleiben!“ + +„Die Equipage ... Nein, du hast mich angeknurrt, nicht aber die +Equipage! Selbst ist er der Schuldige, und dabei schimpft er noch auf +mich!“ + +„Was wollen denn der Herr heute von mir? Kann man mich denn nicht in +Ruhe lassen!“ + +„Weshalb hast du denn während der ganzen Fahrt wie ein Talglicht +dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen? Sonst bist du doch nicht +stumm!“ + +„Eine Fliege war mir in den Mund geflogen, deshalb schwieg ich und saß +wie ein Talglicht, wie der Herr sagen. Soll ich denn Märchen zu erzählen +anfangen? So mögen der Herr doch die alte Malanja auf Reisen mitnehmen, +wenn der Herr Märchen zu hören liebt.“ + +Der Dicke tat wohl den Mund auf, um heftig etwas zu erwidern, fand sich +aber nicht zurecht und klappte den Mund wieder zu. Er schwieg. Der +Diener aber wandte sich, zufrieden mit seiner Dialektik und seinem vor +Zeugen bewiesenen Einfluß auf den Herrn, mit doppelter Wichtigkeit an +die Schmiedegesellen, um ihnen etwas Besonderes zu erklären. + +Mein Annäherungsversuch war also vergeblich gewesen – vielleicht nur +wegen meiner Ungeschicklichkeit – doch plötzlich half mir ein +unvorhergesehener Zufall. + +Aus einer geschlossenen Kutsche, die offenbar seit undenklichen Zeiten +ohne Räder vor der Schmiede stand und täglich, doch vergeblich ihre +Ausbesserung erwartete, blickte plötzlich durch das Türfenster ein +verschlafenes, ungewaschenes Mannsgesicht heraus, über dem die Haare +verwühlt zu Berge standen. Kaum war diese Physiognomie im Fenster der +Kutschentür erschienen, als plötzlich alle Schmiedegesellen in lautes +Gelächter ausbrachen. Die Sache war nämlich die, daß der Betreffende in +betrunkenem Zustande von den Schmiedegesellen in diese Kutsche +eingeschlossen worden war und nun als Gefangener in ihr saß. Da er +inzwischen seinen Rausch ausgeschlafen hatte, bat er nun flehentlich, +man möge ihn doch wieder in Freiheit setzen, was natürlich niemand tat. +Endlich verlangte er sein Werkzeug, das ihm jemand aus der Schmiede +bringen sollte, doch dieses anmaßende Verlangen erheiterte die Zuschauer +nur noch mehr. + +Es gibt Naturen, denen Gott weiß was alles zur größten Erheiterung +dient. Die Grimassen eines Betrunkenen, ein auf der Straße stolpernder +oder hinfallender Mensch, ein paar streitende Weiber oder Ähnliches +können bei manchen Menschen aus ganz unerklärlichen Gründen das größte +Entzücken hervorrufen. Zu diesen Naturen gehörte nun offenbar auch der +dicke Gutsbesitzer. Sein Gesicht, das noch vor wenigen Minuten wütend +gewesen war, wurde jetzt immer freundlicher, bis schließlich das letzte +Wölkchen seines Ärgers daraus verschwand. + +„Aber das ist ja doch Wassiljeff?“ fragte er plötzlich sehr +interessiert. „Wie ist er denn dorthin geraten?“ + +„Jawohl, Wassiljeff, Herr! Wassiljeff!“ rief man lachend von allen +Seiten. + +„Er hat wieder blauen Montag gemacht,“ sagte einer der Schmiedegesellen, +ein älterer, langer, hagerer Mann mit pedantischem Gesichtsausdruck und +dem offenbaren Bestreben, der erste unter seinen Genossen zu sein. „Er +ist vor drei Tagen von seinem Herrn fortgegangen, ist uns auf den Hals +gekommen und versteckt sich nun hier. Jetzt will er sein Stemmeisen +haben. – Was willst du denn jetzt mit dem Stemmeisen anfangen, du +Dummkopf! Willst wahrscheinlich noch dein letztes Werkzeug versetzen!“ + +„Ach, du, Archipuschka! Geld ist – wie Tauben: es kommt angeflogen und +fliegt wieder weg! Laß mich doch um des himmlischen Vaters willen wieder +heraus!“ bat Wassiljeff mit hohler, unsicherer Stimme, den Kopf zum +Kutschenfenster hinaussteckend. + +„Sitz jetzt, hast es verdient, wenn du hineingekommen bist!“ sagte +Archip unerbittlich. „Seit drei Tagen bist du ja überhaupt kein Mensch +mehr! Heute morgen hat man dich noch in aller Herrgottsfrühe von der +Straße aufgelesen und hergeschleppt. Dank dem Schöpfer, daß wir dich +versteckt haben. Und deinem Matwei Iljitsch sagten wir, du seist +erkrankt: man habe bei dir Anzeichen von schleichendem Faulfieber +entdeckt ...“ + +Alles lachte. + +„Aber wo ist denn mein Stemmeisen?“ + +„Bei unserem Handlanger, – wo soll es denn sein! ... Das ist ein echter +Saufbruder, Herr, dieser Wassiljeff.“ + +„He–he–he! So ein Schuft! Also das ist deine Arbeit in der Stadt: dein +Werkzeug versetzen!“ rief der Dicke vollkommen zufrieden, in der +angenehmsten Gemütsverfassung aus, und sein Schmerbauch schaukelte zu +seinem gemächlichen Lachen. + +„Und dabei ist der Kerl ein Tischler, wie man in ganz Moskau keinen +findet! Aber da sieh nun einer, wie der Schuft sich aufführt!“ Mit +diesen Worten wandte sich der Dicke plötzlich und ganz unerwarteterweise +an mich. „Laß ihn heraus, Archip, vielleicht hat er irgend etwas nötig.“ + +Da der Herr es gesagt hatte, gehorchte man. Der Nagel, mit dem sie die +Kutschentür unten zugenagelt hatten, – eigentlich nur um über Wassiljeff +lachen zu können, wenn er wieder aufwachte – wurde herausgezogen, und +Wassiljeff erschien zerlumpt, beschmutzt und nur halb ausgeschlafen im +freien Sonnenlicht. + +Er blinzelte, nieste und wankte auf den Beinen; dann legte er die Hand +als Schirm über die Augen und sah sich die Umgebung an. + +„Wieviel Volk ... wieviel Volk!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und alle ... +wie man sieht ... nü–üchtern,“ sagte er langsam, wie in traurigen +Gedanken, geradezu vorwurfsvoll zu sich selbst. „Nun, guten Morgen, +Freunde, zum anbrechenden Tage.“ + +Wieder lachten alle. + +„Zum anbrechenden Tage! Mach doch die Augen auf und sieh, wieviel vom +anbrechenden Tage noch übrig ist, du dummer Mensch!“ + +„Lüg nur, Jemelja, – jetzt ist’s deine Woche.“ + +„He–he–he! Der Junge ist wirklich nicht übel!“ meinte der Dicke lachend, +wieder mit einem freundlichen Blick auf mich. „Aber schämst du dich denn +nicht, Wassiljeff?“ + +„Ach, Herr, es ist doch nur aus Kummer!“ sagte Wassiljeff, schlug +abwinkend mit der Hand zur Seite und war offenbar froh darüber, noch +einmal von seinem Kummer reden zu können. + +„Was ist denn das für ein Kummer, Esel?“ + +„Das ist nun so einer, wie man ihn bisher noch nie gesehen hat: man +überschreibt uns auf Foma Fomitsch.“ + +„Auf – wen? Was? Wann?“ schrie der Dicke, im Augenblick außer sich +geratend. + +Ich trat gleichfalls einen Schritt vor: die Sache ging plötzlich auch +mich etwas an. + +„Jawohl, ganz Kapitonowka. Unser Herr, der Oberst – Gott erhalte ihn! – +will ganz Kapitonowka, sein väterliches Erbgut, dem Foma Fomitsch +opfern, ganze siebzig Seelen. ‚Da hast du es,‘ sagte er, ‚Foma! Sieh, +jetzt gehört dir ja so gut wie nichts; du bist kein großer Gutsbesitzer: +im ganzen arbeiten für dich zwei Stinten im Ladogasee – das ist alles, +was dir dein Verstorbener Vater an Besitz hinterlassen hat; denn dein +Vater war,‘“ fuhr Wassiljeff mit einem gewissen boshaften Vergnügen +fort, als wolle er auf jedes Wort, das sich auf Foma Fomitsch bezog, +gewissermaßen noch Pfeffer streuen; „‚denn dein Vater war ein Mann von +altem Adel, unbekannt woher, unbekannt wer; und ebenso wie du hat er bei +Herren das Gnadenbrot gegessen und hat sich dank ihrer Barmherzigkeit in +den Küchen aufhalten dürfen. Nun aber, wenn ich dir Kapitonowka schenke, +wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein alter Adliger, und du wirst +deine eigenen Leute haben, kannst selbst auf dem Ofen liegen, ein +adliges Leben führen‘ ...“ + +Doch der Dicke hörte nicht mehr zu. Der Eindruck, den diese Erzählung +des halbbetrunkenen Wassiljeff auf ihn machte, war unbeschreiblich: er +war dermaßen empört und aufgeregt, daß sein Gesicht blaurot wurde. Sein +Doppelkinn zitterte, seine Augen waren blutunterlaufen. Ich fürchtete +schon, daß ihn der Schlag rühren werde. + +„Das fehlte noch!!“ stieß er atemlos hervor. „Dieser Foma als +Gutsbesitzer!! Pfui! Hol euch der Satan! He, ihr da! Schneller! Macht, +daß ihr fertig werdet! Nach Haus!“ + +„Gestatten Sie mir eine Frage,“ begann ich und trat etwas unsicher einen +Schritt vor, „Sie nannten soeben den Namen Foma Fomitsch; ich glaube, +sein Familienname ist, wenn ich mich nicht täusche – Opiskin. Ich würde +gern ... mit einem Wort, ich habe besondere Gründe, mich für diese +Persönlichkeit zu interessieren, und würde daher gern wissen wollen, +inwieweit man den Worten dieses Menschen da“ – ich wies auf Wassiljeff – +„trauen kann, daß sein Gutsherr Jegor Iljitsch Rostaneff eines seiner +kleineren Güter Foma Fomitsch schenken will. Das interessiert mich sehr, +und ich ...“ + +„Aber gestatten Sie zuerst, daß ich Sie frage,“ unterbrach mich der +Dicke, „von welcher Seite Sie sich für diese Persönlichkeit, wie Sie +sagen, interessieren; denn meiner Ansicht nach müßte man ihn einen +gottverfluchten Schurken nennen, aber nicht Persönlichkeit! Was kann +denn dieser Grindkopf überhaupt für eine ‚Persönlichkeit‘ sein! Nichts +als Schmach und Schande ist der ganze Kerl, aber nicht eine +‚Persönlichkeit‘!“ + +Ich erklärte ihm hierauf, daß ich mich bezüglich seiner Person vorläufig +noch in völliger Ungewißheit befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostaneff +mein Onkel sei und ich – Ssergei Alexandrowitsch soundso heiße und sei. + +„Was! Dann sind Sie also dieser Gelehrte aus Petersburg? Gott im Himmel, +man erwartet Sie ja dort sehnsüchtig!“ rief der Dicke in unbegreiflicher +Freude aus. „Ich komme ja doch soeben selbst aus Stepantschikowo, stand +vom Mittagstisch auf und fuhr weg, gleich vom Pudding weg! Konnte nicht +länger mit Foma an einem Tisch sitzen! Habe mich dort wegen dieses +verfluchten Fomka mit allen herumgeschimpft und -gestritten! ... Doch +das nenne ich mir mal eine Begegnung! Aber Sie, wissen Sie, Sie müssen +mich schon entschuldigen. Ich bin Stepan Alexeïtsch Bachtschejeff und +erinnere mich Ihrer, als Sie noch so ’n Stöpselchen waren ... Nun, wer +hätte das gedacht! ... Aber so woll’n wir uns doch gleich ...“ + +Und der Dicke küßte mich ab. + +Nach den ersten etwas erregten Minuten der neuen Bekanntschaft benutzte +ich die günstige Gelegenheit, um ihn auszufragen. + +„Aber wer ist denn dieser Foma nun eigentlich?“ fragte ich. „Wie hat er +denn dort das ganze Haus erobern können? Warum jagt man ihn denn nicht +mit der Peitsche hinaus? Ich muß gestehen ...“ + +„_Wen? – ihn?_ hinausjagen? Sie sind wohl ganz ...? Jegor Iljitsch wagt +ja doch kaum auf den Fußspitzen zu gehen, wenn Foma in der Nähe ist! Und +einmal befahl Foma, daß es statt Donnerstag Mittwoch sein solle: und so +haben sie denn dort alle bis auf den Letzten den Donnerstag für Mittwoch +halten müssen. ‚Ich will nicht,‘ sagte er, ‚daß heute Donnerstag ist; +ich will, daß heute Mittwoch ist!‘ Auf diese Weise hatten sie dann in +einer Woche zweimal Mittwoch und keinen Donnerstag. Sie glauben +vielleicht, daß ich aufschneide? Nicht _so viel_ habe ich +aufgeschnitten! Es ist einfach, um Reißaus zu nehmen!“ + +„Ich habe so manches gehört, aber ich muß gestehen ...“ + +„Ach Gott! Gestehen und gestehen, etwas anderes hört man von Ihnen +nicht! Was gestehen Sie denn ewig? Fragen Sie mich doch rundweg, was Sie +fragen wollen! ... Und Jegor Iljitschs Mamachen, na ja, Sie wissen +schon, – ist ja sonst eine ganz würdige alte Dame, obendrein auch noch +Generalin – ich aber kann nur sagen, daß ich sie total verrückt finde: +sie wagt ja den Fomka, den Räuber, nicht einmal anzu_hauchen_! Und +schließlich ist sie allein an allem schuld: sie hat ihn doch ins Haus +gebracht! Er scheint sie vollkommen behext zu haben. _Dumm_ geworden ist +sie, wenn sie sich jetzt auch Exzellenz nennt ... Hat sie sich doch mit +nahe fünfzig Jahren dem alten Krachotkin an den Hals geworfen! Von der +Schwester Jegor Iljitschs, der Praskowja Iljinitschna, die schon das +vierzigste Jahr als Mädchen dasitzt, will ich überhaupt nicht reden. Von +der hört man nur ach und weh, wie von einer Henne, die ein Ei legen will +– hab’s satt – na! Das einzige, was noch an ihr ist – ist, daß sie zum +weiblichen Geschlecht gehört, das ist aber auch alles: jetzt acht’ einer +sie dafür! – nur eben, weil sie Dame ist! Pfui! Aber was red’ ich da, +das ist ja doch unanständig von mir: sie ist ja Ihre Tante. Nur die +Alexandra Jegorowna, Ssaschenjka – die Tochter des Obersten, – ist ja +noch ’n kleines Mädel, erst sechzehn Lenze, ist aber klüger als alle die +anderen zusammengenommen: die verachtet den Fomka, wie es sich gehört! +War sogar spaßig zu beobachten. Ein nettes, liebes Fräuleinchen, nja, +nichts zu sagen ... Weswegen, sagen Sie doch selbst, soll man ihn denn +achten? Er hat doch, dieser Fomka, beim verstorbenen General Krachotkin +als Narr das Gnadenbrot gefressen! Er hat ja doch, wenn jener befahl, +alle Tiere nachahmen müssen! Das ist ja – ‚früher hat Wanjka Erde +gegraben, heute will Wanjka den Marschallstab haben!‘ Jetzt behandelt +der Oberst, Ihr Onkel, diesen Narren a. D. wie seinen leiblichen Vater, +setzt ihn unter Glas womöglich, macht noch Bücklinge vor diesem +Schmarotzer, – oh, pfui!“ + +„Nun ... Armut ist doch keine Schande ... und ... ich muß gestehen ... +Erlauben Sie, daß ich frage: ist er schön, klug?“ + +„Wer das? – Foma? ... Wie ein Bild! Wunderbar schön!“ antwortete +Bachtschejeff mit einem ganz eigentümlichen Zittern in der Stimme, das +deutlich seine Wut verriet. Meine Fragen reizten ihn offenbar, und er +sah mich etwas mißtrauisch von der Seite an. „Schön? Hört doch, der hat +jetzt einen Schönen entdeckt! Großer Gott, er ähnelt ja allen Tieren, +wenn du nun einmal alles wissen willst! Ich würde ja nichts sagen, wenn +er noch wenigstens geistreich wäre, wenn der Schuft es mit Geist und +Verstand machen würde, – nun, dann würde ich’s noch hinnehmen, den +Schmerz verbeißen, um des Geistes willen, ... Aber er hat ja überhaupt +keinen! Ich kann nur sagen, er hat ihnen allen einen Trank zu trinken +gegeben und ist einfach irgend so ein Schwarzkünstler. Pfui! ... Meine +Zunge ist matt. Man kann nur einfach zur Seite speien und weggehen. Und +schweigen. Sie haben mich mit Ihrem Gespräch nur wieder in Wut gebracht! +He, ihr da! Seid ihr endlich fertig?“ + +„Der Schwarze muß noch neu beschlagen werden,“ brummte Grigorij +mürrisch. + +„Der Schwarze ... Ich werde dir zeigen, was ein Schwarzer ist! ... Ja, +mein Bester, ich kann Ihnen Dinge erzählen, Dinge, sag’ ich Ihnen, daß +Sie nur so den Mund aufsperren und bis zur Wiederkunft des Herrn mit +offenem Munde stehen bleiben. Ich habe ihn doch anfangs gleichfalls +geachtet! Was glauben Sie? Jetzt tue ich Buße und schwöre öffentlich: +ich war ein Esel! Er hatte ja auch mich beschwindelt. Der Kerl wußte +alles! Jedes letzte Tüttelchen wußte er, alle Wissenschaften hatte er im +Kopf! Tropfen gab er mir: ich bin ja doch, Väterchen, ein kranker +Mensch. Sie glauben es mir vielleicht nicht, aber ich bin wirklich +krank, – wovon bin ich denn so dick? Nun, damals aber, von seinen +Tropfen, wäre ich fast kopfüber in die Grube gefahren. Schweigen Sie nur +und hören Sie zu: wenn Sie hinkommen, werden Sie mit eigenen Augen +sehen. Er wird ja dem Obersten noch blutige Tränen herauspressen, +jawohl! – blutige Tränen wird der Oberst weinen, aber dann wird es zu +spät sein! Hat doch schon die ganze Umgegend wegen dieses vermaledeiten +Fomka den Verkehr mit ihm abgebrochen! Beleidigt doch der Kerl +ungestraft einen jeden, der über die Schwelle tritt! Von mir ganz zu +schweigen: selbst die größten Potentaten würde er nicht verschonen. +Einem jeden hält er seine Predigt; denn er hat sich jetzt auf die Moral +gelegt, der Spitzbube! ‚Ich bin ein Weiser, ich bin der Klügste von +allen, auf mich allein hast du zu hören!‘ Das sind so seine Worte. ‚Ich +bin gelehrt,‘ und damit basta! Was geht das mich an, ob er gelehrt ist +oder nicht! Also bloß weil man gelehrt ist, muß man den Ungelehrten +unbedingt auspressen? ... Und wenn er dann einmal loslegt mit seiner +Gelehrsamkeit, dann hat es keinen Anfang und kein Ende, nur ta-ta-ta, +ta-ta-ta, ta-ta-ta schlägt ins Ohr. Das heißt, er hat eine solche Zunge, +sag’ ich Ihnen, daß sie selbst dann, wenn man sie abschneiden und hinaus +auf den Misthaufen werfen würde, – selbst dann würde sie noch endlos +weitertattern wie eine Nähmaschine ... Jetzt nimmt er sich viel heraus, +jetzt ist er wichtig wie eine Maus in der Grütze! Jetzt will er schon +dorthin kriechen, wohin nicht einmal sein Kopf durchkriechen kann. Aber +was soll man da reden! Ist es ihm doch jetzt eingefallen, das ganze +Hofgesinde französische Vokabeln lernen zu lassen! Wenn Sie nicht +wollen, brauchen Sie es mir ja nicht zu glauben. Das bringe ihnen, sagt +er, großen Nutzen! Dem Landbauer also, dem Knecht! Pfui! So ein +verfluchter Schandkerl! – mehr ist er wirklich nicht. Wozu braucht ein +Leibeigener Französisch, was fängt er damit an? – ich bitt’ Sie! Und +selbst wir, wozu braucht denn unsereiner Französisch, frage ich Sie +bloß? Um jungen Damen bei der Mazurka den Kopf zu verdrehen und fremde +Frauen zu verführen! Luxus, Luxus, und nichts weiter!! Meiner Meinung +nach – trink eine Flasche Branntwein aus, und du sprichst von selbst +alle Sprachen. Das ist alles, was ich an Hochachtung für die +französische Sprache übrig habe. Na, auch Sie werden ja wohl gut +französisch plappern, tatata, tatata, patati und patata!“ Bachtschejeff +sah mich mit verachtendem Unwillen von der Seite an. „Sie, mein Lieber, +sind doch auch ein Gelehrter – wie? Haben sich doch auch auf die +Gelehrsamkeit gelegt?“ + +„Ja ... ich ... zum Teil interessiere ich mich ...“ + +„Da haben Sie denn vielleicht auch schon alle Wissenschaften in sich +aufgenommen?“ + +„Ja ... das heißt, nein ... Ich muß gestehen, daß ich jetzt mehr für das +Beobachten bin. Ich habe so lange in Petersburg gesessen und beeile mich +nun, zu meinem Onkel zu kommen ...“ + +„Wer hat Sie denn darum gebeten? Wären Sie doch dort bei sich sitzen +geblieben, wenn Sie etwas hatten, wo Sie sitzen konnten. Nein, mein +Bester, hier, das sage ich Ihnen, werden Sie mit Gelehrsamkeit wenig +ausrichten, und da wird Ihnen kein Onkel helfen – da haben Sie sogleich +den Fangriemen um den Hals. Ich habe bei ihm an einem einzigen Tage +bedeutend abgenommen. Jawohl! – Werden Sie es mir glauben, daß ich dort +in vierundzwanzig Stunden magerer geworden bin? Nein, ich sehe schon, +Sie glauben es mir nicht. Nun, dann, meinetwegen, Gott mit Ihnen, dann +glauben Sie es eben nicht.“ + +„Aber wieso, ich glaube es Ihnen durchaus! Nur ist mir einiges noch +etwas unverständlich ...“ beeilte ich mich zu versichern, geriet aber +wieder in Verwirrung. + +„Kennt man, dieses Glauben ... aber ich glaube _Ihnen_ nicht! Alle seid +ihr Springer – soviel es nur Gelehrte gibt. Ihr würdet am liebsten jeder +auf einem Bein hopsen und euch bewundern lassen! Nein, mein Bester, +diese Wissenschaften sind nicht mein Fall, ich kann sie nicht verdauen. +Hab’ mich mit euch Petersburgern genug gerieben – unnützes Volk. Alles +Freimaurer. Verbreiten nur Unglauben. Selbst ein Gläschen Branntwein hat +er Angst auszutrinken, so’n Gelehrter, ganz als fürchtete er, daß es ihn +beißen könnte – pfui! Nein, mein Bester, Sie haben mich jetzt geärgert, +will mit Ihnen gar nicht mehr weiter sprechen. Und ich bin doch auch +wirklich nicht dazu da, um hier Geschichten zu erzählen. Meine Zunge ist +ohnehin schon müde. Alle, Väterchen, kann man ja doch nicht +ausschimpfen, und es wäre auch Sünde ... Nun hat er bei Ihrem Onkel den +Diener Widopljässoff buchstäblich um den Verstand gebracht, dein großer +Gelehrter da! Jawohl, nur dank Foma Fomitsch ist Widopljässoff +übergeschnappt ...“ + +„Ich aber würde den Widopljässoff,“ mischte sich plötzlich Grigorij ein, +der bis dahin würdevoll und stumm unsere Unterhaltung verfolgt hatte, +„ich aber würde diesen Widopljässoff unter den Ruten überhaupt nicht +mehr aufstehen lassen! Käme er mir nur zwischen die Finger, so würde ich +ihm diese deutschen Albernheiten ein für allemal ausbläuen! Würde ihm so +viele aufzählen, daß er mit den Zahlen zu kurz käme!“ + +„Schweig!“ schrie ihn sein Herr an. „Halt deine Zunge hinter den Zähnen +fest, nicht mit dir wird gesprochen!“ + +„Widopljässoff ...“ stotterte ich, nun ganz aus der Fassung gebracht – +wenn ich nur gewußt hätte, was ich sagen sollte! „Widopljässoff ... +sagen Sie doch, welch ein sonderbarer Name ...“ + +„Weshalb denn sonderbar? Da stimmen auch Sie dasselbe Lied an! Ach, Sie! +Gelehrt natürlich, gelehrt!“ + +Doch jetzt riß meine Geduld. + +„Entschuldigen Sie,“ sagte ich, „weshalb ärgern Sie sich denn über mich? +Was habe ich denn mit all dem zu tun? Ich höre Ihnen nun schon seit +einer halben Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich handelt +...“ + +„Ja, aber weshalb ärgern Sie sich denn, mein Gutester?“ fragte der Dicke +naiv. „Es ist doch nichts, was Sie kränken könnte! Ich habe doch in +aller Liebe zu dir gesprochen, mein Lieber ... Beachten Sie es weiter +nicht, daß ich ein solcher Schreihals bin und soeben noch meinen Diener +angeschnauzt habe. Wenn er auch eine notorische Kanaille ist, mein +Grischka, so liebe ich ihn ja doch gerade deswegen, den Schuft. Meine +Herzensempfindsamkeit allein hat mich ins Unglück gebracht – ganz offen +und ehrlich gesagt. Aber an dieser ganzen Geschichte ist doch nur Fomka +schuld! Der bringt mich noch ins Grab, darauf kann ich schwören, der +kriegt’s fertig! Dank seiner Gnaden muß ich hier die zweite Stunde in +der Sonne braten. Wollte zuerst beim Oberpopen vorsprechen, solange wie +diese Duselköpfe hier den Schaden wieder ausbessern. Ein guter Mensch, +dieser Oberpope. Aber der Fomka hat mich dermaßen geärgert, daß ich auch +den Oberpopen nicht mehr sehen wollte! Na, und überhaupt! Hier aber gibt +es ja nicht einmal ein anständiges Frühstückslokal ... Alle sind +Schufte, das sage ich Ihnen, alle bis auf den Letzten! ... Ich würde ja +nichts sagen, wenn er ein großes Tier wäre,“ fuhr Herr Bachtschejeff +fort, sich wieder dem Thema Foma Fomitsch zuwendend, von dem er sich +offenbar nicht zu trennen vermochte, „dann würde es noch mit dem Titel, +den er führte, halbwegs zu erklären sein; aber so! Er hat ja überhaupt +keinen Rang, ich weiß es tödlich sicher, daß er nicht den geringsten +Titel hat! Für Recht und Wahrheit, sagt er, soll er dort irgendwo +‚gelitten‘ haben, vor Olims Zeiten vielleicht: und so knie jetzt dafür +gefälligst vor ihm nieder! Der Teufel ist doch nicht unser Bruder! Ist +ihm nur etwas nicht ganz nach der Nase, so springt er auf, schreit: ‚Man +beleidigt mich, patati! – weil ich arm bin, patata! – man hat keine +Ehrfurcht vor mir!‘ Ohne Foma darfst du dich nicht an den Tisch setzen, +er aber sitzt in seinem Zimmer und kommt nicht; denn ‚man hat mich +beleidigt, ich bin ein Gottespilger, kann mich auch von schwarzem Brote +nähren.‘ Kaum aber hat man sich zu Tisch gesetzt, da erscheint er +wieder, und da fängt das Lied von neuem an: ‚Weshalb hat man sich ohne +mich zu Tisch gesetzt? Also so gering achtet man mich!‘ Kurz – dieselbe +Tonart! Ich, wissen Sie, ich habe lange geschwiegen. Er glaubte, daß +auch ich wie ein dressiertes Hündchen auf den Hinterbeinen apportieren +würde. Jawohl ja! Das fehlte noch! Nein, mein Lieber, spring du mal +selbst auf den Kutschersitz, ich werde mich in den Wagen setzen! Ich bin +doch Jegor Iljitschs Regimentskamerad! Ich trat als Junker aus, er aber +kam vor einem Jahr als Oberst a. D. auf mein Stammgut und stattete mir +seinen Besuch ab. Da sagte ich ihm gleich: ‚He, mein Bester, verwöhnen +Sie den Foma nicht so sehr, Sie wissen nicht, was Sie tun, Sie werden es +noch bereuen!‘ Er aber sagte: ‚Nein, er ist ein überaus guter Mensch‘ – +das sagt er von Fomka! – ‚er ist mein Freund, er unterrichtet mich jetzt +in der Moral.‘ Na, dachte ich da bei mir, gegen die Moral ist nichts zu +machen! Wenn er bereits bei dieser angelangt ist, dann gib die letzte +Hoffnung auf! Was glauben Sie wohl, weshalb er es heute zu dem Skandal +gebracht hat? Morgen, an Sankt-Elias-Tag (Herr Bachtschejeff bekreuzte +sich) ist Iljuschas, des kleinen Iljuschas Namensfest. Ich hatte +eigentlich die Absicht, auch diesen Tag bei ihnen zu verbringen, zum +Essen zu bleiben, und verschrieb mir aus der Residenz ein Spielzeug: ein +Deutscher auf Sprungfedern küßt seiner Braut die Hand, und diese wischt +sich mit dem Schnupftuch eine Träne ab – ein großartiges Ding! Jetzt +aber werde ich es nicht mehr schenken, prost Mahlzeit! Sehen Sie, da +liegt das Ding in meinem Wagen, dem Deutschen ist schon die Nase +abgeschlagen. Bring’s zurück. Jegor Iljitsch feiert bei solcher +Gelegenheit ganz gern ein Fest, nun aber kommt der Fomka dazwischen und +verpfuscht ihm das Vergnügen. ‚Weshalb beschäftigt man sich denn jetzt +mit Iljuscha so sehr? Man will wohl mich von nun an überhaupt nicht mehr +beachten?‘ Nun, was sagen Sie dazu? Wie gefällt er Ihnen? Beneidet einen +achtjährigen Knaben wegen dessen Namenstag! ‚Aber nein,‘ sagte er, ‚ich +habe morgen gleichfalls meinen Namenstag!‘ Aber morgen ist doch Ilja und +nicht Foma! ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich feiere morgen gleichfalls meinen +Namenstag!‘ Ich schweige, sage kein Wort, dulde stumm. Und was glauben +Sie? Jetzt schleichen sie dort alle auf den Zehenspitzen umher und +beraten sich tuschelnd, was sie nun tun sollen! Sollen sie ihm nun +morgen, am Eliastage, zum Namensfest gratulieren oder sollen sie ihm +nicht gratulieren? – Unterlassen sie es, so kann er sich wieder +beleidigt fühlen – gratulieren sie ihm aber, so kann er sie alle +verspotten. Pfui! Da setzten wir uns nun zu Tisch ... Aber du, mein +Bester, hörst du mir denn überhaupt zu?“ + +„Aber gewiß! – sogar mit besonderem Vergnügen; denn durch Sie erst +erfahre ich jetzt ... und ... ich gestehe ...“ + +„Jawohl, mit besonderem Vergnügen, das kennt man! Dieses Vergnügen ... +Oder soll das etwa Ironie sein?“ + +„Aber ich bitte Sie, aus welchem Grunde denn Ironie? Ganz im Gegenteil. +Und zudem ... drücken Sie sich so originell aus, daß ich schon bei mir +beschlossen habe, Ihre Worte niederzuschreiben.“ + +„Was ... was heißt das, Väterchen, wieso niederzuschreiben?“ fragte Herr +Bachtschejeff mit einem gelinden Schrecken im Gesicht und blickte mich +mißtrauisch an. + +„Übrigens, ich werde sie vielleicht auch nicht niederschreiben ... ich +sagte es nur so ...“ + +„Du willst mich doch sicherlich irgendwie ausnutzen?“ + +„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht,“ sagte ich verwundert. + +„Ja so. Ich erzähle dir jetzt alles wie ein gutmütiger Esel, und du +schilderst mich dann plötzlich in irgendeinem Buch.“ + +Ich beeilte mich sogleich, Herrn Bachtschejeff zu versichern, daß ich +nicht zu jenen Schriftstellern gehöre – er aber sah mich immer noch +mißtrauisch an. + +„Jawohl ja – nicht zu jenen! Wer kennt dich denn! Vielleicht bist du +noch toller als jene. Da hat mir nun auch Fomka gedroht, mich zu +beschreiben und das Geschriebene drucken zu lassen.“ + +„Gestatten Sie mir eine Frage,“ unterbrach ich ihn, da ich dem Gespräch +eine andere Wendung geben wollte. „Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß +mein Onkel heiraten will?“ + +„Was wäre denn dabei, wenn er’s will? Das wäre ja weiter noch nicht +schlimm. Mag der Mensch doch heiraten, wenn es ihm so nahe geht! ... +Schlimm aber ist das andere ...“ fügte Herr Bachtschejeff nachdenklich +hinzu. „Hm! Aber hierüber, mein Bester, kann ich Ihnen keine bestimmte +Auskunft geben. Es haben sich dort jetzt viel Weibsbilder versammelt, +wie die Fliegen um den Honig; da wird kein Teufel daraus klug, wer von +ihnen nun heiraten will, und wer nicht. Ich werde Ihnen, mein Lieber, in +aller Freundschaft nur eines sagen: ich mag die ganze Weiberbande nicht! +Das einzige ist noch, daß sie Menschen sind; aber sonst, auf Ehrenwort, +ist es doch nichts als eine Schande mit den Weibern und kommt dem Heil +unserer Seelen nicht zustatten. Daß aber Ihr Onkel verliebt ist wie ein +sibirischer Kater, dessen kann ich Sie versichern. Aber auch darüber +will ich jetzt schweigen, Sie werden es ja selbst sehen ... Dumm ist +nur, daß er die Sache aufschiebt. Willst du heiraten, so heirate! Er +aber fürchtet sich, es Fomka zu sagen, und fürchtet auch die Alte: die +würde sofort für sieben losschreien und würde noch mit den Hinterbeinen +ausschlagen. Die Alte steht natürlich auf Fomkas Seite; denn sieh, es +würde Foma Fomitsch betrüben, wenn eine junge Herrin ins Haus käme, +sintemal er dann keine Stunde mehr daselbst verweilen könnte. Die +Hausfrau würde ihn womöglich eigenhändig am Kragen fassen und +hinauswerfen, und wenn sie klug ist, auf eine solche Weise, daß er +später schwerlich hier irgendwo eine Unterkunft auch nur als +Schreiberlein finden würde. Deshalb intrigiert er ja auch jetzt zusammen +mit der Alten, um ihn zu verkuppeln mit dieser ... Aber du, mein +Gutester, warum hast du mich denn unterbrochen? Ich wollte dir vorhin +gerade das Wichtigste erzählen, du aber unterbrachst mich! Ich bin älter +als du, einen Älteren unterbrechen, das soll man nicht ...“ + +Ich machte meine Entschuldigung. + +„Wozu entschuldigst du dich! Aber ich wollte dir, mein Lieber, als einem +Gelehrten zur Entscheidung unterbreiten, wie er mich heute beleidigt +hat. Nun, denk und sage selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Wir +setzten uns also zu Tisch: da hat er mich, sag’ ich dir, fast +aufgefressen, der Verfluchte, während der Mahlzeit. Ich sah es ihm von +vornherein an, was in ihm vorging: er sitzt und ärgert sich, daß seine +ganze Seele knirscht. Würde mich auch in einem Löffel voll Wasser mit +Freuden ersäufen, diese Giftblase! Dieser Mensch hat eine solche +Eigenliebe, daß er sie kaum noch in sich selbst unterbringen kann! Und +da fiel es ihm denn ein, auch mich zu schikanieren, wollte auch mir +Moral beibringen. Weshalb – bitte, antworten Sie ihm darauf! – weshalb +ich so dick sei?! Und das war nun sein Steckenpferd: weshalb bin ich +nicht dünn, sondern dick! Nun, sagen Sie doch selbst, mein Lieber, was +ist denn das für eine Frage? Ist denn das geistreich? Ich antworte ihm +also: ‚Das hat Gott der Herr schon so eingerichtet: der eine ist dünn, +der andere dick; gegen die allweise Vorsehung kann ein Sterblicher sich +nicht auflehnen.‘ Das war doch ganz vernünftig geantwortet – finden Sie +nicht? ‚Nun,‘ sagt er, ‚du hast fünfhundert Seelen, lebst von den +Zinsen, bringst aber dem Vaterlande keinen Nutzen: dienen muß man, du +aber sitzt zu Hause und spielst auf dem Harmonium.‘ Das ist nun wahr, +ich spiele gern, wenn mir mal so traurig zumute ist, auf meinem +Harmonium. Ich also antworte ihm wieder ganz vernünftig: ‚In welchen +Dienst soll ich denn eintreten, Foma Fomitsch? In welch eine Uniform +soll ich mich dicken Menschen denn hineinzwängen? Ziehe ich eine an – +mit genauer Not geht’s vielleicht –, so ist es doch nicht +ausgeschlossen, daß ich plötzlich niese und alle Knöpfe abspringen, was +in Gegenwart der höchsten Vorgesetzten geschehen kann, und wenn man dann +– Gott behüte! – das Unglück nur fürs eine Farce hält, was dann?‘ Nun, +sagen Sie doch, mein Gutester, was habe ich denn damit Lachhaftes +gesagt? Aber nein, er muß lachen, auf meine Kosten, versteht sich, und +das Gekicher hört gar nicht mehr auf, hahaha und hihihi ... Schamgefühl +hat er überhaupt nicht, das sage ich Ihnen, und da fiel es ihm noch ein, +mich auf französisch zu beschimpfen: ‚Cochon,‘ sagte er. Na, was Cochon +heißt, weiß auch ich. Wart, du verfluchter Schwarzkünstler, denke ich, +du glaubst wohl, daß du in mir einen dummen Jungen vor dir hast? Ich +schwieg aber, litt wortlos und schwieg, – dann aber hielt ich es nicht +mehr aus, stand auf und sagte ihm in Gegenwart der ganzen Versammlung +ins Gesicht: ‚Ich habe dir unrecht getan,‘ sage ich, ‚Foma Fomitsch, du +Wohltäter der Menschheit; denn ich glaubte von dir, daß du ein +wohlerzogener Mensch seiest, nun aber stellt es sich heraus, daß du +ebenso ein Schwein bist wie wir alle,‘ – sagte es, stand auf und ging +fort, ließ den Pudding stehen, wo er stand – der Pudding wurde gerade +herumgereicht. Daß euch mitsamt dem ganzen Pudding ...! dachte ich und +ging.“ + +„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte ich, nachdem ich die ganze Erzählung +Herrn Bachtschejeffs angehört hatte, „ich bin natürlich gern bereit, +Ihnen in allem zuzustimmen, zumal ich ja noch nichts Positives weiß ... +Aber, wie soll ich Ihnen sagen, – es haben sich jetzt in mir gewisse +Ideen bezüglich dieser Person gebildet ...“ + +„Was sind denn das für Ideen, Väterchen, die sich in dir gebildet +haben?“ fragte Herr Bachtschejeff mißtrauisch. + +„Sehen Sie,“ begann ich, ein wenig verwirrt, „es ist vielleicht zu etwas +ungelegener Zeit ... aber, schließlich, ich werde Ihnen meine Gedanken +gern mitteilen. Ich denke mir folgendes: vielleicht täuschen wir uns +beide über Foma Fomitsch. Vielleicht verhüllen alle diese Eigenheiten +eine besondere, vielleicht sogar sehr reiche Natur – wer kann das +wissen? Vielleicht ist er ein verbitterter, durch Leiden vernichteter +Mensch, der sich sozusagen an der ganzen Menschheit dafür rächt? Ich +habe gehört, früher soll er so etwas ... so etwas wie ein Hausnarr +gewesen sein: vielleicht hat ihn das gar zu sehr erniedrigt, beleidigt, +vernichtet? Verstehen Sie mich recht: ein edler Mensch ... mit einem +gewissen Selbstbewußtsein ... und der muß nun plötzlich den Narren +spielen! ... Da ist er denn vielleicht der ganzen Menschheit gegenüber +mißtrauisch geworden und ... und vielleicht, wenn man ihn mit der +Menschheit aussöhnen würde ..., das heißt, mit den Menschen ... so würde +sich in ihm vielleicht eine reichbegabte oder jedenfalls bemerkenswerte +Natur offenbaren, und ... nein, es muß doch etwas Besonderes an ihm +sein! Es muß doch seinen guten Grund haben, warum ihn dort alle +anbeten!“ + +Ich fühlte, daß ich ganz aus dem Konzept gekommen war. Bei meiner Jugend +war das ja noch verzeihlich, aber Herr Bachtschejeff verzieh es mir +nicht. Ernst und streng blickte er mir in die Augen, und dann wurde er +plötzlich blaurot im Gesicht, wie ein Truthahn. + +„Und das alles soll dieser Fomka sein?“ stieß er kurz hervor. + +„Entschuldigen Sie, ich glaube ja selbst nicht an das, was ich soeben +gesagt habe ... Ich sagte es nur so ... es wäre doch möglich ...“ + +„Aber erlauben Sie mal, Sie eines zu fragen: haben Sie Philosophie +studiert?“ + +„Daß heißt, in welchem Sinne?“ fragte ich verwundert. + +„Nein, nicht in welchem Sinne, sondern antworten Sie mir offen und ohne +alle Sinne auf meine Frage: haben Sie Philosophie studiert?“ + +„Ich muß gestehen, ich habe allerdings die Absicht, aber ...“ + +„Na ja, wußt’ ich’s doch!“ rief Herr Bachtschejeff aus, indem er seiner +Empörung freien Lauf ließ. „Ich, wissen Sie, ich hatt’s ja schon +erraten, noch bevor Sie den Mund aufgetan, daß Sie Philosophie studiert +haben! Mir wird man kein X für ein U vormachen! Prost Mahlzeit! Auf drei +Werst rieche ich den Philosophen heraus! Fahren Sie nur hin, Sie können +Ihrem Foma in die Arme sinken und sich gegenseitig abküssen! Da hat er +nun einen ‚besonderen‘ Menschen gefunden! Pfui!“ fauchte er wieder. +„Ach, mag die ganze Welt versauern! Mag alles untergehen! Und ich +glaubte schon, daß Sie ein vernünftiger Mensch seien, Sie aber ... Fahr +vor!“ schrie er dem Kutscher zu, der inzwischen auf den Bock der +ausgebesserten Equipage hinaufgeklettert war. „Nach Haus!“ + +Mit genauer Not komm ich ihm noch einige beruhigende Worte sagen. +Endlich besänftigte er sich; aber es dauerte doch noch ziemlich lange, +bis er sich entschloß, seinen Zorn wieder in Wohlwollen zu verwandeln. +Mit Grigorijs und Archips Hilfe stieg er in seine Kutsche. + +„Gestatten Sie, daß ich noch eines frage,“ sagte ich, an den Wagenschlag +tretend, „werden Sie meinen Onkel nicht mehr besuchen?“ + +„Ihren Onkel? Nicht mehr besuchen? Wer das glaubt, dem geben Sie ... na, +was Sie wollen! Sie denken wohl, daß ich ein Mensch von Charakter bin, +daß ich’s durchhalten werde? Das ist ja doch mein ganzes Herzeleid, daß +ich ein Lappen bin, aber kein Mensch! Es wird keine Woche vergehen, da +kraufe ich wieder hin. Und warum ich’s tue? Sehen Sie, da weiß ich ja +selber nicht, aber ich werde wieder hinfahren und werde mich dort wieder +mit Foma Fomitsch herumschlagen. Diesen Foma hat mir Gott der Herr +sicherlich zur Strafe für meine Sünden auf den Hals geschickt Das ist ja +mein Leid, Väterchen, daß ich von Charakter ein Weib bin: von +Beständigkeit keine Spur! Ein Hasenfuß bin ich, mein Lieber, ein echter +...“ + +Wir schieden recht freundschaftlich, er lud mich sogar zu sich ein. + +„Komm mal, Väterchen, komm, besuch mich, dann wollen wir uns mal gütlich +tun. Ich habe mir ein gewisses Wässerchen aus Kiew bestellt, das ist +jetzt eingetroffen, und mein Koch ist in Paris gewesen, der wird dir +solche Frikandeaus und Fischpasteten zubereiten, daß du dir nur so die +Fingerchen ablecken und ihm, dem Schuft, noch einen Bückling machen +wirst! Ist ein gebildeter Mann! Bloß hab’ ich ihn jetzt lange nicht mehr +geprügelt, hab’ ihn etwas verwöhnt ... es ist gut, daß man mich wieder +daran erinnert hat ... Also komm nur! Ich würde Sie auch heute zu mir +auffordern, aber ich bin jetzt doch zu verstimmt, bin ganz sauer +geworden, ganz und gar aller Hinterbeine beraubt. Ich bin ja doch ein +kranker Mensch. Sie glauben es mir wohl nicht ... Nun, leben Sie wohl, +mein Lieber! Es ist Zeit, daß auch mein Schiff in den Hafen einläuft. Da +ist ja auch Ihr Vehikel repariert. Dem Fomka aber sagen Sie, daß er mir +nicht mehr unter die Augen kommen soll, sonst wird es einen neuen Krach +geben, daß er nur so ...“ + +Die letzten Worte hörte ich nicht mehr. Seine Equipage, die von vier +starken Pferden mit einem Ruck angezogen wurde, verschwand hinter +Staubwolken. Da fuhr auch meine Postkutsche vor, ich stieg ein, und wir +hatten in wenigen Minuten das Städtchen hinter uns. + +„Natürlich übertreibt der gute Mann,“ dachte ich, „er ist gar zu wütend, +um unparteiisch zu urteilen. Aber andererseits ... was er da von meinem +Onkel sagt, ist noch sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei +Aussagen überein. Nun, – aber daß mein Onkel die junge Dame liebt ... +Hm! Werde ich nun heiraten oder werde ich es nicht tun?“ + +Und diesmal kamen mir denn doch Bedenken. + + + + + III. + + Mein Onkel. + + +Ich gestehe offen, mir war etwas bänglich zumute. Meine romantischen +Träume erschienen mir jetzt zum mindesten sonderbar, und kaum war ich in +Stepantschikowo angelangt, da fand ich sie sogar dumm. Das erstere +geschah ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Die Landstraße führte nicht +weit vom Herrenhause vorüber. Nun sah ich nach langen Jahren diesen +großen Garten wieder, in dem ich einige glückliche Tage meiner Kindheit +verbracht hatte, und den ich dann später so oft im Traum gesehen, wenn +ich in den Schlafsälen der Schulen und Anstalten, die für meine Bildung +sorgten, halbwach im Schlummer lag. Ich sprang vom Wagen und ging quer +durch den Garten auf das Herrenhaus zu; denn ich wollte unbemerkt zuerst +mit meinem Onkel sprechen und, wenn es ging, auch noch hier und da +vorher ein wenig herumforschen und horchen. Meine Absicht gelang mir. +Die Allee hundertjähriger Linden entlang schreitend, kam ich zur +Terrasse, von der aus man durch eine Glastür unmittelbar in die +Wohnzimmer trat. Diese Terrasse war von Blumenbeeten umgeben und mit +Topfpflanzen geschmückt. Hier nun traf ich ganz unerwartet einen der +„Eingeborenen“ an, den alten Gawrila, der mich einst als Kind auf dem +Arm getragen hatte, jetzt aber der ehrwürdige Kammerdiener meines Onkels +war. Der Alte hatte eine Brille auf der Nase und hielt ein Heft, in dem +er mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit las, dicht vor den Augen. Ich hatte +ihn zum letztenmal vor zwei Jahren in Petersburg gesehen, wohin er mit +meinem Onkel gekommen war, und so erkannten wir uns sofort. Mit +Freudentränen stürzte er die Stufen herab, um meine Hände zu küssen, +ohne darauf zu achten, daß ihm bei der Gelegenheit seine Brille von der +Nase flog. Diese Anhänglichkeit des Alten rührte mich tief. Doch ich +stand noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Herrn Bachtschejeff, +und so wandte sich meine Aufmerksamkeit unverzüglich dem verdächtigen +Heft zu, das Gawrila in der Hand hielt. + +„Was ist das, Gawrila? Was, will man etwa auch dir Französisch +beibringen?“ fragte ich den Alten. + +„Jawohl, das will man, Väterchen, trotz meiner alten Jahre, als wäre ich +ein Papagei,“ antwortete Gawrila niedergeschlagen. + +„Und Foma selbst unterrichtet dich?“ + +„Er allein, Väterchen. Er muß doch wohl ein kluger Mann sein.“ + +„Ja, alle Achtung! Aber wie unterrichtet er dich denn? – Im Gespräch?“ + +„Mit dem Heft, Väterchen.“ + +„Du meinst dieses, das du in der Hand hast? Ah! Französische Worte mit +russischen Buchstaben geschrieben – findig! Und von einem solchen Rüpel, +einem solchen Dummkopf laßt ihr euch alle so behandeln – schämst du dich +nicht, Gawrila?“ In einem Augenblick waren alle meine entschuldigenden +Annahmen vergessen, durch die ich noch vor ein paar Stunden Herrn +Bachtschejeff in so große Wut versetzt hatte. + +„Wie denn, Väterchen, wie kann er denn ein Dummkopf sein, wenn er doch +auch unsere Herrschaft so lenkt, wie er will?“ + +„Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila,“ brummte ich, durch seine +Bemerkung zur Besinnung gebracht. „Führ’ mich zu meinem Onkel.“ + +„Großer Gott! Ich darf ja dem Herrn überhaupt nicht unter die Augen +kommen, wage mich gar nicht mehr zu zeigen! Ja, ja, so weit ist es +gekommen, daß ich auch _ihn_ noch fürchten muß! Sitze hier in meiner +Trübsal, und wenn Foma Fomitsch zu kommen geruhen, so gehe ich hinter +die Blumenbeete.“ + +„Was fürchtest du denn?“ + +„Vorhin wußte ich die Aufgabe nicht gut: Foma Fomitsch wollten mich +bestrafen und, wie er sagte, mich auf den Knien stehen lassen – ich aber +kniete nicht nieder. Alt bin ich, Väterchen Ssergei Alexandrowitsch, +viel zu alt, um noch solche Scherze mitzumachen. Der Herr aber geruhten +darüber böse zu werden, daß ich Foma Fomitsch nicht gehorcht hatte. +‚Siehst du denn nicht ein,‘ sagte er, ‚alter Kerl, er müht sich doch um +deine Bildung, will dich doch in der Aussprache des Französischen +unterweisen ...‘ Und so gehe ich denn und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch +versprachen, am Abend noch einmal eine Prüfung vorzunehmen.“ + +Es schien mir, daß hier einiges nicht so ganz stimmte. + +„Mit diesem französischen Unterricht wird es wohl eine besondere +Bewandtnis haben,“ dachte ich, „die der Alte mir natürlich nicht +erklären kann.“ + +„Nur eine Frage noch, Gawrila: wie sieht er aus? Stattlich, +imponierend?“ + +„Wer das? Foma Fomitsch? Nein, Väterchen, das ist so ein gemausertes +Menschlein ...“ + +„Hm! Hab’ nur etwas Geduld, Gawrila, es wird sich vielleicht noch +einrenken lassen, oder vielmehr: sicherlich wird es das, ich verspreche +es dir, es wird alles wieder gut werden! Aber ... wo ist denn nun mein +Onkel?“ + +„Hinter dem Pferdestall reden der Herr mit den Abgesandten der Bauern. +Aus Kapitonowka sind die Alten mit Verbeugungen und Bitten hergekommen. +Dort hat man gesagt, daß der Herr sie Foma Fomitsch zu schenken +beabsichtige, und daher wollen sie alle bitten, daß es nicht geschehe, +wollen sich, wie man sagt, losbitten.“ + +„Aber warum empfängt er sie denn hinter den Pferdeställen?“ + +„Aus Vorsicht, Väterchen ...“ + +In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den Pferdeställen. Dort stand er +auf einem freien Platz vor einer ganzen Anzahl Bauern, die sich immer +wieder vor ihm verneigten und inständig um etwas zu bitten schienen. +Mein Onkel aber erklärte ihnen offenbar eine Sache. Ich näherte mich und +rief ihn an. Er sah sich um und – wir lagen uns in den Armen. + +Er freute sich unbeschreiblich über mein Kommen, er geriet förmlich in +Begeisterung vor Freude. Er umarmte mich, drückte meine Hände ... als +hätte man ihm seinen leiblichen Sohn wiedergegeben, der irgendeiner +tödlichen Gefahr entgangen war, oder als hätte ich ihn mit meiner +Ankunft von einer tödlichen Gefahr befreit oder von schweren Zweifeln +erlöst, und als brächte ich Glück und Freude für sein ganzes Leben ihm +und allen, die er lieb hatte; denn mein Onkel hätte nie eingewilligt, +allein glücklich zu sein. + +Nach dem ersten überschwenglichen Ausbruch wurde er so mitteilsam, daß +er sich bald ganz verlor und wohl selbst nicht mehr wußte, wovon er +schon gesprochen hatte. Er überschüttete mich mit Fragen, wollte mich +sogleich seiner ganzen Familie vorstellen: wir begaben uns auch schon +zum Hause – dann aber kehrte er doch wieder zurück ... um mich zuerst +mit seinen Bauern aus Kapitonowka bekannt zu machen. Hierauf – dessen +entsinne ich mich noch genau – kam er plötzlich aus unbekanntem Grunde +auf einen Herrn Korowkin zu sprechen, einen jedenfalls außergewöhnlichen +Menschen, den er vor drei Tagen unterwegs getroffen hatte, irgendwo auf +der Reise, und den er mit der größten Ungeduld gerade jetzt als Gast bei +sich erwartete. Von Korowkin sprang er auf etwas anderes über. Es war +mir förmlich ein Genuß, ihn zu betrachten. Auf seine überstürzten Fragen +nach meinen ferneren Absichten sagte ich, daß ich vorläufig keine +Anstellung suchen, sondern fortfahren würde, mich mit der Wissenschaft +zu beschäftigen. Doch kaum hatte ich das Wort „Wissenschaft“ +ausgesprochen, als mein Onkel auch schon eine ungeheuer wichtige Miene +aufsetzte. Als er dann erfuhr, daß ich mich in der letzten Zeit mit +Mineralogie beschäftigt hatte, warf er den Kopf in den Nacken und +blickte sich stolz im Kreise um, als hätte er ganz allein, ohne jede +fremde Hilfe, die ganze Mineralogie entdeckt und alles allein +niedergeschrieben. Ich habe ja schon gesagt, daß er vor dem Wort +„Wissenschaft“ die größte Ehrfurcht empfand, eine Ehrfurcht, die ohne +jeden persönlichen Ehrgeiz war, dessen sie um so mehr entbehrte, als er +selbst fast nichts von diesen Dingen verstand. + +„Ach, Freund, es gibt doch wirklich Menschen in der Welt, die alles +wissen!“ sagte er mir einmal mit wahrem Entzücken in den leuchtenden +Augen. „Da sitzt man unter ihnen, hört, und weiß doch selbst, daß man +nichts davon versteht, aber dennoch freut sich das Herz. Und warum? Ganz +einfach, weil hier eben Nutzen ist, hier ist Verstand, hier ist das +Allgemeinwohl! Das begreife ich doch! Ich fahre jetzt schon mit der +Eisenbahn, mein Iljuscha aber wird vielleicht schon durch die Luft +fliegen ... Nun, ja, kurz und gut, und der Handel, die Industrie – +diese, wie man sagt, Schlagadern ... das heißt, ich will nur sagen, von +welcher Seite du es auch nimmst, es ist und bleibt doch nützlich für die +Menschheit ... Das ist es doch, nicht wahr?“ + +Doch ich komme zurück auf unser Wiedersehen. + +„Wart nur, Freund, wart,“ begann er in seiner schnellen Sprechweise, +sich die Hände reibend, „du sollst einen Menschen kennen lernen! Es ist +ein seltener Mensch, sag’ ich dir, gelehrt, gelehrt, ganz ein Mann der +Wissenschaft! Der überlebt das Jahrhundert! Das ist doch gut gesagt: ‚er +überlebt das Jahrhundert‘, nicht? Das hat mir Foma selbst erklärt ... +Wart, ich werde dich mit ihm bekannt machen.“ + +„Meinen Sie Foma Fomitsch, Onkel?“ + +„Nein, nein, Freund, diesmal sprech’ ich von Korowkin. Das heißt, Foma +ist ja gleichfalls ... er ... Aber diesmal sprach ich einfach nur von +Korowkin,“ fügte er hinzu, während es mir auffiel, daß er, sobald die +Rede auf Foma kam, zu erröten und sich zu verwirren schien. + +„Mit welcher Wissenschaft beschäftigt er sich denn?“ + +„Mit allen Wissenschaften, Freund, oder kurz gesagt, mit der +Wissenschaft überhaupt. Ich kann dir leider nicht so genau sagen, mit +welcher eigentlich, ich weiß nur, daß es Wissenschaften sind. Oh, wie +der über die Eisenbahnen redet! Und weißt du,“ – mein Onkel senkte die +Stimme und zwinkerte mir bedeutsam mit dem linken Auge zu, – „ein wenig +so, du weißt schon, – freie Ideen! Das habe ich sofort bemerkt, +namentlich wenn er so von Familienglück spricht ... Schade, ich habe +nicht alles ganz genau begriffen, was er da sprach, – hatte gerade wenig +Zeit –, sonst könnte ich dir jetzt alles wiedergeben, ganz ausführlich. +Und zudem ein Mensch von wirklich edlen Eigenschaften. Ich habe ihn zu +mir zum Besuch eingeladen. Erwarte ihn stündlich.“ + +Währenddessen starrten mich die Bauern mit offenen Mündern und großen +Augen wie ein Wunder an. + +„Hören Sie, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „ich habe, glaube ich, Ihr +Gespräch mit den Bauern unterbrochen. Es handelt sich gewiß um +Wichtiges. Was meinen Sie? Ich will ganz offen gestehen, daß ich so +meine Vermutungen habe – und daher würde ich gern zuhören ...“ + +Mein Onkel wurde plötzlich sehr geschäftig und beinahe aufgeregt. + +„Ach, richtig! Das hatte ich ganz vergessen! Ja, sieh mal ... was soll +man mit ihnen tun? Sie haben sich in den Kopf gesetzt – ich möchte bloß +wissen, wer es als erster getan hat –, daß ich sie und ganz Kapitonowka +– du erinnerst dich doch noch, wie wir mit meiner seligen Katjä abends +immer dorthin spazieren fuhren? – Nun ja, daß ich das ganze Kapitonowka +mit seinen rund achtundsechzig Seelen Foma Fomitsch schenken wolle! Nun +und jetzt heißt es: ‚Wir wollen nicht von dir fort, Väterchen!‘ und +damit Punktum! ...“ + +„So ist es also nicht wahr, Onkel? Sie werden ihm Kapitonowka nicht +schenken?!“ rief ich erfreut aus. + +„Wie werd’ ich denn! Ist mir nie in den Sinn gekommen! Aber durch wen +hast du es denn schon erfahren? Es war mir nur mal so entschlüpft – und +da hat man gleich Häuser auf das eine Wort gebaut. Ich verstehe bloß +nicht, weshalb sie den Foma so wenig mögen? Aber wart nur, Ssergei, ich +werde dich mit ihm bekannt machen,“ sagte er mit schüchternem Blick auf +mich, als ahne er auch in mir einen Feind Foma Fomitschs. „Freund, das +ist ein solcher Mensch ...“ + +„Wir wollen keinen anderen Herrn, Väterchen, nur dich allein!“ riefen +hier plötzlich im Chorus alle Bauern aus. „Ihr seid unser Vater, wir +sind Eure Kinder!“ + +„Hören Sie mal, Onkel,“ sagte ich, „den Foma Fomitsch habe ich zwar noch +nicht gesehen, aber ... sehen Sie ... ich habe so einiges gehört. Ich +will es Ihnen nur gleich sagen, daß ich heute unterwegs Herrn +Bachtschejeff getroffen habe. Übrigens hat sich in mir jetzt eine andere +Auffassung gebildet, wenigstens vorläufig. Jedenfalls aber entlassen Sie +nun die Bauern, dann können wir ungestört, ganz allein und ohne Zeugen, +miteinander reden. Ich bin ja doch eigentlich nur deswegen hergekommen +...“ + +„Das ist es ja! Eben, eben!“ stimmte mein Onkel sofort eifrig bei. „Die +Bauern entlassen wir und dann reden wir, weißt du, so – +kameradschaftlich, freundschaftlich, verständig! – Nun,“ fuhr er, sich +an die Bauern wendend, in seiner schnellen Sprechweise fort, „geht jetzt +wieder nach Hause, Freunde! Und hinfort kommt immer zu mir, immer zu +mir, wenn was nötig ist, kommt ganz einfach gleich zu mir, wenn was +nötig ist –“ + +„Väterchen, du bist ja unser Vater! Gib uns nicht der Willkür Foma +Fomitschs preis! Alle wir Armen bitten dich!“ riefen von neuem die +Bauern einstimmig aus. + +„Ach ihr Dummköpfe! Es wird euch doch nichts geschehen, das habe ich +euch doch schon gesagt!“ + +„Sonst würde er uns ganz dumm machen mit dem Unterricht, Väterchen! Die +Hiesigen, hört man, soll er ja alle schon ganz dumm gemacht haben ...“ + +„Was, will er denn auch euch die französische Sprache beibringen?“ +fragte ich, beinahe erschrocken. + +„Nein, Väterchen, vorläufig hat Gott der Herr uns noch verschont!“ +antwortete einer der Bauern, ihr Sprecher und ein Schwätzer, wie es +schien; er war rothaarig und hatte eine große Glatze, die ziemlich tief +auf dem Hinterkopf lag, sowie ein spärliches, keilförmiges Bärtchen, das +sich so schnell bewegte, wenn er sprach, als wäre es an sich lebendig +gewesen. „Nein, Herr, bis jetzt noch nicht.“ + +„Aber worin unterrichtet er euch denn?“ + +„Ach, Euer Gnaden, in solchen Dingen, daß es nach unserem Verständnis so +herauskommt: kauf’ einen goldenen Kasten, deine kupferne Münze gib aber +hin.“ + +„Wieso, was bedeutet das, kupferne Münze ...?“ + +„Sserjosha! Du bist im Irrtum! Das ist eine Verleumdung!“ rief mein +Onkel dazwischen, war aber dabei rot geworden und sah sehr betreten aus. +„Diese Dummköpfe haben natürlich nicht begriffen, was er ihnen gesagt +hat. Er hat nur so ... Was soll das mit der kupfernen Münze? ... Dir +aber steht es nicht zu, über alles zu urteilen und das Maul +aufzureißen,“ fuhr mein Onkel vorwurfsvoll, zu dem Bauern gewandt, fort; +„man wollte dir doch, du Dummkopf, Gutes tun, du aber siehst das nicht +ein – und schreist noch!“ + +„Aber um’s Himmels willen, Onkel, Sie vergessen, daß er ihnen +Französisch beibringen will!“ + +„Aber doch nur wegen der Aussprache, Sserjosha, einzig wegen der +Aussprache,“ beteuerte er mit geradezu flehender Stimme. „Er hat es mir +selbst gesagt, daß er es einzig wegen der Schulung in der Aussprache +tut, die dann auch ihrer Muttersprache zugute kommt ... Zudem ging der +Sache noch ein besonderer Fall vorher, – du weißt das nicht und daher +kannst du auch nicht urteilen. Zuerst, Freund, muß man begreifen, und +dann erst kann man beschuldigen ... Beschuldigen ist leicht!“ + +„Aber ich verstehe euch nicht!“ sagte ich heftig, mich von neuem an die +Bauern wendend, „so hättet ihr es ihm doch sofort offen sagen sollen. +Ganz einfach: so geht es nicht, Foma Fomitsch, die Sache liegt so und +so! Ihr habt doch einen Mund!“ + +„Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umbindet, Väterchen? ‚Ich +bringe,‘ sagt er, ‚dir ungeschicktem Bauernkerl Sauberkeit und Ordnung +bei. Warum ist dein Hemd nicht sauber?‘ – Weil es doch voll Schweiß ist, +darum kann es doch auch nicht sauber sein! Wir können doch nicht jeden +Tag das Hemd wechseln. Sauberkeit macht noch nicht auferstehen, und +Armut ist noch nicht Tod.“ + +„Neulich kam er in die Tenne,“ fiel ein anderer Bauer ein, ein großer, +hagerer Mann, dessen Kleider an vielen Stellen geflickt waren, und +dessen Füße in den ältesten Bastschuhen staken. Er gehörte offenbar zu +jenen, die ewig mit irgend etwas unzufrieden sind und stets ein +gehässiges, scharfes Wort in Bereitschaft haben. Bis dahin hatte er +hinter den anderen gestanden, in mißmutiger Schweigsamkeit zugehört und +die ganze Zeit ein gewisses zweideutiges, bitteres und verschlagenes +Spottlächeln nicht aus seinem Gesicht gebannt. – „Er kam in die Tenne. +‚Wißt ihr auch,‘ fragt er, ‚wieviel Werst es von hier bis zur Sonne +sind?‘ Wer von uns kann denn so was wissen? Das steht doch nicht uns zu, +das ist doch Herrschaftswissen. ‚Nein,‘ sagte er, ‚du bist ein Lümmel, +wie ich sehe, begreifst nicht einmal deinen eigenen Nutzen. Ich aber,‘ +sagt er, ‚bin ein Astrolog! Ich kenne alle Planeten Gottes!‘“ + +„Nun, hat er dir auch gesagt, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“ +mischte sich mein Onkel ein, der plötzlich wieder wie neubelebt war und +lustig mir zuzwinkerte, als wolle er mir sagen: „Paß nur auf, was du +jetzt zu hören bekommen wirst!“ + +„Er nannte da wohl eine große Zahl,“ antwortete der Bauer gewissermaßen +wider Willen, da er eine solche Frage offenbar nicht erwartet hatte. + +„Nun, wieviel waren es denn doch, wieviel, was meinst du?“ + +„Ach, das wird doch Euer Gnaden besser wissen als wir ... wir sind +unaufgeklärte Leute, leben im Dunkeln.“ + +„_Ich_ weiß es ja, Bruder, aber du, hast _du es auch_ behalten?“ + +„Es werden da immer soundso viel hundert oder auch tausend Werst sein, +wie er sagte. Es war etwas viel. Die konnte man kaum auf drei Fuhren +fortführen, diese Zahlen, die er sagte.“ + +„Aber das ist ja die Hauptsache, – daß man es behält nämlich! Du +glaubtest wohl, was wird es denn viel mehr sein als eine Werst, da kann +man ja mit der Hand hinlangen? Nein, Bruder, die Erde – das ist, siehst +du, ein runder Ball – verstehst du?“ fuhr mein Onkel fort, indem er mit +den Händen in der Luft einen Kreis beschrieb. + +Der Bauer lächelte schmerzlich. + +„Ja, wie ein Ball! Und so hält sie sich ganz von selbst in der Luft und +kreist um die Sonne. Die Sonne aber steht auf einem Platz und rührt sich +nicht; es scheint dir nur so, als bewege sie sich, in Wirklichkeit aber +steht sie auf einem Fleck. Ja, siehst du, so ist es! Entdeckt aber hat +das alles der Kapitän Cook, ein Weltumsegler ... Übrigens, weiß der +Teufel, ob der es nun gerade war, oder wer es eigentlich entdeckt hat,“ +fügte er halblaut, zu mir gewandt, hinzu. „Ich habe ja selbst, Freund, +keine Ahnung davon ... Weißt du es, wieviel Werst es bis zur Sonne +sind?“ + +„Gewiß, Onkel,“ antwortete ich, etwas verwundert über dieses ganze +Gespräch, „nur denke ich folgendermaßen darüber: Unbildung ist natürlich +Nachlässigkeit, dagegen Bauern in der Astronomie zu unterrichten ...“ + +„Das ist es ja! Eben, eben – gerade Nachlässigkeit!“ fiel mein Onkel +dazwischen und griff begeistert meinen Ausdruck auf, der ihm wohl +überaus treffend erschien. „Ein großartiger Gedanke! Gerade +Nachlässigkeit! Das habe ich ja immer gesagt ... das heißt, ich habe es +noch nie gesagt, aber ich habe es gefühlt. Hört ihr,“ rief er dann den +Bauern zu, „Unbildung ist dasselbe wie Nachlässigkeit, ist genau +dasselbe wie Schmutz! Und deshalb wollte euch Foma auch belehren. Er +wollte euch das Gute lehren. Das ist gleichfalls ein Dienst, der dem +Vaterlande geleistet wird, und des größten Lohnes wert. Seht ihr nun, +wie es sich verhält! Das ist die Wissenschaft! Nun, gut, gut, meine +Lieben! Geht mit Gott, ich freue mich, es freut mich ... jedenfalls +beruhigt euch, ich werde euch nicht verlassen.“ + +„Beschütze du uns, Väterchen, bist doch immer wie ein leiblicher Vater +zu uns gewesen!“ + +„Laß uns Freude erleben, Väterchen!“ + +Und die Bauern stürzten wie ein Mann auf die Knie nieder. + +„Nun, nun, was soll das, welch ein Unsinn! Vor Gott und dem Kaiser sollt +ihr niederknien, nicht aber vor mir ... Aber so steht doch endlich auf, +geht jetzt, führt euch gut auf, verdient euch eine gute Behandlung ... +nun, und alles andere, was noch nötig ist ... Weißt du,“ sagte er dann +zu mir, sich plötzlich umwendend, und sein Gesicht schien vor Freude zu +leuchten, „so ein armer Kerl hört doch gern ein gutes Wort, und auch ein +Geschenk schadet nicht. Ich werde ihnen etwas schenken, was? Was meinst +du? So, weil du angekommen bist ... Soll ich es tun oder nicht?“ + +„Onkel, Sie sind ja Ihren Bauern ein guter Herr, wie ich sehe, +wahrscheinlich einer jener Gutsbesitzer, die immer nur Gutes tun wollen +... –“ + +„Aber es geht doch nicht, Freund, es geht doch nicht anders: das ist +doch nichts. Ich wollte ihnen schon lange etwas schenken,“ sagte er wie +zur Entschuldigung. „Aber fandest du es nicht lächerlich, daß ich den +Bauern da einen wissenschaftlichen Vortrag hielt? Nein, Freund, das habe +ich nur so ... nur so vor Freude, daß ich dich nun wiedersah, Sserjosha +... Ich wollte einfach, daß auch er, der Bauer, erführe, wie weit es bis +zur Sonne ist, und, wenn er’s hört, den Mund aufsperrt. Es ist so lustig +zu sehen, wie er ihn aufsperrt. Man freut sich geradezu für ihn. Nur +weißt du, Freund, sag’ das nicht dort im Salon, daß ich hier mit den +Bauern gesprochen habe. Ich habe es absichtlich hier hinter den +Pferdeställen getan, damit man es von dort nicht sieht; denn sieh, +Freund, es war nicht anders zu machen ... eine kitzlige Sache! Und sie +waren ja auch nur heimlich gekommen. Ich habe es ja eigentlich auch nur +ihretwegen getan ...“ + +„Ja, Onkel, jetzt bin ich also angekommen und bin hier!“ begann ich, um +dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und schneller auf die +Hauptsache zu sprechen zu kommen. „Ihr Brief hat mich, offen gestanden, +dermaßen überrascht und in Erstaunen gesetzt, daß ich ...“ + +„Mein Freund, kein Wort mehr darüber!“ unterbrach mich mein Onkel +geradezu erschrocken und mit gesenkter Stimme. „Später, später wird sich +das alles aufklären! Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos vor dir, +vielleicht sogar sehr ...“ + +„Nicht ganz schuldlos vor _mir_, Onkel?“ + +„Später, später, mein Freund, davon später! Das wird sich später +erklären! Alles, alles! Was du aber für ein prächtiger Bursche geworden +bist! Mein lieber Junge! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte dir +alles, wollte dir mein ganzes Herz ausschütten, wie man sagt ... du bist +gelehrt, du bist der einzige, den ich habe ... du und Korowkin. Im +übrigen muß ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß sich hier alle +über dich ärgern. Nun sieh dich vor, sei vorsichtig, sei auf deiner +Hut!“ + +„Sich über mich ärgern?“ fragte ich und blickte meinen Onkel verwundert +an, da ich nicht begriff, wodurch ich Menschen, die ich noch gar nicht +kannte, hätte ärgern können. „Über mich?“ + +„Über dich, Freund. Was ist da zu machen! Foma Fomitsch ist ein bißchen +... nun, und Mamachen natürlich gleichfalls. Überhaupt sei vorsichtig, +ehrerbietig, widersprich nicht, aber vor allem, sei ehrerbietig ...“ + +„Und das etwa im Verkehr mit Foma Fomitsch, Onkel?“ + +„Was soll man tun, mein Freund, ich verteidige ihn ja nicht ... Er hat +vielleicht wirklich so als Mensch seine Fehler, und sogar jetzt im +Augenblick ... Ach, Freund Sserjosha, wenn du wüßtest, wie mich alles +das beunruhigt! Wie könnte man das nur gutmachen, damit wir wieder alle +glücklich und zufrieden wären? ... Aber wer ist denn ohne Mängel? Auch +wir sind doch nicht vollkommen!“ + +„Aber, Onkel, so sehen Sie doch nur, was er tut ...“ + +„Ach, Freund! Das sind ja nur Klatschereien und weiter nichts! Zum +Beispiel, ich werde dir erzählen: da ärgert er sich nun über mich, aber +was glaubst du, weswegen? ... Übrigens, vielleicht bin ich auch selbst +daran schuld. Ich werde es dir später erzählen ...“ + +„Wissen Sie, Onkel, in mir hat sich, was ihn anbetrifft, eine besondere +Auffassung herausgebildet,“ unterbrach ich ihn, um ihm noch schnell +meine Kombinationen mitzuteilen. Wir beeilten uns beide. „Erstens war er +früher ein Hausnarr: das hat ihn erbittert, erniedrigt, ihn in seinem +Innersten gekränkt und beleidigt, und so ist denn gehässig, unnatürlich, +rachsüchtig geworden. Er will sich sozusagen an der ganzen Menschheit +rächen ... Wenn man ihn aber mit dieser Menschheit wieder aussöhnen, ihn +sich selbst wiedergeben würde ...“ + +„Das ist es ja! Eben, eben!“ rief mein Onkel begeistert aus. „Gerade +das! Ein herrlicher Gedanke! Und es wäre doch eine Schande, es wäre +niedrig von uns, wollten wir ihn jetzt ohne weiteres verurteilen! Das +ist es ja! ... Ach, Freund, ich sehe schon, du verstehst mich, du +bringst mir Trost! Wenn es sich dort nur einrenken ließe! Weißt du, ich +habe wirklich Angst, dort zu erscheinen. Sieh, du bist nun angekommen, +ich aber werde dafür büßen müssen!“ + +„Aber Onkel, wenn es so ist ...,“ begann ich, etwas verlegen durch +dieses Geständnis. + +„Nei-nei-nein! Um keinen Preis, auf keinen Fall!“ rief er heftig +dazwischen, fest meine Hände drückend. „Du bist mein Gast, und ich will +es so!“ + +Ich wunderte mich. + +„Onkel, sagen Sie mir jetzt,“ begann ich nachdrücklich, „aus welchem +Grunde oder zu welchem Zweck Sie mich hergerufen haben? Was erwarten Sie +von mir, und vor allen Dingen, in welcher Beziehung sind Sie ‚nicht +schuldlos‘ vor mir?“ + +„Weißt du, frage jetzt lieber nicht! Später, später! Alles das wird sich +später aufklären! Ich habe vielleicht in vielem gefehlt, aber ich wollte +wie ein ehrlicher Mensch handeln und ... und du wirst sie heiraten! Du +wirst sie heiraten, wenn du nur einen Tropfen Edelmut besitzest!“ schloß +er, in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung über und über errötend, und +drückte in diesem aufwallenden Gefühl schmerzhaft meine Hand. „Aber +jetzt genug davon, kein Wort mehr! Du wirst ja selbst alles zeitig genug +erfahren. Von dir wird es abhängen ... Die Hauptsache ist, daß du dort +jetzt gefällst, daß du Eindruck machst. Laß dich nur nicht verwirren.“ + +„Aber sagen Sie doch, Onkel, wer ist denn eigentlich dort bei Ihnen? Ich +muß gestehen, ich habe mich wenig in Gesellschaft bewegt, so daß ...“ + +„So daß dir jetzt etwas bange ist, wie?“ fragte der Onkel lächelnd. „Das +hat nichts zu sagen! Verlier bloß nicht den Mut! Die Hauptsache ist, daß +du dich nicht fürchtest. Wer dort bei uns ist, fragst du? Ja, wen haben +wir denn da? ... Erstens natürlich meine Mutter,“ begann er geschäftig – +„du erinnerst dich doch noch ihrer, oder nicht mehr? Eine herzensgute, +durchaus edeldenkende, alte Frau, ohne alle Prätensionen, kann man +sagen. Etwas altmodisch, aber das ist ja um so besser. Nun, und dann, +weißt du, zuweilen hat sie so ... gewisse Einfälle, sie sagt manches so +... nun eben so in besonderem Ton. Augenblicklich ist sie mir böse, +ärgert sich, aber es ist meine Schuld, und ich weiß es, daß es meine +Schuld ist. Nun, und sie ist doch immerhin ^Grande Dame^, Generalin ... +ihr Mann war ein prächtiger Mensch, General, sehr gebildet, reich war er +freilich nicht, aber vom Kriege her mit Narben bedeckt, – mit einem +Wort: er hatte sich allgemeine Achtung verdient. Dann ist da Fräulein +Perepelizyna. Nun, die ... ich weiß nicht ... in der letzten Zeit ist +sie so etwas ... ihr Charakter, wie gesagt ... Aber man kann doch nicht +alle verurteilen! ... Nun, Gott mit ihr ... du brauchst nicht zu +glauben, daß sie so eine ist, die ... die anderen auf dem Halse sitzt. +Sie ist, weißt du, die Tochter eines Majors. Mamas Busenfreundin, vergiß +das nicht! Und dann, nun, meine liebe Schwester Praskowja Iljinitschna. +Na, von der ist nicht viel zu sagen: eine einfache, gute Seele; ein +wenig zu geschäftig, aber was für ein Herz! Du sieh nur aufs Herz, +Freund, das ist die Hauptsache ... Ein bejahrtes Mädchen, aber, denk +doch, dieser Sonderling Bachtschejeff macht ihr gewissermaßen den Hof +und scheint anhalten zu wollen. Nur laß dir um Gottes willen nichts +anmerken, kein Wort! Geheimnis! Na, und wen haben wir denn da noch? Von +den Kindern rede ich weiter nicht: wirst sie selbst sehen. Morgen ist +Iljuschas Namenstag ... Ja, richtig! Fast hätt’ ich’s vergessen: seit +einem Monat, sieh mal, lebt bei uns Iwan Iwanytsch Misintschikoff, – du +wirst mit ihm, denke ich, im dritten Grade verwandt sein ... ja genau: +ein Vetter deines Vetters. Leutnant a. D. Er hat erst vor kurzem den +Abschied genommen – stand in einem Husarenregiment. Ein noch junger +Mensch. Ein wirklich guter Charakter. Aber, weißt du, er hat sich durch +seine Verschwendung dermaßen – wie sag’ ich doch gleich? – na, +abgerupft, daß ich gar nicht weiß, wie und wo er das in einem solchen +Maße hat fertigbringen können. Übrigens hat er auch früher nichts +gehabt, aber immerhin ... er hat viel Schulden gemacht ... Und jetzt ist +er bei mir zu Besuch. Bisher kannte ich ihn überhaupt nicht – als er +ankam, stellte er sich mir vor. So ein lieber, guter, ruhiger, +bescheidener Mensch. Es hat hier, glaube ich, kein Mensch je ein Wort +von ihm gehört. Er schweigt ununterbrochen. Foma hat ihn – zum Spott – +den ‚schweigsamen Fremdling‘ genannt. Aber er macht sich nichts daraus, +ärgert sich nicht. Foma ist jedenfalls mit ihm zufrieden, nur sagt er +von ihm, dem Iwan, daß es nicht weit her mit ihm sei. Übrigens +widerspricht Iwan ihm nie, er stimmt ihm immer bei. Hm! So ein stiller +Junge ... Na, Gott mit ihm! Du wirst ja selbst sehen. Dann haben wir +noch Gäste aus der Stadt: Pawel Ssemjonytsch Obnoskin mit seiner Mutter, +ein junger Mann, ein ungeheuer kluger Mensch; etwas so Reifes, weißt du, +ist in ihm, etwas Festes, Unerschütterliches ... Ich verstehe mich nur +nicht auszudrücken! Hinzu kommt noch eine ungewöhnliche Sittlichkeit: +strenge Moral! Nun, und dann schließlich lebt noch, sieh mal, eine +Tatjana Iwanowna bei uns, mit der wir – je nachdem, wie man’s nimmt – +auch noch verwandt sein sollen, natürlich nur sehr entfernt verwandt – +du kennst sie nicht – ein nicht mehr ganz junges Mädchen – das muß man +wohl sagen, aber immerhin ... sie hat auch ihre Vorzüge. Reich ist sie, +weißt du, kann zwei Güter wie Stepantschikowo auf einmal kaufen. Sie hat +erst vor kurzem geerbt, bis dahin war sie bettelarm. Aber du, Freund, du +urteile nicht voreilig über sie: sie ist etwas kränklich ... ich wollte +sagen, sie hat etwas ... etwas Phantasmagorisches in ihrem Charakter. +Nun, du bist ein edeldenkender Mensch, du wirst es begreifen, sie hat +doch sozusagen viel gelitten. Mit solchen Menschen, weißt du, die im +Unglück gewesen sind, muß man doppelt nachsichtig sein! Aber du brauchst +nicht gleich ... nun, so ... irgend etwas zu denken! Sie hat natürlich +auch ihre Schwächen: so kommt sie zuweilen etwas aus dem Konzept, +spricht manches zu schnell aus, wählt nicht immer das richtige Wort, das +nötig ist ... das heißt, – nicht etwa, daß sie lügt, denk nur das nicht +... das kommt ja, Freund, aus edlem Herzen ... das heißt, wenn sie auch +manches nicht ganz der Wahrheit gemäß sagen sollte, so geschieht das +doch einzig sozusagen aus übergroßer Herzenseinfalt – du verstehst +doch!“ + +Mein Onkel war offenbar sehr verwirrt und wurde immer verlegener. + +„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „ich habe Sie sehr lieb ... verzeihen Sie +mir die offene Frage: werden Sie eine von den Damen heiraten oder +nicht?“ + +„Wer ... wer hat dir das gesagt?“ fragte er, wie ein Kind errötend. +„Sieh mal, Sserjosha, ich werde dir alles ganz genau erzählen. Erstens – +ich heirate nicht. Meine Mutter, zum Teil auch meine Schwester und vor +allen Dingen Foma Fomitsch, den Mama vergöttert – und mit Recht, mit +Recht: er hat viel für sie getan – sie alle wollen, daß ich diese selbe +Tatjana Iwanowna heirate, aus vernünftiger Überlegung, zum Wohl der +ganzen Familie. Natürlich wollen sie ja nur mein Bestes – das begreife +ich vollkommen. Aber ich werde um keinen Preis heiraten – ich habe mir +schon das Wort gegeben. Nichtsdestoweniger verstand ich – ich weiß +nicht, wie’s kam – nicht so recht zu antworten: ich habe weder ja noch +nein gesagt. Das ist, weißt du, immer so mit mir. Und so glaubten sie +denn, daß ich einwillige, und wollen jetzt unbedingt, daß ich mich +morgen, zum Familienfest, erkläre ... ... Und da sitze ich nun und weiß +nicht einmal, was ich tun soll! Hinzu kommt noch, daß Foma Fomitsch mir +zürnt – weiß Gott aus welchem Grunde. Mama gleichfalls. Ich werde dir, +weißt du, gestehen, daß ich nur dich erwartet habe, dich und Korowkin +... ich wollte sozusagen ausschütten, was ...“ + +„Aber womit kann denn Korowkin Ihnen helfen, Onkel?“ + +„Doch, doch, er kann mir helfen, du wirst sehen, – das ist, Freund, so +ein Mensch ... Wie gesagt, ein Mann der Wissenschaft! Ich vertraue auf +ihn, wie auf einen Fels! Ein besiegender, bestrickender Mensch! Wie er +über Familienglück spricht! Weißt du, auch auf dich setzte ich meine +Hoffnung, glaubte, du wirst sie zur Vernunft bringen. Sag’ doch selbst: +nun, nehmen wir an, ich bin an allem Unglück schuld, ich allein! Das +begreife ich doch, ich bin ja doch kein gefühlloser Holzklotz. Aber +trotzdem konnte man doch auch mir einmal verzeihen! Himmel, wie wir dann +alle leben könnten! ... Wenn du wüßtest, wie groß meine kleine +Ssaschurka ist – sie könnte schon heiraten! Und wie Iljuscha sich +entwickelt hat! Morgen ist sein Namenstag. Aber wegen Ssaschurka mache +ich mir Sorgen ... sie ist ein kleiner Trotzkopf ...“ + +„Onkel! Wo ist mein Koffer? Ich werde mich umkleiden und dann sofort +erscheinen, und dann ...“ + +„Im Fremdenzimmer oben, mein Freund, im Giebelzimmer. Ich hatte es im +voraus so angeordnet, daß man dich, sobald du ankommst, sofort dorthin +nach oben führen solle, damit dich niemand sieht. Ja, ja, kleide dich +um! Das ist gut, vorzüglich, vorzüglich! Ich aber werde inzwischen die +anderen dort ein wenig vorbereiten. Nun, mit Gott! Weißt du, Freund, man +muß schlau sein. Hier wird man unfreiwillig zu einem Talleyrand. Nun, +macht nichts! Jetzt trinken sie dort Tee. Wir haben immer ziemlich früh +Teestunde. Foma Fomitsch liebt es, Tee zu trinken, sobald er von seinem +Nachmittagsschläfchen aufgewacht ist. Es ist auch, weißt du, besser so +... Nun, ich gehe also, und du komme mir schnell nach, laß mich nicht +lange allein: man ist, weißt du, wenn man allein ist, etwas befangen ... +Ja! Wart! Was ich noch sagen wollte! Ich habe eine Bitte an dich: mach +mir dort, bitte, keine Vorwürfe, wie du sie mir vorhin hier machtest – +was? Wenn du was sagen willst, so tu’s später, hier unter vier Augen – +nicht? Bis dahin aber bezwing dich und schieb es auf! Ich habe es dort, +sieh mal, sowieso mit allen verdorben. Sie ärgern sich ...“ + +„Hören Sie, Onkel, nach allem, was ich gehört und gesehen habe, scheint +es mir, daß Sie ...“ + +„Daß ich ein Lappen bin – nicht? Sprich es nur ruhig aus!“ unterbrach er +mich ganz unvermutet. „Ja, Freund, was ist da zu machen! Ich weiß es ja +selbst. Nun, dann kommst du also? Komm bitte, sobald wie möglich!“ + +Oben im Giebelzimmer angelangt, kramte ich eilig die notwendigen Sachen +aus meinem Koffer, eingedenk der Bitte meines Onkels, ihm bald zu +folgen. Während des Ankleidens dachte ich darüber nach, daß ich, trotz +der langen Unterhaltung mit meinem Onkel, doch noch nichts von dem in +Erfahrung gebracht hatte, was ich hauptsächlich wissen wollte. Ich wurde +nachdenklich. Nur eines war mir einigermaßen klar: mein Onkel wünschte +immer noch, daß ich sie heiratete, und folglich waren alle Gerüchte, die +dem widersprachen, wie zum Beispiel, daß er selbst in das junge Mädchen +verliebt sei, unbegründet. Ich weiß noch, daß ich mich in großer +Aufregung befand. Unter anderem dachte ich auch darüber nach, daß ich +durch meine Ankunft und mein Schweigen in der Hauptsache meinem Onkel +gleichsam meine Zustimmung ausgedrückt, ihm mein Wort gegeben, mich auf +ewig gebunden hatte. + +„Es ist nicht schwer,“ dachte ich, „nicht schwer, ein Wort +auszusprechen, das einen dann später an Händen und Füßen und auf ewig +bindet. Und das Beste ist, daß ich die Braut noch nicht einmal gesehen +habe!“ + +Und andererseits: woher diese Feindschaft der ganzen Familie gegen mich? +Warum sollten sie über meine Ankunft, wie mein Onkel sagte, ungehalten +sein? Und was für eine sonderbare Rolle spielte denn mein Onkel hier in +seinem eigenen Hause? Aus welchem Grunde vermeidet er es, mir auf +gewisse Fragen zu antworten? Aus welchem Grunde fürchtet und quält er +sich so? Offen gesagt, der ganze Sachverhalt erschien mir plötzlich +vollkommen unsinnig, unbegreiflich. Meine romantischen und heroischen +Träume aber waren jetzt, nach dem ersten Zusammenstoß mit der +Wirklichkeit, endgültig verflogen. Erst jetzt, nach der Unterredung mit +meinem Onkel, begriff ich die ganze Ungereimtheit, den ganzen Wahnsinn +seines Vorschlages, und ich sagte mir, daß unter solchen Umständen +wahrlich nur er allein einen solchen Plan aushecken konnte. Desgleichen +gestand ich mir, daß ich selbst, indem ich auf sein erstes Wort hin Hals +über Kopf hergefahren kam, fast begeistert von seinem Vorschlag, einem +Narren und Dummkopf sogar auffallend ähnlich gewesen war. + +Mit diesen unangenehmen Erwägungen beschäftigt, kleidete ich mich so +eilig an, daß ich den mir behilflichen Diener zuerst gar nicht bemerkte. + +„Werden der Herr die adelaidenfarbene Kravatte umlegen oder diese +feinkarierte?“ fragte er plötzlich mit einer fast widerlich süßen +Bescheidenheit. + +Jetzt erst sah ich ihn an, und es schien mir auf den ersten Blick, daß +seine Person ein gewisses Interesse verdiente. Er war ein noch junger +Mensch, für einen Diener viel zu gut gekleidet, vielleicht nicht +schlechter als manch ein Geck unserer Gouvernementsstädte. Er trug einen +braunen Frack, weiße Beinkleider, eine strohfarbene Weste, Halbstiefel +aus Lackleder und eine rosa Krawatte. Augenscheinlich war jedes Stück +nicht ohne eine gewisse Absicht gewählt: diese ganze Ausstattung mußte +sofort den feinen Geschmack des jungen Mannes verraten. Die Uhrkette war +gleichfalls nicht zufällig so angebracht, daß sie einem in die Augen +stach. Sein Gesicht war blaß und etwas grünlich; seine Nase war groß, +gebogen, ungewöhnlich weiß, fast als wäre sie von Porzellan gewesen. Das +Lächeln seiner schmalen Lippen drückte eine gewisse Melancholie aus, und +zwar eine sehr zartfühlende Melancholie. Seine großen hervorquellenden +Augen hatten etwas Gläsernes, ihr Blick war auffallend stumpf, aber +dennoch drückten sie eine gewisse „Zartheit“ aus. In seinen dünnen, +weichen Ohren trug er – wohl gleichfalls aus „Zartheit“ – je ein +Flöckchen weiße Watte. Seine langen, weißblonden, spärlichen Haare waren +zu Locken gedreht und pomadisiert. Seine Hände – oder vielmehr Händchen +– waren weiß, sauber, wie in Rosenwasser gebadet. Seine Nägel waren +geckenhaft lang und rosig. Kurz, alles an ihm sprach von Verzärtelung +und Eitelkeit. Er lispelte vor lauter Vornehmheit und sprach nach +neuester Mode das r fast gar nicht aus, er schlug die Augen auf und +schlug sie nieder, seufzte und schmachtete bis zur Unglaublichkeit. Ja, +er duftete sogar nach Parfüm. Er war nicht groß, war schwächlich und +welk, und beim Gehen knickte er sehr absonderlich in den Beinen, so daß +es aussah, als wolle er sich bei jedem Schritt setzen, worin er +wahrscheinlich die vornehmste Zartheit sah. Mit einem Wort, der ganze +Mensch war förmlich durchtränkt mit Zartheit, Subtilität und +ungewöhnlich entwickeltem Empfinden der eigenen Würde. Besonderes +letzteres mißfiel mir im ersten Augenblick sehr, ohne daß ich hierfür +einen besonderen Grund angeben könnte. + +„So ist diese Krawatte adelaidenfarben?“ fragte ich und sah den jungen +Diener scharf an. + +„Jawohl, genau adelaidenfarben,“ antwortete er mit „Zartsinn“. + +„Und nicht agrafenenfarben?“ + +„Nein. Eine solche Farbe kann es überhaupt nicht geben.“ + +„So? Warum denn nicht?“ + +„Agrafena ist ein unanständiger Name.“ + +„Wieso unanständig? Warum?“ + +„Das weiß doch ein jeder: Adelaida ist wenigstens ein ausländischer +Name, ein veradelter also; Agrafena aber kann hier jedes Bauernweib +heißen.“ + +„Du bist wohl übergeschnappt?“ + +„Keineswegs, ich bin bei vollem Verstande. Es steht dem Herrn allerdings +frei, mich wie beliebt zu benennen, doch sind mit meinem Worte viele +Generäle und Herren aus der Hauptstadt zufrieden gewesen.“ + +„Wie heißt du denn?“ + +„Widopljässoff.“ + +„Ah! Also du bist Widopljässoff!“ + +„So heiße ich.“ + +„Na, dich werde ich wohl noch näher kennen lernen.“ + +Bei mir aber dachte ich, als ich die Treppe hinabstieg: „Weiß Gott, das +ist ja hier eine regelrechte Irrenanstalt!“ + + + + + IV. + + Beim Tee. + + +Der Teesalon war dasselbe Zimmer, aus dem eine Glastür auf jene Terrasse +führte, auf der ich kurz vorher den Diener Gawrila angetroffen hatte. +Die geheimnisvollen Warnungen meines Onkels bezüglich des Empfanges, der +mich erwartete, beunruhigten mich nicht wenig. Um so unangenehmer war es +mir, als ich, nachdem ich kaum über die Schwelle getreten war, plötzlich +über einen Teppich stolperte und, indem ich zum Glück gerade noch das +Gleichgewicht bewahrte, immerhin ganz unverhofft bis in die Mitte des +Zimmers flog. So stand ich denn, betreten, als hätte ich im Augenblick +meine ganze Lebenslaufbahn, Ehre und guten Ruf verspielt, regungslos, +rot wie ein Krebs und mit verständnislosem Blick rings um mich schauend, +geraume Zeit mitten im Zimmer auf einem Fleck. Ich erwähne diesen an +sich ganz gleichgültigen Zwischenfall einzig aus dem Grunde, weil er von +einem gewissen Einfluß auf meine Gemütsverfassung im Verlaufe des ganzen +Tages war und somit auch auf mein Verhalten zu einigen der handelnden +Personen meiner Erzählung. Ich versuchte, so etwas wie eine Verbeugung +zu machen; doch noch bevor ich sie ausgeführt hatte, stürzte ich zu +meinem Onkel und erfaßte seine beiden Hände. + +„Guten Tag, Onkel,“ sagte ich atemlos, obgleich ich etwas ganz anderes, +viel Geistreicheres hatte sagen wollen ... aber ohne es zu wollen, hatte +ich schon dieses dumme „Guten Tag, Onkel“ gesagt! + +„Guten Tag, guten Tag, mein lieber, junger Freund,“ antwortete mein +Onkel, der sichtlich mit mir litt, „wir ... wir haben uns ja schon so +oft gesehen. Sei doch nicht so verlegen,“ fuhr er leise fort, so daß nur +ich es hörte, „das kann ja jedem Menschen passieren! Ich verstehe ja: +zuweilen wäre man froh, wenn man sich unter die Erde verkriechen könnte +... Nun, jetzt aber ... erlauben Sie, Mama, daß ich Ihnen hier meinen +Gast vorstelle ... Sie werden ihn sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe, +Ssergei Alexandrowitsch,“ sagte er zur Erläuterung, sich diesmal an alle +Anwesenden wendend. + +Doch bevor ich die folgenden Ereignisse wiedergebe, will ich diese ganze +Gesellschaft, in die ich mich so plötzlich hineinversetzt sah, dem Leser +etwas deutlicher vor Augen führen. + +Sie bestand aus mehreren Damen und nur zwei Herren – mich und meinen +Onkel nicht mitgerechnet. Foma Fomitsch, für den ich mich so überaus +interessierte, und der – das fühlte ich bereits – der unumschränkte +Herrscher des ganzen Hauses war, befand sich nicht im Zimmer: er glänzte +durch Abwesenheit und hatte, wie es schien, das Sonnenlicht gleichzeitig +mit sich fortgenommen; denn alle waren finster, sorgenvoll und +bekümmert, was man unmöglich nicht herausfühlen konnte. Aber wie +verwirrt und erregt ich in diesem Augenblick auch war, ich bemerkte +doch, daß mein Onkel fast ebenso erregt und verwirrt war wie ich, wenn +er auch alles tat, um seinen wahren Zustand und seine Sorgen hinter +scheinbarer Ungezwungenheit zu verbergen. Es schien so etwas wie ein +schwerer Stein auf seinem Herzen zu liegen. + +Der eine der beiden anwesenden Herren, ein noch junger Mann von etwa +fünfundzwanzig Jahren, war jener Obnoskin, dessen Verstand und strenge +Moral mein Onkel noch kurz vorher gerühmt hatte. Leider gefiel er mir +äußerst wenig: alles an ihm lief schließlich auf einen gewissen „Schick“ +– jedoch schlechten Tones – hinaus; sein Anzug sah bei allem „Schick“ +doch fadenscheinig und ärmlich aus, und selbst in seinem Gesicht schien +etwas Fadenscheiniges zu sein. Sein hellblonder, spärlicher Schnurrbart +und sein zerzaustes Bärtchen sollten an ihm offenbar einen selbständig +denkenden Menschen und vielleicht sogar einen Freigeist kennzeichnen. Er +schnitt die ganze Zeit Grimassen, lächelte mit einer ganz besonderen, +gemachten Boshaftigkeit, saß keinen Augenblick ruhig auf seinem Stuhl +und fixierte mich beständig durch ein Lorgnon – dessen er sich, wie +jeder zeitgenössische Modenarr, bediente. Kehrte ich mich jedoch zu ihm +um, so senkte er es mit einer neuen Grimasse sofort, ganz als wäre er zu +feige gewesen, mich offen zu fixieren. Der andere Herr war auch noch +jung, ungefähr so um achtundzwanzig: es war dies mein Vetter dritten +Grades, Herr Misintschikoff. Er war allerdings auffallend schweigsam. +Während der ganzen Teestunde sprach er kein einziges Wort, lachte er +kein einziges Mal, auch dann nicht, wenn alle lachten; doch konnte ich +keine Spur von jener Schüchternheit an ihm wahrnehmen, die mein Onkel an +ihm bemerkt haben wollte; im Gegenteil, ich fand, daß der Blick seiner +hellbraunen Augen Entschlossenheit und einen sehr bestimmten Charakter +verriet. Er hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, fast schwarzes Haar und war +eigentlich recht hübsch; gekleidet war er tadellos – auf Rechnung meines +Onkels, wie ich später erfuhr. Von den Damen fiel mir ganz zuerst +Fräulein Perepelizyna dank ihres erschreckend bösen, blutleeren Gesichts +auf. Sie saß neben der Generalin, – auf die ich später zu sprechen +kommen werde –, jedoch stand ihr Stuhl nicht ganz in gleicher Reihe mit +dem der alten Dame, sondern aus Ehrerbietung etwas zurück. Sie beugte +sich jeden Augenblick vor, um ihrer Gönnerin etwas ins Ohr zu tuscheln. +Drei andere bejahrte Gnadenbrotesserinnen saßen vollkommen wortlos, +starr und steif an der Fensterwand und erwarteten ehrfürchtig ihre Tasse +Tee, alle sechs Augen andächtig auf die Generalin gerichtet. Auch +interessierte mich eine nicht allein dicke, sondern förmlich +ausgeflossene Dame von rund fünfzig Jahren, die sehr geschmacklos und +auffallend gekleidet und, wenn ich mich nicht täusche, sogar geschminkt +war. Im Munde hatte sie statt der Zähne nur noch einige dunkle, +abgebrochene Zahnstummeln, was sie jedoch nicht hinderte, in einem fort +den Mund aufzureißen, schreiend laut zu sprechen, sich zu zieren und zu +kokettieren. Sie war mit vielen Ketten und Kettchen behangen und +richtete, ganz wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihr Lorgnon auf mich. +Es war das seine Mutter. Meine Tante, die stille Praskowja Iljinitschna, +goß den Tee ein. Man sah es ihr an, daß sie mich nach der langen +Trennung am liebsten hätte umarmen, küssen, und daß sie bei der +Gelegenheit selbstverständlich auch hätte weinen wollen – aber sie wagte +es nicht. Alles schien hier gleichsam unter einem Verbot zu stehen. +Neben ihr saß ein allerliebstes, dunkeläugiges, fünfzehnjähriges +Mädchen, das mich aufmerksam mit kindlicher Neugier ansah – das war mein +Kusinchen Ssaschenjka. Endlich bemerkte ich noch eine sehr sonderbare +Dame, die vielleicht die auffallendste von allen war: reich und sehr +jugendlich gekleidet, obschon sie längst nicht mehr jung zu sein schien: +ich schätzte sie auf mindestens fünfunddreißig Jahre. Ihr Gesicht war +sehr farblos, hager und geradezu ausgetrocknet, doch nichtsdestoweniger +von ungewöhnlich lebhaftem Ausdruck. Fast bei jeder Bewegung, jeder +Erregung erschien flammendes Rot auf ihren bleichen Wangen. Dabei regte +sie sich ununterbrochen auf, drehte sich auf dem Stuhl hin und her und +schien nicht eine Minute ruhig sitzen zu können. Sie betrachtete mich +mit geradezu gieriger Neugier, beugte sich in jedem Augenblick zur +Seite, um Ssaschenjka oder ihrer Nachbarin zur Linken etwas ins Ohr zu +flüstern, worauf sie dann jedesmal in ein offenherziges, kindlich +heiteres Lachen ausbrach. Doch dieses ganze auffallende Benehmen der +Dame wurde zu meiner nicht geringen Verwunderung von keinem einzigen der +Anwesenden bemerkt, oder wenigstens schien man es nicht bemerken zu +wollen, ganz als hätte man schon früher ein vollkommenes Ignorieren +verabredet. Ich erriet, daß dieses Geschöpf jene Tatjana Iwanowna war, +die nach dem Ausdruck meines Onkels etwas „Phantasmagorisches“ an sich +haben sollte, und die ihm fast mit Gewalt als Braut angehängt wurde. +Wegen ihres Reichtums sahen ihr die alten Damen alles nach und waren +überhaupt sehr liebenswürdig zu ihr. Übrigens gefielen mir ihre blauen +Augen, die einen gewissen sanften Ausdruck hatten, und wenn man auch an +den Schläfen kleine Runzeln wahrnehmen konnte, so war der Blick doch so +offenherzig, so heiter und gut, daß es ganz eigenartig angenehm war, ihm +zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer der buchstäblichen +„Heldinnen“ meiner Erzählung, werde ich späterhin noch ausführlicher +sprechen – ihre Lebensgeschichte ist recht seltsam. + +Fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teesalon kam aus dem Garten ein +allerliebster kleiner Junge hereingelaufen; das war mein Vetter +Iljuscha, dessen Namenstag am nächsten Tage gefeiert werden sollte, und +dessen Taschen jetzt schon mit Kuchen vollgestopft waren. In der einen +Hand hielt er eine Peitsche, in der anderen einen Brummkreisel. Gleich +nach ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein: sie war ein wenig +bleich und anscheinend etwas müde, aber dennoch sah sie reizend aus. Sie +warf einen prüfenden, mißtrauischen und etwas scheuen Blick auf die +Anwesenden, sah mich einmal kurz und aufmerksam an und setzte sich dann +neben Tatjana Iwanowna hin. Ich weiß noch, daß mein Herz unwillkürlich +zu klopfen begann: das war sie, die Erzieherin ... Auch entsinne ich +mich noch, daß mein Onkel bei ihrem Eintritt mir einen schnellen Blick +zuwarf und gleich darauf errötete, sich dann plötzlich niederbeugte, +seinen Iljuscha auf den Arm hob und ihn zu mir brachte: ich sollte ihn +begrüßen und küssen. Bei der Gelegenheit fiel es mir auf, daß Frau +Obnoskin meinen Onkel durchdringend musterte, um dann mit einem +sarkastischen Lächeln ihr Lorgnon auf die Erzieherin zu richten. Mein +Onkel wußte nicht, was er tun sollte, und so rief er denn Ssaschenjka zu +sich, um sie mir vorzustellen, doch diese stand nur auf und machte +schweigend und mit aller Wohlerzogenheit einen Knicks vor mir. Das +gefiel mir übrigens sehr; denn es paßte zu ihr. Da aber konnte sich +meine gute Tante Praskowja Iljinitschna nicht mehr bezwingen: sie ließ +ihre Teetassen stehen und stürzte auf mich zu, um mich zu umarmen – doch +siehe, noch hatte ich nicht Zeit gehabt, ihr zwei Worte zu sagen, als +schon die schrille Stimme der alten Jungfer Perepelizyna ertönte, die +vorwurfsvoll und stellenweise förmlich kreischend bemerkte, daß +Praskowja Iljinitschna ihr Mütterchen (die Generalin) ganz und gar +vergesse, das Mütterchen aber habe doch Tee verlangt und müsse jetzt so +lange warten! Und so eilte denn Praskowja Iljinitschna zu ihren Tassen +und Pflichten zurück, ohne mit mir nur ein Wort gewechselt zu haben. +Diese Generalin nun, die Hauptperson im Kreise ihrer Freundinnen, vor +der alle sich wie auf Draht gezogen bewegten, und die ganz in Trauer +gehüllt dasaß, war eine hagere, böse, alte Person – böse vornehmlich vor +Alter und infolge der Einbuße ihrer letzten, auch früher niemals sehr +reichen geistigen Fähigkeiten. Früher war sie einfach nur launisch +gewesen, dann aber hatte sie der Titel „Exzellenz“ noch dümmer und noch +eingebildeter gemacht. Wenn sie sich ärgerte, machte sie das Haus zur +Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu ärgern. Die eine Art war – +Schweigen; dann tat die Alte ganze Tage lang kein einziges Mal den Mund +auf und stieß alles, was man ihr vorsetzte, entweder wie aus Versehen +um, oder warf es ganz offen und wütend auf den Fußboden. Die andere Art +war dieser vollkommen entgegengesetzt: nämlich wortreich. Es begann +gewöhnlich damit, daß meine verehrte Großmutter sich in ungewöhnliche +Melancholie versenkte, das Ende der Welt und ihres Hauses erwartete, +Armut und alles nur denkbare Elend voraussah, sich an ihren eigenen +Vorgefühlen in Stimmung redete, die zukünftigen Leiden an den Fingern +abzuzählen begann, während dieser Zählung in eine gewisse Begeisterung +geriet und aus dieser Begeisterung schließlich in förmlichen Jähzorn. +Bei der Gelegenheit stellte es sich dann natürlich immer heraus, daß sie +alles inzwischen Eingetroffene vorausgesehen und nur aus dem einen +Grunde geschwiegen hatte, weil sie doch mit Gewalt dazu gezwungen werde, +„in diesem Hause“ zu schweigen. Wenn man doch „wenigstens ehrerbietig“ +zu ihr sein und ihr „im voraus gehorchen“ wollte, so ... usw. Alle +derartigen Reden wurden sogleich von dem ganzen Stabe ihrer +Anhängerinnen, Fräulein Perepelizyna an der Spitze, als +unerschütterliche, ewige Wahrheit anerkannt und zum Schluß noch von Foma +Fomitsch feierlich begutachtet und gesegnet. In jenem Augenblick, als +ich ihr vorgestellt wurde, ärgerte sie sich gerade entsetzlich, und zwar +nach der ersten Methode, der schweigsamen – und furchtbarsten. Alle +sahen sie angstvoll an. Nur Tatjana Iwanowna, der unbedingt alles +verziehen wurde, befand sich in der besten Stimmung. + +Da führte mich mein Onkel – fast sogar wie im Triumph – zu meiner +Großmutter, doch diese machte nur eine äußerst saure Miene und schob +heftig ihre Tasse zur Seite. + +„Ist das jener Vol-ti-geur?“ fragte sie in singendem Nasalton, sich +dabei an Fräulein Perepelizyna wendend. + +Diese dumme Frage brachte mich gänzlich aus der Fassung. Ich begriff +nicht, weshalb sie mich einen Voltigeur nannte. Doch solche Fragen waren +noch nichts, im Vergleich zu anderen Beleidigungen, mit denen die alte +Dame niemals kargte. Die Perepelizyna beugte sich vor und tuschelte ihr +etwas ins Ohr, die Alte aber schlug nur einmal, unwillig abweisend, mit +der Hand durch die Luft. Ich stand mit halb offenem Munde vor ihr und +blickte fragend meinen Onkel an. Alle tauschten vielsagende Blicke aus, +und Obnoskin lächelte sogar, was mir sehr wenig gefiel. + +„Sie, weißt du, sie verspricht sich manchmal,“ raunte mir mein Onkel +unauffällig zu; „aber das tut ja nichts, sie sagt es nur so, es kommt +aus gutem Herzen. Sieh immer nur aufs Herz, immer aufs Herz, das ist die +Hauptsache!“ + +„Ja, das Herz, das Herz!“ ertönte da plötzlich die helle Stimme Tatjana +Iwanownas, die mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte +und tatsächlich nicht ruhig auf ihrem Platz zu sitzen vermochte. +Offenbar hatte sie die letzten mir zugeraunten Worte aufgefangen. Doch +sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende, obgleich sie augenscheinlich +etwas sagen wollte. Wurde sie nun verlegen, oder war es etwas anderes – +jedenfalls verstummte sie, errötete heftig, beugte sich hastig zur +Erzieherin, flüsterte ihr etwas ins Ohr und plötzlich warf sie sich, das +Taschentuch an die Lippen pressend, an ihre Stuhllehne zurück und +lachte, lachte, wie nur ein hysterischer Mensch lachen kann. Ich schaute +mich höchst verwundert im Kreise um: und ich gewahrte zu meiner noch +größeren Verwunderung, daß alle sehr ernst waren und so dreinschauten, +als wäre nichts Besonderes geschehen. Da begriff ich, wer und was +Tatjana Iwanowna war. Endlich erhielt auch ich meinen Tee und kam wieder +ein wenig zur Besinnung. Doch weiß ich nicht, aus welchem Grunde ich +plötzlich glaubte, ein überaus liebenswürdiges Gespräch mit den Damen +anknüpfen zu müssen. + +„Sie hatten vollkommen recht, Onkel,“ begann ich, „als Sie mich vorhin +vor dem Verlegenwerden warnten. Ich muß offen gestehen – wozu sollte ich +es verheimlichen?“ fuhr ich fort, mich mit dem einschmeichelndsten +Lächeln an Frau Obnoskin wendend, „daß sich mich bis heute noch nie in +Damengesellschaft befunden habe, und als mir jetzt beim Eintritt dieses +Malheur passierte, da ... schien es mir, daß die Pose, die ich mitten im +Zimmer so unbeabsichtigter Weise annahm, recht lächerlich war und in +etwas an den ‚Bettelsack‘ erinnerte – nicht wahr? Sie haben doch den +‚Bettelsack‘ gelesen?“ Ich verstummte, denn meine Verwirrung hatte +mit jedem Wort wieder zugenommen: ich schämte mich meines +Einschmeichelungsversuchs und blickte wütend auf Herrn Obnoskin, der, +die Zähne lächelnd entblößend, mich immer noch vom Kopf bis zu den Füßen +musterte. + +„Stimmt! Das ist es ja! Eben, eben!“ rief plötzlich mein Onkel aus, +ungemein belebt und aufrichtig erfreut darüber, daß es wenigstens zu +einem Gespräch kam und ich mich soweit gefaßt hatte. „Aber das, Freund, +das ist noch nichts, was du da sagst von Verlegenwerden. Wird man +verlegen, dann wird man verlegen, das ist weiter nicht schlimm! Ich +aber, Freund, ich habe bei meinem Debüt sogar gelogen – wirst du’s mir +glauben? Ja, bei Gott, Anfissa Petrowna! Und ich kann Ihnen nur sagen, +es ist eine interessante Geschichte. Ich war kaum Fähnrich geworden, kam +nach Moskau und begab mich zu einer hochgestellten Dame, mit einem +Empfehlungsbrief, versteht sich – das heißt, sie war eine recht +hochmütige Dame, aber im Grunde doch herzensgut, was man auch dagegen +einwenden wollte. Ich trete also ein, gebe meine Karte ab – werde +empfangen. Im Empfangssalon wimmelt es von Gästen – lauter Größen. Ich +machte meine pflichtschuldige Verbeugung, setzte mich. Da wendet sie +sich schon nach fünf Minuten zu mir und fragt mich: ‚Hast du auch ein +Gut, mein Lieber?‘ Ich besaß damals kein Huhn – aber was sollte ich +antworten? Verwirrt war ich, wie ein Brummkreisel. Alle sehen mich an – +na was, Junkerlein! Nun, ich hätte doch einfach sagen können: nein, habe +nichts, – und es wäre gut und anständig gewesen; denn ich hätte doch nur +die Wahrheit gesagt. Hielt es aber nicht aus! ‚Jawohl,‘ sagte ich, +‚hundertundsiebzehn Seelen.‘ Weiß Gott, welch ein Teufel mich plagte, +diese siebzehn da noch anzuhängen! Wenn du schon lügst, dann lüg doch +eine runde Zahl – nicht wahr? Natürlich erfuhren sie gleich darauf aus +dem Empfehlungsbrief, daß ich arm war wie eine Kirchenmaus – und zum +Überfluß hatte ich jetzt auch noch gelogen! Na, was tun? Ich machte, daß +ich fortkam, und ging seit der Zeit nie wieder hin! Ja, damals besaß ich +noch nichts; denn das, was ich jetzt habe, das sind, wie ihr wißt, +dreihundert Seelen von Onkel Afanassij Matwejitsch, und dann noch die +zweihundert Seelen mit Kapitonowka, die ich vorher von meiner Großmutter +Akulina Panfilowna erbte, also ^summa summarum^ fünfhundert plus +Nachwuchs. Na ja. Nur habe ich mir damals geschworen, nie mehr zu lügen, +und jetzt lüge ich auch tatsächlich nie mehr.“ + +„Hm, ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht geschworen. Wer weiß, was +alles noch geschehen kann,“ bemerkte Obnoskin mit spöttischem Lächeln. + +„Nun ja, das ist ja wahr; wer weiß, was alles noch geschehen kann!“ +stimmte mein Onkel gutmütig bei. + +Obnoskin brach in schallendes Gelächter aus und warf sich lachend an die +Stuhllehne zurück. Fräulein Perepelizyna kicherte wieder ganz besonders +widerlich. Auch Tatjana Iwanowna lachte auf, ohne selbst zu wissen, +worüber, und schlug sogar in die Hände vor Vergnügen. Kurz, ich begriff, +daß mein Onkel in seinem eigenen Hause als vollkommene Null betrachtet +wurde. Ssaschenjka, deren dunkle Augen böse blitzten, sah unverwandt +Obnoskin an. Die Erzieherin errötete und sah zu Boden. Mein Onkel +wunderte sich. + +„Ja, was denn? Was ist denn geschehen?“ fragte er, sich verständnislos +im Kreise umblickend. + +Während dieser ganzen Zeit fiel es mir auf, daß mein Vetter dritten +Grades, Misintschikoff, der sich etwas abseits niedergelassen hatte, +ruhig und stumm auf seinem Stuhle saß und selbst dann nicht einmal +lächelte, als alle lachten. Er trank seinen Tee, blickte philosophisch +auf das ganze Publikum und war mehr als einmal im Begriff – gleichsam in +einem Anfall unerträglicher Langeweile – die Lippen zu spitzen und vor +sich hinzupfeifen, wahrscheinlich aus alter Angewohnheit, doch besann er +sich immer noch rechtzeitig. Gleichzeitig fiel mir auf, daß Obnoskin, +der meinen Onkel zum besten hatte und sich auch über mich lustig machte, +diesen Misintschikoff kaum anzusehen wagte. Auch bemerkte ich, daß +dieser, mein schweigsamer Vetter dritten Grades, des öfteren zu mir +herübersah und es sogar mit offenkundigem Interesse tat, als hätte er +genau feststellen wollen, was für ein Mensch ich eigentlich sei. + +„Ich bin überzeugt,“ ertönte da plötzlich die Stimme Frau Obnoskins, +„ich bin fest überzeugt, ^monsieur Serge^ – so war’s doch, wenn ich mich +nicht irre? – daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Damenfreund +gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele junge +Leute, die sich vor jeder Damengesellschaft scheuen. Meiner Ansicht nach +sind das aber nur Freigeister. Ich werde mich nie dazu verstehen, diese +Tatsache anders aufzufassen: sie ist nichts als unverzeihliches +Freigeistertum. Und darum will ich es Ihnen unverhohlen sagen: es +wundert mich, es wundert mich, junger Mann, es wundert mich über alle +Maßen! ...“ + +„Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt,“ antwortete ich +eifrig. „Aber das hat ... wenigstens denke ich so, nichts zu sagen ... +Ich lebte dort, das heißt, ich hatte mir dort ein Zimmer gemietet ... +aber das hat nichts auf sich, ich versichere Sie. Ich werde mir alle +Mühe geben, mit Damen bekannt zu werden; bis jetzt habe ich allerdings +nur zu Hause gesessen.“ + +„Und hast dich mit der Wissenschaft beschäftigt,“ bemerkte mein Onkel, +ersichtlich stolz darauf. + +„Ach, Onkel, – Onkel mit seiner Wissenschaft ... Stellen Sie sich nur +vor,“ fuhr ich sehr mitteilsam und mit liebenswürdigem Lächeln fort, +mich wieder an Frau Obnoskin wendend, „mein lieber Onkel ist von der +Wissenschaft dermaßen eingenommen, daß er irgendwo auf der Landstraße +einen wundertätigen, praktizierenden Philosophen, einen gewissen Herrn +Korowkin, entdeckt hat: und sein erstes Wort, das er mir heute nach so +langen Jahren der Trennung sagte, war, daß er diesen phänomenalen +Zauberer mit, man kann wohl sagen, krampfhafter Ungeduld erwarte ... +selbstverständlich nur aus Liebe zur Wissenschaft ...“ + +Und ich lachte leise, in der Hoffnung, allgemeines Gelächter als Lob +meiner geistreichen Mitteilung hervorzurufen. + +„Wen? Von wem spricht er?“ fragte schroff die Generalin, die sich wieder +nur an die Perepelizyna wandte. + +„Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte, Leute, die sich auf der +großen Landstraße umhertreiben und von ihm aufgesammelt werden,“ +berichtete schadenfroh die alte Jungfer. + +Mein Onkel wußte zuerst nicht recht, was er dazu sagen sollte. + +„Ach ja, richtig! Ich hatte es ganz vergessen!“ rief er aus – warf mir +aber einen Blick zu, in dem doch ein gewisser Vorwurf lag. „Ich erwarte +Herrn Korowkin. Ein Mann der Wissenschaft, einer, der unser Jahrhundert +überleben wird ...“ + +Er brach ab und verstummte. Die Generalin hatte wieder einmal mit der +Hand gewinkt (das bedeutete, daß sie ihn nicht mehr anhören wollte), und +zwar diesmal so glücklich, daß sie die Tasse traf, die auf dem Fußboden +klirrend zerschlug. Es folgte eine allgemeine Aufregung. + +„Das tut sie immer, wenn sie sich ärgert,“ raunte mir mein Onkel zur +Erklärung ins Ohr. „Aber nur wenn sie sich ärgert ... Du, Freund, sieh +nicht hin, bemerke es nicht, sieh zur Seite ... Aber, warum hast du das +von Korowkin gesagt? ...“ + +Doch ich blickte ohnehin schon zur Seite: ich hatte den Blick der +Erzieherin aufgefangen, und es schien mir, daß in ihm mehr als ein +Vorwurf, ja sogar etwas wie Verachtung lag. Röte des Unwillens brannte +auf ihren blassen Wangen. Ich begriff ihren Blick. Ich erriet, daß ich +durch meinen kleinmütigen, häßlichen Versuch, meinen Onkel lächerlich zu +machen, um auf diese Weise wenigstens etwas von der eigenen +Lächerlichkeit abzuwälzen, nicht gerade die Sympathie dieses Mädchens +errungen hatte. Ich vermag nicht zu sagen, wie sehr ich mich schämte! + +„Aber ich will mit Ihnen von Petersburg sprechen,“ begann Anfissa +Petrowna Obnoskina von neuem, kaum daß sich die Aufregung, die von der +zerschlagenen Tasse hervorgerufen worden war, etwas gelegt hatte. „Ich +denke mit einem solchen Vergnügen, kann ich sagen, an unser Leben in +dieser bezaubernden Residenz zurück ... Wir waren damals sehr nah +bekannt mit einem Hause ... weißt du noch ^Paul^?“ (Die Dame nannte +ihren Sohn Pawel stets französisch „Poll“ und mich statt Ssergei +Alexandrowitsch, „^monsieur Serge^“.) „General Polowizyn ... Ach, wenn +Sie wüßten, was für ein bezauberndes, be–zau–berndes Wesen die Generalin +war! Und sie können sich ja denken, dieser Aristokratismus, ^beau +monde^! ... Sagen Sie: Sie sind ihnen doch wahrscheinlich begegnet? ... +Glauben Sie mir, ich habe Sie hier mit Ungeduld erwartet: ich hoffte, +durch Sie hier vieles, vieles von unseren Petersburger Freunden zu +erfahren ...“ + +„Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Lage ... entschuldigen Sie +... Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nur sehr selten in +Gesellschaft gewesen bin, und ich kann nur hinzufügen, daß ich einen +General Polowizyn überhaupt nicht kenne, ich habe nicht einmal den Namen +gehört,“ antwortete ich nervös, da meine ganze Liebenswürdigkeit +plötzlich in eine sehr gereizte und ärgerliche Stimmung umgeschlagen +war. + +„Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!“ bemerkte wieder stolz mein +unverbesserlicher Onkel. „Das ist doch, Freund, die Wissenschaft, die da +so – verschiedene kleine Steinchen sammelt, nicht? Die Mineralogie?“ + +„Ja, Onkel, Steine ...“ + +„Hm ... Es gibt doch viele Wissenschaften, und alle sind sie nützlich! +Ich aber, Freund, um die Wahrheit zu sagen, wußte nicht einmal, was das +eigentlich ist, diese ganze Mineralogie! Habe nur so irgendwo die +Glocken mal läuten gehört. Weißt du, in den anderen Dingen – da geht es +noch zur Not; aber was die Wissenschaft anbetrifft, da bin ich dumm – +gebe es ganz offen zu.“ + +„Sie geben es ganz offen zu?“ fragte ironisch Obnoskin. + +„Papachen!“ rief Ssaschenjka dazwischen und sah vorwurfsvoll ihren Vater +an. + +„Was, Liebling? Ach, mein Gott, ich unterbreche Sie immer, Anfissa +Petrowna,“ entschuldigte er sich, da er Ssaschenjkas Ausruf +mißverstanden hatte, „verzeihen Sie mir, um Gottes willen!“ + +„Oh, beunruhigen Sie sich nicht!“ wehrte Anfissa Petrowna mit sauersüßem +Lächeln ab. „Ich habe ja Ihrem Neffen auch schon alles gesagt und kann +nur noch hinzufügen, ^monsieur Serge^ – so war’s doch, wenn ich mich +nicht irre? –, daß Sie sich unbedingt bessern müssen. Ich bin überzeugt, +daß die Wissenschaft, die Kunst ... die Bildhauerkunst zum Beispiel ... +mit einem Wort, daß alle diese hohen Ideen ihre sozusagen be–rau–schende +Seite haben, aber niemals werden sie die Damen ersetzen! ... Die Frauen, +die Frauen, junger Mann, werden Sie bilden, und deshalb ist es ohne sie +unmöglich, unmöglich, junger Mann, ganz un–möglich!“ + +„Unmöglich, unmöglich!“ ertönte schon wieder die etwas schreiende Stimme +Tatjana Iwanownas. „Hören Sie,“ begann sie darauf in kindlicher Hast +(natürlich errötete sie wieder), „hören Sie, ich will Sie etwas fragen +...“ + +„Wie beliebt?“ fragte ich und sah sie aufmerksam an. + +„Ich wollte Sie fragen: werden Sie lange hier bleiben?“ + +„Ich weiß es nicht, – je nach den Verhältnissen.“ + +„Nach den Verhältnissen! Was können denn das für Verhältnisse sein? ... +O, Sie Tor!“ + +Und Tatjana Iwanowna verbarg ihr heiß errötendes Gesicht hinter ihrem +Fächer, beugte sich dann zur Erzieherin und begann sofort, ihr eifrig +etwas zuzuflüstern. Plötzlich lachte sie auf und schlug vergnügt in die +Hände. + +„Warten Sie, warten Sie!“ rief sie mir zu, sich eilig von ihrer +Vertrauten wieder abwendend, als hätte sie gefürchtet, ich könnte +fortgehen, „hören Sie, wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde? Sie ähneln +auffallend, auffallend einem jungen Menschen, einem be–zau–bernden +jungen Menschen! ... Ssaschenjka, Nastenjka, wißt ihr noch? Er gleicht +doch auffallend jenem Toren – weißt du noch, Ssaschenjka? Wir fuhren +spazieren und begegneten ihm ... zu Pferde, in einer weißen Weste ... er +richtete noch sein Lorgnon auf mich, der Unverschämte! Wißt ihr noch, +ich schlug meinen Schleier vors Gesicht, hielt es dann aber doch nicht +aus, beugte mich aus dem Wagen und rief ihm ein ‚Sie Unverschämter!‘ +nach. Und dann warf ich mein Bukett auf die Landstraße ... Entsinnen Sie +sich dessen noch, Nastenjka?“ + +Und das halb geistesgestörte Mädchen, das von Männern nie gleichmütig +sprechen konnte, bedeckte das Gesicht mit den Händen ... – Plötzlich +sprang sie auf, lief zum Fenster, riß dort von einem Rosenstock eine +Blüte ab, warf sie mir zu – die Blüte fiel in meiner Nähe hin – und lief +aus dem Zimmer. Wir hatten das Nachsehen! Diesmal aber war man doch +etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn auch die Generalin, ganz wie +das erstemal, ihre Ruhe nicht verlor. Anfissa Petrowna war nicht +erstaunt, aber sie sah jetzt besorgt aus und blickte kummervoll ihren +Sohn an. Die übrigen Damen erröteten, und „^Paul^“ Obnoskin erhob sich +von seinem Platz und trat, mit einem mir damals ganz unverständlichen +geärgerten Ausdruck, ans Fenster. Mein Onkel versuchte, mir verstohlen +einige Zeichen zu machen; doch in dem Augenblick trat ein fremder Mensch +ins Zimmer und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. + +„Ah! Da ist ja auch Jewgraf Larionytsch! Du kommst ja wie gerufen!“ rief +ihm mein Onkel, unbeschreiblich erfreut, entgegen. „Nun, was, Freund, +geradenwegs aus der Stadt?“ + +„Na, das sind mir mal eigenartige Wesen! Es scheint fast, daß sie alle +mit Absicht hier versammelt worden sind!“ dachte ich bei mir im stillen, +da ich noch nicht recht begriff, was ich sah und hörte, und – +selbstverständlich – ohne zu ahnen, daß ich die Sammlung dieser +Sonderlinge durch mein Erscheinen unter ihnen noch um ein Exemplar +vermehrt hatte. + + + + + V. + + Jeshowikin. + + +Ins Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drehte sich durch die Tür +(obgleich die Tür sehr breit war) eine Figur, die bereits auf der +Schwelle Bücklinge machte, grüßte und lächelte, während die Augen mit +ungeheuerem Interesse alle Anwesenden eilig musterten. Es war das ein +kleiner, alter Mann, pockennarbig, mit einer großen Glatze, mit flinken, +klugen Äuglein und mit einem unbestimmbaren, feinen Lächeln auf den +ziemlich dicken Lippen. Er trug einen Frack, der recht abgetragen aussah +und wahrscheinlich für einen anderen gemacht war. Ein Knopf baumelte nur +noch an einem Faden, zwei oder drei Knöpfe fehlten ganz. Die zerrissenen +Stiefel und die schmierige Mütze stimmten mit dem übrigen Anzug durchaus +überein. In der rechten Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes +Schnupftuch, das er ersichtlich schon oft benutzt hatte, und mit dem er +sich jetzt den Schweiß von Stirn und Schläfen wischte. Zufällig bemerkte +ich, daß die Erzieherin ein wenig errötete und mich flüchtig ansah. Ja, +es schien mir sogar, daß in diesem Blick gleichsam Stolz und eine +gewisse Herausforderung lagen. + +„Geradenwegs aus der Stadt, mein verehrter Wohltäter! Geradenwegs von +dort, mein Vater! Werde alles erzählen, erlauben Sie nur, daß ich zuerst +meine Ehrerbietung bezeuge,“ sagte das eingetretene alte Männlein und +begab sich schnurstracks zur Generalin, blieb aber dann doch auf halbem +Wege stehen und wandte sich von neuem an meinen Onkel. + +„Sie geruhen ja doch meinen Hauptcharakterzug bereits zu kennen, +verehrter Wohltäter: ein Lump bin ich, ein echter Lump! Pflege ich doch, +sobald ich über die Schwelle trete, sofort die Hauptperson des Hauses +aufzusuchen und zuerst meine Schritte zu ihr zu lenken, um mittels +dieses Schrittes alsogleich Gnade und Gunst und Vorteil zu erlangen. Ein +Lump, Väterchen, wie gesagt, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie +gnädigst, Exzellenz, den Saum Ihres Gewandes zu küssen; denn mit meinen +Lippen würde ich Ihr goldenes Händchen, das hochwohlgeborene, nur +entweihen.“ + +Die Generalin reichte ihm zu meinem Erstaunen ihre Hand – und tat es +sogar noch ziemlich gnädig. + +„Und auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich meinen Diener,“ fuhr er +fort, indem er sich vor Fräulein Perepelizyna verneigte. „Nichts zu +wollen, mein gnädiges Fräulein: bin ein Lump! Schon im Jahre 1841 war es +ausgemacht, daß ich ein Lump sei, als ich aus dem Dienst ausgeschlossen +wurde, gerade damals, als Valentin Ignatjitsch Tichonzeff zum +Hochwohlgeborenen avancierte: den Assessor erhielt. Tatsächlich, er kam +unter die Assessoren und ich unter die Lumpen. Aber ich bin nun einmal +so aufrichtig geboren, daß ich alles eingestehe. Was soll man machen! +Versuchte es, ehrlich zu leben, versuchte es, jawohl – jetzt aber muß +man es anders anstellen. Alexandra Jegorowna, unser verzuckertes +Äpfelchen,“ fuhr er fort und ging um den Tisch herum, um sich vor +Ssaschenjka zu verbeugen, „erlauben Sie mir, einen Zipfel Ihres +Kleidchens zu küssen, – Sie, Fräuleinchen, duften ja wie Äpfelchen und +sämtliche Wohlgerüche der Welt. Dem Stammhalter, der morgen seinen +Namenstag feiert, gleichfalls meine Reverenz. Pfeil und Bogen habe ich +mitgebracht, habe selbst den ganzen Morgen daran geschnitzt ... meine +Kinderchen haben mir geholfen ... jawohl, später können wir schießen. +Zuerst aber muß man hübsch groß werden, dann kann man Offizier werden +und dem Türken den Kopf abschlagen. Tatjana Iwanowna ... ach, nicht +anwesend, wie ich sehe! Sonst würde ich den Saum auch ihres Kleides +küssen. Praskowja Iljinitschna, unser Hausmütterchen, kann mich bloß +nicht zu Ihnen durchzwängen, anderenfalls würde ich Ihnen nicht nur Ihre +Händchen, sondern auch Ihre Füßchen küssen – jawohl! Anfissa Petrowna, +bezeuge hiermit meine verschiedentlichste Achtung. Noch heute habe ich +für Sie zu Gott gebetet, meine Wohltäterin, sogar kniend und tränenden +Auges, und desgleichen für Ihren Herrn Sohn, damit Gott der Herr ihm +alle notwendigen Titel und Talente beschere – namentlich Talente, wie +gesagt! Bei der Gelegenheit entrichte ich auch Ihnen, Iwan Iwanytsch +Misintschikoff, meinen untertänigsten Ehrensold. Möge der Herr Ihnen +alles zukommen lassen, was Sie sich selbst wünschen; denn es dürfte +schwierig sein, richtig zu erraten, was Sie sich selbst wünschen: +schweigsam wie Sie sind und – aber das schadet nichts ... Guten Tag, +Nastjä! alle Krabben lassen dich grüßen, reden jeden Tag von dir. Und +jetzt dem Hausherrn meine tiefste Verbeugung. Komme aus der Stadt, Euer +Gnaden, schnurstracks aus der Stadt. Und das da ist wahrscheinlich Ihr +Neffe, der in der Gelehrtenschule erzogen worden ist, nicht wahr? Meinen +ergebensten Gruß, junger Herr. Ihre Hand, wenn ich bitten darf.“ + +Man lachte. Es war klar, daß der Alte freiwillig die Rolle eines +Spaßvogels spielte, über den ein jeder lachen durfte. Schon sein +Erscheinen erheiterte die ganze Gesellschaft. Die meisten verstanden +dabei seine Sarkasmen überhaupt nicht. Er aber verschonte fast keinen +einzigen mit ihnen. Nur die Erzieherin, die er – ich wunderte mich nicht +wenig darüber – kurzweg Nastjä nannte, errötete und blieb ernst. + +Ich zog unwillkürlich meine Hand etwas zurück, doch darauf hatte der +Alte offenbar nur gewartet. + +„Ich will sie Ihnen ja nur drücken, mein Bester, vorausgesetzt, daß Sie +es erlauben – nicht aber küssen. Oder glaubten Sie wirklich, daß ich sie +küssen wollte? Nein, mein Lieber, vorläufig wollte ich sie nur drücken. +Sie halten mich wohl für so einen herrschaftlichen Narren?“ fragte er +mich plötzlich mit spöttischem Lächeln in den Augen. + +„N–ein, wieso ... wie sollte ich ...“ + +„Doch, doch, Verehrtester! Wenn ich ein Narr bin, so ist es ein gewisser +anderer hier auch. Sie aber können mich noch mit ruhigem Gewissen +achten: ein solcher Lump, wie Sie glauben, bin ich denn doch noch nicht. +Übrigens, genau genommen – warum soll ich kein Narr sein? Ich bin ein +Sklave, meine Frau ist eine Sklavin. Schmeichle, schmeichle! Jawohl! +Etwas gewinnt man dabei doch, und wenn’s auch nur zur Milch für die +Kinderchen reicht. Zucker, Zucker streu nur überall aus, dann wird es +besser gehen. Das sage ich Ihnen, Verehrtester, nur so unterm Siegel der +Verschwiegenheit – vielleicht wird diese Methode auch Ihnen einmal +zustatten kommen. Fortuna hat mich auf dem Gewissen, mein Bester, +deshalb bin ich auch ein Narr.“ + +„Ha–ha–ha! Was dieser Alte doch für ein Spaßvogel ist! Immer bringt er +einen zum Lachen!“ meinte, gut aufgelegt, Anfissa Petrowna Obnoskina. + +„Meine gnädigste Wohltäterin, als Dummkopf kommt man besser durch die +Welt! Hätte ich das früher gewußt, so hätte ich mich von Kindheit an +unter die Dummen begeben – dann könnte ich jetzt klug sein. Da ich aber +in der Jugend klug sein wollte, muß ich jetzt im Alter dumm sein.“ + +„Sagen Sie doch, bitte,“ mischte sich Obnoskin ein (dem wahrscheinlich +die Bemerkung bezüglich der „Talente“ nicht gefallen hatte), nahm +zugleich auf seinem Lehnstuhl eine sehr selbstbewußte Pose an und +betrachtete den Alten durch sein Einglas, als hätte er ihn wie einen +Bazillus unter der Lupe, „sagen Sie doch, bitte, ... ich vergesse immer +Ihren Namen ... verdammt, wie war er doch?“ + +„Ach, mein Väterchen! Mein Familienname ist ja alles in allem +Jeshowikin, aber was nützt das schließlich? Da bin ich nun schon das +neunte Jahr ohne Anstellung – lebe nur noch dank dem ... Naturgesetz. +Dabei habe ich Kinder, Kinder, mehr als nötig! Ganz nach dem Sprichwort: +‚der Reiche hat – Kälber, der Arme – Kinder‘ ...“ + +„Nun, ja, schön ... Kälber ... das gehört übrigens nicht hierher, davon +später. Aber hören Sie, ich wollte Sie etwas fragen: warum sehen Sie, +wenn Sie eintreten, immer – sozusagen – zurück? Das wirkt sehr komisch.“ + +„Warum ich zurücksehe? Weil es mir immer scheint, daß mich jemand hinter +mir mit der flachen Hand platt schlagen will, wie eine Fliege, jawohl, +und deshalb sehe ich mich immer nach rückwärts um. Bin allem Anschein +nach monomanisch geworden, mein Bester.“ + +Wieder lachten alle. Nur die Erzieherin erhob sich und schien das Zimmer +verlassen zu wollen, sank dann aber doch wieder auf ihren Platz zurück. +In ihrem Gesicht war ein kranker, leidender Zug trotz der Röte, die auf +ihren Wangen brannte. + +„Weißt du auch, Freund, wer das ist?“ fragte mich mein Onkel heimlich. +„Das ist ihr Vater.“ + +Ich sah ihn mit weit offenen Augen an. Den Namen Jeshowikin hatte ich +ganz und gar vergessen. Ich hatte mich als Ritter gefühlt, hatte während +der ganzen Reise nur an meine Zukünftige gedacht und großmütige Pläne +geschmiedet, und dennoch ihren Familiennamen vergessen, oder richtiger, +ihm von Anfang an überhaupt keine Beachtung geschenkt. + +„Wieso, ihr Vater?“ fragte ich gleichfalls flüsternd. „Aber sie ist +doch, denke ich, Waise?“ + +„Ihr Vater, Freund, ihr Vater. Und weißt du, der ehrlichste und +anständigste Mensch der Welt – trinkt nicht mal. Nur spielt er +freiwillig den Spaßvogel. Entsetzliche Armut, weißt du, acht Kinder! +Leben nur von Nastenjkas Gehalt. Aus dem Dienst ist er wegen seiner +scharfen Zunge entlassen worden. Er kommt in jeder Woche einmal her. Und +stolz ist er, – für keinen Preis wird er etwas annehmen. Ich habe ihm +oft geben wollen, – er nimmt aber nichts an. Ein verbitterter Mensch!“ + +„Na also, mein alter Jewgraf Larionytsch, was gibt es denn dort bei euch +Neues?“ fragte mein Onkel und schlug ihm kameradschaftlich mit der Hand +auf die Schulter, da er bemerkt hatte, daß dem mißtrauischen Alten unser +heimliches Gespräch nicht entgangen war. + +„Was soll es Neues geben, mein Wohltäter? Valentin Ignatjitsch hat +gestern ein Schreiben eingereicht, in der Trischin-Affäre. Es hat sich +herausgestellt, daß bei ihm nicht das volle Quantum Mehl zur Stelle war. +Das ist, meine Gnädigste, jener selbe Trischin, der, wenn er einen +ansieht, genau so aussieht, als bliese er einen Samowar an. Vielleicht +geruhen Sie, sich seiner noch zu erinnern? Und so hat denn Valentin +Ignatjitsch von diesem Trischin zu den Alten gegeben: ‚Wenn der oft +genannte Trischin,‘ schreibt er, ‚nicht einmal die Ehre seiner +leiblichen Nichte zu wahren gewußt hat – denn diese ist vor einem Jahr +mit einem Offizier losgegangen, – wie sollte er dann,‘ schreibt er, +‚Kronseigentum aufzubewahren wissen?‘ Das hat er tatsächlich so in +seinem Schreiben gesagt – bei Gott, ich lüge nicht.“ + +„Pfui, was Sie für Geschichten erzählen!“ rief Anfissa Petrowna Obnoskin +verächtlich aus. + +„Ja ja, diesmal hast du dich etwas verhauen, Freund Jewgraf!“ pflichtete +ihr mein Onkel schnell bei. „Ei, ei, du wirst noch wegen deiner Zunge +viel Ungemach erleben. Ich weiß, du bist ein offener, ehrlicher, +edelmütiger Mensch – das kann ich bestätigen – aber deine Zunge ist +gefährlich! Ich wundere mich, wie es kommt, daß du mit ihnen dort nicht +in Frieden leben kannst. Sie sind doch, glaube ich, gute, einfache +Menschen ...“ + +„Mein Vater und Wohltäter! Aber den einfachen Menschen – den fürchte +ich ja gerade!“ rief der Alte mit einer ganz eigenartigen +Leidenschaftlichkeit aus. + +Die Antwort gefiel mir. Ich trat schnell entschlossen auf ihn zu und +drückte ihm fest die Hand. Um die Wahrheit zu sagen, wollte ich nur mit +irgend etwas gegen die allgemeine Meinung protestieren, indem ich dem +Alten offen meine Zuneigung bewies. Vielleicht aber – wer weiß! – +vielleicht wollte ich nur in der Meinung Nastassja Jewgrafownas, der +Erzieherin, etwas gewinnen. Doch aus meiner plötzlichen Handlungsweise +wurde, genau genommen, nichts allzu Gescheites. + +„Gestatten Sie eine Frage,“ sagte ich, wie gewöhnlich errötend und mich +überhastend, „haben Sie von den Jesuiten gehört?“ + +„Nein, mein Bester, nichts, oder nur so ein wenig, dies und jenes ... wo +soll unsereiner was hören! ... Aber was ist mit ihnen?“ + +„Ich meinte nur so ... ich wollte, da das Gespräch darauf kam, nur +erzählen ... Übrigens, erinnern Sie mich daran bei Gelegenheit. Jetzt +aber ... seien Sie überzeugt, daß ich Sie verstehe und ... zu schätzen +weiß ...“ + +In meiner hilflosen Verwirrung drückte ich ihm noch einmal die Hand. + +„Unbedingt, mein Verehrtester, unbedingt werde ich Sie daran erinnern! +Werde es mir mit goldenen Lettern ins Gedächtnis schreiben. Warten Sie, +wenn Sie erlauben, werde ich mir noch schnell einen Knoten ins +Schnupftuch binden, damit ich’s nicht vergesse.“ + +Und in der Tat suchte er an seinem schmutzigen Taschentuch ein trockenes +Eckchen, das er dann eifrig zum Knoten schlang. + +„Jewgraf Larionytsch, hier ist Ihr Tee,“ sagte Praskowja Iljinitschna. + +„Sofort, meine schönste Dame, sofort, ... will sagen, Prinzessin, meine +schönste Prinzessin ... nicht nur Dame! Das wäre für den Tee. Bin +unterwegs Herrn Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff begegnet, meine +Gnädigste! Er war bei so guter Laune, daß Gott erbarm! Ich glaubte +schon, daß er auf Freiersfüßen ging ... Schmeichle, schmeichle!“ sagte +er dann halblaut zu mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorüberging, +mir zublinzelte und sein ganzes Gesicht verzog. „Aber woran liegt es +denn, daß man den Hauptwohltäter, unseren Foma Fomitsch, heute nicht zu +sehen bekommt? Wird er denn nicht zum Tee erscheinen?“ + +Mein Onkel zuckte zusammen, als wäre er gestochen worden, und warf einen +scheuen Blick auf die Generalin. + +„Ich ... ich weiß wirklich nicht,“ antwortete er unentschlossen und +eigentümlich befangen. „Er ist gerufen worden, aber er ... Ich weiß es +wirklich nicht, vielleicht fühlt er sich nicht aufgelegt ... Ich habe +schon Widopljässoff geschickt ... und ... oder soll ich vielleicht +selbst gehen?“ + +„Ich war soeben bei ihm,“ bemerkte Jeshowikin vielsagend. + +„Wirklich?“ fragte mein Onkel erschrocken. „Nun, und?“ + +„Ging zuerst zu ihm, um ihm meine Ehrerbietung zu beweisen. Er sagte, +daß er sich in der Einsamkeit am Tee laben würde, und dann fügte er noch +hinzu, daß er sich auch von trockenen Brotrinden nähren könne, – genau +so waren seine Worte!“ + +Diese Worte erfüllten meinen Onkel, wie es schien, mit wahrem Entsetzen. + +„Aber so hättest du es ihm doch erklären sollen, Jewgraf Larionytsch! +Hättest es ihm doch auseinandersetzen sollen!“ sagte er, indem er den +Alten traurig und vorwurfsvoll zugleich ansah. + +„Ich hab’ ihm ja auch gesagt, hab’ geredet ...“ + +„Nun?“ + +„Lange geruhte er mir nicht zu antworten. Er saß über einer +mathematischen Aufgabe, berechnete etwas: offenbar eine Aufgabe zum +Kopfzerbrechen. Zeichnete vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras auf, +sah es selbst ganz genau. Dreimal wiederholte er dasselbe, erst beim +vierten geruhte er das Haupt zu erheben – und da war’s, als sähe er mich +überhaupt zum erstenmal. ‚Ich werde nicht gehen,‘ sagte er, ‚dort ist ja +jetzt ein _Gelehrter_ angekommen, wie sollen wir noch neben einer +solchen Leuchte Platz finden!‘ Genau so geruhte er sich auszudrücken: +‚neben einer solchen Leuchte‘.“ + +Und der Alte blickte mich von der Seite mit feinem Spott an. + +„Das ahnte ich ja!“ rief mein Onkel verzweifelt aus, „das konnte ich mir +ja denken! Das hat er von dir gesagt, Ssergei, dich hat er damit gemeint +– mit dem ‚Gelehrten‘! Was nun?“ + +„Ich muß gestehen, Onkel,“ sagte ich mit einem Achselzucken und +möglichst unbekümmert, „ich finde diese Begründung seiner Absage so +lächerlich, daß sie es wirklich nicht wert ist, beachtet zu werden, und +daher wundere ich mich, offen gestanden, über Ihre Bestürzung.“ + +„Aber ach, Freund, was weißt du davon, das kannst du nicht beurteilen!“ +unterbrach mich mein Onkel und wehrte mit energischer Handbewegung jeden +weiteren Einwand ab. + +„Jetzt ist es zu spät, zu trauern,“ mischte sich plötzlich Fräulein +Perepelizyna ein, „wenn alles Böse von Ihnen selbst, Jegor Iljitsch, +ausgegangen ist. Wenn einem der Kopf abgeschlagen ist, so trauert man +nicht mehr um die Haare. Hätten Sie Ihrem Mütterchen gehorcht, so würden +Sie jetzt nicht weinen.“ + +„Aber um Gottes willen, wieso bin ich denn daran schuld? Haben Sie doch +ein wenig Angst vor Gott, Anna Nilowna!“ bat mein Onkel mit so flehender +Stimme, als wolle er sie bitten, sein Liebesgeständnis anzuhören. + +„Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber es kommt doch alles nur daher, +daß Sie egoistisch sind und Ihre leibliche Mutter nicht lieben,“ +antwortete Fräulein Perepelizyna würdevoll. „Was hatten Sie für einen +Grund, gleich von vornherein ihren Willen zu mißachten? Sie ist doch +Ihre Mutter. Und ich werde Ihnen nicht die Unwahrheit sagen. Ich bin +selbst die Tochter eines Majors ... und nicht nur irgend so eine!“ + +Es schien mir, daß die Perepelizyna sich einzig zu dem Zweck in das +Gespräch einmischte, um uns allen, und namentlich mir, dem +Neuangekommenen, zu wissen zu geben, daß sie selbst die Tochter eines +Majors sei und nicht nur „irgend so eine“. + +„Ja, das kommt daher, daß er seine Mutter beleidigt!“ sagte endlich +drohend die Generalin. + +„Aber Mama, erbarmen Sie sich! Wann beleidige ich Sie denn? Und warum?“ + +„Weil du ein unverbesserlicher Egoist bist, Jegoruschka,“ fuhr die +Generalin fort, die sich durch die eigenen Worte gleichsam hinreißen +ließ. + +„Mama, aber Mama! Wann bin ich denn ein solcher Egoist gewesen?“ rief +mein Onkel verzweifelt aus. „Seit fünf Tagen, seit ganzen fünf Tagen +sind Sie mir böse und wollen kein Wort mit mir sprechen! Und weshalb +nicht? Was habe ich verbrochen? Möge man mich doch richten, mag die +ganze Welt mich richten! Aber man soll doch auch meine Rechtfertigung +anhören! Ich habe lange geschwiegen, Mama. Sie wollten mich nie anhören. +Mögen nun fremde Menschen mich anhören. Anfissa Petrowna! Pawel +Ssemjonytsch, mein bester Pawel Ssemjonytsch! Ssergei, du mein einziger +Freund! Du bist hier ein Unbeteiligter, bist sozusagen nur ein +Zuschauer, du kannst unvoreingenommen urteilen ...“ + +„Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, um Gottes willen beruhigen Sie +sich,“ fiel Anfissa Petrowna Obnoskina energisch ein, „töten Sie nicht +Ihre Mutter!“ + +„Ich töte nicht meine Mutter, Anfissa Petrowna, aber hier ist meine +Brust, – zerreißen Sie sie!“ fuhr mein Onkel fort, aufs äußerste erregt, +wie das zuweilen mit Menschen geschieht, die einen schwachen Charakter +haben, wenn man die Grenze überschreitet und ihre letzte Geduld endlich +einmal „reißt“, wie man zu sagen pflegt. Doch ihre Heftigkeit vergeht +gewöhnlich ebenso schnell, wie ein Strohfeuer verbrennt. Und so war es +auch hier. „Ich will nur sagen,“ fuhr mein Onkel fort, „ich will nur +sagen, Anfissa Petrowna, daß ich keinen beleidige. Ich bin der erste, +der da sagt, daß Foma Fomitsch der edelste, ehrlichste Mensch ist und +zum Überfluß auch noch ein Mensch von höchster Begabung; aber ... aber +in diesem Fall hat er – unrecht an mir gehandelt.“ + +„Hm!“ machte Pawel Obnoskin, wie um meinen Onkel noch mehr zu reizen. + +„Pawel Ssemjonytsch, ums Himmels willen, Pawel Ssemjonytsch! Glauben Sie +denn wirklich, daß ich sozusagen ein gefühlloser Pfosten bin? Sehe ich +doch, begreife ich doch – mit wehem Herzen, kann man sagen, fühle ich es +–, daß alle diese Mißverständnisse nur _seiner übergroßen Liebe_ zu mir +entspringen. Aber sagen Sie, was Sie wollen, diesmal ist er dennoch im +Unrecht. Ich werde alles erzählen. Ich will jetzt, Anfissa Petrowna, den +ganzen Sachverhalt klarlegen, ganz ausführlich, damit alle sehen, wie es +gekommen ist, und ob meine Mutter recht tut, wenn sie mir deshalb böse +ist, weil ich Foma Fomitschs Wunsch nicht erfüllt habe. Auch du hör mich +an, Sserjosha,“ fügte er hinzu, sich zu mir wendend, was er übrigens +während seiner ganzen Erzählung wiederholt tat, und zwar so, als hätte +er die anderen Zuhörer gefürchtet oder wenigstens an ihrem Mitgefühl +gezweifelt, – „hör auch du mich an und urteile dann, ob ich im Recht bin +oder im Unrecht. Sieh, die Sache begann so: vor einer Woche – ja, genau +vor einer Woche – fuhr hier durch unser Nachbarstädtchen mein früherer +Regimentskommandeur, General Russapetoff, mit seiner Gemahlin und +Schwägerin. Hielt sich eine Zeitlang auf. Ich war natürlich hocherfreut, +benutzte die Gelegenheit, fuhr hin, stellte mich vor und lud sie zu mir +zu einem Diner ein. Er sagte zu, er werde kommen, wenn es seine Zeit +irgendwie erlaubte. Weißt du, ein durch und durch edler Charakter, das +sage ich dir, Aristokrat, hoher Würdenträger! Und wieviel Gutes er getan +hat! Zum Beispiel seiner Schwägerin! Außerdem hat er eine Waise mit +einem vorzüglichen jungen Menschen verheiratet – jetzt ist derselbe Koch +in Malinowo, ein noch junger Mensch, aber mit einer, fast könnte man +sagen, Universitätsbildung! – Kurz, der Alte ist ein General unter den +Generälen! Nun, bei uns, versteht sich, gab’s viel zu tun, Gepolter +und Geklapper, Köche, Frikassees. Ich bestelle Musik. Nun, +selbstverständlich bin ich guter Laune, freue mich und sehe aus wie ein +Geburtstagskind. Das aber gefiel Foma Fomitsch nicht, daß ich wie ein +Geburtstagskind aussah! Er saß bei Tisch – es wurde gerade sein +Lieblingsgericht, eines mit Sahne, gereicht, das weiß ich noch ganz +genau – er aber saß, schwieg, schwieg ... und plötzlich springt er auf: +‚Man beleidigt mich, man beleidigt mich!‘ schreit er. – ‚Aber wieso,‘ +frage ich, ‚wieso beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‘ – ‚Sie,‘ sagt +er, ‚Sie vernachlässigen mich jetzt, Sie beschäftigen sich jetzt nur mit +Generälen, Ihnen sind Generäle wertvoller und lieber als ich!‘ Ich gebe +die Szene jetzt selbstverständlich nur in kurzen Worten wieder, +sozusagen nur die springenden Punkte, nur das Wesen der Sache. Aber wenn +du zu hören wünschest, was er damals noch alles sagte, so ... nun, mit +einem Wort, er erschütterte meinen ganzen Menschen! Was soll man tun? +Ich bin natürlich ganz niedergeschmettert. Es hatte mich doch gar zu +sehr getroffen. Ich versinke wie ein nasser Hahn. Der feierliche Tag +bricht an. Da schickt der General die Nachricht, daß er leider +verhindert sei zu kommen: muß abreisen. Entschuldigt sich vielmals, – +also: es gibt nichts! Ich sofort zu Foma: ‚Nun, Foma,‘ sage ich, +‚beruhige dich! Er kommt nicht!‘ Aber was glaubst du? Er verzeiht mir +nicht. Mach, was du willst – er verzeiht nicht! ‚Man hat mich +beleidigt!‘ sagte er und dabei bleibt er. Ich rede. So und so. ‚Nein,‘ +sagt er, ‚gehen Sie zu Ihren Generälen. Ihnen liegen die Generäle näher +am Herzen als ich – Sie haben die Bande der Freundschaft,‘ sagt er, +‚zerrissen!‘ Großer Gott! Ich begreife ja doch, weshalb er sich ärgert! +Ich bin doch kein Holzklotz, kein Esel, kein Schaf! Er hat es doch nur +aus übergroßer Liebe zu mir getan, sozusagen aus Eifersucht – er sagt es +ja selbst, daß er auf den General eifersüchtig sei, meine Neigung zu +verlieren fürchte, mich prüfen und wissen wolle, was ich für ihn zu +opfern fähig und bereit wäre. ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich bin für Sie +gleichfalls ein General, bin gleichfalls – für Sie! – Exzellenz! Werde +mich nicht früher mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie mir die mir +zukommende Ehre erweisen.‘ – ‚Womit,‘ frage ich, ‚womit soll ich dir +denn meine Hochachtung – meine Höchstachtung ausdrücken, Foma Fomitsch?‘ +– ‚Nun, nennen Sie mich,‘ sagt er, ‚einen ganzen Tag nur Ew. Exzellenz, +damit werden Sie mir dann Ihre Hochachtung ausdrücken.‘ Ich fiel aus den +Wolken! Man kann sich meine Verwunderung denken! ‚Ja,‘ sagt er, ‚das +wird Ihnen als Lehre dienen, damit Sie sich hinfort nicht mehr für +Generäle begeistern, wenn auch andere vielleicht noch würdiger sind, als +alle Ihre Generäle zusammengenommen!‘ Na, da hielt ich es aber denn doch +nicht mehr aus, das muß ich gestehen! Gestehe es sogar ganz offen! ‚Foma +Fomitsch,‘ sagte ich, ‚ist denn das überhaupt möglich, was du verlangst? +Wie kann ich denn auf so etwas eingehen? Wie kann ich denn ... und habe +ich denn überhaupt das Recht, dich zum General, zur Exzellenz zu machen? +Denk doch nur, in wessen Macht allein das gelegt ist! Das wäre doch +sozusagen ein Attentat auf die Majestät des Gesetzes! Wie, wie soll ich +dich denn Ew. Exzellenz betiteln? Ein General dient doch seinem +Vaterlande: er gibt für dasselbe sein Leben im Kriege hin, er vergießt +sein Blut auf dem Felde der Ehre, er kämpft mit dem Feinde seines +Volkes! Und du verlangst nun, daß ich dir denselben Ehrentitel geben +soll, der nur ihm mit Recht zukommt?‘ Foma aber gab nicht nach! ‚Ich +werde dir alles zu Gefallen tun,‘ fuhr ich fort, ‚alles, was du nur +willst. Da hast du gewünscht, daß ich meinen Backenbart abnehme, da er +wenig patriotisch sei, – ich habe ihn abgenommen, habe zwar geseufzt, +aber habe ihn trotzdem abgenommen. Und mehr noch: ich werde alles, alles +tun, was du wünschst, nur verzichte auf diesen Generalstitel!‘ – ‚Nein,‘ +sagte er, ‚so werde ich mich nicht eher mit dir versöhnen, als bis man +mich Exzellenz nennt. Das wird,‘ sagte er, ‚Ihrer Moral zugute kommen: +es wird Ihren hoffärtigen Geist demütigen!‘ sagt er. Und nun ist es +schon eine Woche her, eine ganze Woche spricht er nicht mit mir, und +über jeden Besuch, wer es auch sei, ärgert er sich. Als er von dir +hörte, daß du gelehrt seist – es war meine Schuld: ich sagte es ganz +zufällig, als das Gespräch auf dich kam, so im Eifer, weißt du – da +sagte er, daß er nicht länger hier im Hause bleiben werde von dem +Augenblick an, in dem du das Haus betrittst. ‚Also bin ich jetzt in +euren Augen nicht mehr gelehrt!‘ sagt er. Und was wird es erst geben, +wenn er von Korowkin erfährt! Erbarm dich doch, urteile doch selbst, was +habe ich denn nun verbrochen? Soll ich mich denn wirklich entschließen, +ihn ‚Exzellenz‘ zu nennen? Wie soll man es denn aushalten in einer +solchen Lage? Und weshalb hat er denn heute den armen Bachtschejeff vom +Tisch fortgejagt? Nun schön, Bachtschejeff hat nicht die Astronomie +erfunden, aber auch ich hab es ja nicht und auch du hast es ja nicht +getan ... Nun also, aus welchem Grunde, weshalb, weshalb?“ + +„Eben aus dem Grunde, weil du neidisch bist, Jegoruschka,“ stieß die +Generalin durch die Zähne hervor. + +„Mutter!“ rief mein Onkel in seiner Verzweiflung aus, „Sie bringen mich +um meinen letzten Verstand! ... Sie sprechen ja nicht ihre eigenen Worte +– Sie sprechen ja fremde Worte nach, Mama! Ich werde zu guter Letzt nur +noch zu einem Balken, einem Laternenpfahl werden, aber nicht mehr Ihr +Sohn sein!“ + +„Ich habe gehört, Onkel,“ begann ich, noch ganz benommen von dem +Gehörten, „ich habe unterwegs von Herrn Bachtschejeff gehört – ich weiß +allerdings nicht, ob es sich so verhält –, daß Foma Fomitsch Ihren +Iljuscha um den bevorstehenden Namenstag beneide und nun behaupte, daß +morgen auch sein Namenstag sei. Ich gestehe, daß dieser merkwürdige +Charakterzug mich dermaßen in Erstaunen gesetzt hat, daß ich ...“ + +„Sein Geburtstag, Freund, sein Geburtstag ist morgen, nicht sein +Namenstag, nur sein Geburtstag!“ unterbrach mich mein Onkel eifrig. „Er +hat sich nur etwas anders ausgedrückt, aber er hat vollkommen recht: +morgen ist sein Geburtstag. Zuerst, Freund, sagte er wohl ...“ + +„Durchaus nicht sein Geburtstag!“ rief plötzlich Ssaschenjka dazwischen. + +„Wie denn nicht?“ fragte mein Onkel mit gesträubtem Haar. + +„Gar nicht sein Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach die Unwahrheit, um +sich selbst zu betrügen und Foma Fomitsch herauszureißen! Sein +Geburtstag war doch schon im März. – Sie wissen doch noch, wie wir am +Tage vorher zum Gottesdienst ins Kloster fuhren, und er keinen in der +Equipage in Frieden sitzen ließ: er schrie die ganze Zeit, daß das +_Kissen_ ihm die Seite _eingedrückt_ habe, und kniff dabei die anderen. +Tantchen hat er in seiner Wut zweimal gekniffen! Und dann, als wir am +Geburtstage zu ihm gingen, um zu gratulieren, da wurde er wieder wütend, +weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ‚Ihr wißt, daß ich Kamelien +liebe,‘ sagte er; ‚denn ich habe den Geschmack der vornehmen Welt, euch +aber ist es nicht der Mühe wert gewesen, für mich in der Orangerie +welche abzuschneiden, sie sind wohl zu schade gewesen für mich.‘ Und den +ganzen Tag war er eigensinnig und launisch wie ein ungezogener Bengel, +und wollte mit keinem von uns ein Wort sprechen! ...“ + +Ich glaube, selbst wenn eine Bombe mitten im Zimmer explodiert wäre, +hätte sie die Anwesenden doch nicht so erschreckt und aufgeregt, wie es +diese offene Empörung tat – und die Empörung wessen? – eines kleinen +Mädchens, dem sonst in der Anwesenheit der Großmutter nicht einmal laut +zu sprechen gestattet wurde! Die Generalin erhob sich, stumm vor +Verwunderung und Entrüstung zugleich, richtete sich kerzengerade auf und +sah ihr Enkeltöchterchen an, als traue sie ihren Augen nicht. Mein Onkel +wurde blaß. + +„So ein verzogenes Ding! Man will hier wohl die Großmutter mit Gewalt +umbringen!“ stieß die Perepelizyna wutzischend hervor. + +„Ssaschenjka, Ssaschenjka, besinne dich! Was ist mit dir, Ssaschenjka?“ +rief mein Onkel in höchster Erregung seiner Tochter zu, wußte aber +nicht, was er tun sollte. + +„Ich will nicht mehr schweigen, Papa!“ schrie Ssaschenjka, die plötzlich +vom Stuhl aufsprang und mit den Füßen trampelte. Ihre hübschen Augen +sprühten nur so vor Zorn. „Ich will nicht mehr schweigen! Wir haben alle +lange genug unter diesem Foma Fomitsch gelitten, unter eurem +schändlichem scheußlichen Foma Fomitsch! Denn Foma Fomitsch wird uns +alle zugrunde richten. Ihm wird ja nichts anderes vorgesungen, als daß +er brav und gut und edel und gelehrt und die Vereinigung aller Tugenden +der Welt sei, ein wahres Potpourri von Tugenden! Foma Fomitsch aber +glaubt wie ein Esel alles, was man ihm sagt! Es sind ihm so viel süße +Schüsseln vorgesetzt worden, daß ein anderer sich schämen würde, Foma +Fomitsch aber hat alles aufgegessen, was nur vor ihn hingesetzt worden +ist, und will immer noch mehr haben! Ihr werdet sehen, er wird uns alle +auffressen! Und schuld daran ist Papa! Schändlich, schändlich ist Foma +Fomitsch, das sage ich dreist und fürchte nichts! Er ist dumm, +eigensinnig, ein Schmutzfink ist er, ein niedriger, herzloser Mensch, +ein Tyrann, eine Klatschbase, ein erbärmlicher Lügner ... Ach, ich würde +ihn sofort, sofort hinausjagen, Papa aber vergöttert ihn, Papa ist ja +ganz vernarrt in ihn!“ + +Da ertönte ein „Ach!“ und die Generalin fiel in Ohnmacht – d. h. +behutsam auf das Sofa. + +„Oh, mein Täubchen, Agafja Timofejewna, mein Engel!“ flötete sofort +hilfsbereit Anfissa Petrowna Obnoskina, „nehmen Sie mein Flakon! Wasser, +schnell Wasser!“ + +„Wasser, Wasser!“ schrie nun auch mein Onkel. „Mama, Mamachen, beruhigen +Sie sich! Ich flehe Sie auf den Knien an, beruhigen Sie sich! ...“ + +„Man müßte Sie bei Brot und Wasser in ein dunkles Zimmer setzen ... +diese Menschenmörderin!“ schrie die Perepelizyna zitternd vor Wut +Ssaschenjka an. + +„Gut, ich werde nur von Brot und Wasser leben, ich fürchte mich nicht +davor!“ rief Ssaschenjka zur Antwort zurück, in heller Begeisterung. +„Ich verteidige nur meinen Papa! Mein Papa versteht nicht, sich selbst +zu verteidigen! Was ist euer Foma Fomitsch gegen meinen Papa, was ist +er? Er ißt Papas Brot und wagt es, Papa zu erniedrigen! Dieser +Unverschämte! Ich würde ihn in Stücke zerreißen, euren ganzen Foma +Fomitsch! Ich würde ihn zum Duell fordern und ihn auf der Stelle aus +zwei Pistolen mausetot schießen ...“ + +„Ssaschenjka, Ssaschenjka!“ flehte ihr Papa. „Noch ein Wort – und ich +bin verloren, unwiderruflich verloren!“ + +„Papachen!“ Ssaschenjka lief zu ihm hin, umarmte krampfhaft seinen Hals +und brach in Tränen aus. „Papachen! Sie guter, lieber, lustiger, kluger +Papa, wie können Sie sich nur so erniedrigen lassen! Wie können _Sie_, +_Sie_ sich diesem schändlichen, undankbaren Menschen so unterordnen, wie +können Sie sein Spielzeug sein und sich so lächerlich machen! Papachen, +mein gutes, goldenes Papachen! ...“ + +Da schluchzte sie auf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus +dem Zimmer. + +Die Aufregung war unbeschreiblich. Die Generalin lag in tiefer Ohnmacht. +Ihr Sohn, der fast vierzigjährige Oberst, kniete vor dem Sofa und küßte +ihre Hände. Fräulein Perepelizyna machte sich in der Nähe der Liegenden +zu schaffen und warf böse, doch triumphierende Blicke auf uns. Anfissa +Petrowna Obnoskina befeuchtete mit einem nassen Tuch die Schläfen der +Generalin und hantierte mit ihrem Flakon. Praskowja Iljinitschna +zitterte und weinte lautlos. Jeshowikin suchte einen Winkel, wo er sich +hätte verstecken können, und die Erzieherin stand bleich und wie +verloren vor ihrem Stuhl. Nur Misintschikoff, mein Vetter dritten +Grades, blieb, wie er war: er stand bloß auf, trat schweigend ans +Fenster und begann seelenruhig hinauszuschauen, ohne dem ganzen Vorgang +auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. + +Da erhob sich plötzlich die Generalin aus der Ohnmacht, sie erhob sich +auch vom Sofa, erhob sich und richtete sich sogar auf und maß mich mit +drohendem Blick. + +„Hinaus!“ rief sie plötzlich und stampfte mit dem Fuß auf. + +Offen gestanden: ich hatte alles eher erwartet als das. + +„Hinaus! Hinaus aus diesem Hause! Hinaus! Wozu ist er hergekommen? Daß +sein Atem nicht mehr hier zu spüren sei! Hinaus!“ + +„Aber Mama! Wie kommen Sie darauf! Das ist doch Sserjosha!“ stotterte +mein Onkel – wenn ich mich nicht täusche, zitterte er am ganzen Körper. +„Aber er ist doch zu uns zu Besuch gekommen, Mama!“ + +„Was für ein Sserjosha? Unsinn! Ich will nichts hören – hinaus! Das ist +Korowkin! Ich bin überzeugt, daß es Korowkin ist! Meine Ahnung täuscht +mich nicht! Er ist hergekommen, um Foma Fomitsch zu verdrängen, nur zu +diesem Zweck hat man ihn hergerufen! Mein Herz fühlt es ... Hinaus, +Elender!“ + +„Lieber Onkel, wenn es so ist,“ begann ich mit einer Stimme, in der +ehrlicher Unwille bebte, „wenn es so ist, dann werde ich ... +entschuldigen Sie mich ...“ Und ich wollte mich nach meinem Hut umsehen. + +„Ssergei, aber so hör doch, Ssergei, was tust du! ... Da ist nun dieser +... Mama! das ist doch Sserjosha! ... Ssergei, besinne dich!“ Er holte +mich mit schnellen Schritten ein, um mich zurückzuhalten. „Du bist mein +Gast, du wirst hierbleiben, ich will es! Sie sagt es ja nur so!“ fügte +er halblaut hinzu, „das ist ja nur, weil sie sich ärgert ... Nur jetzt, +in der ersten Zeit, wäre es vielleicht besser, wenn du dich etwas +unsichtbar machtest ... nur eine Zeitlang – und alles wird wieder gut +sein! Sie wird dir bestimmt verzeihen, – ich versichere dich! Sie ist ja +doch ein guter Mensch ... Das war ja nur so ... sie hat sich versprochen +... Du hörst doch, sie hält dich für Korowkin, aber sie wird es +vergessen und wird verzeihen, glaube mir! ... Was willst du?“ rief er +plötzlich dem alten Gawrila zu, der in diesem Augenblick furchtzitternd +ins Zimmer trat. + +Gawrila kam nicht allein: ihm folgte ein etwa sechzehnjähriger Knabe vom +Gesinde, der, wie ich später erfuhr, wegen seiner Schönheit ins +Herrenhaus genommen worden war. Er hieß Falalei. Mir fiel sofort seine +Kleidung auf: er trug eine rotseidene russische Bluse, die um den Hals +herum ausgenäht war, einen Gürtel aus breiten Goldtressen, schwarze, +weite Pluderhosen und bocklederne Stiefel mit roten saffianledernen +Stulpen. Dieses Kostüm hatte die Generalin persönlich für ihn +ausgedacht. Der Knabe weinte bitterlich, und die Tränen rollten eine +nach der anderen aus seinen hübschen, blauen Augen über seine roten +Backen. + +„Was hat denn das zu bedeuten?“ rief mein Onkel. „Was ist geschehen? So +sprich doch, Junge!“ + +„Foma Fomitsch haben geruht, uns herzubefehlen,“ antwortete betrübt +Gawrila. „Mich zum Examen und ihn ...“ + +„Und ihn?“ + +„Er hat getanzt!“ war Gawrilas weinerliche Antwort. + +„Getanzt!“ Entsetzen drückte sich auf dem Gesicht meines Onkels aus. + +„Ge–e–e–tanz–t!“ brüllte Falalei schluchzend und schluckend. + +„Die Kamarinskaja?“ + +„Die Kama–a–arinskaja!“ + +„Und Foma Fomitsch hat dich dabei ertappt?“ + +„Erta–appt!“ + +„Das hat gerade noch gefehlt!“ stöhnte mein Onkel. „Jetzt bin ich +verloren!“ Und er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf. + +Da trat der Diener Widopljässoff ins Zimmer und meldete: + +„Foma Fomitsch.“ + +Die Tür ging auf, und Foma Fomitsch erschien in eigener Person vor dem +ratlosen Publikum. + + + + + VI. + + Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja. + + +Bevor ich die Ehre haben werde, das Äußere Foma Fomitschs dem Leser, so +gut ich dies kann, vor Augen zu führen, halte ich es für durchaus +notwendig, in Kürze von Falalei einiges zu erzählen und namentlich zu +erklären, inwiefern es denn so ungeheuerlich war, daß er die +Kamarinskaja getanzt und Foma Fomitsch ihn bei dieser fröhlichen und, +man sollte meinen, harmlosen Zerstreuung überrascht hatte. + +Falalei war als Sohn eines Hofbauern in Stepantschikowo zur Welt +gekommen und hatte seine Eltern im ersten Lebensjahre verloren. Die +verstorbene Frau meines Onkels war seine Taufmutter gewesen. Mein Onkel +liebte ihn sehr. Dies genügte, um ihn Foma Fomitsch, als er aufs Gut +übergesiedelt war und den Gutsherrn sich unterworfen hatte, verhaßt zu +machen. Doch zu Fomas Pein geschah es, daß der Knabe auch der Generalin +ganz besonders gefiel: und so blieb denn Falalei, trotz Foma Fomitschs +ganzer Wut, nach wie vor bei der Herrschaft gut angeschrieben. Die +Generalin bestand auf ihrer Neigung, und Foma mußte nachgeben, wenn er +auch im Herzen die „Kränkung“ nicht vergaß – er hielt ja alles für eine +„Kränkung“ seiner Person – und sich dafür an meinem armen Onkel, der in +diesem Falle doch wirklich unschuldig war, bei jeder sich nur bietenden +Gelegenheit rächte. + +Falalei war in seiner Art allerdings eine Schönheit. Eigentlich hatte er +ein Mädchengesicht, das Gesicht einer Dorfschönheit. Die Generalin +verwöhnte und beschützte ihn. Er war ihr teuer wie etwa ein nettes, +seltenes Spielzeug, und man wußte nicht, wen sie mehr liebte: ihr +kleines Schoßhündchen Ami oder diesen Falalei. Sein Kostüm habe ich +bereits beschrieben. Die Damen gaben ihm obendrein noch Salben und +Pomaden, und der Barbier und Friseur Kusjma mußte ihm zu den Feiertagen +Locken brennen. Andererseits war dieser Knabe ein sonderbares Geschöpf: +man konnte ihn nicht einen vollkommenen Idioten oder Geistesschwachen +nennen; doch war er dermaßen naiv, in seiner Redeweise dermaßen +wahrheitsgetreu und offenherzig, daß man ihn mitunter wirklich für einen +großen Dummkopf halten konnte. Hatte er in der Nacht einmal einen Traum +gehabt, so erzählte er ihn sofort der Herrschaft. Er mischte sich sogar +in ihr Gespräch ein, unbekümmert darum, daß er ihnen ins Wort fiel. Er +erzählte zuweilen Dinge, die man als Hofjunge der Gutsherrschaft ganz +unmöglich erzählen kann. Er weinte die aufrichtigsten Tränen, wenn seine +Herrin – die Generalin – in Ohnmacht fiel, oder wenn sein Herr gar zu +sehr von Foma beschuldigt wurde. Er hatte für jedes Unglück ein +mitfühlendes Herz. Zuweilen schlich er zur Generalin, küßte ihr die +Hände und bat sie, nicht böse zu sein – und die Alte verzieh ihm gnädig +alle Dreistigkeiten. Er hatte ein äußerst empfindsames Gemüt, war gut +und friedfertig wie ein Lämmlein auf der Weide und heiter wie ein +glückliches Kind. Bei Tisch wurde ihm immer etwas Süßes gegeben. + +Bei jeder Mahlzeit stellte er sich regelmäßig hinter dem Stuhl der +Generalin auf und wartete, bis er sein Naschwerk erhielt. Gab man ihm +ein Stück Zucker, so zerknabberte er es unverzüglich mit seinen +milchweißen Zähnen. Dann leuchtete in seinen lustigen Blauaugen wie in +seinem ganzen hübschen Gesicht unbeschreibliche Zufriedenheit auf. + +Lange zürnte Foma. Endlich überlegte er sich die Sache und sagte sich, +daß er damit nichts ausrichten könne: so beschloß er dann, Falaleis +Wohltäter zu werden. Nachdem er zuerst meinem Onkel die Leviten dafür +gelesen hatte, daß dieser sich um die Bildung seines Hofgesindes gar +nicht kümmere, nahm er sich vor, dem armen Knaben sofort Moral, gute +Manieren und die französische Sprache beizubringen. + +„Wie!“ rief er aus, als er seinen unsinnigen Einfall verteidigte, einem +Bauernknaben Französisch beizubringen (einen Einfall, der übrigens nicht +nur einem Foma Fomitsch gekommen ist, was der Aufzeichner dieser +Erinnerungen selbst bezeugen kann) – „wie! er ist beständig hier im +Herrenhause bei seiner Herrin: wenn sie nun einmal vergißt, daß er nicht +Französisch versteht und zum Beispiel sagt ‚^donneh mua mon muschuar^‘, +so muß er sich doch auch in einem solchen Fall zurechtfinden und sie +sofort bedienen können!“ + +Leider zeigte es sich sehr bald, daß dem Falalei nicht nur die +französische Sprache nicht beizubringen war, sondern daß auch der Koch +Andron, sein Onkel, der sich, vollkommen uneigennützig, lange genug +gemüht hatte, ihm das russische Alphabet beizubringen, schon längst die +Hoffnung aufgegeben und die Fibel auf das Regal zurückgelegt hatte. +Falalei war für geistige Belehrung so unzugänglich, daß nichts, aber +auch nichts in seinem Gedächtnis haften blieb. Ja, dieser +Belehrungsversuch sollte noch ein Nachspiel haben: das Hofgesinde begann +alsbald, Falalei als „Franzosen“ zu necken – der alte Gawrila aber, der +verdienstvolle Kammerdiener meines Onkels, unterstand sich, der +Erlernung dieser fremden Sprache offen jeden Nutzen abzusprechen. Dieses +Urteil des alten Dieners kam auch Foma Fomitsch zu Ohren, und da befahl +dieser in seinem Zorn, daß der Opponent Gawrila von nun an selbst die +französische Sprache erlernen müsse. Und das war der Anfang dieser +ganzen „Französischen Marotte“, die Herrn Bachtschejeff in solche Wut +versetzt hatte. + +Mit den guten Manieren, die Foma dem Knaben beibringen wollte, machte er +noch schlechtere Erfahrungen: es wollte ihm in keiner Beziehung +gelingen, Falalei nach seinem Geschmack umzumodeln. Falalei kam trotz +des Verbots jeden Morgen zur Generalin, um seine Träume zu erzählen, was +Foma höchst unanständig, weil allzu „familiär“, fand. Falalei aber war +und blieb Falalei. Es versteht sich wohl von selbst, daß für dieses +ganze Mißgeschick am meisten und vor allen anderen wieder mein Onkel +büßen mußte. + +„Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute getan hat?“ schrie eines +Tages Foma, wozu er um der größeren Wirkung willen die Zeit wählte, in +der alle versammelt waren ... „Wissen Sie auch, Oberst, wie weit Sie es +mit Ihrer systematischen Vernachlässigung bringen? Heute verschlang er +ein Stück Fischpastete, das man ihm bei Tisch gegeben hatte, und wissen +Sie, was er nachher sagte? Komm her, komm her, armselige Kreatur, komm +her, du Idiot, du rote Fratze! ...“ + +Falalei näherte sich weinend und wischte sich mit beiden Fäusten die +Tränen ab. + +„Was hast du gesagt, als du die Pastete verschlungen hattest? Wiederhole +es noch einmal!“ + +Falalei brach, statt zu antworten, in bittere Tränen aus. + +„Dann werde ich es für dich tun. Du sagtest, indem du auf deinen +vollgestopften Bauch klopftest: ‚Habe mich mit Pasteten vollgeschlagen +wie Martyn mit Seife!‘ – Bedenken Sie, Oberst, – kann man denn so etwas +in einer gebildeten Gesellschaft sagen, und dazu noch in der höheren +Gesellschaft? Hast du das gesagt? Sprich!“ + +„Ha–ab gesa–agt! ...“ bestätigte Falalei schluckend, und erneute +Tränenströme rannen herab. + +„So. Dann sag mir jetzt: ißt denn Martyn Seife? Wo hast du einen solchen +Martyn gesehen, der Seife ißt? Sag doch, gib mir eine Vorstellung von +diesem phänomenalen Martyn!“ + +Schweigen. + +„Ich frage dich, wer war dieser Martyn?“ bestand Foma auf seiner Frage. +„Ich will ihn sehen, will seine Bekanntschaft machen. Nun, wer ist er? +Ein Registrator, ein Astronom, ein Erfinder, ein Dichter, ein ^Captaine +d’armes^, ein Leibeigener – irgend jemand muß er doch sein! Antworte!“ + +„Ein Lei–eibeigener!“ antwortete schließlich Falalei und weinte. + +„Wessen? Wessen Leibeigener?“ + +Hierauf wußte Falalei nichts zu antworten. Natürlich endete die Sache +schließlich damit, daß Foma wutentbrannt aus dem Zimmer stürzte und +schrie und klagte, daß man ihn beleidigt habe. Die Generalin fiel +daraufhin in Ohnmacht, mein Onkel verwünschte die Stunde seiner Geburt, +bat alle um Verzeihung und ging während des ganzen übrigen Tages in +seinem eigenen Hause nur noch auf den Fußspitzen umher. + +Nun aber sollte es auch noch geschehen, daß am nächsten Tage – nach dem +Seifenvorfall – Falalei, als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte, +und sein ganzes gestriges Leid schon längst vergessen hatte, vollkommen +unschuldig und harmlos erzählte, daß ihm in der Nacht von einem weißen +Ochsen geträumt habe. Ja – wahrlich – das hatte gerade noch gefehlt! +Foma Fomitsch geriet in einen wahren Wutanfall, ließ sofort den Oberst +rufen und begann dann unverzüglich, diesem für den Traum eine +Strafpredigt zu halten, den _sein_, des Obersten, Falalei gehabt hatte. +Diesmal griff man denn auch zu den strengsten Maßregeln: Falalei wurde +bestraft – er mußte im Winkel knien. Außerdem wurde ihm noch einmal +strengstens und nachdrücklich untersagt, so „rohe“, so „bäuerische“ +Träume zu haben. + +„Begreifen Sie auch, _weshalb_ ich darüber so ungehalten bin?“ fragte +Foma Fomitsch. „Ganz abgesehen davon, daß er es sich nicht einfallen +lassen, daß er es überhaupt nicht wagen dürfte, mir mit seinen Träumen +zu kommen, und noch dazu solchen weißen Ochsenträumen ... ganz abgesehen +davon, sage ich – und Sie müssen es doch selbst zugeben, Oberst – was +ist denn dieser weiße Ochse anderes als ein Beweis der Roheit, +Unwissenheit und bäuerischen Empfindungsart Ihres unbehauenen Falalei? +Wie die Gedanken, so die Träume. Habe ich nicht gleich gesagt, daß aus +dem Burschen nichts werden wird und man ihn folglich nicht im +Herrenhause behalten sollte? Niemals, niemals werden Sie diesen +sinnlosen, einfachen Volksgeist zu etwas Höherem, Poetischem entwickeln! +Kannst du denn nicht,“ fuhr er zu Falalei fort, „kannst du denn nicht +etwas anderes im Traum sehen, etwas Vornehmes, Zartes, Veredeltes, eine +Szene aus der guten Gesellschaft, sagen wir zum Beispiel Herren bei +einer Kartenpartie oder Damen, die in einem schönen Garten lustwandeln?“ + +Als Falalei an jenem Tage zu Bett ging, bat er den lieben Gott unter +Tränen um einen schönen Traum und dachte lange darüber nach, wie er es +anstellen sollte, daß er nicht mehr diesen verwünschten weißen Ochsen +sähe. Doch die Hoffnungen der Menschen pflegen trügerisch zu sein. Als +er am nächsten Morgen erwachte, da ward er sich mit Schrecken bewußt, +daß ihm die ganze liebe Nacht wieder nur von dem verhaßten weißen Ochsen +geträumt hatte – und von keiner einzigen im Garten lustwandelnden +schönen Dame. Diesmal aber waren die Folgen besonderer Art. Foma +Fomitsch erklärte unerschütterlich, daß er an die Möglichkeit einer +ähnlichen Wiederholung nicht glaube, daß Falalei vielmehr lüge und +womöglich von einem der Bewohner des Herrenhauses, vielleicht sogar vom +Obersten selbst, absichtlich dazu verleitet worden sei, um ihn, Foma +Fomitsch, zu ärgern. Es kam wiederum zu viel Geschrei, Vorwürfen und +Tränen. Am Abend erkrankte die Generalin. Die ganze Einwohnerschaft von +Stepantschikowo ließ die Köpfe hängen. Und es blieb nur noch die eine +schwache Hoffnung, daß Falalei in der nächsten Nacht, in der dritten, +etwas aus der höheren Gesellschaft träumen werde. Wie groß aber war der +allgemeine Unwille, als Falalei eine ganze Woche in jeder Herrgottsnacht +regelmäßig den weißen Ochsen sah, einzig und allein immer nur den weißen +Ochsen! An die höhere Gesellschaft war gar nicht zu denken!! + +Das merkwürdigste war aber, daß Falalei kein einziges Mal darauf kam, zu +lügen: einfach zu sagen, er habe im Traum nicht einen weißen Ochsen, +sondern, zum Beispiel, eine Equipage gesehen, in der schöne Damen und +Foma Fomitsch vorübergefahren wären, – um so mehr, als in einem solchen +Notfall das Lügen doch keine gar so große Sünde hätte sein können. Aber +Falalei war dermaßen wahrheitsliebend, daß er zu lügen entschieden nicht +verstand, – selbst wenn er es gewollt hätte. So kam es, daß man ihn +nicht einmal auf diesen Gedanken zu bringen suchte; denn alle wußten, +daß Falalei sich sofort verraten und Foma Fomitsch ihn auf der Lüge +ertappen werde. Was sollte man also tun? Die Lage, in der sich mein +armer Onkel befand, wurde nahezu verzweifelt. Falalei war +unverbesserlich. Der arme Junge wurde sogar merklich magerer. Die +Haushälterin Malanja behauptete, daß er behext worden sei, und +besprengte ihn, nach altem Aberglauben, von einem Winkel aus mit kaltem +Wasser. An dieser zweckmäßigen Behandlung beteiligte sich auch die +mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das sonst so wohltätige +kalte Wasser verweigerte diesmal seine Wirkung. Es half alles nicht! + +„Daß ihn doch! ... den verfluchten Ochsen!“ sagte Falalei seinerseits, +„in jeder Nacht träumt mir von ihm! Jeden Abend bete ich: ‚Traum, komm’ +mir nicht mit dem weißen Ochsen, Traum, komm’ mir nicht mit dem weißen +Ochsen!‘ – Er aber ist da, der verfluchte, steht vor mir, so groß, mit +Hörnern, mit so ’ner stumpfen Schnauze, hu–u–u!“ + +Mein Onkel geriet schließlich wirklich in Verzweiflung. Doch siehe, zum +Glück vergaß Foma Fomitsch, wie es schien, plötzlich den weißen Ochsen. +Natürlich glaubte niemand, daß Foma Fomitsch im Ernst etwas so Wichtiges +vergessen könnte, und so sagten sich alle mit angstvollem Herzen, daß er +diese unerledigte Geschichte mit dem weißen Ochsen gleichsam für den +Bedarfsfall aufheben wolle, um sie dann bei der ersten sich bietenden +Gelegenheit wieder vorzuführen. In der Folge stellte es sich aber +heraus, daß es Foma Fomitsch in dieser Zwischenzeit tatsächlich nicht um +den weißen Ochsen zu tun gewesen war: er hatte andere Sorgen, andere +Pläne waren in seinem emsigen und vieldenkenden Kopfe entstanden. Nur +darauf war es zurückzuführen, daß er Falalei endlich aufatmen ließ. +Gleichzeitig mit Falalei atmeten auch die anderen auf. Ja, der Junge +vergaß sogar bald das Vorgefallene, und selbst der weiße Ochse erschien +ihm immer seltener im Traum, obschon er ihn hin und wieder doch noch an +seine phantastische Existenz erinnerte. Kurz, es wäre alles gut gewesen, +wenn es in der Welt nicht einen Tanz gegeben hätte, der die Kamarinskaja +heißt. + +Ich muß hier vorausschicken, daß Falalei vorzüglich tanzte. Die +Tanzkunst war seine größte Begabung, sie war ihm gewissermaßen als +innerer Trieb angeboren. Er tanzte mit Energie und unermüdlicher Lust, +und von allen Tänzen liebte er am meisten den „Kamarinskij-Mushick“ zu +tanzen. Nicht, daß ihm etwa die leichtsinnigen und jedenfalls +unverständlichen Handlungen dieses flatterhaften Bauern gar so sehr +gefallen hätten – nein, er liebte diesen Tanz einzig deshalb, weil es +für ihn, wenn er die Kamarinskaja spielen hörte, vollkommen unmöglich +war, nicht zu tanzen. Es kam vor, daß zuweilen abends zwei oder drei +Diener, die Kutscher, der Gärtner und einige Hofmädchen sich +versammelten, natürlich irgendwo auf einem möglichst entfernten +Wiesenplan hinter den Ställen des Herrenhofes, möglichst weit von Foma +Fomitsch. Dann ertönte alsbald Musik, und das Tanzen begann, bis +schließlich auch die Kamarinskaja in ihr Recht trat. Die Musikkapelle +bestand aus zwei Balalaiken, einer Gitarre, einer Geige und einer +Handtrommel, die der Vorreiter Mitjuschka vorzüglich zu bearbeiten +verstand. Dann hätte man sehen sollen, was schon beim ersten Takt mit +Falalei geschah: er sprang in den Kreis und tanzte, tanzte bis zu +völliger Bewußtlosigkeit, bis zur Erschöpfung seiner letzten Kräfte, +angefeuert noch durch die Zurufe und das Lachen seiner Zuschauer; er +jauchzte, lachte, schlug in die Hände und tanzte, als risse ihn eine +fremde, unerfaßliche Kraft, gegen die er nicht anzukämpfen vermochte, +mit sich fort, und tat sich Gewalt an, um das immer schneller werdende +Tempo des temperamentvollen Motivs einzuhalten, während er im Rhythmus +mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Das waren Augenblicke seiner +höchsten Begeisterung. Und es wäre auch hier alles gut gewesen, wenn das +Gerücht von seiner Kamarinskaja nicht auch Foma Fomitsch zu Ohren +gekommen wäre. + +Foma Fomitsch – erstarrte, und als er zu sich kam, schickte er sofort +nach dem Oberst. + +„Ich wollte mich von Ihnen nur über eines aufklären lassen, Oberst,“ +begann Foma. „Haben Sie sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten +vollständig zu verderben, oder nicht? Ist das erstere der Fall, so ziehe +ich mich selbstverständlich sofort zurück; falls aber nicht, so werde +ich ...“ + +„Ja, was ist denn los? Was ist geschehen?“ fragte der Oberst, der aus +den Wolken fiel. + +„Wie? Sie fragen, was geschehen ist? Wissen Sie denn nicht, daß er die +Kamarinskaja tanzt?“ + +„Nun, – nun, und?“ + +„Wie – nun, und?!“ schrie Foma auf. „Und das sagen Sie – Sie, sein Herr +und in gewissem Sinne sein Vater! Ja, haben Sie denn nach alledem +überhaupt eine annähernd richtige Vorstellung davon, was dieser Tanz +überhaupt ist? Wissen Sie denn nicht, daß dieses Lied einen verkommenen +Kerl besingt, der es in der Trunkenheit auf das allerunsittlichste +Vergehen abgesehen hat? Wissen Sie denn nicht, was dieser verderbte +Knecht im Schilde führt? Er hat die wertvollsten, die heiligsten Bande +zerrissen und unter die Füße getreten, hat sie mit seinen klobigen +Bauernstiefeln, die sonst nur den Fußboden der Schenke zu stampfen +pflegen, – _zertreten_! Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit dieser +Antwort meine edelsten Gefühle beleidigt haben? Begreifen Sie denn +nicht, daß Ihre Antwort eine persönliche Beleidigung meiner Person ist? +Begreifen Sie das, oder begreifen Sie das nicht?“ + +„Aber, Foma ... es ist doch nur ein Lied, Foma ...“ + +„Was, nur ein Lied? Und Sie schämen sich nicht, mir zu gestehen, daß +Sie, Sie selbst dieses Lied kennen, – Sie, der Sie zur Gesellschaft +gehören, Sie, der Sie der Vater vornehmer und unschuldiger Kinder und, +zum Überfluß, noch Oberst sind! Nur ein Lied! Ich bin aber überzeugt, +daß dieses Lied nach einer wirklichen Begebenheit entstanden ist! Nur +ein Lied! Aber welcher anständige Mensch kann denn zugeben, ohne vor +Scham zu vergehen, daß er dieses Lied kenne, daß er es jemals auch nur +gehört habe? Welch ein Mensch, frage ich Sie, welch einer?“ + +„Nun, aber du, Foma, du kennst es doch offenbar, wenn du so fragst,“ +antwortete in seiner Herzenseinfalt und völlig harmlos mein verwirrter +Onkel. + +„Was! Ich kenne es? ... Ich ... ich ... das heißt! ... Man hat mich +beleidigt!“ schrie plötzlich Foma, sprang vom Stuhl auf und brüllte vor +Wut. + +Alles hatte er eher erwartet, als eine solche geradezu vernichtende +Antwort. + +Doch wozu Foma Fomitschs Zorn beschreiben! Der Oberst wurde mit Schmach +und Schande wegen der „Unschicklichkeit“ und „Ungeschicktheit“ seiner +Antwort aus dem Gesichtskreise dieses „Wahrers der Sittlichkeit“ +verbannt. Foma Fomitsch selbst aber hatte sich seit diesem Tage +geschworen, Falalei einmal ^in flagranti^ zu ertappen – wenn dieser +wieder das Verbrechen begehen sollte, die Kamarinskaja zu tanzen, und so +schlich er sich abends, wenn alle ihn mit irgend etwas Literarischem +beschäftigt glaubten, heimlich in den Park, ging im Bogen um den +Gemüsegarten herum und schlug sich dann in ein Gebüsch, von wo aus man +deutlich jene kleine Wiese sehen konnte, auf der gewöhnlich getanzt +wurde. So stellte er dem Falalei nach, wie der Jäger dem armen Wild, und +malte sich inzwischen mit Wonne aus, was für einen Skandal er im Fall +eines Erfolges seiner Bemühungen machen könne, und wie alle, und +namentlich der Oberst ihm dafür würden „büßen müssen“! Der Lohn für +seine Mühe blieb denn auch nicht aus. Der Augenblick kam, in dem er „ihn +hatte“. Endlich, endlich! Und das geschah – gerade heute!! + +Nun wird es verständlich sein, weshalb mein Onkel sich das Haar raufte, +als er den weinenden Falalei sah und vernehmen mußte, was geschehen war, +und als dann noch Widopljässoff eintrat, um Foma Fomitschs Erscheinen +anzumelden, und Foma Fomitsch so plötzlich und in einem so peinlichen +Augenblick in eigener Person vor unseren sündigen Augen erschien. + + + + + VII. + + Foma Fomitsch. + + +Mit unendlicher Neugier sah ich diesem Herrn entgegen. Gawrila hatte +recht, wenn er ihn ein gemausertes Menschlein nannte. Foma war klein von +Wuchs, mit weißblondem, kaum merklich grau untermischtem Haar, weißen +Augenbrauen und Wimpern, mit einer gebogenen Nase und vielen kleinen +Runzeln im ganzen Gesicht. Am Kinn hatte er eine große Warze. Er war +ungefähr fünfzig Jahre alt. Leise trat er ein, mit gleichmäßigen +Schritten, die Augen zu Boden gesenkt. Aber das unverschämteste +Selbstbewußtsein drückte sich in seinem Gesicht und in seiner ganzen, +überaus pedantischen Erscheinung aus. Zu meiner Verwunderung erschien er +im Schlafrock – freilich von ausländischem Schnitt, aber es war immerhin +ein Schlafrock – und obendrein in Hausschuhen. Eine Krawatte trug er +nicht. Der Kragen seines Hemdes war ^à l’enfant^ zurückgeschlagen, was +der ganzen Erscheinung Fomas etwas überaus Dummes verlieh. Er schritt zu +einem Lehnstuhl, rückte ihn ein wenig näher zum Tisch und setzte sich, +ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Im Augenblick war alles still +geworden, von der Aufregung und dem Spektakel, die noch vor einer Minute +hier geherrscht hatten, war nichts mehr zu sehen und zu hören. Es war so +still, daß man das Summen der kleinsten Fliege hätte hören können. Die +Generalin saß sanft und fromm wie ein Lamm auf dem Sofa. Die ganze +sklavische Ergebenheit dieser Törin ihrem Idol Foma gegenüber trat jetzt +so recht klar zutage. Sie schien sich an ihrem Liebling gar nicht satt +sehen zu können, sie hing unverwandt mit den Blicken an ihm, sie +verschlang ihn förmlich mit den Augen. + +Fräulein Perepelizyna entblößte lächelnd ihre alten Zähne und rieb sich +die Hände, die arme Praskowja Iljinitschna aber zitterte merklich vor +Furcht. Mein Onkel fand als erster die Sprache wieder. + +„Tee, Schwesterchen, bitte, Tee! Nur etwas süßer, Schwesterchen. Foma +Fomitsch trinkt ihn nach dem Schläfchen gern etwas süßer. Nicht wahr, +Foma, du liebst den Tee nachmittags doch etwas süßer?“ + +„Mir ist es jetzt nicht um Tee zu tun!“ begann Foma langsam und +würdevoll, und mit bekümmerter Miene machte er eine wegwerfende +Handbewegung. „Sie dagegen scheinen sich ja nur darum zu sorgen, daß +alles süßer sei!“ + +Diese ersten Worte und der in seiner pedantischen Wichtigkeit +unbeschreiblich lächerliche Eintritt Fomas interessierten mich natürlich +außerordentlich. Es interessierte mich vor allem, bis zu welch einer +Gewissenlosigkeit die Unverschämtheit dieses von sich so eingenommenen +Menschen gehen konnte. + +„Foma!“ begann mein Onkel von neuem. „Hier stelle ich dir jemand vor: +meinen Neffen Ssergei Alexandrowitsch! Er ist erst vor kurzem +angekommen.“ + +Foma Fomitsch maß meinen Onkel vom Kopf bis zu den Füßen. + +„Es wundert mich, daß Sie mich mit Vorliebe immer so systematisch +unterbrechen, Oberst,“ sagte er endlich nach bedeutsamem Schweigen und +ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Man redet mit Ihnen über +eine ernste Sache, Sie aber ... schwatzen ... weiß Gott was ... Haben +Sie Falalei gesehen?“ + +„Ja, Foma ...“ + +„Ah, also Sie haben ihn gesehen! Nun, dann werde ich Ihnen denselben +noch einmal zeigen, wenn Sie ihn schon gesehen haben. Dann können Sie +sich ergötzen an Ihrem Produkt ... ich meine, in sittlicher Beziehung. +Komm her, Bursche! Komm her, du holländische Fratze! Nun, hörst du +nicht? – komm her! Fürchte dich nicht!“ + +Falalei näherte sich ihm, schluchzend, mit halboffenem Munde, und +schluckte seine Tränen. Foma Fomitsch betrachtete ihn mit +augenscheinlichem Vergnügen. + +„Ich habe ihn mit Absicht ‚holländische Fratze‘ genannt, Pawel +Ssemjonytsch,“ bemerkte er, indem er es sich ungeniert in seinem +Lehnstuhl bequem machte, mit einer leichten Wendung seines Kopfes zu +Obnoskin, der als Nächster links von ihm saß. „Und überhaupt, wissen +Sie, halte ich es nicht für nötig, daß man seine Ausdrücke mildert, +gleichviel in welchem Fall. Die Wahrheit muß immer Wahrheit bleiben. Und +andererseits: womit man auch Schmutz bedecken wollte, es bleibt immer +Schmutz. Wozu also die Mühe, eine Sache noch zu beschönigen? Um sich und +die Menschen zu betrügen! Nur in dem dummen Kopf eines Menschen aus der +sogenannten höheren Gesellschaft konnte das Verlangen nach so sinnlosen +Anstandsregeln entstehen. Sagen Sie doch – ich bitte um Ihr Urteil – +können Sie in dieser Fratze etwas Schönes finden? Ich meine: etwas +Höheres, Erhabenes, Wunderbares – und nicht, wie gesagt, nur eine schöne +Fratze?“ + +Foma Fomitsch sprach ziemlich leise, ruhig, jedes Wort abmessend und mit +einem fast erhabenen Gleichmut. + +„Schönes?“ fragte Obnoskin mit einer geradezu frechen Nachlässigkeit. +„Mir scheint, es ist nur ein gutes Stück Roastbeef und nichts weiter +...“ + +„Trat heute zum Spiegel und besah mich in ihm,“ fuhr Foma ruhig fort, +würdevoll das Wörtlein „ich“ auslassend. „Halte mich längst nicht für +eine Musterschönheit, kam aber unwillkürlich zu der Überzeugung, daß +doch etwas in diesem grauen Auge liegt, das mich von einem Falalei +unterscheidet. Das ist der Gedanke, das ist das Leben, das ist der +Verstand in diesem Auge! Will mich nicht damit loben. Rede nur so im +allgemeinen von meinem Ich. Jetzt, was meinen Sie? Kann es überhaupt +auch nur ein Stückchen, auch nur ein Atom von einer Seele in diesem +lebenden Beefsteak geben? Nein, in der Tat, beobachten Sie es doch, +Pawel Ssemjonytsch, wie diese _Menschen_, die jedes Gedankens, jedes +Ideals vollkommen bar sind, und die nur Rindfleisch essen, wie bei +diesen Menschen die Gesichtsfarbe immer so widerlich frisch ist, von +einer so rohen und dummen Frische! Wünschen Sie, den Grad seiner +Denkfähigkeit zu erkennen? He, du, Kasus! Komm mal näher, gönn uns, daß +wir uns an deinem Anblick berauschen! Warum sperrst du den Mund auf? +Willst du etwa einen Walfisch verschlingen? Bist du schön? Antworte: +bist du schön?“ + +„Ich ... bin ... schön!“ antwortete Falalei mit ersticktem Schluchzen. + +Obnoskin wälzte sich vor Lachen. Ich fühlte, wie ich vor Wut zu zittern +begann. + +„Haben Sie gehört?“ fuhr Foma fort, mit einem gewissen Triumph sich +wieder an Obnoskin wendend. „Aber Sie werden noch ganz andere Dinge von +ihm hören! Ich kam nur, um ihn zu examinieren. Sehen Sie, Pawel +Ssemjonytsch, es gibt Menschen, deren Wunsch es zu sein scheint, diesen +armseligen Idioten endgültig zu verderben. Vielleicht urteile ich zu +streng, kann mich ja täuschen, aber ich rede und tue alles nur aus Liebe +zur Menschheit. Er hat den unanständigsten aller Tänze getanzt. Hier +scheint das keinen Menschen etwas anzugehen. Aber ... nun, Sie können es +hier mit eigenen Ohren hören ... Antworte: was hast du vorhin getan? +Antworte, antworte sofort! – hörst du?“ + +„I ... ich ... habe ... getanzt ...“ sagte Falalei, der nur mit Mühe das +Schluchzen unterdrückte. + +„Was hast du denn getanzt? Welch einen Tanz? So sprich doch!“ + +„Die Kamarinskaja ...“ + +„Die Kamarinskaja! Aber wer ist diese Kamarinskaja? Was ist das für ein +Name? Wie soll ich denn deine Antwort verstehen? Nun, so gib mir doch +wenigstens eine Vorstellung davon: wer ist denn diese deine +Kamarinskaja?“ + +„Ein ... Bauer ...“ + +„Ein Bauer! Nur ein Bauer? Ich wundere mich! Das muß doch ein ganz +hervorragender Bauer sein! Dann ist er wohl irgendein berühmter Mann, +wenn man ihn in Liedern besingt und in Tänzen verherrlicht? Nun, so +antworte doch!“ + +Es schien Foma ein Bedürfnis zu sein, Menschen zu foltern. Er spielte +mit seinem Opfer wie die Katze mit der Maus. Doch Falalei schwieg, +schluchzte und begriff die Frage nicht. + +„So antworte doch! Du wirst gefragt, was das für ein Bauer ist. So +sprich doch ...! Ein Gutsbauer oder ein Kronsbauer, ein freier oder ein +leibeigener oder vielleicht ein Ökonomiebauer[1]? Es gibt viele Bauern +...“ + +„E–e–ein ... Ö–ko–nomiebauer ...“ + +„Ah, also ein Ökonomiebauer! Haben Sie gehört, Pawel Ssemjonytsch? Ein +neues historisches Faktum: die Kamarinskaja ist ein – Ökonomiebauer. Hm! +Nun, aber was hat denn dieser Ökonomiebauer getan? Für welche Taten wird +er denn besungen und ... wird ihm zu Ehren getanzt?“ + +Die Frage war nicht wenig kitzlig, und da er sie an Falalei richtete, +auch sehr gefährlich. + +„Nun – aber Sie ... einstweilen ...“ versuchte Obnoskin einzulenken, +nach einem flüchtigen Blick auf seine Mutter, die sich so eigentümlich +auf ihrem Sofa hin und her zu bewegen begann. + +Was sollte man tun? Die Launen Foma Fomitschs wurden als Gesetz +betrachtet. + +„Aber, lieber Onkel, wenn Sie diesen Esel nicht ablenken, so kann er ja +... Sie begreifen doch, auf was er es abgesehen hat – Falalei wird +vielleicht irgendeine Dummheit sagen, sogar bestimmt, ich versichere Sie +...“ flüsterte ich unbemerkt meinem Onkel zu, der selbst nicht wußte, +wozu er sich entschließen oder was er sagen sollte. + +„Wenn du, Foma ...“ begann er etwas unsicher. „Hier stelle ich dir +meinen Neffen vor, Foma: mein junger Freund, der sich mit Mineralogie +beschäftigt ...“ + +„Ich bitte Sie inständig, Oberst, unterbrechen Sie mich nicht mit Ihrer +Mineralogie, von der Sie, soviel mir bekannt ist, keine Ahnung haben, +und _andere_ vielleicht ebensowenig. Ich bin kein Kind. Er wird mir +antworten, daß dieser Bauer, anstatt für das Wohlergehen seiner Familie +zu arbeiten, in der Schenke seinen Halbpelz vertrunken hat und betrunken +auf die Straße hinausgelaufen ist. Das ist bekanntlich der Inhalt dieses +Liedes, das die Trunkenheit verherrlicht. Beunruhigen Sie sich nicht, +_jetzt_ weiß er, was er zu antworten hat. – Nun, so antworte doch: was +hat dieser Bauer denn getan? Ich habe es dir doch schon vorgesagt, habe +es dir in den Mund gelegt. Ich will nur von dir, von dir selbst hören, +was er getan hat, wodurch er berühmt geworden ist, wodurch er einen so +unsterblichen Ruhm verdient hat, daß er sogar besungen wird? Nun?“ + +Der arme Falalei blickte sich hilflos im Kreise um, und da er nicht +wußte, was er sagen sollte, machte er nur den Mund auf und ratlos wieder +zu, wie eine Karausche, die aus dem Wasser auf den Sand gezogen ist. + +„Ich schäm’ mich, es zu sagen!“ brachte er schließlich in seiner +Hilflosigkeit mit langen Lippen ziemlich undeutlich hervor. + +„Ah! du schämst dich, es zu sagen!“ Foma triumphierte. „Nur diese +Antwort erwartete ich, Oberst! Man schämt sich, es zu sagen; aber es zu +tun, schämt man sich nicht! Das ist die Sittlichkeit, die Sie hier gesät +haben, die jetzt aufgegangen ist, und die Sie noch ... begießen! Doch +wozu so viel Worte verlieren! Geh in die Küche, Falalei. Im Augenblick +sage ich dir nichts – aus Achtung vor den Anwesenden; aber heute noch, +_heute noch_ wirst du unbarmherzig und schmerzhaft bestraft werden. +Geschieht es aber nicht, zieht man auch diesmal _dich_ – _mir_ – vor, so +bleibe du hier und tröste deine Herren mit der Kamarinskaja, ich aber +werde dann heute noch dieses Haus verlassen! Genug! Ich habe gesprochen. +Geh!“ + +„Nun, das war, glaube ich, denn doch etwas ... streng ...“ brummte +Obnoskin. + +„Eben, eben ...!“ griff sofort mein Onkel auf und wollte ihm +beipflichten, brach aber ab und verstummte. Foma warf ihm einen +finsteren Blick zu. + +„Ich wundere mich, Pawel Ssemjonytsch,“ fuhr er fort, „ich wundere mich +nur über eines: was tun denn eigentlich unsere zeitgenössischen +Literaten, die Dichter, die Gelehrten, die Denker? Wie kommt es, daß sie +gar nicht darüber nachdenken, welche Lieder das russische Volk singt, +und zu welchen Liedern das russische Volk tanzt? Was haben denn bis +jetzt alle unsere Puschkin, Lermontoff, Borosdin getan? Ich wundere +mich. Das Volk tanzt die Kamarinskaja, diese Apotheose der Trunkenheit +und der Ausschweifung; sie aber besingen da irgendwelche +Vergißmeinnicht! Warum schreiben sie nicht einige sittliche Lieder für +den Volksgebrauch? Was nützen diese Gedichte an die Vergißmeinnicht und +Gänseblümchen? Hier handelt es sich doch um eine soziale Frage! Mögen +sie mir meinetwegen einen Bauern schildern, aber einen veredelten +Bauern, einen Landmann, der eigentlich nichts mehr mit dem rohen Bauern +gemein hat. Mögen sie doch einen solchen Dorfweisen womöglich in seiner +ganzen Einfachheit uns zeigen, meinetwegen sogar in Bastschuhen – ich +bin auch damit noch einverstanden –, aber es muß ein Mann sein, der alle +Tugenden besitzt, Tugenden, um die ihn – das sage ich kühn – selbst +irgend so ein berühmter Alexander von Mazedonien beneiden müßte. Ich +kenne Rußland und Rußland kennt mich: darum rede ich so. Mögen sie uns +diesen Mann darstellen, der, sagen wir, bei grauem Haar noch eine große +Familie zu ernähren hat, meinetwegen sogar in einer stickigen Hütte +lebt, vielleicht sogar hungern muß, der aber dennoch zufrieden ist und +nicht murrt, sondern seine Armut preist, und den alles Gold des Reichen +gleichgültig läßt. Mag ihm der Reiche schließlich gerührt sein ganzes +Gold bringen ... bei dieser Gelegenheit kann sogar eine Vereinigung der +Tugend des Bauern mit der Tugend des Reichen, seines Herrn und, sagen +wir, geborenen Aristokraten sich vollziehen. Der Landmann und der +Reiche, die auf den Stufen der Gesellschaft so weit voneinander getrennt +sind, – mögen sie dann in der Tugend sich vereinigen, – das wäre ein +edler Grundgedanke! Aber sonst – was haben wir jetzt in unserer +Literatur? Einerseits Vergißmeinnicht und andererseits – einen Bauern, +der aus der Schenke herausstürzt und in betrunkenem Zustande durch die +Straßen läuft! Nun, was ist denn hier, sagen Sie doch selbst: Was ist +denn hier Poetisches? Woran soll man sich erbauen? Wo ist hier Verstand? +Wo Grazie? Wo Moral? ... Ich wundere mich!“ + +„Hundert Rubel schulde ich Ihnen, Foma Fomitsch, für solche Worte!“ +sagte Jeshowikin anscheinend begeistert. – „Würde ihm keinen grindigen +Deubel jemals geben!“ rannte er mir dabei leise zu, fast ohne die Lippen +zu bewegen. „Schmeichle, schmeichle!“ + +„Nun ja ... das haben Sie gut gesagt,“ brummte Obnoskin. + +„Eben, eben! Vortrefflich!“ rief mein Onkel aus, der die ganze Zeit mit +angestrengter Aufmerksamkeit zugehört hatte und mich jetzt triumphierend +ansah. – „Was für ein Thema!“ flüsterte er mir unbemerkt ins Ohr und +rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Vielseitig, weiß der Teufel! – Foma +Fomitsch, hier ist mein Neffe,“ fuhr er laut im Überschwang seiner +Gefühle fort. „Er hat sich gleichfalls mit der Literatur beschäftigt – +hier stelle ich ihn dir vor.“ + +Foma Fomitsch schenkte wiederum nicht die geringste Beachtung weder mir, +noch meinem Onkel. + +„Um Gottes willen, stellen Sie mich doch nicht nochmals vor! Ich bitte +Sie darum!“ flüsterte ich in sehr bestimmtem Ton meinem Onkel zu. + +„Iwan Iwanytsch!“ hub plötzlich Foma Fomitsch an, sich mit aufmerksam +betrachtendem Blick an Misintschikoff wendend, „da haben wir nun +gesprochen – welcher Meinung aber sind Sie?“ + +„Ich? Sie fragen mich?“ erkundigte sich verwundert Misintschikoff, mit +einem Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben erst aus dem Schlaf +geweckt. + +„Ja, gerade Sie. Ich frage Sie aus dem Grunde, weil mir die Meinung +wirklich kluger Menschen immer wertvoll ist, nicht aber diejenige – weiß +Gott was für welcher – problematischer kluger Köpfe, die nur deshalb +klug sind, weil sie einem _beständig als klug vorgestellt werden_, als +sogenannte _Gelehrte_, und die man sich mitunter sogar absichtlich +verschreibt, um sie in einer Jahrmarktsbude auszustellen oder an einem +ähnlichen Ort.“ + +Dieser Stein war natürlich in meinen Garten geworfen. Es konnte +überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, daß Foma Fomitsch, der mich +scheinbar gar nicht beachtete, dieses ganze Gespräch über die Literatur +einzig und allein meinetwegen begonnen hatte, um mich, den „Klugen“, den +„Petersburger Gelehrten“, von vornherein zu besiegen, zu vernichten. Ich +wenigstens zweifelte nicht daran. + +„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ... bin ich ... so bin ich +ganz Ihrer Meinung,“ antwortete Misintschikoff träge und gleichsam wider +Willen. + +„Sie sind stets ganz meiner Meinung! Es könnte einem sogar übel davon +werden,“ bemerkte Foma. „Werde Ihnen ganz aufrichtig sagen, Pawel +Ssemjonytsch,“ wandte er sich nach kurzem Schweigen wieder an Obnoskin, +„wenn ich unseren unsterblichen Karamsin für etwas hochachte, so tue ich +es nicht wegen seiner ‚Statthalterin Marfa‘, nicht wegen seiner +‚Russischen Geschichte‘, auch nicht wegen seines Werkes über das ‚Alte +und neue Rußland‘, sondern einzig deshalb, weil er ‚Froll Ssilin‘ +geschrieben hat: Das ist ein großes Epos! Es ist ein rein volkliches +Werk und wird alle Ewigkeiten überleben! Ein großes Epos!“ + +„Eben, das ist es! Stimmt! Ein großes _Epos_! Froll Ssilin ist ein +tugendhafter Mensch! Ich weiß, habe ihn gelesen; er kaufte _noch_ zwei +Mädchen aus, und dann sah er zum Himmel empor und weinte. Ein erhabener +Zug!“ bestätigte mein Onkel, strahlend vor Zufriedenheit. + +Mein armer Onkel! Er konnte es doch auf keine Weise unterlassen, sich in +„gelehrte“ Gespräche einzumischen! Foma lächelte boshaft, schwieg aber. + +„Es wird auch jetzt Interessantes geschrieben,“ mischte sich vorsichtig +Anfissa Petrowna Obnoskina ein. „Zum Beispiel: die ‚Geheimnisse von +Brüssel‘!“ + +„Ich enthalte mich eines Urteils,“ sagte Foma, gleichsam mitleidig. „Ich +habe vor nicht langer Zeit einen von den neueren Dichtern gelesen ... +Was soll man sagen? ‚Vergißmeinnicht‘! Aber wenn ich Ihnen die Wahrheit +sagen soll, so gefällt mir von den Modernsten am besten der ‚Kopist‘, – +wie er sich unterzeichnet – eine leichte Feder!“ + +„Der Kopist!“ schrie förmlich Anfissa Petrowna auf, „das ist doch +dieser, der an die Zeitung Briefe schreibt? Ach, wie ist er doch +entzückend! Welch ein Spiel mit Worten!“ + +„Ganz recht, ein Spiel mit Worten. Er spielt, wie man sagt, mit der +Feder. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit im Satzbau!“ + +„Ja, aber er ist ein Pedant,“ bemerkte Obnoskin nachlässig. + +„Pedant! gewiß ein Pedant – das bestreite ich nicht. Aber er ist ein +sympathischer Pedant, ein graziöser Pedant! Natürlich, keine einzige +seiner Ideen hält einer ernsten Kritik stand, aber man läßt sich +unwillkürlich von seiner Leichtigkeit fortreißen! Schön, es sind leere +Worte – ich will es gern zugeben; aber es sind sympathische, es sind +graziöse Worte! Entsinnen Sie sich vielleicht, wie er in einem +literarischen Artikel erklärte, daß er seine eigenen Güter habe?“ + +„Güter?“ griff sofort mein Onkel auf. „Das ist nicht übel. In welchem +Gouvernement?“ + +Foma blieb stumm, richtete nur einen aufmerksamen Blick auf den +Hausherrn und fuhr dann im selben Ton fort: + +„Nun sagen Sie mir doch um der gesunden Vernunft willen: wozu brauche +ich, der Leser, zu wissen, daß er Güter hat? Hat er sie – dann +gratuliere ich! Aber wie lieblich, wie spaßhaft ist es beschrieben! Er +sprüht von Geist, er wirft ihn verschwenderisch um sich! Er ist ein +unerschöpflicher Quell von sprudelndem Geist! Ja, _so_ muß man +schreiben! Ich glaube, daß ich gerade in dieser Art schreiben würde, +wenn ich mich entschließen wollte, für Zeitschriften zu schreiben ...“ + +„Sicherlich sogar noch besser!“ bemerkte ehrerbietig Jeshowikin. + +„Es ist sogar etwas Melodisches im Stil!“ bestätigte mein Onkel. + +Nun aber hielt es Foma nicht mehr aus. + +„Oberst,“ hub er an, „dürfte man Sie vielleicht bitten – natürlich mit +aller nur möglichen Rücksicht – sich nicht einzumischen und uns in Ruhe +unser Gespräch beenden zu lassen? Sie können über unsere Gespräche nicht +urteilen, die Themata sind nicht für Sie geschaffen! So haben Sie doch +die Güte, unsere angenehme literarische Unterhaltung nicht zu +unterbrechen. Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Landwirtschaft, trinken +Sie Tee, aber ... kümmern Sie sich nicht um die Literatur ... sie wird +dadurch nicht verlieren, dessen kann ich Sie versichern!“ + +Das war denn doch der Gipfel aller Frechheit! Ich wußte nicht, wie ich +mich beherrschen sollte. + +„Aber du hast doch selbst gesagt, Foma, daß sogar etwas Melodisches im +Stil sei,“ versuchte sich mein Onkel, peinlich berührt, zu verteidigen. + +„Gewiß. _Ich_ aber habe es mit Kenntnis der Sache gesagt, als es +angebracht war – und Sie?“ + +„Jawohl, wir haben es mit Verständnis und Verstand gesagt,“ griff +Jeshowikin auf, der Foma Fomitsch auffällig umschmeichelte. „Verstand +haben wir nur so ein wenig, man muß ihn sich zuweilen leihen; denn zur +Not reicht er noch zu zwei Ministerien, und wenn’s darauf ankommt, dann +werden wir auch noch mit dem dritten fertig, – jawohl, so steht’s mit +uns!“ + +„Nun, dann habe ich also wieder etwas Unrichtiges gesagt!“ sagte mein +Onkel und lächelte sein gutmütiges Lächeln. + +„Zum Glück sehen Sie es wenigstens ein,“ bemerkte Foma. + +„Tut nichts, Foma, ich ärgere mich nicht. Ich weiß, daß du mich wie ein +Freund lenken und leiten willst, wie ein Verwandter, ein Bruder ... Das +habe ich dir selbst erlaubt, ich habe dich sogar darum gebeten ... Das +ist ganz recht, ganz recht von dir. Du tust es ja nur zu meinem Besten! +Also hab Dank, ich werde es mir merken.“ + +Meine Geduld war zu Ende. Alles, was ich von Foma Fomitsch gehört hatte, +war mir übertrieben erschienen. Als ich nun aber selbst alles sah und +hörte, fand meine Verwunderung keine Grenzen. Ich glaubte mir selbst +nicht mehr; eine solche Frechheit, eine so unverschämte Anmaßung +einerseits, und eine so freiwillige Knechtschaft und so arglose +Gutmütigkeit andererseits begriff ich einfach nicht. Übrigens war mein +Onkel durch diese Dreistigkeit doch auch verwirrt. Das sah man ihm an, +obschon er es zu verbergen suchte. Ich brannte vor Begier, mit Foma +irgendwie aneinander zu geraten, mit ihm einen Zweikampf auszufechten, +ihm hageldicht die Wahrheit zu sagen – aber mit Überlegenheit und +Temperament, so daß sie ihren Ohren nicht trauen sollten – und dann möge +kommen, was da kommen wolle! Dieser Gedanke begeisterte mich. Ich +wartete krampfhaft auf eine Gelegenheit, und in der Erwartung verbog ich +gänzlich den Rand meines Hutes, den ich in der Hand behalten hatte. Die +Gelegenheit aber bot sich nicht: Foma geruhte überhaupt nicht, mich zu +bemerken. + +„Es ist wahr, es ist wahr, was du sagst, Foma,“ fuhr mein Onkel fort, +aus allen Kräften bemüht, das Unangenehme des vorhergegangenen +Gespräches wenigstens durch irgend etwas ein wenig gutzumachen. „Du +trittst damit für die Wahrheit ein, Foma. Ich danke dir. Zuerst muß man +eine Sache kennen, und nur dann kann man urteilen. Ich bereue es. Aber +ich bin ja schon mehr als einmal in eine solche Patsche geraten. Stell +dir vor, Ssergei, ich habe einmal sogar examiniert. Ihr lacht! Nun ja! +Bei Gott, ich habe faktisch examiniert! Das war so: man forderte mich +einmal auf, in irgendeiner Lehranstalt einem Examen beizuwohnen, und man +setzte mich zusammen mit den Examinatoren an den großen Tisch, nur so, +als Ehrenbezeugung, es war dort ein überflüssiger Platz. Aber weißt du, +ich sage dir, ich bekam ordentlich Angst, – nein wirklich: regelrechte +Angst erfaßte mich. Wie sollte ich nicht – denk doch nur: habe doch von +keiner einzigen Wissenschaft auch nur einen Schimmer! Was tun also? Gott +im Himmel, denke ich, jetzt wirst du selbst auch noch an die Tafel +gerufen werden! Nun, dann aber – ging alles gut vonstatten: ich stellte +sogar selbst noch Fragen, fragte: Wer war Noah? Überhaupt, es wurde +vorzüglich geantwortet. Nachher frühstückten wir noch und tranken auf +das Gedeihen der Anstalt Champagner. Eine vortreffliche Lehranstalt +war’s!“ + +Foma Fomitsch und Obnoskin brachen in schallendes Gelächter aus. + +„Aber ich habe ja später auch gelacht!“ rief mein Onkel dazwischen, +lachte selbst mit in seiner Gutmütigkeit und freute sich, daß er andere +erheitert hatte. „Nein, Foma, wart, ich werde euch alle noch mehr zum +Lachen bringen – ich werde euch erzählen, wie ich einmal hereingefallen +bin ... Stell dir vor, Ssergei, wir standen damals in Krasnogorsk ...“ + +„Gestatten Sie eine Frage, Oberst: Wird Ihre Geschichte lang werden?“ +unterbrach ihn Foma. + +„Ach, Foma! Aber das ist doch eine wundervolle Geschichte, einfach zum +Kranklachen! Hör doch nur zu! Sie ist gut, bei Gott, sie ist gut!“ + +„Ich höre Ihre Geschichten, wenn sie von dieser Art sind, stets mit +Vergnügen an,“ sagte Obnoskin, indem er sich absichtlich kaum die Mühe +gab, ein Gähnen zu verbergen. + +„Tja, man wird also wohl zuhören müssen,“ meinte Foma resigniert. + +„Aber es lohnt sich, bei Gott, Foma! Ich werde Ihnen erzählen, wie ich +einmal hereinfiel, Anfissa Petrowna. Hör auch du zu, Ssergei: es ist +zugleich lehrreich. Unser Regiment stand damals in Krasnogorsk,“ begann +mein Onkel, strahlend vor Freude, schnell und eilig, mit unzähligen +einleitenden Sätzen, wie es nun einmal seine Art war, wenn er etwas zur +Unterhaltung seiner Gäste erzählte. „Kaum waren wir angekommen, da +ging’s auch schon am selben Abend ins Theater. Die Primadonna, Fräulein +Kuropatkina, war berückend schön. Später entfloh sie mit dem Rittmeister +Swerkoff, noch bevor sie das Stück zu Ende gespielt hatte. Der Vorhang +mußte fallen ... Das heißt, dieser Swerkoff war eine Bestie, trank und +spielte; aber eigentlich war er doch kein Trunkenbold, sondern nur so, – +immer bereit, mit den Kameraden gemütlich zu sein. Wenn er dann aber +einmal ins Trinken kam, dann vergaß er alles: wo er lebte, in welchem +Reich, wie er hieß – kurz: alles! Im Grunde aber war er ein prächtiger +Junge ... Nun, ich sitze also im Theater. In der Pause gehe ich +hinaus ins Foyer, und da treffe ich zufällig meinen früheren +Regimentskameraden, Kornuchoff ... Ein prachtvoller Mensch! Wir hatten +uns seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Nun, er war im Feuer gewesen, +mit Kreuzen behängt – jetzt ist er, wie ich vor kurzem hörte, schon +Wirklicher Staatsrat: er ist nämlich in den Staatsdienst übergetreten +und wird es noch zu hohem Ansehen bringen ... Nun, versteht sich, wir +freuten uns. Reden dies und das. Neben uns aber in der Loge sitzen drei +Damen: die eine, die links sitzt, hat ein Gesicht, wie die Welt kein +fürchterlicheres hervorbringen kann ... Später erfuhr ich, daß sie eine +treffliche Dame war, Familienmutter – was will man mehr – hat den Mann +glücklich gemacht ... Nun, und ich Dummkopf frage Kornuchoff: ‚Sag mal, +Freund, weißt du nicht, was ist denn das da für eine Vogelscheuche?‘ – +‚Wer?‘ – ‚Na, diese dort links!‘ – ‚Ja so ... das ist meine Cousine.‘ – +Pfui Teufel! Man denke sich meine Situation! Ich will’s natürlich sofort +gutmachen: – ‚Nein doch, nicht diese,‘ sage ich, ‚was du doch für Augen +hast! Diese, die rechts sitzt: wer ist das?‘ – ‚Das ist meine +Schwester.‘ – Verdammte Zucht! denke ich. Seine Schwester aber war, wie +zum Trotz, eine wahre Rosenknospe, ganz allerliebst, und dazu +angekleidet: Kettchen und Armbänder und Spitzen, – mit einem Wort, wie +so’n Engelchen. Späterhin heiratete sie einen prächtigen jungen +Menschen, einen gewissen Pychtin; sie war zuerst mit ihm losgezogen und +hatte sich ungefragt trauen lassen; jetzt aber ist alles, wie es sich +gehört, leben gut, die Eltern haben ihre Freude an ihnen ... Na also –: +‚Nein doch!‘ sage ich unwillig, weiß aber selbst nicht, wo ich mich +verkriechen soll, ‚nicht diese! Ich meine jene, die in der Mitte sitzt, +– wer ist das?‘ – ‚Tja, in der Mitte – nun, Freund, das ist meine Frau +...‘ Unter uns: ein wahrer Leckerbissen, aber kein Mensch: ihr Anblick +allein war schon ein solches Vergnügen, daß man sie am liebsten heil +verschluckt hätte ... – ‚Nun,‘ sage ich, ‚hast du jemals einen Dummkopf +gesehen? Dann sieh ihn dir jetzt an; hier ist er, und sein Kopf steht +dir gleichfalls zur Verfügung: köpfe nur zu, brauchst nichts zu +bedauern!‘ Er lachte. Nach der Aufführung machte er mich mit seinen +Damen bekannt, und wahrscheinlich hatte der Schlingel ihnen schon alles +erzählt. Es wurde etwas viel gelacht! Aber ich muß sagen, ich habe noch +nie so lustig die Zeit verbracht. Nun siehst du, Foma, wie man zuweilen +hereinfallen kann! Ha–ha–ha–ha!“ + +Doch vergeblich lachte mein armer Onkel, vergeblich blickten seine +heiteren treuen Augen im Kreise umher: Schweigen war die Antwort auf +seine „lustige“ Geschichte. Foma Fomitsch saß in finsterer Stummheit da, +und seinem Beispiel folgten pflichtschuldig alle anderen – nur Obnoskin +lächelte kaum merklich, da er die Philippika voraussah, die meinem armen +Onkel bevorstand. Dieser wurde etwas verlegen und errötete. Das war es, +was Foma gewünscht hatte. + +„Sind Sie nun fertig?“ fragte er endlich feierlich. + +„Ja, ich bin fertig, Foma.“ + +„Und Sie freuen sich?“ + +„Das heißt ... wieso, Foma? – wie meinst du das?“ fragte gleichsam +schmerzlich mein Onkel. + +„Ist Ihnen jetzt leichter? Sind Sie jetzt zufrieden, da es Ihnen doch +gelungen ist, die angenehme literarische Unterhaltung der Freunde zu +stören, indem Sie sie unterbrachen und so Ihrem kleinlichen Ehrgeiz +Genüge tun konnten?“ + +„Aber hör doch auf, Foma! Ich wollte euch alle ja nur erheitern, du aber +...“ + +„Erheitern!“ schrie Foma auf, plötzlich sehr belebt. „Sie sind ja nur +fähig, einen schwermütig zu machen, aber nicht zu erheitern! Zu +erheitern! Begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Erzählung fast unsittlich +war? Ich sage nicht einmal: unanständig – das versteht sich von selbst +... Sie erklärten soeben mit seltener Gefühlsroheit, daß Sie über eine +Unschuldige gelacht haben, über eine geborene Aristokratin, und zwar nur +deshalb, weil diese nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen! Und uns, +uns wollen Sie veranlassen zu lachen, mit anderen Worten: uns wollten +Sie verleiten, einer rohen und unanständigen Tat Beifall zu spenden, und +das alles nur deshalb, weil Sie hier der Hausherr sind! Tun Sie, was Sie +wollen, Oberst, Sie können sich Schmarotzer, Speichellecker und Partner +jeder Art zusammensuchen, Sie können sie sogar aus fernen Landen +verschreiben und auf diese Weise Ihre Suite vergrößern, zum Nachteil der +Gesinnungstüchtigkeit und des Edelsinnes aller noch reinen Herzen. +Niemals aber wird Foma Opiskin weder ein Schmeichler, noch ein +Speichellecker, noch Ihr Gnadenbrotesser sein! Wenn auch sonst nichts, +dieses aber können Sie mir glauben: dessen versichere ich Sie ...!“ + +„Ach, Foma, du hast mich ja gar nicht verstanden, Foma!“ + +„Nein, Oberst, ich bin schon lange hinter Ihr wahres Wesen gekommen, ich +durchschaue Sie vollkommen. An Ihnen nagt grenzenlose Eigenliebe: Sie +machen Ansprüche auf unübertrefflichen Witz, und Sie vergessen, daß +Ansprüche den Geist stumpf machen – Sie ...“ + +„Um Gottes willen, Foma, laß es doch gut sein! Schäm dich doch +wenigstens vor den anderen ...!“ + +„Aber es ist doch traurig, so etwas mit ansehen zu müssen, Oberst, und +wenn man es sieht, kann man nicht schweigen. Ich bin arm, ich lebe bei +Ihrer Frau Mutter. Da könnte man ja glauben, daß ich durch mein +Schweigen mich bei Ihnen einschmeicheln wollte. Ich aber will nicht, daß +mich der erste beste _Grünschnabel_ für Ihren Gnadenbrotesser hält! +Vielleicht habe ich vorhin, als ich hier eintrat, absichtlich meine +wahrheitsliebende Offenheit betont und unterstrichen, ich war +_gezwungen_, sie bis zur Grobheit zu treiben, eben weil Sie selbst +belieben, mich in eine solche Lage zu bringen. Sie gehen gar zu anmaßend +mit mir um, Oberst. So kann man mich ja für Ihren Sklaven, Ihren +Schmarotzer, Ihren Speichellecker halten! Es scheint Ihnen Vergnügen zu +bereiten, mich vor _Unbekannten_ zu erniedrigen, während ich Ihnen +gleichstehe – hören Sie? – in jeder Beziehung gleichstehe! Vielleicht +bin sogar _ich_ es, der Ihnen damit einen Dienst erweist, daß ich bei +Ihnen lebe ... und es ist nicht so, daß _Sie_ mir einen erweisen. Man +erniedrigt mich, folglich muß ich mich vor Ihnen loben – das ist nur +natürlich! Ich darf nicht schweigen, ich muß sprechen, ich muß +unverzüglich protestieren; denn ich erkläre Ihnen offen und einfach, daß +Sie phänomenal neidisch sind! Sie sehen, zum Beispiel, daß ein Mensch in +einem einfachen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich sein Wissen, +seine Belesenheit, seinen guten Geschmack bewiesen hat: und schon ärgern +Sie sich, Sie ertragen es nicht: ‚Wart, jetzt werde auch ich schnell +meine Kenntnisse, meinen guten Geschmack zeigen!‘ denken Sie sogleich. +Aber was haben Sie denn für einen Geschmack, mit Erlaubnis zu fragen? +Vom Geschmack verstehen Sie ebensoviel wie – verzeihen Sie, Oberst – wie +zum Beispiel, sagen wir, ein Ochs von Rindfleisch! Das ist schroff und +grob ausgedrückt – ich gebe es selbst zu ... aber es ist wenigstens +offenherzig und gerecht. So etwas würden Sie von Ihren Schmeichlern +nicht hören, Oberst.“ + +„Ach, Foma ...!“ + +„Das ist’s ja: ‚Ach, Foma!‘ Man sieht, die Wahrheit ist kein +Daunenkissen. Nun gut. Wir werden darauf noch später zu sprechen kommen, +jetzt aber erlauben Sie auch mir einmal, das Publikum zu erheitern. Sie +können sich doch nicht immer nur allein auszeichnen. Pawel Ssemjonytsch! +Haben Sie dieses Meerungeheuer in Menschengestalt schon gesehen? Ich +beobachte ihn schon geraume Zeit. Sehen Sie ihn sich nur aufmerksam an: +er würde mich mit Vergnügen verschlingen, lebendig, mit Haut und +Haaren!“ + +Er sprach von Gawrila. Der alte Diener stand an der Tür und hörte +allerdings mit tiefem Herzeleid zu, wie seinem Herrn „der Kopf +gewaschen“ wurde. + +„Auch ich will Sie mit einem Schaustück belustigen, Pawel Ssemjonytsch. +– He, du, Krähe, komm her! Aber so geruhen Sie doch, sich +hierherzubemühen, Gawrila Ignatjitsch! Das ist, wie Sie sehen, Gawrila, +der zur Strafe für seine Grobheit Französisch lernt. Ich mildere wie +Orpheus die hiesigen Sitten, nur tue ich es nicht mit Liedern, sondern +mittels der französischen Sprache. Nun, mein Franzose, mßjö Schematon – +er kann es nicht leiden, wenn man mßö Schematon zu ihm sagt – hast du +deine Aufgabe gelernt?“ + +„Habe sie gelernt,“ antwortete Gawrila mit gesenktem Kopf. + +„Nun, parleh-wu-franßeh?“ + +„Wui mßö, shö-lö-parl-ön-pö ...“ + +Ich weiß nicht, war die traurige Miene Gawrilas beim Aussprechen der +französischen Phrase die Ursache, oder hatten alle den Wunsch Fomas +erraten – jedenfalls ertönte eine schallende Lachsalve, kaum daß Gawrila +den Mund aufgetan hatte. Sogar die Generalin geruhte zu lachen. Anfissa +Petrowna Obnoskina warf sich an die Sofalehne zurück und wieherte +geradezu, das Gesicht mit dem Fächer bedeckt. Gawrila aber, als er sah, +welche Wendung das Examen nahm, riß die Geduld, er spie plötzlich aus +und sagte: + +„Daß ich in meinen alten Jahren eine solche Schande erleben muß!“ + +Foma Fomitsch fuhr auf: + +„Was? Was hast du gesagt? Du läßt es dir einfallen, frech zu werden?“ + +„Nein, Foma Fomitsch,“ antwortete Gawrila ernst, „meine Worte sind keine +Frechheit, und mir, dem Leibeigenen, steht es nicht zu, gegen Euch, der +Ihr als Freier geboren seid, unehrerbietig zu sein. Aber jeder Mensch +trägt Gottes Geist in sich und ist sein Ebenbild. Ich stehe im +dreiundsechzigsten Lebensjahr. Mein Vater erinnert sich noch +Pugatschoffs[2], und mein Großvater ist mit Matwei Nikititsch – Gott hab +ihn selig! – also zusammen mit seinem gnädigen Herrn von Pugatschoff an +ein und demselben Galgen erhängt worden, wofür mein Vater vom seligen +Herrn Afanassij Matwejitsch mehr als alle anderen ausgezeichnet wurde: +er diente als Kammerdiener und starb als freier Hofbauer. Ich aber, +Herr, bin wohl nur ein herrschaftlicher Leibeigener, aber eine solche +Schande, wie jetzt, habe ich bis heute noch nicht erlebt!“ + +Bei den letzten Worten führte Gawrila seine herabhängenden Hände +auseinander und senkte den Kopf. Mein Onkel sah ihn unruhig an. + +„Schon gut, schon gut, Gawrila!“ rief er ihm zu, „wozu so viel reden! +Schon gut!“ + +„Tut nichts, tut nichts,“ sagte Foma, der ein wenig erbleicht war und +sich zu einem Lächeln zwang. „Mag er nur reden: das sind ja doch nur +Ihre Früchte ...“ + +„Ich werde jetzt einmal alles sagen,“ fuhr Gawrila fort, in den +plötzlich irgendein Geist gefahren zu sein schien, – „alles sagen und +nichts beschönigen! Und wenn man mir auch die Hände binden wird – meine +Zunge kann man mir doch nicht binden. Ich weiß, Foma Fomitsch, daß ich +vor Euch nur ein niedriger Mensch bin, ein Knecht, aber auch ich hab +mein Ehrgefühl! Zu Dienstbarkeit bin ich Euch für alle Zeit +verpflichtet, da ich als Unfreier geboren bin und jede Pflicht in Furcht +gewissenhaft erfüllen muß. Wenn Ihr Euch einschließt, um ein Buch zu +schreiben, so ist es meine Pflicht, daß ich Wache stehe und keinen zu +Euch lasse, weil Ihr mir das so angesagt und befohlen habt. Und wenn Ihr +Bedienung verlangt – ich tue alles gern. Nicht aber, daß ich in meinen +alten Tagen noch wie ein Ausländer bellen und vor den Menschen mir +solche Schmach und Schande antun lassen muß! Wage ich es doch jetzt +nicht mehr, in die Gesindestube zu gehen: ein Franzose bist du, sagen +sie mir alle, guten Tag, Herr Franzose! Nein, Foma Fomitsch, nicht ich +Dummkopf allein, sondern alle guten Leute sagen dasselbe: daß Ihr jetzt +wahrhaftig ein böser Mensch geworden seid, und daß unser Herr so gut wie +ein kleines Kind zu Euch sind, und daß Ihr, wenn Ihr auch von Geburt so +viel wie ein Generalssohn seid und es vielleicht selbst nicht viel +weniger weit als bis zum General gebracht habt, so doch ebendasselbe +seid, was man eine Furie nennt.“ + +Gawrila hatte zu Ende geredet. Ich war außer mir vor Entzücken. Foma +Fomitsch saß bleich und vor Wut regungslos da, inmitten der allgemeinen +Bestürzung, und schien nach diesem unerwarteten Angriff noch nicht zur +Besinnung kommen zu können. Es war, als überlegte er, in welchem Maße er +sich ärgern sollte, bis zu welchem Grade es richtig wäre, sich zu +ärgern. Endlich erfolgte der erste Aufschrei. + +„Wie!“ kreischte er auf. „Er hat es gewagt, mich zu beschimpfen! – mich! +Aber das ist doch Rebellion!“ schrie Foma, vom Stuhl emporschnellend, +mit der Stimme eines alten Weibes. + +Seinem Beispiel folgte sogleich die Generalin: sie schlug sogar die +Hände zusammen. Mein Onkel bemühte sich, den verbrecherischen Gawrila +aus dem Gesichtskreise zu schaffen. + +„Fesselt ihn, fesselt ihn! Legt ihn in Ketten!“ schrie die Generalin. +„Laß ihn sofort in die Stadt bringen und gib ihn unter die Soldaten, +Jegoruschka! Sonst versage ich dir meinen Muttersegen! Laß ihm sofort +Fußfesseln anlegen – und dann unter die Soldaten!“ + +„Wie!“ schrie Foma, „dieser Knecht! dieser Chaldäer! dieser Hamlet! Er +hat sich unterstanden, mich zu beschimpfen! Er, er, mein +Schuhputzlappen! Er hat es gewagt, mich eine Furie zu nennen!“ + +Da trat ich plötzlich entschlossen vor. + +„Ich muß gestehen, in diesem Fall bin ich vollkommen derselben Meinung +wie Gawrila,“ sagte ich, zitternd vor Aufregung, und blickte Foma offen +in die Augen. + +Dieses Auftreten meinerseits machte ihn so bestürzt, daß er im ersten +Augenblick, glaube ich, seinen Ohren nicht traute. + +„Was soll denn das bedeuten!“ brachte er endlich hervor, stürzte wie +rasend ein paar Schritte vor und durchbohrte mich gerader mit seinen +kleinen, blutunterlaufenen Augen. „Was bist du denn für einer?!“ + +„Foma Fomitsch ...“ wollte mein Onkel, der selbst nicht wußte, wo sein +Kopf stand, einlenken, „Foma Fomitsch, das ist Sserjosha, mein Neffe +...“ + +„Der Gelehrte!“ brüllte Foma auf, „das ist also jener _Gelehrte_! +Liberté – Egalité – Fraternité! Journal des Débats! Nein, du lügst! Hier +ist nicht Petersburg, hier kannst du nicht betrügen! Hol der Teufel +deine Débats! Bei dir heißt es Débats, bei uns aber Kabbala! Gelehrter! +Ich habe siebenmal mehr vergessen, als du überhaupt weißt! Was weißt du +denn überhaupt?“ ... + +Wenn man ihn nicht gehalten hätte, so würde er sich wahrscheinlich mit +den Fäusten auf mich gestürzt haben. + +„Aber er ist ja betrunken!“ sagte ich, mich im Kreise umblickend. + +„Wer? _Ich?!_“ schrie Foma mit einer noch nie gehörten Stimme. + +„Ja, Sie!“ + +„Betrunken?“ + +„Gewiß: betrunken!“ + +Das war zu viel für ihn. Er stieß einen Schrei aus, als wenn er +aufgespießt worden wäre, und stürzte aus dem Zimmer. Die Generalin +wollte, wie es schien, in Ohnmacht fallen, sagte sich aber, daß es +besser wäre, Foma Fomitsch nachzueilen. Ihr folgten alle anderen, – und +allen anderen folgte auch mein Onkel. Als ich wieder zu mir kam und mich +umsah, fand ich im Zimmer außer mir nur noch Jeshowikin. Er lächelte und +rieb sich die Hände. + +„Von den Jesuiten versprachen Sie mir zu erzählen,“ sagte er mit +einschmeichelnder Stimme. + +„Was?“ fragte ich, da ich nicht begriff, wovon er sprach. + +„Von den Jesuiten versprachen Sie vorhin zu erzählen ... eine Anekdote +...“ + +Ich ließ ihn stehen und eilte hinaus auf die Terrasse und von dort in +den Garten. In meinem Kopf drehte sich alles durcheinander ... + + + + + VIII. + + Die Liebeserklärung. + + +Wohl über eine Viertelstunde irrte ich, aufgebracht und äußerst +unzufrieden mit mir, im Garten umher. Was sollte ich tun? Die Sonne +stand schon tief im Westen ... Ich bog in eine dunkle Allee ein – und +plötzlich stand Nastenjka vor mir. In ihren Augen blitzten Tränen. In +der Hand zusammengeballt hielt sie ein Taschentuch. + +„Ich habe Sie gesucht,“ sagte sie. + +„Und ich Sie,“ antwortete ich. „Sagen Sie, ich bitte Sie: bin ich hier +in einer Irrenanstalt?“ + +„Durchaus nicht!“ war die Antwort. Sie schien gekränkt zu sein und sah +mich streng an. + +„Aber wenn es nicht der Fall ist, warum geschieht dann das alles? Geben +Sie mir doch um Gottes willen eine Erklärung, einen Rat! Wohin ist mein +Onkel jetzt gegangen? Kann ich nicht zu ihm gehen? Es freut mich sehr, +daß ich Sie getroffen habe, vielleicht werden Sie mich wenigstens über +einiges aufklären.“ + +„Nein, gehen Sie jetzt nicht hin. Ich bin selbst fortgegangen ...“ + +„Aber wo sind sie denn jetzt alle?“ + +„Weiß ich es!? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten gelaufen,“ +sagte sie gereizt. + +„In welch einen Gemüsegarten?“ + +„In der vergangenen Woche schrie Foma Fomitsch, daß er nicht mehr in +diesem Hause bleiben wolle, und plötzlich lief er in den Gemüsegarten, +fand im Schuppen glücklich einen Spaten und begann Beete zu graben. Wir +wunderten uns alle und glaubten schon, daß er verrückt geworden sei. +‚Ich werde Erde schaufeln,‘ sagte er, ‚damit man mir später nicht +vorwerfen kann, daß ich umsonst hier gelebt und gegessen habe. Wenn ich +aber das gegessene Brot mit meiner Hände Arbeit bezahlt haben werde, +dann werde ich mich aufmachen und fortgehen. So weit hat man mich +gebracht!‘ Da aber weinten alle, und viel fehlte nicht, so wären sie vor +ihm niedergekniet. Den Spaten wollten sie ihm mit Gewalt fortnehmen. Er +aber grub und grub drauflos. Alle Rüben hat er umgegraben. Ist man ihm +damals so begegnet, so wird er, denke ich, jetzt vielleicht dasselbe +tun. Von ihm ist alles zu erwarten.“ + +„Und Sie ... Sie erzählen das so kaltblütig!“ rief ich in heftigem +Unwillen aus. + +Da sah sie mich mit aufblitzenden Augen von der Seite an. + +„Verzeihen Sie mir: ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich rede! +... Wissen Sie, weshalb ich hergekommen bin?“ + +„N–ein,“ antwortete sie errötend, und ein gewisses peinliches Gefühl +spiegelte sich auf ihrem lieblichen Gesicht wider. + +„Verzeihen Sie mir;“ fuhr ich fort, „ich bin jetzt ganz aus dem Konzept +gebracht, und ich fühle, daß ich nicht in dieser Weise hätte anfangen +sollen, davon zu sprechen ... namentlich mit Ihnen nicht ... Aber, +gleichviel! Ich glaube, Offenheit ist in solchen Dingen immer das beste. +Ich gestehe ... das heißt, ich wollte sagen ... Sie kennen doch die +Absicht meines Onkels? Er wünscht, daß ich um Ihre Hand anhalte ...“ + +„Ach, welch ein Unsinn! Sprechen Sie nicht davon, ich bitte Sie!“ +unterbrach sie mich heftig, während sie heiß errötete. + +Ich war baff. + +„Wieso: – Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!“ + +„Hat er es Ihnen wirklich so ohne weiteres geschrieben?“ fragte sie +lebhaft. „Ach, er ist doch! ... Wie hat er mir dann versprechen können, +daß er es _nicht_ schreiben werde! ... Welch ein Unsinn! Gott, welch ein +Unsinn!“ + +„Verzeihen Sie,“ stotterte ich, da ich nicht wußte, was ich sagen +sollte. „Vielleicht war es unvorsichtig von mir, vielleicht sogar roh +... Aber wer kann denn hier, nach diesen Erlebnissen ... Denken Sie doch +nur, von ... weiß Gott was für Menschen und Plänen wir umringt sind ...“ + +„Ach, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich doch nicht! Glauben Sie +mir, daß es mir ohnehin schwer ist, davon reden zu hören; aber ich habe +Sie gesucht, um von Ihnen etwas zu erfahren ... Ach, wie ärgerlich! So +hat er es Ihnen also wirklich geschrieben? Das fürchtete ich ja am +meisten! Mein Gott, was ist denn das für ein Mann! ... Und Sie glaubten +natürlich sofort alles und kamen stehenden Fußes hergefahren? Das war +gerade noch nötig!“ + +Sie verbarg ihren Ärger nicht im geringsten. Meine Lage war nichts +weniger als beneidenswert. + +„Offen gestanden, ich hatte nicht erwartet ...“ brachte ich in größter +Verwirrung hervor. „Eine solche Wendung ... ich glaubte, im Gegenteil +...“ + +„Ah, also Sie glaubten?“ fragte sie mit leichter Ironie und biß sich die +Lippe. „Wissen Sie – zeigen Sie mir den Brief, den er an Sie geschrieben +hat?“ + +„Wie Sie wünschen.“ + +„Aber bitte seien Sie mir nicht böse, nehmen Sie es mir nicht übel! Es +gibt ja auch ohnehin schon Leid genug!“ fuhr sie mit bittender Stimme +fort, doch erschien schon wieder ein spöttisches Lächeln flüchtig auf +ihren reizenden Lippen. + +„Ach, halten Sie mich bitte nicht für so dumm!“ rief ich +leidenschaftlich aus. „Sie sind vielleicht voreingenommen gegen mich? +Vielleicht hat Ihnen jemand Schlechtes von mir erzählt? – Oder +vielleicht – weil ich dort heute so schlecht abgeschnitten habe? Aber +das ist ja nichts, – ich versichere Sie! Ich begreife sehr gut, für wie +dumm Sie mich jetzt halten müssen. Aber lachen Sie, bitte, nicht über +mich! Ich weiß nicht, was ich rede ... Aber das kommt ja alles nur +daher, daß ich in diesem verwünschten Alter von zweiundzwanzig Jahren +stehe!“ + +„Oh, mein Gott, was hat das damit zu tun?“ + +„Wie, was das damit zu tun hat? Aber wer zweiundzwanzig Jahre alt ist, +dem steht ja die Jugend noch auf der Stirn geschrieben! Zum Beispiel wie +mir, als ich vorhin so wider Willen in die Mitte des Zimmers flog, oder +wie jetzt ... hier vor Ihnen ... Oh, dieses verwünschte Alter!“ + +„Oh, nein, nein!“ beteuerte Nastenjka, die sich kaum das Lachen +verbeißen konnte. „Ich bin überzeugt, daß Sie ein guter, lieber und +kluger Mensch sind. – Sie können mir glauben, daß ich es aufrichtig +meine! Aber ... Sie sind nur sehr ... ehrgeizig, sehr ... eigenliebig. +Doch das kann man sich ja noch abgewöhnen.“ + +„Ich glaube, daß ich nicht ehrgeiziger als nötig bin!“ + +„N ... das doch wohl nicht. Was war es denn vorhin, als Sie so verlegen +wurden – und weshalb? Weil Sie beim Eintritt gestolpert waren! ... +Welches Recht hatten Sie da, Ihren guten Onkel, der so viel für Sie +getan hat, lächerlich zu machen? Warum wollten Sie das Lächerliche auf +ihn abwälzen, während Sie selbst lächerlich waren? Das war schlecht, das +war häßlich von Ihnen! Das machte Ihnen wahrlich keine Ehre und – ich +sage es Ihnen ganz offen – Sie waren mir in jenem Augenblick sehr +unsympathisch – jawohl, damit Sie’s wissen!“ + +„Sie haben recht! Ich war ein großer Esel! Sogar mehr als das: ich +beging einfach eine Gemeinheit! Meine Strafe dafür ist – daß Sie es +bemerkt haben! Schelten Sie mich, lachen Sie über mich, aber hören Sie +mich an: vielleicht werden Sie Ihre Meinung von mir doch einmal ändern,“ +fuhr ich fort, beherrscht von einem ganz eigenartigen Gefühl; „Sie +kennen mich noch so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich näher kennen +gelernt haben werden, vielleicht ...“ + +„Um Gottes willen, lassen wir dieses Gespräch!“ unterbrach mich +Nastenjka mit sichtlicher Ungeduld. + +„Gut, gut, lassen wir es! Aber ... wo kann ich Sie wiedersehen?“ + +„Wie das – wo wiedersehen?“ + +„Aber es kann doch nicht sein, daß wir jetzt hier das letzte Wort +miteinander gesprochen haben sollen, Nastassja Jewgrafowna! Ich flehe +Sie an, mir zu sagen, wo und wann ich Sie wiedersehen kann, wenn möglich +heute noch! Übrigens nein, es dunkelt ja schon. Nun, dann also, wenn es +irgend geht, morgen früh, so früh wie möglich ... Ich werde mich früher +wecken lassen. Wissen Sie, dort am Weiher ist eine Laube. Ich entsinne +mich ihrer noch sehr gut und ich werde auch schon den Weg dorthin +finden. Ich habe ja als kleiner Junge hier gelebt.“ + +„Aber wozu dieses Rendezvous? Wir sprechen doch schon miteinander!“ + +„Aber ich weiß ja vorläufig noch nichts, Nastassja Jewgrafowna! Ich muß +vorher noch mit meinem Onkel reden. Er muß mir doch endlich alles +erzählen, und dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges sagen +...“ + +„Nein, nein! Das ist nicht nötig, gar nicht nötig!“ rief Nastenjka aus. +„Lassen Sie es uns jetzt zu einem Ende bringen, aber so, daß wir später +kein Wort mehr darüber zu verlieren brauchen. In jene Laube aber bemühen +Sie sich nicht. Ich versichere Sie, daß ich nicht kommen werde. Bitte, +schlagen Sie sich doch diesen ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie +allen Ernstes darum ...“ + +„Dann ist ja mein Onkel verrückt gewesen, als er jenen Brief schrieb!“ +rief ich in unerträglichem Ärger aus. „Warum hat er mich denn +hergerufen? Doch – Hören Sie? – Was ist das für ein Geschrei?“ + +Wir waren nicht weit vom Hause stehen geblieben. Aus den offenen +Fenstern drangen Gekreisch und ganz absonderliche Schreie in den Garten. + +„Mein Gott!“ sagte sie erbleichend, „schon wieder! Ich ahnte es ja!“ + +„Sie ahnten es? Gestatten Sie mir noch eine Frage, Nastassja +Jewgrafowna? Ich habe allerdings nicht das geringste Recht, sie zu +stellen, aber des allgemeinen Wohles wegen entschließe ich mich dazu. +Sagen Sie – es soll in mir begraben sein – sagen Sie mir ganz offen: ist +mein Onkel in Sie verliebt?“ + +„Ach glauben Sie doch, bitte, nicht an solchen Unsinn!“ rief sie heftig +aus und errötete vor Unwillen. „Nun fangen auch Sie damit an! Wenn er +mich lieben würde, so hätte er mich doch nicht Ihnen angeboten,“ fügte +sie mit bitterem Lächeln hinzu. „Und wie kommen Sie überhaupt darauf? +Begreifen Sie denn wirklich nicht, um was es sich hier handelt? Hören +Sie dieses Geschrei?“ + +„Aber ... das ist ja Foma Fomitsch ...“ + +„Natürlich Foma Fomitsch! Jetzt streiten sie sich dort um meinetwillen; +denn sie sagen ja dasselbe, was Sie soeben sagten, denselben Unsinn: sie +argwöhnen, daß er in mich verliebt sei! Und da ich arm und gering bin, +und es folglich nichts kostet, mich mit Schmutz zu bewerfen, so wollen +sie ihn mit einer anderen verheiraten – und daher verlangen sie, daß er +mich zur Sicherheit nach Haus, zu meinem Vater schicke. Wenn man ihm +aber damit kommt, so gerät er sofort außer sich – ich glaube, er wäre +sogar fähig, Foma Fomitsch zu zerreißen. Und nun streiten sie sich +wieder darum! Ich fühle es, daß es sich wieder um mich handelt.“ + +„So ist also alles wahr? Dann wird er diese Tatjana heiraten?“ + +„Was für eine Tatjana?“ + +„Nun, dieses verrückte Frauenzimmer.“ + +„Ich bitte Sie, Tatjana Iwanowna ist durchaus nicht verrückt! Sie ist +ein sehr guter Mensch. Und Sie haben kein Recht, so von ihr zu sprechen! +Sie hat ein edles Herz, ein edleres, als es manch einer hat. Sie ist +nicht schuld daran, daß sie unglücklich ist.“ + +„Verzeihen Sie. Nehmen wir an, daß Sie hierin vollkommen recht haben; +aber täuschen Sie sich dann nicht in der Hauptsache? Wie kommt es denn, +sagen Sie doch, – daß zum Beispiel Ihr Herr Vater, wie ich bemerkt habe, +so freundlich von ihnen empfangen wird! Denn – wenn sie sich wirklich +dermaßen über Sie ärgerten, wie Sie versichern, und wenn man Sie sogar +aus dem Hause schicken wollte, dann würde man sich doch auch über ihn +ärgern und ihn schlecht empfangen.“ + +„Aber haben Sie denn nicht gesehen, was mein Vater für mich tut? Er +erniedrigt sich doch bis zum Narren vor ihnen! Er wird nur deshalb +empfangen, weil er Foma Fomitsch schmeichelt; da dieser Foma Fomitsch +selbst eine Narrenrolle gespielt hat, so freut es ihn, wenn nun auch er +seine Narren hat. Was glauben Sie denn, warum mein Vater es tut? – Nur +um meinetwillen, einzig und allein für mich tut er es! Er hat es nicht +nötig, seinetwegen wird er keinem einen unnützen Bückling machen. +Vielleicht erscheint er manchem sehr lächerlich; ich weiß aber, daß er +der ehrenhafteste und edelste Mensch ist. Er glaubt, weiß Gott aus +welchem Grunde – jedenfalls aber nicht deshalb, weil ich hier ein gutes +Gehalt bekomme – das schwöre ich Ihnen ...! er glaubt, daß es für mich +besser sei, wenn ich in diesem Hause bleibe. Aber jetzt habe ich ihn vom +Gegenteil überzeugt. Ich hatte ihm in sehr bestimmtem Ton geschrieben; +und deshalb ist er heute hergekommen, um mich mitzunehmen. Und wenn es +darauf ankommt, so fahre ich morgen fort. Ich bin ja doch schon zum +Äußersten getrieben. Die da – die würden froh sein, wenn sie mich +verschlingen könnten. Ich weiß, daß ich die Ursache ihres Streites bin. +Sie zermalmen _ihn_ nur deswegen, und nur weil ich hier bin, werden sie +_ihn_ unglücklich machen! _Er_ aber ist mir ein zweiter Vater, hören +Sie! – sogar mehr als mein leiblicher Vater! Ich will es nicht so weit +kommen lassen. Ich sehe weiter voraus als andere; denn ich weiß mehr. +Nein, morgen, morgen noch werde ich fortfahren! Vielleicht werden sie +dann wenigstens seine Hochzeit mit Tatjana Iwanowna auf einige Zeit noch +hinausschieben ... Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt. Und nun sagen Sie +ihm das wieder; denn ich kann jetzt nicht mehr mit ihm sprechen: wir +werden beobachtet ... von der Perepelizyna. Sagen Sie _ihm_, daß er sich +nicht beunruhigen soll, daß ich lieber schwarzes Brot essen und in der +Hütte meines Vaters leben, als die Ursache _seiner_ Folter sein will. +Ich bin arm und folglich muß ich auch so leben wie Arme. Aber, Gott, +welch ein Geschrei! Was mag dort wieder vor sich gehen? ... Nein, was +daraus auch entstehen mag, ich gehe hin! Ich werde ihnen alles offen ins +Gesicht sagen, gleichviel, was dann geschieht! Ich muß es tun! Leben Sie +wohl.“ + +Sie lief fort. Ich stand immer noch auf demselben Fleck, war mir +vollkommen der Lächerlichkeit der Rolle, die ich soeben gespielt hatte, +bewußt und konnte mir nicht denken, wie sich der Knoten lösen sollte. +Das arme Mädchen tat mir aufrichtig leid, und ich fürchtete für meinen +Onkel. Da bemerkte ich plötzlich, daß Gawrila vor mir stand. Er hielt +immer noch sein Vokabelheft in der Hand. + +„Jegor Iljitsch lassen bitten,“ sagte er mit wehmütiger Stimme. + +Da kam ich wieder zur Besinnung. + +„Wie – ich soll zu meinem Onkel? Wo ist er jetzt? Was ist mit ihm +geschehen? Wo ist er?“ + +„Im Teezimmer.“ + +„Und wer ist bei ihm?“ + +„Sie sind allein und warten.“ + +„Auf wen? Auf mich?“ + +„Sie haben nach Foma Fomitsch geschickt ... Ach ja! unsere guten Tage +sind jetzt gewesen!“ fügte er tief aufseufzend hinzu. + +„Nach Foma Fomitsch? Hm! Aber wo sind die anderen? Wo ist die Gnädige?“ + +„Sie sind in ihrer Hälfte. Sie geruhten, in Ohnmacht zu fallen, und +jetzt liegen sie bewußtlos da und weinen.“ + +Inzwischen hatten wir die Terrasse erreicht. Es war fast schon ganz +dunkel. Mein Onkel war tatsächlich ganz allein im Teesalon und ging in +ihm mit großen Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten Lichter. Als +er mich erblickte, eilte er mir entgegen und erfaßte meine Hände. Er war +bleich und atmete schwer. Seine Hände bebten. Von Zeit zu Zeit lief ein +nervöses Zucken über seinen ganzen Körper. + + + + + IX. + + „Ew. Exzellenz.“ + + +„Mein Freund! Alles ist zu Ende, alles ist zu Ende!“ sagte mein Onkel +halblaut mit einer fast tragischen Stimme. + +„Onkel ... ich hörte vorhin eigentümliche Schreie.“ + +„Gewiß, Freund, eigentümliche Schreie, – hier hat es alle möglichen +Schreie gegeben! Mama ist in Ohnmacht gefallen, und dort steht jetzt +alles auf dem Kopf. Aber ich habe mich entschlossen und bestehe auf dem +meinen. Jetzt fürchte ich nichts mehr, Ssergei. Ich will ihnen beweisen, +daß auch ich Charakter habe, und ich werde es beweisen! Darum habe ich +absichtlich nach dir geschickt, damit du mir hilfst, es ihnen zu +beweisen ... Mein Herz ist wund, mein junger Freund ... aber ich muß! Es +ist geradezu meine Pflicht, mit aller Strenge vorzugehen! Gerechtigkeit +ist unerbittlich!“ + +„Aber was ist denn vorgefallen, Onkel?“ + +„Ich trenne mich von Foma,“ antwortete mein Onkel mit entschlossener +Stimme. + +„Onkel!“ rief ich begeistert aus, „auf etwas Besseres hätten Sie ja +überhaupt nicht verfallen können! Und wenn ich nur irgendwie zur +Ausführung Ihres Entschlusses beitragen kann, so ... verfügen Sie ewig +über mich!“ + +„Ich danke dir, Freund, ich danke dir! Aber jetzt ist alles beschlossen. +Ich erwarte Foma. Ich habe schon nach ihm geschickt. Entweder er oder +ich! Wir müssen auseinandergehen. Entweder verläßt Foma morgen das Haus, +oder – ich schwöre es – ich verlasse hier alles und trete wieder in mein +Husarenregiment ein! Mich wird man schon nehmen. Man wird mir schon +einen Platz geben! Zum Teufel mit diesem ganzen System! Jetzt geht es +nach neuen Grundsätzen! ... Wozu hältst du da noch immer dein +französisches Heft in der Hand?“ schrie er plötzlich heftig den alten +Gawrila an. „Fort damit! Verbrenn es, zerstampf es, zerreiß es! _Ich_ +bin dein Herr, und _ich_ befehle dir, französisch nicht zu lernen! _Mir_ +mußt du gehorchen; denn _ich_ bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!“ + +„Gott sei gelobt und gedankt!“ murmelte Gawrila vor sich hin. + +Die Sache schien wirklich ernst zu werden. + +„Mein Freund!“ fuhr mein Onkel mit tiefem Gefühl fort, „sie verlangen +Unmögliches von mir! Du sollst mich richten, du sollst jetzt zwischen +ihnen und mir wie ein unparteiischer Richter stehen ... Du weißt nicht, +du weißt nicht, was sie von mir wollten, und was sie schließlich ganz +ausdrücklich bereits von mir verlangten! Jetzt haben sie alles offen +ausgesprochen! Aber das ist wider die Nächstenliebe, wider Anstand und +Ehre ... Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst ...“ + +„Ich weiß bereits alles, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „oder ich errate es +wenigstens ... Ich habe soeben mit Nastassja Jewgrafowna gesprochen.“ + +„Freund, kein Wort, jetzt kein Wort davon!“ unterbrach er mich eilig, +als hätte ich ihn erschreckt. „Ich werde dir später alles selbst +erzählen, aber vorläufig ... Nun was?“ rief er den eingetretenen +Widopljässoff an, „wo ist Foma Fomitsch?“ + +Widopljässoff meldete, daß Foma Fomitsch „nicht zu kommen wünschten und +die Forderung, zu erscheinen, unerhört beleidigend fänden, so daß sie, +Foma Fomitsch, sich sehr gekränkt zu fühlen geruhten“. + +„Bring ihn her! Schlepp ihn an! Her mit ihm! Mit Gewalt schleif ihn +her!“ schrie mein Onkel, und er stampfte mit dem Fuß auf. + +Widopljässoff, der seinen Herrn noch nie in einem solchen Zorn gesehen +hatte, zog sich erschreckt zurück. Ich wunderte mich. + +„Dann muß es sich doch um etwas sehr Wichtiges handeln,“ dachte ich, +„wenn ein Mensch mit einem so weichen Charakter in eine solche Wut +geraten kann und so energisch seinen Entschluß durchsetzen will.“ + +Schweigend ging mein Onkel eine Weile auf und ab, als kämpfe er +innerlich mit sich selbst. + +„Du, zerreiß übrigens nicht das Heft,“ sagte er schließlich zu Gawrila. +„Wart noch etwas und bleibe auch hier: du wirst vielleicht nötig sein. +Freund!“ fuhr er fort, sich wieder an mich wendend, „ich bin, glaube +ich, doch etwas zu laut gewesen. Jede Sache muß man würdig und männlich +tun, und ohne zu schreien, ohne Beleidigungen. Ja, so muß man’s tun. +Weißt du, Ssergei: würde es nicht besser sein, wenn du so lange +fortgingst? Dir kann es doch gleichgültig sein, nicht? – denn ich werde +dir später ja doch alles erzählen – was? Was meinst du? tu es mir +zuliebe, bitte!“ + +„Sie fürchten sich, Onkel? Sie bereuen es?“ fragte ich und sah ihn +aufmerksam an. + +„Nein, nein, mein Freund, ich bereue nichts!“ rief er mit doppelter +Lebhaftigkeit aus. „Jetzt fürchte ich nichts mehr. Ich habe +entscheidende Maßregeln getroffen, die entscheidendsten! Du weißt nicht, +du kannst es dir nicht vorstellen, was sie von mir verlangt haben! Hätte +ich denn wirklich einwilligen sollen? Nein, ich werde es beweisen! Ich +habe mich frei gemacht und werde es beweisen! Irgendeinmal hätte ich es +doch beweisen müssen! Aber, weißt du, Freund, ich bereue es, daß ich +dich habe rufen lassen: es könnte Foma sehr schwer werden ... wenn auch +du zugegen bist ... sozusagen als Zeuge seiner Erniedrigung. Sieh mal, +ich will ihm in einer anständigen Form meine Gastfreundschaft kündigen, +aber ohne jede Beleidigung oder Erniedrigung. Aber, sieh, das kann ich +doch nur so sagen, bloß sagen, daß ich es ohne Beleidigung tun will; +denn die Sache an sich, Freund, ist und bleibt doch derart, daß sie, +auch wenn du sie mit noch so honigsüßen Worten ausschmückst, immerhin +kränkt. Und dazu bin ich noch ein roher, ungebildeter Mensch; da kann es +denn geschehen, daß ich aus Dummheit irgend etwas sage, worüber ich mein +Lebtag nicht wieder froh sein werde. Er hat doch immerhin viel für mich +getan ... Geh, Freund, bitte! ... Da kommt er schon, da bringt man ihn +schon! Ssergei, ich bitte dich, geh fort! Ich werde dir später alles +erzählen. Geh, um Christi willen, geh!“ + +Und mein Onkel schob mich auf die Terrasse hinaus – fast im selben +Augenblick, als Foma ins Zimmer trat. + +Doch nun muß ich eines gestehen: Ich ging nicht fort: ich beschloß, auf +der Terrasse zu bleiben, wo man mich in der Dunkelheit, vom Zimmer aus, +kaum sehen konnte: ich nahm mir vor, zu lauschen! + +Ich will meine Handlungsweise nicht weiter zu rechtfertigen suchen; aber +ich darf wohl sagen, daß ich, indem ich diese halbe Stunde dort auf der +Terrasse aushielt, ohne die Geduld zu verlieren und ins Zimmer zu +stürzen – die Heldentat eines Märtyrers vollbrachte. Von meinem Versteck +aus konnte ich nicht nur gut hören, ich konnte auch das ganze Zimmer +übersehen: ich war ja nur durch eine Glastür von ihnen getrennt. + +Jetzt bitte ich nur, sich einen Foma Fomitsch vorzustellen, dem +_befohlen_ worden war, zu erscheinen – und das noch mit der Androhung +sofortiger Gewaltanwendung, falls er nicht freiwillig kommen wollte. + +„War es für meine Ohren bestimmt, diese Drohung zu vernehmen, Oberst?“ +brüllte Foma, als er ins Zimmer trat. „Habe ich recht gehört?“ + +„Für deine, für deine Ohren, Foma, beruhige dich,“ antwortete mein Onkel +mutig. „Setz dich, laß uns einmal ernst, freundschaftlich, brüderlich +miteinander reden. Setz dich doch, Foma.“ + +Foma Fomitsch ließ sich feierlich auf einen Lehnstuhl nieder. Mein Onkel +ging mit schnellen, ungleichen Schritten im Zimmer auf und ab, offenbar +wußte er nicht, wie er anfangen sollte. + +„Eben brüderlich,“ wiederholte er. „Du wirst mich verstehen, Foma, du +bist kein Kind. Ich bin auch kein Kind – mit einem Wort, wir sind beide +in den Jahren ... Hm! Sieh, Foma, wir stimmen in manchen Punkten nicht +ganz überein ... ja, eben in manchen Punkten, und darum, Foma – sollte +es da nicht besser sein, Freund, wenn wir auseinandergingen? Ich bin +überzeugt, daß du edelmütig bist, daß du mein Bestes willst, und darum +... Aber wozu soviel Worte! Foma, ich werde ewig dein Freund sein, ich +schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Hier sind fünfzehntausend +Rubel, das ist alles, Freund, was ich habe flüssig machen können, habe +das Letzte zusammengescharrt und noch den Meinen abgenommen. Nimm es +ruhig! Ich muß, ich bin verpflichtet, dich sicherzustellen! Hier ist der +Betrag, fast nur in Kassenscheinen. Nimm es ruhig! Du wirst mir deshalb +nichts schulden; denn ich werde dir ja sowieso niemals all das entgelten +können, was du für mich getan hast. Ja, ja, eben, ich fühle es, wenn wir +auch jetzt im Hauptpunkte auseinandergehen. Morgen oder übermorgen ... +oder wann es dir recht ist ... gehen wir auseinander. Fahr in unser +Städtchen, Foma, es ist ja nicht weit von hier, einige zehn Werst nur. +Dort ist ein Häuschen neben der Kirche, gleich in der ersten Querstraße, +mit grünen Läden und weißen Fensterrahmen, ein allerliebstes Häuschen. +Es gehört der Witwe des früheren Geistlichen, es ist für dich wie +geschaffen. Sie will es verkaufen. Ich werde es für dich erstehen, +natürlich nicht von diesem Gelde. Richte dich dort gemütlich ein, nicht +weit von uns. Beschäftige dich mit der Literatur, mit der Wissenschaft: +du wirst berühmt werden ... Die Beamten sind dort im Städtchen ohne +Ausnahme ehrenwerte, freundliche, uneigennützige Leute. Der Geistliche +ist ein gelehrter Mann. Zu den Feiertagen kommst du zu uns gefahren, zum +Besuch – und wir leben wie im Paradiese! Bist du einverstanden?“ + +„Also unter solchen Zugeständnissen wird Foma aus dem Hause geschafft!“ +dachte ich. „Vom Gelde hat er mir nichts gesagt.“ + +Lange Zeit herrschte tiefe Stille. Foma saß wie betäubt im Lehnstuhl und +blickte unverwandt meinen Onkel an, der sich unter diesem Schweigen und +diesem Blick augenscheinlich sehr unbehaglich fühlte. + +„Geld!“ hauchte schließlich Foma mit einer gemacht schwachen Stimme. „Wo +ist es denn, wo ist denn dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es nur +schneller her!“ + +„Hier ist es, Foma: alles, was ich in bar habe, rund fünfzehntausend, +alles, was ich habe auftreiben können. In Banknoten und Wertpapieren – +du wirst schon selbst sehen ... hier!“ + +„Gawrila! Nimm dieses Geld,“ sagte Foma demütig, „es kann dir, Alter, +einmal zustatten kommen. – Doch nein!“ rief er plötzlich mit einer +Stimme aus, in der noch ein ganz besonderer kreischender Ton mitklang, +und er sprang auf – „nein! Gib es mir zurück, Gawrila! Gib es mir, +dieses Geld! Gib es mir! Gib mir diese Millionen, damit ich sie mit +meinen Füßen in den Staub trete, gib sie mir, damit ich sie zerreiße, +bespeie, in alle Winde zerstreue, beschmutze, schände! ... Mir, mir +bietet man Geld an! Man will mich – bestechen, damit ich dieses Haus +verlasse! Habe ich recht gehört? Darf ich meinen Ohren trauen? Warum +mußte ich noch diese Schmach erleben! Hier, hier sind sie, Ihre +Millionen! Sehen Sie: hier, hier, hier und hier! Sehen Sie: so handelt +Foma Opiskin, wenn Sie es bis jetzt noch nicht gewußt haben, Oberst!“ + +Und Foma streute das ganze Geld auf dem Fußboden aus. Bemerkenswert war +nur, daß er keine einzige Banknote weder zerriß noch bespie, wie er es +zuerst angekündigt hatte, er verknitterte sie nur ein wenig, und auch +das tat er ersichtlich ziemlich vorsichtig. Gawrila stürzte sofort +hinzu, um das Geld aufzusammeln, das er dann später, nach Fomas +Fortgang, seinem Herrn wieder einhändigte. + +Diese Handlungsweise Fomas machte meinem Onkel buchstäblich starr vor +Verwunderung. Er stand unbeweglich, verständnislos, mit halboffenem +Munde vor Foma. Dieser hatte sich inzwischen wieder auf seinen Lehnstuhl +niedergelassen und atmete keuchend, ganz als befände er sich in +unbeschreiblicher Aufregung. + +„Du bist ein erhabener Mensch, Foma!“ rief endlich mein Onkel aus, wie +aus einem Traum erwachend. „Du bist der edelste Mensch der Welt!“ + +„Das weiß ich,“ antwortete Foma mit ergebener Stimme, doch mit +unendlicher Würde. + +„Foma, vergib mir! Ich bin ein Schuft vor dir, Foma!“ + +„Ja, vor mir,“ bestätigte Foma. + +„Hör, Foma, nicht über deinen Edelmut wundere ich mich,“ fuhr mein Onkel +begeistert fort, „sondern darüber, daß ich dermaßen roh, blind und +niedrig sein konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten. +Aber, Foma, nur in einem täuschst du dich: ich habe dich nicht bestechen +wollen, nicht dir dafür _zahlen_ wollen, wenn du das Haus verließest, +sondern ich wollte nur, daß du Geld hättest, daß du nicht Not zu leiden +brauchtest, wenn du von mir fortgingst. Das schwöre ich dir! Auf den +Knien, auf den Knien bin ich bereit, dich um Verzeihung zu bitten, Foma, +und wenn du willst, werde ich sogleich vor dir niederknien ... wenn du +nur willst ...“ + +„Ich brauche Ihr Knien nicht, Oberst! ...“ + +„Aber, mein Gott! ... Foma, du mußt doch verstehen: ich war doch +aufgebracht, war von Sinnen, war außer mir ... Aber so sage mir, womit +ich diese Kränkung wieder gutmachen könnte? Belehre mich, sag es doch +...“ + +„Mit nichts, mit nichts Oberst! Und seien Sie überzeugt, daß ich morgen +noch, auf der Schwelle dieses Hauses, den Staub von meinen Füßen +schütteln werde.“ + +Und Foma begann sich langsam aus dem tiefen Lehnstuhl zu erheben. Als +mein Onkel das sah, stürzte er entsetzt zu ihm und versuchte ihn wieder +zum Sitzen zu bringen. + +„Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, ich flehe dich an! Was redest du +da von Staub und Füßen, Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich folge +dir bis ans Ende der Welt und werde dir so lange folgen, bis du mir +endlich verzeihst ... Ich schwör dir, Foma, daß es so sein wird!“ + +„Ihnen verzeihen?“ fragte Foma, „aber begreifen Sie denn noch immer +nicht Ihre ganze Schuld vor mir? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit +jedem Stück Brot, daß Sie mir hier gegeben haben, schuldig vor mir +geworden sind? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie in dieser einen Minute +alle jene Brotstücke, die ich früher hier in diesem Hause gegessen habe, +nachträglich mit Gift vergiftet haben? Sie haben mir soeben einen +Vorwurf wegen dieser Brotstücke gemacht, wegen jedes Bissens, den ich +hier zu mir genommen! Sie haben mir soeben gezeigt, daß ich hier in +Ihrem Hause wie ein Knecht, wie ein Diener, wie ein Putzlappen Ihrer +Lackstiefel gelebt habe! Währenddessen habe ich in meiner +Herzensreinheit bis jetzt geglaubt, daß ich in Ihrem Hause als Freund, +als Bruder lebte! Haben Sie mich nicht selbst, nicht selbst mit Ihren +Schlangenreden tausendmal dieser Brüderschaft versichert? Warum haben +Sie denn heimlich hinter meinem Rücken diese Netze gestrickt, in denen +ich nun wie ein Tölpel gefangen bin? Warum haben Sie mir in der +Dunkelheit diese Wolfsgruben gegraben, in die Sie mich jetzt noch +eigenhändig hineinstoßen? Warum haben Sie mich nicht mit einem einzigen, +kurzen Schlage niedergestreckt, mit einem Schlage dieser Keule? Warum +haben Sie mir nicht gleich zu Anfang den Kopf umgedreht, wie einem Hahn, +zur Strafe dafür, daß er ... nun, sagen wir, keine Eier legt? Ja, gerade +so verhält es sich! Ich bestehe auf diesem Vergleich, Oberst, wenn er +auch dem Provinzleben entnommen ist und durch seinen trivialen Ton an +die zeitgenössische Literatur erinnert: ich bestehe deshalb auf ihm, +weil er so anschaulich die ganze Sinnlosigkeit Ihrer Beschuldigungen +zeigt; denn ich bin vor Ihnen genau so wenig schuldig wie dieser Hahn, +der durch seine Unfähigkeit zum Eierlegen den Unwillen seines +leichtsinnigen Besitzers erregt. Ich bitte Sie, Oberst! – zahlt man denn +einem Freunde, einem Bruder Geld – und wofür noch? Die Hauptsache ist +doch dieses: wofür! ‚Hier, nimm, mein geliebter Bruder, ich schulde dir +viel: du hast sogar mein Leben gerettet; hier hast du ein paar +Judassilberlinge, aber pack dich jetzt aus meinem Hause!‘ Wie naiv! Wie +roh Sie mich behandelt haben! Sie glaubten, daß ich nach Ihrem Golde +trachtete, während ich nur paradiesische Gefühle nährte und mich um Ihr +Wohlergehen sorgte. Oh, wenn Sie wüßten, wie Sie mein Herz verwundet +haben! Mit meinen edelsten Gefühlen haben Sie gespielt wie ein Knabe mit +einem Käfer, den er durchbohrt! Schon lange, schon lange, Oberst, habe +ich das jetzt Eingetroffene vorausgesehen. Das war auch der Grund, warum +ich schon lange an Ihrem Brot zu ersticken meinte, warum dieses Brot mir +innere Pein verursachte! Das ist auch der Grund, warum Ihre Daunenkissen +mich drückten, ja, mich drückten, statt mir ein weiches Lager zu sein! +Das war der Grund, weshalb Ihr Zucker, Ihre Konfitüren mir wie Pfeffer +schmeckten, nicht aber wie Süßigkeiten! Nein, Oberst! Leben Sie hinfort +allein, seien Sie allein selig und lassen Sie Foma einsam seinen +traurigen Weg gehen, mit einem kleinen Kleiderbündel auf dem Rücken. So +wird es sein, Oberst!“ + +„Nein, Foma, nein! So wird es nicht sein, so kann es nicht sein!“ +stöhnte mein unglücklicher Onkel. + +„Doch, Oberst, doch! Gerade so wird es sein; denn so _muß_ es sein. +Morgen noch werde ich Sie verlassen. Breiten Sie alle Ihre Millionen +aus, bedecken Sie die ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich +werde stolz und verachtend über Ihr Geld dahinschreiten! Hier, dieser +selbe Fuß, Oberst, wird diese Banknoten zertreten, in den Schmutz +treten, und Foma Opiskin wird einzig von seinem Seelenadel satt sein! +Ich habe es gesagt und – bewiesen! Leben Sie wohl, Oberst! Le–ben – Sie +wohl, Oberst!“ + +Und Foma begann von neuem sich zu erheben. + +„Verzeih mir, Foma, vergib mir! Vergiß, was ich getan!“ bat mein Onkel +mit flehender Stimme. + +„‚Vergib!‘ Was liegt Ihnen an meiner Vergebung? Nun gut, nehmen wir an, +ich vergebe Ihnen: ich bin Christ, ich kann Ihnen schlechterdings meine +Vergebung nicht vorenthalten, – ich habe Ihnen ja auch jetzt schon fast +verziehen. Aber urteilen Sie selbst: wäre es denn auch nur irgendwie mit +der gesunden Vernunft und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich jetzt noch +eine Minute in Ihrem Hause bliebe? Sie haben mich doch aus dem Hause +_fortgetrieben_!“ + +„Ach, gewiß ist es vereinbar, Foma, gewiß ist es vereinbar! Ich +versichere dir, daß es vereinbar ist!“ + +„Vereinbar? Aber sind wir denn jetzt noch Gleichstehende? Begreifen Sie +denn wirklich nicht, daß ich Sie mit meinem Edelmut sozusagen vernichtet +habe – und daß Sie sich selbst durch Ihre niedrige Handlung erniedrigt +haben? Sie sind in den Staub geworfen und ich bin erhoben worden. Wo +kann hier jetzt noch von Gleichheit die Rede sein? Wie aber kann es ohne +diese Gleichheit eine Freundschaft geben? Ich frage es mit einem +Schmerzensschrei, nicht aber triumphierend, wie Sie vielleicht wähnen.“ + +„Aber ich stoße ja selbst einen Schmerzensschrei aus, Foma, ich +versichere dich! ...“ + +„Und das ist derselbe Mensch,“ fuhr Foma fort, den strengen Ton in einen +andächtig-frommen verwandelnd, „derselbe Mensch, um dessentwillen ich so +viele Nächte nicht geschlafen habe! Wie oft, wie oft habe ich mich in +meinen schlaflosen Nächten von meinem Lager erhoben, das Nachtlicht +angezündet und zu mir gesagt: ‚Jetzt schläft er ruhig und verläßt sich +auf dich. So schlafe denn nicht, Foma, und wache du für ihn, vielleicht +wirst du noch etwas zu seinem Wohle ersinnen.‘ So dachte Foma Opiskin in +seinen schlaflosen Nächten, Oberst! Und so wird er dafür von diesem +selben Obersten belohnt! Doch genug, genug! ...“ + +„Aber ich werde, Foma, ich werde mir deine Freundschaft wieder +verdienen, das schwör’ ich dir!“ + +„Verdienen? Sie wollen sie wieder verdienen? Welche Gewähr können Sie +mir geben? Als Christ, der ich bin, verzeihe ich Ihnen und werde Sie +sogar lieben – als Mensch aber, und als edler Mensch, werde ich Sie +unwillkürlich verachten. Ich muß es, es ist meine Pflicht, um der +Sittlichkeit willen; denn – ich wiederhole es – Sie haben sich selbst in +den Schmutz getreten, und ich habe die edelste _Tat_ vollbracht. Wer von +den _Ihrigen_ würde eine ähnliche _Tat_ je vollbringen können? Wer von +ihnen würde auf eine so ungeheure Summe Geldes freiwillig verzichten, +auf eine Summe, auf die der bettelarme, von allen verachtete Foma +Opiskin aus Liebe zu seiner Seelengröße indessen verzichtet hat? Nein, +Oberst, um sich als Gleichstehender mit mir messen zu können, müßten Sie +jetzt _eine ganze Reihe_ von großen _Taten_, von _Heldentaten_ +vollbringen. Zu welch einer Heldentat aber sind Sie fähig, wenn Sie +nicht einmal in der Anrede ‚Sie‘ zu mir sagen können, wie zu einem +Gleichstehenden, sondern stets ‚du‘ zu mir sagen, wie zu einem Diener?“ + +„Aber Foma, ich habe doch nur aus Freundschaft _du_ zu dir gesagt!“ rief +mein Onkel aus. „Ich ahnte es nicht, daß es dir unangenehm sein könnte +... Mein Gott! Wenn ich es nur geahnt hätte ...“ + +„Sie,“ fuhr Foma unerschütterlich fort, „Sie, der Sie nicht einmal die +geringste, die geringfügigste Bitte erfüllen konnten oder richtiger – +nicht erfüllen _wollten_, als ich Sie bat, mich wie einen General ‚Eure +Exzellenz‘ zu nennen ...“ + +„Aber, Foma, das wäre doch sozusagen schon ein höherer Eingriff ...“ + +„Ein höherer Eingriff! Da haben Sie nun irgendeine Bücherphrase +auswendig gelernt und behalten: und die wiederholen Sie jetzt wie ein +Papagei! Wissen Sie denn nicht, daß Sie mich beschimpft, entehrt haben +mit Ihrer Weigerung, mich ‚Exzellenz‘ zu nennen, jawohl: entehrt! Denn +indem Sie meine Gründe nicht begriffen, stellten Sie mich als launischen +Dummkopf bloß, der es verdient hat, in die Irrenanstalt zu kommen! +Glauben Sie denn, ich begriffe nicht, daß ich lächerlich wäre, wenn ich +mich Exzellenz betiteln ließe, ich, der ich alle diese Titel und +irdischen Auszeichnungen verachte, alle diese Ehrungen, die an sich +vollkommen wertlos und nichtig sind, wenn sie nicht durch die Tugend +geheiligt werden? Für keine Million würde ich den Adel eines Generals +_ohne diese Tugend_ annehmen! Und _Sie_, _Sie_ hielten mich für einen +Wahnsinnigen! Nur zu Ihrem Vorteil opferte ich meine Eigenliebe und ließ +es zu, daß _Sie_, _Sie_ mich für einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie +und Ihre _Gelehrten_! Einzig zu dem Zweck, um Ihren Verstand zu +erleuchten, Ihre Sittlichkeit zu entwickeln und Sie mit dem +Strahlenlicht neuer Ideen zu überschütten, entschloß ich mich, von Ihnen +die Anrede ‚Exzellenz‘ zu fordern. Ich wollte nur, daß Sie hinfort nicht +mehr die Generäle für die höchsten Koryphäen oder Gestirne unseres +Erdballes hielten; ich wollte Ihnen beweisen, daß der Titel ohne Größe – +nichts ist, und daß kein Grund vorhanden war, sich dermaßen über den +Besuch Ihres Generals zu freuen, wenn neben Ihnen Menschen leben, die im +Glanze der Tugend leuchten! Aber Sie haben sich ja stets so gebrüstet +vor mir mit Ihrem Oberstentitel, daß es Ihnen gar zu schwer fiel, ‚Ew. +Exzellenz‘ zu mir zu sagen. Das war der Grund Ihrer Weigerung! Hierin +muß man den wahren Grund suchen, nicht aber in irgendwelchen Eingriffen +in das heilige Reglement! Der ganze Grund war der, daß Sie Oberst sind, +ich aber nur Foma Opiskin bin ...“ + +„Nein, Foma, nein! Ich versichere dich, daß es sich nicht so verhielt. +Du bist ein Gelehrter, du bist nicht ein gewöhnlicher Foma ... ich achte +dich ...“ + +„Achten, mich? Nun gut! Dann sagen Sie mir doch, wenn Sie mich so +achten, Ihre volle Meinung: bin ich des Generalstitel wert, bin ich +seiner würdig oder unwürdig? Antworten Sie mir bestimmt und ohne zu +zögern: ja oder nein? Ich will bei der Gelegenheit Ihren Verstand, Ihre +geistige Entwicklung prüfen.“ + +„Für deine Ehrlichkeit, deine Uneigennützigkeit, deinen Verstand, deinen +unvergleichlichen Edelmut – gewiß!“ antwortete mein Onkel stolz. + +„Und wenn ich ihn verdient habe, weshalb sagen Sie dann nicht ‚Ew. +Exzellenz‘ zu mir?“ + +„Foma, wenn du willst ... werde ich alles sagen ...“ + +„Ich verlange es! Jetzt verlange ich es, Oberst, ich bestehe darauf und +fordere es von Ihnen! Ich sehe, daß es Ihnen schwerfällt, und deshalb +verlange ich es. Dieses Opfer Ihrerseits wird der erste Schritt zu einer +großen Tat sein; denn – vergessen Sie das nicht! – Sie werden eine ganze +Reihe von großen Taten vollbringen müssen, um sich mit mir messen zu +können. Sie müssen sich selbst überwinden, dann erst werde ich an Ihre +Aufrichtigkeit glauben ...“ + +„Morgen, Foma, werde ich ‚Exzellenz‘ zu dir sagen!“ + +„Nein, nicht morgen, Oberst, morgen versteht es sich von selbst. Ich +fordere von Ihnen, daß Sie hier, jetzt gleich, hier auf der Stelle, ‚Ew. +Exzellenz‘ zu mir sagen.“ + +„Wie du willst, Foma, ich bin bereit ... Nur ... wie soll ich denn das, +Foma? So ... ohne weiteres ... jetzt gleich?“ + +„Weshalb denn nicht jetzt? Oder schämen Sie sich etwa? In dem Falle ist +es eine neue Kränkung, wenn Sie sich schämen.“ + +„Nun, dann ... gut, Foma, ich bin bereit ... ich bin sogar stolz darauf +... Nur ... wie soll ich denn, Foma, so ohne weiteres? Ich kann doch +nicht sagen: ‚Guten Tag, Exzellenz‘, – das geht doch nicht ...“ + +„Nein, nicht ‚guten Tag, Exzellenz‘, das ist wieder ein beleidigender +Ton. Das erinnert an einen Scherz, an eine Farce. Ich erlaube aber +nicht, daß man mit mir scherzt. Besinnen Sie sich, Oberst, besinnen Sie +sich sofort! Ändern Sie Ihren Ton!“ + +„Du willst doch nicht, Foma –?“ + +„Erstens bitte ich, mich nicht zu duzen, Jegor Iljitsch, – Sie haben +mich mit ‚Sie‘ anzureden, vergessen Sie das nicht. Und nicht Foma, +sondern Foma Fomitsch.“ + +„Aber, bei Gott, ich freue mich, Foma Fomitsch! Ich freue mich ... aus +allen Kräften ... Nur – was soll ich denn sagen?“ + +„Es macht Ihnen offenbar große Schwierigkeiten, Ihren Worten ‚Exzellenz‘ +hinzuzufügen – das sehe ich. Das ist einerseits sogar verzeihlich, +namentlich wenn der Mensch ... _kein Schriftsteller_ ist – höflich +ausgedrückt. Nun, ich werde Ihnen helfen, weil Sie _kein_ Schriftsteller +sind. Sprechen Sie mir jetzt nach: ‚Eure Exzellenz‘ ...“ + +„Nun, ‚Eure Exzellenz‘.“ + +„Nein, nicht: ‚_nun_, Eure Exzellenz‘, sondern einfach: ‚Eure +Exzellenz!‘ Ich sage Ihnen nochmals, Oberst, ändern Sie Ihren Ton! Auch +hoffe ich, daß Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Sie +auffordere, sich bei dieser Gelegenheit leicht zu verbeugen und +gleichzeitig den Körper ein wenig nach vorn zu neigen, um auf diese +Weise Ihre Ehrerbietung auszudrücken und sozusagen Ihre Bereitschaft, +auf den leisesten Wink hin, gleichsam zu fliegen, um meinen Befehl +auszuführen. Ich habe selbst in Generalskreisen verkehrt und kenne das +... Nun also: ‚Eure Exzellenz‘.“ + +„Eure Exzellenz.“ + +„‚Wie unsäglich freut es mich, endlich Gelegenheit zu haben und um +Entschuldigung dafür bitten zu können, daß ich nicht sogleich den wahren +Seelenrang Eurer Exzellenz erkannt habe. Ich erlaube mir, zu versichern, +daß ich hinfort meine schwachen Kräfte zum allgemeinen Nutzen nicht +schonen werde ...‘ So, das mag vorläufig genügen!“ + +Mein armer Onkel! Er mußte tatsächlich und wortwörtlich diese ganze +Tirade Satz für Satz, Wort für Wort nachsprechen! Ich stand und errötete +wie ein Schuldiger. Die Wut schnürte mir die Kehle zu. + +„Nun, fühlen Sie jetzt nicht,“ fuhr der Henker fort, „daß es Ihnen +plötzlich leichter ums Herz geworden ist, als ob in Ihrer Seele ein +Engel sich niedergelassen hätte? ... Fühlen Sie diese Gegenwart eines +Engels? Antworten Sie mir!“ + +„Ja, Foma, es scheint mir jetzt wirklich leichter zumute zu sein,“ +antwortete mein Onkel. + +„Als wäre Ihr Herz, nachdem Sie sich selbst überwunden haben, gleichsam +in Öl untergetaucht!“ + +„Ja, Foma, es ist wirklich wie mit Butter bestrichen.“ + +„Wie mit Butter? Hm! ... Ich habe Ihnen von Butter nichts gesagt, +sondern von Öl ... Nun, gleichviel! Sehen Sie jetzt, was das bedeutet, +Oberst – erfüllte Pflicht! Überwinden, besiegen Sie sich nur! Sie sind +eigenliebig, unendlich eigenliebig!“ + +„Ich weiß es, Foma, ich sehe es vollkommen ein,“ sagte mein Onkel +aufseufzend. + +„Sie sind ein Egoist und sogar ein großer, ein grausamer Egoist ...“ + +„Ich weiß es, Foma, auch das sehe ich ein; seitdem ich dich kenne, habe +ich auch das eingesehen.“ + +„Und jetzt sage ich Ihnen, wie ein Vater, wie eine zärtliche Mutter ... +Sie scheuchen alle von sich und vergessen, daß ein liebenswürdiges Kalb +an zwei Kühen saugt.“ + +„Auch das ist wahr, Foma.“ + +„Sie sind roh. Sie drängen sich so roh in das Herz anderer Menschen, Sie +drängen sich so eigenliebig der Aufmerksamkeit anderer auf, daß ein +anständiger Mensch am liebsten auf dreißig Meilen von Ihnen fortlaufen +würde.“ + +Mein Onkel seufzte noch einmal tief auf. + +„Seien Sie also zärtlicher, aufmerksamer, liebenswürdiger gegen andere. +Vergessen Sie sich für andere – sehen Sie, das ist meine Regel! Duldend +mühe dich, bete und hoffe – das sind Wahrheiten, die ich gerne der +ganzen Menschheit einprägen möchte! Eifern Sie ihnen nach, und dann +werde ich Ihnen als erster mein Herz öffnen, werde an Ihrer Brust weinen +... falls es nötig sein sollte ... Denn sonst heißt es bei Ihnen nur +‚ich‘ und ‚ich‘ und ‚meine Gnade‘! Aber diese Ihre Gnade bekommt man +doch schließlich satt, mit Erlaubnis zu sagen!“ + +„Welch ein Mensch!“ murmelte Gawrila, der an der Tür stand, voll +Andacht. + +„Das ist wahr, Foma, ich fühle es selbst,“ bestätigte mein Onkel +gerührt. „Aber schließlich ist doch nicht alles nur meine Schuld! Ich +bin so erzogen worden, habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre dir, +Foma, auch ich verstand zu fühlen und zu empfinden. Als ich aus meinem +Regiment trat und von der Truppe Abschied nahm, da hatten alle meine +braven Husaren Tränen in den Augen, mein ganzes Regiment weinte fast, +und sie sagten, einen solchen Vorgesetzten würden sie wohl nie wieder +bekommen! ... Und so dachte ich damals, daß auch ich vielleicht dennoch +kein ganz verlorener Mensch sei.“ + +„Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich Sie auf einem Beweise +Ihrer Eigenliebe, Sie brüsten sich, und bei der Gelegenheit machen Sie +mir noch wegen der Tränen Ihrer Husaren einen Vorwurf. Wie kommt es, daß +ich mich niemals mit Tränen anderer brüste? Und doch, und doch – ich +hätte so manchen guten Grund dazu.“ + +„Weißt du, das ist mir nur so entschlüpft, Foma, ich erinnerte mich der +alten, guten Zeit – da hielt ich’s denn nicht aus und erzählte es dir +jetzt.“ + +„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir selbst schaffen sie +uns: sie ist in unserem Herzen enthalten, Jegor Iljitsch. Weshalb bin +ich denn immer glücklich und trotz meiner Leiden zufrieden? Weshalb bin +ich ruhig und werde niemandes überdrüssig, ausgenommen vielleicht der +Dummköpfe und der sogenannten _Gelehrten_, die ich nicht schone und nie +schonen werde. Ich liebe die Dummköpfe nicht. Und was sind denn diese +Gelehrten? ‚Ein Mann der Wissenschaft!‘ Seine ganze ‚Wissenschaft‘ +besteht ja nur in seiner ‚Gewissenshaft‘! Nun, was hat _er_ denn vorhin +gesprochen? Laßt ihn herkommen! Ihn und alle Gelehrten! Ich kann alles +widerlegen! Ich werde alle ihre aufgestellten Gesetze widerlegen! Und +vom Seelenadel, von allem Edlen – rede ich schon gar nicht!“ + +„Natürlich, Foma, ich glaube es dir! Wer zweifelt denn überhaupt daran?“ + +„Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Begabung, große Belesenheit, +Kenntnisse des Menschenherzens, Kenntnis der zeitgenössischen Literatur, +ich zeigte und bewies glänzend, wie ein talentvoller Mensch sogar aus +irgendeiner Kamarinskaja ein hohes und interessantes Gespräch entwickeln +kann. Und nun frage ich: Hat auch nur einer von ihnen allen das Ganze +würdig zu schätzen verstanden? Nein, und nicht genug damit – sie wandten +sich obendrein ab! Ich bin ja überzeugt, daß sie Ihnen schon gesagt +haben, ich ‚wüßte nichts‘. Dabei hat aber in Wirklichkeit ein zweiter +Machiavelli vor ihnen gesessen und ist nur deshalb von ihnen nicht als +solcher erkannt worden, weil er noch arm und unbekannt war ... Nein, das +soll ihnen nicht durchgehen! ... Ferner habe ich da noch von einem +Korowkin gehört. – Was ist das nun wieder für ein Gänserich?“ + +„O, das ist, weißt du, ein kluger Mensch, ein Mann der Wissenschaft ... +Ich erwarte ihn. Der wird dir aber sicherlich gefallen, Foma!“ + +„Hm! das bezweifle ich. Wahrscheinlich irgend so ein moderner Esel, der +mit Bücherweisheit vollgepfropft ist. Die haben keine Seele, Oberst, die +haben auch kein Herz! Was aber ist selbst Gelehrtheit, wenn sie keine +Tugend hat?“ + +„Nein, Foma, nein! Wie er über Familienglück redet! – ich sage dir, das +Herz begreift es ganz von selbst, Foma!“ + +„Hm! Warten wir ab; wir können ja auch den Korowkin noch examinieren. +Doch jetzt genug,“ schloß Foma, sich erhebend. „Noch kann ich Ihnen +nicht ganz verzeihen, Oberst; Sie haben mich bis aufs Blut gekränkt. +Aber ich werde beten, vielleicht wird Gott dann meinem gekränkten Herzen +Frieden senden. Wir werden morgen noch darüber reden, jetzt aber +erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe. Ich bin ermüdet und entkräftet +...“ + +„Ach, Foma!“ rief mein Onkel erschrocken aus, „nun habe ich dich auch +noch ermüdet! Weißt du was, – willst du dich nicht etwas stärken, einen +kleinen Imbiß nehmen? Ich werde ihn sofort bestellen.“ + +„Einen Imbiß nehmen! Hahaha! Einen Imbiß nehmen!“ war Fomas Antwort mit +verächtlichem Lachen. „Zuerst wird man mit Gift getränkt, und dann wird +man gefragt, ob man nicht einen Imbiß nehmen wolle! Die Wunden, die dem +Herzen geschlagen sind, wollen Sie mit irgendwelchen gedämpften Pilzen +oder eingemachten Früchten heilen! Was für ein armseliger Materialist +Sie doch sind, Oberst!“ + +„Ach, Foma, ich wollte es doch, bei Gott, nur aus gutem Herzen ...“ + +„Schon gut. Genug davon. Ich gehe. Sie aber, gehen Sie unverzüglich zu +Ihrer Mutter, knien Sie vor ihr nieder, schluchzen Sie, weinen Sie, +erflehen Sie ihre Verzeihung, – das ist Ihre Pflicht, das müssen Sie!“ + +„Ach, Foma, ich habe ja die ganze Zeit nur daran gedacht. Sogar jetzt, +als ich mit dir sprach, dachte ich die ganze Zeit daran. Ich bin bereit, +bis zum Morgen vor ihr auf den Knien zu liegen. Aber bedenk doch auch, +Foma, was man von mir verlangt! Das ist doch ungerecht, das ist doch +grausam, Foma! Sei doch großmütig, mach mich vollkommen glücklich, denk +doch nur nach, erlöse mich, und dann ... dann ... ich schwöre dir ...“ + +„Jegor Iljitsch, das ist nicht meine Sache,“ antwortete Foma. „Sie +wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit überhaupt nicht +hineinmische. Das heißt, Sie sind ja, sagen wir, überzeugt, daß ich die +Ursache sei; aber ich versichere Ihnen, daß ich mich von Anfang an +vollkommen davon zurückgezogen und nichts damit zu tun habe und haben +will. Hier handelt es sich einzig und allein um den Willen Ihrer Frau +Mutter, sie aber will natürlich nur Ihr Bestes ... So gehen Sie denn +hin, eilen Sie, und machen Sie Ihre Schuld durch vollkommenen Gehorsam +wenigstens teilweise wieder gut ... Lasset nicht die Sonne über eurem +Zorne untergehen! Ich aber ... ich werde die ganze Nacht für Sie beten. +Schon seit langem weiß ich nicht mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch. +Leben Sie wohl! Auch dir verzeihe ich, Alter,“ sagte er, zu Gawrila +gewandt. „Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antriebe Böses getan hast. +Vergib also auch du mir, wenn ich dir etwas zuleide getan haben sollte +... Lebt wohl, lebt alle wohl, und der Herr segne euch! ...“ + +Foma entfernte sich. Ich trat ins Zimmer. + +„Du hast gelauscht!“ rief mein Onkel aus. + +„Ja, Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie konnten ‚Exzellenz‘ zu ihm +sagen! ...“ + +„Was sollte ich tun, Freund! Ich bin sogar stolz darauf, daß ich es +getan habe ... Das ist ja noch nichts im Vergleich zu seiner großen +Heldentat! Welch ein edler, uneigennütziger, erhabener Mensch! Ssergei – +du hast ja zugehört – so sag du mir doch, wie konnte ich da nur mit dem +Gelde kommen! Ich begreife mich selbst nicht! Aber ich war nicht bei +klarer Vernunft, ich war aufgebracht, ich verstand ihn nicht, ich +beargwöhnte ihn, beschuldigte ihn ... Doch nein! – er konnte nicht mein +Gegner sein – das begreife ich jetzt vollkommen ... Aber weißt du, hast +du gesehen, welch einen edlen Ausdruck sein Gesicht hatte, als er das +Geld zurückwies?“ + +„Gut, Onkel, seien Sie so stolz, wie Sie nur wollen, ich aber reise +morgen: meine Geduld ist zu Ende! Zum letzten Male frage ich Sie: was +verlangen Sie von mir? Wozu haben Sie mich hergerufen, und was erwarten +Sie von mir? Und wenn nun alles zu Ende und besiegelt ist und ich Ihnen +zu nichts mehr nütze bin – dann fahre ich eben. Ich ertrage solche +Schaustücke nicht! Heute noch reise ich ab!“ + +„Freund,“ sagte mein Onkel eifrig, wie es so seine Art war, „wart nur +noch zwei Minuten: ich werde jetzt zu meiner Mutter gehen ... ich muß +dort zuerst ins reine kommen ... es ist eine wichtige, große, eine +entscheidende Sache! ... Du aber geh in dein Zimmer und erwarte mich +dort. Hier, Gawrila wird dich ins Sommerhaus führen. Du erinnerst dich +doch noch? Es liegt dort mitten im Garten. Ich habe schon alles +angeordnet, auch dein Koffer ist hingeschafft worden. Ich werde jetzt +schnell zu meiner Mutter gehen, nur ihre Verzeihung erwirken, mich rasch +entschließen – jetzt weiß ich, wie ich es anfassen muß –, und dann komme +ich sofort zu dir und erzähle dir alles, alles, alles bis aufs Letzte, +werde meine ganze Seele vor dir ausschütten! Und ... und auch wir werden +noch einmal glückliche Tage erleben! ... Zwei Minuten, nur zwei Minuten, +Ssergei!“ + +Er drückte meine Hand und verließ eilig das Zimmer. Mir blieb nichts +anderes übrig, als mich von Gawrila ins Sommerhaus führen zu lassen. + + + + + X. + + Misintschikoff. + + +Das Sommerhaus, in dem man für mich ein Zimmer eingeräumt hatte, wurde +aus alter Gewohnheit noch immer „das neue Haus“ genannt, obgleich es +schon vor langen Jahren, noch von den früheren Besitzern des Gutes +Stepantschikowo erbaut worden war. Es war dies ein nettes, einstöckiges +Holzgebäude, das nicht weit vom Herrenhause im Garten lag. Von drei +Seiten umstanden das Sommerhäuschen alte, hohe Lindenbäume, deren Äste +das Dach überragten. Alle vier Zimmer dieses Sommerhauses waren gut +möbliert und ausschließlich für etwaigen Besuch bestimmt. Als ich mich +in dem mir zugewiesenen Gemach umsah, bemerkte ich zuerst meinen Koffer +und dann auf dem Nachttisch neben dem Bett einen Bogen Postpapier, das +von einem wahren Meister in der Schönschreibekunst beschrieben und mit +Girlanden und Schnörkeln überreich verziert war. Die Anfangsbuchstaben +und die Blumengewinde leuchteten sogar in bunten Farben. Alles in allem +war es eine bewundernswerte kalligraphische Arbeit. Schon aus den ersten +Zeilen ersah ich, daß es ein an mich gerichteter Bittbrief war, in dem +ich ein „aufgeklärter Wohltäter“ genannt wurde. Als Überschrift stand: +„Widopljässoffs Wehklagen.“ Wie sehr ich aber auch meine Aufmerksamkeit +anstrengte, um wenigstens etwas von dem ganzen Schreiben zu begreifen, +so waren doch alle meine Bemühungen umsonst: es war der reinste Blödsinn +in hochtrabendem Dienerstil. Ich erriet nur ungefähr, daß Widopljässoff +sich in einer bedauernswerten Lage befand, meine Hilfe erbat und in +irgendwelchen Dingen große Hoffnungen auf mich setzte – „von wegen Eurer +Bildung ...“ Zum Schluß bat er mich dann noch, zu seinen Gunsten auf +meinen Onkel einzuwirken, und zwar – „kraft Eurer Maschine“, wie es +buchstäblich in der letzten Zeile dieses Handschreibens geschrieben +stand. Ich war noch in die Lektüre vertieft, als die Tür aufging und +Iwan Iwanytsch Misintschikoff, mein Vetter dritten Grades, in das Zimmer +trat. + +„Ich hoffe, Sie werden mir gestatten, Ihre Bekanntschaft zu machen,“ +sagte er ungezwungen, doch äußerst höflich, und er reichte mir die Hand. +„Vorhin habe ich Ihnen keine zwei Worte sagen können, und doch empfand +ich schon im ersten Augenblick den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen.“ + +Ich antwortete ihm sogleich, daß auch ich mich freue usw., obschon ich +mich in der miserabelsten Laune befand. + +Wir setzten uns. + +„Was haben Sie denn da?“ fragte er, nach einem Blick auf das Blatt, das +ich noch in der Hand hielt. „Etwa ‚Widopljässoffs Wehklagen‘? Na, +natürlich! Ich war ja überzeugt, daß Widopljässoff unfehlbar auch Sie +attackieren würde. Mir hat er gleichfalls so ein wunderbar bemaltes +Blatt mit denselben ‚Wehklagen‘ überreicht. Sie sind von ihm wohl schon +lange sehnsüchtig erwartet worden, so daß er Zeit genug gehabt hat, +inzwischen dieses Gemälde herzustellen. Doch können Sie sich die Mühe +sparen, sich darüber zu wundern: hier gibt es viel Sonderbares, und wenn +man Lust zum Lachen hat, fände sich eine Unmenge Stoff dazu.“ + +„Nur zum Lachen?“ + +„Na, doch nicht etwa zum Weinen? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen +Widopljässoffs Leben erzählen, und ich wette, daß Sie lachen werden.“ + +„Offen gestanden, es ist mir jetzt nicht um Widopljässoff zu tun,“ +antwortete ich etwas ungehalten. + +Es war mir vollkommen klar, daß der Besuch Herrn Misintschikoffs und +sein liebenswürdiges Gespräch – einen besonderen Zweck verfolgten und +mein Herr Vetter dritten Grades sehr einfach meiner bedurfte. Im +Teesalon hatte er finster und ernst ausgesehen, und nun war er plötzlich +so aufgeräumt und sogar bereit, lange Geschichten zu erzählen. Man sah +es ihm sofort an, daß er sich vorzüglich zu beherrschen verstand und, +wie mir schien, ein Menschenkenner war. + +„Dieser verdammte Foma!“ knirschte ich wütend und schlug mit der Faust +auf den Tisch. „Ich bin überzeugt, daß nur er allein die Quelle alles +Übels hier ist, und daß jede Verrücktheit sich auf ihn zurückführen +läßt! Dieser verfluchte Spitzbube!“ + +„Sie haben sich ja, wie es scheint, sehr über ihn geärgert,“ bemerkte +Misintschikoff. + +„Sehr über ihn geärgert!“ Ich geriet plötzlich in Wut. „Ich weiß, ich +habe mich heute nachmittag hinreißen lassen und somit jedem das Recht +gegeben, mich abfällig zu beurteilen. Ich sehe es jetzt sehr wohl ein, +daß ich unnützerweise aus mir herausgegangen bin und in jeder Beziehung +schlecht abgeschnitten habe; aber ich denke, es ist zum mindesten +überflüssig, mir das obendrein noch zu verstehen zu geben! ... Auch +begreife ich vollkommen, daß man so etwas in guter Gesellschaft nicht +tut; aber, sagen Sie doch selbst, war es denn überhaupt möglich, nicht +aus der Haut zu fahren? Das ist ja hier eine Irrenanstalt, genau +genommen! und ... und ... schließlich ... Ach was! Ich fahre einfach +fort und damit basta!“ + +„Rauchen Sie?“ fragte Misintschikoff ruhig. + +„Ja.“ + +„Dann werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben, wenn auch ich rauche. +Dort wird es nicht gestattet. Ich bin schon auf dem besten Wege, darüber +melancholisch zu werden. Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort, nachdem er +sich eine Zigarette angesteckt hatte, „daß hier manches stark an eine +Irrenanstalt erinnert; doch seien Sie versichert, daß ich mir nicht +erlauben werde, Sie oder Ihr Auftreten zu verurteilen, und zwar deshalb +nicht, weil ich an Ihrer Stelle vielleicht noch dreimal mehr in Wut +geraten oder aus der Haut gefahren wäre als Sie vorhin.“ + +„Aber warum taten Sie es dann nicht, wenn Sie wirklich so ungehalten +waren? Ich entsinne mich, im Gegenteil, noch ganz genau, daß Sie sehr +kaltblütig waren. Ich will Ihnen sogar ganz offen sagen – es wunderte +mich, daß Sie für meinen armen Onkel nicht eintraten, ihn nicht +verteidigten, da er doch soviel Gutes ... allen und jedem erweist!“ + +„Sie haben recht: er hat vielen Gutes getan. Doch für ihn einzutreten, +das halte ich in diesem Fall für vollkommen nutzlos: erstens würde es +ihm nichts helfen und hätte gewissermaßen sogar etwas Erniedrigendes für +ihn – und zweitens würde man mich dann am nächsten Tage vor die Tür +setzen. Und nun will auch ich Ihnen etwas ganz offen gestehen: nämlich, +daß meine Verhältnisse augenblicklich derart sind, daß ich die +Gastfreundschaft, die ich hier genieße, sehr hoch einschätzen muß.“ + +„Ich verlange von Ihnen durchaus keine Aufschlüsse über Ihre +Verhältnisse ... Aber übrigens, ich würde Sie gern etwas fragen wollen, +da Sie ja doch schon einen ganzen Monat hier leben ...“ + +„Haben Sie die Güte, fragen Sie nur: ich stehe Ihnen jederzeit zu +Diensten,“ antwortete Misintschikoff bereitwillig und rückte seinen +Stuhl näher zu mir. + +„Erklären Sie mir, bitte, eines: soeben hat Foma Fomitsch +fünfzehntausend Rubel, die er bereits in der Hand hielt, verschmäht – +ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“ + +„Wie das? Ist’s möglich!“ Misintschikoff war erstaunt. „Erzählen Sie +doch, bitte!“ + +Ich erzählte, was ich gesehen und gehört hatte, verschwieg aber alles, +was sich auf „Eure Exzellenz“ bezog. Misintschikoff hörte mir mit +lebhafter Neugier zu; sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, als +ich auf die Einhändigung der fünfzehn Tausend zu sprechen kam. + +„Raffiniert!“ sagte er, als ich meine Erzählung beendet hatte. „Das +hätte ich eigentlich von Foma gar nicht erwartet.“ + +„Jedenfalls – er hat das Geld zurückgewiesen! Wie soll man sich das +erklären? Doch nicht mit seinem Seelenadel?“ + +„Er hat fünfzehn Tausend zurückgewiesen, um später dreißig Tausend zu +nehmen. Übrigens – wissen Sie!“ fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, +„ich bezweifle es, daß Foma eine bestimmte Berechnung gehabt habe. Er +ist doch ein unpraktischer Mensch – er ist in seiner Art gleichfalls so +etwas wie ein Dichter. Fünfzehn Tausend ... hm! Sehen Sie: er hätte das +Geld sicherlich genommen und behalten, nur: er widerstand nicht der +Versuchung, Theater zu spielen, sich zu verstellen, sich in schönem +Lichte zu zeigen. Ich sage Ihnen, er ist nichts als ein unendlich +saurer, tränenreicher Schwamm bei unbegrenzter Eigenliebe!“ + +Misintschikoff geriet beinahe in Wut. Man sah es ihm an, daß er sich +aufrichtig ärgerte; ja, es schien mir sogar, als beneide er Foma wegen +der angebotenen fünfzehn Tausend. Ich beobachtete ihn genau. + +„Hm! Dann muß man großer Veränderungen gewärtig sein,“ meinte er +nachdenklich. „Jegor Iljitsch ist ja bereit, Foma anzubeten. Was kann +man wissen ... vielleicht wird er sie noch heiraten – einfach aus +Herzensrührung,“ sprach er durch die Zähne vor sich hin. + +„So glauben Sie, daß diese schändliche, diese widernatürliche Ehe mit +diesem übergeschnappten, verdrehten Frauenzimmer wirklich zustande +kommen wird?“ + +Misintschikoff warf mir einen forschenden Blick zu. + +„Diese Schurken!“ rief ich heftig aus. Er schwieg. + +„Übrigens haben sie es verstanden, ihre Idee recht gut zu begründen,“ +bemerkte Misintschikoff. „Sie behaupten nämlich, daß er doch irgend +etwas für die Familie tun müsse.“ + +„Als ob er noch zu wenig für sie getan hätte!“ Ich war empört. „Und auch +Sie, auch Sie wagen noch zu sagen, daß es eine vernünftige Idee sei – +eine dumme Gans zu heiraten!“ + +„O, ich stimme mit Ihnen darin vollkommen überein, daß sie eine dumme +Gans ist ... Hm! Es freut mich, daß Sie Ihren Onkel so lieben ... auch +ich kann es nachfühlen ... obschon man mit ihrem Gelde das Gut prächtig +vergrößern könnte. Aber sie haben außerdem noch andere Gründe: sie +fürchten, daß Jegor Iljitsch die Erzieherin seiner Kinder heiraten +könnte – Sie entsinnen sich doch noch des interessanten jungen Mädchens, +das nach Iljuscha eintrat?“ + +„Aber ... aber ist denn das möglich? Ist denn das anzunehmen?“ fragte +ich erregt. „Es scheint mir vielmehr eine Verleumdung zu sein. Sagen Sie +doch, um Gottes willen, es interessiert mich über alle Maßen ...“ + +„O, er ist bis über die Ohren verliebt! Nur verbirgt er es +selbstredend.“ + +„Verbirgt es! Sie glauben, er will es verbergen? Nun, aber sie? Liebt +auch sie ihn?“ + +„Sehr leicht möglich, daß auch sie ihn liebt. Und zudem sind ja alle +Vorteile auf ihrer Seite: sie ist sehr arm.“ + +„Aber welche Anhaltspunkte haben Sie, um hier eine gegenseitige Liebe zu +vermuten?“ + +„Da müßte man ja blind sein, wenn man das nicht sehen wollte. Hinzu +kommt, daß sie, glaube ich, sich heimlich treffen. Es ist sogar +behauptet worden, daß sie unerlaubte Beziehungen unterhielten. Aber +erzählen Sie das, ich bitte Sie, nicht weiter. Ich sage es Ihnen nur +unterm Siegel der strengsten Verschwiegenheit.“ + +„Wie kann man nur an so etwas glauben!“ rief ich unwillig aus. „Und Sie +geben zu, daß Sie diesem Märchen Glauben schenken?“ + +„Selbstverständlich glaube ich es nicht ganz, ich bin nicht dabei +gewesen. Aber es kann sehr leicht möglich sein.“ + +„Was! es kann möglich sein! Denken Sie doch nur an die Ehrenhaftigkeit, +an die Ehre meines Onkels!“ + +„Einverstanden. Aber man kann sich doch vergessen – kann sich damit +beruhigen, daß man später mit der Heirat unfehlbar alles wieder +gutmachen wird. Das kommt ja häufig vor ... so läßt man sich denn +hinreißen. Doch ich sage nochmals, daß ich durchaus nicht für die +vollkommene Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte einstehe, um so weniger, als +man das Mädchen hier schon zur Genüge in den Schmutz zu ziehen versucht +hat. So wurde zum Beispiel auch erzählt, daß sie mit Widopljässoff ein +Verhältnis habe.“ + +„Mit Widopljässoff! – Da sehen Sie es ja! Ist das überhaupt denkbar? Ist +es denn nicht ekelhaft, so etwas auch nur zu hören? Und Sie glauben es?“ + +„Ich sage Ihnen doch, daß ich es nicht glaube,“ antwortete +Misintschikoff ruhig, „aber schließlich – hätte es ja auch vorkommen +können. In der Welt kann alles vorkommen. Ich aber bin nicht zugegen +gewesen, und überdies finde ich, daß es mich nichts angeht. Da Sie aber, +wie ich sehe, an allen Dingen, die mit Ihrem Onkel zu schaffen haben, so +lebhaften Anteil nehmen, so halte ich es für meine Pflicht, ausdrücklich +hinzuzufügen, daß dieses Verhältnis mit Widopljässoff allerdings sehr +wenig Wahrscheinliches für sich hat. Das ganze Gerücht scheint vielmehr +nur ein Machwerk Anna Nilownas zu sein – der Perepelizyna. Sie hat +natürlich nur aus Neid diesen ganzen Klatsch verbreitet, da sie früher +selbst davon geträumt hat, Jegor Iljitsch zu heiraten – bei Gott! – und +zwar, wie ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil sie selbst die Tochter +eines Majors ist. Jetzt hat sie ihre Hoffnung aufgeben müssen, und so +ist auch ihre Wut danach. Doch, ich glaube – ich habe Ihnen bereits +alles erzählt und dieses Thema erschöpft, und – offen gestanden – ich +bin nichts weniger als ein Freund von solchen Klatschgeschichten. +Außerdem verlieren wir über diesem Geschwätz die kostbare Zeit. Ich bin, +sehen Sie mal, ich bin mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.“ + +„Mit einer Bitte? O, ich bin gern zu allem bereit, was ich für Sie tun +kann ...“ + +„Besten Dank; ich hoffe sogar, Sie gewissermaßen mit meinem Anliegen zu +interessieren; denn wie ich sehe, lieben Sie Ihren Onkel und nehmen +großen Anteil an seinem Schicksal, namentlich bezüglich seiner +zukünftigen Ehe. Doch, vor _dieser_ Bitte habe ich noch eine andere +Bitte an Sie.“ + +„Und das wäre?“ + +„Folgendes. Vielleicht werden Sie einwilligen, meine Hauptbitte zu +erfüllen, vielleicht aber auch nicht. Daher würden Sie mir einen großen +Gefallen erweisen, wenn Sie die Güte hätten, mir vorher Ihr Ehrenwort +als Edelmann und Ehrenmann zu geben, daß alles, was Sie von mir hören +werden, zwischen uns bleibt, als größtes Geheimnis, und daß Sie in +keinem Fall und mit Ausnahme keiner einzigen Person dieses Geheimnis +verraten werden, sowie ferner, daß Sie die betreffende Idee nicht für +sich benutzen werden, diese Idee, die ich jetzt notwendigerweise Ihnen +mitteilen muß. Sind Sie damit einverstanden?“ + +Die Einleitung war recht feierlich. Ich erklärte mich mit seinen +Bedingungen einverstanden. + +„Nun, und?“ fragte ich dann. + +„Die Sache ist im Grunde sehr einfach,“ begann Misintschikoff. „Ich +will, sehen Sie mal ... ich will Tatjana Iwanowna entführen und sie dann +heiraten. Kurz, es soll etwas in der Art eines spanischen Romans werden +– Sie verstehen mich doch?“ + +Ich blickte Herrn Misintschikoff unverwandt in die Augen, und es dauerte +etwas, bis ich die ersten Worte fand. + +„Ich ... ich begreife nicht ...“ sagte ich endlich; „und außerdem,“ fuhr +ich fort, „außerdem, da ich es mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu +haben glaubte ... habe ich keineswegs erwartet ...“ + +„Erwartet oder nicht erwartet,“ unterbrach mich Misintschikoff, „ins +Unverblümte übersetzt, heißt das ungefähr soviel wie: daß sowohl ich wie +mein Vorhaben dumm ist, nicht wahr?“ + +„Aber durchaus nicht ... nur ...“ + +„O, bitte sehr, tun Sie sich in Ihren Ausdrücken keinen Zwang an. +Beunruhigen Sie sich nicht. Sie erweisen mir damit sogar ein großes +Entgegenkommen; denn so gelangen wir schneller zum Ziel. Ich gebe +übrigens gern zu, daß mein ganzer Plan so auf den ersten Blick etwas +sonderbar erscheinen muß. Doch ganz abgesehen davon, versichere ich Sie, +daß meine Absicht nicht nur keineswegs dumm, sondern sogar höchst +vernünftig ist. Und wenn Sie so freundlich sein wollen, zuerst die +Klarlegung der Verhältnisse anzuhören, so ...“ + +„O, bitte – ich bin sehr gespannt.“ + +„Übrigens ist hier fast nichts zu erzählen. Sehen Sie mal: ich habe +augenblicklich nur Schulden und dementsprechend keine Kopeke in der +Tasche. Außerdem habe ich noch eine Schwester, ein Mädchen von ungefähr +neunzehn Jahren. Sie ist Waise, wissen Sie, gänzlich mittellos und +verdient sich selbst ihr Brot. Das ist zum Teil auch meine Schuld. Wir +erbten vierzig Seelen. Da mußte ich wie verhext gerade damals zum +Fähnrich avancieren! Nun, zuerst natürlich verpfändete ich die vierzig +Seelen, dann brachte ich sie durch. Ich führte ein törichtes Leben, gab +den Ton an, spielte den Lebemann, spielte auch am grünen Tisch, trank – +mit einem Wort: töricht war’s, man schämt sich geradezu, daran zu +denken. Jetzt bin ich zur Besinnung gekommen, habe mich anders bedacht: +ich will nun ein ganz neues Leben beginnen. Zu diesem Zweck aber brauche +ich unumgänglich eine Summe von hunderttausend Rubeln in bar. Da ich +jedoch mit dem Offiziersdienst nichts verdienen würde, zu irgendeinem +Beruf nicht begabt bin und fast gar keine wissenschaftliche Bildung +habe, so bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: entweder zu stehlen oder +eine reiche Dame zu heiraten. Hergekommen bin ich so gut wie ohne +Stiefel, und, wohl verstanden: ich bin zu Fuß gekommen, nicht mit +Postpferden. Meine Schwester gab mir ihre letzten drei Rubel, als ich +mich aus Moskau fortbegab. Hier lernte ich diese Tatjana Iwanowna +kennen, und mir kam sofort ein Gedanke. Ich beschloß, mich zu opfern und +sie zu heiraten. Sie müssen mir doch zugeben, daß das nichts anderes ist +als – Vernünftigkeit. Zudem tue ich es ja mehr für meine Schwester ... +das heißt, in erster Linie selbstredend für mich ...“ + +„Aber erlauben Sie, Sie wollen doch formell bei Tatjana Iwanowna +anhalten?“ + +„Gott soll mich davor bewahren! Dann wäre ich ja am längsten hier +gewesen, und auch sie würde nicht wollen. Schlage ich ihr dagegen eine +Entführung vor, eine Flucht, so wird sie sofort einwilligen. Das ist die +Hauptsache: es muß etwas Romantisches, etwas Effektvolles sein. Versteht +sich, wir werden dann in kürzester Zeit gesetzmäßig getraut werden. Wenn +man sie nur erst einmal herausgelockt hätte!“ + +„Aber wie können Sie so fest überzeugt sein, daß sie mit Ihnen +entfliehen wird?“ + +„O, machen Sie sich deshalb keine Sorgen! Davon bin ich vollkommen +überzeugt. Das ist ja gerade mein Grundgedanke, wenn ich so sagen darf, +daß Tatjana Iwanowna tatsächlich fähig ist, mit jedem ersten besten eine +Liebesgeschichte anzufangen, buchstäblich mit jedem, dem es nur +einfällt, darauf einzugehen. Deswegen habe ich auch Ihnen zuerst das +Ehrenwort abgenommen, diese Idee nicht zu Ihren eigenen Gunsten +auszunutzen. Jetzt werden Sie, denke ich, begreifen, daß es von mir +einfach Sünde wäre, wenn ich diese Gelegenheit nicht benutzen wollte, +und noch dazu bei meinen Verhältnissen.“ + +„So ist sie denn also ganz und gar verrückt ... Ach! verzeihen Sie,“ +unterbrach ich mich, plötzlich mich besinnend, „da Sie jetzt diese +Absicht haben, so ...“ + +„Bitte, genieren Sie sich nicht, ich habe Sie darum schon einmal +gebeten. Sie fragen, ob Tatjana Iwanowna total verrückt sei? Was soll +ich Ihnen darauf antworten? Natürlich ist sie _nicht_ verrückt; denn +noch sitzt sie nicht in einer Irrenanstalt. Zudem vermag ich in dieser +Manie für Liebesdinge eigentlich keinen besonderen Irrsinn zu sehen. Sie +aber ist trotz allem ein ehrenhaftes Mädchen. Sehen Sie mal: vor einem +Jahre war sie noch entsetzlich arm, hatte seit ihrer Geburt bei ihren +Wohltäterinnen wie im Joch gelebt. Sie hat ein sehr gefühlvolles Herz, +um ihre Hand hat niemand sie jemals gebeten ... Nun, Sie verstehen: +Träume, Wünsche, Hoffnungen, die Leidenschaften, die sie beständig hat +unterdrücken müssen, die ewigen Schikanen der sogenannten Wohltäterinnen +– alles das zusammen konnte seinen empfindsamen Menschen sehr wohl +aufreiben. Und dann plötzlich dieser Reichtum! Sie werden doch zugeben, +daß so etwas nicht nur eine Tatjana Iwanowna aus dem Gleichgewicht +bringen kann. Nun, und jetzt sind natürlich alle hinter ihr her, alle +machen ihr den Hof, umschwärmen sie – und alle ihre Hoffnungen sind +auferstanden. Was sie zum Beispiel beim Tee von dem Geck in der weißen +Weste erzählte, – Tatsache, es ist wirklich buchstäblich alles so +geschehen, wie Sie es gehört haben. Nach dieser Begebenheit können Sie +sich auch das übrige denken. Mit Seufzern, Billets-doux, Gedichten +können Sie sie sofort erobern, und wenn Sie dann noch heimliche +Zusammenkünfte, spanische Serenaden und diesen ganzen Humbug hinzufügen, +so können Sie sie zu allem bewegen. Ich habe auch schon einmal einen +Versuch gemacht und sogleich ein nächtliches Stelldichein erreicht. +Vorläufig habe ich mich aber bis zu günstigerer Zeit auf neutralen Boden +zurückgezogen. Doch spätestens binnen vier Tagen wird man sie entführen +müssen. Am Tage vor der Entführung fange ich mit dem Mumpitz an: +Augendrehen, Seufzer und so weiter ... ich spiele nicht schlecht Gitarre +und singe sogar. In der Nacht ein Stelldichein in der Laube und – beim +Morgengrauen ist der Wagen bereit: ich locke sie hinaus, wir steigen ein +und fahren los. Wie Sie sehen, ist hierbei nichts zu riskieren: sie ist +mündig – und ganz abgesehen davon, wird es doch ihr freier Wille sein. +Und wenn sie erst einmal mit mir entflohen ist, so heißt das natürlich, +daß ... wir uns gegenseitig verpflichtet haben. Ich werde sie in eine +gute, aber arme Familie bringen – ich kenne hier eine, vierzig Werst von +hier – wo man sie bis zur Hochzeit auf den Händen tragen, doch keinen +Menschen zu ihr lassen wird. Und ich werde inzwischen auch nicht unnütz +die Zeit verlieren: nach spätestens drei Tagen müssen wir getraut sein – +das läßt sich machen. Natürlich gehört dazu vor allen Dingen Geld. Aber +ich habe schon berechnet: ich brauche nicht mehr als fünfhundert Rubel +für das ganze Intermezzo, und zwar hoffe ich in der Beziehung auf Jegor +Iljitsch: er wird sie mir geben, natürlich ohne zu wissen, um was es +sich handelt. Haben Sie mich jetzt vollkommen verstanden?“ + +„Ja,“ sagte ich, da ich ihn allerdings nur zu gut verstanden hatte. +„Aber sagen Sie doch, bitte, inwiefern ich Ihnen hierbei behilflich sein +könnte?“ + +„O, in sehr vielem, ich bitte Sie! Sonst hätte ich Sie doch wahrlich +nicht eingeweiht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich sie in eine arme, +aber sehr ehrenwerte Familie zu bringen beabsichtige. Sie nun können mir +sowohl hier wie dort aushelfen, außerdem mein Trauzeuge sein. Ohne Ihren +Beistand stehe ich gleichsam mit gebundenen Händen da.“ + +„Noch eine Frage: Warum haben Sie gerade mich Ihres Vertrauens +gewürdigt? Sie kennen mich doch gar nicht, ich bin doch erst vor ein +paar Stunden hier eingetroffen.“ + +„Ihre Frage,“ antwortete Misintschikoff mit dem liebenswürdigsten +Lächeln, „Ihre Frage bereitet mir, offen gestanden, ein großes +Vergnügen; denn sie bietet mir Gelegenheit, Sie meiner ganz besonderen +Hochachtung zu versichern.“ + +„O, zuviel Ehre!“ + +„Nein, sehen Sie mal, ich habe Sie vorhin, beim Tee, ein wenig studiert. +Sie sind, nun ja, Sie sind heftig und ... und ... nun ja, und noch jung. +Aber von einem bin ich durchaus überzeugt: Wenn Sie mir einmal Ihr Wort +gegeben haben, keinem Menschen etwas davon zu erzählen, so werden Sie es +auch halten. Sie sind kein Obnoskin – dies wäre Punkt eins. Punkt zwei: +Sie sind ehrlich und werden mir meine Idee nicht stehlen, nicht wahr – +natürlich ausgenommen den Fall, daß Sie etwa mit mir in aller +Freundschaft einen entsprechenden Vergleich abschließen wollten. In dem +Fall wäre ich vielleicht einverstanden, Ihnen meine Idee abzutreten, +oder vielmehr: Tatjana Iwanowna. Und ich würde sogar bereit sein, Ihnen +bei der Entführung eifrig beizustehen, nur mit der Bedingung, daß Sie +mir einen Monat nach der Trauung eine Summe von fünfzigtausend Rubel bar +zahlen, selbstredend nach einer vorhergehenden Sicherstellung durch eine +Schuldverschreibung ... doch ohne Prozente.“ + +„Wie! Sie bieten die Dame jetzt bereits mir an?“ + +„Selbstverständlich kann ich sie abtreten ... wenn Sie es sich überlegen +sollten und zulangen wollen. Freilich verliere ich dabei, aber ... Doch +die Idee gehört nun einmal mir, und für Ideen nimmt man doch Geld. Und +schließlich, drittens, habe ich Sie gewählt, weil mir keine andere Wahl +übrigbleibt. Lange zu zögern aber erscheint mir, nachdem ich mir über +die hier herrschenden Zustände klar geworden bin, mehr als gefährlich. +Hinzu kommt, daß bald die Fastenzeit vor Mariä Himmelfahrt beginnt und +dann nicht getraut wird. So, jetzt haben Sie mich hoffentlich ganz +verstanden?“ + +„Vollkommen, und ich verspreche Ihnen nochmals, Ihr Geheimnis heilig zu +halten. Ihr Helfershelfer kann ich aber in dieser Angelegenheit nicht +sein, was Ihnen unverzüglich mitzuteilen ich für meine Pflicht halte.“ + +„Wieso, weshalb nicht?“ + +„Sie fragen noch?“ rief ich heftig aus, endlich den Gefühlen, die sich +in mir angesammelt hatten, freien Lauf lassend. „Sehen Sie denn nicht +ein, daß eine solche Handlung schuftig, unehrenhaft ist? Gut, nehmen wir +an, Sie rechneten ganz richtig, wenn Sie sich auf die Unklugheit und die +unglückliche Manie dieses Mädchens stützen, aber – ebendies müßte Sie +doch als Ehrenmann davon abhalten! Sie sagen ja selbst, daß Tatjana +Iwanowna ein ehrenwertes Mädchen sei, wenn sie auch lächerlich ist. Und +nun plötzlich wollen Sie ihr Unglück benutzen, um ihr hunderttausend +Rubel abzuzapfen! Sie werden doch gewiß nicht ihr wirklicher Mann sein, +der seine Pflicht in jeder Beziehung erfüllt. Sie werden sie unfehlbar +verlassen ... Das ist aber so wenig ehrenhaft, daß ich, verzeihen Sie, +eigentlich nicht begreife, wie Sie sich haben entschließen können mir +die Rolle eines Helfershelfers zuzumuten!“ + +„Donnerwetter, das ist mir mal eine Romantik!“ rief Misintschikoff aus, +während er mich mit ehrlicher Verwunderung ansah. „Übrigens handelt es +sich hier wohl nicht so sehr um Romantik, sondern – Sie scheinen einfach +nicht zu begreifen, um was es sich handelt. Sie sagen, es sei +unehrenhaft, vergessen aber, daß alle Vorteile nicht auf meiner, sondern +auf ihrer Seite sind ... Bedenken Sie doch nur ...“ + +„Ja, natürlich, wenn man von Ihrem Standpunkt aus urteilt, dann ergibt +sich womöglich noch, daß Sie die großmütigste Tat begehen, wenn Sie +Tatjana Iwanowna heiraten,“ antwortete ich mit sarkastischem Lächeln. + +„Ja, wie denn nicht? Aber das _ist_ es doch! Es ist doch tatsächlich +eine großmütige Tat!“ rief Misintschikoff aus, der nun seinerseits in +Hitze geriet. „Überlegen Sie es sich doch nur: erstens opfere ich mich +und willige ein, ihr Mann zu sein – das kostet doch wohl etwas? +Zweitens: ungeachtet dessen, daß sie blank und bar mehrere +hunderttausend Rubel besitzt, werde ich nur einhunderttausend Rubel von +ihr nehmen. Ich habe mir bereits mein Wort gegeben, daß ich, solange ich +lebe, keine Kopeke mehr von ihr nehmen werde, obgleich ich es doch +könnte: das aber kostet doch wiederum etwas – denken Sie nur nach: kann +sie denn so ihr Leben ruhig verbringen? Damit sie ruhig leben kann, muß +man ihr unbedingt das Geld abnehmen und ... müßte sie eigentlich in eine +Irrenanstalt einsperren; denn sonst kann man sich darauf gefaßt machen, +daß in jeder Minute irgendein Tagedieb, ein Schwindler oder Spekulant +auftaucht, irgend so einer mit einem Spitzbart und Schnurrbart, mit +einer Gitarre und mit Serenaden – wie etwa Obnoskin – der sie verführt, +sie heiratet, ihr alles abnimmt und sie dann auf der Landstraße sitzen +läßt. Hier, zum Beispiel, befinden wir uns in einem ehrenwertesten Hause +– und dennoch hat man sie auch hier nur deshalb aufgenommen, weil man +auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen zweifelhaften Chancen muß man sie +bewahren, beschützen, retten. Nun aber, begreifen Sie doch, sobald sie +mich geheiratet hat, hört diese Berechnung sofort auf. Ich werde schon +dafür Sorge tragen, daß kein Unglück sie wird treffen können. Nach der +Trauung bringe ich sie zuerst nach Moskau in eine ehrenwerte, doch +mittellose Familie – ich meine jetzt nicht jene, von der ich vorhin +sprach –, nein, in eine andere Familie. Meine Schwester wird beständig +bei ihr sein. Man wird sie nicht aus den Augen lassen. An Geld behält +sie etwa zweihundertfünfzigtausend Rubel, vielleicht sogar +dreihunderttausend: damit kann man, wissen Sie, doch leben! Alle +Vergnügungen sollen ihr geboten werden, alle Zerstreuungen, Bälle, +Maskeraden, Konzerte. Sie kann sogar von Liebesabenteuern träumen – wenn +ich mich auch in der Beziehung natürlich sicherstellen werde: träume +soviel du willst, in Wirklichkeit aber – nie und nimmer! Jetzt kann ein +jeder sie beleidigen, dann aber kann das keiner mehr tun: sie ist meine +Frau, Madame Misintschikoff, und meinen Namen gebe ich nicht zum Gespött +hin! Denken Sie doch nur, was das allein wert ist – das kostet doch +etwas! Selbstredend werde ich nicht mit ihr zusammen leben: sie in +Moskau und ich irgendwo in Petersburg. Diese meine Absicht teile ich +Ihnen gleichfalls im voraus mit; denn Ihnen gegenüber will ich ehrlich +sein. Aber was hat denn das auf sich, daß wir getrennt leben? Überlegen +Sie es sich doch nur, denken Sie an ihren Charakter und sagen Sie +selbst: Ist sie denn überhaupt fähig, Frau zu sein und mit ihrem Mann +zusammen zu leben? Kann man denn auch nur irgendeine Beständigkeit von +ihr erwarten? Sie ist doch das leichtsinnigste Geschöpf der Welt! Sie +bedarf ewig der Veränderung. Sie ist fähig, am nächsten Tage zu +vergessen, daß sie vor vierundzwanzig Stunden mir angetraut worden ist. +Ja, ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn ich mit ihr +zusammen leben und strenge Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten verlangen +wollte! Natürlich werde ich sie von Zeit zu Zeit besuchen, etwa einmal +im Jahr oder auch öfter, aber nicht, um dann Geld von ihr zu verlangen – +ich versichere Sie, daß ich nichts von ihr verlangen werde. Ich habe +Ihnen doch gesagt, daß ich mehr als hunderttausend Rubel nicht nehmen +werde, bestimmt nicht! Im Geldpunkt werde ich mehr als verständig sein. +Wenn ich auf zwei, drei Tage zum Besuch komme, werde ich ihr sogar +Vergnügen und nicht etwa Langeweile bereiten: ich werde mit ihr +scherzen, werde ihr Geschichten erzählen, werde mit ihr Bälle besuchen, +flirten, ihr Andenken schenken, Romanzen singen und einen +Liebesbriefwechsel mit ihr eingehen. Sie wird doch einfach entzückt sein +– von einem so romantischen, verliebten und liebenswürdigen Ehemann! +Meiner Meinung nach ist es sogar sehr rationell: alle Männer sollten so +verfahren. Den Frauen sind sie ja nur dann wertvoll, wenn sie abwesend +sind, und wenn ich mein System durchhalte, werde ich gewiß in der +süßesten Weise Tatjana Iwanownas Herz für ihr ganzes Leben einnehmen. +Was könnte man ihr noch Besseres wünschen? Sagen Sie doch! Das ist ja +ein Paradies, aber keine Erdenwirklichkeit!“ + +Ich hörte schweigend und mit wachsender Verwunderung zu. Ich sagte mir, +daß man Herrn Misintschikoff nicht gut widerlegen konnte. Er war von der +Rechtlichkeit und Genialität seines Projektes fanatisch überzeugt und +sprach von ihm mit der ganzen Begeisterung eines Erfinders. Es blieb nur +noch ein peinlicher Punkt übrig, über den man sich unbedingt aussprechen +mußte. + +„Aber denken Sie denn gar nicht daran,“ fragte ich, „daß sie schon so +gut wie die Braut meines Onkels ist? Wenn Sie sie nun entführen, dann +nehmen Sie ihm die Braut fast am Tage vor der öffentlichen Verlobung +fort und tun es außerdem noch mit seinem Gelde, das Sie von ihm zur +Ausführung der gewagten Tat borgen wollen und werden.“ + +„Warten Sie, damit fange ich Sie gerade!“ rief Misintschikoff eifrig +aus. „Ich habe diese Ihre Einwendung vorausgesehen. Aber erstens – und +das ist die Hauptsache: Ihr Onkel hat ja noch nicht bei ihr angehalten, +folglich brauche ich doch gar nicht zu wissen, daß man ihn mit ihr +verkuppeln will. Zudem bitte ich, nicht zu vergessen, daß ich bereits +vor drei Wochen meinen Entschluß gefaßt habe, also zu einer Zeit, als +ich von allen Absichten der Generalin und Foma Fomitschs nichts ahnte. +Folglich bin ich in moralischer Hinsicht durchaus im Recht, und genau +genommen, mache nicht ich ihm, sondern macht er mir die Braut +abspenstig, mit der ich – nicht zu vergessen! – inzwischen schon ein +nächtliches Stelldichein in der Laube gehabt habe. Und dann erlauben Sie +mal: Waren Sie nicht selbst außer sich darüber, daß man Ihren lieben +Onkel mit dieser Tatjana Iwanowna verheiraten will? Und nun treten Sie +plötzlich für diese Ehe ein, reden von Familienbeleidigung und Ehre! Im +Gegenteil: ich verpflichte mir Ihren Onkel ganz außerordentlich, ich +rette ihn gewissermaßen – das müssen Sie doch einsehen! Er denkt mit +Ekel an diese Heirat – und hinzu kommt noch, daß er ein anderes Mädchen +liebt. Und was wäre denn Tatjana Iwanowna für eine Frau für ihn? Und +auch sie würde doch mit ihm nur unglücklich werden; denn – sagen Sie, +was Sie wollen – man wird sie dann doch zum mindesten im Zaume halten +müssen, damit sie wenigstens jungen Herren keine Rosen zuwirft! Und wenn +ich sie in der Nacht entführe, so kann doch weder die Generalin noch ein +Foma Fomitsch als Hindernis in den Weg treten. Ein einmal entführtes +Mädchen aber zu heiraten, das ist auch gerade keine Ehre. Also – +verpflichte ich mir Jegor Iljitsch nicht zu ewigem Dank? Wende ich nicht +ein großes Unglück von ihm ab?“ + +Dieses letzte Argument machte allerdings einen sehr starken Eindruck auf +mich. + +„Aber wenn er morgen bei ihr anhält?“ fragte ich. „Dann würde es doch zu +spät sein – wenn sie seine offizielle Braut ist.“ + +„Selbstverständlich wäre es dann zu spät. Deshalb muß man auch schnell +handeln, um dies zu verhüten. Weshalb und wozu habe ich Sie denn um +Ihren Beistand gebeten? Allein würde es mir schwerfallen, vereint aber +könnten wir alles gut einleiten und durchführen, können wir vor allem +verhindern, daß Jegor Iljitsch bei ihr anhält. Man muß alles +daransetzen, um das, wie gesagt, zu verhindern, muß im äußersten Fall – +wenn’s nicht anders geht – Foma Fomitsch verprügeln und damit die +allgemeine Aufmerksamkeit so ablenken, daß dann niemand mehr an +Hochzeiten denkt. Selbstredend käme dieses Mittel nur für den äußersten +Fall in Frage; wie gesagt, ich nahm es nur als Beispiel. Nun sehen Sie: +In all diesen Beziehungen hoffe ich auf Sie.“ + +„Noch eine Frage, die letzte: Haben Sie außer mir niemandem etwas von +Ihrem Plan gesagt?“ + +Misintschikoff kratzte sich ein wenig hinterm Ohr und schnitt eine +überaus saure Grimasse. + +„Ich will Ihnen gestehen,“ antwortete er, „daß diese Frage für mich +schlimmer ist als die bitterste Pille. Das ist ja der Haken, daß ich +meinen Plan schon einem anderen mitgeteilt habe ... Ich habe ... ich +habe ... ich habe mir da einen verteufelten Brei eingebrockt! Und was +glauben Sie wohl, wem ich ihn mitgeteilt habe? – _Obnoskin!_ Ich +begreife es selbst nicht, ich kann es mir selber gar nicht glauben! ... +Ja, ich weiß nicht einmal, wie es eigentlich kam! Er scharwenzelte hier +herum ... ich kannte ihn noch nicht näher, und als die Eingebung mich +beglückte, da war ich natürlich wie im Fieber – ... und da ich mir +gleichzeitig sagte, daß ich ohne einen Helfershelfer nicht auskommen +würde, so wandte ich mich eben an Obnoskin. ... Unverzeihlich von mir, +unverzeihlich!“ + +„Nun, und Obnoskin?“ + +„O, er war mit Begeisterung zu allem bereit, aber am nächsten Morgen +verschwand er. Nach drei Tagen erschien er wieder – diesmal aber mit +seiner Frau Mutter. Mit mir spricht er seitdem kein Wort und er meidet +mich sogar auffallend: er scheint mich geradezu zu fürchten. Ich begriff +natürlich sofort, um was es sich handelte. Seine Mutter ist ein so +abgefeimtes, durchtriebenes Frauenzimmer, wie man ein zweites schwerlich +finden könnte. Ich habe sie schon früher gekannt. Er hat ihr natürlich +alles erzählt. Ich schweige vorläufig und warte ab. Sie spionieren hier +jetzt eifrig herum, und die Situation ist sehr gespannt ... Deshalb +beeile ich mich auch.“ + +„Was befürchten Sie denn von ihnen?“ + +„Großes werden sie freilich nicht ausrichten; daß sie aber Unfug +anstiften werden, davon bin ich überzeugt. Wahrscheinlich werden sie +fürs Schweigen und vielleicht auch für ihren Beistand Geld fordern – +darauf bin ich schon gefaßt. Aber mehr als dreitausend bar – kann ich +unmöglich. Urteilen Sie selbst: Dreitausend den Obnoskins, fünfhundert +blank und bar für die Trauung und Entführung; denn dem Onkel muß +unverzüglich die ganze Summe zurückgegeben werden. Dann noch alte +Schulden. Nun, meiner Schwester noch eine kleine Summe, nicht viel, aber +immerhin etwas. Was bleibt dann von hunderttausend noch übrig? Das ist +doch der reine Bankrott! ... Die Obnoskins sind übrigens heute +fortgefahren.“ + +„Fortgefahren?“ fragte ich interessiert. + +„Sogleich nach dem Tee. Ach, zum Teufel mit ihnen! Morgen aber, das +werden sie sehen, werden Mutter und Sohn wieder erscheinen. Nun, wie +ist’s denn, sind Sie einverstanden?“ + +„Ich ... verzeihen Sie,“ begann ich zögernd in dieser etwas peinlichen +Lage, „ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Die Sache ist etwas +kitzlig ... Ich werde das Geheimnis natürlich heilig halten – ich bin +nicht Obnoskin ... aber, ich glaube ... Sie können sich nicht auf meinen +Beistand verlassen.“ + +„Ich sehe,“ sagte Misintschikoff ruhig und erhob sich vom Stuhl, „ich +sehe, daß Foma Fomitsch und die Großmama Ihre Geduld noch nicht +erschöpft haben, und daß Sie, wenn Sie Ihren guten, durch und durch +edlen Onkel auch lieben mögen, dennoch nicht genügend begriffen haben, +wie sehr er gequält wird. Sie sind hier noch Neuling ... Aber nur ein +wenig Geduld! Wenn Sie nur den morgigen Tag noch miterleben, werden Sie +schon am Abend einwilligen; denn sonst ist doch Ihr Onkel rettungslos +verloren – Sie verstehen mich? Man wird ihn unfehlbar zwingen, Tatjana +Iwanowna zu heiraten. Und vergessen Sie nicht, daß er vielleicht morgen +schon anhalten wird. Dann werden wir zu spät kommen – man müßte sich +also eigentlich schon heute entschließen.“ + +„Glauben Sie mir, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg, aber helfen ... +ich weiß nicht recht ...“ + +„Schon gut. Warten wir bis morgen,“ entschied Misintschikoff mit etwas +spöttischem Lächeln. „^La nuit porte conseil.^ Auf Wiedersehen! Ich +werde morgen etwas früher zu Ihnen kommen, und Sie überlegen es sich +inzwischen ...“ + +Er ging, irgend etwas vor sich hinpfeifend. + +Ich trat fast unmittelbar nach ihm hinaus in den Garten, um mich zu +erfrischen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Nacht war dunkel, +die Luft warm und schwül. Die Blätter der Bäume regten sich nicht. +Ungeachtet meiner entsetzlichen Müdigkeit wollte ich etwas gehen, mich +zerstreuen und doch wieder meine Gedanken sammeln. Ich war aber noch +keine zehn Schritte gegangen, als ich die Stimme meines Onkels vernahm. +Er stieg mit einem anderen die Treppenstufen zum Sommerhaus hinan und +sprach lebhaft. Ich kehrte sofort zurück und rief ihn. Der andere war +Widopljässoff. + + + + + XI. + + Äußerste Verwunderungen. + + +„Onkel!“ rief ich, „da sind Sie ja endlich!“ + +„Freund, ich wollte mich die ganze Zeit losmachen, um zu dir zu kommen. +Laß mich jetzt noch den Widopljässoff abfertigen, dann können wir uns +ruhig aussprechen. Ich habe dir viel zu erzählen.“ + +„Wie, Sie wollen sich noch mit Widopljässoff abgeben! Schicken Sie ihn +doch zum Teufel, Onkel!“ + +„Nur noch fünf, höchstens zehn Minuten, und ich gehöre dir allein, +Ssergei. Sieh: es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.“ + +„Ach, der Kerl kommt doch sicherlich nur mit Dummheiten!“ meinte ich +ärgerlich. + +„Ja, was soll ich dir nun sagen, mein Bester? Hättest du dir nicht eine +andere Zeit wählen können, um mir mit diesen Kleinigkeiten zu kommen! +Hast du denn wirklich keine andere Zeit, um deine Klagen vorzubringen, +Grigorij? Nun, was kann ich denn für dich tun? Hab doch _du_ wenigstens +Mitleid mit mir! Ich werde ja doch von euch sozusagen wie eine Zitrone +ausgepreßt, werde lebendig verzehrt, gierig verschlungen! Meine Kraft +ist erschöpft, Ssergei!“ + +Und mein Onkel streckte die Arme auseinander, wie in aussichtsloser +Verzweiflung. + +„Was ist denn das für eine so wichtige Sache, daß sie sich nicht bis +morgen früh aufschieben läßt? Ich hätte es dagegen so dringend nötig, +mit Ihnen, Onkel, über Wichtiges zu reden ...“ + +„Ach Freund, es wird ja ohnehin schon laut genug geklagt und geschrien, +daß ich mich um die Sittlichkeit meiner Leute nicht kümmere! Da könnte +er sich ja morgen über mich beschweren, daß ich ihn nicht angehört +hätte, und dann ...“ + +Und mein Onkel machte wieder seine bezeichnende Armbewegung. + +„Na, dann fertigen Sie ihn schnell ab! Kann ich Ihnen nicht helfen? +Gehen wir hinein. Was will er denn eigentlich?“ fragte ich, als wir ins +Zimmer traten. + +„Ja, sieh mal, Freund, sein Familienname gefällt ihm nicht, er bittet +mich, ihm einen anderen zu verschaffen. Was sagst du dazu?“ + +„Sein Familienname gefällt ihm nicht? Wie das? ... Wissen Sie, Onkel, +bevor ich ihn selbst anhöre, erlauben Sie, Ihnen zu sagen, daß nur in +Ihrem Hause solche Wunderlichkeiten vorkommen können!“ Und vor lauter +Nichtverstehenkönnen breitete ich kopfschüttelnd die Arme aus. + +„Ach, Freund! Glaub mir, auch ich verstehe es, so die Arme auszubreiten, +aber damit ist keinem geholfen!“ sagte mein Onkel etwas ärgerlich. +„Versuch es doch, mit ihm zu reden, versuch’s nur. Schon ganze zwei +Monate quält er mich damit ...“ + +„Es ist ein unbegründeter Familienname,“ bemerkte Widopljässoff von der +Tür her. + +„Warum denn ein unbegründeter?“ fragte ich ihn erstaunt. + +„So. Ich meine, er stellt jede Abscheulichkeit dar, die man sich nur +ausdenken kann.“ + +„Wieso – jede Abscheulichkeit? Und wie soll man ihn denn ändern? Wer tut +denn so etwas überhaupt?“ + +„Ich bitte Euch, welcher Mensch hat denn einen solchen Familiennamen?“ + +„Ich gebe ja zu, daß dein Familienname zum Teil etwas eigenartig ist,“ +fuhr ich in wachsender Verwunderung fort, „aber was läßt sich denn jetzt +noch daran ändern? Dein Vater hat doch denselben Namen geführt?“ + +„Das ist durchaus wahr: daß ich durch meinen Vater dieserhalb zu ewigem +Leiden verurteilt bin, da es mir beschieden ist, dank meinem Namen viel +Spott und Schimpf ertragen zu müssen,“ antwortete Widopljässoff. + +„Ich könnte wetten, Onkel, daß hinter dieser Idee Foma Fomitsch steckt!“ +rief ich geärgert aus. + +„Nein, nein, Freund, nein, da täuschst du dich! Es ist allerdings wahr, +Foma tut ihm viel Gutes. Er hat ihn zu seinem Sekretär ernannt. In +Sekretärobliegenheiten besteht jetzt seine ganze Beschäftigung. Nun und +außerdem hat Foma selbstverständlich für seine geistige Entwicklung +gesorgt, hat ihn zu wahrem Seelenadel erhoben, so daß ihm in gewisser +Beziehung sogar ein Licht aufgegangen ist ... Hör, ich werde dir alles +erzählen ...“ + +„Das stimmt genau,“ unterbrach Widopljässoff, „daß Foma Fomitsch mein +wahrhaftiger Wohltäter sind, und da sie mein wahrhaftiger Wohltäter +sind, haben sie mir auch meine ganze irdische Nichtigkeit mehrfach +bewiesen, wie ich beispielsweise hier auf Erden nur ein Wurm bin, so daß +ich nur dank ihrer Unterweisungen zum erstenmal mein Schicksal erkannt +und vorausgesehen habe.“ + +„Hör mich an, Sserjosha, ich werde dir erzählen, um was es sich hier +handelt,“ wandte sich mein Onkel eilig, wie es seine Art war, an mich +wie an einen Schiedsrichter. „Er lebte zuerst, fast seit seiner +Kindheit, in Moskau bei einem Schönschreiblehrer als – nun, so als +dienstbarer Geist. Du müßtest sehen, wie er bei ihm die +Schönschreibekunst erlernt hat: mit Farben und Gold ... und ... rund +herum, weißt du, malt er dir noch Kupidos – mit einem Wort, ein +Künstler! Iljuscha lernt jetzt bei ihm Schönschreiben. Zahle ihm +anderthalb Rubel für die Stunde. Foma hat selbst den Preis bestimmt, +anderthalb Rubel, wie gesagt. Er fährt außerdem zu drei benachbarten +Gutsbesitzern ins Haus – die zahlen gleichfalls. Und sieh, wie er sich +kleidet! Außerdem schreibt er Gedichte.“ + +„Gedichte! Das fehlte gerade noch!“ + +„Jawohl, Gedichte, Freund, glaub mir, Gedichte! Und denke nicht, daß ich +scherze: wirkliche Gedichte, sag ich dir, Versifikationen, oder wie man +es nennt, mit Reimen am Ende. Er behandelt alle Gegenstände, nimmt +irgendein x-beliebiges Ding und beschreibt’s dir sofort in Versen. Ein +richtiges Talent, sozusagen. Zum Namenstage meiner Mutter hatte er eine +Epistel verfaßt, daß wir nur so die Münder aufsperrten: sogar aus der +Mythologie hatte er was genommen, und die Musen schwebten in der Luft, +so daß sogar, weißt du, diese ... wie heißt das Ding doch gleich? – na +ja, diese Vollendung der Form zu sehen war, – mit einem Wort, jede Zeile +klappte und reimte sich immer mit einer vorhergehenden. Foma hatte es +korrigiert ... Nun, ich, natürlich – was sollte ich sagen? freute mich +auch meinerseits. Mag er doch dichten, wenn er es nur nicht zu bunt +treibt! Ich, weißt du, Grigorij,“ wandte er sich an Widopljässoff, „ich +sage dir das ja nur wie ein Vater. Foma hörte davon, ließ sich das +Gedicht bringen, munterte ihn noch auf und ernannte ihn sogleich zu +seinem Vorleser und Schreiber, – mit einem Wort, er sorgte für seine +Bildung. Das ist also durchaus wahr, was er da sagte: daß Foma sein +Wohltäter sei. Nun und so, weißt du, hat sich so ein bißchen edle +Romantik in seinem Kopf entwickelt und so ein Gefühl der Unabhängigkeit +– das hat mir alles Foma erklärt; leider habe ich die Einzelheiten, Hand +aufs Herz, wieder vergessen. Nun wollte ich – Ehrenwort! – ich wollte +ihn ohnehin befreien, noch bevor Foma davon zu reden anfing. Es ist, +weißt du, doch immer irgendwie ... man schämt sich gewissermaßen ... Ja, +aber Foma war dagegen, er braucht ihn, er hat ihn liebgewonnen. Und dann +sagt er: mir, seinem Herrn, gereiche es zur größeren Ehre, wenn ich +unter meinen Leibeigenen Dichter habe, – es habe irgendwo mal solche +Barone gegeben oder Ritter, na, kurz und gut – das sei ^en grand^. Nun, +soll’s einmal ^en grand^ sein, dann meinetwegen ^en grand^! Ich habe +ihn, den Grigorij, schon achten gelernt – verstehst du das? ... Aber +Gott weiß, wie er sich aufführt. Am schlimmsten ist, daß er, nachdem er +sein Gedicht verfaßt hat, vor dem ganzen übrigen Gesinde die Nase in die +Höhe zieht und mit den anderen nicht einmal mehr sprechen will. Doch +fühl dich nicht gekränkt, Grigorij, ich sage es nur wie ein Vater von +dir. Im letzten Winter wollte er heiraten: es ist hier ein junges +Mädchen, vom Hofgesinde, Matrjona, und, weißt du, so ein nettes, +ehrliches, arbeitsames, lustiges Mädel. Na, und nun will er sie +plötzlich nicht, sagt ab. Ist er jetzt so hoher Meinung von sich oder +beabsichtigt er, zuerst berühmt zu werden und dann bei einer anderen +anzuhalten ...“ + +„Mehr auf den Rat Foma Fomitschs hin,“ bemerkte Widopljässoff, „da Sie +mein wahrhaftiger Wohltäter sind ...“ + +„Aber natürlich! Wie wäre denn hier etwas ohne Foma Fomitsch möglich!“ +rief ich unwillkürlich aus. + +„Ach, Freund, nicht darum handelt es sich!“ unterbrach mich mein Onkel +eilig, „sieh mal: jetzt lassen sie ihm keine Seelenruh. Jenes Mädchen, +ein gewandtes und gescheites Ding, hat jetzt alle gegen ihn aufgehetzt: +sie necken und foppen ihn beständig – und sogar die kleinen Hofjungen +behandeln ihn wie einen Narren ...“ + +„Was mehr auf Matrjona zurückzuführen ist,“ bemerkte wieder +Widopljässoff; „denn sie ist eine echte dumme Gans, und da sie eine +echte dumme Gans ist, ist sie, was ihren Charakter angeht, ein +unbeflügeltes Weibsbild. Auf diese Weise bin ich zu ewigem Leiden in +meinem Leben verdammt.“ + +„Ach, Grigorij, ich habe es dir doch gesagt,“ fuhr mein Onkel fort, nach +einem vorwurfsvollen Blick auf Widopljässoff. „Sieh mal, Ssergei, die +Hofleute haben nun glücklich ein schmutziges Wort gefunden, das sich auf +seinen Namen reimt. Und jetzt kommt er zu mir, beklagt sich und bittet, +ihm einen anderen Familiennamen zu geben, sagt, daß er schon lange unter +dem Mißklang desselben gelitten habe ...“ + +„Es ist kein veredelter Name,“ bemerkte wieder Widopljässoff. + +„Na, du schweige mal jetzt, wenn ich rede, Grigorij! Foma hat ihn darin +natürlich bestärkt ... das heißt ... nicht gerade, daß er den Einfall +gutgeheißen hätte; aber sieh, es handelt sich um folgende Erwägung: wenn +nun, nehmen wir an, seine Gedichte gedruckt werden, was Foma +projektiert, so kann ein solcher Familienname ihm doch geradezu schaden +– nicht wahr?“ + +„So will er seine Gedichte drucken lassen, Onkel?“ + +„Drucken, drucken, Freund. Das ist schon beschlossene Sache – auf meine +Rechnung, – und auf dem Titelblatt wird stehen, daß sie von einem +Leibeigenen Soundso verfaßt sind, und im Vorwort, das Foma schreiben +wird, soll der Dank des Autors für die ihm gebotene Bildung +ausgesprochen werden. Das Ganze ist Foma gewidmet. Foma wird, wie +gesagt, selbst eine Einleitung schreiben. Und nun denke dir, wenn auf +dem Titelblatt steht: ‚Widopljässoffs Gedichte‘ ...“ + +„‚Widopljässoffs Wehklagen‘,“ korrigierte Widopljässoff. + +„Nun, sieh – dazu noch Wehklagen! Was ist denn Widopljässoff für ein +Name? Er verletzt ja geradezu unser Zartgefühl. Das sagt auch Foma. Die +Kritiker aber sollen, wie es heißt, alle sehr unangenehme Spötter sein. +Zum Beispiel unser großer Kritiker der ‚Moskauer Nachrichten‘ ... Die +nehmen auf nichts Rücksicht. Sie können ihn ja einzig wegen seines +Familiennamens unmöglich machen – nicht wahr? Nun, ich meine: mag er +doch gleichviel welch einen Namen auf seinen Buchdeckel schreiben – wie +nennt man das doch gleich ... Pseudonym, glaube ich, oder so ungefähr, +jedenfalls etwas mit ‚nym‘. Aber nein, damit ist er nicht einverstanden; +er will, daß ich dem ganzen Hofgesinde anbefehle, ihn sein Leben lang +nur bei einem ganz neuen Namen zu nennen, damit er, seinem Talent +entsprechend, wie gesagt, einen ‚veredelten Namen‘ habe ...“ + +„Ich könnte wetten, daß Sie es ihm auch versprochen haben, Onkel.“ + +„Ich ... weißt du, Freund Sserjosha, nur um mit ihnen nicht wieder in +Streit zu geraten ... Laß gut sein! Es war damals zwischen uns, Foma und +mir, hm! ... so ein Mißverständnis – du verstehst schon. Nun, und seit +der Zeit gibt es in jeder Woche einen anderen Familiennamen, und immer +wählt er sich so zarte Bedeutungen aus: Oleandroff, Tulpenoff ... Sag +doch selbst, Grigorij, denk doch nach: Zuerst batest du, daß man dich +Wernyj[3] nenne, ‚Grogorij Wernyj‘. Dann aber gefiel dir der Name nicht +mehr, weil irgendein Hofbengel einen Reim gefunden hatte und dich +‚Skwernyj‘[4] nannte. Du beklagtest dich: der Bengel wurde bestraft. +Zwei Wochen lang dachtest du dir einen anderen Namen aus. Endlich +hattest du dich entschlossen: Kamst, batest, man solle dich ‚Ulanoff‘ +nennen. Aber sag doch selbst, kann es denn einen dümmeren Namen als +‚Ulanoff‘ überhaupt geben? Doch ich war auch damit einverstanden: befahl +von neuem, dich nur noch ‚Ulanoff‘ zu nennen. Ich tat es nur, Freund“ – +mein Onkel wandte sich wieder an mich – „um die Sache vom Halse zu +haben. Drei Tage lang hießest du ‚Ulanoff‘. Du hast alle Wände, alle +Fensterbretter im Pavillon verdorben; denn, weißt du, Sserjosha, er hat +überall seinen Namenszug angebracht: ‚Grogorij Ulanoff‘. Später mußte +dann alles mit weißer Farbe übergestrichen werden. Du hast ein ganzes +Buch holländisches Papier zur Übung deiner Unterschrift verbraucht: +‚Ulanoff – Schriftprobe – Ulanoff – Schriftprobe‘. Na, dann war ihm auch +Ulanoff nicht recht: auf Ulanoff reimt sich zum Unglück ‚Bolwanoff‘[5]. +‚Ich will vom Gesinde nicht Bolwanoff genannt werden,‘ sagte er – und +wieder mußte der Name geändert werden! Wie hießest du dann noch, ich +habe es vergessen.“ + +„‚Tanzeff‘,“ antwortete Widopljässoff. „Wenn es mir durch meinen Namen +Widopljässoff auferlegt ist, einen Hampelmann darzustellen, dann möge es +doch wenigstens eine veredelte, eine ausländische Benennung sein: +Tanzeff.“ + +„Richtig: ‚Tanzeff‘. Nun, Freund, weißt du, ich war auch damit +einverstanden. Aber die Hofbengel sind dann auf einen solchen Reim +verfallen, daß man ihn überhaupt nicht aussprechen darf. Heute kommt er +wieder, will wieder einen neuen Namen haben. Ich wette, daß du ihn schon +in Bereitschaft hast. Nun, hab’ ich nicht recht, Grigorij, heraus mit +der Sprache!“ + +„Ich habe dieserhalb schon seit langem die Absicht, Euch meinen neuen +Namen zu Füßen zu breiten: einen neuen veredelten.“ + +„Und wie lautet er denn?“ + +„Esbuketoff.“ + +„Was? Und du schämst dich nicht, Grigorij? Ein Name, von der +Pomadenbüchse genommen! Du willst doch ein vernünftiger Mensch sein! Und +wie lange du darüber gebrütet haben wirst! Nicht wahr, den hast du auf +der Parfümflasche gelesen?“ + +„Erbarmen Sie sich, Onkel,“ sagte ich halblaut zu ihm, „der Kerl ist +doch ein Esel, ein ausgesprochener Narr!“ + +„Was soll ich denn tun, Freund?“ fragte mein Onkel gleichfalls halblaut +zurück. „Rund herum versichern alle, daß er klug und so begabt sei, und +daß dies nur die edlen Gefühle seien, die sich in ihm regten ...“ + +„So schicken Sie ihn doch um Christi willen zum Teufel, machen Sie sich +doch endlich von ihm los!“ + +„Hör mal, Grigorij! Sieh, mein Lieber, ich habe doch bei Gott keine +Zeit!“ begann mein Onkel mit einer geradezu bittenden Stimme, als +fürchte er sogar seinen eigenen Diener. „Nun, sag doch selbst, wie kann +ich mich denn jetzt mit deinen Klagen befassen! Du sagst, man hätte dich +wieder gekränkt? Nun gut, also höre: ich gebe dir hiermit mein +Ehrenwort, daß ich morgen die ganze Angelegenheit erledigen werde, jetzt +aber geh mit Gott ... Wart! Was macht Foma Fomitsch?“ + +„Haben sich zur Ruhe begeben. Geruhten nur zu befehlen, falls jemand +nach ihnen fragen sollte, dann zu sagen, daß sie diese Nacht im Gebet +kniend zu verbringen gedächten.“ + +„Hm! Nun, geh mal, geh! – Sieh, Sserjosha, er ist beständig bei Foma, so +daß ich ihn ordentlich fürchte. Und das Hofgesinde liebt ihn ja auch nur +deshalb nicht, weil er Foma alles hinterbringt. Jetzt ist er gegangen, +aber wer weiß, ob er nicht morgen irgend etwas klatschen wird. Aber +jetzt habe ich alles gut gemacht, Freund. Ich bin jetzt ganz ruhig ... +Es drängte mich nur zu dir ... Gott sei Dank, jetzt habe ich dich +endlich wieder!“ sagte er mit innigem Gefühl, und er drückte fest meine +Hand. „Weißt du, ich glaubte und fürchtete schon, daß du ernstlich böse +seist und mir entschlüpfen würdest. Ich habe sogar auf dich aufpassen +lassen, damit du mir nicht entwischst! Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist’s +überstanden! Aber vorhin – was? – der alte Gawrila? – was er ihm da +sagte! Und auch Falalei, und du! – eins zum anderen! Nun, Gott sei Dank, +Gott sei Dank! Endlich kann ich mich mit dir aussprechen. Werde dir mein +ganzes Herz ausschütten. Du, Ssergei, fahre mir nur nicht fort: du bist +der einzige, den ich habe, du und Korowkin ...“ + +„Aber, erlauben Sie, Onkel, was haben Sie denn dort ‚gut gemacht‘, und +worauf soll ich denn hier noch warten, nach dem, was vorgefallen ist? +Offen gestanden, mir dreht sich der Kopf im Kreise!“ + +„Ach – steht mein Kopf etwa still? Der tanzt schon seit einem halben +Jahre Walzer! Aber Gott sei Dank! jetzt ist alles wieder gut. Man hat +mir vor allen Dingen verziehen, vollkommen verziehen, unter +verschiedenen Bedingungen natürlich: aber dafür bin ich jetzt ganz ruhig +und brauche nichts mehr zu fürchten. Meiner Ssaschenjka haben sie +gleichfalls alles verziehen. Aber die war doch vorhin, die war doch! – +was? ... heißes Herzchen! Ließ sich bißchen hinreißen ... Aber hat doch +ein goldenes Herzchen! Weißt du, ich bin sehr stolz auf mein kleines +Mädchen, Sserjosha. Möge Gott sie immer behüten. Dir wurde gleichfalls +verziehen, und weißt du, sogar _wie_! – Du kannst alles tun, was du +willst, kannst durch alle Zimmer gehen und auch im Garten spazieren, und +sogar dann, wenn Gäste da sind – mit einem Wort, alles, was du willst; +aber nur unter einer Bedingung, daß du morgen in Foma Fomitschs oder +meiner Mutter Gegenwart nicht sprichst, nur unter der Bedingung! Also +buchstäblich keine Silbe – ich habe es auch schon in deinem Namen +feierlich versprochen, – und du wirst nur zuhören, was die Älteren ... +Das heißt, ich wollte sagen, was die anderen sprechen. Sie sagten, du +seist noch zu jung. Du, Ssergei, nimm es nicht übel; denn schließlich +bist du ja auch wirklich noch jung ... Auch Anna Nilowna sagt es ...“ + +Allerdings war ich damals noch sehr jung, was ich sofort dadurch bewies, +daß ich ob solcher beleidigenden Bedingungen in helle Empörung geriet. + +„Hören Sie, Onkel!“ rief ich heftig aus, „sagen Sie mir bitte nur eines, +und beruhigen Sie mich wenigstens in dieser Hinsicht: Befinde ich mich +hier tatsächlich in einer Irrenanstalt, oder –?“ + +„Da haben wir’s, Freund, du willst gleich Kritik üben! Konntest du denn +das auf keine Weise unterdrücken?“ sagte er betrübt. „Durchaus nicht in +einer Irrenanstalt! Wir sind nur so von beiden Seiten ein wenig in Eifer +geraten. Aber du mußt doch zugeben, Freund, daß auch du dich nicht ganz +^comme il faut^ benommen hast. Du entsinnst dich doch noch dessen, was +du ihm an den Kopf warfst, – einem Manne, der doch immerhin in +ehrwürdigem Alter steht!“ + +„Solche Leute wie er haben kein ehrwürdiges Alter, Onkel.“ + +„Na, Freund, das ist denn doch etwas über die Schnur gehauen! Das ist +mehr als Freidenkertum. Ich habe ja selbst nichts gegen ein vernünftiges +Freidenkertum, aber das ist denn doch etwas zu stark – das heißt ... ich +meine ... ich – du hast mich eigentlich überrascht, Ssergei.“ + +„Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich sehe meine Schuld vollkommen ein, +meine Schuld vor Ihnen. Was aber Ihren Foma Fomitsch betrifft ...“ + +„Da haben wir’s! Nun auch noch ‚_Ihren_‘ Foma Fomitsch! Ach, Freund, +beurteile ihn nicht gar zu streng: er ist etwas misanthropisch veranlagt +– und das ist alles ... und ein bißchen kränklich. Man darf ihn nicht so +streng beurteilen. Dafür aber ist er ein edler Mensch, der edelste, kann +man sagen, von allen! Du warst ja doch vorhin selbst Zeuge – er +leuchtete förmlich! Und daß er zuweilen so seine kleinen Eigenheiten hat +und uns ein Stückchen spielt – lohnt es sich denn, das zu beachten? Bei +wem kommt denn so etwas nicht vor?“ + +„Im Gegenteil, Onkel, bei wem kommt denn so etwas überhaupt vor?“ + +„Ach, da kommst du wieder damit! Gutmütig bist du gerade nicht, +Sserjosha; zu verzeihen verstehst du nicht! ...“ + +„Nun gut, Onkel, gut, lassen wir das. Sagen Sie, haben Sie Nastassja +Jewgrafowna gesehen?“ + +„Ach, Freund, um sie allein handelte sich ja alles. Sieh, Sserjosha, +erstens – und das ist das wichtigste –: wir haben beschlossen, ihn +morgen alle zum Geburtstage zu beglückwünschen, – Foma, meine ich – weil +nämlich morgen wirklich sein Geburtstag ist. Ssaschenjka ist ein gutes +Kind, aber hierin täuschte sie sich. Wir werden also alle, die ganze +Karawane, zu ihm gehen, noch vor dem Frühgottesdienst. Iljuschka wird +ein Gedicht vortragen, so daß er sich sehr geschmeichelt fühlen wird. +Wenn doch auch du ihn, Sserjosha, zusammen mit uns beglückwünschen +würdest! Er würde dir dann vielleicht alles verzeihen. Und wie gut das +doch wäre, wenn ihr euch aussöhnen würdet! Vergiß, Freund, die Kränkung, +du hast ihn ja doch auch gekränkt, Sserjosha ... Er ist ein so +ehrenwerter Mensch ...“ + +„Onkel, um’s Himmels willen, ich habe von so wichtigen Dingen mit Ihnen +zu reden, Sie aber ... Wissen Sie denn,“ fragte ich nochmals, „wissen +Sie denn, was mit Nastassja Jewgrafowna geschehen ist?“ + +„Was, Freund, wie? Was fehlt dir? Weshalb bist du so heftig? Aber +ihretwegen hat doch die ganze Geschichte vorhin angefangen! Übrigens hat +sie nicht erst vorhin, sondern schon vor langer Zeit angefangen. Ich +wollte dir davon nur jetzt noch nichts sagen, um dich nicht zu +erschrecken ... Man wollte sie einfach hinausjagen, nun, und von mir +verlangt man, daß ich sie nach Hause schicke. Du kannst dir meine Lage +vorstellen ... Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist alles wieder gut. Sie +dachten nämlich, sieh mal, – ich werde dir lieber schon alles sagen – +sie glaubten, daß ich selbst in sie verliebt sei und sie heiraten +wollte, kurz und gut, daß ich sie in mein eigenes Unglück hineinzureißen +beabsichtigte – denn das wäre es wirklich. So haben sie mir auch alles +erklärt ... und daher, um mich zu retten, hatten sie beschlossen, sie +hinauszujagen. Vor allem meine Mutter, aber hauptsächlich Anna Nilowna. +Foma schweigt vorläufig noch. Aber jetzt habe ich sie alle beruhigt, und +ich will dir sogleich gestehen: Ich habe dort gesagt, du seist bereits +mit Nastenjka verlobt – und nur deshalb hergekommen. Nun, das beruhigte +sie zum Teil, und sie kann jetzt hierbleiben. Und auch du bist jetzt in +ihrer Meinung sehr gestiegen, nachdem ich erklärt habe, daß du als +Freier hier auftrittst. Wenigstens hat sich meine Mutter allem Anschein +nach beruhigt. Nur Anna Nilowna Perepelizyna hat immer noch etwas +auszusetzen. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch tun soll, um es ihr +recht zu machen. Ja, was die nur wollen mag, wirklich, diese Anna +Nilowna?“ + +„Onkel, lieber Onkel, Sie sind ja auf ganz falschem Wege, Sie täuschen +sich vollkommen! So hören Sie denn, daß Nastassja Jewgrafowna morgen von +hier fortfahren wird, wenn sie inzwischen nicht schon fortgefahren sein +sollte! Wissen Sie denn nicht, daß ihr Vater heute nur deshalb +hergekommen ist, um sie mitzunehmen? – daß schon alles beschlossen ist, +daß sie es mir heute selbst gesagt und mir zum Schluß aufgetragen hat, +Sie zu grüßen – wissen Sie das oder wissen Sie das nicht?“ + +Mein Onkel blieb so, wie er vor mir stand, wie erstarrt stehen und +vergaß sogar, den Mund zu schließen. Es schien mir, daß sich alles +zusammenkrampfte in ihm, und ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust. + +Ohne jetzt noch zu zögern, erzählte ich ihm mein ganzes Gespräch mit +Nastenjka, meinen Antrag, ihre entschiedene Absage, ihren Ärger über +ihn, meinen Onkel, weil er mich brieflich hergerufen hatte. Ich sagte, +daß sie mit ihrer Abreise ihn vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna bewahren +wolle – kurz, ich verschwieg nichts; ja, ich übertrieb noch, was es an +Unangenehmem in diesen Nachrichten gab. Ich wollte ihn schmerzhaft +treffen, wollte ihn endlich zu entschlossenem Eingreifen zwingen – und +es gelang mir wirklich, ihn wenigstens zu erschrecken. Er schrie +plötzlich auf und griff sich an den Kopf. + +„Wo ist sie jetzt, weißt du das? Wo ist sie jetzt?“ fragte er endlich, +bleich vor Angst. „Und ich, ich war bereits ruhig, glaubte, alles sei +jetzt wieder gut!“ rief er verzweifelt aus. + +„Ich weiß nicht, wo sie augenblicklich ist; nur ging sie vorhin, als +sich dort im Zimmer das Geschrei erhob, zu Ihnen: sie wollte alles, was +ich Ihnen soeben erzählt habe, denen da selbst sagen. Wahrscheinlich ist +sie nicht zugelassen worden.“ + +„Das fehlte noch, daß man sie zugelassen hätte! Gott, was hätte sie dann +angerichtet! Ach Gott, was sie sich da wieder in ihr stolzes Köpfchen +gesetzt haben mag! Und wohin will sie denn gehen, wohin? Wohin? Aber du, +du bist auch gut! Warum hat sie dir denn abgesagt? Unsinn! Du mußt ihr +gefallen! Weshalb hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte doch, um +Gottes willen, was stehst du denn da und schweigst!“ + +„Aber – Onkel! Wie kann man nur solche Fragen stellen?“ + +„Es ist doch unmöglich! Du mußt, du mußt sie heiraten! Wozu habe ich +dich denn aus Petersburg hergebeten? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt +will man sie von hier fortschicken, wenn sie aber deine Frau und meine +Nichte ist – dann wird man sie nicht mehr fortjagen können. Und wohin +will sie denn gehen? Was soll aus ihr werden? Eine Gouvernantenstelle? +Aber das ist doch Unsinn – Gouvernante! Und bis sie eine Stelle findet – +wovon sollen die Ihrigen so lange leben? Der Vater hat ja ganze neun zu +ernähren! Die haben selbst nichts zu beißen! Sie wird ja doch keine +Kopeke von mir annehmen, wenn sie wegen dieser schmutzigen Verleumdungen +fortgeht, weder sie noch ihr Vater. Und wie soll sie dann in dieser +Weise mein Haus verlassen? Entsetzlich! Und ohne Skandal ist es ganz +undenkbar – das weiß ich. Und ihr Gehalt ist schon vorausbezahlt, sie +hatten es für den Lebensunterhalt nötig ... sie allein ernährt sie doch. +Nun, sagen wir, ich empfehle sie, finde für sie eine ehrliche und +ehrenwerte Familie ... aber Teufel noch eins! – woher nimmst du sie +denn, diese ehrenwerten, wirklich ehrlichen Menschen? Na, gut, sagen +wir, es gibt sogar sehr viele solcher, – wozu Gott erzürnen! – aber es +ist doch, Freund, immerhin gefährlich: kann man sich denn auf die +Menschen verlassen? Zudem ist doch ein armer Mensch immer mißtrauisch: +es scheint ihm unwillkürlich, daß man ihn das Brot und die +Freundlichkeit mit seiner Erniedrigung bezahlen läßt! Man wird sie +sicherlich kränken, sie aber ist stolz, und dann ... ja, und was dann? +Und was dann, wenn schließlich noch so ein elender Verführer hinzukommt? +... Sie wird ihn ohrfeigen, – ich weiß, daß sie ihn ohrfeigen wird – +aber er wird sie doch beleidigen, der Schurke! Und sie kann dann doch +immer in üblen Leumund geraten, ein Schatten, ein Verdacht kann auf sie +fallen – was dann? ... Mein Kopf, mein Kopf droht mir zu zerspringen! +Großer Gott!“ + +„Onkel! Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Frage an Sie richte,“ sagte ich +plötzlich feierlich. „Seien Sie mir nicht böse und vergessen Sie nicht, +daß Ihre Antwort auf diese Frage vieles entscheiden kann. Ich habe zum +Teil sogar das Recht, von Ihnen eine Antwort zu verlangen, Onkel.“ + +„Was, was meinst du? Was für eine Frage?“ + +„Sagen Sie mir wie vor Gott, offen und ohne Umschweife: Empfinden Sie +nicht, daß Sie selbst in Nastassja Jewgrafowna ein wenig verliebt sind +und sie gern selbst heiraten würden? Bedenken Sie doch nur: einzig wegen +dieser Befürchtung will man sie doch aus dem Hause entfernen.“ + +Mein Onkel machte eine energische Geste wie in heftigster Ungeduld. + +„Ich? Verliebt? In sie? Ihr seid wohl alle nicht recht bei Troste oder +habt euch gegen mich verschworen! Wozu habe ich denn dich herbestellt, +wenn nicht, um ihnen allen endlich zu beweisen, daß sie nicht recht +gescheit sind? Weshalb will ich denn dich mit ihr verheiraten? Ich? In +sie? Ver... Verliebt? Ihr seid wohl wirklich alle ...!“ + +„Wenn es sich so verhält, Onkel, dann erlauben Sie mir, alles +auszusprechen. Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich in dieser +Annahme entschieden nichts Schlechtes finden kann. Im Gegenteil, Sie +würden sie überaus glücklich machen, wenn Sie sie nun einmal so lieben, +und – und Gott gebe es! Möge Gott Ihnen Liebe und Rat schenken!“ + +„Aber, um’s Himmels willen, was redest du da!“ rief mein Onkel fast +entsetzt aus. „Ich wundere mich nur, wie du das so kaltblütig +aussprechen kannst ... und ... überhaupt, Freund, eilst du immer +irgendwohin – diesen Zug habe ich schon an dir bemerkt! Ist denn das +nicht einfach sinnlos, was du da sagst? Wie, sag doch selbst, wie soll +ich sie denn heiraten, wenn ich sie gewissermaßen als meine Tochter +betrachte? Ja, eben nur wie ein Vater seine Tochter und nicht anders! Es +wäre sogar eine Schande und eine Sünde, wenn ich anders auf sie blicken +würde! Ich – ein Greis, und sie – ein kleines Mädchen! Sogar Foma hat es +mir genau so in diesen Ausdrücken erklärt. Ich empfinde nur väterliche +Liebe für sie in meinem Herzen, und da kommst du nun mit Eheschließung! +Sie würde ja vielleicht aus Dankbarkeit nicht absagen, aber dann müßte +sie mich doch ewig verachten, wenn ich ihre Dankbarkeit in dieser Weise +ausnutzte. Ich würde sie nur unglücklich machen und ... und würde ihre +Anhänglichkeit verlieren! Ach, ich würde ihr ja meine ganze Seele +hingeben, mein kleines Mädchen, das heißt ... Sie ... sie ... Ich liebe +sie ebenso wie Ssaschenjka, sogar mehr, aber das will ich nur dir allein +gestehen; denn Ssaschenjka ist, siehst du, sowieso meine Tochter, nach +dem Gesetz und mit Recht, diese aber habe ich durch meine Liebe zu +meiner Tochter gemacht. Ich habe sie aus armen Verhältnissen zu mir +genommen. Auch Katjä, mein toter Liebling, hat die Kleine geliebt und +hat sie mir als Tochter hinterlassen. Ich habe sie gut erziehen lassen: +französische Stunden und Klavierstunden und Literaturstunden – kurz und +gut, alles was dazu gehört. Was für ein Lächeln sie hat! Hast du es +nicht bemerkt, Sserjosha? Man glaubt, sie lache über einen, indessen +lacht sie gar nicht, sondern, im Gegenteil, liebt dich ... Ich ... sieh, +ich glaubte, du würdest kommen, bei ihr anhalten – dann würden sie sich +alle überzeugen, daß ich keine ... Absichten auf sie habe, und würden +dann endlich aufhören, alle diese dummen, schmutzigen Geschichten über +sie zu verbreiten. Sie würde dann hier bei uns in Ruhe und Frieden +leben: und wie würden wir alle glücklich sein! Ihr seid ja beide meine +Kinder, beide gewissermaßen Waisen, beide seid ihr unter meiner +Vormundschaft aufgewachsen ... ich würde euch beide so lieben, so +lieben! Ich würde euch mein ganzes Leben hingeben, niemals mich von euch +trennen, überall würde ich bei euch sein! Ach, wie glücklich wir doch +sein könnten! Und warum nur ärgern sich die Menschen, warum sind sie +alle so böse, warum hassen sie einander? Ich ... ich würde sie alle +einmal so fest in meine Arme nehmen und es ihnen so recht von +Herzensgrund erklären wollen! Würde ihnen so die ganze Herzenswahrheit +zeigen! Ach, du, Grundgütiger!“ + +„Onkel, Sie haben in allem vollkommen recht, nur ändert das an der +Tatsache nichts, daß sie mir einen Korb gegeben hat.“ + +„Einen Korb! ...? ... Hm! ... Aber weißt du, es ist mir doch, als hätte +ich es vorausgefühlt, daß sie dir absagen würde,“ sagte er nachdenklich. +„Aber nein!“ rief er aus, „ich glaube es nicht! Das ist unmöglich. In +dem Falle würde ja nichts zustande kommen! Sicherlich hast du es +irgendwie ungeschickt angefangen, hast sie vielleicht sogar gekränkt +oder ihr womöglich Komplimente zu machen versucht ... Erzähle mir noch +einmal, wie es war, Ssergei!“ + +Ich wiederholte alles noch einmal ganz ausführlich. Als ich sagte, daß +Nastenjka mit ihrer Entfernung ihn, meinen Onkel, vor der Ehe mit +Tatjana Iwanowna bewahren wolle, lächelte er bitter. + +„Bewahren!“ sagte er. „Bewahren bis morgen!“ + +„Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie Tatjana Iwanowna heiraten +werden?“ rief ich erschrocken aus. + +„Womit habe ich es denn erkauft, daß Nastjä morgen nicht hinausgeworfen +wird? Morgen noch werde ich anhalten – ich habe es versprochen.“ + +„Wie, Sie haben sich dazu entschließen können, Onkel?“ + +„Was sollte ich tun, Freund, es war nichts zu wollen! Es zerreißt mir ja +das Herz, aber ich habe mich entschlossen. Morgen halte ich um sie an +... die Hochzeit soll still gefeiert werden, nur im Familienkreise. Es +ist auch besser so, Freund. Du wirst natürlich mein Ehrenmarschall sein +... bei der Trauung. Das habe ich auch drüben schon angedeutet, so daß +sie dich bis dahin bestimmt nicht vor die Tür setzen werden. Was soll +man denn tun, Freund? Sie sagen: ‚Du machst deine Kinder steinreich!‘ +Natürlich, was ist man für seine Kinder nicht zu tun bereit! Selbst auf +den Kopf stellt man sich ... um so mehr, als es ja auch im Grunde ganz +richtig so ist. Und ich muß doch etwas für meine Familie tun! Ich kann +doch nicht immer dieser Egoist bleiben!“ + +„Aber, Onkel, sie ist doch verrückt!“ rief ich aus, ohne im Augenblick +daran zu denken, daß sie ja doch schon so gut wie seine Braut war. Mein +Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz. + +„Na, jetzt erklärst du sie sogar schon für verrückt! Sie ist durchaus +nicht verrückt, Freund, sondern ... nur so, weißt du, sie hat viel +Schweres durchgemacht ... Was soll man denn tun, Freund, ich wäre ja +auch froh, eine mit vollem Verstande ... Aber übrigens, was für welche +gibt es nicht auch unter denen, die geistig normal sind! Und wenn du +wüßtest, wie gut sie ist, wie edelmütig ...“ + +„Großer Gott! Er söhnt sich mit dem Gedanken bereits aus!“ Ich war im +Begriff, zu verzweifeln. + +„Aber was soll ich denn tun, wenn ich mich nicht aussöhne? Und sie +wollen das alles doch nur zu meinem Besten, und ... und schließlich sah +ich ein, daß ich früher oder später doch daran werde glauben müssen, +davor wird mich keiner retten: sie werden mich zu zwingen verstehen, sie +zu heiraten. Deshalb ist es doch besser, sich sogleich zu entschließen, +als erst noch lange herumzustreiten. Ich werde dir, Freund, alles ganz +offen sagen: weißt du, ich bin zum Teil sogar ganz froh darüber. Hat man +sich entschlossen, so hat man sich entschlossen – dann ist es wenigstens +erledigt, und man hat es hinter sich. Man fühlt sich auch ruhiger, weißt +du. Ich, siehst du, ich kam ja auch schon ganz ruhig hierher. Aber so +will es wahrscheinlich mein Stern! Und die Hauptsache, unser Gewinn +sozusagen, ist doch, daß Nastjä bei uns bleibt. Ich habe doch nur unter +dieser Bedingung eingewilligt. Und nun will _sie selbst_ fortgehen! Das +darf nicht sein!“ Mein Onkel stampfte mit dem Fuß auf. „Hör, Ssergei,“ +fuhr er plötzlich entschlossen fort, „erwarte mich hier, bleibe hier im +Zimmer, ich werde im Augenblick wieder hier sein.“ + +„Wohin, wohin gehen Sie, Onkel?“ + +„Vielleicht treffe ich sie, Ssergei. Dann wird sich alles aufklären, +glaube mir, alles wird sich aufklären und ... und ... du wirst sie +heiraten – ich gebe dir mein Ehrenwort!“ + +Mein Onkel verließ das Zimmer, schlug aber, wie ich sah, nicht den Weg +zum Hause ein, sondern ging noch tiefer in den Garten, in der Richtung +auf den Weiher. Ich blickte ihm durch das Fenster nach. + + + + + XII. + + Die Katastrophe. + + +Ich war allein. Die Lage, in der ich mich befand, war unerträglich: Ich +hatte einen Korb erhalten, und mein Onkel wollte mich ungeachtet dessen +mit Gewalt verheiraten. Meine Gedanken schweiften unruhig umher, doch +ich konnte keinen ruhig zu Ende denken. Misintschikoff und sein +Vorschlag wollten mir nicht aus dem Sinn. Es galt, was es auch koste, +meinen Onkel zu retten. Ich dachte sogar daran, Misintschikoff +unverzüglich aufzusuchen und ihm alles zu erzählen ... Aber wohin war +mein Onkel gegangen? Er hatte gesagt, daß er Nastenjka sprechen wolle, +und hatte doch den Weg in den Garten eingeschlagen. Einen Augenblick +dachte ich an heimliche Zusammenkünfte, und ein unangenehmes Gefühl +regte sich in meinem Herzen. Mir fielen Misintschikoffs Worte ein: daß +sie heimliche Beziehungen zueinander hätten ... Ich sann nach – wies +dann aber jeden Verdacht unwillig von mir. Nein, mein Onkel konnte nicht +betrügen, das lag ja auf der Hand. Doch meine Unruhe wuchs mit jeder +Minute. Fast unbewußt trat ich hinaus auf die Treppe und ging dann in +Gedanken versunken dieselbe Allee entlang, die mein Onkel verfolgt +hatte. Der große Sommermond stand rot und noch niedrig über dem +Horizont. Ich kannte den Garten gut und brauchte nicht zu fürchten, +irrezugehen. Als ich mich der alten Laube näherte, die einsam am Ufer +des schlammigen, schilfbewachsenen Weihers stand, blieb ich plötzlich +wie angewurzelt stehen: ich vernahm deutlich Stimmengeflüster, das aus +der Laube kam. Ich kann nicht sagen, welch ein eigenartig ärgerliches +Gefühl mich erfaßte! Ich war überzeugt, daß mein Onkel und Nastenjka +dort saßen, und ich ging geradeaus weiter, indem ich auf alle Fälle mein +Gewissen wenigstens damit beruhigte, daß ich denselben Schritt +beibehielt und mich nicht etwa unbemerkt heranzuschleichen suchte. Da +vernahm ich plötzlich, daß zwei sich küßten, und darauf folgte eine +Menge begeisterter Worte und dann – ein durchdringender weiblicher +Schrei! Fast im selben Augenblick aber lief oder flog auch schon eine +weißgekleidete Dame wie eine Schwalbe an mir vorüber. Es schien mir, daß +sie das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, um nicht erkannt zu +werden. Man hatte mich also aus der Laube bemerkt. Wie groß aber war +meine Verwunderung, als ich in dem Herrn, der nach der aufgescheuchten +Dame aus der Laube trat, – Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach +Misintschikoffs Behauptung Stepantschikowo bereits verlassen hatte! Auch +Obnoskin war nicht wenig verwirrt: seine sonst so anmaßende Haltung war +völlig verschwunden. + +„Entschuldigen Sie, aber ... ich hatte nicht erwartet, mit Ihnen hier +zusammenzutreffen,“ brachte er stotternd und mit verlegenem Lächeln +hervor. + +„Dasselbe kann ich auch von mir sagen,“ entgegnete ich spöttisch, „um so +mehr, als ich gehört habe, daß Sie bereits fortgefahren seien.“ + +„Nein ... das war nur so ... ich begleitete nur meine Mutter ... eine +Strecke ... Aber darf ich mich an Sie mit einer Bitte wenden; denn ich +weiß, daß Sie ein ehrenwerter Mensch sind ...“ + +„Und diese Bitte wäre?“ + +„Es gibt Fälle – und Sie werden mir darin zustimmen – in denen ein +wirklich edler Mensch gezwungen ist, an den ganzen Edelmut eines +anderen, gleichfalls edlen Menschen zu appellieren ... Ich hoffe, Sie +verstehen mich ...“ + +„Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe Sie tatsächlich nicht.“ + +„Sie haben doch die Dame gesehen, die hier mit mir in der Laube war?“ + +„Gesehen – ja, aber nicht erkannt.“ + +„Ah, nicht erkannt ... Diese Dame werde ich alsbald meine Frau nennen.“ + +„Gratuliere. Aber womit kann ich Ihnen dienen?“ + +„Nur mit einem: es als tiefstes Geheimnis zu bewahren, daß Sie mich mit +dieser Dame hier gesehen haben ...“ + +„Wer mag das gewesen sein?“ dachte ich, „doch nicht ...?“ + +„Wirklich, ich weiß nicht ...“ sagte ich. „Sie werden entschuldigen, daß +ich Ihnen mein Wort nicht geben kann ...“ + +„Um’s Himmels willen, ich _bitte_ Sie doch darum!“ flehte Obnoskin. +„Begreifen Sie doch meine Situation! Es ist noch ein Geheimnis. Sie +können gleichfalls einmal Bräutigam sein: dann werde auch ich +meinerseits ...“ + +„Pst! Jemand kommt!“ + +„Wo?“ + +In der Tat bemerkten wir kaum dreißig Schritt von uns den Schatten eines +Menschen vorübergleiten. + +„Das ... das war Foma Fomitsch!“ flüsterte Obnoskin, am ganzen Leibe +zitternd. „Ich erkannte ihn am Gang. Mein Gott! da kommen wieder +Schritte! Von der anderen Seite! Hören Sie ... Leben Sie wohl! Ich danke +Ihnen und ... flehe Sie an ...“ + +Obnoskin verschwand. Nach einer Minute stand mein Onkel vor mir, wie aus +der Erde gewachsen. + +„Bist du es?“ fragte er hastig. „Alles ist verloren, Ssergei, jetzt ist +alles verloren!“ + +Ich bemerkte, daß auch er am ganzen Körper zitterte. + +„Was ist verloren, Onkel?“ + +„Gehen wir!“ Er erfaßte krampfhaft meine Hand und zog mich nach sich. +Während des ganzen Weges bis zum Sommerhaus sprach er kein Wort und ließ +auch mich nicht sprechen. Ich erwartete etwas Außergewöhnliches und kann +sagen, daß ich in meiner Erwartung auch nicht enttäuscht wurde. Als wir +mein Zimmer betraten, schwindelte ihm und er wankte. Er war bleich wie +ein Toter. Ich spritzte ihm sofort Wasser ins Gesicht. „Es muß etwas +Furchtbares geschehen sein,“ dachte ich, „wenn ein Mann wie er – in +dieser Weise ... fast ohnmächtig wird.“ + +„Onkel, was haben Sie nur?“ fragte ich schließlich. + +„Alles ist verloren, Ssergei! Foma überraschte mich und Nastenjka im +Garten ... gerade in dem Augenblick, als ich sie küßte ...“ + +„Als Sie sie küßten? Im Garten?“ Ich sah ihn verständnislos an. + +„Im Garten, Freund, Gott wollte es so! Ich ging, um sie unverzüglich zu +sprechen ... Ich wollte ihr alles sagen, wollte ihr zureden, sie zur +Vernunft bringen ... in bezug auf dich, weißt du. Sie aber hatte schon +seit einer ganzen Stunde auf mich gewartet, dort, bei der zerbrochenen +Bank ... hinter dem Weiher ... Sie kommt oft dorthin, wenn ich mit ihr +sprechen muß.“ + +„Oft?“ + +„Oft, oft, Freund! In der letzten Zeit haben wir uns dort fast in jeder +Nacht getroffen. Nun haben sie uns wahrscheinlich aufgelauert – ich weiß +es genau, daß sie spioniert haben, und ich weiß auch, daß Anna Nilowna +die Hauptbeteiligte ist. So stellten wir denn unsere Zusammenkünfte ein: +seit vier Tagen hatten wir uns nicht gesehen ... aber heute ging es doch +nicht anders ... Du weißt doch selbst, wie notwendig es war ... Und wie +und wo hätte ich sonst ein Wort mit ihr reden können? Ich ging also in +der Hoffnung hin, sie dort anzutreffen ... Und sie saß auch schon seit +einer Stunde da ... und hatte auf mich gewartet: sie hatte mir +gleichfalls Wichtiges zu sagen ...“ + +„Wie kann man nur so unvorsichtig sein! Sie wußten doch, daß man Sie +beide beobachtet!“ + +„Aber es war doch ein kritischer Augenblick, Ssergei! Wir mußten uns +doch über so vieles aussprechen! Am Tage wage ich ja nicht einmal, sie +anzusehen: sie sieht in den einen Winkel und ich absichtlich in den +anderen, als wenn ich überhaupt nicht bemerkte, daß sie auf der Welt +ist. In der Nacht aber treffen wir uns und können uns dann aussprechen +...“ + +„Und was geschah nun heute, Onkel?“ + +„Oh! Kaum hatte ich ihr zwei Worte gesagt, weißt du – da fing mein Herz +zu hämmern an, und die Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte sie +bereden, dich doch zu heiraten – sie aber sagte mir ohne weiteres: ‚Dann +lieben Sie mich offenbar überhaupt nicht, dann sehen Sie ja gar nichts!‘ +Und plötzlich wirft sie sich an meine Brust, umarmt mich krampfhaft, +weint und schluchzt: ‚Ich liebe nur Sie allein,‘ sagte sie, ‚ich werde +keinen anderen heiraten! Ich liebe Sie schon lange, nur werde ich auch +Sie nicht heiraten, sondern morgen noch fortfahren und ins Kloster +gehen.‘“ + +„Donnerwetter! Hat sie das wirklich so gesagt? Und was geschah dann +weiter – weiter, Onkel?“ + +„Da – ich blickte auf: vor uns steht Foma! Woher er nur gekommen sein +mag? Er kann doch unmöglich hinter dem Gebüsch gehockt haben, um nur auf +diesen Sündenaugenblick zu warten?“ + +„Der Schuft!“ + +„Ich erstarrte, Nastenjka lief fort, und Foma Fomitsch ging schweigend +an uns vorüber und drohte mir nur einmal so mit dem Finger. – Begreifst +du jetzt, Ssergei, was es morgen geben wird?“ + +„Wie sollte ich nicht!“ + +„Begreifst du?“ rief er verzweifelt aus und sprang vom Stuhl auf. +„Begreifst du, daß sie sie verderben, verleumden, entehren wollen? Sie +suchen einen Vorwand, um ihr eine Schande anhängen und sie dann aus dem +Hause treiben zu können! Und jetzt haben sie ihn glücklich gefunden! +Haben sie doch schon gesagt, sie hätte ein ehrloses Verhältnis mit mir! +Ja, diese Schurken haben sogar gesagt, sie hätte auch eins mit +Widopljässoff gehabt! Und das hat alles diese Anna Nilowna verbreitet! +Was wird jetzt werden? Was wird morgen sein? Sollte Foma es wirklich +erzählen?“ + +„Unbedingt wird er es erzählen, Onkel.“ + +„Wenn er es aber erzählt, wenn er es wagt ...“ Mein Onkel biß sich die +Lippen und ballte die Fäuste. „Nein, nein! Ich glaube es nicht! Er wird +es nicht sagen, er wird begreifen ... er ist ein Mensch mit edler +Gesinnung! Er wird sie schonen ...“ + +„Schonen oder nicht schonen,“ unterbrach ich ihn entschlossen; +„jedenfalls aber ist es jetzt Ihre Pflicht, morgen um Nastassja +Jewgrafownas Hand anzuhalten.“ + +Mein Onkel blickte mich unbeweglich an. + +„Sehen Sie denn nicht ein, Onkel, daß Sie dem Mädchen die Ehre nehmen, +wenn Sie die Sache an die große Glocke hängen lassen? Sehen Sie denn +nicht ein, daß Sie allem Gerede so schnell wie möglich die Spitze +abbrechen müssen? Sie müssen jedem furchtlos und stolz in die Augen +blicken können, Ihre Verlobung sofort veröffentlichen, alle Ihre +Vernunftgründe zum Teufel schicken und Foma, wenn er dagegen auch nur zu +mucken wagt, einfach zu Pulver zerstäuben! ...“ + +„Ssergei, Freund, ich dachte daran, als wir herkamen!“ + +„Und zu was haben Sie sich entschlossen?“ + +„Mein Entschluß steht fest! Ich hatte mich bereits entschlossen, noch +bevor ich dir zu erzählen begann!“ + +„Bravo, Onkel!“ + +Ich fiel ihm um den Hals vor Freude. + +Lange noch sprachen wir. Ich hielt ihm alle die unerbittlichen Gründe +vor, die ihn zwangen, Nastenjka zu heiraten, und die er übrigens selbst +noch viel besser begriff als ich. Aber ich kam nun einmal ins Reden. Ich +freute mich unsäglich für ihn. Jetzt zwang ihn die Pflicht, anderenfalls +hätte er sich wohl nie entschlossen. Vor der Pflicht aber, und noch dazu +einer Ehrenpflicht, war er machtlos. + +Doch ungeachtet alles dessen wußte ich entschieden nicht, wie das +Vorhaben ausgeführt werden sollte. Ich wußte und glaubte ohne den +geringsten Zweifel, daß mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen +werde, was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte. Aber im Grunde +fürchtete ich doch, daß er nicht rücksichtslos genug sein könne, um sich +gegen die Herrscher in seinem Hause aufzulehnen. Nur deshalb bemühte ich +mich so hartnäckig, ihn anzutreiben und in dieser Richtung +vorwärtszustoßen: und so legte ich mich denn mit dem ganzen Eifer der +Jugend ins Zeug. + +„... Um so mehr, um so mehr müssen Sie es,“ wiederholte ich, „als jetzt +bereits alles beschlossen ist und Ihre letzten Zweifel aufgehoben sind! +Es ist etwas geschehen, was _Sie_ nicht erwartet haben, obgleich es alle +seit langer Zeit wissen: Nastassja Jewgrafowna liebt Sie! Wollen Sie es +denn wirklich zulassen!“ rief ich heftig aus, „daß diese reine Liebe +sich für sie in Schmach und Schande verwandle?“ + +„Niemals will ich das! Aber, Freund, ist es denn überhaupt möglich, daß +ich so glücklich werden könnte? Und wie kann sie mich nur lieben, und +wofür eigentlich? wofür? Ich glaube, es ist doch so gar nichts an mir +... Ich bin ein Greis im Vergleich zu ihr. Nein, das hätte ich nie +erwartet! Liebling, mein Liebling! ... Höre, Sserjosha, vorhin fragtest +du mich, ob ich nicht in sie verliebt sei: hattest du irgendeine ... +Idee vielleicht?“ + +„Ich sah nur, Onkel, daß Sie sie so liebten, wie man noch mehr einen +Menschen überhaupt nicht lieben kann; und daß Sie sie liebten, ohne es +selbst zu wissen. Denken Sie doch einmal nach: Sie rufen mich aus +Petersburg her und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig damit sie +Ihre Nichte werde und Sie, Onkel, uns dann ewig bei sich haben können +...“ + +„Und du ... du verzeihst mir, Ssergei?“ + +„Ach, Onkel ...“ + +Er preßte mich an sein Herz. + +„Aber jetzt seien Sie auf der Hut; denn es haben sich ja dort alle gegen +Sie verschworen. Sie müssen sich erheben und gegen alle kämpfen, und +zwar gleich morgen!“ + +„Ja ... ja, morgen!“ wiederholte er etwas nachdenklich, „und weißt du, +wir wollen die Sache männlich und vollkommen überzeugt von unserem Recht +anfassen, mit wirklicher Charakterstärke ... ja eben mit +Charakterstärke!“ + +„Lassen Sie den Mut nicht sinken, Onkel!“ + +„Nein, ich werde den Mut nicht sinken lassen, Ssergei! Nur eines: ich +weiß nicht, welch einen Schlachtplan ich wählen soll!“ + +„Denken Sie jetzt nicht daran, Onkel. Morgen wird alles seine Lösung +finden. Für heute beruhigen Sie sich. Je mehr man jetzt grübelt, um so +schlimmer ist es. Und falls Foma den Mund auftut – dann entweder: ihn +unverzüglich vor die Tür setzen, oder: ihn zu Staub zermalmen!“ + +„Geht es denn nicht auch ohne das? Freund, ich habe so beschlossen: +morgen gehe ich in aller Frühe zu ihm und erzähle ihm den ganzen +Sachverhalt, so wie ich ihn dir erzählt habe. Er kann mich doch +unmöglich nicht verstehen wollen! Er ist doch ein edler Mensch, der +edelste von allen! Aber sieh, was mich beunruhigt: was dann, wenn er +meine Mutter und Tatjana Iwanowna heute schon von der bevorstehenden +Werbung benachrichtigt hat? Das wäre doch furchtbar?“ + +„Tatjana Iwanownas wegen brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen, Onkel.“ +Und ich erzählte ihm meine Begegnung mit Obnoskin vor der Laube. Mein +Onkel war maßlos erstaunt. Misintschikoff erwähnte ich mit keinem Wort. + +„Eine phantasmagorische Person, in der Tat! Wirklich, eine +phantasmagorische Person!“ rief er aus. „Die Arme! Man will ihre +Naivität ausnutzen! Und war es wirklich Obnoskin? Aber er fuhr doch nach +dem Tee fort? Sonderbar, höchst sonderbar! Ich bin wirklich betroffen, +Sserjosha ... Das muß man morgen noch untersuchen, um gegebenenfalls +Maßregeln ergreifen zu können ... Aber bist du auch überzeugt, daß es +Tatjana Iwanowna war?“ + +Ich sagte, daß ich ihr Gesicht zwar nicht gesehen hätte, aber aus +gewissen Gründen fest überzeugt sei, daß es Tatjana Iwanowna gewesen +war. + +„Hm! Oder sollte es nicht doch ein kleines Techtelmechtel mit einem der +Hofmädchen gewesen sein, und dir hat es vielleicht nur so geschienen, +daß es Tatjana Iwanowna war? War es nicht Dascha, die Gärtnerstochter? +Das ist ein durchtriebenes Mädchen! Man hat sie bereits öfter bemerkt +... Nur deshalb sage ich es ja, weil man sie wirklich schon gesehen hat. +Anna Nilowna hat sie ertappt! ... Aber nein, das ist auch +unwahrscheinlich! Und er hat dir gesagt, daß er sie heiraten wolle? +Sonderbar, sehr sonderbar ...“ + +Endlich trennten wir uns. Ich umarmte ihn zum Abschied. + +„Morgen, morgen wird sich alles entscheiden,“ sagte er lebhaft, „noch +bevor du aufstehst! Ich werde zu Foma gehen und ihm ritterlich alles +aufdecken, wie meinem leiblichen Bruder, alles, was ich auf meinem +Herzen habe, meine ganze Seele. Leb wohl, Sserjosha. Leg dich jetzt hin, +du wirst müde sein. Na, und ich – ich werde in der ganzen Nacht wohl +kein Auge schließen.“ + +Er ging. Ich legte mich unverzüglich schlafen; denn ich war in der Tat +todmüde. Das war ein schwerer Tag gewesen! Meine Nerven waren überreizt, +und bevor ich endlich einschlief, zuckte ich noch mehrmals zusammen und +wachte immer wieder aus dem Halbschlaf auf. + +Aber wie seltsam meine Eindrücke auch während des Einschlafens waren, so +war ihre Seltsamkeit doch noch nichts im Vergleich mit der Seltsamkeit +meines Erwachens am nächsten Morgen. + + + + + XIII. + + Die Verfolgung. + + +Ich schlief traumlos und ungewöhnlich fest. Plötzlich fühlte ich, wie +ein Gewicht von etwa vierhundert Pfund sich auf meine Beine legte: ich +schrie auf und erwachte. + +Es war schon hell: durch die Fenster flutete gelbes Sommermorgenlicht +ins Zimmer. Auf meinem Bett, oder richtiger, auf meinen Beinen saß – +Herr Bachtschejeff. + +Ein Zweifel war ausgeschlossen: er war es. Nachdem ich meine Füße mit +genauer Not von dieser Last befreit hatte, setzte ich mich im Bett auf +und sah ihn mit der stumpfen Verständnislosigkeit eines kaum erwachten +Menschen an. + +„Er glotzt noch!“ rief der Dicke empört aus. „Was staunst du mich denn +an? Steh auf, Alter, steh auf! Wecke dich hier schon seit einer halben +Stunde. Reib dir endlich den Schlaf aus den Augen!“ + +„Was ist geschehen? Wieviel ist die Uhr?“ + +„Die Uhr ist noch nicht viel, aber unsere Fewronja hat nicht einmal den +Tag erwartet, um loszuziehen. Steh mal auf, fix, wir setzen ihr nach!“ + +„Was für eine Fewronja?“ + +„Na, die unserige doch, die Holde, wer denn sonst! Ist schon über alle +Berge! Bereits vor Sonnenaufgang ausgekniffen! Ich aber bin ja, mein +Bester, nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, bloß um Sie auf die +Beine zu bringen – und da vertrödele ich nun mit ihm geschlagene zwei +Stunden! Stehen Sie auf, mein Lieber, Ihr Onkel erwartet Sie schon ... +Da hat man nun die Bescherung!“ knurrte er zum Schluß, mit einer +gewissen schadenfrohen Gereiztheit in der Stimme. + +„Aber von wem ... wovon reden Sie?“ fragte ich erregt; denn ich begann +bereits zu ahnen, „... doch nicht ... Tatjana Iwanowna?“ + +„Von wem denn sonst? Natürlich von ihr! Habe ich nicht gesagt, gewarnt – +keiner wollte auf mich hören! Da habt ihr jetzt die Bescherung ... zum +Feiertage! Kupido hat ihr den Kopf verdreht, nur deswegen ist sie +verrückt! Pfui! Aber jener, jener – was? Da habt ihr jetzt den +Spitzbart!“ + +„Doch nicht mit Misintschikoff?“ + +„Hör nur einer _so_ was! Nun reib dir aber den Schlaf aus den Augen und +werde wenigstens dem großen Feiertage zu Ehren nüchtern! Bist wohl +gestern bis untern Tisch gekommen, wenn dir der Schädel jetzt noch +brummt! Was: Misintschikoff! – Mit Obnoskin, aber nicht mit +Misintschikoff! Iwan Iwanowitsch Misintschikoff ist ein anständiger +Mensch und macht sich mit uns auf die Verfolgung.“ + +„Was Sie sagen!“ rief ich erschrocken aus und machte, noch halb sitzend, +einen Sprung aus dem Bett, „tatsächlich mit Obnoskin?“ + +„Pfui, du langweiliger Mensch!“ Der Dicke erhob sich fauchend von meinem +Bett. „Ich komme zu ihm wie zu einem gebildeten Menschen, um ihm das +Unglück mitzuteilen, er aber zweifelt noch! Du, mein Lieber, wenn du mit +willst, so erheb dich schleunigst und zieh dir deine Höschen an; ich +aber hab’s satt, hier mit meiner Lunge für dich zu arbeiten: habe +sowieso schon meine Zeit an dich verschwendet!“ + +Und er verließ äußerst ungehalten mein Zimmer. + +Noch ganz bestürzt von der Nachricht, sprang ich aus dem Bett, kleidete +mich schnell an und eilte ins Herrenhaus. + +Dort schien noch alles zu schlafen: und so trat ich denn vorsichtig +durch die Paradetür ein, um unbemerkt zu meinem Onkel zu kommen. Kaum +war ich eingetreten, als plötzlich Nastenjka vor mir stand: sie mußte +soeben erst aufgestanden sein und sich in aller Eile angezogen haben. +Ihr Haar war in Unordnung, und sie trug eine Art Morgenkleid oder +Umwurf. Wahrscheinlich hatte sie im Flur auf jemanden gewartet. + +„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin +fortgefahren ist?“ fragte sie mich erregt mit zitternder Stimme, bleich +und sichtlich erschrocken. + +„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel ... Wir wollen ihr nachfahren +...“ + +„Oh, bringen Sie sie, bringen Sie sie schnell zurück! Wenn Sie es nicht +tun, ist sie verloren!“ + +„Aber wo ist denn mein Onkel?“ + +„Wahrscheinlich bei den Pferdeställen. Die Pferde werden schon +angeschirrt. Ich habe hier auf ihn gewartet. Hören Sie, sagen Sie ihm +von mir, daß ich unbedingt heute noch fortfahren will: ich bin fest +entschlossen. Mein Vater nimmt mich zu sich. Am liebsten würde ich +sofort fahren, wenn es sich nur machen ließe! Jetzt ist alles verloren! +Jetzt ist alles zu Ende!“ + +Während sie das sagte sah sie mich selbst wie eine Verlorene an – und +plötzlich brach sie in Tränen aus. Es schien ein nervöser Anfall zu +sein. + +„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!“ bat ich sie. „Das ist doch nur +eine günstige Wendung – Sie werden sehen ... Was haben Sie nur, +Nastassja Jewgrafowna?“ + +„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist,“ sagte sie erregt und +preßte unbewußt meine Hände krampfhaft zusammen. „Sagen Sie ihm ...“ + +Da hörten wir hinter der nächsten Tür ein Geräusch. + +Sie zog erschrocken ihre Hände zurück und eilte die Treppe hinauf. + +Ich fand sie alle – d. h. meinen Onkel, Herrn Bachtschejeff und +Misintschikoff – auf dem hinteren Hof bei den Ställen. Vor Herrn +Bachtschejeffs Wagen wurden frische Pferde angeschirrt. Alles war zur +Abfahrt bereit: man hatte nur noch auf mich gewartet. + +„Da ist er!“ rief mein Onkel aus, als er mich erblickte. „Hast du es +schon gehört, Freund?“ fragte er leiser mit einem eigentümlichen +Gesichtsausdruck. Schreck, Zerstreutheit und doch so etwas wie eine neue +Hoffnung lagen in seinem Blick, in seiner Stimme und selbst in seinen +Bewegungen. Offenbar fühlte er, daß in seinem Schicksal eine Wendung +eingetreten war. + +Ich wurde sogleich in die Einzelheiten eingeweiht. + +Herr Bachtschejeff war nach einer qualvollen Nacht beim ersten +Morgengrauen von Hause aufgebrochen, um rechtzeitig zum Frühgottesdienst +im Kloster einzutreffen, das einige fünf Werst von seinem Gut entfernt +lag. Als er gerade von der Landstraße in den Nebenweg zur Einsiedelei +einbiegen wollte, hatte er mit einemmal einen offenen Wagen in rasender +Schnelligkeit daherkommen sehen und in den Insassen Tatjana Iwanowna und +Obnoskin erkannt. Tatjana Iwanowna sei verweint gewesen und habe, als +sie Herrn Bachtschejeff erblickt, vor Schreck aufgeschrien und ihm dann +die Hände wie hilfesuchend entgegengestreckt – so wenigstens ging es aus +seiner Erzählung hervor. „Jener aber, der Schuft mit dem Spitzbart, +wollte sich vor mir verstecken, jawohl, ja! – vor mir aber versteckst du +dich nicht!“ + +Ohne lange zu zögern, hatte Stepan Alexejewitsch (Herr Bachtschejeff) +dem Kutscher wieder auf die Landstraße zurückzukehren befohlen und war +schnurstracks nach Stepantschikowo gefahren, hatte hier ohne weiteres +meinen Onkel geweckt, ferner Misintschikoff und schließlich auch mich. +Es war beschlossen worden, ihnen sogleich nachzufahren. + +„Aber Obnoskin, was sagst du zu Obnoskin?“ fragte mein Onkel und sah +mich unverwandt an, als wolle er mir gleichzeitig noch sagen: „Wer hätte +das gedacht!“ + +„Von diesem niedrigen Menschen war jede Gemeinheit zu erwarten!“ +bemerkte Misintschikoff in sehr scharfem Ton, wandte sich aber im selben +Augenblick ab, um meinen Blick zu vermeiden. + +„Na, was nun: fahren wir oder fahren wir nicht? Oder werden wir bis zum +Abend hier stehen und uns Märchen erzählen?“ erinnerte Herr +Bachtschejeff an unser Vorhaben und schob sich als erster in den Wagen. + +„Fahren wir, fahren wir!“ rief sogleich eilig mein Onkel. + +„Es wendet sich alles zum guten, Onkel,“ raunte ich ihm noch schnell zu. +„Dieser Punkt ist jetzt besser erledigt, als wir es uns hätten träumen +können!“ + +„Schon gut, Freund, lästere nicht ... Aber jetzt wird man _sie_ ja +einfach hinauswerfen, zur Strafe dafür, daß das andere mißglückt ist, +aus Rache – du verstehst doch? Entsetzlich, Freund, was ich jetzt kommen +sehe!“ + +„Zum Donner, Jegor Iljitsch, wollen Sie Geheimnisse tuscheln – oder +wollen Sie fahren?“ schrie Herr Bachtschejeff zum zweitenmal. „Sollte +man nicht lieber die Pferdchen vorläufig wieder ausschirren lassen und +erst noch einen Imbiß einnehmen – was meinen Sie? – und womöglich noch +ein paar Gläschen sich hinter die Binde gießen?“ + +Diese Worte waren mit einem so grimmigen Sarkasmus gesagt, daß es ganz +ausgeschlossen war, Herrn Bachtschejeff nicht unverzüglich zu +befriedigen. Wir stiegen eilig ein, und die Pferde zogen an. + +Eine Zeitlang schwiegen alle. Mein Onkel streifte mich ab und zu mit +einem bedeutungsvollen Blick, schien aber in Gegenwart der anderen nicht +sprechen zu wollen. Mitunter versank er in Gedanken, um dann nach einer +Weile zusammenzuzucken, plötzlich gleichsam zur Besinnung zu kommen und +sich erregt umzublicken. Misintschikoff war scheinbar ruhig, rauchte +seine Zigarette und schaute mit dem Selbstbewußtsein eines +ungerechterweise gekränkten Menschen drein. Dafür ereiferte sich Herr +Bachtschejeff für drei. Er brummte die ganze Zeit vor sich hin, blickte +auf alle und alles mit entschiedener Mißbilligung, wurde rot, fauchte, +spie fortwährend seitwärts auf die Landstraße und konnte sich auf keine +Art und Weise beruhigen. + +„Bist du denn auch wirklich überzeugt, Stepan, daß die beiden nach +Mischino gefahren sind?“ erkundigte sich plötzlich mein Onkel. „Das ist, +mußt du wissen, zwanzig Werst von hier,“ fügte er, zu mir gewandt, +erklärend hinzu, „ein kleines Gut mit dreißig Seelen. Es ist vor kurzem +von einem ehemaligen Gouvernementsbeamten den früheren Besitzern +abgekauft worden. Ein Schikaneur, sagt man, wie die Welt keinen zweiten +aufzuweisen hat! Wenigstens wird es ihm nachgesagt. Stepan Alexejewitsch +behauptet, Obnoskin sei dorthin gefahren, und dieser Beamte helfe ihm.“ + +„Du zweifelst wohl noch?“ fuhr Herr Bachtschejeff sofort auf. „Ich sage +es und bleibe dabei: sie sind nach Mischino gefahren. Nur hat man ihn in +Mischino wahrscheinlich schon längst wieder vergessen, den Obnoskin. +Warum auch nicht! Haben doch drei Stunden auf dem Hof verschwatzt!“ + +„Beunruhigen Sie sich nicht,“ bemerkte Misintschikoff, „wir werden sie +dort noch antreffen.“ + +„Jawohl, ja! Antreffen! Der will gerade dort noch Wiedersehen mit dir +feiern! Er hat doch die Schatulle in den Fingern, worauf soll er jetzt +noch warten?“ + +„Beruhige dich, Stepan, beruhige dich nur,“ redete ihm mein Onkel gütig +zu. „Sie haben ja noch zu nichts Zeit gehabt – du wirst sehen, daß es so +ist.“ + +„Zu nichts Zeit gehabt!“ wiederholte Herr Bachtschejeff boshaft. „Zu was +hat diese nicht Zeit, wenn sie auch noch so bescheiden ist! ‚Ach ja, sie +ist so bescheiden, ein so bescheidenes Kind!‘“ flötete er plötzlich aus +der Fistel, als wolle er jemand nachäffen. „‚Sie hat so viel Unglück +erfahren!‘ – Jawohl, ja! Da hat sie uns jetzt ihre Absätze gezeigt, die +bescheidene Unglückliche! Da rast man ihr nun auf der großen Landstraße +nach, mit der Zunge aus dem Halse womöglich, und sucht sie von +Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang! Läßt einen nicht einmal an Gottes +heiligem Feiertage beten, wie es sich gehört! Pfui!“ + +„Aber sie ist doch mündig,“ bemerkte ich, „sie steht doch nicht unter +Vormundschaft. Wir können sie doch nicht zwingen, zurückzukehren, wenn +sie es nicht selbst will. Was werden wir dann tun?“ + +„Sie wird gewiß zurückkehren wollen, ich versichere dich,“ sagte mein +Onkel. „Das hat sie jetzt nur so ... Sobald sie uns nur erblickt, wird +sie zurück wollen – dafür garantiere ich. Und außerdem – es geht doch +nicht anders, Freund, man kann sie doch nicht so dem Zufall überlassen, +dem Schicksal als Opfer ... es ist doch gewissermaßen eine Pflicht ...“ + +„Steht nicht unter Vormundschaft!“ rief Herr Bachtschejeff aufgebracht +aus und sah mich mit bösen Augen an. „‚Ist mündig!‘ – Eine Gans ist sie, +mein Lieber, eine echte Gans! – _So_ muß man es nennen, aber nicht, daß +sie _mündig_ ist! Gestern wollte ich mit dir überhaupt nicht von ihr +sprechen; denn ein paar Stunden vorher hatte ich aus Versehen die Tür zu +ihrem Zimmer aufgemacht – und was sehe ich: sie ist allein im Zimmer vor +dem Spiegel, die Hände in die Seiten gestemmt und tanzt so was wie ’ne +Ecossaise! Und wie aufgeputzt! Ein Journal, sag ich, einfach ein +Modejournal! Ich spie nur aus und ging. Und damals schon sah ich voraus, +sah ich alles so kommen, wie es jetzt gekommen ist – buchstäblich, genau +so!“ + +„Wozu soll man sie so hart beurteilen,“ wagte ich etwas eingeschüchtert +einzuwenden, „wir wissen doch, daß Tatjana Iwanowna ... sich nicht ihrer +vollen Gesundheit erfreut ... oder richtiger, daß sie eine gewisse Manie +... Ich glaube, daß man nur Obnoskin beschuldigen darf und nicht sie.“ + +„Sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut! Da werde einer mit ihm +fertig!“ griff der Dicke wieder meinen Ausdruck auf, das Gesicht rot vor +Zorn. „Er hat sich ja wahrhaftig geschworen, einen aus der Haut zu +bringen! Schon gestern hat er den Schwur abgelegt! _Eine Gans ist sie_, +hörst du mich, Väterchen, ich sage es dir nochmals: eine _kapitale_ +Gans! _So_ heißt’s, nicht aber, daß sie sich ‚nicht ihrer vollen +Gesundheit erfreut‘! Sie ist von Kindesbeinen ^in puncto^ Liebe +übergeschnappt, das laß dir gesagt sein! Und jetzt hat der Kupido sie +glücklich bis zum Letzten gebracht! Von jenem aber mit dem Spitzbart – +von dem lohnt es sich gar nicht zu reden! Der wird jetzt für dreie +leben, da sei du unbesorgt, und das Geld springen lassen und sich ins +Fäustchen lachen.“ + +„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie verlassen wird?“ + +„Was denn sonst? Soll er denn einen solchen Schatz noch mit sich +herumschleppen? Was soll er mit ihr anfangen? Er wird ihr das Geld +abrupfen und sie dann an der Landstraße unter einen Busch setzen – und +Lebewohl sagen –, sie aber kann dann dort unterm Busch sitzen und +Blümchen riechen, wenn sie will.“ + +„Nein, Stepan, da hast du dich denn doch etwas fortreißen lassen, so +wird es nicht sein!“ sagte mein Onkel. „Und weshalb ärgerst du dich so? +Wirklich, ich wundere mich über dich, Stepan! Was hast du davon?“ + +„Soo? Bin ich denn kein Mensch? Da kann man doch auch wütend werden! +Ganz unwillkürlich! Und vielleicht rede ich nur aus mitleidigem Herzen +... Ach, mag die ganze Welt versauern! Sagt mir doch, wozu bin ich +eigentlich hergefahren? Weshalb bin ich nicht ruhig weitergefahren? Was +geht denn das mich an? Was schert das mich, Schockschwerenot!“ + +So haderte Herr Bachtschejeff mit dem Schicksal, doch ich hörte ihm +nicht lange zu und beschäftigte mich in Gedanken mit derjenigen, der wir +nachfuhren – mit Tatjana Iwanowna. Ihre Lebensgeschichte, über die ich +mich in der Folge habe unterrichten lassen, und die als Erklärung ihres +Abenteuers interessieren dürfte, ist kurz folgende: + +Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Hause +aufgewachsen war, dann als armes, junges Mädchen und mit der Zeit als +armes, altes Mädchen hatte Tatjana Iwanowna in ihrem ganzen kärglichen +Leben alles Leid, das Verwaistheit, Erniedrigung, Vorwürfe und ungern +gegebenes Gnadenbrot verursachen, zur Genüge ausgekostet. Von Natur mit +einem heiteren, sehr empfänglichen und wohl auch leichtsinnigen +Charakter begabt, hatte sie ihr bitteres Los anfangs noch leicht +genommen und mitunter sogar fröhlich und sorglos wie ein Kind lachen +können. Mit den Jahren tat aber die Zeit das Ihre: Tatjana Iwanowna +wurde gelb und mager, wurde reizbar, krankhaft empfänglich und +überschwenglich und träumte immer phantastischer von allem Schönen der +Erde, träumte einen Traum, der nur von hysterischen Tränen oder +plötzlichem, krampfartigem Schluchzen unterbrochen wurde. Je weniger +irdische Güter die Wirklichkeit ihr verlieh, um so mehr tröstete sie +sich mit ihrer Phantasie: je unwiederbringlicher und unaufhaltsamer ihre +letzten Berechtigungen zu irgendwelchen Hoffnungen dahinschwanden, um so +berauschender wurden ihre Illusionen, die sich doch niemals +verwirklichen konnten. Unermeßliche Reichtümer, unverwelkbare Schönheit, +elegante, reiche, vornehme Kavaliere, wenn nicht gar Großfürsten, die +ihr den Hof machten, die für sie allein ihr Herz in jungfräulicher +Reinheit erhalten hatten, und zu ihren Füßen vor lauter Liebe starben, +und schließlich _er_ – _er_, das Schönheitsideal, ein Mann, der alle +Vollkommenheiten in sich vereinigte, sie leidenschaftlich liebte, dazu +Künstler, Dichter, General war – alles zusammen oder abwechselnd – alles +das sah und erlebte sie bald nicht nur in ihrer Phantasie, sondern fast +wie in Wirklichkeit. Ihre Vernunft widerstand nicht lange dem Gift +dieser heimlichen, ununterbrochenen Träume ... Und nun plötzlich – griff +das Schicksal in ihr Leben ein und hatte sie zum besten. In der letzten +Erniedrigung, inmitten der traurigsten, das Herz bedrückenden +Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, launischen +Dame – die sie beständig beschuldigte, die ihr wegen jedes Brotstücks +und jedes Kleides Vorwürfe machte –, fast als Dienstmagd, die ein jeder +kränken durfte, und die von niemand beschützt wurde, die durch ihr +armseliges Leben um ihre Vernunft gebracht war und im geheimen nur im +Zauber der sinnlosesten und glühendsten Phantasiegebilde lebte – erhielt +sie eines Tages die Nachricht vom Tode eines ihrer entfernten +Verwandten, dessen Angehörige alle vor ihm gestorben waren, wovon sie in +ihrem Leichtsinn keine Ahnung gehabt hatte. Dieser entfernte Verwandte +war ein Sonderling gewesen, hatte wie ein Einsiedler gelebt, irgendwo +weit in einem Provinznest, mürrisch, einsam und mit der Welt zerfallen, +sich nur mit Kraniologie beschäftigt und sein Geld auf Wucherzinsen +geliehen. Und so war denn plötzlich wie durch ein Wunder dieser Tatjana +Iwanowna ein ganzes großes Vermögen in den Schoß gefallen: sie war die +einzige noch lebende Verwandte und folglich die einzige gesetzmäßige +Erbin des Alten. Hunderttausend Rubel erhielt sie sofort blank und bar +ausgezahlt. Dieser Hohn des Lebens aber brachte sie alsbald um den Rest +ihres Verstandes. Wie sollte nun ihre ohnehin schon geschwächte Vernunft +nicht an die Erfüllung aller ihrer Träume glauben, wenn solche Wunder +geschehen konnten? Und so kam es, daß sie, fast betäubt vom Glück, +unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und +verführerischer Illusionen versank. Verschwunden waren alle Zweifel, +alle Grenzen der Wirklichkeit und deren Gesetze. Fünfunddreißig Jahre +und blendende Schönheit, traurig stimmende Herbstkälte und die ganze +Wonne unendlicher Liebesseligkeit lebten in ihrem Wesen nebeneinander, +ohne miteinander auch nur einmal in Konflikt zu geraten. War doch _ein_ +Traum Wirklichkeit geworden – weshalb sollten es nicht auch die anderen +werden? Weshalb sollte nicht auch _er_ erscheinen? Tatjana Iwanowna +dachte nicht – sie glaubte. Und während sie _ihn_ noch erwartete, das +Ideal – sah sie jetzt Tag und Nacht nur noch Werbende vor sich, +Offiziere und Zivilpersonen, Infanteristen und Gardekavalleristen, +Millionäre und Dichter, die in Paris gewesen waren, und auch solche, die +nur Moskau gesehen hatten, solche mit spanischen Spitzbärten und solche +ohne Spitzbärte, Spanier und Nichtspanier (größtenteils aber doch +Spanier) – jedenfalls sah sie dieselben in erschreckend großer Anzahl, +so daß sie in ihrer Umgebung ernstliche Befürchtungen erregte. Es fehlte +nicht viel, und man hätte sie in eine Irrenanstalt schaffen müssen. Alle +ihre schönen Illusionen umgaben sie wie eine glänzende Kette, und im +wirklichen Leben sah sie alles im selben phantastischen Licht: wen sie +nur sah, der schien ihr in sie verliebt zu sein; wer nur an ihr +vorüberging, der war in ihren Augen ein Spanier, wer starb – der starb +unfehlbar aus Liebe zu ihr. Und in diesen Einbildungen wurde sie noch +dadurch bestärkt, daß ihr jetzt tatsächlich viele Herren, wie zum +Beispiel ein Obnoskin, mit demselben Ziel, das auch Misintschikoff +verfolgte, den Hof machten. Plötzlich wurde sie von allen umschmeichelt, +verwöhnt und „geliebt“. Die Arme konnte und wollte nicht einmal +argwöhnen, daß es nur um ihres Geldes willen geschah. Sie war vollkommen +überzeugt, daß alle Menschen, von denen sie früher so schlecht behandelt +worden war, sich plötzlich wie auf irgend jemandes Befehl gebessert +hatten, heiter, lieb, freundlich und gut geworden seien. _Er_ erschien +zwar vorläufig noch nicht, und wenn es auch nicht dem geringsten Zweifel +unterlag, daß _er_ einmal kommen werde, so war doch das Leben auch so +nicht schlecht, es war sogar sehr angenehm, so voll Zerstreuungen und +netter Erlebnisse, daß man sehr gut noch warten konnte! Tatjana Iwanowna +naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. +Diese Romane regten ihre Phantasie noch mehr an; doch las sie keinen +einzigen zu Ende, sondern legte das Buch gewöhnlich schon nach den +ersten Seiten aus der Hand. Sie hielt die Lektüre nicht länger aus, da +schon die gleichgültigste Andeutung einer Liebe oder auch nur die +Beschreibung des Ortes, eines Zimmers etwa, ihre Gedanken gänzlich +gefangen nahm. Fortwährend wurden ihr neue Kleider, Spitzen, Hüte, +Bänder, Musterbogen und Schnittmuster, Stickereien, Konfekt, Blumen und +Schoßhündchen zugesandt. In der Mädchenstube waren drei Mädchen ganze +Tage lang nur mit dem Nähen ihrer Kleider beschäftigt, sie aber drehte +sich fast vom Morgen bis zum Abend und sogar in der Nacht vor dem +Spiegel und hatte eine Anprobe nach der anderen. Sie schien dabei nach +der Erbschaft jünger und hübscher geworden zu sein. Ich habe bis jetzt +leider noch nicht in Erfahrung bringen können, wie sie mit dem +verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Im Grunde war ich von +Anfang an überzeugt, daß diese ganze Verwandtschaft nur eine Erfindung +der Generalin sein konnte, die sich Tatjana Iwanownas bemächtigen +wollte, um sie dann, was es auch koste, mit meinem Onkel zu verheiraten. +Herr Bachtschejeff hatte recht, wenn er sagte, Kupido hätte sie um die +letzte Vernunft gebracht. Andererseits war der Entschluß meines Onkels, +als er von ihrer Flucht mit Obnoskin erfahren hatte, ihr sogleich +nachzufahren und sie zurückzubringen, das Vernünftigste, was er tun +konnte. Die Arme war gar nicht fähig, ohne Bevormundung zu leben, und +sie würde unfehlbar ihrem Verderben entgegengegangen sein, wenn sie +unter schlechte Menschen geraten wäre. + +Es war über neun, als wir in Mischino anlangten. Das Gut lag drei Werst +abseits von der großen Landstraße. Es war dort nur ein kleines Gutshaus +mit ein paar ärmlichen Nebengebäuden, die alle gleichsam in einer Grube +lagen. Sechs oder sieben Bauernhütten, die schief und verräuchert, nur +spärlich mit schwarz gewordenem Stroh bedeckt am Wege standen, machten +einen traurigen Eindruck auf den Vorüberfahrenden. Kein Garten, kein +Strauch war rings im Umkreise von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein +alter Weidenbaum stand einsam an einem grünen Tümpel, der „Teich“ +genannt wurde. Ein solcher Ort konnte auf Tatjana Iwanowna unmöglich +einen freundlichen Eindruck machen. Das Wohngebäude des Besitzers war +ein langgestreckter, schmaler Neubau mit sechs Fenstern in einer Reihe +und einem vorderhand nur mit Stroh gedeckten Dach. Der Besitzer – ein +ehemaliger Beamter – hatte das Gut erst kürzlich übernommen. Selbst der +Hof war noch nicht einmal mit einem Zaun umgeben: nur an einer Seite war +ein Stück von einem neuen Flechtzaun zu sehen, von dem die trockenen +Nußbaumblätter noch nicht abgefallen waren. Dort am Zaun stand auch +Obnoskins offener Wagen. Aus einem geöffneten Fenster hörten wir +Geschrei und Weinen. + +Im Flur trafen wir nur einen barfüßigen Knaben an, der Hals über Kopf +davonlief. Im ersten Zimmer, das wir betraten, saß auf einem langen, +kattunüberzogenen „türkischen“ Diwan ohne Lehne – Tatjana Iwanowna, die +ganz verweint war. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das +Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin – mitleiderregend +verwirrt und erschrocken. Er verlor dermaßen den Kopf, daß er uns +entgegenstürzte, um uns die Hände zu drücken, ganz als hätte ihn unsere +Ankunft unsäglich gefreut. Durch die halboffene Tür sah man den Zipfel +eines Frauenkleides: jemand schien dort durch einen Spalt zu lauern und +zu lauschen. Weder war der Hausherr noch war die Hausfrau zu sehen: sie +schienen überhaupt nicht im Hause zu sein – oder sie hatten sich +irgendwo versteckt. + +„Da ist sie ja, unsere Ausflüglerin! Will sich jetzt noch hinter den +Händen verstecken!“ rief Herr Bachtschejeff aus, der hinter uns als +letzter in das Zimmer gerollt kam. + +„Mäßigen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das ist hier durchaus +nicht angebracht. Das Recht zu sprechen hat jetzt nur Jegor Iljitsch, +wir aber sind hier vollkommen Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikoff +scharf. + +Mein Onkel, der dem Dicken nur einen strengen Blick zugeworfen hatte, +ging, ohne Obnoskin und seine ausgestreckten Hände auch nur zu beachten, +auf Tatjana Iwanowna zu, die ihr Gesicht immer noch verbarg, und sagte +mit ungeheuchelter Teilnahme in seiner sympathischen Stimme: + +„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so, daß wir selbst +hergekommen sind, um Ihre Absichten zu erfahren. Wollen Sie nicht mit +uns nach Stepantschikowo zurückkehren? Heute ist doch Iljuschas +Namenstag. Meine Mutter erwartet Sie ungeduldig, und Ssaschenjka und +Nastenjka werden sicherlich den ganzen Morgen vor Sehnsucht nach Ihnen +geweint haben ...“ + +Tatjana Iwanowna erhob schüchtern den Kopf, sah, ohne die Hände vom +Gesicht zu nehmen, vorsichtig durch die Finger zu ihm auf, und plötzlich +warf sie sich aufschluchzend an seinen Hals. + +„Ach, bringen Sie mich, bringen Sie mich schnell von hier fort!“ flehte +sie unter Tränen, „schnell, schnell, so schnell wie möglich!“ + +„Hat das Durchbrennen schon satt!“ tuschelte mir Bachtschejeff mit einem +gleichzeitigen Rippenstoß zu. + +„Dann wäre also die Angelegenheit erledigt,“ sagte mein Onkel trocken, +sich an Obnoskin wendend; doch vermied er es, ihn anzusehen. „Tatjana +Iwanowna, Ihren Arm, wenn ich bitten darf. Fahren wir!“ + +Im Nebenzimmer hinter der Tür hörte man Kleiderrascheln. Die Tür +kreischte ein wenig und der Spalt wurde größer. + +„Einstweilen aber ... wenn man von einem anderen Standpunkt aus urteilt +...“ bemerkte Obnoskin mit unruhigem Blick nach der offenen Tür, „so +müßten Sie sich doch selbst sagen, Jegor Iljitsch ... Ihre +Handlungsweise in meinem Hause ... und schließlich – ich begrüße Sie, +und Sie erwidern nicht einmal meinen Gruß, Jegor Iljitsch ...“ + +„Ihre Handlungsweise in _meinem_ Hause, mein Herr, war ehrlos,“ sagte +mein Onkel und sah Obnoskin mit strengem Blick offen an, „– und das hier +ist nicht Ihr Haus. Sie haben es soeben selbst gehört: Tatjana Iwanowna +will keinen Augenblick mehr hier verweilen. Was wollen Sie denn noch? +Kein Wort – hören Sie, kein Wort mehr, ich bitte Sie darum! Ich würde +gern weitere Erklärungen vermeiden, und das – wäre wohl auch +vorteilhafter für Sie.“ + +Obnoskin verlor so sehr den Kopf, daß er den größten Unsinn +zusammenschwatzte. + +„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch,“ begann er halblaut, vor +Beschämung, wie es schien, den Tränen nahe, wobei er sich fortwährend +nach der Tür umsah – wahrscheinlich in der Furcht, daß man ihn dort +hören könnte. „Ich habe ja eigentlich nichts getan, das war doch nur +Mama ... Ich habe es nicht in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... +ich habe es nur so getan ... natürlich habe ich es zum Teil auch in +meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe es mit einem +edlen Ziel vor Augen getan, Jegor Iljitsch ... Ich hätte das Kapital +nutzbringend angewandt ... ich hätte den Armen geholfen. Ich wollte +ferner zum Fortschritt der gegenwärtigen Aufklärung etwas beitragen ... +ich beabsichtigte sogar, ein Stipendium an der Universität zu stiften +... Sehen Sie, in welcher Weise und zu welchen Zwecken ich meinen +Reichtum angewandt hätte, Jegor Iljitsch ... und nicht, daß ich sonst +etwas, Jegor Iljitsch ...“ + +Wir alle schämten uns mit einem Male ganz entsetzlich. Misintschikoff +wurde rot und wandte sich ab, mein Onkel aber wurde so verlegen, daß er +nicht wußte, was er sagen sollte. + +„Schon gut, schon gut!“ sagte er endlich. „Beruhigen Sie sich nur, Pawel +Ssemjonytsch. Was soll man hier viel sagen ... Es kann jedem passieren +... Wenn Sie wollen, besuchen Sie uns ... ich aber freue mich ... es +freut mich, daß ...“ + +Doch nicht ganz so zartfühlend verfuhr Herr Bachtschejeff. + +„Stipendium stiften!“ schrie er plötzlich jähzornig. „Der ist mir der +Rechte zum Stiften! Du würdest gern selbst einem jeden das Letzte +abrupfen! ... Hat sich im Leben noch kein Paar Hosen verdient, kräht +aber schon wie die anderen von Stipendienstiften! So ein Lumpenkerl! Und +hat jetzt noch ein zärtliches Herz besiegt! Aber wo ist denn die +Hauptperson, die verehrte Frau Mutter? Oder hat sie sich versteckt? Ich +will nicht Bachtschejeff heißen, wenn sie nicht dort irgendwo sitzt, +sich hinter einem Bettschirm verborgen hält oder vor Schreck sich unters +Bett verkrochen hat ...“ + +„Stepan, Stepan!“ unterbrach ihn mein Onkel geärgert. + +Obnoskin wurde feuerrot und schien protestieren zu wollen. Doch noch +bevor er den Mund aufmachen konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und +Anfissa Petrowna Obnoskina stürzte mit blitzenden Augen empört und +zornbebend ins Zimmer. + +„Was soll das bedeuten?“ kreischte sie laut. „Was geht hier vor? Sie, +Jegor Iljitsch, dringen mit einer ganzen Kohorte in ein ehrenwertes +Haus, erschrecken Damen, treffen eigenmächtig Anordnungen! ... Das ist +doch unerhört! Ich bin zum Glück noch meiner Sinne mächtig, Jegor +Iljitsch! ... Du Tölpel!“ fuhr sie in ihrem Redeschwall fort, sich auf +ihren Sohn stürzend, „du scheinst ja hier vor ihnen noch weinen zu +wollen! Deiner Mutter wird in ihrem Hause eine Beleidigung zugefügt, und +du stehst da und schweigst! Was bist du? ein ehrenwerter junger Mann und +Sohn? Ein Lappen bist du, aber kein Mann!“ + +Vergessen waren alle Ziererei und die ganze lächerliche Koketterie, die +mir am Tage zuvor an ihr aufgefallen waren – auch keine Spur war mehr +davon sichtbar: man sah nur noch eine Furie vor sich, eine Furie, der +man die Maske vom Gesicht gerissen hatte. + +Kaum hatte sie ihren ersten Redeschwall beendet, als mein Onkel auch +schon Tatjana Iwanowna seinen Arm bot und sie zur Tür hinausgeleiten +wollte. Anfissa Petrowna jedoch versperrte ihm sogleich den Weg. + +„Sie werden so nicht fortgehen, Jegor Iljitsch!“ begann sie von neuem +ihr Geschrei. „Mit welchem Recht wollen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam +entführen? Es macht Ihnen einen Strich durch die Rechnung, daß der +Goldfisch den erbärmlichen Netzen entschlüpft ist, mit denen Sie sie in +Gemeinschaft mit Ihrer Mutter und dem Esel Foma Fomitsch einzufangen +gedachten! Sie würden sie gern selbst aus niedriger Geldgier heiraten. +Verzeihen Sie, aber hier ist man edler gesinnt! Da Tatjana Iwanowna sah, +was man dort gegen sie plante, vertraute sie sich meinem Sohn Pawluscha +an. Sie hat ihn selbst gebeten, sie vor Ihnen zu retten und sie zu +beschützen: Sie war gezwungen, in der Nacht aus Stepantschikowo zu +fliehen – sehen Sie, so verhält sich die Sache! So weit haben Sie sie +gebracht! Nicht wahr, so ist es doch, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich +aber so verhält, wie können Sie es dann wagen, mit einer solchen Bande, +wie dieser, in ein angesehenes Haus einzudringen und mit Gewalt ein +ehrenwertes Mädchen zu entführen, trotz der Tränen desselben? Das +erlaube ich nicht! Das erlaube ich nicht! Ich bin ein vernünftiger +Mensch, kein verrückter! ... Tatjana Iwanowna wird hierbleiben; denn das +ist ihr Wunsch und ihr Wille! Gehen wir, Tatjana Iwanowna, es lohnt sich +nicht, diese Menschen anzuhören: das sind unsere Feinde und nicht unsere +Freunde! Ich werde sie schon hinausbringen, die – ...“ + +„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken aus, „ich will nicht, +ich will nicht! Was ist er für ein Mann? Ich will Ihren Sohn nicht +heiraten! Was ist er denn für ein Mann?“ + +„Sie wollen nicht!“ schrie Anfissa Petrowna wutschnaubend, „Sie wollen +nicht? Erst sind Sie hergekommen und jetzt wollen Sie nicht? Wie haben +Sie uns denn so betrügen können? Wie haben Sie ihm dann Ihre Zusage +geben können? Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen, haben sich ihm +selbst an den Hals geworfen, haben uns in Ausgaben gestürzt! Mein Sohn +hat Ihretwegen vielleicht eine gute Partie verloren, die er hätte machen +können ... Er hat vielleicht zehntausend Rubel Mitgift verloren durch +Sie! ... Nein! Sie werden es bezahlen, Sie müssen es bezahlen! Wir haben +Beweise in der Hand ... Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen ...“ + +Doch wir hatten genug von ihrem Geschrei: wie auf Kommando scharten wir +uns alle dicht um meinen Onkel und drängten zur Tür hinaus, +rücksichtslos auf Anfissa Petrowna zu, die uns den Weg versperren +wollte, und gelangten auch glücklich ins Freie. Unser Wagen fuhr vor. + +„So etwas tun nur Schufte, nur Schurken!“ schrie uns in rasender Wut +Anfissa Petrowna von der Treppe noch nach. + +„Ich werde die Rechnung schicken! Sie werden sie bezahlen! Sie fahren in +ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht +heiraten, er hält sich ja vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse +im Hause! ...“ + +Mein Onkel fuhr zusammen, erbebte, erbleichte, biß sich auf die Lippe +und half eifrig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging um den Wagen +herum und wartete, bis an mich die Reihe kam, einzusteigen, als +plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand erfaßte. + +„Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Sie um Ihre Freundschaft zu +bitten!“ flüsterte er mir mit einem ganz verzweifelten Ausdruck zu und +drückte krampfhaft meine Hand. + +„Wie das – Freundschaft?“ fragte ich verwundert und setzte schnell den +Fuß auf das Trittbrett. + +„Ja! Ich habe gestern in Ihnen einen überaus gebildeten Menschen +erkannt. Verurteilen Sie mich nicht ... Mich hat eigentlich nur meine +Mutter verleitet, ich aber bin in dieser Angelegenheit ganz ^à part^. +Ich neige mehr zur Literatur – versichere Sie! Dies hier aber hat alles +nur meine Mutter ...“ + +„Ich glaube es, glaube es,“ sagte ich, „leben Sie wohl!“ + +Wir setzten uns und fuhren fort. Das Geschrei und die Verwünschungen +Anfissa Petrownas schallten uns noch lange nach. Und nun tauchten auch +in allen Fenstern des Hauses unbekannte Gesichter auf, die uns mit +unbeschreiblicher Neugier nachstarrten. + +Wir saßen jetzt zu fünfen im Wagen. Misintschikoff hatte sich neben den +Kutscher gesetzt und seinen Platz auf dem Rücksitz Herrn Bachtschejeff +abgetreten, der nun Tatjana Iwanowna gegenübersaß. Tatjana Iwanowna war +sehr zufrieden damit, daß wir sie wieder zurückbrachten, weinte aber +immer noch. Mein Onkel tröstete sie, so gut er es konnte. Er selbst war +dabei niedergedrückt und nachdenklich: man sah es ihm an, daß die +schändlichen Worte über Nastenjka, die Anfissa Petrowna in ihrer Wut uns +nachgeschrien hatte, schmerzlich in seinem Herzen widerhallten. Übrigens +– unsere Rückfahrt wäre ohne jeden Zwischenfall sehr glücklich +verlaufen, wenn Herr Bachtschejeff nicht mit uns gewesen wäre. + +Kaum hatte er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen, als er +plötzlich ein ganz anderer wurde: er konnte nicht mehr gleichmütig +dreinblicken und noch weniger ruhig auf seinem Platz sitzen, er drehte +sich vielmehr hin und her, wurde rot wie ein gekochter Krebs und rollte +beängstigend die Augen. Namentlich als mein Onkel Tatjana Iwanowna zu +trösten suchte, schien der Dicke förmlich aus der Haut fahren zu wollen +und brummte und knurrte wie eine aufs äußerste gereizte Bulldogge, die +man zum Überfluß noch neckt. Mein Onkel blickte ihn mehrmals etwas +ängstlich an und schien einige Befürchtungen zu hegen. Schließlich fiel +auch Tatjana Iwanowna die eigentümliche Gemütsstimmung ihres Gegenübers +auf, und sie begann ihn aufmerksam zu betrachten. Dann blickte sie uns +an, lächelte, und plötzlich nahm sie ihren kleinen Sonnenschirm und +schlug mit einer graziösen Bewegung Herrn Bachtschejeff leicht auf die +Schulter. + +„Sie Tor!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und verbarg ihr +Gesicht hinter ihrem Fächer. + +Das war der Tropfen, der den Becher überlaufen machte. + +„Wa–a–as!“ brüllte der Dicke, „wa–as sagten Sie, Madame? Also jetzt hast +du’s schon auf mich abgesehen!“ + +„Sie Tor! Sie Tor!“ rief Tatjana Iwanowna und brach in heiteres Lachen +aus, wozu sie in die Hände klatschte. + +„Halt an!“ schrie Bachtschejeff dem Kutscher zu, „halt an!“ + +Die Pferde blieben stehen. Bachtschejeff öffnete den Wagenschlag und +machte sich eilig daran, auszusteigen. + +„Was fällt dir ein, Stepan? Wohin willst du?“ fragte mein Onkel +verwundert und erschrocken. + +„Nein, das ist mir zu stark!“ antwortete der Dicke zitternd vor +Unwillen, „mag die ganze Welt verderben! Ich bin zu alt, Madame, um mich +noch auf Amouren einlassen zu können. Ich, meine Beste, ich sterbe +lieber allein! Adieu, Madame, kommang wu porteh-wu!“ + +Und er begann in der Tat zu Fuß zu marschieren. Der Wagen fuhr im +Schritt hinter ihm her. + +„Stepan!“ rief ihm mein Onkel ärgerlich zu, da er endlich die Geduld +verlor. „Mach doch keine Dummheiten, steig ein! Es ist doch die höchste +Zeit, nach Haus zu kommen!“ + +„Fällt mir ein!“ rief Herr Bachtschejeff zwar empört, aber es klang doch +schon etwas atemlos vom Gehen; denn infolge seiner Dicke hatte er das +Gehen fast ganz verlernt. + +„Fahr zu, so schnell die Pferde können!“ befahl plötzlich Misintschikoff +ganz unerwartet dem Kutscher. + +„Was tust du, was tust du?“ rief zwar mein Onkel gerade noch erschrocken +aus, aber der Wagen flog schon dahin. Misintschikoff hatte sich nicht +getäuscht: die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten. + +„Halt an! Halt an!“ ertönte alsbald hinter uns ein verzweifeltes Gegröl, +„halt an, du Räuber! Halt an, du Seelenverführer, der du bist! ...“ + +Der Dicke kam schließlich müde und halberstickt, mit Schweißtropfen auf +der Stirn, mit aufgebundener Krawatte und in Hemdsärmeln wieder bei uns +an. Stumm und finster kletterte er mühsam in den Wagen, doch diesmal +mußte ich ihm meinen Platz abtreten. So brauchte er wenigstens nicht +Tatjana Iwanowna gegenüberzusitzen, die unaufhörlich lachte, vor +Vergnügen in die Hände schlug und während der ganzen Fahrt nicht mehr +gleichmütig den Dicken ansehen konnte. Er aber sprach bis zur Ankunft +kein einziges Wort und schien sich die ganze Zeit grundsätzlich nur noch +dafür zu interessieren, wie sich das eine Hinterrad das Wagens drehte. + +Die Sonne stand im Zenith, als wir in Stepantschikowo ankamen. Ich begab +mich sogleich in das Sommerhaus, wohin mir der alte Gawrila mit dem Tee +folgte. Als ich mich, kaum dort angelangt, zu ihm wandte, um ihn einiges +zu fragen, trat mein Onkel ein und schickte ihn fort. + + + + + XIV. + + Neuigkeiten. + + +„Mein Freund, ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen,“ sagte +er eilig. „Ich wollte dir nur mitteilen ... Ich habe mich nach allem +erkundigt. Es ist niemand von ihnen zum Gottesdienst gefahren, außer +Iljuschka, Ssaschenjka und Nastenjka. Meine Mutter soll in Krämpfen +gelegen haben. Man hat sie nur mit Mühe wieder zu sich gebracht. Jetzt +hat man beschlossen, daß alle sich bei Foma versammeln sollen, und auch +mich hat man hingebeten. Nur weiß ich nicht, ob ich Foma zum Geburtstag +gratulieren soll oder nicht – das ist die Frage! Und dann – wie werden +sie überhaupt diesen ganzen Zwischenfall auffassen? Entsetzlich, +Ssergei, wenn ich daran denke, was ich jetzt alles kommen sehe ...“ + +„Im Gegenteil, Onkel,“ beeilte ich mich, ihn zu beruhigen, „es wird +jetzt alles vorzüglich werden. Jetzt können Sie doch unmöglich Tatjana +Iwanowna heiraten – bedenken Sie doch nur, was das allein wert ist! Ich +wollte Ihnen das schon unterwegs sagen ...“ + +„Ich weiß, ich weiß, Freund. Aber das ist es ja nicht! Das ist natürlich +ein Fingerzeig Gottes, wie du sagst, aber nicht davon wollte ich +sprechen ... Die arme Tatjana Iwanowna! Was sie für Anfälle hat! ... Ein +Schuft, ein Schuft ist dieser Obnoskin! Doch – was sage ich ‚Schuft‘! +Hätte ich nicht dasselbe getan, wenn ich sie geheiratet hätte? ... Aber +ich wollte doch nicht davon reden ... Hast du gehört, was vorhin diese +schändliche Anfissa von Nastjä uns nachrief?“ fragte er leise. + +„Ich habe es gehört, Onkel. Sehen Sie jetzt ein, daß Sie sich beeilen +müssen?“ + +„Unbedingt! Und was es auch koste, um jeden Preis!“ antwortete mein +Onkel. „Der Augenblick ist gekommen. Nur haben wir beide, Freund, +gestern an eines nicht gedacht; später aber habe ich mir die ganze Nacht +den Kopf darüber zerbrochen: wird sie mich denn auch nehmen – sieh, das +ist die Frage!“ + +„Aber hören Sie ...! Wenn sie Ihnen doch selbst gesagt hat, daß sie Sie +liebt ...“ + +„Aber, mein Freund, sie hat doch gleich darauf hinzugefügt, daß sie mich +niemals heiraten werde!“ + +„Ach, Onkel! Das wird doch nur so gesagt worden sein, und zudem liegen +ja auch die Verhältnisse heute ganz anders.“ + +„Glaubst du? Nein, Freund Ssergei, das ist eine delikate Sache, hier muß +man unendlich zartfühlend sein! Hm! ... Aber weißt du, ich war ja wohl +traurig darüber, aber im Herzen verspürte ich doch die ganze Nacht so +etwas wie – ein großes Glück ... Nun, leb wohl, ich eile. Sie erwarten +mich, ich komme sowieso zu spät. Ich wollte überhaupt nur einen +Augenblick bei dir vorsprechen, bloß um zwei Worte mit dir zu wechseln. +Ach, mein Gott!“ rief er plötzlich aus und kehrte von der Tür zurück, +„und die Hauptsache habe ich doch noch vergessen! Weißt du: ich habe ihm +ja doch geschrieben, dem Foma!“ + +„Wann?“ + +„In der Nacht. Am Morgen aber, als es kaum dämmerte, schickte ich ihm +den Brief durch Widopljässoff zu. Ich habe, weißt du, ihm alles +klargelegt, zwei ganze Briefbogen lang, habe ihm alles wahrheitsgetreu +und aufrichtig geschrieben – kurz, daß es, wie gesagt, meine Pflicht +ist, das heißt, unbedingt meine Pflicht – du verstehst doch? – um +Nastenjkas Hand in aller Form anzuhalten. Ich habe ihn gebeten, von +unserer Begegnung im Garten nichts verlauten zu lassen, und ich habe +mich an den ganzen Edelmut seiner Seele gewandt, mit der Bitte, mir bei +meiner Mutter zu helfen. Ich habe mich natürlich – ich weiß es, mein +Freund – schlecht ausgedrückt, aber ich habe jedes Wort von ganzem +Herzen geschrieben, mit Tränen geschrieben, kann ich wohl sagen ...“ + +„Und? Er hat nichts geantwortet?“ + +„Vorläufig noch nicht. Nur am Morgen, als wir zur Fahrt aufbrachen, +begegnete ich ihm im Flur – er war noch im Nachtkostüm, in Pantoffeln +und Zipfelmütze – er schläft immer mit einer Zipfelmütze – er ging +gerade irgendwohin. Er sagte kein Wort, sah mich nicht einmal an. Ich +sah ihm, weißt du, ins Gesicht, aber das verriet nichts!“ + +„Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn: er wird Ihnen noch was Schönes +einbrocken!“ + +„Nein, nein, Freund, sprich nicht so!“ unterbrach mich mein Onkel eilig, +„ich bin überzeugt! Und dann – es ist dies ja auch meine letzte +Hoffnung. Er wird einsehen, er wird es verstehen ... Er ist launisch, +eigensinnig – ich gebe es zu. Wenn es sich aber um etwas Großes handelt, +um, sozusagen, um höheren Edelmut, dann steht Foma in seinem vollen +Glanze da – ja, in seinem vollen Glanze ... Das sagst du nur deshalb, +Ssergei, weil du ihn noch nicht in einem solchen Augenblick gesehen hast +... Aber, Herrgott! Wenn er ... wenn er wirklich das Geheimnis nicht als +solches wahrt, so ... ich weiß nicht, Ssergei, was dann geschehen wird! +An was in der Welt kann man dann noch glauben? Doch nein, er kann nicht +so schlecht sein. Ich bin ja nicht einmal seinen kleinen Finger wert! Du +brauchst nicht den Kopf zu schütteln, Freund: es ist wahr – ich bin ihn +nicht wert.“ + +„Jegor Iljitsch! Ihre Exzellenz beunruhigen sich um Sie!“ ertönte da +plötzlich die Stimme der Perepelizyna unter dem offenen Fenster. +Wahrscheinlich hatte die alte Jungfer unser ganzes Gespräch belauscht. +„Sie werden im ganzen Hause gesucht, und niemand kann Sie finden.“ + +„Herrgott, ich habe mich verspätet!“ rief mein Onkel entsetzt aus. +„Freund, um Christi willen, zieh dich schnell an und komm hin! Ich bin +ja eigentlich auch nur deshalb hergekommen, um dich abzuholen ... Ich +komme, Anna Nilowna, ich komme ...“ + +Ich blieb allein zurück. Ich dachte an meine Begegnung mit Nastenjka und +war froh darüber, daß ich meinem Onkel nichts davon gesagt hatte: ich +hätte ihn nur noch unentschlossener gemacht. Ich sah voraus, daß ein +großer Sturm bevorstand, und konnte eigentlich nicht begreifen, wie mein +Onkel die Sache zu Ende bringen und um Nastenjkas Hand anhalten würde. +Ich wiederhole und gestehe es: trotz meines ganzen Glaubens an seine +Ritterlichkeit, zweifelte ich doch unwillkürlich am Erfolge. + +Einstweilen hieß es jedoch: sich schnellstens ankleiden! Ich hielt es +für meine Pflicht, ihm zu helfen, und beeilte mich mit dem Umziehen. +Aber wie sehr ich mich auch beeilte, es dauerte doch länger – wie es +gewöhnlich geschieht, wenn man sich etwas sorgfältiger ankleiden und +dabei beeilen will. Und während ich mich noch ankleidete, trat +Misintschikoff ein. + +„Ich bin gekommen, um Sie abzuholen,“ sagte er. „Jegor Iljitsch läßt Sie +bitten, schnell zu kommen.“ + +„Gehen wir!“ + +Ich war jetzt fertig. Wir gingen. + +„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn unterwegs. + +„Alle sind bei Foma versammelt,“ antwortete Misintschikoff, „Foma ist +diesmal nicht launenhaft, scheint nachdenklich zu sein und spricht +wenig, knurrt nur durch die Zähne. Er hat sogar Iljuscha geküßt, was +Jegor Iljitsch selbstredend in wahre Begeisterung versetzte. Er hat kurz +vorher durch die Perepelizyna der Generalin sagen lassen, daß man ihn +nicht zum Namensfest beglückwünschen solle, er habe ‚nur prüfen wollen‘ +... Die Alte riecht zwar den Braten, hat sich aber beruhigt; denn auch +Foma ist ruhig. Von der Flucht wird mit keiner Silbe gesprochen – als +wäre überhaupt nichts vorgefallen. Man schweigt; denn auch Foma geruht +zu schweigen. Er hat den ganzen Morgen keinen Menschen zu sich gelassen, +die Alte aber hat ihn bei allen Heiligen angefleht, zu einer Beratung zu +ihr zu kommen. Sie hat sogar selbst und eigenhändig an seiner Tür +gerüttelt. Er aber hatte sich eingeschlossen und soll gesagt haben, er +bete ‚für die Menschheit‘ – oder Ähnliches. Er scheint irgend etwas im +Schilde zu führen: das sieht man seinem Gesicht sofort an. Da aber Jegor +Iljitsch nicht fähig ist, aus einem Gesicht etwas zu erraten, so ist er +jetzt durch Fomas Frömmigkeit, wie gesagt, völlig bezaubert: ein +richtiges Kind! Iljuscha hat ein Gedicht gelernt, das er jetzt vortragen +soll. Deshalb hat man mich auch nach Ihnen geschickt.“ + +„Und Tatjana Iwanowna?“ + +„Was?“ + +„Wo ist sie? Dort bei den anderen?“ + +„Nein, sie ist in ihrem Zimmer,“ antwortete Misintschikoff trocken. „Sie +erholt sich und weint. Vielleicht schämt sie sich auch. Bei ihr befindet +sich, glaube ich, diese ... Erzieherin. Aber was ist denn das? Ein +Gewitter zieht auf, wie es scheint. Sehen Sie doch, dort – den Himmel!“ + +„Ja, wahrscheinlich ein Gewitter,“ sagte ich nach einem Blick auf die +dunklen Wolken am Horizont. + +In dem Augenblick stiegen wir zur Terrasse hinauf. + +„Doch – Obnoskin? – was sagen Sie zu dem?“ fragte ich, da ich es nicht +verbeißen konnte, Misintschikoff ein bißchen auf den Zahn zu fühlen. + +„Sprechen Sie nicht von ihm! Erinnern Sie mich überhaupt nicht an diesen +Schurken!“ rief er aus und blieb plötzlich stehen. Er wurde rot und +stampfte mit dem Fuß auf. „Dieser Esel! Dieser Esel! einen so sicheren +Plan, einen so glänzenden Gedanken zu verpfuschen! Hören Sie, ich bin +natürlich auch ein Esel, da ich seine Schliche nicht bemerkt und nicht +erraten habe – das gestehe ich vollkommen ehrlich und feierlich selbst +ein, und vielleicht wünschten Sie nur diese Selbstbeschuldigung zu +hören. Aber ich schwöre Ihnen: Hätte der Kerl die Sache nach allen +Regeln der Kunst durchgeführt, so würde ich ihm vielleicht noch +verzeihen. Der Esel, o, der Esel! Wie kann man nur solche Leute in der +Gesellschaft überhaupt dulden? Weshalb verschickt man sie nicht nach +Sibirien, in die Zwangsarbeit, als Kolonisten! Aber was da! Die sollen +mich nicht überlisten! Jetzt habe ich wenigstens Erfahrungen gesammelt, +ich habe ein Beispiel vor Augen – und wir werden uns noch einmal messen! +Ich überlege jetzt – einen neuen Plan ... Sie werden mir zugeben: soll +man denn die Früchte seiner Ideen wirklich nur deshalb verlieren, weil +irgendein Esel die Idee gestohlen, doch die Sache nicht richtig +auszuführen verstanden hat? Das wäre doch töricht! Und schließlich – +diese Tatjana muß unbedingt heiraten: das ist nun einmal ihre +Bestimmung. Und wenn bis jetzt noch niemand sie in eine Irrenanstalt +gesteckt hat, so ist das doch nur deshalb nicht geschehen, weil man sie +immer noch heiraten konnte. Ich werde Ihnen meinen neuen Plan +auseinandersetzen ...“ + +„Aber doch wohl später,“ unterbrach ich ihn, „denn jetzt sind wir ja +angelangt.“ + +„Gut, gut, später!“ sagte Misintschikoff – sein Mund verzog sich zu +einem kurzen Lächeln. „Jetzt aber ... Wohin gehen Sie denn? Ich sagte +Ihnen doch: direkt zu Foma Fomitsch! Folgen Sie mir. Sie sind noch nie +dort gewesen. Jetzt werden Sie eine neue Komödie erleben ... Da nun +einmal die Komödien hier Mode sind ...“ + + + + + XV. + + Iljuschas Namenstag. + + +Foma bewohnte zwei große, prachtvolle Räume: sie waren besser möbliert +als alle anderen in Stepantschikowo. Der größte Komfort umgab den großen +Mann. Neue, teure Tapeten an den Wänden, seidene, gemusterte Vorhänge an +den Fenstern, Teppiche, Trumeaus, ein Kamin und weiche, elegante +Polstersessel – alles sprach von der zarten, liebevollen Aufmerksamkeit +des gastfreundlichen Hausherrn, der es Foma Fomitsch nicht gut genug +machen konnte. Vor den Fenstern standen auf runden Marmortischen schöne +Blumen. Mitten im „Arbeitskabinett“ stand ein großer Tisch, der mit +einer schweren roten Tuchdecke bedeckt war, und auf dem viele Bücher und +Manuskriptbogen lagen; ferner stand auf ihm ein kostbares, in Bronze +gearbeitetes Tintenfaß – daneben ein ganzer Stoß von Gänsefedern, für +die Widopljässoff zu sorgen hatte. Alles das sollte ersichtlich von der +schweren geistigen Arbeit Foma Fomitschs zeugen. Nebenbei bemerkt: Foma, +der runde acht Jahre hier lebte, hat eigentlich überhaupt nichts +verfaßt. Späterhin, als er das Zeitliche gesegnet hatte, durchsuchten +wir seine hinterlassenen Manuskripte, die, wie es sich dann zeigte, in +nichts als bekritzeltem Papier bestanden. Das von ihm Geschriebne war +barer Unsinn, einfach Blödsinn. So fanden wir zum Beispiel den Anfang +eines historischen Romans, der in Nowgorod spielte, und zwar im +siebenten Jahrhundert! – als Nowgorod überhaupt noch nicht vorhanden +war. Dann noch ein ungeheuerliches Gedicht: „Anachoret auf dem +Friedhof“, das er in reimlosen Versen geschrieben hatte; ferner eine +sinnlose Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften des +russischen Bauern, sowie darüber, wie man mit ihm umgehen müsse; und +schließlich noch eine Novelle: „Gräfin Wlonskaja“, aus der eleganten +Welt, gleichfalls sinnlos und unbeendet. Das war alles, was wir fanden. +Indes hatte Foma Fomitsch meinen Onkel jährlich große Summen für Bücher +und Zeitschriften zahlen lassen. Die meisten von ihnen blieben jedoch +unaufgeschnitten liegen. Dagegen habe ich Foma später nicht selten bei +der Lektüre eines Romans von Paul de Kock überrascht, den er vor anderen +Sterblichen natürlich möglichst verbarg. + +An der einen Seite des Zimmers war eine Glastür, durch die man über ein +paar Stufen auf den Hof gelangte. + +Wir wurden erwartet. Foma Fomitsch saß in seinem Philosophenstuhl und +trug einen eigentümlich langen Rock, der fast bis zu den Fersen +herabreichte, doch hatte er sich keine Krawatte umgebunden. Er war +auffallend wortkarg und nachdenklich. Als wir eintraten, hob er nur ein +wenig die Brauen in die Höhe und richtete einen prüfenden Blick auf +mich. Ich machte ihm meine Verbeugung, und er dankte mir mit einem nur +leichten Kopfnicken, das aber doch ziemlich höflich ausfiel. Als die +Generalin sah, daß Foma Fomitsch mir gnädig gesinnt war, nickte auch sie +mir lächelnd zu. Die Arme! – sie hatte am Morgen alles eher erwartet, +als daß ihr Liebling die Nachricht von dem „Zwischenfall“ ruhig +aufnehmen werde! Daher war sie jetzt sehr gut aufgelegt, – ungeachtet +dessen, daß sie noch vor wenigen Stunden in Krämpfen und +Ohnmachtsanfällen gelegen hatte. Hinter ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich +Fräulein Perepelizyna, die ihre Lippen zu einem schmalen Streifen +zusammenpreßte, bitter und boshaft lächelte und ihre mageren Hände, an +denen alle Gelenke hervorstanden, unaufhörlich rieb. Neben der Generalin +hatten sich ihre zwei Freundinnen niedergelassen, zwei alte adlige +Damen, die beständig bei ihr lebten und fast nie ein Wort sprachen. Dann +saßen dort noch eine am Morgen angekommene Nonne und eine Gutsbesitzerin +aus der Nachbarschaft, die zum Morgengottesdienst ins Kloster gefahren +und auf dem Rückwege in Stepantschikowo ausgestiegen war, um die alte +Generalin zum Fest zu beglückwünschen. Meine Tante Praskowja +Iljinitschna zog sich ängstlich in einen Winkel zurück und blickte +unruhig bald auf Foma Fomitsch, bald auf ihre Mutter, die Generalin. +Mein Onkel saß in einem Lehnstuhl, und ungetrübte Freude leuchtete aus +seinen Augen. Vor ihm stand Iljuscha, festlich angezogen – in einem +rotgestickten russischen Kittelchen – und war mit seinem Lockenkopf +reizend wie ein kleiner Engel anzusehen. Ssaschenjka und Nastenjka +hatten ihm heimlich ein Gedicht beigebracht, damit er den Vater an +diesem Tage durch seine Fortschritte erfreue. Mein Onkel war vor lauter +Freude fast den Tränen nahe: die unerwartete Sanftmut Fomas, die +freundliche Stimmung seiner Mutter, dazu Iljuschas Namenstag, und dazu +das Gedicht – kurz, alles zusammen wirkte geradezu begeisternd auf ihn, +und er hatte feierlich Misintschikoff gebeten, mich zu rufen, damit auch +ich schneller des allgemeinen Glücks teilhaftig würde und das Gedicht +mit anhören könne. + +Ssaschenjka und Nastenjka, die kurz vor uns eingetreten waren, standen +nicht weit von Iljuscha. Ssaschenjka brach immer wieder in helles Lachen +aus und war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. Nastenjka mußte +beim Anblick meines fröhlichen Kusinchens gleichfalls lächeln, doch +eingetreten war sie bleich und ernst. Sie allein hatte Tatjana Iwanowna +empfangen und getröstet und war die ganze Zeit bei ihr gewesen. Der +kleine Schlingel Iljuscha konnte auch nicht ernst bleiben, wenn er seine +Lehrerinnen ansah. Wie es schien, hatten die drei einen Scherz +vorbereitet, der sehr zum Lachen anregte ... + +Herrn Bachtschejeff habe ich noch vergessen. Er saß etwas abseits auf +einem kleinen Stuhl, war immer noch wütend und rot, schwieg, maulte, +schnaubte sich und spielte überhaupt eine recht finstere Rolle auf dem +Familienfest. Neben ihm scharwenzelte Jeshowikin umher, übrigens nicht +nur bei ihm allein, sondern so ziemlich überall: bald küßte er der +Generalin die Hand, bald der fremden Gutsbesitzerin, bald flüsterte er +Fräulein Perepelizyna etwas ins Ohr, oder er machte Foma Fomitsch den +Hof. Er erwartete gleichfalls mit großem Mitgefühl Iljuschas Vortrag. +Bei meinem Eintritt erschien er mit seinen üblichen Bücklingen sofort an +meiner Seite, um mir seine große Hochachtung und Ergebenheit zu +bezeugen. Es war ihm durchaus nicht anzusehen, daß er hergekommen war, +um seine Tochter zu verteidigen und sie wieder zu sich nach Haus zu +bringen. + +„Da ist er!“ rief mein Onkel freudig aus, als er mich erblickte. +„Freund, Iljuscha hat ein Gedicht auswendig gelernt – auswendig – das +ist doch eine Überraschung – nicht? Ich fiel aus den Wolken! Ich ließ +dich rufen, damit du es mit anhören kannst ... Also setz dich her! Hören +wir zu! Aber, Foma, gesteh es nur, du hast sie sicherlich auf die Idee +gebracht, um mir eine Freude zu bereiten? Ich wette meinen Kopf darauf!“ + +Wenn mein Onkel in Fomas Gemach in diesem Ton und mit einer solchen +Stimme zu sprechen wagte, so hätte man glauben dürfen, daß alles sich in +der größten Ordnung befände. Aber das war ja das Unglück, daß mein Onkel +nichts aus einem Gesicht zu erraten verstand, wie Misintschikoff sich +ausgedrückt hatte. Als ich jetzt Fomas Miene sah, mußte ich zugeben, daß +allerdings etwas Besonderes bevorstand ... + +„Beunruhigen Sie sich nicht um mich,“ antwortete Foma mit schwacher +Stimme – mit der Stimme eines Menschen, der seinen Feinden vergibt. „Die +Überraschung lobe ich natürlich: sie spricht von der Anhänglichkeit und +Wohlerzogenheit Ihrer Kinder. Gedichte sind gleichfalls nützlich, schon +wegen der Aussprache, die sie bilden ... Doch ich war an diesem Morgen +nicht mit Gedichten beschäftigt, Jegor Iljitsch: ich habe gebetet ... +Sie wissen es ... Aber ich bin schließlich bereit, auch Gedichte +anzuhören.“ + +Inzwischen hatte ich Iljuscha gratuliert und auf beide Bäckchen geküßt. + +„Ich weiß, Foma, verzeih! Ich hatte es vergessen ... wenn ich auch von +deiner Freundschaft überzeugt bin, Foma!“ fügte er unvermittelt hinzu. +„Küß ihn noch einmal, Ssergei! Sieh mal, was für ein Bengel! Nun, fang +an, Iljuscha! Wovon handelt es denn? Wohl eine feierliche Ode ... von +Lomonossoff gar? Hm?“ + +Und mein Onkel nahm eine wichtige Miene an. Er konnte dabei kaum ruhig +bleiben vor Freude und Ungeduld. + +„Nein, Papachen, nicht von Lomonossoff,“ mischte sich Ssaschenjka ein, +die nur mit Mühe ihr Lachen unterdrückte, „da Sie Soldat waren und sogar +im Kriege gewesen sind, so hat Iljuscha etwas Kriegerisches gelernt ... +‚Die Belagerung von Pamba‘ heißt es, Papachen.“ + +„‚Die Belagerung von Pamba‘? ah! Entsinne mich bloß nicht ... Was ist +das für ein Pamba, weißt du es nicht, Ssergei? ... Sicherlich etwas +Historisches.“ + +Und mein Onkel setzte von neuem eine wichtige Miene auf. + +„Fang an, Iljuscha!“ kommandierte Ssaschenjka. + + „Seit neun Jahren liegt Don Pedro“ + +begann Iljuscha mit seinem kleinen, hellen, gleichmäßigen Stimmchen, +ohne Kommata und Punkte zu beachten, wie kleine Kinder gewöhnlich +auswendig gelernte Gedichte aufsagen – + + „Vor der stolzen Festung Pamba; + Seit neun Jahren hat er selber, + Ganz wie alle seine Krieger, + Nie was anderes genossen + Als nur reine Kuhmilch. + Denn es haben die neuntausend + Kämpfenden Kastilier + Hoch und heilig sich geschworen: + Bis zur Einnahme der Festung + Nichts als Kuhmilch zu genießen.“ + +„Wie! Was? Was ist das für eine Milch!“ unterbrach ihn mein Onkel und +sah mich verwundert an. + +„Weiter, Iljuscha!“ kommandierte wieder Ssaschenjka. + + „Täglich trauert Pedro Gomez, + Denn es schwinden seine Kräfte, + Und das zehnte Jahr bricht an. + Doch die Mauren triumphieren: + Denn vom stolzen Heer Don Pedros + Sind im ganzen ihm geblieben + Nicht mehr als nur neunzehn Mann.“ + +„Aber das ist ja Unsinn!“ unterbrach hier mein Onkel wieder. „Das ist ja +doch unmöglich! Neunzehn Mann bleiben von einem Heer übrig, das zu +Anfang der Belagerung so groß und mächtig gewesen ist! Was soll denn das +heißen?“ + +Hier aber konnte Ssaschenjka ihr Lachen nicht mehr zurückhalten: sie +lachte schallend auf, wie nur Kinder lachen können. Und wenn auch gerade +kein besonderer Grund zum Lachen vorhanden war, so war es doch +unmöglich, bei ihrem Anblick ernst zu bleiben. + +„Ach, Papachen, das ist doch nur ein Scherzgedicht!“ rief sie aus, +königlich erfreut über ihren Einfall. „Das ist doch mit Absicht so +gemacht, vom Verfasser, damit es um so spaßiger ist, Papachen.“ + +„Ah so! Ein Scherzgedicht also!“ Meines Onkels Gesicht hellte sich auf. +„Das heißt, ein satirisches! ... Deshalb, ich höre ... Eben, eben, ein +Scherzgedicht, wie du sagst! Und es ist ja auch zum Lachen: Mit Milch +will er ein ganzes Heer ernähren! – nach irgend so einem Gelübde! Als ob +das zu geloben gerade nötig gewesen wäre! Sehr geistreich – nicht wahr, +Foma? Sehen Sie, Mama, das ist so ein Scherzgedicht, wie es die Dichter +zuweilen schreiben – nicht wahr, Ssergei, Sie schreiben doch mitunter +auch so etwas? Vorzüglich! Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?“ + + „Nicht mehr als nur neunzehn Mann! + Sie nun rief Don Pedro zu sich. + Und er sprach hierauf wie folgt: + ‚Freunde!‘ sagt er, ‚laßt uns heute + Unsre Fahnen hoch erheben, + In die Felddrommete stoßen + Und von Pamba uns zurückzieh’n. + Wenn wir diese stolze Festung + Auch nicht eingenommen haben – + Können wir doch allenthalben + Dreist auf Ehre und Gewissen + Jedem schwören, daß wir niemals + Das Gelübde übertreten, + Wie wir’s einst geschworen haben: + Nichts zu trinken als nur Milch!‘“ + +„Dieser Dummkopf! Womit er sich tröstet!“ unterbrach ihn wieder mein +Onkel. „Daß er neun Jahre nichts als Milch genossen hat! ... Was ist +denn das für eine besondere Tugend? Hätt’ er doch lieber täglich einen +ganzen Ochsen gegessen und seine Leute nicht umkommen lassen! Aber das +Gedicht – vorzüglich, ganz vorzüglich ist das Gedicht! Ich sehe jetzt: +das ist so eine Satire oder ... wie nennt man das doch – eine Allegorie, +nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen ausländischen General +gemünzt – Wie?“ fragte mein Onkel plötzlich, erhob bedeutsam die Brauen +und blinzelte mir zu – „was? Was meinst du dazu? Aber nur, versteht +sich, eine ganz unschuldige Satire, ohne Spitze, so daß sie keinen +verletzen kann. Vorzüglich, ganz vorzüglich! Und – die Hauptsache – +belehrend! Nun, Iljuscha, fahre fort! Ach ihr unartigen Mädel!“ fügte er +hinzu, mit dem Finger drohend, und sah dabei lächelnd Ssaschenjka an, +während er Nastenjka nur verstohlen mit einem flüchtigen Blick zu +streifen wagte – was jedoch genügte, sie erröten zu machen. Sie lächelte +gleichfalls. + + „Neue Kraft gab diese Rede + Seinen neunzehn tapfren Kriegern, + Die, in ihren Sätteln wankend, + Mit erschöpfter Stimme riefen: + ‚Sancto Jago Compostello! + Ehr’ und Ruhm Don Pedro Gomez, + Unsrem Löwen von Kastilien!‘ + Sein Kaplan jedoch, Diego, + Brummte unwirsch vor sich hin: + ‚Wäre ich der Feldherr hier, + Hätt’ ich nur noch Fleisch zu essen + Und nur edlen Wein zu trinken + Als Gelübde abgelegt!‘“ + +„Da hört ihr’s! Sagt’ ich nicht dasselbe?“ rief mein Onkel höchst +erfreut dazwischen. „In dem ganzen Heer gibt es nur einen einzigen +vernünftigen Menschen, und sogar der ist noch weiß Gott was für ein – +Kaplan! Was ist das eigentlich, ein Kaplan, Ssergei? Ein Hauptmann?“ + +„Ein Mönch, Onkel, ein Geistlicher.“ + +„Ach, ja ja, richtig! Kaplan, Kapellan? Ich weiß schon, jetzt entsinne +ich mich! Habe es schon in einem Roman gelesen, im Radcliff war’s, +glaube ich. Dort im Auslande gibt es doch verschiedene Orden ... wart +mal – Benediktiner heißen auch welche ... Nicht wahr, es gibt noch immer +solch einen Orden?“ + +„Ja, Onkel.“ + +„Hm! ... Das meinte ich eben auch. Nun, Iljuscha, wie geht es weiter? +Vorzüglich, ganz vorzüglich!“ + + „Da sprach hell mit lautem Lachen + Pedro Gomez zu den neunzehn: + ‚Gebt ihm schnell doch einen Ochsen! + Denn, fürwahr, der Mann hat recht!‘“ + +„Das war wohl die richtige Zeit zum Lachen!? Ist das aber ein Dummkopf! +Zu guter Letzt ist es also auch ihm lächerlich vorgekommen, was er sich +da selbst zusammengelübdet hat! Außerdem: Ochsen hat es doch gegeben – +weshalb hat er denn da seine Soldaten nicht Rindfleisch essen lassen? +und selbst auch welches gegessen? Nun, Iljuscha, weiter! Es ist wirklich +ganz vorzüglich! Ungemein geistreich!“ + +„Aber es ist ja schon zu Ende, Papachen!“ + +„Ach? Schon zu Ende? Ja, in der Tat, was blieb ihm denn auch anderes +übrig – nicht wahr, Ssergei? Vortrefflich, Iljuscha! ganz wundervoll +hast du es vorgetragen! Küsse mich, mein Liebling! Ach, du, mein kleiner +Junge! Aber wer hat es ihm denn beigebracht: du, Ssaschenjka?“ + +„Nein, das hat Nastenjka getan. Vor einigen Tagen lasen wir beide das +Gedicht. Sie las es und sagte: ‚Was für ein komisches Gedicht! Bald ist +Iljuschas Namenstag – wollen wir es ihn lernen lassen, dann kann er es +vortragen. Es paßt wie geschaffen!‘“ + +„Dann also Nastenjka? Ich danke, herzlichen Dank!“ brachte mein Onkel +nicht gerade sehr sicher hervor, während er zugleich wie ein Kind über +und über errötete. „Küß mich noch einmal, Iljuscha! Küß auch du mich, +Unart du!“ sagte er scherzend zu Ssaschenjka, indem er sie zu sich zog +und ihr zärtlich in die Augen sah. + +„Wart nur, Ssaschurka, auch du wirst bald deinen Namenstag feiern!“ +fügte er hinzu, als wüßte er nicht, was er vor lauter Freude sagen +sollte. + +Ich wandte mich an Nastenjka und fragte sie, von wem das Gedicht sei. + +„Ja, richtig, wer hat es denn gedichtet?“ fragte sogleich auch mein +Onkel. „Es muß sicherlich ein kluger Dichter gewesen sein – was meinst +du, Foma?“ + +„Hm!“ brummte Foma vor sich hin. + +Während des ganzen Vortrags war ein beißend spöttisches Lächeln nicht +von seinen Lippen gewichen. + +„Ich ... habe es im Augenblick vergessen,“ antwortete Nastenjka mit +scheuem Blick auf Foma. + +„Das hat Kusjma Prutkoff gedichtet, Papachen, und im ‚Zeitgenossen‘ ist +es erschienen,“ sagte Ssaschenjka eifrig. + +„Kusjma Prutkoff? Kenne ich nicht,“ sagte mein Onkel. „Nur Puschkin, den +kenne ich! ... Doch man sieht sofort, das es ein talentvoller Dichter +ist. Habe ich nicht recht, Ssergei? Und außerdem ein Mensch mit wirklich +edlen Eigenschaften – das ist klar! Vielleicht ist er sogar ein Offizier +... Ja, das lobe ich mir! Wirklich ein gutes Blatt, der ‚Zeitgenosse‘! +Wir müssen unbedingt darauf abonnieren, wenn solche Dichter in ihm +schreiben ... Ich liebe die Dichter! Prächtige Jungen! Alles sagen sie +in Versen! Weißt du noch, Ssergei, ich habe ja bei dir in Petersburg +auch einen Literaten kennen gelernt. Er hatte noch so eine ganz +besondere Nase ... in der Tat! ... Was sagtest du, Foma?“ + +Foma Fomitsch, dessen Ärger inzwischen bedeutend gewachsen war, kicherte +vor sich hin. Dieses Kichern war eine nur ihm eigentümliche Art zu +lachen. + +„Nichts, ich lache nur so ... es hat nichts auf sich ...“ sagte er mit +einer Miene, als unterdrücke er nur mit Mühe ein ganz gewaltiges Lachen. +„Fahren Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie nur fort! Ich werde später +mein Wort sagen ... Auch Stepan Alexejewitsch hört Sie mit großem +Interesse von Ihren Petersburger Literatenbekanntschaften erzählen ...“ + +Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der die ganze Zeit etwas weiter ab +in Gedanken verloren auf einem Stuhl gesessen hatte, wurde plötzlich +rot, erhob den Kopf und sagte ziemlich scharf mit halber Wendung zu +Foma: + +„Du, Foma, fang gefälligst nicht wieder an, sondern laß mich in Ruh!“ +Seine kleinen, sogleich rot anlaufenden Augen sahen den Gegner zornig +an. „Was schiert mich deine Literatur? Wenn Gott mir nur Gesundheit +gibt,“ brummte er halblaut, „das übrige kann mir ... Und diese +Schriftsteller ... lauter Voltairianer und nichts weiter!“ + +„Die Schriftsteller – lauter Voltairianer?“ fragte Jeshowikin, der im +Augenblick neben Bachtschejeff auftauchte. „Da haben Sie die reinste +Wahrheit gesagt. Genau so hat sich kürzlich auch Valentin Ignatjitsch +auszudrücken geruht, und zwar hat er mich selbst einen Voltairianer +genannt – bei Gott! Ich aber habe doch bekanntlich nichts geschrieben. +Man redet bloß manchmal so ein wenig literarischer. Aber auch daran soll +nun wieder Voltaire schuld sein. So ist es immer bei uns!“ + +„Nein, so doch nicht!“ meinte mein Onkel gewichtig, „das ist doch wohl +ein Irrtum! Voltaire war nur ein mokanter Schriftsteller, er machte sich +über die Vorurteile lustig. Ein ‚Voltairianer‘ aber ist er selber nie +gewesen! Seine Feinde haben ihn verleumdet. Aber weshalb hacken sie +jetzt immer so auf den Armen los? Das begreife ich wirklich nicht!“ + +Wieder ertönte das häßliche Kichern Foma Fomitschs. Mein Onkel blickte +sofort beunruhigt zu ihm hinüber und wurde augenscheinlich verlegen. + +„Nein, sieh, Foma, ich rede ja nur von unseren Zeitschriften,“ sagte er +verwirrt, um das Gesagte wieder gutzumachen. „Du hattest vollkommen +recht, Foma, als du sagtest, daß wir das Blatt halten müßten. Ich bin +jetzt auch der Meinung, daß wir es müssen! ... Denn ... warum auch +nicht, es verbreitet doch Aufklärung! Und schließlich, was wäre man +sonst für ein Sohn des Vaterlandes, wenn man eine solche Zeitschrift +nicht hält? Habe ich nicht recht, Ssergei? Hm! ... Ja! ... Da haben wir +nun diesen ‚Zeitgenossen‘ ... Aber weißt du, Ssergei, die größten +Wissenschaften sind meiner Meinung nach doch in der dicken Revue – wie +heißt sie doch gleich? Im gelben Umschlag ...“ + +„‚Vaterländische Aufzeichnungen‘, Papachen.“ + +„Ja, richtig – ‚Vaterländische Aufzeichnungen‘ – ein vorzüglicher Titel +– nicht wahr, Ssergei? Das ganze Vaterland sitzt sozusagen und zeichnet +auf ... Und dabei verfolgen sie ein edles Ziel! Ein äußerst nützliches +Blatt! Und wie dick! Geh mal, versuch du, eine solche Diligence +herauszugeben! Und Wissenschaften, sag’ ich dir, daß einem fast die +Augen übergehn! ... Vor ein paar Tagen ging ich dort durch das Zimmer, +sehe – das Heft liegt auf dem Tisch ... nahm es aus Neugier in die Hand, +schlug es auf und las in einem Strich ganze drei Seiten. Glaub mir, +Freund, ich vergaß den Mund zu schließen! Weißt du, es gibt dort über +alles Abhandlungen, so zum Beispiel, was bedeutet das Wort Besen, +Spaten, Kochlöffel, Henkel? Ich glaubte, ein Besen sei nichts als ein +Besen, ein Henkel eben ein Henkel. Aber nein, Freund, wart! Ein Besen +ist nach der Wissenschaft nicht nur ein Besen, sondern ein Sinnbild, ein +Emblem, oder gar etwas aus der Mythologie, ich weiß nicht mehr, was er +da eigentlich war; aber jedenfalls kam schließlich etwas Ähnliches +heraus ... Ja, sieh mal, so verhält es sich, Freund! Man kommt eben +hinter alles!“ + +Ich weiß nicht, was Foma nach diesem neuen Erguß meines Onkels zu tun +oder zu sagen beabsichtigte; denn das Gespräch wurde durch Gawrila +unterbrochen, der plötzlich eintrat und mit gesenktem Haupt auf der +Schwelle stehenblieb. + +Foma Fomitsch blickte ihn bedeutsam an. + +„Ist alles bereit, Gawrila?“ fragte er mit schwacher, jedoch +entschlossener Stimme. + +„Alles ist bereit,“ antwortete Gawrila traurig und seufzte. + +„Und auch mein Reisebündel hast du im Wagen untergebracht?“ + +„Jawohl.“ + +„Nun, dann bin auch ich bereit!“ sagte Foma und begann, sich langsam zu +erheben. Mein Onkel blickte ihn verwundert an. Die Generalin erhob sich +plötzlich gleichfalls und blickte sich unruhig im Kreise um. + +„Erlauben Sie mir jetzt, Oberst,“ hub Foma würdevoll an, „Sie zu bitten, +das interessante Gespräch über die literarischen Besen für eine kurze +Zeit zu unterbrechen. Sie können es ohne mich fortsetzen. Ich aber will, +_indem ich mich auf ewig von Ihnen verabschiede_, gerade Ihnen noch ein +paar letzte Worte sagen ...“ + +Schreck und Verwunderung lähmten alle Anwesenden. + +„Foma! ... Foma! Was fällt dir ein? Wohin willst du?“ rief endlich mein +Onkel aus. + +„Ich will Ihr Haus verlassen, Oberst,“ fuhr Foma mit der ruhigsten +Stimme fort. „Ich habe beschlossen, zu gehen, wohin der Weg mich führt, +und deshalb habe ich mir für mein Geld einen einfachen, ganz +gewöhnlichen Bauernwagen gemietet. In ihm liegt bereits mein +Reisebündel. Es ist nicht groß: ein paar Bücher, die mir lieb sind, +Wäsche, um zu wechseln: das ist alles! Ich bin arm, Jegor Iljitsch, +werde aber um keinen Preis Ihr Geld annehmen, das ich ja auch gestern +schon verschmäht habe!“ + +„Aber um Gottes willen, Foma! Was bedeutet das?“ rief mein Onkel +bestürzt aus, bleich wie ein Tuch. + +Die Generalin stieß einen Schrei aus und streckte mit verzweifeltem +Blick Foma Fomitsch beide Hände entgegen. Fräulein Perepelizyna stürzte +zu ihr, um sie nötigenfalls aufzufangen. Die übrigen Schmarotzerinnen +erstarrten auf ihren Plätzen. Nur Herr Bachtschejeff erhob sich +schwerfällig. + +„Jetzt geht es los!“ raunte mir Misintschikoff zu, der neben mir stand. + +Und im selben Augenblick hörte man fern den ersten Donner grollen. + + + + + XVI. + + Die Vertreibung. + + +„Sie fragten, glaube ich, was das zu bedeuten habe, Oberst?“ hub Foma +feierlich an, indem er die allgemeine Bestürzung förmlich zu genießen +schien. „Die Frage wundert mich! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, wie +_Sie_ es fertigbringen, mir jetzt noch offen in die Augen zu sehen? +Erklären Sie mir dieses größte Beispiel menschlicher Unverschämtheit, +und ich werde von dannen ziehen, wenigstens um eine neue Erkenntnis der +Verderbtheit des Menschengeschlechts bereichert.“ + +Mein Onkel war nicht fähig zu einer Antwort. Erschrocken und ratlos, wie +er war, blickte er nur starr Foma Fomitsch an. + +„Jesus Christ! Welche Leidenschaften!“ stöhnte Fräulein Perepelizyna. + +„Begreifen Sie denn nicht, Oberst,“ fuhr Foma fort, „daß Sie mich jetzt +einwandlos und ohne Fragen meines Weges ziehen lassen _müssen_? In Ihrem +Hause muß selbst ich, der ich doch ein denkender Mensch und schon in +reifen Jahren bin, ernstlich für meine Sittlichkeit fürchten und auf der +Hut sein. Glauben Sie mir, daß Ihre Fragen zu nichts anderem führen +würden, als nur zur Aufdeckung Ihrer Schmach ...“ + +„Foma! Aber Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, auf dessen Stirn kalter +Schweiß hervortrat. + +„So erlauben Sie mir denn, Ihnen ohne weitere Erklärungen zum Abschied +nur noch einige Geleitworte zu sagen: meine letzten Worte in Ihrem +Hause. Es ist geschehen, und das Geschehene kann man nicht mehr +ungeschehen machen! Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Aber ich +flehe Sie auf den Knien an: Wenn in Ihrem Herzen noch ein Funken von +Sittlichkeit übriggeblieben ist, so zügeln Sie den Lauf Ihrer +Leidenschaften! Und wenn das Gift der Verwesung noch nicht das ganze +Gebäude Ihrer Seele erfaßt hat, so löschen Sie nach Möglichkeit die +Feuersbrunst!“ + +„Foma! Glaube mir, du bist im Irrtum!“ rief mein Onkel aus, der +allmählich zur Besinnung kam und mit Entsetzen begriff, worauf es +hinauslief. + +„Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften,“ fuhr Foma mit derselben Feierlichkeit +fort – als hätte er den Ausruf meines Onkels gar nicht gehört, „besiegen +Sie sich! ‚Willst du die ganze Welt erobern – besiege dich selbst!‘ Das +ist meine Lebensregel. Sie sind Gutsherr. Sie müßten wie ein Brillant in +höchster Tugend strahlen, statt dessen – was für ein schmachvolles +Beispiel der Zügellosigkeit geben Sie hier allen Ihren Gästen sowie +allen Ihren Untergebenen! Ich habe ganze Nächte für Sie gebetet und um +Sie gezittert, habe gerungen um Ihr Glück. Ich habe es nicht gefunden; +denn Glück ist nur in der Tugend enthalten ...“ + +„Aber das ist doch unmöglich, Foma!“ unterbrach ihn wieder mein Onkel, +„du hast es falsch verstanden, du hast es ganz anders aufgefaßt! ...“ + +„Und so vergessen Sie denn nicht, daß Sie Gutsherr sind,“ fuhr Foma, +wieder ohne die Worte des anderen zu beachten, in seiner Rede fort. +„Geben Sie sich nicht dem verderblichen Glauben hin, daß Nichtstun und +seiner Wollust frönen die Bestimmung des Gutsherrenstandes seien. Dieser +Glaube bringt Sie ins Verderben! Nicht das Nichtstun ist es, sondern die +Verantwortung vor Gott, vor dem Zaren und dem Vaterlande! Arbeiten, +arbeiten muß der Gutsherr, und zwar arbeiten wie der Letzte seiner +Bauern!“ + +„Was, ich soll also hinfort für meine Leibeigenen arbeiten?“ brummte +Herr Bachtschejeff, „ich bin doch _auch_ Gutsbesitzer ...“ + +„Jetzt wende ich mich an euch, Dienstboten,“ fuhr Foma fort, sich an +Gawrila und Falalei, der in der Tür erschien, wendend. „Liebet eure +Herrschaft und erfüllet deren Gebote in Ehrfurcht und Bescheidenheit. +Dafür werdet ihr von euren Herren wiedergeliebet werden. Sie aber, +Oberst, seien Sie gerecht und barmherzig zu ihnen. Der Dienstbote ist +derselbe Mensch – das Ebenbild Gottes, wie es in der Heiligen Schrift +geschrieben steht, der minderjährig vom Zaren und vom Vaterlande Ihrer +Obhut anvertraut ist. Groß ist die Pflicht, aber groß wird auch Ihr +Verdienst sein!“ + +„Foma Fomitsch! Täubchen! Was hast du vor?“ rief in ihrer Verzweiflung +die Generalin aus, bereit, jeden Augenblick wieder in Ohnmacht zu +fallen. + +„Doch ... das dürfte genügen, denke ich?“ schloß Foma, der Generalin +weiter gar keine Beachtung schenkend. „Jetzt noch einige Einzelheiten, +die freilich nur geringfügig, aber doch notwendig sind, Jegor Iljitsch. +Auf der Waldwiese bei Harinskoje ist Ihr Heu noch nicht gemäht. Lassen +Sie es nicht zu spät werden, Oberst, lassen Sie es mähen, möglichst bald +mähen. Dies wäre mein Rat ...“ + +„Aber, Foma ...“ + +„Sie hatten die Absicht, ich weiß es, einen Teil des Syrjänower Waldes +fällen zu lassen: lassen Sie ihn nicht fällen – dies wäre mein zweiter +Rat. Erhalten Sie Ihre Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit +auf der Erdoberfläche ... Schade, daß Sie so spät das Sommerkorn gesät +haben, – wirklich erstaunlich, wie spät Sie es gesät haben! ...“ + +„Aber, Foma ...“ + +„Doch genug! Alles kann man ja doch nicht sagen, und es ist auch nicht +die Zeit dazu! Ich werde Sie schriftlich vom Nötigen unterrichten ... +ich werde Ihnen ein ganzes Heft schicken. Jetzt aber – leben Sie wohl! +Lebt alle wohl! Gott sei mit euch, mag der Herr euch segnen! Ich segne +auch dich, mein Kind,“ sagte er zu Iljuscha, „der Herr beschütze dich +vor dem Verwesungsgifte deiner zukünftigen Leidenschaften! Auch dich, +Falalei, segne ich. Vergiß die Kamarinskaja! Und euch, euch alle! ... +Denkt an Foma! ... Aber gehen wir, Gawrila! Hilf mir in den Wagen, guter +Alter!“ + +Und Foma schritt langsam zur Tür. Die Generalin schrie auf und stürzte +ihm nach. + +„Nein, Foma! So lasse ich dich nicht fort!“ rief mein Onkel aus, holte +ihn mit drei Schritten ein und erfaßte seine Hand. + +„Heißt das, daß Sie Gewalt anwenden wollen?“ fragte Foma hochmütig. + +„Ja, Foma ... auch Gewalt, wenn es darauf ankommt.“ Mein Onkel zitterte +vor Erregung. „Du hast zuviel gesagt, du mußt deine Worte erklären! Du +hast meinen Brief falsch verstanden, Foma! ...“ + +„Ihren Brief!“ kreischte Foma plötzlich wie rasend, im Augenblick +lichterloh, als hätte er nur auf dieses Wort gewartet, um zu +explodieren. „Ihren Brief! Hier ist er, Ihr Brief! Hier ist er! Ich +zerreiße diesen Brief, ich speie ihn an! Ich zerstampfe Ihren Brief mit +meinen Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht der Menschheit! +Sehen Sie, was ich tue, wenn Sie mich mit Gewalt zu Erklärungen zwingen! +Sehen Sie! Sehen Sie! Sehen Sie! ...“ + +Und die Papierfetzen flogen auf den Fußboden. + +„Ich wiederhole es, Foma, du hast ihn falsch verstanden!“ beteuerte mein +Onkel, der immer bleicher wurde, „ich halte um ihre Hand an, Foma, ich +suche mein Glück ...“ + +„Um ihre Hand! Sie haben dieses Mädchen verführt, und jetzt wollen Sie +mich mit einem Heiratsantrag betrügen; denn ich habe Sie gestern nacht +mit ihr im Garten unter den Büschen gesehen!“ + +Die Generalin stieß einen Schrei aus und sank kraftlos auf ihren +Lehnstuhl. Ihre ganze Suite verlor den Kopf. Die arme Nastenjka saß +bleich wie eine Tote und rührte sich nicht. Ssaschenjka umklammerte vor +Schreck Iljuscha und zitterte am ganzen Körper. + +„Foma!“ rief mein Onkel außer sich. „Wenn du dieses Geheimnis verrätst, +so tust du die schändlichste Tat der Welt!“ + +„Ja, ich will dieses Geheimnis verraten,“ kreischte Foma, „und damit die +edelste aller Taten vollbringen! Dazu bin ich von Gott selbst gesandt, +um die ganze Welt in ihrem Schmutz zu entlarven! Ich bin bereit, auf +eines armen Bauern elendes Strohdach zu steigen und von dort aus allen +Gutsbesitzern in der Runde und jedem Vorüberfahrenden die Kunde von +Ihrer Schandtat zuzuschreien! ... Ja, hört es alle, wißt, daß ich +gestern, mitten in der Nacht ihn mit diesem Mädchen, das die Maske der +Unschuld zur Schau trägt, im Garten unter dichtem Gebüsch überrascht +habe!“ + +„Ach, Jesus, welche Schande!“ kam es fast zischend über die schmalen +Lippen der Perepelizyna. + +„Foma! Setz nicht dein Leben aufs Spiel!“ schrie ihm mein Onkel mit +blitzenden Augen zu und ballte die Fäuste. + +„... Er aber,“ kreischte Foma, „er aber hat es gewagt, – nach dem ersten +Schreck darüber, daß ich ihn sah – hat es gewagt, mich mit einem Brief +betrügen und bestechen zu wollen, mich, mich, den Ehrlichen, Ehrenhaften +und Offenherzigen, um mich zu überzeugen, daß er kein Verbrechen +begangen habe – ja, Verbrechen, sage ich! ... denn aus dem bis jetzt +unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie ...“ + +„Noch ein einziges Wort, das sie beleidigt, – und ich schlage dich tot, +Foma, das schwöre ich dir!! ...“ + +„Und ich spreche dieses Wort aus; denn aus dem bis jetzt unschuldigsten +Mädchen der Welt haben Sie _eines der verderbtesten gemacht_!“ + +Kaum jedoch war das letzte Wort über Fomas Lippen gekommen, als mein +Onkel ihn auch schon gepackt hatte, ihn wie einen Strohhalm +zusammenknickte und gegen die Glastür schleuderte, die auf den Hof +führte. Der Anprall war so stark, daß die Tür krachend aufflog und Foma +wie ein Brummkreisel über die sieben Stufen der steinernen Treppe +kollerte und sich unten in seiner ganzen Länge auf dem Hof ausstreckte. +Klirrend flogen die Glasscherben der zerschlagenen Scheiben auf die +weißen Steine der Treppe. + +„Gawrila, heb ihn auf!“ schrie mein Onkel totenbleich dem Diener zu, +„setz ihn in den Wagen! und daß mir nach zwei Minuten sein Fuß nicht +mehr in Stepantschikowo ist!“ + +Was Foma Fomitsch nun auch beabsichtigt haben mochte – diese Lösung wird +er in seiner Berechnung jedenfalls nicht vorausgesehen haben. + +Ich will es lieber gar nicht versuchen, die ersten hierauf folgenden +Minuten zu schildern: Das kreischende Geschrei der Generalin, die sich +in ihrem Lehnstuhl wand; den Starrkrampf der Perepelizyna infolge der +unerwarteten Handlungsweise meines sonst stets so sanften und gehorsamen +Onkels; das Ach und Weh der übrigen „Freundinnen“; die vor Schreck fast +ohnmächtige Nastenjka, neben der Jeshowikin, ihr Vater, auftauchte; die +vor Angst zähneklappernde Ssaschenjka; meinen Onkel, der in +unbeschreiblicher Erregung im Zimmer auf und ab ging und wartete, bis +die Mutter wieder zu sich käme; schließlich das laute Geheul Falaleis, +der seine Herrschaft beklagte und bejammerte – alles das stellte ein +lebendes Bild dar, wie man es mit Worten nicht zu beschreiben vermag. +Hierzu denke man sich noch, daß sich gerade jetzt, im selben Augenblick, +ein starkes Gewitter entlud. Die Donnerschläge wurden immer lauter und +unheimlicher, und plötzlich peitschte der Regen in Strömen an die +Fensterscheiben. + +„Da habt ihr jetzt ’nen Feiertag!“ brummte Herr Bachtschejeff grollend, +senkte den Kopf und schlug sich auf den Schenkel. + +„Die Sache ist gefährlich!“ flüsterte ich ihm zu – gleichfalls zitternd +vor Aufregung. „Aber wenigstens ist Foma hinausgeworfen und wird wohl +nicht mehr zurückgebracht werden!“ + +„Mama! Sind Sie zu sich gekommen? Fühlen Sie sich etwas besser? Könnten +Sie mich jetzt anhören?“ fragte mein Onkel, der vor seiner Mutter +stehengeblieben war. + +Diese erhob den Kopf, faltete die Hände und blickte flehend zu ihrem +Sohn empor, den sie in ihrem ganzen Leben noch nie in solchem Zorn +gesehen hatte. + +„Mama!“ begann der Oberst, „das Maß ist voll – Sie haben es selbst +gesehen. Nicht in dieser Weise wollte ich mein Vorhaben ausführen, aber +die Stunde hat geschlagen, und jetzt duldet es keinen Aufschub. Sie +haben die Verleumdung gehört, so hören Sie denn jetzt auch die +Rechtfertigung. Mama, ich liebe dieses edle und ehrenwerte Mädchen, ich +liebe sie schon lange und werde nie, niemals aufhören, sie zu lieben. +Sie wird meine Kinder glücklich machen und wird Ihnen eine ehrerbietige +Tochter sein, und deshalb spreche ich jetzt hier in Ihrer, meiner +Verwandten und Freunde Gegenwart meine innige Bitte aus, Nastassja +Jewgrafowna, mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen, +meine Frau zu werden.“ + +Nastenjka zuckte zusammen, errötete heiß und erhob sich erschrocken. Die +Generalin starrte ihren Sohn eine Zeitlang an, als begreife sie nicht, +wovon er sprach, und plötzlich stürzte sie mit einem gellenden Schrei +vor ihm auf die Knie nieder. + +„Jegoruschka, du mein Täubchen, bring Foma Fomitsch zurück!“ schrie sie, +„bring ihn sofort zurück! Ohne ihn sterbe ich noch vor dem Abend!“ + +Mein Onkel erstarrte, als er seine alte Mutter, die stets launische und +eigensinnige Frau, vor sich auf den Knien sah. Ein schmerzliches Gefühl +spiegelte sich auf seinem Antlitz wider. Endlich besann er sich, beugte +sich nieder, hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Lehnstuhl. + +„Bring Foma Fomitsch zurück, Jegoruschka!“ fuhr die Alte in ihrem Geheul +fort, „bring ihn mir zurück, Täubchen! Ohne ihn kann ich nicht leben!“ + +„Mama!“ rief mein Onkel bekümmert aus, „– dann haben Sie ja überhaupt +nicht verstanden, was ich Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma Fomitsch +nicht zurückrufen – begreifen Sie das doch! Ich kann es nicht, und ich +habe auch kein Recht dazu nach seiner niedrigen, schändlichen, +schmutzigen Verleumdung dieses Mädchens, das mir heilig ist! Sehen Sie +denn nicht ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre es mir +befiehlt, für ihren guten Ruf, für ihre Ehre einzustehen! Sie haben es +doch gehört: ich halte um die Hand dieses Mädchens an und bitte Sie, wie +ein Sohn seine Mutter bittet, unseren Bund zu segnen.“ + +Doch die Generalin erhob sich, ehe er sich dessen versah, wieder von +ihrem Platz und stürzte vor Nastenjka auf die Knie nieder. + +„Ich flehe dich an! Sei ein Engel!“ schrie die Alte in ihrer +Verzweiflung, „heirate ihn nicht! Heirate ihn nicht, sondern bitte ihn, +daß er Foma Fomitsch zurückbringt! Sei mein Täubchen, Nastassja +Jewgrafowna! Ich gebe dir alles hin, ich opfere dir alles, wenn du ihn +nicht heiratest! Ich habe noch nicht alles aufgezehrt, ich habe noch +einen Sparpfennig von meinem Seligen. Alles ist dein, mein Engel, werde +dich mit allem beschenken, und auch Jegoruschka wird dich beschenken, +nur bringe mich nicht lebendig ins Grab; bitte ihn, daß er mir Foma +Fomitsch zurückbringt! ...“ + +Lange noch hätte die Alte geschrien und gefleht, wenn nicht alle ihre +Busenfreundinnen, voran die Perepelizyna, mit Gekreisch und +Klagegeschrei zu ihr gestürzt wären und sie mit vereinten Kräften +emporgehoben hätten – empört darüber, daß sie vor der „Gouvernante“ +ihrer Enkelkinder auf den Knien lag. Nastenjka konnte sich kaum noch auf +den Füßen halten vor Schreck. Die Perepelizyna aber weinte fast vor Wut. + +„Töten wollen Sie Ihre Mutter!“ schrie sie meinen Onkel an, „umbringen +wollen Sie sie! Sie aber, Nastassja Jewgrafowna, hätten nicht die Mutter +mit ihrem leiblichen Sohne entzweien sollen! So etwas wird auch Gott der +Herr nicht verzeihen ...“ + +„Anna Nilowna, nehmen Sie sich mit Ihrer Zunge in acht!“ rief ihr mein +Onkel zornig zu. „Ich habe genug ertragen! ...“ + +„Und auch ich habe genug von Ihnen ertragen! Was werfen Sie mir meine +Verwaistheit vor? Werden Sie mich noch lange – mich Waise – beleidigen? +Ich bin doch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst die Tochter eines +Majors! Mein Fuß soll nicht mehr hier in diesem Hause weilen! ... Heute +noch – ...“ + +Doch mein Onkel hörte sie nicht an: er trat zu Nastenjka und ergriff +schüchtern ihre Hand. + +„Nastassja Jewgrafowna ... haben Sie gehört, um was ich Sie gebeten +habe?“ fragte er langsam, während sein Blick kummervoll auf ihrem lieben +Gesicht ruhte. + +„Nein, Jegor Iljitsch, nein! Lassen wir es lieber,“ antwortete +Nastenjka, die allen Mut verloren hatte. „Das ist es ja nicht,“ fuhr sie +fort und preßte unbewußt wie im Krampf seine Hand, während Tränen ihr in +die Augen traten. „Das sagen Sie jetzt, nach dem – Gestrigen ... Aber es +kann ja nichts daraus werden, Sie sehen es doch selbst ... Wir haben uns +getäuscht, Jegor Iljitsch ... Ich aber werde ewig an Sie als an meinen +Wohltäter denken und ... und werde ewig, ewig für Sie beten! ...“ + +Tränen erstickten ihre Stimme. Mein armer Onkel hatte offenbar keine +andere Antwort erwartet; er verfiel nicht einmal darauf, etwas +einzuwenden, sie zu bitten ... Er hörte, den Kopf zu ihr hinabgeneigt, +ohne ihre Hand freizugeben, stumm und wie geschlagen an, was sie sagte. +Seine Augen schimmerten feucht. + +„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt,“ fuhr Nastenjka fort, „daß ich +nicht Ihre Frau werden kann. Sie sehen doch: man will mich hier nicht +... und das habe ich schon lange vorausgefühlt. Ihre Mutter wird Ihnen +nicht ihren Segen geben ... _andere_ auch nicht. Und Sie selbst, wenn +Sie es auch nicht bereuen werden – denn Sie sind der großmütigste Mensch +– so würden Sie doch um meinetwillen unglücklich sein ... bei Ihrem +Charakter, bei Ihrer Güte ...“ + +„Ganz recht – _bei Ihrer Güte_! – bei Ihrem _Charakter_! Du hast recht, +Nastenjka!“ griff ihr alter Vater auf, der an der anderen Seite neben +ihrem Stuhl stand. „Gerade dieses eine Wort sagt alles.“ + +„Ich will nicht Unfrieden in Ihr Haus bringen,“ fuhr Nastenjka fort. „Um +mich aber machen Sie sich keine Sorgen, Jegor Iljitsch: mich rührt +niemand an, niemand wird mich beleidigen ... ich gehe zu meinem Vater +... heute noch ... Es ist besser, wir nehmen Abschied voneinander, Jegor +Iljitsch ...“ + +Tränen rollten ihr über die Wangen. + +„Nastassja Jewgrafowna, – ist das wirklich Ihr letztes Wort?“ fragte +mein Onkel, Verzweiflung im Blick. „Sagen Sie nur ein Wort, nur ein +Wort, und ich opfere Ihnen alles! ...“ + +„Es war das letzte, das letzte, Jegor Iljitsch,“ sagte Jeshowikin, „und +sie hat es Ihnen so gut erklärt, wie ich es nicht einmal erwartet hätte. +Sie sind der gütigste Mensch, Jegor Iljitsch, gerade der gütigste, und +Sie haben uns eine große Ehre erwiesen! Große Ehre, große Ehre! ... Aber +immerhin passen wir nicht zu Ihnen, Jegor Iljitsch. Sie müssen sich eine +andere Braut aussuchen, eine, die sowohl reich, als vornehm und schön +und auch mit einer lauten Stimme begabt ist, und die nur in Brillanten +und Straußenfedern durch Ihre Säle rauscht ... Dann wird vielleicht auch +Foma Fomitsch etwas nachgiebiger sein ... und den Ehebund segnen! Den +Foma Fomitsch aber bringen Sie nur wieder zurück! Umsonst, ganz umsonst +haben Sie ihn so beleidigt! Er hat ja nur aus Tugendeifer, aus +übermäßiger Moralität so gesprochen ... Sie werden es selbst später +zugeben, daß er es nur deshalb getan hat – Sie selbst werden es selbst +sagen! Er ist der ehrwürdigste Mensch der Welt. Jetzt aber wird er in +dem Regen ganz naß werden. Wäre es daher nicht besser, ihn sogleich +zurückzurufen? ... denn einmal wird man es doch tun müssen ...“ + +„Bring ihn! Bring ihn zurück!“ schrie wieder die Generalin. „Täubchen, +er sagt dir ja nur die Wahrheit ...“ + +„Jawohl,“ fuhr Jeshowikin fort, „da sehen Sie, daß auch Ihre Frau Mutter +sich tot zu ängstigen geruht – und zwar ganz umsonst ... Bringen Sie ihn +nur zurück! Wir aber, Nastenjka und ich, wir werden uns mittlerweile +aufmachen ...“ + +„Wart, Jewgraf Larionytsch!“ unterbrach ihn mein Onkel, „ich bitte dich! +Noch ein Wort, Jewgraf, nur ein Wort habe ich noch zu sagen!“ + +Er ging mit schnellen Schritten in eine Ecke, setzte sich in einen +Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände, mit denen er seine Augen +bedeckte, – es war, als wolle er für einen Augenblick seine Gedanken +sammeln. + +Da ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag fast gerade über dem Hause. +Das ganze Gebäude erzitterte. Die Generalin schrie auf, die Perepelizyna +gleichfalls, die „Freundinnen“, dumm geworden vor Angst, bekreuzten +sich, was übrigens gleichzeitig mit ihnen auch Herr Bachtschejeff tat. + +„Heiliger Vater, steh uns bei!“ flüsterten fünf oder sechs Stimmen wie +auf ein Kommando. + +Unmittelbar nach dem Donnerschlage folgte ein Platzregen, als wenn ein +ganzer See auf Stepantschikowo herabstürzen wollte. + +„Und Foma Fomitsch, was wird jetzt mit ihm dort auf dem freien Felde?“ +kreischte die Perepelizyna. + +„Jegoruschka, bring ihn zurück!“ schrie die Generalin mit Verzweiflung +in der Stimme, und sie stürzte wie eine Wahnsinnige zur Tür. Doch sie +wurde von ihrer Suite zurückgehalten: die ganze Weiberbande umringte +sie, weinte, tröstete, kreischte und schrie. Sodom war einst sicherlich +nichts dagegen! + +„Nur im leichten Rock ist er gegangen! Wenn er doch wenigstens sein +Mäntelchen mitgenommen hätte!“ jammerte die Perepelizyna. „Und einen +Regenschirm hat er auch nicht! Der Blitz wird ihn erschlagen! ...“ + +„Unbedingt!“ stimmte Herr Bachtschejeff bei. „Und der Regen wird ihn +dann auch noch durchnässen!“ + +„Schweigen Sie doch!“ flüsterte ich ihm ungehalten zu. + +„Ja, aber ist er denn kein Mensch?“ fragte mich der Dicke aufgebracht. +„Er ist doch kein Hund. Du würdest jetzt auch nicht hinausgehen. Oder +geh, versuch’s doch, nimm ein Bad, bloß zum Vergnügen!“ + +Da ich die drohende Gefahr erkannte, ging ich zu meinem Onkel, der wie +erstarrt in seinem Lehnstuhl saß. + +„Onkel,“ sagte ich, mich zu seinem Ohr beugend, „werden Sie denn +wirklich einwilligen, Foma Fomitsch zurückzurufen? Begreifen Sie denn +nicht, daß es die größte Charakterlosigkeit wäre und eine Schändlichkeit +von Ihrer Seite, wenigstens so lange wie Nastassja Jewgrafowna hier ist +...“ + +„Freund,“ sagte mein Onkel, indem er den Kopf erhob und mir mit +entschlossenem Blick in die Augen sah, „ich habe hier über mich selbst +Gericht gehalten, und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Beunruhige dich +nicht, ihr soll keine Kränkung widerfahren – ich werde es so einrichten +...“ + +Er erhob sich und trat zur Mutter. + +„Mama!“ sagte er, „beruhigen Sie sich: ich werde Foma Fomitsch +zurückbringen, ich werde ihm nachfahren, ihn einholen; er kann noch +nicht weit sein. Aber eines schwöre ich: nur unter der Bedingung wird er +zurückkehren, daß er hier im Kreise aller Zeugen der Beleidigung seine +Schuld eingesteht und dieses ehrenwerteste Mädchen feierlich um +Verzeihung bittet. Das werde ich durchsetzen! Ich werde ihn dazu +zwingen! Anderenfalls wird er nie die Schwelle meines Hauses +überschreiten! Auch schwöre ich Ihnen feierlich, Mutter: wenn er es +freiwillig tut, so bin ich bereit, ihn auch meinerseits um +Entschuldigung zu bitten, und ich werde ihm alles hingeben, alles, was +ich nur geben kann, ohne meine Kinder zu berauben! Ich selbst aber werde +mich von allem zurückziehen. Der Stern meines Glückes ist untergegangen +... Ich verlasse Stepantschikowo. Dann könnt ihr hier alle ruhig und +glücklich leben. Ich werde wieder in mein Regiment eintreten und auf dem +Schlachtfelde, im Kaukasus oder in Asien mein Leben beschließen ... Doch +wozu soviel Worte! Ich fahre!“ + +Da tat sich die Tür auf, und Gawrila erschien, triefend und bis zur +Unkenntlichkeit beschmutzt, vor der sprachlosen Versammlung. + +„Was fehlt dir? Woher kommst du? Wo ist Foma?“ fragte erschrocken mein +Onkel, der ihn als erster erblickte. + +Aller Augen wandten sich zur Tür, alle stürzten zu Gawrila und umringten +mit geradezu gieriger Neugier den alten Diener, von dessen Kleidern das +schmutzige Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Ausrufe, Schreie, +Gekreisch begleiteten jedes Wort Gawrilas. + +„Foma Fomitsch sind beim Birkenwäldchen geblieben, anderthalb Werst von +hier,“ begann er mit weinerlicher Stimme. „Das Pferd erschrak vor einem +Blitz und lief in den Graben ...“ + +„Und? ...“ rief mein Onkel aus. + +„Der Wagen fiel um ...“ + +„Und ... und Foma?“ + +„Geruhten, in den Graben zu fallen ...“ + +„Aber so erzähl doch, Mensch!“ + +„Sie geruhten sich die Seite zu beschädigen und hierauf begannen sie zu +weinen. Da schirrte ich das Pferd aus und kam reitend her, um zu melden +...“ + +„Und Foma blieb dort liegen?“ + +„Sie erhoben sich und gingen mit dem Stöckchen weiter,“ schloß Gawrila, +seufzte hierauf und senkte den Kopf. + +Das Weinen und Schluchzen der Damen war unbeschreiblich. + +„Sofort den Polkan!“ befahl der Oberst und stürzte aus dem Zimmer. Das +Pferd wurde im Augenblick vorgeführt. Mein Onkel schwang sich, wie es +nur ein Husar fertigbringt, auf das ungesattelte Pferd und sprengte +davon – ohne Mütze, so wie er war. Der verhallende Hufschlag zeigte uns +die Richtung an, in der er ritt. + +Die Damen eilten zu den Fenstern. Zwischen Gestöhn und Wehklagen wurden +weise Ratschläge erteilt. Es wurde von den Vorzügen eines heißen Bades +gesprochen und von denen einer Einreibung mit Spiritus. Ferner sprach +man von mildem Brusttee und davon, daß Foma seit dem frühen Morgen noch +keinen Bissen zu sich genommen habe und folglich noch nüchtern sei. Die +Perepelizyna fand seine vergessene Brille im Futteral, und dieser Fund +machte einen ungewöhnlichen Eindruck: die Generalin stieß einen Schrei +aus, entriß der Finderin das Andenken, um dann nach neuen Tränenströmen +und ohne das Ding aus der Hand zu legen, wieder ans Fenster zu eilen und +hinauszuspähen, ob der Entschwundene nicht schon zurückkehrte. Die +Erwartung erreichte schließlich den höchsten Grad der Spannung ... In +einer anderen Ecke versuchte Ssaschenjka Nastjä zu trösten: beide hatten +sich eng umschlungen und weinten still. Nastenjka hielt Iljuschas +Händchen umklammert und küßte zum Abschied immer wieder ihren kleinen +Schüler. Iljuscha weinte mit offenem Mäulchen, ohne zu wissen, weshalb. +Jeshowikin und Misintschikoff redeten etwas abseits sehr eifrig +miteinander. Mir schien, daß Bachtschejeff beim Anblick der weinenden +Damen gleichfalls den Tränen beängstigend nahe war. Ich trat an ihn +heran. + +„Nein, mein Lieber,“ sagte er, „Foma Fomitsch hätte sich vielleicht auch +ohnedem von hier fortgemacht, nur war der rechte Augenblick offenbar +noch nicht gekommen: noch hatte man ihm keine Ochsen mit goldenen +Hörnern vor seine Equipage geschirrt! Keine Sorge, mein Lieber, der wird +noch die Besitzer aus dem Hause jagen und selber hier bleiben!“ + +Das Gewitter war nämlich schon weitergezogen, weshalb Herr Bachtschejeff +seine Meinung inzwischen geändert hatte. + +Plötzlich erhob sich ein Geschrei: „Sie kommen, sie kommen! Sie bringen +ihn!“ Und die Damen eilten mit Gekreisch zur Tür. Es waren kaum zehn +Minuten nach dem Aufbruch meines Onkels vergangen. Aber wie war es denn +möglich gewesen, Foma Fomitsch so schnell einzuholen? Das Rätsel sollte +später sehr einfach gelöst werden: Foma war allerdings, nachdem er +Gawrila zurückgeschickt hatte, mit seinem „Stöckchen“ weitergegangen. +Als er sich dann aber so verlassen in der Einsamkeit bei Sturm, Donner, +Blitz und Regen gesehen hatte, da hatte ihn der Mut gar schmählich im +Stich gelassen, und er war unverzüglich Gawrila nachgelaufen. Jedenfalls +hatte mein Onkel ihn schon in nächster Nähe des Gutshofes angetroffen. +Sofort war ein Mann, der gerade vorüberfuhr, angerufen worden, und mit +Hilfe von ein paar Bauern hatte man den ganz zahm gewordenen Foma in den +Wagen gehoben. Und so wurde er denn glücklich in die offenen Arme der +Generalin zurückgeführt, die fast den Verstand – ihren letzten – verlor, +als sie sah, in welchem Zustande ihr Abgott sich befand. Er war nämlich +noch bedeutend nasser und schmutziger als Gawrila. Ein entsetzliches +Durcheinander war die erste Folge: die einen wollten ihn sogleich ins +Schlafzimmer schaffen, damit er die Wäsche wechsele, die anderen +sprachen von Holundertee und ähnlichen Stärkungsmitteln. Alles lief hin +und her. Die Kopflosigkeit war allgemein. Alle sprachen zu gleicher +Zeit, so daß man kein Wort verstehen konnte ... Doch Foma schien nichts +zu sehen und nichts zu hören. Er wurde unter den Armen gestützt und +langsam zu seinem Philosophenstuhl geführt, in den er sich erschöpft +niedersinken ließ, um sogleich die Augen zu schließen. Jemand schrie, +daß Foma Fomitsch sterbe. Darauf erhob sich ein entsetzliches Geheul. Am +lautesten aber von allen heulte Falalei, der sich krampfhaft bemühte, +durch die Mauer der Damen zu Foma vorzudringen, um ihm, wie er sagte, +„die Händchen zu küssen“. + + + + + XVII. + + Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks. + + +„Wohin hat man mich gebracht?“ fragte Foma endlich mit der Stimme eines +Sterbenden – eines für die Wahrheit den Märtyrertod Sterbenden. + +„Verd...!“ fluchte Misintschikoff halblaut neben mir, „als ob er nicht +sähe, wo er ist! Jetzt wird er uns wieder Theater vorspielen!“ + +„Du bist bei uns, Foma, du bist im Kreise deiner Freunde!“ rief ihm mein +Onkel zu. „Faß dich, beruhige dich! Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn +du jetzt deine Kleider wechseln wolltest, Foma, so kannst du dich noch +erkälten ... Und willst du dich nicht etwas stärken – was meinst du? So, +weißt du ... ein Gläschen, um dich zu erwärmen.“ + +„Malaga ... würde ich vielleicht trinken,“ stöhnte Foma und schloß +wieder die Augen. + +„Malaga? Ich weiß nicht, ob wir den gerade vorrätig haben ...“ sagte +mein Onkel, mit unruhigem Blick sich nach Praskowja Iljinitschna +umsehend. + +„Aber natürlich doch!“ Praskowja Iljinitschna schien ordentlich gekränkt +zu sein. „Ganze vier Flaschen haben wir noch!“ Und schlüsselklirrend +eilte sie nach dem Wein, begleitet vom Geschrei aller Damen, die ihren +Foma, ungefähr wie Fliegen einen Honigteller, belagerten. Dafür geriet +freilich Herr Bachtschejeff so ziemlich in das letzte Stadium des +Unwillens. + +„Malaga! Malaga will er!“ fauchte er. „Na natürlich! Es muß doch +unbedingt ein Wein sein, den sonst kein Mensch trinkt! Wer trinkt denn +jetzt noch Malaga, außer vielleicht so ’m Schuft wie er! Pfui! ... Pfui! +... Aber was stehe _ich_ denn hier? Was habe _ich_ denn hier zu suchen? +Worauf warte _ich_ denn noch?“ + +„Foma,“ hub mein Onkel an, verwirrte sich aber bei jedem Satz, „jetzt +wäre es ... wenn du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen ... Ich +meine, ich will nur sagen, Foma, wie du vorhin, nachdem du das +unschuldige Mädchen beleidigt hattest ...“ + +„Wo, wo ist sie, meine Unschuld?“ griff Foma sofort das Wort auf, als +phantasiere er im Fieber. „Wo sind die goldenen Tage meiner Unschuld? Wo +bist du, meine goldene Kindheit, als ich noch schuldlos und schön über +die Wiesen dem ersten Frühlingsschmetterling nachlief? Wo, wo ist diese +Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder zurück ...“ + +Und Foma wandte sich mit ausgestreckten Armen der Reihe nach an alle +Anwesenden, als hätte jemand von uns seine Unschuld in der Tasche +gehabt. Bachtschejeff schien platzen zu wollen vor Wut. + +„Hört doch, was der Mensch will!“ fauchte er empört. „Gebt ihm seine +Unschuld wieder! Will er sie etwa abküssen? Vielleicht war er auch als +Knabe schon so ein Räuber, wie jetzt! Könnte schwören, daß er’s war!“ + +„Foma!“ ... hub mein Onkel wieder an. + +„Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und den +Menschen liebte?“ phantasierte Foma, „als ich den Nächsten umarmte und +an seiner Brust Tränen vergoß? Jetzt aber – wo bin ich? Wo bin ich?“ + +„Du bist bei uns, Foma, beruhige dich!“ rief ihm mein Onkel zu. „Ich +aber will dir jetzt folgendes sagen, Foma ...“ + +„Wenn Sie doch jetzt wenigstens schweigen wollten!“ keuchte haßerfüllt +die Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen meinen Onkel böse +anblitzten. + +„Wo bin ich?“ fuhr Foma fort, „wer umgibt mich hier? Das sind ja Büffel +und Stiere, die ihre Hörner gegen mich senken! Leben, was bist du? Ach, +lebe, lebe, sei entehrt, geschmäht, gegeißelt, geschlagen, und wenn dann +dein Grab zugeschüttet ist, dann erst kommen die Menschen zur Besinnung, +und deine armen Knochen werden von einem Monument zerdrückt!“ + +„Himmlischer Vater, jetzt kommt er noch auf sein Monument zu sprechen!“ +flüsterte Jeshowikin und schlug die Hände zusammen. + +„Oh, errichtet mir kein Monument!“ phantasierte Foma ohne Unterlaß +weiter, „errichtet mir keines! Ich brauche keine Monumente! Errichtet +mir in Eurem Herzen Monumente ... das ist alles ... sonst aber verlange +ich nichts, nichts, nichts!“ + +„Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, „so hör doch jetzt auf! Beruhige +dich! Es ist kein Grund vorhanden, von Monumenten zu reden. Hör mich +jetzt an ... Sieh, Foma, ich begreife, daß du vielleicht ... sagen wir, +in edlem Feuer branntest, als du mir vorhin ... diese Vorwürfe machtest; +aber du ließest dich zu weit fortreißen, Foma, du überschrittest jede +Grenze – ich versichere dich, du hast dich geirrt, Foma ...“ + +„Werden Sie denn nicht endlich aufhören!“ schrie wieder die +Perepelizyna, „wollen Sie denn den Unglücklichen ganz und gar töten, +bloß weil er jetzt in Ihren Händen ist? ...“ + +Nach dem Beispiel der Perepelizyna fuhr auch die Generalin sofort auf, +und mit ihr das ganze Gefolge: alle winkten sie meinem Onkel wie +besessen mit den Händen zu, damit er nur endlich schweige. + +„Anna Nilowna, halten Sie gefälligst selbst den Mund; ich weiß, was ich +sage!“ fuhr mein Onkel mit entschlossener Stimme fort. „Es handelt sich +um eine heilige Sache der Ehre und Gerechtigkeit ... Foma, ich weiß, du +bist vernünftig. Du mußt unverzüglich das edelste Mädchen, das du +beleidigt hast, um Verzeihung bitten.“ + +„Welches Mädchen? Welches Mädchen habe ich beleidigt?“ fragte Foma und +sah sich mit verständnislosem Blick im Kreise um, als hätte er alles +vergessen, was geschehen war, und als begreife er nicht, wovon man +sprach. + +„Ja, Foma, und wenn du jetzt freiwillig deine Schuld eingestehst, so +werde ich, das schwöre ich, dir hier meinetwegen zu Füßen fallen und +...“ + +„Aber wen habe ich denn beleidigt?“ rief Foma leidenschaftlich. „Welches +Mädchen? Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Erinnert mich +doch, helft mir, sagt mir doch nur mit einem Wort, wer dieses Mädchen +ist! ...“ + +Da trat Nastenjka verwirrt und geängstigt zu meinem Onkel und berührte +ihn zaghaft am Ärmel. + +„Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn, es ist nicht nötig, daß er sich +entschuldigt! Wozu das alles?“ sagte sie mit bittender, gequälter +Stimme. „Lassen Sie doch!“ + +„Ah! Jetzt besinne ich mich!“ rief plötzlich Foma aus. „Gott! Ich +besinne mich! Oh, helft mir, helft mir, mich zu erinnern!“ flehte er, +scheinbar in unbeschreiblicher Aufregung. „Sagt mir, ist es wahr, daß +man mich von hier wie den räudigsten aller Hunde hinausgejagt hat? Ist +es wahr, daß ich vom Blitz getroffen wurde? Ist es wahr, daß ich von +hier auf die Treppe hinausgeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das +alles wahr?“ + +Das Weinen und Gejammer der Damen war eine beredte Antwort auf seine +Frage. + +„Richtig, richtig!“ fuhr er fort, „ich entsinne mich jetzt, daß ich nach +dem Blitz und nach meinem Sturz hergelaufen kam, verfolgt vom Donner, um +hier meine Pflicht zu erfüllen und um dann auf ewig zu verschwinden! +Erhebt mich! Wie erschöpft ich jetzt auch bin, ich muß sie erfüllen – +meine letzte Pflicht!“ + +Man faßte ihn stützend unter die Arme und hob ihn aus dem Ruhestuhl. Er +selbst nahm hierauf die Pose eines klassischen Redners an und streckte +beschwörend seine Hand aus. + +„Oberst!“ begann er, „jetzt bin ich wieder erwacht! Der Donner hat meine +geistigen Kräfte nicht gänzlich vernichtet: es ist zwar noch eine +gewisse Taubheit in meinem rechten Ohr vorhanden, aber die ist +vielleicht nicht so sehr auf den Donner als auf den Sturz von der Treppe +zurückzuführen ... Doch was hat das zu sagen! Und wen geht hier das +rechte Ohr Foma Opiskins etwas an!“ + +Den letzten Worten verlieh Foma so viel traurige Ironie und begleitete +sie mit einem so wehmütigen Lächeln, daß das Gestöhn der gerührten Damen +unwillkürlich von neuem ertönte. Alle sahen sie mit bitterem Vorwurf, +einige aber mit wahrem Haß auf meinen armen Onkel, der sich allmählich, +beim Anblick eines so einmütigen Urteils, wie vernichtet zu fühlen +begann. Misintschikoff spie heimlich aus vor Wut und trat ans Fenster. +Bachtschejeff versetzte mir immer stärker werdende Rippenstöße: er +konnte sich wirklich nicht mehr ruhig verhalten, der arme Dicke! + +„Jetzt hören Sie alle meine Beichte!“ hub Foma mit erhöhter Stimme an +und ließ stolz und entschlossen seinen Blick über die ganze Versammlung +schweifen, „und gleichzeitig entscheiden Sie, Jegor Iljitsch, über das +Schicksal des unglücklichen Foma Opiskin! Schon lange habe ich Sie +beobachtet, habe ich Sie bangen Herzens beobachtet und alles bemerkt, +alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. +Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt, aber ich kannte Ihren Egoismus, +Ihre unbegrenzte Eigenliebe, Ihre schreckliche Wollüstigkeit, und – wer +wird mich deshalb verdammen können, daß ich unwillkürlich für die Ehre +des unschuldigsten Wesens erzitterte?“ + +„Foma! ... Foma! ...“ fiel ihm mein Onkel ins Wort, da er mit Unruhe den +gequälten Ausdruck in Nastenjkas Gesicht gewahrte. + +„Nicht so sehr die Unschuld und die Vertrauenswürdigkeit dieses Mädchens +ängstigten mich als gerade ihre Unerfahrenheit,“ fuhr Foma fort, als +hätte er die Warnung meines Onkels überhaupt nicht gehört. „Ich sah, wie +ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen erwachte und erblühte, gleich der +Frühlingsrose, und ich dachte unwillkürlich an Petrarca, der da sagt: +‚Die Unschuld ist so oft nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt.‘ +Ich seufzte und litt, und wenn ich auch für dieses Mädchen, das rein wie +eine Perle, wie ein kostbarer Edelstein ist, mein ganzes Blut als +Bürgschaft hingegeben hätte – wer aber hätte mir für Sie gebürgt, Jegor +Iljitsch? Da ich das zügellose Streben Ihrer Leidenschaften kannte, da +ich wußte, daß Sie für deren kurze Befriedigung alles zu opfern bereit +sind, – so versenkte ich mich plötzlich in einen Abgrund des Entsetzens +und der Befürchtungen bezüglich des Schicksals dieses edelsten aller +Mädchen ...“ + +„Foma! Wie hast du das nur denken können!“ rief mein Onkel erregt aus. + +„Mit schmerzendem Herzen habe ich Sie beobachtet. Wenn Sie wissen +wollen, wie ich gelitten habe, fragen Sie Shakespeare: er wird Ihnen in +seinem ‚Hamlet‘ von meinem Seelenzustande erzählen. Ich wurde +argwöhnisch und unerträglich. In meiner Unruhe, in meinem Unwillen sah +ich alles schwarz, aber, das war nicht dieses ‚Schwarz‘, von dem in der +bekannten Romanze die Rede ist, das können Sie mir glauben. Deshalb +hegte ich auch den Wunsch, _sie_ aus diesem Hause zu entfernen: ich +wollte sie retten. Dies war der eigentliche Grund, weshalb Sie mich in +der letzten Zeit so gereizt und mit der ganzen Menschheit zerfallen +gesehen haben. Oh! wer wird mich jetzt mit dieser Menschheit wieder +aussöhnen? Ich fühle, daß ich vielleicht anmaßend und ungerecht zu Ihren +Gästen, zu Ihrem Neffen, zu Herrn Bachtschejeff gewesen bin, indem ich +von ihm Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mich wegen +meines damaligen Seelenzustandes tadeln? Ich berufe mich nochmals auf +Shakespeare und sage, daß die Zukunft mir wie ein finsterer Abgrund von +unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grunde ein Krokodil lag. Ich +fühlte, daß es meine Pflicht war, das Unglück zu verhüten, daß ich dazu +berufen, daß ich dazu gesandt war, – doch was geschah? Sie begriffen die +edelsten Beweggründe meiner Seele nicht und zahlten mir in dieser ganzen +Zeit mit Bosheit, Undankbarkeit, Spott, Erniedrigungen ...“ + +„Foma! Wenn es so ist ... ich fühle ...“ unterbrach ihn mein Onkel in +unsäglicher Erregung. + +„Wenn Sie tatsächlich etwas fühlen, Oberst, so seien Sie so gut und +lassen Sie mich zu Ende sprechen, ohne mich zu unterbrechen. Ich fahre +fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich gar zu +sehr um das Schicksal und das Glück dieses Kindes sorgte, – denn sie ist +ja noch ein Kind im Vergleich zu Ihnen. Die höchste Liebe zur Menschheit +machte mich in dieser Zeit fast zu einem Dämon des Argwohns und Zornes. +Ich wäre fähig gewesen, mich auf die Menschen zu stürzen und sie zu +zerreißen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß ein jeder Ihrer +Schritte meinen Argwohn noch bestärkte und mich von der Richtigkeit +aller meiner Befürchtungen überzeugte? Wissen Sie auch, daß ich gestern, +als Sie mich mit Ihrem Golde überschütteten, um mich auf diese Weise los +zu werden, bei mir im stillen dachte: ‚Er will in mir, in meiner Person +sein eigenes Gewissen entfernen, um dann bequemer das Verbrechen begehen +zu können ...‘“ + +„Foma! Aber Foma ... Hast du das wirklich gestern gedacht?“ rief mein +Onkel entsetzt aus. „Gott, und ich habe nichts geahnt!“ + +„Der Himmel selber flößte mir diesen Argwohn ein,“ fuhr Foma fort. „Und +sagen Sie doch: was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich noch am +selben Abend zu jener Bank im Garten führte, was mußte ich fühlen, – o +Gott! – als ich endlich mit eigenen Augen sah, daß alle meine +Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiteten und mir in der glänzendsten +Weise recht gaben? Mir blieb nur noch eine Hoffnung, eine schwache, +allerdings, aber es war doch immerhin eine Hoffnung! Und was mußte ich +erleben?! Heute morgen zerstörten Sie sie selbst zu Schutt und Trümmer! +Sie sandten mir Ihren Brief. Sie sprachen von der Absicht, sie zu +heiraten, und Sie flehten mich an, von dem Gesehenen nichts verlauten zu +lassen ... ‚Aber weshalb,‘ dachte ich, ‚weshalb hat er mir denn gerade +jetzt geschrieben, nachdem ich ihn bereits überrascht habe, warum nicht +früher? Weshalb ist er nicht früher eilends zu mir gekommen, glücklich +und schön – denn die Liebe verschönt das Gesicht –, weshalb hat er sich +nicht in meine Arme geworfen, warum ist er nicht an meiner Brust in +Tränen grenzenlosen Glücks ausgebrochen, und weshalb hat er mir nicht +alles, alles gestanden?‘ Oder bin ich ein Krokodil, das Sie nur +verschlungen, nicht aber Ihnen einen klugen Rat gegeben haben würde? +Oder bin ich irgendein widerliches Insekt, das Sie nur gebissen, nicht +aber Ihnen zu Ihrem Glück verholfen haben würde? ‚Bin ich sein Freund, +oder bin ich ein ekelhaftes Gewürm?‘ Das war die Frage, die ich heute +morgen an mich stellte! ‚Und wozu schließlich,‘ dachte ich, ‚wozu hat er +aus der Hauptstadt einen Neffen hergerufen und mit diesem Mädchen +verlobt, wenn nicht, um sowohl uns wie den leichtsinnigen Neffen zu +betrügen und inzwischen heimlich die verbrecherischste aller Absichten +auszuführen?‘ Nein, Oberst, wenn jemand mich in dem Gedanken bestärkt +hat, daß Ihre Liebe verbrecherisch ist, so sind Sie es selbst, und nur +Sie allein! Ja, Sie sind auch vor diesem Mädchen ein Verbrecher; denn +durch Ihre Ungeschicklichkeit und Ihr eigensüchtiges Mißtrauen haben Sie +sie der Verleumdung und häßlichem Argwohn preisgegeben!“ + +Mein Onkel schwieg, den Kopf gesenkt. Die Beredsamkeit Fomas behielt +offenbar die Oberhand; denn mein Onkel wagte nichts mehr zu entgegnen +und gab damit eigentlich schon zu, daß er der „große Verbrecher“ sei. +Die Generalin und ihre Freundinnen hatten stumm und andächtig Fomas Rede +angehört; die Perepelizyna blickte mit schadenfrohem Triumph auf die +arme Nastenjka. + +„Bestürzt, erregt, halbtot,“ fuhr Foma fort, „schloß ich mich heute ein +und betete, daß Gott mich erleuchte! Endlich beschloß ich, Sie zum +letzten Male und öffentlich zu prüfen. Vielleicht habe ich mich mit gar +zu großem Eifer darangemacht, vielleicht habe ich mich gar zu sehr +meinem Unwillen hingegeben! Doch für meine edelsten Absichten warfen Sie +mich zur Tür hinaus! Noch als ich aus der Türe flog, dachte ich bei mir: +‚Sieh, so wird in der Welt die Tugend belohnt!‘ Hieran schlug ich auf +die Erde, und was weiter mit mir geschah – dessen entsinne ich mich kaum +noch.“ + +Gestöhn und Wehklagen unterbrachen Foma bei dieser tragischen +Erinnerung. Die Generalin stürzte mit der Flasche Malaga, die sie vor +einer Minute der zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand +gerissen hatte, zu Foma; dieser jedoch wies mit majestätischer +Handbewegung die Flasche samt der Generalin zurück. + +„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß beenden. – Was nach meinem Sturz +geschah – ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, daß ich jetzt, +durchnäßt und der Gefahr einer Influenza ausgesetzt, hier stehe, um Ihr +beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich +jetzt nicht weiter erklären will, habe ich schließlich die Überzeugung +gewonnen, daß Ihre Liebe rein und sogar erhaben ist. Und wenn auch +gleichzeitig von einem geradezu verbrecherischen Mißtrauen gemartert, +erniedrigt, der Beleidigung eines ehrenhaften Mädchens verdächtigt, +desselben Mädchens, für das ich wie ein mittelalterlicher Ritter mein +Blut bis auf den letzten Tropfen hingegeben hätte, entschließe ich mich +nunmehr, Ihnen zu zeigen, wie Foma Opiskin sich für ihm zugefügte +Beleidigungen rächt. Geben Sie mir Ihre Hand, Oberst!“ + +„Mit Vergnügen, Foma!“ rief mein Onkel aus. „Und da du dich jetzt +deutlich über die Ehre des ehrenwertesten Mädchens ausgesprochen hast, +so ... hier ist meine Hand, Foma, und gleichzeitig gestehe ich dir meine +aufrichtige Reue ...“ + +Und mein Onkel reichte ihm von ganzem Herzen die Hand, ohne zu ahnen, +was daraus entstehen sollte. + +„Geben Sie mir auch Ihre Hand,“ fuhr Foma mit milder Stimme fort, indem +er sich durch den Kreis der ihn umgebenden Damen an Nastenjka wandte. + +Nastenjka erschrak, verwirrte sich und blickte schüchtern zu Foma +hinüber. + +„Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Kind! Das ist unbedingt notwendig +zu Ihrem Glück,“ fuhr Foma freundlich fort, während er immer noch die +Hand meines Onkels in der seinen hielt. + +„Was mag er wollen?“ fragte Misintschikoff leise. + +Nastjä näherte sich schließlich, noch immer erschrocken und ängstlich, +Foma Fomitsch und reichte ihm zaghaft ihr Händchen. + +Foma nahm dieses Händchen und legte es in die Hand meines Onkels. + +„_Ich vereinige und segne euch!_“ sagte er mit der feierlichsten Stimme. +„Und wenn der Segen eines vom Leid erdrückten Märtyrers euch Nutzen +bringen kann, so seid glücklich! Nun seht ihr, wie sich Foma Opiskin +rächt! Hurra!“ + +Wir waren sprachlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß niemand sie +verstand. Die Generalin glich einer Salzsäule mit einer Flasche Malaga +in der Hand. Die Perepelizyna erbleichte und erzitterte vor Wut. Das +übrige Gefolge schlug die Hände über dem Kopf zusammen und erstarrte in +dieser Stellung. Mein Onkel fuhr zusammen und wollte etwas sagen, +brachte aber kein Wort hervor. Nastjä war blaß wie eine Tote und +stammelte zwar ein „aber das geht doch nicht ...“ – aber jetzt war es zu +spät. Bachtschejeff war der erste – man muß ihm Gerechtigkeit +widerfahren lassen –, der in Fomas Hurra einstimmte, nach ihm ich, nach +mir Ssaschenjka mit allem Jubel ihrer hellen Kinderstimme. Zugleich +eilte sie zum Vater und umarmte und küßte ihn –, dann Iljuscha, dann +Jeshowikin, und zum Schluß auch Misintschikoff. + +„Hurra!“ schrie noch einmal Foma, „hurra! Und jetzt auf die Knie, meine +Herzenskinder, auf die Knie vor der zärtlichsten der Mütter! Bittet um +ihren Segen, und wenn es nötig ist, werde ich selbst mit euch vor ihr +niederknien ...“ + +Mein Onkel und Nastjä, die einander noch nicht angesehen hatten und im +ersten Schreck wahrscheinlich noch gar nicht begriffen, was mit ihnen +geschah, knieten sogleich vor der Generalin nieder: die übrigen +gruppierten sich um sie herum. Die Generalin stand wie betäubt, rührte +sich nicht und schien nicht begreifen zu können, was sie tun sollte. +Doch da half Foma: er kniete in eigener Person vor seiner Gönnerin +nieder, was diese im Augenblick zur Besinnung brachte. Sie brach in +Tränen aus und sagte, daß sie einverstanden sei. Der Oberst sprang auf +und preßte Foma an seine Brust. + +„Foma! ... Foma!“ rief er aus, doch seine Stimme versagte. + +„Champagner!“ rief Herr Bachtschejeff. „Hurra!“ + +„Nein, nicht Champagner,“ unterbrach ihn die Perepelizyna, die +inzwischen schon Zeit gehabt hatte, sich zu besinnen, sich die Sachlage +zu überlegen und gleichzeitig auch die Folgen zu berechnen, – „jetzt muß +man Gott ein Licht anzünden, vor dem Heiligenbilde beten und mit dem +Heiligenbilde das Brautpaar segnen, wie alle Gottesfürchtigen es tun +...“ + +Sofort beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zu befolgen. Alles lief +kreuz und quer. Zuerst mußte das Licht angezündet werden. Herr +Bachtschejeff zog einen Stuhl herbei, stellte ihn vor das Heiligenbild +und kletterte höchst eigen hinauf, um das Licht einzusetzen. Der Stuhl +jedoch war nicht für eine solche Last gedacht: er krachte in allen +Fugen, und Herr Bachtschejeff rettete nur mit Mühe und Not sein +Gleichgewicht. Doch ohne sich im geringsten über seinen Mißerfolg zu +ärgern, trat er den Platz sofort höflich der Perepelizyna ab. Die dünne +Jungfer erledigte die Sache denn auch im Augenblick: das Licht brannte. +Und wie die Perepelizyna, so bekreuzte sich und verneigte sich das ganze +Gefolge bis zur Erde. Hierauf wurde das Heiligenbild der Generalin +gereicht. Der Oberst und Nastenjka knieten nochmals vor ihr nieder, und +die Zeremonie vollzog sich unter gottesfürchtigen Vorhaltungen der +Perepelizyna, die zu jedem ihrer Worte Unterweisungen hinzufügte: „Knien +Sie jetzt nieder, küssen Sie jetzt das Heiligenbild, küssen Sie der +Mutter die Hand!“ Nach den Verlobten hielt es auch Herr Bachtschejeff +für seine Pflicht, das Heiligenbild zu küssen, worauf er die Hand der +Generalin an die Lippen führte. Er befand sich mit einem Male in +unbeschreiblicher Begeisterung. + +„Hurra!“ schrie er immer von neuem. „Aber jetzt Champagner!“ + +Übrigens waren alle begeistert. Die Generalin weinte, doch waren es +diesmal Tränen der Freude: die Verbindung, die Foma gesegnet hatte, +wurde in ihren Augen ohne weiteres sowohl heilig wie auch möglich, und +vor allen Dingen fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich ausgezeichnet hatte +und jetzt ganz sicher wieder bei ihr bleiben werde. Auch ihr Gefolge +teilte – wenigstens äußerlich – die allgemeine Begeisterung. Mein Onkel +ging bald zu seiner Mutter, um ihre Hände zu küssen; bald umarmte er +mich, Bachtschejeff, Misintschikoff und Jeshowikin. Seinen Iljuscha +hätte er um ein Haar erdrückt in seinen Armen. Ssaschenjka hing sich an +Nastenjka und küßte sie unaufhörlich. Praskowja Iljinitschna weinte +still. Als Herr Bachtschejeff das bemerkte, ging er zu ihr hin und küßte +ihr die Hand. Der alte Jeshowikin wischte sich, in die entfernteste Ecke +zurückgezogen, mit einem Zipfel seines karierten Schnupftuches +gleichfalls Tränen aus den Augen. In der anderen Ecke schluchzte Gawrila +und sah andächtig zu Foma Fomitsch auf. Falalei aber brüllte +herzbrechend vor lauter Rührung, trat zu jedem Anwesenden und küßte ihm +die Hand. Alle flossen über vor lauter Gefühl. Niemand vermochte zu +sprechen. Niemand dachte an Erklärungen. Es schien alles schon gesagt zu +sein. Nur freudige Ausrufe wurden laut. Im Grunde begriff zwar noch +keiner so recht, was und wie es eigentlich geschehen war. Man wußte nur +das eine: daß Foma Fomitsch alles getan und geordnet hatte, und daß eine +unwiderrufliche Tatsache vor einem stand. + +Noch waren keine fünf Minuten des allgemeinen Glücks vergangen, als +plötzlich auch Tatjana Iwanowna erschien. Durch wen, durch welchen +Spürsinn mochte sie oben in ihrem Zimmer Kunde von der Verlobung +erhalten haben? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen +und in bezaubernd eleganter Toilette – sie hatte inzwischen doch Zeit +und Lust dazu gehabt, sich umzukleiden – erschien sie in der Tür und +flatterte wie eine Schwalbe zu Nastenjka, die sie krampfhaft in ihre +Arme schloß. + +„Nastenjka, Nastenjka! Du hast ihn geliebt, ich aber habe es nicht +einmal gewußt!“ rief sie aus. „O Gott! Sie haben sich geliebt, sie haben +heimlich gelitten, ohne daß jemand es gewußt hätte! Man hat sie +verfolgt! Welch ein Roman! Nastjä, mein Täubchen, sag mir die ganze +Wahrheit: liebst du denn wirklich diesen – Toren?“ + +Statt einer Antwort umarmte Nastjä sie und küßte sie auf den Mund. + +„O Gott, welch ein entzückender Roman!“ Tatjana Iwanowna klatschte in +die Hände vor Freude. Hör, Nastjä, hör, mein Engel: alle diese Männer, +alle bis auf den letzten sind sie undankbare Unmenschen, Ungeheuer und +unserer Liebe nicht wert. Er aber ist vielleicht noch der beste von +ihnen. „Komm her zu mir, du Tor!“ rief sie plötzlich meinem Onkel zu, +sich an ihn wendend, und sie erfaßte seine Hand, um ihn zu sich zu +ziehen. „Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben? +Sieh mich an: ich will dir in die Augen sehen, ich will sehen, ob diese +Augen lügen ... Nein, nein, sie lügen nicht – in ihnen leuchtet wahre +Liebe. Oh, wie glücklich ich bin! Nastenjka, meine Freundin, hör mich +an: du bist nicht reich – ich schenke dir dreißig Tausend. Nimm sie, um +Christi willen! – ich bitte dich! Ich brauche sie nicht, ich habe sie +nicht nötig! Es bleibt mir ja noch genug! Nein, nein, nein!“ wehrte sie +heftig, als sie sah, daß Nastjä das Geschenk nicht annehmen wollte. +„Schweigen Sie, Jegor Iljitsch, das geht Sie nichts an. Nein, Nastjä, +ich habe es so beschlossen – sie dir zu schenken. Ich wollte dir immer +schon ein Geschenk machen, aber ich wartete auf deine erste Liebe ... +Und nun werde ich euer Glück sehen und mich mitfreuen. Du wirst mich +kränken, wenn du es nicht annimmst, ich werde weinen, Nastjä ... Nein, +nein, nein und nein, du darfst mir die Bitte nicht abschlagen!“ + +Tatjana Iwanowna war so glücklich, daß man ihr – wenigstens in diesem +Augenblick – unmöglich ihre Bitte und ihr Geschenk abschlagen konnte: +sie hätte einem zu leid getan. So tat man es denn auch vorläufig nicht +... man schob es auf. Darauf fiel sie der alten Generalin um den Hals, +küßte sie, küßte die Perepelizyna – küßte alle. Bachtschejeff drängte +sich in der höflichsten Weise zu ihr durch und bat sie, ihr die Hand +küssen zu dürfen. + +„Du mein Mütterchen, mein Täubchen! Verzeih mir altem Dummkopf, was auf +der Rückfahrt geschah – ich kannte doch dein goldenes Herz noch nicht!“ + +„Ach, Sie Tor! Ich aber kenne Sie schon lange!“ sagte Tatjana Iwanowna +mit schelmischer Koketterie, schlug Stepan Alexejewitsch mit dem +Batisttüchelchen auf die Nase und flatterte wie eine Nixe davon, während +ihr prächtiges Kleid ihn streifte. + +Der Dicke trat ehrerbietig zurück. + +„Ein vortreffliches Mädchen!“ sagte er gerührt. „Aber dem Deutschen ist +ja die Nase wieder angeklebt worden!“ flüsterte er mir vertrauensvoll zu +und sah mir froh in die Augen. + +„Was für eine Nase? Welch einem Deutschen?“ fragte ich verständnislos. + +„Na, dem verschriebenen doch, der seiner Dame das Händchen küßt, während +diese sich eine Träne mit dem Schnupftuch aus dem Auge wischt. Mein +Jewdokim hat sie ihm noch gestern zu Haus angeleimt. Als wir aber vorhin +von der Jagd zurückkamen, schickte ich einen reitenden Boten ... Bald +wird er hier sein. Ein großartiges Ding, sag’ ich Ihnen!“ + +„Foma!“ rief mein Onkel in fassungsloser Begeisterung aus, „du bist der +Urheber meines Glücks! Womit kann ich es dir vergelten?“ + +„Mit nichts, Oberst,“ sagte Foma mit einer Asketenmiene. „_Fahren Sie +fort, mir keine Beachtung zu schenken_, und seien Sie glücklich ohne +Foma.“ + +Er fühlte sich offenbar verletzt – während des großen +Gefühlsüberschwanges schien man ihn, und wenn auch nur einen Augenblick, +beinahe vergessen zu haben. + +„Das war ja nur die übergroße Seligkeit, Foma!“ rief mein Onkel aus. +„Ich ... weiß kaum noch, wo ich bin, Freund! Höre, Foma: ich habe dich +beleidigt. Mein ganzes Leben, all mein Blut würde nicht ausreichen, um +diese Beleidigung wieder gutzumachen, und deshalb schweige ich lieber +und versuche gar nicht, meine Tat zu entschuldigen. Wenn du aber jemals +meines Kopfes, meines Lebens bedarfst, wenn jemand sich für dich in +einen Abgrund stürzen muß, so befiehl nur, und du wirst sehen ... Ich +sage nichts weiter, Foma!“ + +Und mein Onkel machte nur eine Handbewegung, da er die Unmöglichkeiten, +in Worten noch etwas hinzuzufügen, das seinen Gedanken stärker +ausdrücken könnte, vollkommen einsah. Dann blickte er Foma mit +dankbaren, feucht schimmernden Augen an. + +„Jetzt sieht man erst, was für ein Engel er ist!“ flötete honigsüß die +Perepelizyna – bereit, Foma anzubeten. + +„Ja, ja!“ stimmte ihr Ssaschenjka bei. „Ich wußte gar nicht, daß Sie ein +so guter Mensch sind, Foma Fomitsch – und ich war so ungezogen zu Ihnen. +Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und glauben Sie mir, daß ich Sie von +ganzem Herzen lieben werde. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie jetzt achte!“ + +„Foma!“ sagte Herr Bachtschejeff, „verzeih auch mir. Ich war dumm. Ich +kannte dich nicht, ich kannte dich wahrhaftig nicht! Du, Foma Fomitsch, +du bist nicht nur ein Gelehrter, sondern einfach – ein Held! Mein ganzes +Haus steht dir zur Verfügung. Komm nur. Am besten aber, weißt du, komm +gleich übermorgen zu mir; aber selbstverständlich lade ich auch die +Braut und den Bräutigam ein ... Jawohl! – das ganze Haus zu mir! Dann +wollen wir mal speisen – ich will nichts vorher loben, nur eines schicke +ich voraus: bloß Vogelmilch kann ich euch nicht vorsetzen! Darauf gebe +ich mein Wort!“ + +Währenddessen war Nastenjka zu Foma Fomitsch getreten und hatte ihn, +ohne viel zu reden, umarmt und herzlich geküßt. + +„Foma Fomitsch,“ sagte sie, „Sie sind unser Wohltäter, Sie haben so viel +für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich es Ihnen entgelten soll ... +Ich weiß nur, daß ich Ihnen die liebevollste und ehrerbietigste +Schwester sein will ...“ + +Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf die Stirn und war sehr +gerührt. + +„Meine Kinder, Kinder meines Herzens!“ sagte er. „Lebt, blüht, und in +den Stunden des Glücks gedenkt bisweilen auch des armen Ausgestoßenen! +Von mir aber sage ich, daß Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist. +Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein sonst leichtfertiger +Schriftsteller, der aber mitunter gute Gedanken hat. Ausgestoßen werden +– ist Unglück! Als unsteter Wanderer werde ich jetzt mit meinem +Wanderstabe des Weges ziehen und – wer weiß? – durch mein Unglück +vielleicht immer noch tugendreicher werden! Dieser Gedanke ist der +einzige mir noch verbliebene Trost!“ + +„Aber ... wohin willst du denn gehen, Foma?“ fragte mein Onkel +erschrocken. + +Alle zuckten zusammen und richteten ihre Blicke auf Foma. + +„Kann ich denn nach der mir zugefügten Kränkung noch in diesem Hause +bleiben, Oberst?“ fragte Foma mit ungeheurer Würde. + +Man ließ ihn nicht weitersprechen: ein wahrer Tumult erhob sich und +verschlang jedes gesprochene Wort. Er wurde wieder in seinen Sessel +gesetzt, wurde angefleht und beweint, und ich weiß nicht, was noch alles +mit ihm getan wurde. Natürlich hatte er diesmal ebensowenig die Absicht, +„dieses Haus“ zu verlassen, wie vor seinem Flug durch die Glastür oder +wie am Abend vorher oder wie damals, als er im Gemüsegarten alle Rüben +umgrub. Er wußte genau, daß man sich jetzt erst recht an ihn klammern +werde, – gerade jetzt, nachdem er alle glücklich gemacht hatte, alle von +neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und +sich das noch zur Ehre anzurechnen. Wahrscheinlich war es seine feige +Rückkehr – die sehr aus eigenem Antriebe geschehen war, als das Gewitter +ihn erschreckt hatte – die nun seinen Ehrgeiz anstachelte und ihn trieb, +den Helden zu spielen. In der Hauptsache aber war es natürlich die +Versuchung, einen erhabenen Menschen darzustellen, – die war denn doch +zu groß! Man konnte so schön reden, das eigene Unglück ausmalen, sich +selbst erheben und loben – wie sollte man da der Versuchung widerstehen? +Und so widerstand er ihr denn auch nicht: er wollte sich aus den Armen +der ihn Zurückhaltenden reißen, verlangte einen Wanderstab, bat sogar, +ihm seine Freiheit wiederzugeben, ihn seines Weges ziehen zu lassen: in +„diesem Hause“ sei er entehrt und geschlagen worden, er sei nur aus dem +Grunde zurückgekehrt, um erst noch das Glück der Zurückgebliebenen zu +schaffen – wie könne er „im Hause der Undankbarkeit“ bleiben? Wie könne +er „am selben Tische mit ihnen Kohl – wenn auch fettgekochten – zu essen +fortfahren“? Kohl, der „mit Schlägen gewürzt“ war? Endlich ließ er sich +besänftigen. Er wurde wieder in seinen Ruhestuhl gesetzt – doch seine +Beredsamkeit hatte, wie sich zeigte, auch jetzt noch nicht ihr Ende +erreicht. + +„Hat man mich denn hier nicht beleidigt?“ rief er aus. „Hat man mir hier +nicht die Zunge gezeigt? Haben denn nicht Sie, Sie selbst, Oberst, wie +die ungezogenen Kinder in den Vorstadtstraßen mir täglich, stündlich die +Faust gezeigt? Ja, Oberst! Ich bestehe auf diesem Vergleich, weil Sie +mir diese Faust, wenn auch nicht physisch, so doch moralisch gezeigt +haben. Eine moralische Faust ist aber in manchen Fällen sogar kränkender +als eine physische. Von den Schlägen ganz zu schweigen ...“ + +„Foma! ... Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Martere mich nicht mit +dieser Erinnerung! Ich habe dir gesagt, daß all mein Blut nicht genügen +würde, um die Tat vergessen zu machen. Sei doch großmütig! Vergiß, +vergib, bleibe hier und freue dich an unserem Glück! Es ist dein Werk, +Foma ...“ + +„... Ich will lieben, ich will den Menschen lieben,“ redete Foma +unaufhaltsam weiter; „man gibt ihn mir aber nicht, man verbietet mir, +ihn zu lieben, man nimmt ihn mir fort, den Menschen! Gebt mir, gebt mir +den Menschen, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat er +sich versteckt dieser Mensch? Wie Diogenes suche ich ihn mit der +Laterne, suche ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden ... +und kann doch keinen anderen lieben, bevor ich nicht diesen Menschen +gefunden habe. Wehe dem, der mich zum Menschenhasser gemacht hat! Da +rufe ich nun: Gebt mir den Menschen, auf daß ich ihn lieben kann, und +man schiebt mir Falalei zu! Werde ich denn einen Falalei jemals lieben +können? Will ich denn Falalei lieben? Kann ich denn Falalei überhaupt +lieben, selbst wenn ich es _wollte_? Nein!! Und warum nicht? Weil er +Falalei ist. Warum liebe ich nicht die ganze Menschheit? Weil alles, was +es auf der Welt gibt – Falalei ist oder Falalei ähnlich ist. Ich will +keinen Falalei, ich hasse Falalei, ich speie auf Falalei, ich werde +Falalei erwürgen, und wenn ich wählen soll, so werde ich eher Asmodei +lieben als Falalei! Komm, komm her, du mein ewiger Peiniger, komm her!“ +rief er plötzlich dem armen Falalei zu, der sich mit dem unschuldigsten +Gesicht der Welt hinter der Foma umgebenden Schar auf die Fußspitzen +erhob und mit langgerecktem Hals über die Schultern der anderen lauerte. +„Komm her! Ich werde Ihnen beweisen, Oberst,“ eiferte Foma und zog den +vor Schreck fast bewußtlosen Falalei an der Hand zu sich heran, „ich +werde Ihnen die Wahrheit meiner Worte über den ewigen Spott und die +Beleidigungen beweisen! Sprich, Falalei, und sage die Wahrheit: wovon +hat dir heute nacht geträumt? Sie werden sehen, Oberst, Sie werden Ihre +Früchte sehen! Nun, Falalei, sprich!“ + +Der arme Knabe blickte sich zitternd vor Angst im Kreise um und suchte +einen Retter in einem von uns, doch alle zitterten nur gleich ihm und +harrten mit Bangen der Antwort. + +„Sprich, Falalei, ich warte!“ + +Statt einer Antwort zog Falalei das Gesicht kraus, sperrte langsam den +Mund auf und brüllte dann los wie ein junges Kalb. + +„Oberst! Sehen Sie diesen Eigensinn? Halten Sie ihn wirklich für +natürlich? Zum letztenmal wende ich mich an dich, Falalei, – antworte: +wovon hat dir heute nacht geträumt?“ + +„Von ...“ + +„Sag von mir!“ raunte ihm Bachtschejeff ins eine Ohr. + +„Von Euren Tugenden!“ raunte ihm Jeshowikin ins andere Ohr. + +Falalei sah sich bloß um. + +„Von ... von einer Ku– ... von einer weißen K ... u ... h“ brüllte er +schließlich, und ein Strom von Tränen ergoß sich über seine roten +Backen. + +Alles stöhnte auf. + +Foma Fomitsch jedoch war diesmal von ganz ungewöhnlicher Großmut. + +„Wenigstens sehe ich deine Aufrichtigkeit, Falalei,“ sagte er, „eine +Aufrichtigkeit, die ich bei den anderen nicht wahrzunehmen vermag. Gott +mit dir! Wenn du mich absichtlich mit diesem Traum verspottest, auf +Grund der Einflüsterung anderer, so wird Gott sowohl dich wie diese +anderen dafür heimsuchen. Wenn du mich jedoch nicht verspotten willst, +dann achte ich wenigstens deine Aufrichtigkeit; denn selbst in der +niedrigsten aller Kreaturen, selbst in dir bin ich Gottes Ebenbild zu +sehen gewohnt ... Ich verzeihe dir, Falalei! Meine Kinder, umarmt mich! +Ich bleibe! ...“ + +„Er bleibt!“ rief alles begeistert aus. + +„Ich bleibe und verzeihe! Oberst, belohnen Sie Falalei mit Zucker. Mag +auch er an einem solchen Freudentage nicht traurig sein!“ + +Eine solche Großmut erschien geradezu wunderbar! _So_ sich zu sorgen und +das noch dazu in einer _solchen_ Stunde, und um wen? – um Falalei! + +Mein Onkel beeilte sich, dem Befehl sofort nachzukommen. Und schon +erschien eine Zuckerdose in Praskowja Iljinitschnas Händen. Mein Onkel +nahm zuerst zwei Stücke, dann drei, ließ sie in der Aufregung fallen, +und da er schließlich einsah, daß er mit seinen zitternden Händen nichts +machen konnte, so nahm er einfach die Dose und schüttete den ganzen +Inhalt Falalei in die Bluse. + +„Ach! Zur Feier eines solchen Tages! Halt fest, Falalei ... Das ist für +deine Aufrichtigkeit,“ fügte er noch als „Moral“ hinzu. + +Da erschien plötzlich Widopljässoff in der Tür und meldete: „Herr +Korowkin!“ + +Alle waren überrascht. Der Besuch Korowkins kam gerade in diesem +Augenblick äußerst ungelegen. Alle sahen fragend meinen Onkel an. + +„Korowkin!“ rief er etwas bestürzt aus. „Natürlich, es freut mich ...“ +fügte er mit scheuem Blick auf Foma hinzu; „nur weiß ich nicht, soll ich +ihn jetzt, in diesem Augenblick herbitten lassen ...? Was meinst du, +Foma?“ + +„Oh, nichts!“ sagte Foma gnädig, „fordern Sie den Korowkin nur auf, +einzutreten, mag er an dem allgemeinen Glück teilnehmen.“ + +Kurz, Foma Fomitsch war die Güte selbst. + +„Wage untertänigst zu melden,“ bemerkte Widopljässoff, „daß Herr +Korowkin sich nicht in Ihrem gewöhnlichen Zustande zu befinden geruhen.“ + +„Was? Was faselst du da?“ fuhr mein Onkel erschrocken auf. + +„Zu Befehl: der Herr befinden sich nicht in nüchternem Zustande ...“ + +Doch noch bevor mein Onkel den Mund auftun, erröten, erschrecken und +sich besinnen konnte, fand das Rätsel schon seine Lösung: in der Tür +erschien Herr Korowkin in höchsteigener Person, schob den Diener mit der +Hand zur Seite und trat vor das verwunderte Publikum. + +Es war ein mittelgroßer, dicker Herr von vierzig Jahren, mit dunklem, +über den Kamm geschnittenem, grau untermischtem Haar, mit kleinen, +geröteten Augen, einem roten, runden Gesicht, einer billigen Krawatte, +die hinten mit einer Gummistrippe schloß, und in einem ungewöhnlich +abgetragenen Frack, mit dem er im Heu und auf der Erde gelegen zu haben +schien, und der unter den Armen bereits Risse hatte. Dazu denke man sich +ein unmögliches Beinkleid und eine Mütze, die bis zur Unglaublichkeit +fettig glänzte, und die er noch obendrein wie einen ^Chapeau claque^ mit +gebogenem Arm weit von sich hielt. Dieser Herr nun war tatsächlich +vollkommen betrunken. Er trat bis in die Mitte des Zimmers vor, blieb +dann stehen und schwankte, die Nase gesenkt, wie in tiefem Nachdenken. +Schließlich weiteten sich langsam seine Mundwinkel, und er lächelte +übers ganze Gesicht. + +„Verzeihen Sie, meine Verehrtesten,“ sagte er, „ich ... habe ... etwas +(er knipste sich an den Kragen) hier hinabgegossen!“ + +Die Generalin setzte sofort die Miene beleidigter Würde auf. Foma, der +in seinem Ruhestuhl lehnte, maß den exzentrischen Gast mit ironischem +Blick. Bachtschejeff sah ihn verständnislos an, doch blickte durch diese +Verständnislosigkeit ein gewisses Mitgefühl. Die Verwirrung meines +Onkels war unbeschreiblich: er litt mit ganzer Seele für Korowkin. + +„Korowkin!“ begann er zwar, „hören Sie! ...“ + +„^Attendez^ gefälligst!“ unterbrach ihn Korowkin. „Habe die Ehre, mich +vorzustellen: ein Kind der Natur ... Aber was sehe ich? Hier sind ja +Damen ... Aber warum hast du mir nicht gesagt, du Schuft, daß du hier +Damen hast?“ fragte er, sich mit verschlagenem Lächeln an meinen Onkel +wendend. „Tut nichts! Habe keine Angst! ... Stellen wir uns also auch +dem schönen Geschlechte vor ... Vereh...ehrungswürdige Damen!“ begann +er, während er nur mit Mühe die Zunge bewegte und bei jeder Silbe +stecken blieb, „Sie sehen einen Unglücklichen vor sich, der ... nun ja, +und dann so weiter ... Das übrige wird nicht ausgesprochen ... +Musikkapelle! Eine Polka!“ + +„Wäre es Ihnen nicht recht, zunächst ein wenig zu schlafen?“ fragte +Misintschikoff, der ruhig zu ihm trat. + +„Schlafen? Fragen Sie das in beleidigendem Sinne?“ + +„Durchaus nicht. Wissen Sie, es ist manchmal gut nach der Reise ...“ + +„Niemals!“ antwortete Korowkin voll Unwillen. „Du glaubst, ich sei +betrunken? – nicht im geringsten! ... Aber übrigens, wo schläft man denn +hier bei euch?“ + +„Gehen wir, ich werde Sie hinführen.“ + +„Wohin? In den Schuppen? Nein, Freund, mich betrügst du nicht! Dort habe +ich schon übernachtet ... Aber übrigens, führ mich mal zu ... Warum soll +man nicht gehen – mit einem guten Menschen? ... Ein Kissen ist nicht +nötig ... ein Soldat braucht kein Kissen. Du könntest mir aber, Freund, +einen Diwan, einen Diwan, weißt du, einen Diwan zusammenstellen ... Aber +hör (er blieb stehen), du bist, wie ich sehe, ein witziger Bruder ... +Komponier mir mal so etwas ... verstehst du? Etwas, um eine Fliege +hinabzuspülen ... einzig, um eine Fliege hinabzuspülen, ein ... das +heißt, ein Gläschen!“ + +„Schön, schön!“ sagte Misintschikoff. + +„Schön ... Aber du, wart doch, man muß sich erst verabschieden ... Also: +Adieu, ^mesdames^ und ^mesdemoiselles^! ... Sie haben mich, wie man +sagt, durchbohrt ... Aber was! Werden uns später aussprechen ... nur +wecken Sie mich, wenn es anfängt ... oder sogar fünf Minuten vor dem +Beginn ... ohne mich aber bitte – nicht zu beginnen! Hören Sie? Nicht zu +beginnen!“ + +Und der lustige Herr verschwand hinter Misintschikoff. + +Alles schwieg. Niemand begriff, was geschehen war. Da begann plötzlich +Foma leise, zunächst kaum hörbar zu kichern. Dann wurde dieses Kichern +immer lauter, bis es schließlich in helles Lachen überging. Als die +Generalin das sah, wurde sie sanftmütiger, wenn auch der Ausdruck +gekränkter Würde immer noch in ihrem Gesicht verblieb. Allmählich erhob +sich auf allen Seiten unwillkürlich Lachen und Fröhlichkeit. Mein Onkel +stand wie betäubt auf einem Fleck, errötete fast bis zu Tränen und war +eine Zeitlang zu keinem Wort fähig. + +„Großer Gott!“ stieß er endlich hervor, „wer hätte das ahnen können! +Aber ... aber das kann ja doch einem jeden passieren, Foma, glaube mir, +er ist der ehrlichste, der edelste Mensch und außerordentlich belesen, +Foma ... du wirst es selbst sehen! ...“ + +„Sehe schon, sehe schon,“ antwortete Foma, atemlos vor Lachen, +„ungewöhnlich belesen ... belesen!“ + +„Und wie er spricht!“ bemerkte Jeshowikin halblaut. + +„Foma! ...“ rief mein Onkel aus, doch das allgemeine Lachen verschlang +seine Worte. Foma Fomitsch wälzte sich geradezu. Als mein Onkel diese +Heiterkeit sah, stimmte auch er ein. + +„Weiß Gott, ihr habt recht!“ sagte er lachend. „Du bist großmütig, Foma, +du hast ein gutes Herz: du hast mich glücklich gemacht ... du wirst auch +Korowkin verzeihen!“ + +Nur Nastenjka lachte nicht. Sie sah nur mit liebeleuchtenden Blicken zu +ihrem Verlobten auf, als hätte sie ihm sagen wollen: + +„Wie lieb du bist, wie gut, und wie lieb ich dich habe!“ + + + + + XVIII. + + Schluß. + + +Fomas Sieg war unwiderruflich – war größer noch, als man sich denken +kann. Es ist ja wahr: ohne ihn wäre es nie zu dieser Verlobung gekommen +– die Tatsache, vor der man mit einem Male stand, hob jeden Einwand auf. +Die Dankbarkeit der Glücklichen war denn auch grenzenlos. Als ich eine +kleine Anspielung zu machen versuchte, auf welche Weise man Fomas +Einwilligung erlangt hatte, winkten mir Nastenjka und mein Onkel nur +flehend mit den Händen ab: nichts davon! nichts davon! Ssaschenjka war +gleichfalls begeistert für den Ehebundstifter: „Der gute, gute Foma +Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen dafür sticken!“ sagte sie und tadelte +mich ernstlich, weil ich „so hartherzig“ sein konnte. Stepan +Alexejewitsch Bachtschejeff war geradezu verwandelt und hätte mich +wahrscheinlich erwürgt, wenn es mir nur eingefallen wäre, in seiner +Gegenwart etwas Schlechtes über Foma zu sagen. Er hing jetzt wie ein +Schoßhündchen an ihm und sagte zu allem, was dieser sprach: „Ein edler +Mensch bist du, Foma, der Gelehrteste von allen!“ Was Jeshowikin +anbetrifft, nun – so hatte seine Freude einfach die letzte Grenze +erreicht. Der Alte hatte es schon lange geahnt, daß Jegor Iljitsch in +seine Tochter verliebt war, und seit der Zeit hatte er Tag und Nacht nur +daran gedacht, wie er die beiden zusammenbringen und glücklich machen +könnte. Er hatte die Sache so lange hingezogen, wie es nur noch irgend +ging, und erst dann abgesagt, als ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Da +hatte – Foma ganz unerwarteterweise eingegriffen! Natürlich durchschaute +der Alte trotz seiner ehrlichen Freude den Schmarotzer Foma nur zu gut. +Nun war es klar, daß Foma Fomitsch sich für sein ganzes Leben in diesem +Hause festgesetzt hatte und seine Tyrannei hinfort keine Schranken mehr +kennen werde. Bekanntlich sagt man sogar von den unangenehmsten, den +launischsten Menschen, daß sie sich wenigstens für einige Zeit +besänftigen, wenn man alle ihre Wünsche erfüllt. Foma Fomitsch aber – +das konnte man schon damals voraussehen – wurde im Gegenteil nur noch +hochmütiger, nur noch anspruchsvoller und hob die Nase immer noch höher. +Kurz vor dem Essen, nachdem er sich vollkommen umgekleidet hatte, setzte +er sich wieder in seinen Ruhestuhl, rief meinen Onkel zu sich und begann +hierauf in Gegenwart der ganzen Versammlung ihm eine neue Predigt zu +halten. + +„Oberst!“ hub er an, „Sie wollen eine rechtmäßige Ehe schließen. Sind +Sie sich auch klar ... Sind Sie sich auch jener Pflichten bewußt, die +...“ usw. + +Man denke sich zehn Seiten im Format des „Journal des Débats“, ganze +zehn Seiten, in denen so gut wie überhaupt nicht von Pflichten die Rede +ist, sondern nur von dem Verstande, der Frömmigkeit, der Großmut, dem +männlichen Charakter und der allgemein menschlichen Uneigennützigkeit – +Foma Fomitschs. Alle waren hungrig, alle wollten essen. +Nichtsdestoweniger wagte niemand, ihn zu unterbrechen. Alle hörten +andächtig den ganzen Blödsinn bis zu Ende an. Sogar Bachtschejeff saß +mit seinem ganzen quälenden Hunger da, ohne sich zu rühren, saß mit der +größten Ehrfurcht auf einem kleinen Stuhl. Nachdem sich dann Foma +Fomitsch endlich, endlich genügend an seiner Redekunst erfreut hatte, +ward auch er sehr guter Laune und trank bei Tisch sogar ziemlich viel zu +seinen unvermeidlichen Toasten. Darauf machte er verschiedene Witzchen +über die Verlobten, und alle lachten und spendeten Beifall. Schließlich +wurden die Witzchen aber dermaßen schlüpfrig und unzweideutig, daß +selbst Herr Bachtschejeff nicht wußte, wohin er blicken sollte – und daß +Nastenjka es schließlich nicht mehr aushielt und fortlief. Das war für +Foma denn ein unbeschreibliches Gaudium. Übrigens wußte er sich sogleich +zu fassen: in kurzen, beredten Worten schilderte er alle ihre Tugenden +und brachte zum Schluß ein Hoch auf die Abwesenden aus. Mein Onkel, der +noch vor einer Minute Höllenqualen ausgestanden hatte, war jetzt sofort +wieder bereit, Foma Fomitsch zu umarmen. Es war mir überhaupt +aufgefallen, daß die beiden Verlobten sich ihres Glücks gewissermaßen zu +schämen schienen; ich hatte bemerkt, daß sie seit dem Augenblick ihrer +Verlobung noch so gut wie kein Wort untereinander gewechselt hatten. Als +die Tafel aufgehoben wurde, verschwand mein Onkel plötzlich – niemand +wußte, wohin. Auf der Suche nach ihm war es dann, daß ich zufällig auch +auf die Terrasse kam. Dort redete Foma im Triumphstuhl und bei einer +Tasse Kaffee, ersichtlich stark „ermutigt“. Bei ihm saßen Jeshowikin, +Bachtschejeff und Misintschikoff. Ich gesellte mich zu ihnen, um ein +wenig zuzuhören. + +„Warum,“ rief Foma aus, „warum bin ich sofort bereit, für meine +Überzeugungen auf den Scheiterhaufen zu gehen? Und warum ist von euch +kein einziger fähig, den Scheiterhaufen zu besteigen? Warum, warum?“ + +„Aber das würde ja doch ganz überflüssig sein, Foma Fomitsch, sich einen +Scheiterhaufen zu leisten!“ meinte Jeshowikin, der sich natürlich über +Foma lustig machte. „Was hätte denn das für einen Sinn? Erstens ist es +doch schmerzhaft und zweitens: verbrennt man dich – was bleibt dann noch +von dir übrig?“ + +„Was von mir übrigbleibt? Edelste Asche bleibt übrig! Aber wie solltest +du das verstehen! – wie solltest du mich richtig zu schätzen verstehen! +Für euch gibt es keine großen Menschen, außer irgendeinem Cäsar oder +Alexander von Mazedonien. Doch was hat denn dein Cäsar Großes +vollbracht? Wen hat er glücklich gemacht? Was hat dein gerühmter +Alexander der Große getan? Die ganze Welt erobert? Aber gib mir nur ein +solches Heer, wie er es hatte, und ich werde gleichfalls erobern, und +auch du wirst erobern, und auch jeder Dritte, Vierte wird erobern ... +Dafür aber hat er den tugendhaften Kleitos erstochen, ich aber habe den +tugendhaften Kleitos _nicht_ erstochen! ... Dieser Schuft! Dieser +Prahlhans! Ruten müßte man ihm geben, aber nicht ihn in der +Weltgeschichte unsterblich machen ... Und ebenso Cäsar!“ + +„Aber den Cäsar verschonen Sie doch wenigstens, Foma Fomitsch!“ + +„Fällt mir nicht ein, den Rüpel! ...“ schrie Foma. + +„Und ’s ist recht so: schone ihn auch nicht!“ griff mit Eifer Herr +Bachtschejeff auf, der gleichfalls mehr als nötig getrunken hatte. „Wozu +soll man ihn schonen? Alle sind sie Hampelmänner, alle würden sie sich +am liebsten nur auf einem Fuß um sich selber drehen! Diese Wurstmacher! +Da wollte vorhin einer von ihnen noch ein Stipendium stiften. Was ist +denn so ein Stipendium? Der Teufel weiß, was es eigentlich bedeutet! +Könnte wetten, daß es wieder irgend so ’ne neue Schweinerei ist. Und +jener andere, dort, vorhin, schwankt auf den Beinen, schwatzt allen +Unsinn zusammen, will aber noch Rum trinken! Ich aber denke so: Warum +soll der Mensch nicht trinken? Trink doch, trink, aber dann mußt du auch +zu stoppen verstehen ... und dann, nach einem Weilchen trink +meinethalben wieder ... Wozu soll man sie schonen? Alle sind Spitzbuben! +Nur du allein bist gelehrt und groß, Foma!“ + +Wenn Herr Bachtschejeff sich jemandem hingab, so gab er sich ihm restlos +hin, einwandlos und ohne jede Kritik. + +Endlich fand ich meinen Onkel im Garten – im entlegensten Teil: hinter +dem Weiher. Er war nicht allein, sondern mit Nastenjka. Als sie mich +erblickte, verschwand sie im Augenblick hinter dem Gebüsch, als hätte +ich sie bei etwas Unrechtem ertappt. Mein Onkel kam mir mit strahlendem +Gesicht entgegen. In seinen Augen standen, glaube ich, Tränen. Er nahm +meine beiden Hände und drückte sie krampfhaft. + +„Mein Freund!“ sagte er, „ich vermag noch immer nicht, an mein Glück zu +glauben ... Nastjä kann es auch noch nicht fassen. Wir wundern uns nur +und danken dem Höchsten ... Sie weinte soeben ... Wirst du mir glauben – +ich bin noch nicht zur Besinnung gekommen: ich glaube es und glaube es +auch wieder nicht! Und womit habe ich das nur verdient? Wofür dieses +Glück? Was habe ich getan? Womit habe ich es verdient?“ + +„Wenn jemand Glück verdient hat, so sind Sie es, Onkel,“ sagte ich +herzlich. „Ich habe noch niemals einen so ehrlichen, so guten, so +prächtigen Menschen gesehen, wie Sie ...“ + +„Nein, Ssergei, nein, das ist zuviel,“ antwortete er gleichsam betrübt. +„Das ist ja das schlimmste, daß wir nur dann gut sind – ich rede +natürlich nur von mir allein – wenn wir es selbst gut haben; wenn wir es +aber schlecht haben, dann kommt uns nicht zu nahe! Darüber sprachen wir +soeben noch, Nastjä und ich. Wie erhaben Foma sich auch zeigte, ich habe +vielleicht doch – wirst du es mir glauben? – bis auf den heutigen Tag +nicht ganz an ihn geglaubt, wenn ich mir auch immer wieder seine +Vollkommenheit vorhielt! Selbst gestern glaubte ich nicht, nachdem er +doch ein solches Geschenk zurückgewiesen hatte! Ich muß es zu meiner +Schande gestehen! Mein Herz zittert, wenn ich daran denke, was ich +vorhin getan habe! Aber ich war meiner nicht mehr mächtig ... Als er das +von Nastjä sagte, da war es mir, als hätte mich etwas bis ins Herz +verwundet. Ich verstand ihn nicht und handelte wie ein Tiger ...“ + +„Ach, Onkel! – das war sogar sehr richtig –“ + +Mein Onkel winkte wieder nur ab. + +„Nein, nein, Freund, sprich nicht so! – das kommt alles ganz einfach nur +von der Verderbtheit meiner Natur, weil ich ein grausamer und +wollüstiger Egoist bin und mich rücksichtslos meinen Leidenschaften +hingebe. Das sagt auch Foma.“ (Was sollte ich darauf erwidern?) „Du +weißt nicht, Ssergei,“ fuhr er mit tiefem Gefühl fort, „wie oft ich +gereizt, unnachsichtig, ungerecht, anmaßend gewesen bin – und nicht nur +Foma gegenüber. Und jetzt habe ich mich alles dessen wieder erinnert, es +ist mir zum Bewußtsein gekommen, und ich schäme mich, daß ich bis jetzt +noch nichts getan habe, um dieses Glückes würdig zu sein. Nastjä sagte +soeben Ähnliches von sich, wenn ich auch nicht weiß, was sie für Sünden +haben könnte; denn sie ist doch ein Engel – kein Mensch! Sie sagte mir, +daß wir Gott unendlich viel schuldig sind, und daß wir uns jetzt bemühen +müssen, besser zu sein und Gutes zu tun ... Wenn du gehört hättest, wie +begeistert, wie schön sie sprach! Himmlischer Vater, was das für ein +Mädchen ist!“ + +Er verstummte erregt. Nach einer Weile fuhr er fort: + +„Wir haben beschlossen, Freund, vor allem zu Foma gut zu sein, zu meiner +Mutter und zu Tatjana Iwanowna. Aber Tatjana Iwanowna! Was sagst du +dazu! Was für ein guter Mensch sie ist! Oh, wieviel ich allen abzubitten +habe! Auch dir, mein Freund ... Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, +Tatjana Iwanowna zu beleidigen, oh! dann ... Ach, was rede ich da viel! +... Für Misintschikoff muß man auch etwas tun.“ + +„Ja, Onkel, ich habe jetzt meine Meinung über Tatjana Iwanowna geändert. +Man muß sie hochachten und Mitleid mit ihr haben.“ + +„Eben, eben!“ bestätigte mein Onkel eifrig. „Man _muß_ sie achten! Und +da, zum Beispiel, Korowkin ... Du wirst im stillen gewiß über ihn +gelacht haben,“ meinte er mit zaghaftem Seitenblick auf mich, „und wir +alle haben ja über ihn gelacht ... Aber das war doch vielleicht +unverzeihlich von uns ... Er kann doch der beste, der prächtigste Mensch +sein ... Im übrigen aber – das Schicksal ... Er hat vielleicht viel +Unglück gehabt ... Du glaubst es nicht, aber es kann doch wirklich so +sein.“ + +„Wieso, Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?“ + +Und ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß selbst in dem gesunkensten +Geschöpf sich noch die höchsten menschlichen Gefühle erhalten können, +daß die Tiefe der Menschenseele unergründlich sei, daß man die +Gefallenen nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil versuchen müsse, +sie wieder aufzurichten – daß das allgemein angenommene Maß des Guten +und Bösen und des sittlichen Wertes nicht richtig sei, usw. Mit einem +Wort, ich geriet in Begeisterung und erzählte meinem Onkel sogar von der +Schule der Materialisten und Skeptiker. Zum Schluß zitierte ich noch ein +Gedicht von Puschkin – „Wenn aus dem Dunkel der Verirrung“ ... – kurz, +mein Onkel war schließlich auch in vollständiger Begeisterung. + +„Mein Freund, mein Freund!“ sagte er, bis ins Herz gerührt, „du +verstehst mich vollkommen, du hast alles, was ich selbst sagen wollte, +viel besser ausgedrückt, als ich es verstanden hätte. So, so ist es, +genau so! Herrgott! Weshalb ist der Mensch böse? Weshalb bin ich so oft +böse, wenn es doch so wunderschön ist, gut zu sein? Dasselbe hat auch +Nastjä soeben gesagt ... Aber sieh doch nur, wie schön es hier am Weiher +ist,“ sagte er plötzlich, sich umschauend, „sieh doch diese ganze Natur! +Welch ein Bild! Sieh mal dort diesen Baum. Den Stamm kann kein Mann +umfassen! Welche Kraft, welch ein Saft, was für Blätter! Und sieh nur +die Sonne! Wie sauber jetzt alles nach dem Regen ist, wie frisch! ... +Man könnte ja glauben, daß auch die Bäume etwas begreifen, fühlen und +das Leben genießen ... Oder sollten sie es wirklich nicht tun – was? Was +meinst du?“ + +„Warum nicht, Onkel, das ist sehr leicht möglich. Auf ihre Art +natürlich.“ + +„Eben, natürlich auf ihre Art ... Wunderbarer, wundervoller Schöpfer! +... Aber du mußt dich doch noch gut dieses Gartens entsinnen, Sserjosha? +– Wie du hier spieltest und umherliefst, als du klein warst! Ich +erinnere mich noch so gut, wie du klein warst,“ sagte er plötzlich und +blickte mich mit einem Ausdruck von so grenzenloser Liebe und so +unfaßlichem Glück an. „Nur hierher zum Weiher durftest du nicht allein +gehen. Und weißt du noch, wie einmal am Abend die selige Katjä dich zu +sich rief und dich streichelte ... Du warst im Garten umhergelaufen, +vorher, und deine Bäckchen waren ganz rot; dein Haar war noch ganz +hellblond und ringelte sich zu Löckchen ... Sie spielte mit deinen +Locken und dann sagte sie: ‚Es ist gut, daß du das Waisenkind zu uns +genommen hast.‘ Entsinnst du dich dessen noch, oder nicht mehr?“ + +„Kaum, kaum, lieber Onkel.“ + +„Es war damals Abend, und die Sonne schien auf euch beide, und ich saß +in der Ecke, rauchte meine Pfeife und sah zu euch hinüber ... Ich ... +weißt du, Sserjosha, ich fahre in jedem Monat einmal zu ihr, zu ihrem +Grabe, in die Stadt,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, deren leises +Beben aufsteigende, unterdrückte Tränen verriet. „Ich habe auch mit +Nastjä vorhin davon gesprochen; sie sagte, daß wir jetzt beide zusammen +zu ihr fahren werden ...“ + +Mein Onkel verstummte, um seine Erregung niederzuringen. + +In dem Augenblick näherte sich uns Widopljässoff. + +„Widopljässoff!“ rief mein Onkel erschrocken aus, als er ihn erblickte. +„Schickt dich Foma Fomitsch?“ + +„Nein, Herr, ich bin mehr in eigener Angelegenheit gekommen.“ + +„Ah! nun gut! Dann können wir gleich Näheres über Korowkin erfahren ... +Ich wollte schon vorhin nachfragen ... Ich hatte ihm, weißt du, +anbefohlen, Korowkin zu bewachen. Nun, was ist es, Widopljässoff?“ + +„Erlaube mir, zu erinnern,“ sagte der Diener, „daß der Herr gestern +hinsichtlich meiner Bitte Hilfe zu versprechen geruhten, sowie Schutz +vor den mir alltäglich zugefügten Beleidigungen ...“ + +„Du kommst wieder mit deinem Familiennamen?“ fragte mein Onkel wahrhaft +entsetzt. + +„... Die alltäglich und allstündlich mir zugefügten Beleidigungen ...“ + +„Ach, Widopljässoff, Widopljässoff! Was soll ich nur mit dir tun?“ +fragte mein Onkel ratlos. „Was können denn das für Beleidigungen sein? +Wenn das so weitergeht, wirst du ja einfach wahnsinnig werden und in der +Irrenanstalt dein Leben beschließen!“ + +„Ich glaube, daß ich mit meinem Verstande ...“ begann Widopljässoff. + +„Ach, das ist es doch nicht!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Ich sage es +nur so, nicht um dich zu kränken, sondern um dir Vernunft zuzureden. +Nun, was können denn das für Beleidigungen sein? Es ist doch +wahrscheinlich nur ein dummer Scherz!“ + +„Sie lassen mich nicht ruhig vorübergehen.“ + +„Wer das?“ + +„Sowohl alle wie vornehmlich diese Matrjona. Durch sie muß ich fortan +mein ganzes Leben lang leiden. Wie bekannt, haben alle vornehmen +Menschen, welche mich von Kindesbeinen an gesehen haben, gesagt, daß ich +ganz wie ein Ausländer aussehe, vornehmlich in meinem Gesicht. Und +deswegen muß ich jetzt dulden! Sobald ich nur vorübergehe, schreien mir +alle häßliche Worte nach – sogar kleine Kinder, die man zu allererst +durchprügeln müßte, selbst die schreien mir nach ... Auch jetzt, als ich +herkam, schrien sie wieder ... Und das ist zuviel! Wenn der Herr mich zu +verteidigen geruhen wollten, mit Ihrem Schirm und Schutz – denn ich – +... kann ... nicht mehr!“ + +„Ach, Widopljässoff! ... Was schreien sie dir denn nach? Es wird doch +bestimmt nur irgendeine Dummheit sein, die man überhaupt nicht beachten +sollte!“ + +„Es läßt sich nicht sagen.“ + +„Weshalb nicht?“ + +„Es ist ekelhaft auszusprechen.“ + +„Ach was, sag es nur!“ + +„Sie rufen: Grischka der Franzose – hat eine rote Hose.“ + +„Nun? Und? Ach, Gott, und ich dachte, daß es weiß der Himmel was sei! So +spei doch einfach aus und geh deines Weges!“ + +„Habe gespien: sie schreien dann noch mehr.“ + +„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „er beklagt sich darüber, daß er hier +kein Leben habe. So schicken Sie ihn doch nach Moskau zu jenem +Schönschreiber. Sie sagten doch, daß er dort einmal bei einem solchen +gewesen sei.“ + +„Ach, Freund, der hat gleichfalls tragisch geendet!“ + +„Wieso?“ + +„Sie hatten das Unglück,“ sagte Widopljässoff, „sich fremdes Eigentum +anzueignen, wofür sie, ungeachtet ihres ganzen Talents, ins Gefängnis +gebracht wurden, woselbst sie jetzt unrettbar verloren sind.“ + +„Gut, gut, Widopljässoff: beruhige dich nur. Ich werde alles das +untersuchen und erledigen,“ sagte mein Onkel, „ich verspreche es dir! +Nun, aber was macht Korowkin? Schläft er?“ + +„Mit nichten. Sie haben geruht fortzufahren. Ich bin aus diesem Grunde +auch gekommen, um seine Abreise zu melden.“ + +„Wie das – fortgefahren? Was sprichst du? Wie hast du ihn denn +fortgelassen?“ + +„Aus reinem Mitleid. Es war traurig anzusehen. Als sie erwachten und +sich des Vorgefallenen erinnerten, da schlugen sie sich vor den Kopf und +schrien herzzerreißend ...“ + +„Herzzerreißend? ...“ + +„Ehrerbietiger gesagt: sie gaben verschiedene Schreie von sich. Sie +schrien: wie könnten sie sich jetzt noch dem schönen Geschlecht zeigen? +Und dann sagten sie: ‚Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‘ Und so +sprachen sie die ganze Zeit mitleiderregend und nur in gewählten +Worten.“ + +„Habe ich dir nicht gesagt, Ssergei, daß er ein überaus zartfühlender +Mensch ist? ... Aber wie konntest du ihn denn fortfahren lassen, +Widopljässoff, wenn ich dir doch anbefohlen hatte, ihn zu bewachen? Ach +Gott, ach Gott!“ + +„Mehr infolge meines Mitleids. Sie baten mich himmelhoch, nichts zu +erzählen. Der Postknecht, mit dem sie gekommen waren, hatte die Pferde +inzwischen gefüttert und schirrte sie dann wieder an. Und für die vor +drei Tagen eingehändigte Summe befahlen sie, ihren höflichsten Dank zu +übermitteln und zu sagen, daß sie die Schuld mit der ersten Post +zurücksenden würden.“ + +„Was ist das für eine Summe, Onkel?“ + +„Sie nannten fünfundzwanzig Rubel,“ sagte Widopljässoff. + +„Ach, das habe ich ihm, weißt du, auf der Station geliehen: sein Geld +reichte nicht ganz. Er wird es mir selbstverständlich mit der nächsten +Post zurücksenden, wie er gesagt hat ... Ach, mein Gott, wie schade, daß +er fortgefahren ist! Soll ich ihm nicht nachschicken? Was meinst du, +Ssergei?“ + +„Nein, Onkel, schicken Sie ihm lieber nicht nach.“ + +„Das denke ich auch. Sieh, Ssergei, ich bin natürlich kein Philosoph, +aber ich glaube, daß in jedem Menschen doch viel mehr Gutes ist, als es +äußerlich scheint. So ist es auch mit Korowkin: er hat die Schande nicht +ertragen ... Aber gehen wir jetzt zu Foma! Wir haben uns sowieso zu +lange hier aufgehalten. Er kann sich gekränkt fühlen, er kann es als +Undankbarkeit, als Unaufmerksamkeit auffassen ... Gehen wir also! Nein, +dieser Korowkin, dieser Korowkin!“ + + + + + Nachbemerkungen. + + +Der Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, und der Genius der +Güte hat sich in der Person Foma Fomitschs endgültig im Herrenhause von +Stepantschikowo niedergelassen. Zwar könnte man noch eine Menge +Erklärungen, Erläuterungen usw. hinzufügen, doch im Grunde sind diese +jetzt ganz überflüssig. Wenigstens meiner Meinung nach. An Stelle aller +Ergänzungen und Zusätze werde ich nur ein paar Worte über das fernere +Schicksal meiner Helden sagen. Ohne das geht es ja bekanntlich nicht! +Die Kunst selbst will es so! Also – + +Die Trauung des glücklichen Brautpaares fand in der sechsten Woche nach +ihrer Verlobung statt. Die Hochzeit wurde sehr still gefeiert, nur im +Familienkreise, ohne jeden Pomp und vor allem ohne überflüssige Gäste. +Misintschikoff und ich waren die Brautführer: ich geleitete Nastenjka, +er meinen Onkel. Übrigens waren doch einige Gäste zugegen. Die erste und +wichtigste Person war natürlich Foma Fomitsch. Ihm wurde alles zu Willen +getan – wie auf den Händen wurde er getragen. Leider aber sollte es +geschehen, daß man einmal vergaß, ihm Champagner zu reichen, und sofort +– hub das alte Lied von neuem an: Foma sprang auf, weinte, grölte, lief +in sein Zimmer, schloß die Tür zu, schrie, daß man ihn jetzt nicht mehr +achte, daß jetzt „neue Menschen“ in die Familie kämen und folglich er, +Foma, nichts mehr sei oder nur soviel wie ein Holzspan, den man zum +Fenster hinauswerfen könne. Mein Onkel war verzweifelt, Nastenjka weinte +und die Generalin fiel nach alter Gewohnheit in Ohnmacht ... Das +Hochzeitsmahl glich alsbald einem Totenschmaus. Und ein solches +Zusammenleben mit dem Wohltäter Foma Fomitsch stand meinem armen Onkel +und der armen Nastenjka noch ganze sieben Jahre bevor! Bis zu seinem +Tode (Foma Fomitsch ist vor einem Jahr gestorben) war er eigensinnig, +launisch, ärgerte sich täglich und hielt allen Moralpredigten. Doch die +Ehrfurcht vor ihm verminderte sich bei den von ihm Beglückten nicht +etwa, sondern wuchs noch täglich, stündlich, in genauem Verhältnis zur +Zunahme seiner Launenhaftigkeit. Jegor Iljitsch und Nastenjka waren +nämlich so glücklich miteinander, daß sie für ihr Glück fürchteten: sie +glaubten, es sei zu groß, sei von ihnen nicht verdient, Gott gäbe ihnen +zuviel Glück, und späterhin würden sie es vielleicht mit Leid und Kummer +bezahlen müssen. So konnte Foma Fomitsch in diesem friedlichen Hause +buchstäblich alles tun, was er nur wollte. Und was tat er nicht alles in +diesen sieben Jahren! Es ist schwer, ja, es ist unmöglich, sich +vorzustellen, bis zu welchen zügellosen Phantasien sich seine +übersättigte, müßige Seele in der Erfindung der raffiniertesten Launen +einer wahrhaft lukullischen Moralität verstieg. Im dritten Jahre nach +der Heirat meines Onkels starb meine Großtante, die Generalin. Der +verwaiste Foma war die Verzweiflung selbst. Sogar jetzt wird in +Stepantschikowo mit wahrem Entsetzen von seinem Zustande in diesen Tagen +gesprochen. Als die Gruft zugeschüttet wurde, wollte er sich mit aller +Gewalt von den anderen, die ihn krampfhaft festhielten, losreißen: in +einem fort schrie er, daß man ihn zusammen mit ihr beerdigen solle! +Einen ganzen Monat gab man ihm weder eine Gabel noch ein Messer in die +Hand, und einmal hatten ganze vier Menschen ihm mit Gewalt den Mund +öffnen müssen, um eine Stecknadel, die er hatte verschlucken wollen, +wieder herauszunehmen. Jemand von den gleichgültigeren Zeugen des +Kampfes hat zwar gemeint, daß Foma Fomitsch, wenn ihm im Ernst darum zu +tun gewesen wäre, diese Stecknadel während des Kampfes schon tausendmal +hätte verschlucken können. Doch diese Behauptung war von allen mit +entschiedenem Unwillen zurückgewiesen worden, und man hatte dem +Betreffenden sogleich Herzensroheit vorgeworfen. Nur Nastenjka schwieg +darüber und lächelte kaum merklich, während mein Onkel stets ein wenig +unruhig wurde, wenn er dieses Lächeln sah. Ich muß hier bemerken, daß +Foma zwar wie ehedem im Hause meines Onkels sich vieles herausnehmen und +nach Herzenslust launisch sein konnte; doch die anmaßenden, die geradezu +unverschämten Moralpredigten, die er früher meinem Onkel hielt, die gab +es jetzt nicht mehr. Foma beklagte sich, weinte, machte Vorwürfe, +tadelte; aber er durfte nicht mehr frech werden, – solche Szenen, wie z. +B. die wegen des Titels Exzellenz, waren jetzt nicht mehr denkbar. Es +war das, glaube ich, auf Nastenjkas Einfluß zurückzuführen. Fast +unmerklich zwang sie Foma, in manchem nachzugeben und sich in manches zu +fügen. Sie duldete es nicht, daß ihr Mann beleidigt wurde, und sie +setzte ihren Willen auch durch. Foma erkannte bald, daß sie ihn fast +_durchschaute_. Ich sage: _fast_; denn andererseits verwöhnte Nastenjka +ihn gleichfalls und stimmte ihrem Mann jedesmal bei, wenn dieser +begeistert seinen Weisen in den Himmel hob. Sie wollte offenbar die +Zuhörer zwingen, alles an ihrem Mann zu achten, und so suchte sie auch +seine Anhänglichkeit an Foma Fomitsch vor anderen stets gutzuheißen. Ich +bin überzeugt, daß ihr gutes Herz alles Leid, das ihr früher von ihm +zugefügt worden war, verziehen und vergessen hatte, wahrscheinlich schon +in demselben Augenblick, als er sie mit meinem Onkel vereinigte. +Außerdem hatte sie sich, glaube ich, im Ernst und mit ganzem Herzen dem +Gedanken hingegeben, daß man von einem „Märtyrer“, einem ehemaligen +Narren, nicht viel verlangen dürfe, sondern ihn pflegen und ihn die +„Wunden“ vergessen machen müsse. Die arme Nastenjka hatte selbst zu den +Erniedrigten gehört, sie hatte selbst gelitten und daher wußte sie, wie +Erniedrigtsein ist. Schon nach einem Monat wurde Foma kleinlauter, wurde +sogar freundlich und bescheiden; dafür aber kamen jetzt neue, überaus +unerwartete Anfälle: er verfiel nämlich bisweilen in einen sogenannten +magnetischen Schlaf, der alle zuerst heftig erschreckte. Der Arme sprach +zum Beispiel etwas ganz Gleichgültiges, oder er lachte – und plötzlich +war er dann erstarrt, und zwar genau in der Stellung, in der er sich im +letzten Augenblick vor dem Anfall befunden hatte: wenn er zum Beispiel +gelacht hatte, so erstarrte er mit einem lachenden Gesicht; hatte er +etwas in der Hand gehalten, eine Gabel vielleicht, einen Löffel, so +blieb die Gabel in der erhobenen Hand. Später sank die Hand natürlich +nieder, doch Foma Fomitsch fühlte nichts und entsann sich auch später +nicht, daß sie niedergesunken sei. Er saß, sah, blinzelte sogar, sprach +jedoch nichts, hörte nichts und begriff nichts. Und das dauerte mitunter +eine ganze Stunde an. Natürlich verging dann das ganze Haus fast vor +Angst; alle hielten den Atem an, schlichen nur auf den Fußspitzen, +weinten ... bis Foma endlich zu erwachen geruhte. Dann fühlte er sich +unsäglich erschöpft und versicherte, während der ganzen Zeit seines +Starrkrampfes nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Das hatte +nämlich wirklich noch gefehlt, daß dieser Mensch ganze Stunden lang sich +freiwillig Qualen auferlegte, einzig zu dem Zweck, um dann sagen zu +können: „Seht auf mich, seht, um wieviel ich mehr empfinde als ihr!“ +Einmal geschah es auch, daß Foma Fomitsch ganz unvermittelt meinen Onkel +wegen dessen „Unehrerbietung und fortwährender Beleidigungen“ anzeterte +und zu Herrn Bachtschejeff fuhr, bei dem er fortan leben wollte. Stepan +Alexejewitsch Bachtschejeff, der nach meines Onkel Verlobung und +Hochzeit sich noch oft mit Foma gestritten, ihn jedoch zu guter Letzt +jedesmal wieder um Verzeihung gebeten hatte, entschloß sich diesmal mit +ungewöhnlichem Eifer, energisch in die Sache einzugreifen: er empfing +Foma mit wahrem Enthusiasmus, fütterte ihn bis zum Platzen und beschloß +hierauf, sich formell von der Freundschaft meines Onkels loszusagen und +sogar gerichtlich eine Klage gegen ihn einzureichen. Es gab dort +irgendwo ein strittiges Stück Land, um das sie aber eigentlich nie +gestritten hatten, da es ihm von meinem Onkel ohne jeden Streit +freiwillig abgetreten worden war. Ohne Foma ein Wort davon zu sagen, +ließ Herr Bachtschejeff die Pferde anschirren und fuhr in die Stadt, +setzte dort die Klage auf und reichte sie ein, mit dem Ersuchen, ihm +formell das Stück Land zuzusprechen, mit Vergütung der Zinsen und +Erstattung der Gerichtskosten, um auf diese Weise die „Räuberei und das +eigenmächtige Verfahren“ zu bestrafen. Inzwischen aber war es Foma +langweilig geworden, und so hatte er schon am nächsten Tage meinem Onkel +– der ihm nachgefahren war und um Verzeihung gebeten hatte –, wieder +verziehen und war dann mit ihm nach Stepantschikowo zurückgekehrt. Der +Zorn des Herrn Bachtschejeff, der, als er zu Hause ankam, Foma nicht +mehr vorfand, soll fürchterlich gewesen sein. Nach drei Tagen aber +erschien auch er mit dem Eingeständnis seiner Schuld in Stepantschikowo, +bat meinen Onkel unter Tränen um Verzeihung und zog seine Klage zurück. +Mein Onkel versöhnte ihn noch am selben Tage auch mit Foma Fomitsch, +worauf Stepan Alexejewitsch diesem wieder wie ein Hündchen ergeben war +und zu jedem Wort hinzufügte: „Du bist ein kluger und großer Mensch, +Foma, du bist wirklich mit einem Wort ein Genie!“ + +Foma Fomitsch ruht jetzt neben der Generalin. Über seinem Grabe erhebt +sich ein kostbares Monument aus weißem Marmor, das mit Trauerzitaten und +Lobpreisungen seiner Person von oben bis unten bedeckt ist. Zuweilen +gehen Jegor Iljitsch und Nastenjka, wenn sie einen Spaziergang machen, +auch auf den Friedhof, um an Fomas Grab zu beten. Auch jetzt noch können +sie nicht gleichgültig von ihm sprechen, sie erinnern sich jedes Wortes, +das er gesprochen, aller Speisen, die er gern gegessen, und alles +dessen, was er geliebt hat. Seine Sachen werden wie Kostbarkeiten +aufbewahrt. Mein Onkel und Nastjä, die sich nach seinem Tode zuerst ganz +verwaist fühlten, haben sich jetzt noch mehr aneinandergeschlossen. +Kinder hat Gott ihnen nicht geschenkt – sie sind sehr traurig darüber, +wagen aber nie zu klagen. Ssaschenjka hat schon vor langer Zeit einen +prächtigen jungen Mann geheiratet. Iljuscha studiert in Moskau. So leben +denn mein Onkel und Nastjä ganz allein in Stepantschikowo und sind immer +noch genau so verliebt ineinander. Die Sorge des einen um den anderen +ist geradezu rührend. Wenn einer von ihnen früher sterben sollte, was +doch wohl einmal geschehen wird, so wird ihn der andere, denke ich, kaum +eine Woche überleben. Doch gebe ihnen Gott noch ein langes Leben! Sie +empfangen jeden Gast mit unendlicher Herzlichkeit und sind bereit, mit +einem Unglücklichen alles zu teilen, was sie nur haben. Nastenjka liest +oft die Lebensgeschichten der Heiligen und sagt gerührt, daß bloß „bei +Gelegenheit Gutes tun“ zu wenig sei, man müsse alles, was man hat, den +Armen hingeben und in freiwilliger Armut glücklich sein. Hätten sie +nicht Iljuscha und Ssaschenjka, so würde mein Onkel wohl schon längst +alles unter die Armen verteilt haben; denn er ist in allem vollkommen +einverstanden mit seiner Frau. Praskowja Iljinitschna lebt bei ihnen und +tut ihnen mit Freuden alles zu Willen. Sie führt vor allem die +Wirtschaft. Herr Bachtschejeff hat ihr zwar bald nach der Hochzeit +meines Onkels einen Heiratsantrag gemacht, sie aber hat ihn rund +abgeschlagen. Daraus schloß man zunächst, daß sie wohl ins Kloster gehen +wolle und werde, aber auch das geschah nicht. Sie hat von Natur die +bemerkenswerte Eigenschaft, sich vollkommen denen zu opfern, die sie +liebhat, sich zu jeder Zeit ihnen unterzuordnen, ihnen die Wünsche von +den Augen abzulesen, allen ihren Launen nachzugehen, sie zu warten und +zu pflegen und zu bedienen. Jetzt, nach dem Tode ihrer Mutter, der +Generalin, hält sie es für ihre Pflicht, bei ihrem Bruder und Nastenjka +zu bleiben und sich diesen unterzuordnen. Der alte Jeshowikin lebt noch, +und in der letzten Zeit besucht er seine Tochter immer häufiger. Anfangs +brachte er meinen Onkel zur Verzweiflung damit, daß er sich und seine +Krabben (so nennt er seine Kinder) mit erklärter Absichtlichkeit von +Stepantschikowo fernhielt. Alle Aufforderungen seines Schwiegersohnes +waren fruchtlos: Das geschah jedoch von ihm nicht so sehr aus Stolz als +aus Empfindlichkeit und Argwohn. Der Gedanke, daß man ihn, den Armen, +aus Barmherzigkeit im reichen Hause empfangen, daß man ihn im Herzen +aufdringlich und lästig finden könnte – dieser Gedanke lastete schwer +auf ihm. Er wies sogar Nastenjkas Hilfe zurück und nahm nur im äußersten +Notfall etwas an. Von meinem Onkel wollte er unter keiner Bedingung +etwas annehmen. Nastenjka hatte sich sehr geirrt, als sie mir seinerzeit +sagte, ihr Vater spiele nur deshalb den Narren, weil er damit ihr, +seiner Tochter, Nutzen zu bringen hoffe. Freilich wollte er sie damals +gerne mit dem Oberst verheiraten, aber den Narren spielte er doch wohl +mehr aus innerem Bedürfnis: um der in ihm angesammelten Wut einen +Ausgang zu verschaffen. Das Bedürfnis, zu spotten und seine scharfe +Zunge zu üben, war ihm angeboren. So machte er aus sich den niedrigsten +Schmeichler, um gleichzeitig mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit +zeigen zu können, daß er es nur zum Schein tat. Und je mehr er +schmeichelte, um so beißender und unverhohlener schaute dann aus der +Schmeichelei sein Spott hervor. Das lag ihm nun einmal im Blut. +Schließlich gelang es doch, seine „Krabben“ in den besten Lehranstalten +Moskaus und Petersburgs unterzubringen, aber erst dann, als Nastenjka +ihm schwarz auf weiß bewiesen hatte, daß sie es nicht mit dem Gelde +ihres Gatten tue, vielmehr mit den Dreißigtausend, die Tatjana Iwanowna +ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Diese dreißigtausend Rubel waren in +Wirklichkeit natürlich niemals von Tatjana Iwanowna angenommen worden; +damit diese sich nicht gekränkt fühlte, hatte man ihr einfach gesagt, +daß man sich sogleich an sie wenden werde, sobald man einmal in +Verlegenheit geraten sollte. Und so tat man denn schließlich auch und +lieh von ihr „scheinbar“ größere Summen. Doch Tatjana Iwanowna starb vor +drei Jahren, und da fielen Nastjä ihre Dreißigtausend von selbst zu. Der +Tod Tatjana Iwanownas kam ganz unerwartet. Die ganze Familie war von +einem benachbarten Gutsbesitzer zum Ball eingeladen worden, Tatjana +Iwanowna hatte sich bereits ihr Ballkleid angezogen und einen +wundervollen Kranz weißer Rosen ins Haar gesteckt, als ihr plötzlich +schlecht wurde: sie setzte sich auf den nächsten Stuhl und – starb. Mit +diesem Kranz weißer Rosen wurde sie auch begraben. Nastjä war +untröstlich. Tatjana Iwanowna war von allen wie ein Kind geliebt und +verwöhnt worden. Nach ihrem Tode setzte sie noch alle durch ihr +vernünftiges Testament in Erstaunen: außer Nastjäs Dreißigtausend hatte +sie alles übrige, an dreihunderttausend Rubel, zur Erziehung armer +Waisenmädchen vermacht, denen bei Verlassen der Erziehungsanstalt auch +noch eine gewisse Summe ausgezahlt werden sollte. Noch vor Tatjana +Iwanownas Hinscheiden heiratete Fräulein Perepelizyna, die nach dem Tode +der Generalin ruhig in Stepantschikowo verblieben war, wahrscheinlich in +der Absicht, sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Inzwischen war +aber der Besitzer von Mischino, jenem selben kleinen Gut, wohin Obnoskin +mit seiner Mutter und später mit Tatjana Iwanowna gefahren war, Witwer +geworden. Dieser ehemalige Beamte war ein entsetzlicher Schikaneur. Er +hatte von der ersten Frau sechs Kinder. Da er bei der Perepelizyna Geld +vermutete, so machte er gelegentlich einige Andeutungen, die auf eine +Heirat anspielten. Sie aber warf sich ihm sofort an den Hals. Leider war +die Perepelizyna arm wie eine Kirchenmaus: alles, was sie in die Ehe +brachte, waren dreihundert Rubel, die Nastenjka ihr zur Hochzeit +geschenkt hatte. Jetzt führt das Ehepaar vom Morgen bis zum Abend Krieg +miteinander: sie zieht seine Kinder an den Haaren und verabreicht ihnen +Ohrfeigen; ihm zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens erzählt man es in +der ganzen Umgegend) und hält ihm beständig vor, daß sie die Tochter +eines Majors sei. – Misintschikoff hat sein Leben gleichfalls +einzurichten gewußt. Er gab vernünftigerweise alle seine Hoffnungen auf +Tatjana Iwanowna auf und machte sich allmählich daran, die +Landwirtschaft zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem reichen Grafen, +einem Gutsbesitzer, der etwa achtzig Werst von Stepantschikowo +dreitausend Seelen besaß, doch nur sehr selten sein Gut besuchte. Da der +Graf in Misintschikoff einige Fähigkeiten entdeckt zu haben glaubte und +sich im übrigen auf die Empfehlung meines Onkels verließ, bot er ihm die +Stelle eines Verwalters seiner Güter an, nachdem er seinen früheren +Verwalter fortgejagt hatte – einen Deutschen, der aber trotz der +berühmten deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen gründlich bestohlen hatte. +Nach fünf Jahren war das Gut nicht wiederzuerkennen: die Bauern lebten +im Wohlstande; Misintschikoff hatte Verwaltungsbücher eingeführt und +führte sie fehlerlos – was niemand von ihm erwartet hätte; die Einnahmen +hatten sich verdoppelt – mit einem Wort: Der neue Verwalter hatte sich +trefflich eingeführt, und sein Ruhm ertönte bereits durch das ganze +Gouvernement. Wie groß aber war die Überraschung und der Kummer des +Grafen, als Misintschikoff nach fünf Jahren, ungeachtet aller Bitten und +Gehaltserhöhungen, sein Amt niederlegte! Der Graf glaubte, daß ihn die +Nachbargutsbesitzer fortgelockt hätten oder vielleicht sogar jemand aus +einem anderen Gouvernement. Um wieviel größer war aber das Erstaunen +aller, als plötzlich, im zweiten Monat nach seinem Austritt, Iwan +Iwanytsch Misintschikoff ein schönes Gut von hundert Seelen besaß, das +nur vierzig Werst von dem des Grafen entfernt war, und das er von einem +verschuldeten Husarenoffizier, seinem früheren Regimentskameraden, +gekauft hatte! Diese hundert Seelen verpfändete er sogleich, und nach +einem Jahr war er im Besitz von noch weiteren sechzig Seelen! Jetzt ist +er selbst Gutsherr, und seine Wirtschaft ist mustergültig. Alle wundern +sich und fragen, woher er wohl das Geld dazu erhalten haben mag. Einige +aber schütteln nur das Haupt und schweigen. Iwan Iwanytsch jedoch ist +vollkommen ruhig und fühlt sich durchaus in seinem Recht. Jetzt hat er +aus Moskau seine Schwester zu sich gerufen, dieselbe, die ihm einst ihre +letzten drei Rubel zur Wanderung nach Stepantschikowo gegeben hatte – +ein sehr nettes Mädchen, nicht mehr ganz jung, bescheiden, zärtlich, +gebildet, nur etwas eingeschüchtert. Vorher hatte sie in Moskau als +Gesellschafterin bei einer „Wohltäterin“ gelebt; jetzt hängt sie mit +aller Liebe am Bruder, führt in seinem Hause die Wirtschaft, hält jeden +seiner Wünsche für ein Gesetz und sich selbst für vollkommen glücklich. +Ihr Bruder verwöhnt sie nicht gerade und hält sie, wie man zu sagen +pflegt, etwas „unter dem Daumen“, was sie aber gar nicht zu merken +scheint. In Stepantschikowo hat man sie sehr liebgewonnen, und es heißt, +Herr Bachtschejeff sei nicht abgeneigt – ... und er würde wohl auch bei +ihr anhalten, fürchte aber eine Absage. Doch von Herrn Bachtschejeff +hoffe ich noch ein anderes Mal zu erzählen, in einer neuen Erzählung, +und dann ausführlicher. + +Das waren, denke ich, alle ... Ja! richtig! fast hätte ich vergessen: +Gawrila ist sehr gealtert und hat sein Französisch ganz und gar +verlernt. Aus Falalei ist ein guter Kutscher geworden. Der arme +Widopljässoff aber mußte tatsächlich schon sehr bald in einer +Irrenanstalt untergebracht werden: er ist dort, wenn ich mich nicht +täusche, auch schon gestorben ... In den nächsten Tagen muß ich nach +Stepantschikowo fahren – dann werde ich mich bei meinem Onkel nach ihm +erkundigen. + + + + + Fußnoten + + +[1] Bauern, die zur Zelt der Leibeigenschaft den Kirchen und Klöstern +gehörten. E. K. R. + +[2] Führer des Kosakenaufstandes von 1773, gab sich für den ermordeten +Peter III. aus, wurde 1775 hingerichtet. E. K. R. + +[3] Treu. E. K. R. + +[4] Schändlich. E. K. R. + +[5] Von „Bolwann“ – Schafskopf. E. K. R. + + + Anmerkungen zur Transkription + +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen +Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und +Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert +nach: + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. + Zweite Abteilung: Sechzehnter Band + R. Piper & Co. Verlag, München, 1920. + 6. bis 10. Tausend + +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen +Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den +ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, +Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt +nach der Titelseite eingefügt. + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. +Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert. + +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen +(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von +Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. + +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der +Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben +„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht +(nicht verwendete Varianten in Klammern): + + Matwejitsch (Matvejitsch) + Widopljässoff (Widapljässoff) + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 24]: + ... an des glaubte, was sie predigte. Ja, ich ... + ... an das glaubte, was sie predigte. Ja, ich ... + + [S. 176]: + ... sehr, daß ich Sie getroffen haben, vielleicht werden Sie ... + ... sehr, daß ich Sie getroffen habe, vielleicht werden Sie ... + + [S. 276]: + ... plötzlich mein Onkel. „Das ist, mußte du wissen, ... + ... plötzlich mein Onkel. „Das ist, mußt du wissen, ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 *** diff --git a/75923-h/75923-h.htm b/75923-h/75923-h.htm new file mode 100644 index 0000000..de533a2 --- /dev/null +++ b/75923-h/75923-h.htm @@ -0,0 +1,18032 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Sämtliche Werke 16: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Sämtliche Werke 16: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner" --> + <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" --> + <!-- TRANSLATOR="E. K. Rahsin" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Piper, München" --> + <!-- DATE="1920" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +div.frontmatter { page-break-before:always; margin:auto; max-width:30em; } +.logo { margin-top:3em; margin-bottom:1em; } +.ser { text-indent:0; text-align:center; letter-spacing:0.1em; } +.ed { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:5em; } +.ed .line1 { display:inline-block; border-top:2px solid black; padding-top:0.25em; + margin-top:0.25em; font-size:0.8em; } +.division { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:3em; } +.aut { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; font-size:1em; + padding-top:1em; margin-bottom:1em; } +h1.title { text-indent:0; text-align:center; } +.subt { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.trn { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.pub { text-indent:0; text-align:center; letter-spacing:0.1em; } +.pub .line1{ display:inline-block; 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M. Dostojewski: Sämtliche Werke +</p> + +<p class="ed"> +<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski</span><br> +<span class="line2">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span> +</p> + +<p class="trn"> +Übertragen von E. K. Rahsin +</p> + +<p class="division"> +Zweite Abteilung: Sechzehnter Band +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="aut"> +F. M. Dostojewski +</p> + +<h1 class="title"> +Das Gut Stepantschikowo<br> +und seine Bewohner +</h1> + +<p class="subt"> +(Aufzeichnungen eines Unbekannten) +</p> + +<p class="subt"> +Humoristischer Roman +</p> + +<div class="centerpic logo"> +<img src="images/logo.jpg" alt=""></div> + +<p class="pub"> +<span class="line1">R. Piper & Co. Verlag, München, 1920</span> +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="impr"> +R. Piper & Co. Verlag, München, 1920<br> +6. bis 10. Tausend +</p> + +<p class="cop"> +Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,<br> +Verlag in München +</p> + +<p class="printer"> +Bayer. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel, Augsburg. +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="toc" id="part-1"> +Inhalt. +</h2> + +</div> + +<div class="table"> +<table class="toc"> +<tbody> + <tr> + <td class="col1"> </td> + <td class="col2"> </td> + <td class="col3"> </td> + <td class="col_page">Seite</td> + </tr> + <tr class="l"> + <td class="col1" colspan="3">Humor in Rußland. Von Moeller van den Bruck</td> + <td class="col_page"><a href="#page-V">V</a></td> + </tr> + <tr class="l"> + <td class="col1" colspan="3">Vorbemerkung. Von E. K. R.</td> + <td class="col_page"><a href="#page-XVI">XVI</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">1.</td> + <td class="col2">Kapitel.</td> + <td class="col3">Stepantschikowo</td> + <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">2.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Herr Bachtschejeff</td> + <td class="col_page"><a href="#page-37">37</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">3.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Mein Onkel</td> + <td class="col_page"><a href="#page-65">65</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">4.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Beim Tee</td> + <td class="col_page"><a href="#page-92">92</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">5.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Jeshowikin</td> + <td class="col_page"><a href="#page-111">111</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">6.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja</td> + <td class="col_page"><a href="#page-135">135</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">7.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Foma Fomitsch</td> + <td class="col_page"><a href="#page-148">148</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">8.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Die Liebeserklärung</td> + <td class="col_page"><a href="#page-176">176</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">9.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">„Ew. Exzellenz“</td> + <td class="col_page"><a href="#page-186">186</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">10.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Misintschikoff</td> + <td class="col_page"><a href="#page-211">211</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">11.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Äußerste Verwunderungen</td> + <td class="col_page"><a href="#page-236">236</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">12.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Die Katastrophe</td> + <td class="col_page"><a href="#page-259">259</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">13.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Die Verfolgung</td> + <td class="col_page"><a href="#page-270">270</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">14.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Neuigkeiten</td> + <td class="col_page"><a href="#page-296">296</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">15.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Iljuschas Namenstag</td> + <td class="col_page"><a href="#page-303">303</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">16.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Die Vertreibung</td> + <td class="col_page"><a href="#page-319">319</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">17.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks</td> + <td class="col_page"><a href="#page-338">338</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">18.</td> + <td class="col2">„</td> + <td class="col3">Schluß</td> + <td class="col_page"><a href="#page-367">367</a></td> + </tr> + <tr class="l"> + <td class="col1" colspan="3">Nachbemerkungen</td> + <td class="col_page"><a href="#page-380">380</a></td> + </tr> +</tbody> +</table> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-2"> +<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a> +<span class="firstline">Zur Einführung.</span><br> +Bemerkungen über russischen Humor. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Humor ist früher als die Dichtung. Das Humoristische +umgibt ein Volk mit einer zweiten Hautlichkeit, +die schon lange an ihm bemerkt wird, bevor das +Volk selbst sie bemerkt. Der Don Quichotte im Spanier +war früher als die Figur, die Cervantes bildete. Das +Figaronaturell der Franzosen saß ihnen schon vor der +Revolution im Beaumarchaistemperament. Mit Eulenspiegeleien +und Münchhausiaden, mit Streichen und +Abenteuern in Sagen und Anekdoten, entschädigten +die Deutschen sich für ihre verlorene Wirklichkeit, ehe +ihnen Jean Paul mit der Laterne des gravitätischen +Kleinstädters den Nachthimmel einer kosmischen Komik +entzündete, in der Endlichkeit und Unendlichkeit durcheinanderrannen. +Ebenso fand der Humor in der russischen +Dichtung seine Probleme bereits im russischen +Leben vor: in jener grotesken Unvereinbarkeit eines +asiatischen und eines europäischen Daseins, die durch +die petrinische Kultur von Staats wegen überwunden +werden sollte, während sie gerade von dieser Kultur +geschaffen wurde, und die nun aus dem einzelnen +Massen, der von Hause aus ganz Natur war, durch +Dressur eine Karikatur machte, deren Widersprüche sich +nicht auf das Kostüm beschränkten, sondern in der +Seele fortsetzten. +</p> + +<p> +Es war ein Humor, der zunächst in der Wirkung auf +uns liegt. Peter der Große selbst ist als Gestalt der +Geschichte von dieser Wirkung nicht frei. Schon seine +große Reise ins Ausland, die Rußland in Europa berüchtigt +machte, hatte die bekannten komischen schahhaften +<a id="page-VI" class="pagenum" title="VI"></a> +Züge. Und wenn er dann später seinen Russen +die Bärte scheren ließ, wenn er nur rasierten Adel an +seinem europäisierten Hofe duldete, andererseits aber +sich als russischer Selbstherrscher nicht scheute, nach +gewonnener Schlacht aus Freude über den Sieg seinen +Soldaten im Lager höchsteigenbeinig einen Kasatschak +vorzutanzen, dann waren dies Gegensätze, deren Humor +in ihrer Naivität lag. Aber schon ein Menschenalter +nach Peter wurde dieser Humor zum Symbol in einem +Manne, der nicht mehr den Ernst Peters besaß, der die +Pioniertradition, die Peter für Rußland hatte schaffen +wollen, durch eine Scharlatantradition unterbrach und +den Russen das Beispiel eines Schwindels hinterließ, +der sich in öffentlichen Angelegenheiten an alles +Russische heftete und bei dem Rußland sich immer am +wohlsten fühlte. Der Mann war Potemkin. +</p> + +<p> +Auch Potemkin hat eine Reise berühmt gemacht. +Aber schon dadurch unterschied sich die Reise der Katharina +von derjenigen Peters, daß Peter nach Europa +ging, um zu lernen, Nützliches zu sehen, Erfahrungen +heimzubringen, Katharina dagegen nach dem Neurußland +ihres Potemkin nur gefahren zu sein scheint, um +dem Günstling und Liebhaber die Gelegenheit zu dem +großen Betruge zu geben, der seinen Namen mit allem +russischen und menschlichen Scheinwesen dauernd verbinden +sollte. Die Kulissen, mit denen Potemkin damals +seiner Kaiserin ein reichbesiedeltes wohlhabendes +glückliches Land vortäuschte, sind in Rußland nie gefallen. +Ganze Gouvernemente wurden zu den Blendzwecken +dieser Reise entvölkert. Bauern, Herden, +Mensch und Vieh wurden an die Fahrstraße getrieben, +<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a> +über die der Reisezug kommen sollte. Höchste +Zufriedenheit der Kaiserin war der Lohn für Potemkin. +Tiefstes Elend der Bevölkerung war die Folge für +seine Provinz. Doch dies war immer gleichgültig in +Rußland. Am wohlsten fühlte Potemkin sich später als +Satrap der Krim, in fanariotischen Launen und bei +echtrussischer Unmäßigkeit, im Kreise von Mätressen und +Musikanten, Schauspielern und Ballettänzern, und bei +Gelagen, wo man ihn, den ordengeschmückten Mann, +wie ein französischer Bericht der Zeit über ihn erzählt, +nacheinander einen Schinken, eine gesulzte Gans und +drei Hühner, dazu durcheinander Met, Kwas und allerlei +Wein vertilgen sehen konnte. Und doch war auch +dieser slawische Gargantua nicht ohne die grübelnden +und unberechenbaren Anwandlungen des echten Russen, +war bei aller fetten Gewöhnlichkeit ein sehr zusammengesetzter +Mensch. Wie ein orientalischer Großkönig +konnte er fragen: Wer ist glücklicher als ich? Aber wie +ein dekadenter Bojar erhob er sich gleich darauf, nahm +ein köstliches Porzellan in die Hand, sah es hamletisch +an und – warf es in Scherben, um eilends davonzugehen +und für Stunden sich einzuschließen. Sein Hirn +war unzufrieden vor Plänen, die sich nicht verwirklichen +ließen. Er selbst war, ewig genießend zwar, aber +auch ewig unternehmend. Als dann die politische Not +herandrängte, wurde er freilich sehr klein. Im Türkenkriege +wollte er die eben eroberte Krim gleich wieder +herausgeben. Und während der Schlacht sah man ihn +zagend und jammernd auf dem Erdboden hocken. König +von Dakien ist er nie geworden. Er starb banal, an +einem Schlagflusse. +</p> + +<p> +<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a> +Potemkins Seele jedoch flog über dieses ganze +russische Volk, und als Gogols Held auf einer dritten +russischen Reise, die in der Welt berühmt geworden ist, +durch das weite Land fuhr, um tote Seelen zu kaufen, +da stieß er überall auf Potemkin. Käufer und Verkäufer, +Schwindler und Beschwindelte, Ausbeuter und +Ausgebeutete: sie alle waren Potemkin. „Es gibt Menschen,“ +sagt Gogol einmal, „die auf der Welt nicht +als eigene Wesen vorhanden zu sein scheinen, sondern +als Pünktchen oder Fleckchen auf anderen Wesen.“ Alle +Russen, denen Gogol auf seiner Reise begegnete, alle +die Büttel und Beamte der Autokratie und Bürokratie, +alle die Verdorbenen durch Korruption, durch +Betrügen und Betrogenwerden, schienen aus dem einen +großen Kadaver Potemkins hervorgekrochen zu sein und +sich wie Pünktchen und Fleckchen, die in jedes russische +Dorf, in jede russische Kreisstadt getupft waren, über +Rußland zu verstreuen. Ganz Rußland bekam Potemkincharakter. +Und auch die russische Dichtung, der Humor, +mit dem in ihr Rußland sich selbst erkannte, bekam +diesen Potemkincharakter. +</p> + +<p> +Puschkin besang freilich den Helden, den ritterlichen +Jüngling. Doch Gogol meinte, daß es ein Gelächter +gebe, welches sich würdig mit den höheren, den lyrischen +Regungen des Menschen vergleichen lasse und weit entfernt +von den Sprüngen eines gewöhnlichen Lustigmachers +sei. Er fand es billig, Freskocharaktere und +Romanzeronaturelle zu skizzieren, Heroen mit flammenden +Augen, hängenden Brauen, einer gefurchten +Stirn und einem über die Schulter geworfenen Mantel. +Deshalb wählte er das Alltägliche, an dem ein gleichgültiger +<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a> +Blick vorüberzuschauen pflegt, und suchte es +mit seinen feinen und verborgenen, fast unsichtbaren und +doch so eigentümlichen Zügen zu erfassen. Er tat es +gleichwohl mit Drastik, mit einer Bildkraft, die so sicher +wie neu war, mit einer Handschrift, die das russische +Land, in dem alles in größerem Maßstabe erscheint, die +Wälder und Steppen wie die Gesichter, Lippen und +Füße, in einem breiten und weiträumigen und doch +wieder dichten und menschenerfüllten Bilderbogen zusammenfaßte, +volklich, holzschnitthaft und handbemalt. +Er sagte einmal: „Es gibt bekanntlich Gesichter, deren +Verfertigung der Natur nicht viel Kopfzerbrechen gekostet +und zu denen sie gar keine feineren Instrumente, +als da sind Feilen, Bohrer und Zangen, gebraucht zu +haben scheint, Gesichter vielmehr, die wie mit der Axt +gehauen sind, so daß auf einen Schlag vielleicht die Nase +entstand, auf einen anderen das Auge, der Mund usw.; +ohne Hobel anzulegen, schickte die Natur sie dann in die +Welt, indem sie ausrief: Gehet hin und lebt!“ Gogol +tat wie die Natur, solange es den Umriß galt, aber er +gebrauchte gar viele Feilen, Bohrer und Zangen, sobald +er das Allzumenschliche hineinkerbte. Er hatte wohl die +Mitleidlosigkeit, russische Bauern wie Klötze hinzustellen, +mit Köpfen wie Brote, mit Bärten wie Holzkeile, oder +auch die Liebenswürdigkeit, einmal ein slawisches +Mädchenoval mit einem frischen Ei zu vergleichen, dessen +durchsichtige Weiße die sorgfältige Wirtschafterin durch +das Sonnenlicht betrachtet. Aber sein größerer Vorwurf +war die russische Provinzgesellschaft potemkinischer +Herkunft mit ihren zweifelhaften Zwischengestalten, die +in unzähligen Exemplaren vorkommen und von denen +<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a> +eine jede ein Original ist. Hier verband sich im Leben +die Einfalt mit der Geriebenheit. Und hier gehörte +in der Dichtung zur Kontur die Nuance. +</p> + +<p> +Um die russische Erbsünde am russischen Menschen +zu strafen, wählte Gogol keinen Tugendhelden, sondern +einen Spitzbuben. Er umgab ihn mit seinesgleichen +und belebte den patriarchalischen Hintergrund +Rußlands mit den fatalen Gestalten seines Realismus. +Gogols Kenntnis des russischen Menschen wurde zur +Erkenntnis des russischen Schicksals. Er sprach von den +Eigenschaften der Rasse, sprach von seinen Landsleuten, +die nie etwas erreichen, weil sie schon gleich, wenn sie +anfangen, völlig befriedigt sind und daher alles getan +glauben und sich fürder gehen lassen. Er sprach auch +davon, daß der russische Erfindungsgeist, mochte innerlich +jeder Russe noch so „nach Fortschritt lechzen“, immer +nur durch Druck zur Tätigkeit angetrieben werden +könne. Er machte sich lustig über die Reformer aller +Art, zeigte in dem Versuch jeder Ordnung das Verhängnis +ewiger Unordnung auf und gab an einer grimmigen +Stelle in den „Toten Seelen“, an der er ein russisches +Landgut schilderte, das nur aus Büros und Ressorts, +Zentralen und Filialen, Plakaten und Avisen bestand, +die Karikatur aller Organisationsversuche in Rußland. +Den Grund dieser Leidigkeit aber fand er dort, wo der +Russe die Ordnung und die Organisation, die das +Gegenteil des Chaos sind, das er in sich trägt, in der +Vollendung suchen zu können glaubt: in den Einflüssen +des Westlertums, Europas. Er fragte, ob es nicht ärgerlich +sei, so sehen zu müssen, wie der Charakter des +Russen durch Bildung verstümmelt werde: „denn die +<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a> +sogenannte Humanität erzeugt, wenn sie zur Manie +wird, doch nur Don Quichotte“. Organisiert erschien +in Rußland lediglich die Korruption: sie ist die Gesamtfunktion +des Staates, wie sie das Lebensmotiv des +Einzelnen ist. Gogols letzter menschlicher Rat für Rußland +war ein Lob des Landlebens, als der letzten Stätte +russischer und menschlicher Reinheit: dort, auf dem Lande +„gibt es im Leben des Menschen keinen leeren Raum, +dort geht der Mensch eins und einig mit der Natur, +mit den Jahreszeiten, und nimmt Anteil an allem, was +sich in der Schöpfung vollzieht“. Sein letztes geistiges +Wort an Rußland aber war ein Gebet zu Gott: „ergreift +irgendeine Beschäftigung, ergreift sie so, als ob +ihr das, was ihr tut, für Ihn und nicht für die Menschen +tätet!“ +</p> + +<p> +Dostojewskis erstes und letztes Wort war dagegen +der Mensch, war Gott um des Menschen willen, Gott +und Mensch in Verbundenheit. Das unterscheidet ihn +von Gogol, mit dem er als Russe den Konservativismus, +das Leben aus der Urzelle teilte, und als Dichter das +Problem Rußlands, die Korruption im Russentume, die +Korrumpierung des russischen Menschen durch Bildung, +durch Westlertum, durch das petrinische Phantom. Von +der tragischen Schuld, die der Russe damit für Rußland +auf sich geladen hatte, befreite er ihn in seinen +großen Romanen, in der apokalyptischen Epik, die sich +in den „Brüdern Karamasoff“ zum Berg der Läuterung +türmte. Ein Inferno, eine Messe des schwarzen +Terror, machte er daraus in den „Dämonen“, in denen +der Politiker Dostojewski, der immer gegen das Zeitliche +das Ewige setzte, die revolutionäre Ideologie in +<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a> +ihrer ethischen Untiefe und metaphysischen Verworrenheit +bloßstellte. Und eine Groteske machte er daraus +in einer so bizarren Erzählung wie dem „Gut Stepantschikowo“, +in dem der Ironiker Dostojewski die russische +Bildung, Unbildung, Halbbildung gleich einem +Teufel austrieb. +</p> + +<p> +Gogol blieb unversöhnt und unversöhnlich. Sein +Lachen war wohl voll Verliebtheit in den Gegenstand, +aber blieb voll Bitterkeit zum Leben, blieb, wie es +boshaft war, böse zu den Menschen. Dostojewski dagegen +legte in seinen Humor seine Liebe zu den +Menschen, zu den Russen und Rußland. Der Humor +war für ihn ein Mittler, um diese russischen Menschen, +die im Leben vielleicht hassenswert genug erschienen, +wieder liebenswert in der Dichtung zu machen. Die +Komik hängte er ihnen nicht an, gleich einer Schelle, +die immer und überall den Narren verrät, wie Gogol +tat. Die Komik legte er in die Menschen nur hinein, +als eine Versöhnung mit ihnen in jeder Lage, in die +das Leben sie bringt. Gogol war mitleidlos, der unbarmherzige +Charakterologe, der die Menschen in Typen +hinstellt, und einem jeden, wie mit einem Zettel, einer +Marke, einer Nummer, die er ihnen anheftet, seinen +Steckbrief mitgibt. Der Psychologe Dostojewski dagegen +löste noch eine Hülle mehr von den Menschen +und legte ihre Seele bloß, die den Körper belebt, und +selbst den Kadaver belebte, auch wenn er sie verdeckte. +</p> + +<p> +Sogar der ewige Potemkin im russischen Leben +war für ihn nicht nur Figur, sondern Mensch. Er +kannte diesen Menschen mit allen seinen Schwachheiten, +seinen sprunghaften europäischen Anstrengungen, +<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a> +seinen ewigen russischen Unzulänglichkeiten. Er sagte +einmal: „Für mich ist die höchste Komik – eine Tätigkeit, +die niemandem nützt.“ Das war russisch, das +war in Rußland beobachtet, wo die einzige bemerkenswerte +Tätigkeit seit langem die bürokratische des +Staates und die dilettantische einer Bildung waren, +die beide diesen russischen Menschen nur verdarben, +der vor allem auf sich selbst beruhen will. Aber die +Gestalt, die Dostojewski dann aus diesen verdorbenen +russischen Menschen machte, aus den schuldigen und +den unschuldigen, war die Gestalt der Güte, die er +zu ihnen empfand. Er hetzte dazu die Menschen durch +alle ihre Menschlichkeiten, aber er hetzte sie nur so +lange, bis er sie dort hatte, wo er sie haben wollte, +wo er ihre Komik herausbekam, und er sie durch ihre +Menschlichkeit rechtfertigen konnte. Dostojewski kannte +diesen Weg zum Humor, der auch noch immer schmerzlich +ist, und dennoch erlösend für den, der den Humor +besitzt, wie für den, den er betrifft: „Humor,“ sagte +er ein anderes Mal, „ist die Spitzfindigkeit eines tiefen +Gefühls.“ +</p> + +<p> +Hinter diesem Gefühl lag bei ihm der Glaube an +Rußland, an die Kraft, Jugend und Urgesundheit des +russischen Volkes, das unzerstörbar ist und alle Potemkinaden +der Aufklärung, der bürokratischen wie der +literarisch-westlerischen, in innerer Unversehrtheit überdauert. +Auch sein Humor war eine Form seiner russischen +Religiosität. Im Humor der Völker mischen +sich immer ein Menschliches und ein Seeliges, ein +Empirisches und ein Transzendentes. Humor ist von +jener Welt und äußert sich doch in dieser. Eine Liebe +<a id="page-XIV" class="pagenum" title="XIV"></a> +fällt aus dem Himmel auf die Erde, ein Lachen auf das +Leid. Ja, so tief im Seelischen, in der Herzlichkeit der +Dinge, die sind, und des Menschen, der sie anschaut, ist +der Humor der Russen verwurzelt, daß er selbst dort, wo +er zur Satire wird, sich zu entschuldigen und mit allem, +was Anlaß zur Satire gibt, zu versöhnen sucht. Was +dieser Humor gibt, mittelbar bei Gogol, unmittelbar bei +Dostojewski, das ist in der Form einer großen Versöhnung +mit Rußland eine große Entschuldigung Rußlands. +Auch Dostojewski, der große Leidende für den +russischen Menschen in jedwedem Menschen, nahm nur +die Überlieferung auf, die sich fast von den Reformen +Peters an durch die Literatur Rußlands gezogen hatte. +Damals war zum ersten Male die Schicksalsfrage des +Russentums gestellt worden: Europäertum oder Asiatentum? +Fremdkultur oder Eigenkultur? oder, wie sie später +formuliert wurde, Anschluß an die Partei der Westler? +oder an die der Slawophilen? Und nicht müde war +man von da an geworden, von Kantemir bis Vonwisin +und Gribojedoff, den Konflikt in dieser Frage in Satiren +auszutragen. Dann wurde die Korruption das +tragikomische Thema Gogols, des „Revisors“ und der +„toten Seelen“. Die Korruption war das moralische +Nebenproblem des geistigen Grundproblems: wie kommt +Rußland wieder zu sich selbst, auf daß es von sich selbst +erlöst werde? Diese Frage wurde das zentrale Lebensproblem, +das Dostojewski in Rußland vorfand und +das über die russische Gesellschaft hinaus den russischen +Menschen anging. Um dieses Problemes willen zog +Dostojewski aus, um lebende Seelen zu kaufen. +Und niemals wurde es ihm klarer als damals, +<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a> +da er aus Sibirien heimkehrte, aus der Einsamkeit +in die Gesellschaft zurücktrat. Da sah er seines +Volkes große und kleine Laster, sah seine Häßlichkeiten, +und in den Häßlichkeiten seine geheime Schönheit, aber +auch seine offenbare Lächerlichkeit. Er, der ein Dichter +war, weil er ein Dulder war, durchschaute mit einem +Male die Halben und Leeren, die wandelnden Karikaturen +der Literatur und der Politik, die Poeten und +Nihilisten, die Emanzipierten und Bildungsphilister. +Er wurde nicht wahnsinnig über dieser verrückten Welt, +wie Gogol über seiner verdorbenen geworden war. Er +fand in der Tragik die Schuld, und im Humor immer +noch die Entschuldigung der Menschen: Rußlands. +</p> + +<p class="sign"> +M. v. d. B. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-3"> +<a id="page-XVI" class="pagenum" title="XVI"></a> +<span class="firstline">Vorbemerkung.</span> +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> satirisch-humoristischen Dichtungen Dostojewskis: +„Das Gut Stepantschikowo“ und „Onkelchens +Traum“, sind die ersten, die er nach seiner Rückkehr aus +Sibirien in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben, +bzw. vollendet hat. +</p> + +<p class="sign"> +E. K. R. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-4"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +<span class="firstline">I.</span><br> +Stepantschikowo. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostaneff, +war, nachdem er seinen Abschied genommen, auf das +ihm durch Erbschaft zugefallene Gut Stepantschikowo +übergesiedelt und hatte sich daselbst alsbald in einer +Weise eingelebt, daß man ihn für einen eingefleischten, +einen geborenen Gutsherrn hätte halten und von ihm +denken können, er sei in seinem ganzen Leben noch nie +über die Grenze seines Besitztums hinausgekommen. +</p> + +<p> +Es gibt Naturen, die tatsächlich mit allem zufrieden +sind und sich an alles gewöhnen können. Von dieser +Art war entschieden auch die Natur meines Onkels, +des Obersten a. D. Es ist schwer, sich einen Menschen +vorzustellen, der sanftmütiger und widerspruchsloser +zu allem und jedem bereit gewesen wäre als er. Hätte +jemand den Einfall gehabt, ihn etwa mit ernstestem +Gesicht zu bitten, irgendeinen ihm ganz fremden +Menschen zwei Werst weit auf seinen Schultern zu +tragen, so würde er es wahrscheinlich auch getan haben. +Er war dermaßen gut, daß er am liebsten gleich alles, +was er besaß, auf die erste Bitte hin fortgegeben hätte +– sein letztes Hemd dem ersten besten Bettler. Sein +Äußeres war reckenhaft: er hatte eine hohe, straffe +Gestalt, ein frisches Gesicht, wie Elfenbein weiße +Zähne, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart, eine +klangvolle, laute Stimme und ein offenherziges, tiefklingendes +Lachen. Er sprach schnell und in abgerissenen +Sätzen. Damals, als er nach Stepantschikowo +zog, war er noch nicht vierzig Jahre alt. Von +<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a> +seiner Geburt oder vielmehr von seinem sechzehnten +Lebensjahre an war er Husar gewesen. Geheiratet +hatte er sehr früh, hatte seine Frau abgöttisch geliebt, +sie aber schon bald verloren. Eine unauslöschliche, +tief zärtliche Erinnerung an sie bewahrte er in seinem +Herzen. Als ihm dann eines Tages das Gut Stepantschikowo, +das seinen Besitz um sechshundert Seelen +vergrößerte, durch Erbschaft zugefallen war, da hatte +er den Abschied genommen und sich, wie gesagt, auf +dem Lande niedergelassen, zusammen mit seinen beiden +Kindern: dem achtjährigen Iljuscha – dessen Geburt +der Mutter das Leben gekostet hatte – und der älteren, +etwa fünfzehnjährigen Tochter Alexandra, genannt +Ssaschenjka oder auch Ssaschúrka, die nach dem Tode +der Mutter in einer vornehmen Moskauer Pension +erzogen worden war. +</p> + +<p> +Leider nahm das Haus meines Onkels alsbald das +Aussehen einer Arche Noah an, und das ging auf folgende +Weise vor sich. +</p> + +<p> +Zur selben Zeit, als mein Onkel das Gut erbte und +seinen Abschied nahm, geschah es, daß seine Mutter, +die Generalin Krachotkina, ihren zweiten Mann verlor. +Sie hatte nämlich zum zweitenmal geheiratet – +vor etwa sechzehn, siebzehn Jahren, als mein Onkel +noch als Fähnrich in seinem Regiment stand, sich aber +nichtsdestoweniger auch seinerseits bereits mit Heiratsgedanken +trug. Seine „Mama“ hatte ihm damals +lange ihren Segen zur Heirat vorenthalten, dafür aber +mit bitteren Tränen nicht gekargt, ihm Eigennutz vorgeworfen, +Undankbarkeit, Unehrerbietung ... Sie +hatte ihm nachgewiesen, daß heißt, mehrfach auseinandergesetzt, +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +daß seine Einkünfte – er besaß zweihundertundfünfzig +Seelen – nicht einmal zum Unterhalt +seiner „Familie“ ausreichten (zum Unterhalt +seiner „Mama“ nämlich, mit deren ganzem Stabe von +guten Freundinnen, die unentgeltlich bei ihr lebten, +ihren Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und ähnlichem +Gezeug in Mengen), bis sie dann plötzlich, inmitten +dieser Vorwürfe, Auseinandersetzungen und +Tränen, ganz unerwartet, noch bevor der Sohn dazu +gekommen war, selbst heiratete, – obgleich sie nicht +weniger als zweiundvierzig Jahre zählte. Übrigens +fand sie auch hierfür eine Erklärung, die selbstredend +die Schuld meinem armen Onkel in die Schuhe schob: +sie versicherte unter Tränen, daß sie einzig aus dem +Grunde heirate, um in ihren alten Tagen eine Unterkunft +zu haben; denn ihr unehrerbietiger, selbstsüchtiger +Herr Sohn wolle sie ja für künftighin ihres Obdaches +berauben, jetzt, da er die unverzeihliche „Eigenmächtigkeit“ +habe, sich einen „eigenen Hausstand“ zu +gründen. +</p> + +<p> +Leider habe ich nie in Erfahrung bringen können, +welcher entscheidende Grund einen anscheinend so vernünftigen +Menschen wie den General Krachotkin zu +dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe +bewogen hatte. So muß ich denn als einzige Wahrscheinlichkeit +annehmen, daß er sie wohl für reich gehalten +haben wird. Manche Leute meinten zwar, er +hätte einfach einer Wärterin bedurft, da er schon damals +jenen Schwarm von Krankheiten vorausgeahnt +habe, der sich dann im Alter auch richtig auf ihn +niederließ. Sicher ist nur eines: daß der General +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +seine Frau während der ganzen Zeit seines Zusammenlebens +mit ihr nichts weniger als geachtet oder gar +geliebt, sondern sich bei jeder Gelegenheit mit beißendem +Spott über sie lustig gemacht hat. +</p> + +<p> +Er war ein eigentümlicher Mensch: war halbgebildet +und durchaus nicht dumm, aber er verachtete +entschieden alle und jeden, befolgte keinerlei Regeln, +spottete über sämtliche Lebenserscheinungen, angefangen +beim Menschen und so weiter bis ins Endlose, und +wurde in seinen alten Tagen unter dem Einfluß all +seiner Krankheiten – die eine gerechte Folge seines +nicht ganz gerechten oder rechtschaffenen Lebens waren +– böse, boshaft, reizbar und unbarmherzig. Im +Dienst hatte er Glück gehabt; aber zu guter Letzt war +er doch gezwungen gewesen, wegen irgendeiner „unangenehmen +Geschichte“ etwas plötzlich seinen Abschied +zu nehmen, wobei er nur mit genauer Not dem entging, +daß man ihn vor ein Kriegsgericht stellte und +um seine Pension brachte. Dieser Abschied erbitterte +ihn endgültig. Und so legte er denn, fast mittellos, +nur im Besitze eines Hunderts im Elend lebender Leibeigener, +die Hände in den Schoß und erkundigte sich +hinfort bis an das Ende seiner Tage, das noch zwölf +Jahre auf sich warten ließ, kein einziges Mal weder +nach den Kosten seines Unterhalts, noch danach, wer +sie für ihn bestritt. Indessen schränkte er sich nicht +im mindesten ein, hielt eine Equipage, Pferde und +einen Kutscher und verlangte nach wie vor alle Lebensbequemlichkeiten. +Bald darauf ward er noch des Gebrauches +seiner Beine beraubt und saß zehn Jahre lang +in einem triumphstuhlartigen Fauteuil, der, sobald er +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +es nur wünschte, von zwei dazu bestimmten Dienern +geschaukelt wurde, wofür diese ausschließlich die verschiedenartigsten +Schimpfwörter von ihm zu hören bekamen. +Die Equipage, die Pferde und den kostspieligen +Fauteuil bezahlte sämtlich der unehrerbietige Herr +Stiefsohn, der seiner Mutter das Letzte schickte, sein +Gut doppelt und dreifach belastete, sich selbst das Notwendigste +versagte und Schulden über Schulden auf +sein armes Haupt lud, die er bei seinem damaligen +Besitzstand nie zu tilgen vermocht hätte. Nichtsdestoweniger +verblieb ihm unwandelbar die Bezeichnung +des „Egoisten“ und „undankbaren Sohnes“. Mein +Onkel war aber von Natur so veranlagt, daß er schließlich +selbst glaubte, ein „Egoist“ zu sein, und so schickte +er, erstens um sich dafür zu strafen, und zweitens, um +sich den „Egoismus“ abzugewöhnen, immer noch mehr +Geld. Die Generalin dagegen war vor ihrem zweiten +Gatten die Andacht selbst. Wahrscheinlich gefiel ihr +an ihm vor allem dies, daß der General und sie folglich +Generalin war. +</p> + +<p> +Im Hause bewohnte er die eine, sie die andere +Hälfte. Und in dieser anderen Hälfte gedieh sie +während der ganzen Zeit des halblebendigen Lebens +ihres Mannes im Kreise von ihren daselbst wohnenden +Freundinnen, Möpsen und den zum Kaffee sich einfindenden +Stadthistorikerinnen. Sie war eine wichtige +Persönlichkeit in ihrem Städtchen. Der Klatsch, die +ergebensten Bitten, Kinder aus der Taufe zu heben, +sowie die geliebte Kopekenpatience entschädigten sie +vollauf für ihre häuslichen Unannehmlichkeiten. Alle +Stadtelstern erschienen bei ihr mit ausgearbeiteten +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +Berichten, ihr wurde überall der erste Platz eingeräumt, +– mit einem Wort, sie wußte aus ihrem Generalstitel +alles herauszuschlagen, was daraus nur herauszuschlagen +war. Der General kümmerte sich um so +etwas nicht. Dafür aber verspottete er seine Frau, +und zwar mit Vorliebe in Gegenwart Fremder, fragte +zum Beispiel ungeniert, weshalb er eigentlich „ein +solches Weibsbild“ geheiratet habe – und niemand +durfte dagegen Einspruch erheben. Mit der Zeit zogen +sich alle Bekannten von ihm zurück, während gerade +er ohne Gesellschaft nicht auskommen konnte: denn er +wollte erzählen, schwatzen, streiten; kurz, er wollte, daß +beständig ein Zuhörer vor ihm saß. Er war ein Freigeist +und Atheist vom alten Schlage, und daher philosophierte +er gern über höhere Dinge. Zum Unglück +waren aber die Zuhörer des Städtchens nicht sehr begeistert +für höhere Dinge, und so kamen sie immer seltener +zu ihm. Dann versuchte man es mit einem Whist- oder +Préférenceabend, aber auch daraus wurde nichts: das +Spiel endete für den General gewöhnlich mit solchen +Wutanfällen, daß die Generalin und ihr ganzer Stab +von Freundinnen vor lauter Entsetzen vor den Heiligen +Wachskerzen anzündeten, Messen lesen ließen, sich mit +weißen Bohnen und französischen Karten im Wahrsagen +übten, barmherzige Semmeln im Gefängnis +austeilten und mit Hangen und Bangen der Stunde +entgegensahen, in der sie wieder eine Partie Whist oder +Préférence zustande bringen mußten, um für das geringste +Versehen abermals Geschrei, Geschimpfe und +fast sogar Prügel zum Dank zu erhalten. Wenn dem +General etwas mißfiel, so tat er sich vor keinem einzigen +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Menschen Zwang an: er kreischte dann wie ein +altes Weib, schimpfte wie ein Droschkenkutscher; zuweilen +aber, wenn er alle seine Partner zum Teufel +gejagt, die Karten zerrissen und ihnen an den Kopf +geworfen hatte, weinte er vor Verdruß und Wut, was +alles nur wegen eines armen Buben geschah, den man +statt einer Neun ausgespielt hatte. Schließlich, als +seine Sehkraft immer mehr abnahm, bedurfte er eines +Vorlesers. Und da erschien denn Foma Fomitsch +Opiskin! +</p> + +<p> +Ich muß gestehen, daß ich mich mit einer gewissen +Feierlichkeit anschicke, von dieser neuen Persönlichkeit +zu berichten – einer der wichtigsten meiner Erzählung. +Inwieweit er ein Recht auf die Aufmerksamkeit des +Lesers hat, will ich nicht im voraus zu erklären versuchen; +darüber zu entscheiden steht vielmehr weiterhin +dem Leser selbst zu. +</p> + +<p> +Als Foma Fomitsch sein Amt beim General Krachotkin +antrat, erhielt er lediglich freie Kost – nichts +mehr und nichts weniger. Woher er kam – ist unbekannt. +Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Genaueres +über das früheres Leben dieses merkwürdigen +Menschen in Erfahrung zu bringen. Es hieß, daß er +irgendeinmal irgendwo Beamter gewesen sei, daß man +ihm dann ein „Unrecht“ getan und er – selbstverständlich! +– „um der Wahrheit willen“ zum Märtyrer +geworden sei. Auch verlautete von anderer Seite, daß +er sich einmal in Moskau mit Literatur abgegeben +habe, was ja weiter nicht erstaunlich gewesen wäre; +die geradezu schmutzige Unwissenheit Foma Fomitschs +konnte für seine literarische Laufbahn gewiß nicht als +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +Hindernis in Frage kommen. Glaubwürdig ist jedoch +fraglos nur das eine: daß er es in keinem Fach sehr +weit gebracht hatte und schließlich gezwungen gewesen +war, als Vorleser in den Dienst des Generals zu treten. +</p> + +<p> +Es gibt keine Erniedrigung, die Foma nicht für +einen satten Magen in den Kauf genommen hätte. +Freilich versicherte er uns nach dem Tode seines +Peinigers, als er plötzlich und ganz unerwartet zu +einer wichtigen, überaus einflußreichen Person wurde, +daß er sich mit seiner Bereitwilligkeit, den Narren zu +spielen, nur großmütig dem Freunde, der Freundschaft +geopfert habe, daß der General sein Wohltäter und +ein großer, doch leider unverstandener Mann gewesen +sei und nur ihm, Foma, die tiefsten Tiefen seiner Seele +vertrauensvoll erschlossen habe, und wenn er, Foma, +auf den Wunsch des Generals die verschiedensten Tiere +nachgeahmt und lebende Bilder gestellt, so sei dieses +von ihm aus einzig und allein zur Zerstreuung und +Erheiterung des von Krankheiten aller Art heimgesuchten +Dulders und Freundes geschehen. Nichtsdestoweniger +sind die Versicherungen und nachträglichen +Erklärungen Foma Fomitschs bezüglich jenes +Sachverhaltes unbedingtem Zweifel unterworfen. Doch +wie dem auch sei, jedenfalls spielte Foma Fomitsch +bereits während seines Narrendienstes eine durchaus +andere Rolle in der Damenabteilung des Hauses der +Generalin. Wie er das fertiggebracht hat, kann sich +jemand, der in solchen Dingen nicht Spezialist ist, +schwer vorstellen. Die Generalin hegte für ihn eine +gerader mystische Hochachtung, – aus welchem +Grunde sie sie hegte, vermag ich nicht zu sagen. Mit +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +der Zeit gewann er über alles Weibliche im Hause +eine erstaunliche Macht, die in etwas an die Macht +gewisser Iwan Jakowlewitschs erinnerte, oder ähnlich +benannter Weisen und Propheten, die in Irrenhäusern +von Damen, die für dergleichen empfänglich sind, besucht +zu werden pflegen. Er las ihnen aus seelenrettenden +Büchern vor, erklärte ihnen mit beredten +Tränen den tieferen Sinn verschiedener christlicher +Tugenden, schilderte auch sein eigenes Leben und seine +Heldentaten, ging zum Gottesdienst (und sogar zum +Frühgottesdienst), sagte außerdem die Zukunft voraus, +verstand mit ganz besonderem Talent Träume zu +deuten und meisterhaft den Nächsten zu verdammen. +Der General ahnte bald, was in der anderen Hälfte +seines Hauses geschah, und tyrannisierte seinen +Krippenreiter noch erbarmungsloser. Doch siehe, das +Martyrium Foma Fomitschs verlieh diesem in den +Augen der Generalin und ihrer ganzen Suite eine um +so glänzendere Aureole, an die sich natürlich entsprechend +gesteigerte Hochachtung knüpfte. +</p> + +<p> +Da starb der General, und die Situation änderte +sich. Seine Sterbestunde soll übrigens ziemlich originell +gewesen sein. Dem ehemaligen Freigeist und +Atheisten war bis zur Unglaublichkeit bange geworden. +Er weinte, bereute, küßte Heiligenbilder, rief Geistliche +herbei, ließ Messen lesen und alle für sich beten; dazwischen +schrie der arme Teufel, daß er nicht sterben +wolle, und bat Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung, +was diesem in der Folge sehr zustatten kam. +Doch kurz bevor sich die Seele des Generals von seinem +Körper trennte, geschah noch folgendes: Die Tochter +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +der Generalin, meine Tante Praskowja Iljinitschna, +die unverheiratet im Hause ihrer Mutter lebte – eines +der liebsten Opfer des Generals, da sie ihm während +seiner zehnjährigen Beinlosigkeit zur beständigen Bedienung +unentbehrlich war und ihm wegen ihrer Einfachheit +und stummen Güte gefiel, – trat nun an sein +Lager, bittere Tränen vergießend, um das Kopfkissen +des armen Sterbenden zu rücken. Da aber packte sie +der „arme Sterbende“ an den Haaren, und es gelang +ihm noch, sie ungefähr dreimal, fast knirschend vor +Wut, mit aller und letzter Kraft hin und her zu reißen. +Nach zehn Minuten war er tot. Der Oberst, mein +Onkel, wurde sofort von seinem Hinscheiden benachrichtigt, +obgleich die Generalin hundertmal gesagt +hatte, daß sie eher gleichfalls sterben werde, als daß +der Sohn ihr in einer solchen Stunde vor die Augen +kommen sollte. Die Beerdigung war großartig – +selbstverständlich auf Kosten des unehrerbietigen +Sohnes, der, nebenbei bemerkt, auch dann sich nicht +unterstehen durfte, das Haus seiner Mutter zu betreten. +</p> + +<p> +Auf dem verschuldeten Gut Knjäsewka, das mehreren +Herren gemeinsam gehörte, und auf dem auch die +hundert Leibeigenen des Generals lebten, steht jetzt ein +Mausoleum aus weißem Marmor, besät mit Inschriften, +die alle dem hohen Verstande, den mannigfachen +Talenten, der Herzensgüte, dem Seelenadel und +den trefflichen militärischen Eigenschaften des Entschlafenen +das höchste Lob spenden. Bei der Zusammenstellung +dieser Inschriften hat Foma Fomitsch +stark mitgewirkt. Es dauerte lange, bis die Generalin +ihrem unehrerbietigen Sohne Verzeihung gewährte. +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +Schluchzend beteuerte sie, umringt von ihrem ganzen +Gefolge, einschließlich der Möpse und Katzen, daß sie +lieber trockenes Brot essen – welches sie natürlich mit +ihren Tränen anfeuchten würde – oder mit einem +Krückstock betteln gehen wolle, als daß sie der Bitte +ihres „ungehorsamen“ Sohnes nachgäbe und zu ihm +nach Stepantschikowo übersiedelte. +</p> + +<p> +„Niemals, niemals werde ich meinen <em>Fuß</em> über +seine Schwelle setzen!“ rief sie erregt aus, wobei das +Wort „mein <em>Fuß</em>“, in dieser Verbindung gebraucht, +ungewöhnlich effektvoll herausgebracht wurde. Sie +sprach es wirklich meisterhaft, geradezu künstlerisch +aus. Kurz, Reden wurden von ihr in unglaublichem +Überfluß vergeudet. Nur muß ich hier bemerken, daß +gleichzeitig mit diesen Versicherungen bereits die Koffer +zur Übersiedelung nach Stepantschikowo gepackt wurden +– allerdings heimlich. +</p> + +<p> +Inzwischen jagte der Oberst alle seine Pferde zuschanden, +da er täglich von seinem Gute in die vierzig +Werst entfernte Stadt gefahren kam, bis er dann endlich, +vierzehn Tage nach der Beerdigung des Generals, +die Erlaubnis erhielt, bei seiner tiefgekränkten Frau +Mutter zu erscheinen. Foma Fomitsch war in dieser +Zeit als Unterhändler benutzt worden. Zwei Wochen +lang warf er dem Ungehorsamen sein „unmenschliches“ +Verhalten zur Mutter vor, brachte den Armen zu aufrichtigen +Tränen und fast zur Verzweiflung. Von +diesen Tagen an datiert der unbegreifliche, unmenschlich +despotische Einfluß Foma Fomitschs auf meinen armen +Onkel. Foma erriet sofort, was für einen Menschen +er vor sich hatte und – daß seine Narrenrolle zu +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +seinem Glück zu Ende gespielt war, folglich aber auch +er, Foma, so etwas wie „Herr“ sein konnte. Und so +entschädigte er sich denn. +</p> + +<p> +„Wie würde Ihnen zumute sein,“ fragte Foma, +„wenn Ihre leibliche Mutter, sozusagen die Urheberin +Ihrer Tage, einen Krückstock nähme und, mit ihren +zitternden, von Hunger abgemagerten Händen sich auf +ihn stützend, tatsächlich betteln ginge? Wäre das nicht +ungeheuerlich, erstens bei ihrem Rang als Generalin, +und zweitens bei ihren Tugenden? Was würden Sie +empfinden, wenn sie eines Tages unter den Fenstern +Ihres Hauses erschiene (was natürlich nur aus Versehen +geschehen könnte, aber es wäre doch immerhin +möglich), und wenn sie ihre Hand um ein Almosen +bittend ausstreckte, während Sie, ihr Sohn, gerade +irgendwo in einem Daunenbett versinken und ... nun, +in Luxus, kurz gesagt, schwelgen? ... So etwas wäre +doch entsetzlich, ganz entsetzlich! Am entsetzlichsten ist +aber – gestatten Sie, Oberst, daß ich Ihnen das ganz +offen sage – ja, am entsetzlichsten hierbei ist, daß Sie +jetzt wie ein gänzlich gefühlloser Pfosten vor mir stehen, +den Mund halb aufsperren und nur die Augenlider +von Zeit zu Zeit zusammenklappen, was gewissermaßen +sogar unhöflich ist, während Sie bei dem bloßen Gedanken +an eine solche Möglichkeit sich die Haare Ihres +Hauptes mit der Wurzel ausraufen und Ihren Augen +Ströme ... was sage ich! – Flüsse, Seen, Meere, +Ozeane von Tränen entfließen müßten!“ +</p> + +<p> +Der übliche Ausgang seiner Reden war, daß er +vor lauter Hingerissensein sich fortreißen ließ und die +Übersicht über die Tragweite der eigenen Worte verlor. +</p> + +<p> +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +So kam es denn, daß die Generalin samt ihrem +ganzen Stabe – alles Vierbeinige inbegriffen – +samt Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna, ihrer +größten Busenfreundin, endlich das Herrenhaus von +Stepantschikowo mit ihrer Ankunft beglückte. Sie erklärte, +daß sie vorläufig nur <em>versuchen</em> wolle, bei +ihrem Sohn zu leben, und gleichzeitig käme sie, um +seinen Gehorsam zu prüfen. Man kann sich wohl die +Lage des Obersten in dieser Zeit der „Prüfung seines +Gehorsams“ ungefähr vorstellen! Anfangs hielt es die +Generalin, als jüngst verwitwete Frau, für ihre Pflicht, +etwa zwei- oder dreimal wöchentlich in der Erinnerung +an ihren unwiederbringlich verlorenen Gatten, in Verzweiflung +zu geraten; und diese Verzweiflung hatte +die Eigentümlichkeit, sich alsbald aus unbekannten +Gründen in einem Gewitter über dem Haupte des +armen Obersten zu entladen. Zuweilen, vornehmlich +wenn Besuch zugegen war, rief sie ihre beiden Enkelkinder +zu sich, den kleinen Iljuscha und die fünfzehnjährige +Ssaschenjka, hieß sie sich ihr gegenüber hinsetzen, +sah sie lange, lange, mit traurigem, kummervollem +Blick an, eben wie Kinder, die bei einem +„<em>solchen Vater</em>“ dem Untergang geweiht sind, +seufzte tief und schwer und brach in wortlose, geheimnisvolle, +weil unerklärliche Tränen aus, die dann +mindestens eine geschlagene Stunde unaufhaltsam +flossen. Wehe dem Obersten, wenn er diese Tränen +nicht zu begreifen <em>verstand</em>! Er aber, der Arme, +verstand nie, sie zu begreifen, geriet vielmehr in seiner +Naivität wie mit Absicht gerade zu diesen gefährlichen +Stunden in ihren Gesichtskreis und mußte daher, ob +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +er wollte oder nicht, eine neue Prüfung bestehen. +Nichtsdestoweniger verringerte sich seine Ehrerbietung +nicht – im Gegenteil, sie wuchs noch ... bis sie +schließlich die äußersten Grenzen erreichte. Die Generalin +und Foma Fomitsch fühlten nun beide, daß das +Gewitter, welches so lange Jahre in der Gestalt des +Generals Krachotkin in unwandelbarer Beständigkeit +über ihren Häuptern geschwebt hatte, endlich vorübergezogen +war und nie mehr wiederkehren werde. Zuweilen +kam es auch vor, daß die Generalin mir nichts +dir nichts auf das Sofa sank und – „in Ohnmacht +fiel“: alles lief dann und schrie, der Oberst war aufs +äußerste erschrocken und zitterte wie ein Espenblatt. +</p> + +<p> +„Du grausamer Sohn!“ kreischte dann die Generalin +los, kaum daß sie das Bewußtsein wiedererlangt +hatte, „du hast mich zerrissen, – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">oui, moi, ta mère, +ta mère</span>!“ +</p> + +<p> +„Ja aber – wann habe ich Sie denn zerrissen, +Mama?“ +</p> + +<p> +„Das hast du, das hast du! Mich zerrissen hast +du! Jetzt will er sich noch rechtfertigen! Er wird noch +unehrerbietig! O du grausamer, unbarmherziger +Sohn! Oh, ich sterbe!“ +</p> + +<p> +Der Oberst aber war zerknirscht. +</p> + +<p> +Nur weiß ich nicht, wie es kam, daß die Generalin +es mit dem Sterben nie wörtlich nahm. +</p> + +<p> +Nach einer halben Stunde erklärte der Oberst wohl +einem seiner „Hausgäste“, ihn am Rockknopf festhaltend, +die Sache auf folgende Weise: +</p> + +<p> +„Nun, ja, sie ist doch, Freund, Grandedame, Generalin! +– das mußt du nicht vergessen. Sonst ist sie +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +ja eine herzensgute, alte Frau, nur ist sie, weißt du, an +diesen höheren Ton gewöhnt ... nun, und ich Tölpel +verstehe eben so etwas nicht. Jetzt ärgert sie sich über +mich. Es ist ja wahr, ich bin schuldig ... obschon mir, +offen gestanden, immer noch nicht so recht klar ist, was +ich denn eigentlich verschuldet habe, aber es wird wohl +so sein, selbstverständlich! ...“ +</p> + +<p> +Mitunter glaubte sich in solchen Fällen wohl auch +Fräulein Perepelizyna verpflichtet, ihm deswegen eine +Moralpredigt zu halten. Sie war ein etwas überreifes +Fräulein, ohne Augenbrauen, mit falschem Haar, +kleinen, stechenden Äuglein, mit Lippen, die wie Bindfaden +so schmal waren, und mit Händen, die sie in +gesalzenem Gurkenwasser wusch. +</p> + +<p> +„Das kommt daher, daß Sie unehrerbietig sind, +und weil Sie egoistisch sind, weil Sie Ihre Frau +Mutter kränken, Ihre Frau Mutter aber an eine solche +Behandlung nicht gewöhnt ist ... denn sie ist doch +Generalin ... Sie aber sind nur erst Oberst.“ +</p> + +<p> +„Nein, weißt du, Freund,“ sagte dann wohl der +Oberst zu seinem Zuhörer, „Fräulein Perepelizyna ist +doch im Grunde ein vorzügliches Mädchen, sie steht +wie ein Mann für meine Mutter ein! Wirklich ein +seltenes Mädchen! Glaub’ nur nicht, daß sie irgend +so eine aus Gnade und Barmherzigkeit ernährte +Klatschbase sei! Bewahre! Sie ist selbst die Tochter +eines Majors. Tatsache!“ +</p> + +<p> +Doch das sind vorläufig nur so einige Beispiele. +Dieselbe Generalin aber, die so verschiedenartige Anfälle +bekam, zitterte ihrerseits wie eine Maus vor dem +ehemaligen Narren ihres Gatten. Foma Fomitsch +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +besaß förmlich Zaubermacht über diese Dame. Sie +wagte nicht zu mucken, wenn er etwas befahl; sie hörte +nur mit seinen Ohren, sah nur mit seinen Augen. Einer +meiner Vettern zweiten Grades, gleichfalls ein Husarenoffizier +a. D., ein noch junger Mensch, der aber nichtsdestoweniger +sein ganzes Vermögen bereits doppelt +durchgebracht hatte und sich seit einiger Zeit bei meinem +Onkel aufhielt, erklärte mir kurz und bündig, ohne den +geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß die Generalin +nach seiner felsenfesten Überzeugung in „unerlaubten +Beziehungen“ zu Foma Fomitsch stünde. Ich +ließ jedoch diese Deutung selbstverständlich nicht gelten. +Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes, +viel Feineres – doch bleibt mir zur Erklärung dieses +anderen nur eines übrig: den Charakter Foma Fomitschs +so zu erklären, wie ich ihn mit der Zeit selbst +beurteilen lernte. +</p> + +<p> +Man denke sich einen der niedrigsten, kleinmütigsten +Menschen, einen Auswurf der Gesellschaft, für +den niemand eine Verwendung hat, einen vollkommen +nutzlosen, erbärmlichen Wicht, der aber grenzenlos eitel, +selbstgefällig und eigennützig ist und zum Überfluß von +der Natur entschieden nichts erhalten hat, wodurch er +auch nur annähernd eine solche krankhaft überspannte +Eigenliebe und Eigensucht rechtfertigen könnte. Ich +will hier eines gleich vorausschicken: Foma Fomitsch +ist die Verkörperung jener ganz besonderen schrankenlosen +Eigenliebe, die sich nur bei der größten Nichtigkeit +entwickelt. Wie gewöhnlich in solchen Fällen, scheint +diese Eigenliebe ständig beleidigt und durch frühere +schwere Mißerfolge gezüchtet zu sein. Sie gärt seit +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +vielen, vielen Jahren, Jahrzehnten, und zeugt nur noch +Neid, Gift und Galle, gleichviel, ob es sich um einen +fremden Erfolg handelt oder bloß um eine neue Bekanntschaft. +Es ist vielleicht überflüssig, noch hinzuzufügen, +daß dieser ganze Charakter von einer nahezu +schändlichen unverschämten Empfindlichkeit, dem verrücktesten +Argwohn und Mißtrauen beherrscht wird. +Vielleicht wird man fragen: Woraus ist denn diese +Eigenliebe entstanden? Wie kann sie bei einer so offenkundigen +Wertlosigkeit des ganzen Menschen entstehen, +bei einem so nichtigen Menschen, der doch allein seiner +sozialen Stellung nach den ihm in Wirklichkeit zukommenden +Platz kennen müßte? – Was soll man +auf solche Fragen antworten? Vielleicht gibt es Ausnahmen, +zu denen dann auch mein Held gehört; denn daß +er eine Ausnahme von der Regel war, unterliegt keinem +Zweifel, was sich bei näherer Bekanntschaft sonnenklar +zeigen wird. Einstweilen erlaube man mir eine Gegenfrage: +Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß diese +Menschen, die sich ganz und gar ergeben haben, die +darin ihr Glück sehen und es sich zur Ehre anrechnen, +daß sie jemandes Hausnarr und Gnadenbrotschlucker +sein können – sind Sie wirklich überzeugt, daß diese +Kreaturen sich von jedem Selbstgefühl, von jeder +Eigenliebe losgesagt haben? Aber der Neid, der +Klatsch, die Verleumdungen, die Ohrenbläserei und +das geheimnisvolle Gezischel in den Winkeln Ihres +eigenen Hauses, hinter Ihrem Rücken, oder die Seitenstiche +an Ihrem eigenen Tisch?? Wer weiß, ob in +einigen dieser vom Schicksal erniedrigten Gnadenbrotessern, +Ihren Narren und Speichelleckern, die natürliche +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +Eigenliebe durch die Erniedrigung nicht etwa vermindert +oder erstickt, sondern gerade durch diese Erniedrigung, +durch die Narrenrolle und die ewig erzwungene +Unterwürfigkeit und Persönlichkeitslosigkeit +noch zu einer weit größeren Eigenliebe aufgeschraubt +wird? Wer weiß, vielleicht ist diese ins Ungeheuerliche +entwickelte Eigenliebe nur ein falsches, entstelltes +Empfinden der eigenen Menschenwürde, die zum erstenmal +vielleicht schon in der Kindheit durch fremdes +Joch, Armut, Schmutz oder Verachtung mit Füßen getreten +worden ist. Oder vielleicht hat der Betreffende +als kleines Kind seine Eltern so behandelt gesehen? +Doch ich habe gesagt, daß Foma Fomitsch außerdem +noch eine Ausnahme darstellte – er war in der Tat +ein ganz besonderer Fall. Er hatte sich einmal für +einen Literaten gehalten, war aber von den anderen +nicht anerkannt und folglich zurückgesetzt, gekränkt, beleidigt +worden. Die Literatur aber – d. h. jene, +die er natürlich nicht anerkannte – kann sich wegen +eines Foma Fomitsch nicht selbst aufgeben! Ich weiß +es zwar nicht genau, aber es ist doch anzunehmen, daß +Foma Fomitsch auch <em>vor</em> seinen literarischen Versuchen +nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war; +vielleicht hatte er auch in jeder anderen von ihm versuchten +Tätigkeit nur Nasenstüber anstatt einer Belohnung +erhalten – oder vielleicht noch Schlimmeres. +Doch darüber läßt sich nichts Genaues feststellen; erfahren +habe ich nur nach vielfachen Erkundigungen, +daß Foma Fomitsch in Moskau tatsächlich einmal einen +kleinen Roman geschrieben hat, äußerst ähnlich jenen +Werken der dreißiger Jahre, von denen jährlich ein +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +Dutzend erschienen, in der Art der „Befreiungen +Moskaus“ oder der „Söhne der Liebe oder der Russen +im Jahre 1104“. Das war allerdings vor langer +Zeit, aber der Schlangenbiß des literarischen Ehrgeizes +verwundet oft tief und unheilbar, was namentlich von +nichtigen und dummen Leuten gilt. Foma Fomitsch +war sogleich nach seinem ersten literarischen Versuch, +wie wir annehmen müssen, in seinem Ehrgeiz getroffen, +und so schloß er sich ohne weiteres endgültig jener unzählbaren +Schar der Zurückgesetzten an, aus der dann +später alle diese Sonderlinge, Hampelmänner und +gesellschaftlichen Vagabunden hervorgehen. Zu derselben +Zeit begann, wie ich glaube, auch diese unglaubliche +Prahlsucht sich in ihm zu entwickeln, dieses gierige +Bedürfnis nach Lob und Auszeichnungen, Verehrung +und Bewunderung. Selbst als Narr hatte er sich +einen Kreis ihn andächtig anstaunender Idioten zu +schaffen gewußt. Sein einziges Verlangen war: stets +den Vorrang zu haben, sich zeigen zu können, gelobt zu +werden. Lobten ihn die anderen nicht, so lobte er sich +selbst. Ich habe seine Reden im Hause meines Onkels +in Stepantschikowo, nachdem er dort unumschränkter +Herrscher geworden war, selbst gehört. „Ich gehöre +nicht in Ihren Kreis,“ pflegte er oft genug mit einer +gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit zu sagen. +</p> + +<p> +„Ja, ich gehöre nicht hierher in Ihren Kreis! Ich +werde wirken, werde Sie hier zuerst alle unterbringen +und Ihr Leben einrichten, Sie zu leben lehren, dann +aber – lebt wohl! Dann geht’s nach Moskau, und +dort werde ich eine Zeitschrift herausgeben. Dreißigtausend +Menschen werden sich monatlich zu ihrer +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +Lektüre zusammenfinden. Ja, dann wird mein Name +klingen ... und dann – wehe meinen Feinden!“ +</p> + +<p> +Inzwischen aber forderte das Genie die Belohnung +im voraus. Es ist ja im allgemeinen sehr angenehm, +im voraus belohnt zu werden, um wieviel mehr aber +ist es das in einem solchen Fall. Wie ich genau weiß, +hat er meinem Onkel in allem Ernst versichert, daß ihm +eine große Tat bevorstehe, eine Tat, zu der er allein +berufen und geboren sei, und zu deren Vollbringung +ihn ein geflügeltes Wesen von Menschenart, das in +der Nacht bei ihm erscheine, zwinge. Und diese Tat +sei: ein tiefsinniges, die Seelen der Menschen errettendes +Werk zu schreiben, von dem „ein allgemeines +Erdbeben ausgehen“ und das „ganz Rußland erzittern +machen“ werde. Doch wenn dann sein Name in aller +Mund sei, dann werde er, Foma, den Ruhm und die +Ehre verachtend, sich ins Kijewsche Höhlenkloster zurückziehen, +um dort unter der Erde Tag und Nacht für +das Glück des Vaterlandes zu beten ... So etwas aber +rührte meinen Onkel. +</p> + +<p> +Jetzt stelle man sich vor, zu was sich dieser Foma +entwickeln konnte, dieser selbe Foma, der sein ganzes +Leben lang geknechtet und vielleicht sogar tatsächlich +geprügelt worden war, dieser selbe Foma, der im geheimen +so genußgierig und so eigenliebig war wie kein +zweiter, Foma, der enttäuschte, erbitterte Literat, Foma, +der für das tägliche Brot den Narren gespielt, Foma, +der im Grunde seiner Seele der größte Despot war, +ungeachtet seiner ganzen vorhergehenden Niedrigkeit +und Bedeutungslosigkeit, Foma, der Prahlhans und +unverschämte Frechling (sobald er nur Gelegenheit +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +hatte, es zu sein), dieser selbe Foma, der dann plötzlich +zu Ruhm und Ehre gelangte, verhätschelt und gelobt +und in den Himmel gehoben wurde, dank einer +törichten, kindisch-dummen Beschützerin und einem +ahnungslosen, von vornherein mit allem einverstandenen +Beschützer, in dessen Hause er sich endlich nach langen +Irrfahrten zur Ruhe setzen konnte! Freilich muß ich +auch den Charakter meines Onkels eingehender erklären; +denn sonst würde der Erfolg Foma Fomitschs +immerhin nicht ganz verständlich sein. Auf Foma +paßte vorzüglich das Sprichwort: läßt du den Ziegenbock +in die Kirche hinein, so steigt er sofort auf die +Kanzel. Ja, Foma verstand es wahrlich, sich für das +Vergangene zu entschädigen! Ein niedriger Charakter +wird, sobald er von seinem Bedrücker befreit ist, sofort +andere bedrücken. Foma nun war tyrannisiert worden +– und er empfand sofort das Bedürfnis, jetzt selbst +zu tyrannisieren; man hatte ihn zum besten gehabt, – +folglich wollte auch er jetzt andere zum besten haben; +er war Narr gewesen, nun mußte auch er unbedingt +Narren haben. Er prahlte bis zur Verrücktheit, war +herrschsüchtig bis zur Unmenschlichkeit, war anspruchsvoll +ohne jedes Maß, verlangte womöglich Vogelmilch +– so daß Leute, die von ihm nur erzählen hörten, ihn +aber nicht persönlich kannten, diese Geschichten aus +Stepantschikowo für Märchen hielten oder für des +Teufels Machwerk, sich bekreuzten und ausspien. +</p> + +<p> +Ich sagte vorhin, daß ohne eine Erklärung des +bemerkenswerten Charakters meines Onkels diese freche +Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden Hause +unbegreiflich erscheinen müsse, unbegreiflich diese Metamorphose +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +aus einem Narren in eine große Persönlichkeit. +Mein Onkel war nicht nur unsäglich gut, sondern +trotz seiner ganzen militärischen Erscheinung auch ein +selten zartfühlender Mensch, ein überaus edler, männlicher +Charakter. Ich sage mit Absicht „männlich“ und +betone dieses Wort. Wenn es für ihn hieß, eine Pflicht +zu erfüllen, dann kannte er nie ein Hindernis, dann +schrak er vor nichts zurück. Seine Seele war rein wie die +eines Kindes. Man konnte ihn wirklich ein fast vierzigjähriges +Kind nennen. Er war äußerst mitteilsam, +stets heiter gestimmt, sah in jedem Menschen einen +Engel, hielt alle fremden Mängel nur für Folgen seiner +eigenen Fehler, vergrößerte die guten Eigenschaften der +anderen unendlich und sah solche sogar dort, wo sie +überhaupt nicht vorhanden sein konnten. Er war +einer jener durch und durch edlen Menschen, die so +keuschen Herzens sind, daß sie sich geradezu schämen, +in einem anderen Menschen etwas Schlechtes zu vermuten, +ja, daß sie sich beeilen, ihre Nächsten mit allen +Tugenden auszuschmücken; einer jener Menschen, die +sich über jeden Erfolg anderer freuen, auf diese Weise +beständig in einer idealen Welt leben und bei einem +Unglück immer sich zuerst, sich ganz allein beschuldigen. +Sich selbst den Interessen anderer zu opfern, scheint +ihre Lebensaufgabe zu sein. Manch einer hätte meinen +Onkel vielleicht sogar kleinmütig, charakterlos, schwach +genannt. Allerdings war er schwach bei seinem gar +zu weichen Herzen; nur war er es nicht aus Mangel +an Charakterfestigkeit, sondern aus Furcht, zu kränken, +grausam zu sein, oder aus gar zu großer Hochachtung +vor anderen – vor dem Menschen überhaupt. Und +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +übrigens war er nur dann schwach und kleinmütig, +wenn es sich um seine eigenen Interessen handelte, die +er immer hintansetzte, wofür er sich sein Leben lang +dem Gespött der Menschen aussetzte, und nicht selten +dem Gespött gerade derjenigen, für die er sich opferte. +Niemals hätte er geglaubt, daß er Feinde haben könnte, +und dennoch hatte er sie – nur bemerkte er sie nicht. +Zwist und Geschrei im Hause fürchtete er mehr als +Feuer, und so gab er allen in allem sofort nach und +ergab und beschied sich stets. Er tat es aus einer gewissen +schüchternen Gutmütigkeit heraus, aus einem +fast zärtlichen Zartgefühl, – „damit, weißt du,“ sagte +er schnell, gewissermaßen, um sich gegen etwaige Vorwürfe +zu verteidigen, – „damit, weißt du ... nun, +damit alle zufrieden und glücklich sind!“ Es versteht +sich von selbst, daß er jedem edlen Einfluß zugänglich +war; ja, ein gewandter Spitzbube hätte sich seiner vollkommen +bemächtigen und ihn sogar zu einer schlechten +Tat verleiten können, d. h. wenn er diese schlechte Tat +als edel hingestellt hätte. Mein Onkel ließ sich leicht +von anderen lenken, besonders wenn er dem Betreffenden +einmal sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte; in +dieser Beziehung war er also durchaus nicht fehlerfrei. +Wenn er sich aber dann nach lange gezahltem schmerzlichen +Lehrgeld endlich entschloß, daran zu glauben, +daß der ihn Betrügende ein unehrlicher Mensch war, +so beschuldigte er vor allen anderen sich selbst, und +nicht selten nur sich allein. Nun denke man sich in +seinem stillen Hause diese plötzlich die Herrschaft an +sich reißende, launenhafte, verschrobene Idiotin von +Mutter, zusammen mit einem anderen Idioten – +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +ihrem Abgott –, eine Idiotin, die bis dahin nur ihren +General gefürchtet hatte, jetzt aber nichts mehr fürchtete +und sogar das Bedürfnis empfand, sich für die schlechten +Lebensjahre zu entschädigen – eine Idiotin, der +der Oberst frommen Gehorsam schuldig zu sein glaubte, +und zwar einzig aus dem Grunde, weil sie seine +Mutter war. +</p> + +<p> +Man begann damit, daß man dem Oberst bewies, +daß er ein roher Mensch sei, unduldsam, unwissend und +vor allen Dingen ein „Egoist ersten Ranges“. Bemerkenswert +war dabei, daß die blödsinnige Alte selbst vollkommen +an <a id="corr-1"></a>das glaubte, was sie predigte. Ja, ich +vermute sogar, auch Foma Fomitsch tat das, oder +wenigstens zum Teil. Man überzeugte den Oberst, +daß Foma von Gott selbst zur Rettung seiner, des +Obersten, Seele vom Himmel herabgesandt sei, desgleichen +zur Besänftigung seiner zügellosen Leidenschaften; +daß er stolz sei, mit seinem Reichtum prahle +und fähig wäre, Foma Fomitsch wegen des täglichen +Brotes, das er von ihm empfing, Vorwürfe zu machen. +Mein armer Onkel glaubte bald selbst an die Tiefe +seiner sittlichen Gesunkenheit und war bereit, sich die +Haare vor Reue auszuraufen und Foma um Verzeihung +zu bitten ... +</p> + +<p> +„Weißt du, Freund, ich bin selbst daran schuld,“ +sagte er zuweilen einem seiner Hausgäste, mit dem er +sich gerade unterhielt, „und zwar an allem! Man muß +doppelt zartfühlend sein im Umgang mit einem Menschen, +dem man Gutes tut ... Das heißt ... was +sage ich! Was Gutes tut! Was schwatze ich da wieder! +Durchaus nicht Gutes tut, sondern im Gegenteil – +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +er ist es, der mir Gutes tut, indem er bei mir wohnt, +aber nicht umgekehrt! ... Das heißt, ich habe ihm +meines Wissens noch nie auch nur das Geringste vorgeworfen, +aber ich muß es doch wohl getan haben ... +wahrscheinlich ist mir wieder einmal so etwas entschlüpft, +– mir entschlüpft oft etwas Unüberlegtes ... +Nun, und schließlich – der Mensch hat gelitten, hat +Großes vollbracht, hat zehn Jahre lang, ohne auf die +Kränkungen zu achten, seinen kranken Freund gepflegt: +so etwas muß belohnt werden! Ja, und dann die +Wissenschaft ... Er ist doch Schriftsteller! Ungemein +gebildet! Ein überaus edler Mensch, mit einem +Wort! ...“ +</p> + +<p> +Ja, Foma, der Gebildete und Unglückliche, der bei +einem launischen und grausamen Freunde den Narren +hatte spielen müssen, erweckte in dem edlen Herzen +meines Onkels das tiefste Mitleid. Alle Seltsamkeiten +Fomas, sowie alle seine schändlichen Ausfälle dem +Hausherrn gegenüber, wurden von diesem ohne weiteres +mit seinen früheren Leiden, seiner Erniedrigung und +Verbitterung entschuldigt. Er sagte sich in seiner gutmütigen, +stets nachsichtigen Seele, daß man von einem +Gemarterten nicht dasselbe verlangen könne wie von +einem gewöhnlichen Menschen, daß man ihm nicht nur +alles verzeihen, sondern mit Demut seine Wunden +heilen, ihn aufrichten und mit der Menschheit wieder +aussöhnen müsse. Nachdem er sich dieses einmal zum +Ziel gesetzt hatte, begeisterte er sich geradezu für seine +Aufgabe und verlor gänzlich die Fähigkeit, auch nur +entfernt zu erraten, daß sein neuer Freund ein gieriger, +eigennütziger Lump war, ein Egoist, Faulpelz und Aussauger +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +– und weiter nichts. An das Wissen und die +Genialität Fomas glaubte er einwandlos. Ich habe +noch vergessen zu sagen, daß mein Onkel vor Worten +wie „Wissenschaft“ oder „Literatur“ eine Hochachtung +empfand, die von der größten Naivität war, um so +mehr, als er selbst niemals etwas gelernt hatte. Das +war nun einmal eine seiner wirklichen und unschuldigsten +Schwächen. +</p> + +<p> +„Pst! Er schreibt an seinem Werk!“ sagte er zuweilen +zur Erklärung, wenn er schon in einem Zimmer, +das noch ganz fern von Foma Fomitschs „Arbeitskabinett“ +lag, nur auf den Fußspitzen zu gehen wagte. +„Ich weiß nicht, was er da eigentlich schreibt,“ fügte +er mit halbwegs stolzer und geheimnisvoller Miene +hinzu; „aber sicherlich wird es, Freund, ein solches +Durcheinander sein ... Das heißt selbstverständlich, +was sage ich! – nur im guten Sinne ein Durcheinander! +Für manch einen wird es ja klar wie Tinte +sein, für unsereinen aber, Bruder, sind das solche Gedankenpurzelbäume, +daß ... Ich glaube, er schreibt +da von gewissen erzeugenden Kräften – so sagt er +wenigstens selbst. Es ist wahrscheinlich etwas Politisches. +Ja, ja, einmal wird sein Name einen großen +Klang haben! Dann werden auch wir beide durch ihn +berühmt werden! Das hat er mir, weißt du, selbst +gesagt ...“ +</p> + +<p> +Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat sich mein +Onkel auf Fomas Befehl seinen prächtigen dunkelblonden +Backenbart abrasieren müssen, da jener gefunden +hatte, daß er mit dem Backenbart wie ein Engländer +aussehe und folglich „wenig Vaterlandsliebe“ +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +habe. Mit der Zeit begann Foma sich auch in die +Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge +zu erteilen, die, nebenbei bemerkt, fürchterlich +waren. Die Bauern errieten denn auch bald, wie es +sich damit verhielt, und wer der wahre Herr auf dem +Gute war – und sie kratzten sich bedenklich hinterm +Ohr. Ich habe späterhin selbst Gelegenheit gehabt, +einem Gespräch Foma Fomitschs mit den Bauern zuzuhören. +Ich will gleich gestehen, daß ich heimlich gelauscht +habe. Foma hatte oft genug gesagt, daß er +gern mit einem klugen russischen Bauern rede. Eines +Tages ging er zur Tenne. Er sprach mit den Bauern +über die Feldarbeit, die Landwirtschaft – obgleich er +selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden verstand, +– sprach von den heiligen Pflichten des Bauern +seinem Herrn gegenüber, berührte darauf Themen wie +Industrialismus, Elektrizität und die Erleichterung der +Arbeit – wovon er selbst natürlich kein Wort begriff, +– erklärte seinen Zuhörern, in welcher Weise die Erde +sich um die Sonne drehe, um dann schließlich, ganz +gerührt von seinen eigenen Kenntnissen, auf die Minister +zu sprechen zu kommen. Ich verstand ihn. Erzählt +doch Puschkin von einem Vater, der seinem vierjährigen +Söhnchen sagt, er, sein „Papachen“, sei so +„brav und tapfer, daß der Kaiser ihn ganz besonders +liebe“. Auch dieser Vater bedurfte eines Zuhörers, +und wenn der Zuhörer auch erst vier Jahre zählte ... +Die Bauern aber hörten Foma stets voll Ehrerbietung +zu. +</p> + +<p> +„Aber was, Väterchen, bekommst du auch viel +kaiserliches Gehalt?“ fragte ihn plötzlich ein kleiner +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +Alter, Archip Korotkij genannt, aus der Schar der vor +ihm stehenden Bauern, mit der unverhohlenen Absicht, +etwas Angenehmes zu fragen. Foma Fomitsch fand +jedoch diese Frage zu „familiär“. „Familiarität“ aber +konnte er nicht ertragen. +</p> + +<p> +„Was geht das dich an, du Lümmel?“ antwortete +er mit verächtlichem Blick auf das arme Bäuerlein. +„Was steckst du hier deine Schnauze vor – soll ich sie +etwa anspeien?“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch sprach nie in einem anderen Tone +mit dem „verständigen russischen Bauern“. +</p> + +<p> +„Ach, Väterchen, wir sind doch unwissende Leute,“ +sagte ein anderes Bäuerlein. „Was wissen wir viel, +vielleicht bist du Major, vielleicht Oberst, vielleicht sogar +ganzer General – wir wissen ja nicht einmal, wie +man dich betiteln muß.“ +</p> + +<p> +„Lümmel!“ wiederholte bloß Foma Fomitsch, war +aber doch sogleich nachsichtiger gestimmt. „Zwischen +Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied, Dummkopf! +Manch einer ist General und erhält überhaupt nichts; +denn es ist kein Grund vorhanden, ihm etwas zu geben, +weil er dem Kaiser keinen Nutzen bringt. Ich dagegen +erhielt zwanzigtausend Rubel jährlich, als ich beim +Minister angestellt war, und selbst dieses Geld nahm +ich nicht; denn ich diente um der Ehre willen und hatte +außerdem eigenes genug. Mein Gehalt aber stiftete +ich für staatlichen Unterricht und für die niedergebrannten +Einwohner der Stadt Kasanj.“ +</p> + +<p> +„Dann hast du ja halb Kasanj von neuem aufgebaut?“ +fragte verwundert derselbe Bauer. +</p> + +<p> +Überhaupt kann man sagen, daß alle Bauern +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +sich nicht wenig über Foma Fomitsch wunderten +... +</p> + +<p> +„Nun, ja, versteht sich, auch mein Teil ist dabei ...“ +sagte Foma, gleichsam ungehalten über sich, daß er +einen <em>solchen</em> Menschen eines <em>solchen</em> Gesprächs +gewürdigt hatte. +</p> + +<p> +Mit meinem Onkel dagegen waren seine Gespräche +anderer Art. +</p> + +<p> +„Was waren Sie früher für ein Mensch?“ fragte +zum Beispiel Foma, sich nach dem opulenten Mittagsmahl +im Lehnstuhl streckend – hinter dem ein Diener +stehen und mit einem frischen Lindenzweig die Fliegen +sanft fortwedeln mußte. +</p> + +<p> +„Wem glichen Sie früher, bevor ich kam? Jetzt +habe ich in Ihnen einen Funken jenes himmlischen +Feuers entzündet, das seitdem in Ihrer Seele brennt. +Habe ich das himmlische Feuer in Sie hineingelegt oder +nicht? Antworten Sie: ja oder nein?“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch wußte, genau genommen, selbst +nicht, weshalb er diese Frage stellte. Aber das +Schweigen und die gewisse Betretenheit in der Miene +meines Onkels reizten ihn sogleich. Er, der früher +geduldig alles ertragen hatte, war jetzt zu wahrem +Schießpulver geworden, das bei jedem, auch dem geringsten +Widerspruch aufflammte. Da er das Schweigen +des Obersten als Beleidigung auffaßte, bestand er +mit doppeltem Eigensinn auf der Antwort. +</p> + +<p> +„Antworten Sie: brennt in Ihnen dieses Feuer +oder nicht?“ +</p> + +<p> +Der arme Oberst wand sich innerlich in seiner Ratlosigkeit: +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +er wußte wirklich nicht, was er tun oder +sagen sollte. +</p> + +<p> +„Gestatten Sie, Sie daran zu erinnern, daß ich +warte,“ bemerkte Foma mit gekränkter Stimme. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais répondez donc</span>, Jegóruschka!“ mischte sich +auch die Generalin mit einem Achselzucken ein. +</p> + +<p> +„Ich frage Sie: Glimmt in Ihnen noch dieser Funke +oder nicht?“ wiederholte Foma mit nachsichtiger Herablassung +und nahm einen Bonbon aus der Bonbonnière, +die immer und überall vor ihn hingesetzt wurde. Das +geschah auf Anordnung der Generalin. +</p> + +<p> +„Bei Gott, ich weiß es nicht, Foma,“ antwortete +der Oberst schließlich, Verzweiflung im Blick – „es +muß doch wahrscheinlich etwas von der Art ... Nein +wirklich, frag’ mich lieber nicht, sonst lüge ich noch +irgend etwas zusammen ...“ +</p> + +<p> +„Gut! So bin ich denn Ihrer Meinung nach so +wertlos, daß ich nicht einmal einer Antwort wert bin +– das ist es doch, was Sie damit sagen wollten? +Nun, mag es denn so sein; mag ich also nichts bedeuten!“ +</p> + +<p> +„Aber nein doch, Foma, um Gottes willen! Wann +habe ich denn so etwas sagen wollen?“ +</p> + +<p> +„Sie haben gerade dieses und nichts anderes damit +sagen wollen.“ +</p> + +<p> +„Aber ich schwöre dir, – <em>nein</em>!“ +</p> + +<p> +„Gut! Mag ich also ein Lügner sein! Mag ich +also, nach Ihrer Anschuldigung, absichtlich einen Vorwand +zum Streit suchen! Mag also zu allen anderen +Beleidigungen auch diese noch hinzukommen – ich +trage alles ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais mon fils!</span>“ rief erschrocken die Generalin +aus. +</p> + +<p> +„Aber Foma Fomitsch! Mama!“ beschwor der +Oberst verzweifelt. „Bei Gott, ich bin doch nicht daran +schuld! Es ist mir vielleicht nur wieder etwas, ohne +zu wollen, entschlüpft! ... Sieh mich doch nicht so an, +Foma: ich bin ja ein ungebildeter Mensch – ich fühle +ja selbst, daß ich dumm bin, ich fühle ja selbst, daß +etwas nicht stimmt ... Ich weiß es, Foma, glaub’ +mir, ich weiß alles! Du brauchst es mir ja gar nicht +erst zu sagen!“ wehrte er sich, immer verzweifelter. +„Ich habe vierzig Jahre verlebt und die ganze Zeit, +bis zu dem Augenblick, da ich dich kennen lernte, immer +von mir geglaubt, daß ich ein Mensch sei ... Nun, +und alles, was daraus folgt, mit einem Wort: eben +ein Mensch! ... Und ich habe ja wirklich bis jetzt +nicht gewußt, daß ich sündig bin wie nur einer, ein +Egoist erster Sorte – und so viel Schlechtes in meinem +Leben getan habe, daß man sich nur wundern kann, +wie die Erde mich noch trägt!“ +</p> + +<p> +„Ja, Sie sind allerdings ein beispielloser Egoist, +das muß ich sagen!“ bemerkte überzeugt Foma Fomitsch. +</p> + +<p> +„Aber ich begreife es ja jetzt selbst, daß ich ein +Egoist bin! Nein, Kreuzmillionen, ich muß mich +bessern, und ich werde es!“ +</p> + +<p> +„Gott geb’s!“ schloß Foma Fomitsch mit einem +frommen Aufseufzen und erhob sich aus seinem Lehnstuhl, +um sich zu seinem Nachmittagsschläfchen zurückzuziehen. +Foma Fomitsch pflegte jedesmal nach dem +Essen zu schlafen. +</p> + +<p> +Zum Schlusse dieses Kapitels muß ich noch einiges +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +von meinen persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel +sagen und vor allem erklären, wie es kam, daß ich +plötzlich Auge in Auge Foma Fomitsch gegenüberstand +und ungewollt und unverhofft in den Strudel der +größten Ereignisse hineingeriet, die sich jemals in dem +gesegneten Herrenhause von Stepantschikowo zugetragen +haben. Damit beabsichtige ich diese Einleitung zu +schließen, um alsdann zur eigentlichen Erzählung +überzugehen. +</p> + +<p> +In meiner Kindheit, als ich verwaist und ohne Geld +in der Welt zurückblieb, nahm sich mein Onkel meiner +an, erzog mich auf seine Kosten und tat für mich, kurz +gesagt, manches, was oft selbst ein leiblicher Vater +nicht getan hätte. Schon am ersten Tage, an dem er +mich zu sich nahm, hing ich mich mit ganzer Seele an +ihn. Damals war ich zehn Jahre alt, und ich weiß +noch, daß wir bald die besten Freunde waren und einander +vorzüglich verstanden. Wir drehten beide +Brummkreisel, stibitzten beide die Nachthaube einer +alten, giftigen Jungfer, mit der wir entfernt verwandt +waren. Die Nachthaube band ich übrigens an den +Schweif meines Papierdrachens und ließ sie mit diesem +in die Lüfte steigen. Darauf vergingen viele Jahre, +und ich sah meinen Onkel erst in Petersburg wieder, +wohin er auf ein paar Tage gekommen war, als ich – +immer auf seine Kosten – das Gymnasium absolvierte. +Während dieses Besuches hing ich mich wieder mit der +ganzen Leidenschaft der Jugend an ihn: es war etwas +Edles, Vornehmes, Aufrichtiges in seinem Charakter, +und es war vor allem seine Heiterkeit und seine unglaubliche +Naivität, die mich und jeden anderen anzogen. +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +Nachdem ich dann mein Studium auf der Universität +beendet hatte, lebte ich eine Zeitlang in Petersburg, +ohne mit etwas beschäftigt zu sein, und war, wie +so mancher Milchbart, fest überzeugt, daß ich in allernächster +Zeit ungeheuer viel Bemerkenswertes und sogar +Großes vollbringen werde. Petersburg verlassen +wollte ich noch nicht. Meinem Onkel schrieb ich nicht +allzuoft, eigentlich nur dann, wenn ich Geld brauchte, +das er mir nie verweigerte. Da geschah es, daß ich +von einem Hofbauern meines Onkels, der zufällig in +Geschäften nach Petersburg gekommen war, hörte, daß +bei ihnen in Stepantschikowo wunderliche Dinge vor +sich gingen. Die betreffenden Mitteilungen setzten +mich in Erstaunen und erweckten sogleich mein Interesse. +Ich begann meinem Onkel öfter zu schreiben. +Er antwortete mir immer etwas undeutlich und eigentümlich, +und schien sich offenbar beim Schreiben eines +jeden Briefes krampfhaft zu bemühen, nur von der +Wissenschaft zu reden, da er von mir in Zukunft große +Dinge erwartete, und auf meine etwaigen Erfolge bereits +im voraus nicht wenig stolz war. Dann aber +erhielt ich eines schönen Tages, nach längerem Schweigen, +einen Brief von ihm, der allen vorhergehenden +Briefen durchaus unähnlich war. Er setzte sich aus so +seltsamen Andeutungen zusammen, aus so wunderlichen +Widersprüchen, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht +verstand. Ich fühlte nur heraus, daß der Schreiber +des Briefes sich in großer Aufregung befunden haben +mußte. Nichtsdestoweniger ging aus dem ganzen +Schreiben die Hauptsache ziemlich klar hervor: der +Onkel bat mich in allem Ernst, ja, fast flehte er mich +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +an, sobald wie möglich die Erzieherin seiner Kinder, +die Tochter eines armen Provinzialbeamten Jeshowikin, +die in Moskau, gleichfalls auf Kosten meines Onkels, +in einer vorzüglichen Anstalt erzogen worden war, – +zu heiraten. Er schrieb, sie sei unglücklich, ich aber +könnte sie glücklich machen, ganz abgesehen davon, daß +es eine großmütige Handlung meinerseits wäre. Er +rief noch den Edelmut meines Herzens an und versprach +gleichzeitig, dem jungen Mädchen eine gute Mitgift +zu geben. Von der Mitgift schrieb er übrigens +sehr ängstlich, wie von einer dummen Nebensache – +wahrscheinlich in der Furcht, mich zu kränken – und +schloß den Brief mit der flehenden Bitte, tiefstes +Schweigen in dieser ganzen Angelegenheit zu wahren. +</p> + +<p> +Dieser Brief stieß mich dermaßen vor den Kopf, +daß mir förmlich schwindlig wurde. Aber auf welchen +jungen Menschen, der wie ich kaum erst von der +Schule und Universität kam, würde ein solches Anerbieten +keinen tiefen Eindruck machen, und wär’s +auch nur, sagen wir, von der romanhaften Seite? +Zudem hatte ich schon gehört, daß diese junge Gouvernante +– eine ganz reizende junge Dame sei. Indessen +wußte ich wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn +ich auch meinem Onkel umgehend schrieb, daß ich +mich unverzüglich nach Stepantschikowo begeben +werde. Mein Onkel hatte mir gleichzeitig mit dem +Brief auch das Reisegeld übersandt. Doch trotz alledem +konnte ich mich nicht so schnell entschließen und +zögerte noch ganze drei Wochen in Petersburg. Da +traf ich plötzlich einen Freund meines Onkels, der mit +ihm früher im selben Regiment gestanden und nun auf +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +der Rückreise aus dem Kaukasus nach Petersburg ihn +unterwegs in Stepantschikowo besucht hatte. Es war +dies ein schon älterer, sonst vernünftig denkender +Mensch, doch ein eingefleischter Junggeselle. Ganz +empört erzählte er mir von Foma Fomitsch, und dann +teilte er mir noch etwas mit, wovon ich bis dahin keine +Ahnung gehabt hatte: daß Foma und die Generalin +beschlossen hätten, den Obersten mit einem äußerst seltsamen +alten Mädchen, das mindestens halbverrückt sei, +eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und wenigstens +eine halbe Million Mitgift habe, zu verkuppeln. Die +Generalin habe ihre zukünftige Schwiegertochter zu +überzeugen gewußt, daß sie verwandt seien und sie folglich +bei ihnen leben müsse; der Oberst sei natürlich verzweifelt, +doch werde es aller Voraussicht nach damit +enden, daß er die halbe Million heirate; und zum +Schluß fügte der Betreffende noch hinzu, daß die beiden +Diplomaten, Foma wie die Generalin, die arme, schutzlose +Erzieherin der Kinder meines Onkels entsetzlich +behandelten und sie mit aller Gewalt zum Hause hinaustreiben +wollten, wahrscheinlich in der Angst, der Oberst +könnte sich in sie verlieben, oder weil er sich vielleicht +schon in sie verliebt hatte. Diese letzte Mitteilung machte +mich stutzig. Doch auf alle meine Fragen, ob der Oberst +sich inzwischen nicht tatsächlich in sie verliebt habe, +konnte oder wollte er mir keine bestimmte Antwort geben +– und überhaupt sprach er ziemlich einsilbig und ersichtlich +ungern von der ganzen Angelegenheit, ja, er umging +einfach alle näheren Erklärungen. Ich wurde nachdenklich: +diese neuen Aufschlüsse widersprachen so auffallend +dem Briefe meines Onkels und seinem Vorschlag! +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +... Aber wozu Zeit verlieren, dachte ich. Ich +beschloß, sofort nach Stepantschikowo zu fahren, nicht +nur, um meinen Onkel zu beruhigen und zur Vernunft +zu bringen, sondern auch, um ihn zu retten, nämlich +Foma vor die Tür zu setzen, zu verhindern, daß er mit +der alten Jungfer verkuppelt wurde, und dann – da +mir nach reiflicher Überlegung die Liebe meines Onkels +zu der jungen Erzieherin als entschiedenes Hirngespinst +Foma Fomitschs erschien – die Unglückliche zu beglücken, +mit anderen Worten, um die Hand des interessanten +jungen Mädchens anzuhalten usw. Allmählich +begeisterte ich mich immer mehr für mein Vorhaben, so +daß ich – wie das so in der Jugend zu geschehen pflegt +– aus den stärksten Bedenken alsbald in das entgegengesetzte +Extrem geriet. Mich verzehrte förmlich das Verlangen, +möglichst schnell die größten Wunder und +Heldentaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß +ich ungewöhnliche Großmut bekunde, mich edelmütig +opfere, um ein unschuldiges, prachtvolles Geschöpf zu +beglücken, – kurz, ich war während der ganzen Fahrt +überaus zufrieden mit mir. Es war Juli; die Sonne +schien strahlend hell; ringsum sah ich, soweit nur das +Auge schweifen konnte, die unermeßliche Weite reifender +Erntefelder. Ich aber hatte so lange in Petersburg eingeschlossen +gelebt, daß ich, wie mir schien, zum erstenmal +Gottes freie Welt erblickte. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-5"> +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +<span class="firstline">II.</span><br> +Herr Bachtschejeff. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> näherte mich bereits dem Ziele meiner Reise, als +ich in dem kleinen Städtchen B., kaum zehn Werst von +Stepantschikowo entfernt, an der Schmiede in der nächsten +Nähe des Schlagbaums aussteigen mußte, um den +gesprungenen Reifen des einen Vorderrades meiner +kleinen Postkutsche ausbessern zu lassen. Für die Strecke +von zehn Werst, die mir noch bevorstanden, ließ sich die +Reparatur leicht machen; daher beschloß ich, so lange daselbst +bei der Schmiede zu warten und mich nicht erst in +das Städtchen zu begeben. Als ich ausstieg, bemerkte +ich einen dicken Herrn, der gleichfalls eine Ausbesserung +an seinem Gefährt, einer Landequipage, vornehmen ließ. +Er stand, wie ich später erfuhr, schon seit einer Stunde +im unerträglichen Sonnenbrand, schrie, schimpfte und +trieb mit der ganzen Ungeduld eines Eigensinnigen und +ewig Unzufriedenen die Schmiedegesellen, die an seinem +prächtigen Wagen arbeiteten, zur Eile an. Ein Blick +in das Gesicht dieses Herrn genügte, um in ihm den Typ +eines Brummbären zu erkennen. Er war etwa fünfundvierzig +Jahre alt, mittelgroß, sehr dick und pockennarbig. +Sein Schmerbauch, das Doppelkinn, die aufgeblasenen, +hängenden Wangen zeigten anschaulich, daß er ein bequemes +Gutsherrnleben führte. Es war etwas Weibisches +an ihm, das sofort ins Auge fiel. Seine Kleider +waren sehr breit zugeschnitten, jedenfalls beengten sie +ihn nicht, waren sauber und nicht billig, doch nicht gerade +allzu modisch. +</p> + +<p> +Ich weiß nicht, weshalb er sich sogleich über mich +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +ärgerte, wozu er doch um so weniger Veranlassung hatte, +als er mich zum erstenmal im Leben sah und noch kein +Wort mit mir gesprochen hatte. Seinen Ärger aber bemerkte +ich sofort an seinem unglaublich wütenden Blick, +den er auf mich richtete, als ich kaum meinen Fuß auf +die Landstraße gesetzt hatte. Gleichwohl wollte ich ihn +ungeheuer gern näher kennen lernen. Aus dem Gespräch +seiner Leute erriet ich, daß er aus Stepantschikowo kam, +wahrscheinlich also von einem Besuch bei meinem Onkel +nach Hause fuhr – so war’s denn doppelt begreiflich, +daß ich ihn gern ein wenig ausgefragt hätte, um mir +von dem, was mich erwartete, ein Bild machen zu +können. Ich lüftete also den Hut und bemühte mich, +möglichst liebenswürdig zu bemerken, wie unangenehm +doch solch unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs zu sein +pflege – aber der dicke Herr maß mich nur mit einem +unzufriedenen, mürrischen Blick vom Hut bis zu den +Stiefeln, brummte darauf etwas Unverständliches in +seinen Schnurrbart und drehte mir dann behäbig seine +Rückseite zu. Wenn nun auch dieser Teil seiner Person +für einen Beobachter ein sehr bemerkenswertes Objekt +abgegeben hätte – eine angenehme Unterhaltung war +von ihm nicht zu erwarten. +</p> + +<p> +„Grischka! Was brummst du da wieder! Durchbleuen +werde ich dich!“ schrie er plötzlich seinen Diener +an, als hätte er meine Äußerung über die Unterbrechungen +einer Reise überhaupt nicht gehört. +</p> + +<p> +Dieser „Grischka“ war ein alter Kammerdiener mit +langem, grauem Backenbart und in einem langschößigen +Dienerrock. Nach einigen Anzeichen zu urteilen, war er +gleichfalls sehr schlechter Laune. Er knurrte beständig +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +etwas vor sich hin. So kam es denn zwischen dem Herrn +und dem Diener alsbald zu einer Auseinandersetzung. +</p> + +<p> +„Durchbleuen! Schrei nur noch mehr!“ brummte +Grischka, anscheinend nur vor sich hin – tat es aber doch +so laut, daß alle es hörten – und wandte sich unwillig +weg, um sich am Wagen zu schaffen zu machen. +</p> + +<p> +„Was? Was sagst du? ‚Schrei nur noch mehr?‘ +Willst du grob werden!“ schrie der Dicke, puterrot im +Gesicht. +</p> + +<p> +„Weshalb belieben der Herr über einen herzufallen? +Man darf wohl kein Wort mehr sagen?“ +</p> + +<p> +„Wieso herzufallen? Hört ihr, Leute? Selbst knurrst +du die ganze Zeit, und dann soll ich nicht einmal über dich +herfallen!“ +</p> + +<p> +„Weshalb soll ich denn knurren, möcht’ ich wissen!“ +</p> + +<p> +„Weshalb! ... Als ob! ... Ich weiß ja ganz +genau, weshalb du knurrst: weil ich vom Mittagsmahl +weggefahren bin, – deshalb!“ +</p> + +<p> +„Was geht das mich an! Meinethalben brauchten +der Herr überhaupt nicht zu essen! Ich knurre nicht des +Essens wegen, ich habe hier nur den Schmiedegesellen +ein Wort gesagt.“ +</p> + +<p> +„Den Schmiedegesellen ... Was hast du denn für +einen Grund, die Schmiedegesellen anzuknurren?“ +</p> + +<p> +„Nu, wenn nicht sie, dann knurre ich eben die Equipage +an.“ +</p> + +<p> +„Was hast du denn die Equipage anzuknurren?“ +</p> + +<p> +„So! – warum ist sie denn entzweigegangen? Hinfort +hat sie zu gehorchen und heil zu bleiben!“ +</p> + +<p> +„Die Equipage ... Nein, du hast mich angeknurrt, +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +nicht aber die Equipage! Selbst ist er der Schuldige, +und dabei schimpft er noch auf mich!“ +</p> + +<p> +„Was wollen denn der Herr heute von mir? Kann +man mich denn nicht in Ruhe lassen!“ +</p> + +<p> +„Weshalb hast du denn während der ganzen Fahrt +wie ein Talglicht dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen? +Sonst bist du doch nicht stumm!“ +</p> + +<p> +„Eine Fliege war mir in den Mund geflogen, deshalb +schwieg ich und saß wie ein Talglicht, wie der Herr +sagen. Soll ich denn Märchen zu erzählen anfangen? +So mögen der Herr doch die alte Malanja auf Reisen +mitnehmen, wenn der Herr Märchen zu hören liebt.“ +</p> + +<p> +Der Dicke tat wohl den Mund auf, um heftig etwas +zu erwidern, fand sich aber nicht zurecht und klappte den +Mund wieder zu. Er schwieg. Der Diener aber wandte +sich, zufrieden mit seiner Dialektik und seinem vor Zeugen +bewiesenen Einfluß auf den Herrn, mit doppelter +Wichtigkeit an die Schmiedegesellen, um ihnen etwas +Besonderes zu erklären. +</p> + +<p> +Mein Annäherungsversuch war also vergeblich gewesen +– vielleicht nur wegen meiner Ungeschicklichkeit +– doch plötzlich half mir ein unvorhergesehener Zufall. +</p> + +<p> +Aus einer geschlossenen Kutsche, die offenbar seit undenklichen +Zeiten ohne Räder vor der Schmiede stand +und täglich, doch vergeblich ihre Ausbesserung erwartete, +blickte plötzlich durch das Türfenster ein verschlafenes, +ungewaschenes Mannsgesicht heraus, über dem die +Haare verwühlt zu Berge standen. Kaum war diese +Physiognomie im Fenster der Kutschentür erschienen, als +plötzlich alle Schmiedegesellen in lautes Gelächter ausbrachen. +Die Sache war nämlich die, daß der Betreffende +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +in betrunkenem Zustande von den Schmiedegesellen +in diese Kutsche eingeschlossen worden war und +nun als Gefangener in ihr saß. Da er inzwischen seinen +Rausch ausgeschlafen hatte, bat er nun flehentlich, +man möge ihn doch wieder in Freiheit setzen, was natürlich +niemand tat. Endlich verlangte er sein Werkzeug, +das ihm jemand aus der Schmiede bringen sollte, doch +dieses anmaßende Verlangen erheiterte die Zuschauer +nur noch mehr. +</p> + +<p> +Es gibt Naturen, denen Gott weiß was alles zur +größten Erheiterung dient. Die Grimassen eines Betrunkenen, +ein auf der Straße stolpernder oder hinfallender +Mensch, ein paar streitende Weiber oder Ähnliches +können bei manchen Menschen aus ganz unerklärlichen +Gründen das größte Entzücken hervorrufen. Zu diesen +Naturen gehörte nun offenbar auch der dicke Gutsbesitzer. +Sein Gesicht, das noch vor wenigen Minuten +wütend gewesen war, wurde jetzt immer freundlicher, +bis schließlich das letzte Wölkchen seines Ärgers daraus +verschwand. +</p> + +<p> +„Aber das ist ja doch Wassiljeff?“ fragte er plötzlich +sehr interessiert. „Wie ist er denn dorthin geraten?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, Wassiljeff, Herr! Wassiljeff!“ rief man +lachend von allen Seiten. +</p> + +<p> +„Er hat wieder blauen Montag gemacht,“ sagte +einer der Schmiedegesellen, ein älterer, langer, hagerer +Mann mit pedantischem Gesichtsausdruck und dem offenbaren +Bestreben, der erste unter seinen Genossen zu sein. +„Er ist vor drei Tagen von seinem Herrn fortgegangen, ist +uns auf den Hals gekommen und versteckt sich nun hier. +Jetzt will er sein Stemmeisen haben. – Was willst du +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +denn jetzt mit dem Stemmeisen anfangen, du Dummkopf! +Willst wahrscheinlich noch dein letztes Werkzeug +versetzen!“ +</p> + +<p> +„Ach, du, Archipuschka! Geld ist – wie Tauben: +es kommt angeflogen und fliegt wieder weg! Laß mich +doch um des himmlischen Vaters willen wieder heraus!“ +bat Wassiljeff mit hohler, unsicherer Stimme, den Kopf +zum Kutschenfenster hinaussteckend. +</p> + +<p> +„Sitz jetzt, hast es verdient, wenn du hineingekommen +bist!“ sagte Archip unerbittlich. „Seit drei Tagen +bist du ja überhaupt kein Mensch mehr! Heute morgen +hat man dich noch in aller Herrgottsfrühe von der Straße +aufgelesen und hergeschleppt. Dank dem Schöpfer, daß +wir dich versteckt haben. Und deinem Matwei Iljitsch +sagten wir, du seist erkrankt: man habe bei dir Anzeichen +von schleichendem Faulfieber entdeckt ...“ +</p> + +<p> +Alles lachte. +</p> + +<p> +„Aber wo ist denn mein Stemmeisen?“ +</p> + +<p> +„Bei unserem Handlanger, – wo soll es denn sein! +... Das ist ein echter Saufbruder, Herr, dieser Wassiljeff.“ +</p> + +<p> +„He–he–he! So ein Schuft! Also das ist deine +Arbeit in der Stadt: dein Werkzeug versetzen!“ rief der +Dicke vollkommen zufrieden, in der angenehmsten Gemütsverfassung +aus, und sein Schmerbauch schaukelte zu +seinem gemächlichen Lachen. +</p> + +<p> +„Und dabei ist der Kerl ein Tischler, wie man in +ganz Moskau keinen findet! Aber da sieh nun einer, wie +der Schuft sich aufführt!“ Mit diesen Worten wandte +sich der Dicke plötzlich und ganz unerwarteterweise an +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +mich. „Laß ihn heraus, Archip, vielleicht hat er irgend +etwas nötig.“ +</p> + +<p> +Da der Herr es gesagt hatte, gehorchte man. Der +Nagel, mit dem sie die Kutschentür unten zugenagelt +hatten, – eigentlich nur um über Wassiljeff lachen zu +können, wenn er wieder aufwachte – wurde herausgezogen, +und Wassiljeff erschien zerlumpt, beschmutzt +und nur halb ausgeschlafen im freien Sonnenlicht. +</p> + +<p> +Er blinzelte, nieste und wankte auf den Beinen; +dann legte er die Hand als Schirm über die Augen und +sah sich die Umgebung an. +</p> + +<p> +„Wieviel Volk ... wieviel Volk!“ sagte er kopfschüttelnd. +„Und alle ... wie man sieht ... +nü–üchtern,“ sagte er langsam, wie in traurigen Gedanken, +geradezu vorwurfsvoll zu sich selbst. „Nun, +guten Morgen, Freunde, zum anbrechenden Tage.“ +</p> + +<p> +Wieder lachten alle. +</p> + +<p> +„Zum anbrechenden Tage! Mach doch die Augen +auf und sieh, wieviel vom anbrechenden Tage noch übrig +ist, du dummer Mensch!“ +</p> + +<p> +„Lüg nur, Jemelja, – jetzt ist’s deine Woche.“ +</p> + +<p> +„He–he–he! Der Junge ist wirklich nicht übel!“ +meinte der Dicke lachend, wieder mit einem freundlichen +Blick auf mich. „Aber schämst du dich denn nicht, Wassiljeff?“ +</p> + +<p> +„Ach, Herr, es ist doch nur aus Kummer!“ sagte +Wassiljeff, schlug abwinkend mit der Hand zur Seite +und war offenbar froh darüber, noch einmal von seinem +Kummer reden zu können. +</p> + +<p> +„Was ist denn das für ein Kummer, Esel?“ +</p> + +<p> +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +„Das ist nun so einer, wie man ihn bisher noch nie +gesehen hat: man überschreibt uns auf Foma Fomitsch.“ +</p> + +<p> +„Auf – wen? Was? Wann?“ schrie der Dicke, im +Augenblick außer sich geratend. +</p> + +<p> +Ich trat gleichfalls einen Schritt vor: die Sache +ging plötzlich auch mich etwas an. +</p> + +<p> +„Jawohl, ganz Kapitonowka. Unser Herr, der +Oberst – Gott erhalte ihn! – will ganz Kapitonowka, +sein väterliches Erbgut, dem Foma Fomitsch opfern, +ganze siebzig Seelen. ‚Da hast du es,‘ sagte er, ‚Foma! +Sieh, jetzt gehört dir ja so gut wie nichts; du bist kein +großer Gutsbesitzer: im ganzen arbeiten für dich zwei +Stinten im Ladogasee – das ist alles, was dir dein Verstorbener +Vater an Besitz hinterlassen hat; denn dein +Vater war,‘“ fuhr Wassiljeff mit einem gewissen boshaften +Vergnügen fort, als wolle er auf jedes Wort, +das sich auf Foma Fomitsch bezog, gewissermaßen noch +Pfeffer streuen; „‚denn dein Vater war ein Mann von +altem Adel, unbekannt woher, unbekannt wer; und ebenso +wie du hat er bei Herren das Gnadenbrot gegessen +und hat sich dank ihrer Barmherzigkeit in den Küchen +aufhalten dürfen. Nun aber, wenn ich dir Kapitonowka +schenke, wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein alter +Adliger, und du wirst deine eigenen Leute haben, kannst +selbst auf dem Ofen liegen, ein adliges Leben führen‘ ...“ +</p> + +<p> +Doch der Dicke hörte nicht mehr zu. Der Eindruck, +den diese Erzählung des halbbetrunkenen Wassiljeff auf +ihn machte, war unbeschreiblich: er war dermaßen empört +und aufgeregt, daß sein Gesicht blaurot wurde. +Sein Doppelkinn zitterte, seine Augen waren blutunterlaufen. +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +Ich fürchtete schon, daß ihn der Schlag rühren +werde. +</p> + +<p> +„Das fehlte noch!!“ stieß er atemlos hervor. „Dieser +Foma als Gutsbesitzer!! Pfui! Hol euch der Satan! +He, ihr da! Schneller! Macht, daß ihr fertig werdet! +Nach Haus!“ +</p> + +<p> +„Gestatten Sie mir eine Frage,“ begann ich und +trat etwas unsicher einen Schritt vor, „Sie nannten +soeben den Namen Foma Fomitsch; ich glaube, sein +Familienname ist, wenn ich mich nicht täusche – Opiskin. +Ich würde gern ... mit einem Wort, ich habe besondere +Gründe, mich für diese Persönlichkeit zu interessieren, +und würde daher gern wissen wollen, inwieweit +man den Worten dieses Menschen da“ – ich wies auf +Wassiljeff – „trauen kann, daß sein Gutsherr Jegor +Iljitsch Rostaneff eines seiner kleineren Güter Foma +Fomitsch schenken will. Das interessiert mich sehr, und +ich ...“ +</p> + +<p> +„Aber gestatten Sie zuerst, daß ich Sie frage,“ +unterbrach mich der Dicke, „von welcher Seite Sie sich +für diese Persönlichkeit, wie Sie sagen, interessieren; +denn meiner Ansicht nach müßte man ihn einen gottverfluchten +Schurken nennen, aber nicht Persönlichkeit! +Was kann denn dieser Grindkopf überhaupt für eine +‚Persönlichkeit‘ sein! Nichts als Schmach und Schande +ist der ganze Kerl, aber nicht eine ‚Persönlichkeit‘!“ +</p> + +<p> +Ich erklärte ihm hierauf, daß ich mich bezüglich +seiner Person vorläufig noch in völliger Ungewißheit +befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostaneff mein Onkel +sei und ich – Ssergei Alexandrowitsch soundso heiße +und sei. +</p> + +<p> +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +„Was! Dann sind Sie also dieser Gelehrte aus +Petersburg? Gott im Himmel, man erwartet Sie ja +dort sehnsüchtig!“ rief der Dicke in unbegreiflicher +Freude aus. „Ich komme ja doch soeben selbst aus Stepantschikowo, +stand vom Mittagstisch auf und fuhr weg, +gleich vom Pudding weg! Konnte nicht länger mit +Foma an einem Tisch sitzen! Habe mich dort wegen +dieses verfluchten Fomka mit allen herumgeschimpft und +-gestritten! ... Doch das nenne ich mir mal eine Begegnung! +Aber Sie, wissen Sie, Sie müssen mich schon +entschuldigen. Ich bin Stepan Alexeïtsch Bachtschejeff +und erinnere mich Ihrer, als Sie noch so ’n Stöpselchen +waren ... Nun, wer hätte das gedacht! ... Aber so +woll’n wir uns doch gleich ...“ +</p> + +<p> +Und der Dicke küßte mich ab. +</p> + +<p> +Nach den ersten etwas erregten Minuten der neuen +Bekanntschaft benutzte ich die günstige Gelegenheit, um +ihn auszufragen. +</p> + +<p> +„Aber wer ist denn dieser Foma nun eigentlich?“ +fragte ich. „Wie hat er denn dort das ganze Haus erobern +können? Warum jagt man ihn denn nicht mit +der Peitsche hinaus? Ich muß gestehen ...“ +</p> + +<p> +„<em>Wen? – ihn?</em> hinausjagen? Sie sind wohl +ganz ...? Jegor Iljitsch wagt ja doch kaum auf +den Fußspitzen zu gehen, wenn Foma in der Nähe +ist! Und einmal befahl Foma, daß es statt Donnerstag +Mittwoch sein solle: und so haben sie denn dort alle bis +auf den Letzten den Donnerstag für Mittwoch halten +müssen. ‚Ich will nicht,‘ sagte er, ‚daß heute Donnerstag +ist; ich will, daß heute Mittwoch ist!‘ Auf diese Weise +hatten sie dann in einer Woche zweimal Mittwoch und +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +keinen Donnerstag. Sie glauben vielleicht, daß ich aufschneide? +Nicht <em>so viel</em> habe ich aufgeschnitten! Es +ist einfach, um Reißaus zu nehmen!“ +</p> + +<p> +„Ich habe so manches gehört, aber ich muß gestehen +...“ +</p> + +<p> +„Ach Gott! Gestehen und gestehen, etwas anderes +hört man von Ihnen nicht! Was gestehen Sie denn ewig? +Fragen Sie mich doch rundweg, was Sie fragen wollen! +... Und Jegor Iljitschs Mamachen, na ja, Sie +wissen schon, – ist ja sonst eine ganz würdige alte +Dame, obendrein auch noch Generalin – ich aber kann +nur sagen, daß ich sie total verrückt finde: sie wagt ja den +Fomka, den Räuber, nicht einmal anzu<em>hauchen</em>! Und +schließlich ist sie allein an allem schuld: sie hat ihn doch +ins Haus gebracht! Er scheint sie vollkommen behext +zu haben. <em>Dumm</em> geworden ist sie, wenn sie sich jetzt +auch Exzellenz nennt ... Hat sie sich doch mit nahe +fünfzig Jahren dem alten Krachotkin an den Hals geworfen! +Von der Schwester Jegor Iljitschs, der Praskowja +Iljinitschna, die schon das vierzigste Jahr als +Mädchen dasitzt, will ich überhaupt nicht reden. Von +der hört man nur ach und weh, wie von einer Henne, +die ein Ei legen will – hab’s satt – na! Das einzige, +was noch an ihr ist – ist, daß sie zum weiblichen Geschlecht +gehört, das ist aber auch alles: jetzt acht’ einer +sie dafür! – nur eben, weil sie Dame ist! Pfui! Aber +was red’ ich da, das ist ja doch unanständig von mir: +sie ist ja Ihre Tante. Nur die Alexandra Jegorowna, +Ssaschenjka – die Tochter des Obersten, – ist ja noch +’n kleines Mädel, erst sechzehn Lenze, ist aber klüger als +alle die anderen zusammengenommen: die verachtet den +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +Fomka, wie es sich gehört! War sogar spaßig zu beobachten. +Ein nettes, liebes Fräuleinchen, nja, nichts zu +sagen ... Weswegen, sagen Sie doch selbst, soll man +ihn denn achten? Er hat doch, dieser Fomka, beim verstorbenen +General Krachotkin als Narr das Gnadenbrot +gefressen! Er hat ja doch, wenn jener befahl, alle +Tiere nachahmen müssen! Das ist ja – ‚früher hat Wanjka +Erde gegraben, heute will Wanjka den Marschallstab +haben!‘ Jetzt behandelt der Oberst, Ihr Onkel, diesen +Narren a. D. wie seinen leiblichen Vater, setzt ihn unter +Glas womöglich, macht noch Bücklinge vor diesem +Schmarotzer, – oh, pfui!“ +</p> + +<p> +„Nun ... Armut ist doch keine Schande ... und +... ich muß gestehen ... Erlauben Sie, daß ich frage: +ist er schön, klug?“ +</p> + +<p> +„Wer das? – Foma? ... Wie ein Bild! Wunderbar +schön!“ antwortete Bachtschejeff mit einem ganz +eigentümlichen Zittern in der Stimme, das deutlich seine +Wut verriet. Meine Fragen reizten ihn offenbar, und +er sah mich etwas mißtrauisch von der Seite an. „Schön? +Hört doch, der hat jetzt einen Schönen entdeckt! Großer +Gott, er ähnelt ja allen Tieren, wenn du nun einmal +alles wissen willst! Ich würde ja nichts sagen, wenn er +noch wenigstens geistreich wäre, wenn der Schuft es +mit Geist und Verstand machen würde, – nun, dann +würde ich’s noch hinnehmen, den Schmerz verbeißen, +um des Geistes willen, ... Aber er hat ja überhaupt +keinen! Ich kann nur sagen, er hat ihnen allen einen +Trank zu trinken gegeben und ist einfach irgend so ein +Schwarzkünstler. Pfui! ... Meine Zunge ist matt. +Man kann nur einfach zur Seite speien und weggehen. +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +Und schweigen. Sie haben mich mit Ihrem Gespräch +nur wieder in Wut gebracht! He, ihr da! Seid ihr +endlich fertig?“ +</p> + +<p> +„Der Schwarze muß noch neu beschlagen werden,“ +brummte Grigorij mürrisch. +</p> + +<p> +„Der Schwarze ... Ich werde dir zeigen, was ein +Schwarzer ist! ... Ja, mein Bester, ich kann Ihnen +Dinge erzählen, Dinge, sag’ ich Ihnen, daß Sie nur so +den Mund aufsperren und bis zur Wiederkunft des +Herrn mit offenem Munde stehen bleiben. Ich habe +ihn doch anfangs gleichfalls geachtet! Was glauben +Sie? Jetzt tue ich Buße und schwöre öffentlich: ich war +ein Esel! Er hatte ja auch mich beschwindelt. Der Kerl +wußte alles! Jedes letzte Tüttelchen wußte er, alle +Wissenschaften hatte er im Kopf! Tropfen gab er mir: +ich bin ja doch, Väterchen, ein kranker Mensch. Sie +glauben es mir vielleicht nicht, aber ich bin wirklich +krank, – wovon bin ich denn so dick? Nun, damals +aber, von seinen Tropfen, wäre ich fast kopfüber in die +Grube gefahren. Schweigen Sie nur und hören Sie +zu: wenn Sie hinkommen, werden Sie mit eigenen +Augen sehen. Er wird ja dem Obersten noch blutige +Tränen herauspressen, jawohl! – blutige Tränen wird +der Oberst weinen, aber dann wird es zu spät sein! Hat +doch schon die ganze Umgegend wegen dieses vermaledeiten +Fomka den Verkehr mit ihm abgebrochen! Beleidigt +doch der Kerl ungestraft einen jeden, der über die +Schwelle tritt! Von mir ganz zu schweigen: selbst die +größten Potentaten würde er nicht verschonen. Einem +jeden hält er seine Predigt; denn er hat sich jetzt auf die +Moral gelegt, der Spitzbube! ‚Ich bin ein Weiser, ich +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +bin der Klügste von allen, auf mich allein hast du zu +hören!‘ Das sind so seine Worte. ‚Ich bin gelehrt,‘ und +damit basta! Was geht das mich an, ob er gelehrt ist +oder nicht! Also bloß weil man gelehrt ist, muß man +den Ungelehrten unbedingt auspressen? ... Und wenn +er dann einmal loslegt mit seiner Gelehrsamkeit, dann +hat es keinen Anfang und kein Ende, nur ta-ta-ta, ta-ta-ta, +ta-ta-ta schlägt ins Ohr. Das heißt, er hat eine +solche Zunge, sag’ ich Ihnen, daß sie selbst dann, wenn +man sie abschneiden und hinaus auf den Misthaufen +werfen würde, – selbst dann würde sie noch endlos +weitertattern wie eine Nähmaschine ... Jetzt nimmt er +sich viel heraus, jetzt ist er wichtig wie eine Maus in der +Grütze! Jetzt will er schon dorthin kriechen, wohin nicht +einmal sein Kopf durchkriechen kann. Aber was soll +man da reden! Ist es ihm doch jetzt eingefallen, das +ganze Hofgesinde französische Vokabeln lernen zu lassen! +Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es mir ja nicht +zu glauben. Das bringe ihnen, sagt er, großen Nutzen! +Dem Landbauer also, dem Knecht! Pfui! So ein verfluchter +Schandkerl! – mehr ist er wirklich nicht. Wozu +braucht ein Leibeigener Französisch, was fängt er damit +an? – ich bitt’ Sie! Und selbst wir, wozu braucht denn +unsereiner Französisch, frage ich Sie bloß? Um jungen +Damen bei der Mazurka den Kopf zu verdrehen und +fremde Frauen zu verführen! Luxus, Luxus, und nichts +weiter!! Meiner Meinung nach – trink eine Flasche +Branntwein aus, und du sprichst von selbst alle Sprachen. +Das ist alles, was ich an Hochachtung für die +französische Sprache übrig habe. Na, auch Sie werden +ja wohl gut französisch plappern, tatata, tatata, +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +patati und patata!“ Bachtschejeff sah mich mit verachtendem +Unwillen von der Seite an. „Sie, mein Lieber, +sind doch auch ein Gelehrter – wie? Haben sich doch +auch auf die Gelehrsamkeit gelegt?“ +</p> + +<p> +„Ja ... ich ... zum Teil interessiere ich mich ...“ +</p> + +<p> +„Da haben Sie denn vielleicht auch schon alle +Wissenschaften in sich aufgenommen?“ +</p> + +<p> +„Ja ... das heißt, nein ... Ich muß gestehen, daß +ich jetzt mehr für das Beobachten bin. Ich habe so lange +in Petersburg gesessen und beeile mich nun, zu meinem +Onkel zu kommen ...“ +</p> + +<p> +„Wer hat Sie denn darum gebeten? Wären Sie +doch dort bei sich sitzen geblieben, wenn Sie etwas +hatten, wo Sie sitzen konnten. Nein, mein Bester, hier, +das sage ich Ihnen, werden Sie mit Gelehrsamkeit wenig +ausrichten, und da wird Ihnen kein Onkel helfen – +da haben Sie sogleich den Fangriemen um den Hals. +Ich habe bei ihm an einem einzigen Tage bedeutend abgenommen. +Jawohl! – Werden Sie es mir glauben, +daß ich dort in vierundzwanzig Stunden magerer geworden +bin? Nein, ich sehe schon, Sie glauben es mir +nicht. Nun, dann, meinetwegen, Gott mit Ihnen, dann +glauben Sie es eben nicht.“ +</p> + +<p> +„Aber wieso, ich glaube es Ihnen durchaus! Nur +ist mir einiges noch etwas unverständlich ...“ beeilte ich +mich zu versichern, geriet aber wieder in Verwirrung. +</p> + +<p> +„Kennt man, dieses Glauben ... aber ich glaube +<em>Ihnen</em> nicht! Alle seid ihr Springer – soviel es nur +Gelehrte gibt. Ihr würdet am liebsten jeder auf einem +Bein hopsen und euch bewundern lassen! Nein, mein +Bester, diese Wissenschaften sind nicht mein Fall, ich +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +kann sie nicht verdauen. Hab’ mich mit euch Petersburgern +genug gerieben – unnützes Volk. Alles Freimaurer. +Verbreiten nur Unglauben. Selbst ein Gläschen +Branntwein hat er Angst auszutrinken, so’n Gelehrter, +ganz als fürchtete er, daß es ihn beißen könnte +– pfui! Nein, mein Bester, Sie haben mich jetzt geärgert, +will mit Ihnen gar nicht mehr weiter sprechen. +Und ich bin doch auch wirklich nicht dazu da, um hier +Geschichten zu erzählen. Meine Zunge ist ohnehin schon +müde. Alle, Väterchen, kann man ja doch nicht ausschimpfen, +und es wäre auch Sünde ... Nun hat er +bei Ihrem Onkel den Diener Widopljässoff buchstäblich +um den Verstand gebracht, dein großer Gelehrter da! +Jawohl, nur dank Foma Fomitsch ist Widopljässoff +übergeschnappt ...“ +</p> + +<p> +„Ich aber würde den Widopljässoff,“ mischte sich +plötzlich Grigorij ein, der bis dahin würdevoll und +stumm unsere Unterhaltung verfolgt hatte, „ich aber +würde diesen Widopljässoff unter den Ruten überhaupt +nicht mehr aufstehen lassen! Käme er mir nur zwischen +die Finger, so würde ich ihm diese deutschen Albernheiten +ein für allemal ausbläuen! Würde ihm so viele aufzählen, +daß er mit den Zahlen zu kurz käme!“ +</p> + +<p> +„Schweig!“ schrie ihn sein Herr an. „Halt deine +Zunge hinter den Zähnen fest, nicht mit dir wird gesprochen!“ +</p> + +<p> +„Widopljässoff ...“ stotterte ich, nun ganz aus der +Fassung gebracht – wenn ich nur gewußt hätte, was +ich sagen sollte! „Widopljässoff ... sagen Sie doch, +welch ein sonderbarer Name ...“ +</p> + +<p> +„Weshalb denn sonderbar? Da stimmen auch Sie +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +dasselbe Lied an! Ach, Sie! Gelehrt natürlich, +gelehrt!“ +</p> + +<p> +Doch jetzt riß meine Geduld. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie,“ sagte ich, „weshalb ärgern +Sie sich denn über mich? Was habe ich denn mit all +dem zu tun? Ich höre Ihnen nun schon seit einer halben +Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich +handelt ...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber weshalb ärgern Sie sich denn, mein +Gutester?“ fragte der Dicke naiv. „Es ist doch nichts, +was Sie kränken könnte! Ich habe doch in aller Liebe +zu dir gesprochen, mein Lieber ... Beachten Sie es +weiter nicht, daß ich ein solcher Schreihals bin und soeben +noch meinen Diener angeschnauzt habe. Wenn er +auch eine notorische Kanaille ist, mein Grischka, so liebe +ich ihn ja doch gerade deswegen, den Schuft. Meine +Herzensempfindsamkeit allein hat mich ins Unglück gebracht +– ganz offen und ehrlich gesagt. Aber an dieser +ganzen Geschichte ist doch nur Fomka schuld! Der +bringt mich noch ins Grab, darauf kann ich schwören, +der kriegt’s fertig! Dank seiner Gnaden muß ich hier +die zweite Stunde in der Sonne braten. Wollte zuerst +beim Oberpopen vorsprechen, solange wie diese Duselköpfe +hier den Schaden wieder ausbessern. Ein guter +Mensch, dieser Oberpope. Aber der Fomka hat mich +dermaßen geärgert, daß ich auch den Oberpopen nicht +mehr sehen wollte! Na, und überhaupt! Hier aber gibt +es ja nicht einmal ein anständiges Frühstückslokal ... +Alle sind Schufte, das sage ich Ihnen, alle bis auf den +Letzten! ... Ich würde ja nichts sagen, wenn er ein +großes Tier wäre,“ fuhr Herr Bachtschejeff fort, sich +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +wieder dem Thema Foma Fomitsch zuwendend, von dem +er sich offenbar nicht zu trennen vermochte, „dann würde +es noch mit dem Titel, den er führte, halbwegs zu erklären +sein; aber so! Er hat ja überhaupt keinen Rang, +ich weiß es tödlich sicher, daß er nicht den geringsten +Titel hat! Für Recht und Wahrheit, sagt er, soll er dort +irgendwo ‚gelitten‘ haben, vor Olims Zeiten vielleicht: +und so knie jetzt dafür gefälligst vor ihm nieder! Der +Teufel ist doch nicht unser Bruder! Ist ihm nur etwas +nicht ganz nach der Nase, so springt er auf, schreit: +‚Man beleidigt mich, patati! – weil ich arm bin, patata! +– man hat keine Ehrfurcht vor mir!‘ Ohne Foma +darfst du dich nicht an den Tisch setzen, er aber sitzt in +seinem Zimmer und kommt nicht; denn ‚man hat mich +beleidigt, ich bin ein Gottespilger, kann mich auch von +schwarzem Brote nähren.‘ Kaum aber hat man sich zu +Tisch gesetzt, da erscheint er wieder, und da fängt das +Lied von neuem an: ‚Weshalb hat man sich ohne mich +zu Tisch gesetzt? Also so gering achtet man mich!‘ +Kurz – dieselbe Tonart! Ich, wissen Sie, ich habe +lange geschwiegen. Er glaubte, daß auch ich wie ein +dressiertes Hündchen auf den Hinterbeinen apportieren +würde. Jawohl ja! Das fehlte noch! Nein, mein +Lieber, spring du mal selbst auf den Kutschersitz, ich +werde mich in den Wagen setzen! Ich bin doch Jegor +Iljitschs Regimentskamerad! Ich trat als Junker aus, +er aber kam vor einem Jahr als Oberst a. D. auf mein +Stammgut und stattete mir seinen Besuch ab. Da sagte +ich ihm gleich: ‚He, mein Bester, verwöhnen Sie den +Foma nicht so sehr, Sie wissen nicht, was Sie tun, Sie +werden es noch bereuen!‘ Er aber sagte: ‚Nein, er ist +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +ein überaus guter Mensch‘ – das sagt er von Fomka! +– ‚er ist mein Freund, er unterrichtet mich jetzt in der +Moral.‘ Na, dachte ich da bei mir, gegen die Moral +ist nichts zu machen! Wenn er bereits bei dieser angelangt +ist, dann gib die letzte Hoffnung auf! Was glauben +Sie wohl, weshalb er es heute zu dem Skandal gebracht +hat? Morgen, an Sankt-Elias-Tag (Herr Bachtschejeff +bekreuzte sich) ist Iljuschas, des kleinen Iljuschas +Namensfest. Ich hatte eigentlich die Absicht, auch +diesen Tag bei ihnen zu verbringen, zum Essen zu bleiben, +und verschrieb mir aus der Residenz ein Spielzeug: +ein Deutscher auf Sprungfedern küßt seiner Braut die +Hand, und diese wischt sich mit dem Schnupftuch eine +Träne ab – ein großartiges Ding! Jetzt aber werde ich +es nicht mehr schenken, prost Mahlzeit! Sehen Sie, +da liegt das Ding in meinem Wagen, dem Deutschen ist +schon die Nase abgeschlagen. Bring’s zurück. Jegor +Iljitsch feiert bei solcher Gelegenheit ganz gern ein Fest, +nun aber kommt der Fomka dazwischen und verpfuscht +ihm das Vergnügen. ‚Weshalb beschäftigt man sich +denn jetzt mit Iljuscha so sehr? Man will wohl mich +von nun an überhaupt nicht mehr beachten?‘ Nun, was +sagen Sie dazu? Wie gefällt er Ihnen? Beneidet einen +achtjährigen Knaben wegen dessen Namenstag! ‚Aber +nein,‘ sagte er, ‚ich habe morgen gleichfalls meinen +Namenstag!‘ Aber morgen ist doch Ilja und nicht Foma! +‚Nein,‘ sagt er, ‚ich feiere morgen gleichfalls meinen +Namenstag!‘ Ich schweige, sage kein Wort, dulde stumm. +Und was glauben Sie? Jetzt schleichen sie dort alle auf +den Zehenspitzen umher und beraten sich tuschelnd, was +sie nun tun sollen! Sollen sie ihm nun morgen, am +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +Eliastage, zum Namensfest gratulieren oder sollen sie +ihm nicht gratulieren? – Unterlassen sie es, so kann er +sich wieder beleidigt fühlen – gratulieren sie ihm aber, +so kann er sie alle verspotten. Pfui! Da setzten wir uns +nun zu Tisch ... Aber du, mein Bester, hörst du mir +denn überhaupt zu?“ +</p> + +<p> +„Aber gewiß! – sogar mit besonderem Vergnügen; +denn durch Sie erst erfahre ich jetzt ... und ... ich +gestehe ...“ +</p> + +<p> +„Jawohl, mit besonderem Vergnügen, das kennt +man! Dieses Vergnügen ... Oder soll das etwa Ironie +sein?“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, aus welchem Grunde denn +Ironie? Ganz im Gegenteil. Und zudem ... drücken +Sie sich so originell aus, daß ich schon bei mir beschlossen +habe, Ihre Worte niederzuschreiben.“ +</p> + +<p> +„Was ... was heißt das, Väterchen, wieso niederzuschreiben?“ +fragte Herr Bachtschejeff mit einem gelinden +Schrecken im Gesicht und blickte mich mißtrauisch +an. +</p> + +<p> +„Übrigens, ich werde sie vielleicht auch nicht niederschreiben +... ich sagte es nur so ...“ +</p> + +<p> +„Du willst mich doch sicherlich irgendwie ausnutzen?“ +</p> + +<p> +„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht,“ +sagte ich verwundert. +</p> + +<p> +„Ja so. Ich erzähle dir jetzt alles wie ein gutmütiger +Esel, und du schilderst mich dann plötzlich in irgendeinem +Buch.“ +</p> + +<p> +Ich beeilte mich sogleich, Herrn Bachtschejeff zu versichern, +daß ich nicht zu jenen Schriftstellern gehöre – +er aber sah mich immer noch mißtrauisch an. +</p> + +<p> +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +„Jawohl ja – nicht zu jenen! Wer kennt dich denn! +Vielleicht bist du noch toller als jene. Da hat mir nun +auch Fomka gedroht, mich zu beschreiben und das Geschriebene +drucken zu lassen.“ +</p> + +<p> +„Gestatten Sie mir eine Frage,“ unterbrach ich ihn, +da ich dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte. +„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß mein Onkel heiraten +will?“ +</p> + +<p> +„Was wäre denn dabei, wenn er’s will? Das wäre +ja weiter noch nicht schlimm. Mag der Mensch doch +heiraten, wenn es ihm so nahe geht! ... Schlimm aber +ist das andere ...“ fügte Herr Bachtschejeff nachdenklich +hinzu. „Hm! Aber hierüber, mein Bester, kann ich +Ihnen keine bestimmte Auskunft geben. Es haben sich +dort jetzt viel Weibsbilder versammelt, wie die Fliegen +um den Honig; da wird kein Teufel daraus klug, wer +von ihnen nun heiraten will, und wer nicht. Ich werde +Ihnen, mein Lieber, in aller Freundschaft nur eines +sagen: ich mag die ganze Weiberbande nicht! Das +einzige ist noch, daß sie Menschen sind; aber sonst, auf +Ehrenwort, ist es doch nichts als eine Schande mit den +Weibern und kommt dem Heil unserer Seelen nicht zustatten. +Daß aber Ihr Onkel verliebt ist wie ein sibirischer +Kater, dessen kann ich Sie versichern. Aber auch +darüber will ich jetzt schweigen, Sie werden es ja selbst +sehen ... Dumm ist nur, daß er die Sache aufschiebt. +Willst du heiraten, so heirate! Er aber fürchtet sich, es +Fomka zu sagen, und fürchtet auch die Alte: die würde +sofort für sieben losschreien und würde noch mit den +Hinterbeinen ausschlagen. Die Alte steht natürlich auf +Fomkas Seite; denn sieh, es würde Foma Fomitsch betrüben, +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +wenn eine junge Herrin ins Haus käme, sintemal +er dann keine Stunde mehr daselbst verweilen +könnte. Die Hausfrau würde ihn womöglich eigenhändig +am Kragen fassen und hinauswerfen, und wenn +sie klug ist, auf eine solche Weise, daß er später schwerlich +hier irgendwo eine Unterkunft auch nur als +Schreiberlein finden würde. Deshalb intrigiert er ja +auch jetzt zusammen mit der Alten, um ihn zu verkuppeln +mit dieser ... Aber du, mein Gutester, warum hast du +mich denn unterbrochen? Ich wollte dir vorhin gerade +das Wichtigste erzählen, du aber unterbrachst mich! Ich +bin älter als du, einen Älteren unterbrechen, das soll +man nicht ...“ +</p> + +<p> +Ich machte meine Entschuldigung. +</p> + +<p> +„Wozu entschuldigst du dich! Aber ich wollte dir, +mein Lieber, als einem Gelehrten zur Entscheidung +unterbreiten, wie er mich heute beleidigt hat. Nun, denk +und sage selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Wir +setzten uns also zu Tisch: da hat er mich, sag’ ich dir, +fast aufgefressen, der Verfluchte, während der Mahlzeit. +Ich sah es ihm von vornherein an, was in ihm vorging: +er sitzt und ärgert sich, daß seine ganze Seele knirscht. +Würde mich auch in einem Löffel voll Wasser mit Freuden +ersäufen, diese Giftblase! Dieser Mensch hat eine +solche Eigenliebe, daß er sie kaum noch in sich selbst +unterbringen kann! Und da fiel es ihm denn ein, auch +mich zu schikanieren, wollte auch mir Moral beibringen. +Weshalb – bitte, antworten Sie ihm darauf! – weshalb +ich so dick sei?! Und das war nun sein Steckenpferd: +weshalb bin ich nicht dünn, sondern dick! Nun, +sagen Sie doch selbst, mein Lieber, was ist denn das +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +für eine Frage? Ist denn das geistreich? Ich antworte +ihm also: ‚Das hat Gott der Herr schon so eingerichtet: +der eine ist dünn, der andere dick; gegen die allweise Vorsehung +kann ein Sterblicher sich nicht auflehnen.‘ Das +war doch ganz vernünftig geantwortet – finden Sie +nicht? ‚Nun,‘ sagt er, ‚du hast fünfhundert Seelen, +lebst von den Zinsen, bringst aber dem Vaterlande keinen +Nutzen: dienen muß man, du aber sitzt zu Hause und +spielst auf dem Harmonium.‘ Das ist nun wahr, ich +spiele gern, wenn mir mal so traurig zumute ist, auf +meinem Harmonium. Ich also antworte ihm wieder +ganz vernünftig: ‚In welchen Dienst soll ich denn eintreten, +Foma Fomitsch? In welch eine Uniform soll ich +mich dicken Menschen denn hineinzwängen? Ziehe ich +eine an – mit genauer Not geht’s vielleicht –, so ist +es doch nicht ausgeschlossen, daß ich plötzlich niese und +alle Knöpfe abspringen, was in Gegenwart der höchsten +Vorgesetzten geschehen kann, und wenn man dann – +Gott behüte! – das Unglück nur fürs eine Farce hält, +was dann?‘ Nun, sagen Sie doch, mein Gutester, was +habe ich denn damit Lachhaftes gesagt? Aber nein, er +muß lachen, auf meine Kosten, versteht sich, und das Gekicher +hört gar nicht mehr auf, hahaha und hihihi ... +Schamgefühl hat er überhaupt nicht, das sage ich Ihnen, +und da fiel es ihm noch ein, mich auf französisch zu beschimpfen: +‚Cochon,‘ sagte er. Na, was Cochon heißt, +weiß auch ich. Wart, du verfluchter Schwarzkünstler, +denke ich, du glaubst wohl, daß du in mir einen dummen +Jungen vor dir hast? Ich schwieg aber, litt wortlos +und schwieg, – dann aber hielt ich es nicht mehr aus, +stand auf und sagte ihm in Gegenwart der ganzen Versammlung +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +ins Gesicht: ‚Ich habe dir unrecht getan,‘ +sage ich, ‚Foma Fomitsch, du Wohltäter der Menschheit; +denn ich glaubte von dir, daß du ein wohlerzogener +Mensch seiest, nun aber stellt es sich heraus, daß du +ebenso ein Schwein bist wie wir alle,‘ – sagte es, stand +auf und ging fort, ließ den Pudding stehen, wo er stand +– der Pudding wurde gerade herumgereicht. Daß euch +mitsamt dem ganzen Pudding ...! dachte ich und +ging.“ +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte ich, nachdem ich +die ganze Erzählung Herrn Bachtschejeffs angehört +hatte, „ich bin natürlich gern bereit, Ihnen in allem zuzustimmen, +zumal ich ja noch nichts Positives weiß ... +Aber, wie soll ich Ihnen sagen, – es haben sich jetzt in +mir gewisse Ideen bezüglich dieser Person gebildet ...“ +</p> + +<p> +„Was sind denn das für Ideen, Väterchen, die sich +in dir gebildet haben?“ fragte Herr Bachtschejeff mißtrauisch. +</p> + +<p> +„Sehen Sie,“ begann ich, ein wenig verwirrt, +„es ist vielleicht zu etwas ungelegener Zeit ... aber, +schließlich, ich werde Ihnen meine Gedanken gern mitteilen. +Ich denke mir folgendes: vielleicht täuschen wir +uns beide über Foma Fomitsch. Vielleicht verhüllen alle +diese Eigenheiten eine besondere, vielleicht sogar sehr +reiche Natur – wer kann das wissen? Vielleicht ist er +ein verbitterter, durch Leiden vernichteter Mensch, der +sich sozusagen an der ganzen Menschheit dafür rächt? +Ich habe gehört, früher soll er so etwas ... so etwas +wie ein Hausnarr gewesen sein: vielleicht hat ihn das +gar zu sehr erniedrigt, beleidigt, vernichtet? Verstehen +Sie mich recht: ein edler Mensch ... mit einem gewissen +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +Selbstbewußtsein ... und der muß nun plötzlich +den Narren spielen! ... Da ist er denn vielleicht der +ganzen Menschheit gegenüber mißtrauisch geworden und +... und vielleicht, wenn man ihn mit der Menschheit +aussöhnen würde ..., das heißt, mit den Menschen ... +so würde sich in ihm vielleicht eine reichbegabte oder +jedenfalls bemerkenswerte Natur offenbaren, und ... +nein, es muß doch etwas Besonderes an ihm sein! Es +muß doch seinen guten Grund haben, warum ihn dort +alle anbeten!“ +</p> + +<p> +Ich fühlte, daß ich ganz aus dem Konzept gekommen +war. Bei meiner Jugend war das ja noch verzeihlich, +aber Herr Bachtschejeff verzieh es mir nicht. Ernst und +streng blickte er mir in die Augen, und dann wurde er +plötzlich blaurot im Gesicht, wie ein Truthahn. +</p> + +<p> +„Und das alles soll dieser Fomka sein?“ stieß er kurz +hervor. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, ich glaube ja selbst nicht an +das, was ich soeben gesagt habe ... Ich sagte es nur +so ... es wäre doch möglich ...“ +</p> + +<p> +„Aber erlauben Sie mal, Sie eines zu fragen: haben +Sie Philosophie studiert?“ +</p> + +<p> +„Daß heißt, in welchem Sinne?“ fragte ich verwundert. +</p> + +<p> +„Nein, nicht in welchem Sinne, sondern antworten +Sie mir offen und ohne alle Sinne auf meine Frage: +haben Sie Philosophie studiert?“ +</p> + +<p> +„Ich muß gestehen, ich habe allerdings die Absicht, +aber ...“ +</p> + +<p> +„Na ja, wußt’ ich’s doch!“ rief Herr Bachtschejeff +aus, indem er seiner Empörung freien Lauf ließ. „Ich, +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +wissen Sie, ich hatt’s ja schon erraten, noch bevor Sie +den Mund aufgetan, daß Sie Philosophie studiert haben! +Mir wird man kein X für ein U vormachen! Prost +Mahlzeit! Auf drei Werst rieche ich den Philosophen +heraus! Fahren Sie nur hin, Sie können Ihrem Foma +in die Arme sinken und sich gegenseitig abküssen! Da hat +er nun einen ‚besonderen‘ Menschen gefunden! Pfui!“ +fauchte er wieder. „Ach, mag die ganze Welt versauern! +Mag alles untergehen! Und ich glaubte schon, daß Sie +ein vernünftiger Mensch seien, Sie aber ... Fahr vor!“ +schrie er dem Kutscher zu, der inzwischen auf den Bock +der ausgebesserten Equipage hinaufgeklettert war. „Nach +Haus!“ +</p> + +<p> +Mit genauer Not komm ich ihm noch einige beruhigende +Worte sagen. Endlich besänftigte er sich; aber es +dauerte doch noch ziemlich lange, bis er sich entschloß, +seinen Zorn wieder in Wohlwollen zu verwandeln. Mit +Grigorijs und Archips Hilfe stieg er in seine Kutsche. +</p> + +<p> +„Gestatten Sie, daß ich noch eines frage,“ sagte ich, +an den Wagenschlag tretend, „werden Sie meinen Onkel +nicht mehr besuchen?“ +</p> + +<p> +„Ihren Onkel? Nicht mehr besuchen? Wer das +glaubt, dem geben Sie ... na, was Sie wollen! Sie +denken wohl, daß ich ein Mensch von Charakter bin, daß +ich’s durchhalten werde? Das ist ja doch mein ganzes +Herzeleid, daß ich ein Lappen bin, aber kein Mensch! +Es wird keine Woche vergehen, da kraufe ich wieder hin. +Und warum ich’s tue? Sehen Sie, da weiß ich ja selber +nicht, aber ich werde wieder hinfahren und werde mich +dort wieder mit Foma Fomitsch herumschlagen. Diesen +Foma hat mir Gott der Herr sicherlich zur Strafe für +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +meine Sünden auf den Hals geschickt Das ist ja mein +Leid, Väterchen, daß ich von Charakter ein Weib bin: +von Beständigkeit keine Spur! Ein Hasenfuß bin ich, +mein Lieber, ein echter ...“ +</p> + +<p> +Wir schieden recht freundschaftlich, er lud mich sogar +zu sich ein. +</p> + +<p> +„Komm mal, Väterchen, komm, besuch mich, dann +wollen wir uns mal gütlich tun. Ich habe mir ein gewisses +Wässerchen aus Kiew bestellt, das ist jetzt eingetroffen, +und mein Koch ist in Paris gewesen, der wird +dir solche Frikandeaus und Fischpasteten zubereiten, daß +du dir nur so die Fingerchen ablecken und ihm, dem +Schuft, noch einen Bückling machen wirst! Ist ein gebildeter +Mann! Bloß hab’ ich ihn jetzt lange nicht mehr +geprügelt, hab’ ihn etwas verwöhnt ... es ist gut, daß +man mich wieder daran erinnert hat ... Also komm +nur! Ich würde Sie auch heute zu mir auffordern, aber +ich bin jetzt doch zu verstimmt, bin ganz sauer geworden, +ganz und gar aller Hinterbeine beraubt. Ich bin ja doch +ein kranker Mensch. Sie glauben es mir wohl nicht ... +Nun, leben Sie wohl, mein Lieber! Es ist Zeit, daß auch +mein Schiff in den Hafen einläuft. Da ist ja auch Ihr +Vehikel repariert. Dem Fomka aber sagen Sie, daß er +mir nicht mehr unter die Augen kommen soll, sonst wird +es einen neuen Krach geben, daß er nur so ...“ +</p> + +<p> +Die letzten Worte hörte ich nicht mehr. Seine +Equipage, die von vier starken Pferden mit einem Ruck +angezogen wurde, verschwand hinter Staubwolken. Da +fuhr auch meine Postkutsche vor, ich stieg ein, und wir +hatten in wenigen Minuten das Städtchen hinter +uns. +</p> + +<p> +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +„Natürlich übertreibt der gute Mann,“ dachte ich, +„er ist gar zu wütend, um unparteiisch zu urteilen. Aber +andererseits ... was er da von meinem Onkel sagt, ist +noch sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei +Aussagen überein. Nun, – aber daß mein Onkel die +junge Dame liebt ... Hm! Werde ich nun heiraten +oder werde ich es nicht tun?“ +</p> + +<p> +Und diesmal kamen mir denn doch Bedenken. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-6"> +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +<span class="firstline">III.</span><br> +Mein Onkel. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> gestehe offen, mir war etwas bänglich zumute. +Meine romantischen Träume erschienen mir jetzt zum +mindesten sonderbar, und kaum war ich in Stepantschikowo +angelangt, da fand ich sie sogar dumm. Das +erstere geschah ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Die +Landstraße führte nicht weit vom Herrenhause vorüber. +Nun sah ich nach langen Jahren diesen großen Garten +wieder, in dem ich einige glückliche Tage meiner Kindheit +verbracht hatte, und den ich dann später so oft im +Traum gesehen, wenn ich in den Schlafsälen der +Schulen und Anstalten, die für meine Bildung sorgten, +halbwach im Schlummer lag. Ich sprang vom Wagen +und ging quer durch den Garten auf das Herrenhaus +zu; denn ich wollte unbemerkt zuerst mit meinem Onkel +sprechen und, wenn es ging, auch noch hier und da +vorher ein wenig herumforschen und horchen. Meine +Absicht gelang mir. Die Allee hundertjähriger Linden +entlang schreitend, kam ich zur Terrasse, von der aus +man durch eine Glastür unmittelbar in die Wohnzimmer +trat. Diese Terrasse war von Blumenbeeten +umgeben und mit Topfpflanzen geschmückt. Hier nun +traf ich ganz unerwartet einen der „Eingeborenen“ an, +den alten Gawrila, der mich einst als Kind auf dem +Arm getragen hatte, jetzt aber der ehrwürdige Kammerdiener +meines Onkels war. Der Alte hatte eine Brille +auf der Nase und hielt ein Heft, in dem er mit ungewöhnlicher +Aufmerksamkeit las, dicht vor den Augen. +Ich hatte ihn zum letztenmal vor zwei Jahren in Petersburg +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +gesehen, wohin er mit meinem Onkel gekommen +war, und so erkannten wir uns sofort. Mit Freudentränen +stürzte er die Stufen herab, um meine Hände +zu küssen, ohne darauf zu achten, daß ihm bei der Gelegenheit +seine Brille von der Nase flog. Diese Anhänglichkeit +des Alten rührte mich tief. Doch ich stand +noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Herrn +Bachtschejeff, und so wandte sich meine Aufmerksamkeit +unverzüglich dem verdächtigen Heft zu, das Gawrila +in der Hand hielt. +</p> + +<p> +„Was ist das, Gawrila? Was, will man etwa +auch dir Französisch beibringen?“ fragte ich den +Alten. +</p> + +<p> +„Jawohl, das will man, Väterchen, trotz meiner +alten Jahre, als wäre ich ein Papagei,“ antwortete +Gawrila niedergeschlagen. +</p> + +<p> +„Und Foma selbst unterrichtet dich?“ +</p> + +<p> +„Er allein, Väterchen. Er muß doch wohl ein +kluger Mann sein.“ +</p> + +<p> +„Ja, alle Achtung! Aber wie unterrichtet er dich +denn? – Im Gespräch?“ +</p> + +<p> +„Mit dem Heft, Väterchen.“ +</p> + +<p> +„Du meinst dieses, das du in der Hand hast? Ah! +Französische Worte mit russischen Buchstaben geschrieben +– findig! Und von einem solchen Rüpel, +einem solchen Dummkopf laßt ihr euch alle so behandeln +– schämst du dich nicht, Gawrila?“ In einem +Augenblick waren alle meine entschuldigenden Annahmen +vergessen, durch die ich noch vor ein paar +Stunden Herrn Bachtschejeff in so große Wut versetzt +hatte. +</p> + +<p> +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +„Wie denn, Väterchen, wie kann er denn ein +Dummkopf sein, wenn er doch auch unsere Herrschaft +so lenkt, wie er will?“ +</p> + +<p> +„Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila,“ brummte +ich, durch seine Bemerkung zur Besinnung gebracht. +„Führ’ mich zu meinem Onkel.“ +</p> + +<p> +„Großer Gott! Ich darf ja dem Herrn überhaupt +nicht unter die Augen kommen, wage mich gar nicht +mehr zu zeigen! Ja, ja, so weit ist es gekommen, daß +ich auch <em>ihn</em> noch fürchten muß! Sitze hier in meiner +Trübsal, und wenn Foma Fomitsch zu kommen geruhen, +so gehe ich hinter die Blumenbeete.“ +</p> + +<p> +„Was fürchtest du denn?“ +</p> + +<p> +„Vorhin wußte ich die Aufgabe nicht gut: Foma +Fomitsch wollten mich bestrafen und, wie er sagte, mich +auf den Knien stehen lassen – ich aber kniete nicht +nieder. Alt bin ich, Väterchen Ssergei Alexandrowitsch, +viel zu alt, um noch solche Scherze mitzumachen. Der +Herr aber geruhten darüber böse zu werden, daß ich +Foma Fomitsch nicht gehorcht hatte. ‚Siehst du denn +nicht ein,‘ sagte er, ‚alter Kerl, er müht sich doch um +deine Bildung, will dich doch in der Aussprache des +Französischen unterweisen ...‘ Und so gehe ich denn +und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch versprachen, am +Abend noch einmal eine Prüfung vorzunehmen.“ +</p> + +<p> +Es schien mir, daß hier einiges nicht so ganz stimmte. +</p> + +<p> +„Mit diesem französischen Unterricht wird es wohl +eine besondere Bewandtnis haben,“ dachte ich, „die der +Alte mir natürlich nicht erklären kann.“ +</p> + +<p> +„Nur eine Frage noch, Gawrila: wie sieht er aus? +Stattlich, imponierend?“ +</p> + +<p> +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +„Wer das? Foma Fomitsch? Nein, Väterchen, +das ist so ein gemausertes Menschlein ...“ +</p> + +<p> +„Hm! Hab’ nur etwas Geduld, Gawrila, es wird +sich vielleicht noch einrenken lassen, oder vielmehr: +sicherlich wird es das, ich verspreche es dir, es wird +alles wieder gut werden! Aber ... wo ist denn nun +mein Onkel?“ +</p> + +<p> +„Hinter dem Pferdestall reden der Herr mit den +Abgesandten der Bauern. Aus Kapitonowka sind die +Alten mit Verbeugungen und Bitten hergekommen. +Dort hat man gesagt, daß der Herr sie Foma Fomitsch +zu schenken beabsichtige, und daher wollen sie alle bitten, +daß es nicht geschehe, wollen sich, wie man sagt, losbitten.“ +</p> + +<p> +„Aber warum empfängt er sie denn hinter den +Pferdeställen?“ +</p> + +<p> +„Aus Vorsicht, Väterchen ...“ +</p> + +<p> +In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den +Pferdeställen. Dort stand er auf einem freien Platz +vor einer ganzen Anzahl Bauern, die sich immer wieder +vor ihm verneigten und inständig um etwas zu bitten +schienen. Mein Onkel aber erklärte ihnen offenbar +eine Sache. Ich näherte mich und rief ihn an. Er +sah sich um und – wir lagen uns in den Armen. +</p> + +<p> +Er freute sich unbeschreiblich über mein Kommen, +er geriet förmlich in Begeisterung vor Freude. Er umarmte +mich, drückte meine Hände ... als hätte man +ihm seinen leiblichen Sohn wiedergegeben, der irgendeiner +tödlichen Gefahr entgangen war, oder als hätte +ich ihn mit meiner Ankunft von einer tödlichen Gefahr +befreit oder von schweren Zweifeln erlöst, und als +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +brächte ich Glück und Freude für sein ganzes Leben +ihm und allen, die er lieb hatte; denn mein Onkel hätte +nie eingewilligt, allein glücklich zu sein. +</p> + +<p> +Nach dem ersten überschwenglichen Ausbruch wurde +er so mitteilsam, daß er sich bald ganz verlor und wohl +selbst nicht mehr wußte, wovon er schon gesprochen +hatte. Er überschüttete mich mit Fragen, wollte mich +sogleich seiner ganzen Familie vorstellen: wir begaben +uns auch schon zum Hause – dann aber kehrte er doch +wieder zurück ... um mich zuerst mit seinen Bauern +aus Kapitonowka bekannt zu machen. Hierauf – dessen +entsinne ich mich noch genau – kam er plötzlich aus +unbekanntem Grunde auf einen Herrn Korowkin zu +sprechen, einen jedenfalls außergewöhnlichen Menschen, +den er vor drei Tagen unterwegs getroffen hatte, +irgendwo auf der Reise, und den er mit der größten +Ungeduld gerade jetzt als Gast bei sich erwartete. Von +Korowkin sprang er auf etwas anderes über. Es war +mir förmlich ein Genuß, ihn zu betrachten. Auf seine +überstürzten Fragen nach meinen ferneren Absichten +sagte ich, daß ich vorläufig keine Anstellung suchen, +sondern fortfahren würde, mich mit der Wissenschaft +zu beschäftigen. Doch kaum hatte ich das Wort +„Wissenschaft“ ausgesprochen, als mein Onkel auch +schon eine ungeheuer wichtige Miene aufsetzte. Als +er dann erfuhr, daß ich mich in der letzten Zeit mit +Mineralogie beschäftigt hatte, warf er den Kopf in +den Nacken und blickte sich stolz im Kreise um, als +hätte er ganz allein, ohne jede fremde Hilfe, die ganze +Mineralogie entdeckt und alles allein niedergeschrieben. +Ich habe ja schon gesagt, daß er vor dem Wort +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +„Wissenschaft“ die größte Ehrfurcht empfand, eine +Ehrfurcht, die ohne jeden persönlichen Ehrgeiz war, +dessen sie um so mehr entbehrte, als er selbst fast nichts +von diesen Dingen verstand. +</p> + +<p> +„Ach, Freund, es gibt doch wirklich Menschen in +der Welt, die alles wissen!“ sagte er mir einmal mit +wahrem Entzücken in den leuchtenden Augen. „Da +sitzt man unter ihnen, hört, und weiß doch selbst, daß +man nichts davon versteht, aber dennoch freut sich das +Herz. Und warum? Ganz einfach, weil hier eben +Nutzen ist, hier ist Verstand, hier ist das Allgemeinwohl! +Das begreife ich doch! Ich fahre jetzt schon +mit der Eisenbahn, mein Iljuscha aber wird vielleicht +schon durch die Luft fliegen ... Nun, ja, kurz und +gut, und der Handel, die Industrie – diese, wie man +sagt, Schlagadern ... das heißt, ich will nur sagen, +von welcher Seite du es auch nimmst, es ist und bleibt +doch nützlich für die Menschheit ... Das ist es doch, +nicht wahr?“ +</p> + +<p> +Doch ich komme zurück auf unser Wiedersehen. +</p> + +<p> +„Wart nur, Freund, wart,“ begann er in seiner +schnellen Sprechweise, sich die Hände reibend, „du sollst +einen Menschen kennen lernen! Es ist ein seltener +Mensch, sag’ ich dir, gelehrt, gelehrt, ganz ein Mann +der Wissenschaft! Der überlebt das Jahrhundert! Das +ist doch gut gesagt: ‚er überlebt das Jahrhundert‘, +nicht? Das hat mir Foma selbst erklärt ... Wart, +ich werde dich mit ihm bekannt machen.“ +</p> + +<p> +„Meinen Sie Foma Fomitsch, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, Freund, diesmal sprech’ ich von Korowkin. +Das heißt, Foma ist ja gleichfalls ... er ... +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +Aber diesmal sprach ich einfach nur von Korowkin,“ +fügte er hinzu, während es mir auffiel, daß er, sobald +die Rede auf Foma kam, zu erröten und sich zu verwirren +schien. +</p> + +<p> +„Mit welcher Wissenschaft beschäftigt er sich denn?“ +</p> + +<p> +„Mit allen Wissenschaften, Freund, oder kurz gesagt, +mit der Wissenschaft überhaupt. Ich kann dir +leider nicht so genau sagen, mit welcher eigentlich, ich +weiß nur, daß es Wissenschaften sind. Oh, wie der +über die Eisenbahnen redet! Und weißt du,“ – mein +Onkel senkte die Stimme und zwinkerte mir bedeutsam +mit dem linken Auge zu, – „ein wenig so, du weißt +schon, – freie Ideen! Das habe ich sofort bemerkt, +namentlich wenn er so von Familienglück spricht ... +Schade, ich habe nicht alles ganz genau begriffen, was +er da sprach, – hatte gerade wenig Zeit –, sonst +könnte ich dir jetzt alles wiedergeben, ganz ausführlich. +Und zudem ein Mensch von wirklich edlen Eigenschaften. +Ich habe ihn zu mir zum Besuch eingeladen. Erwarte +ihn stündlich.“ +</p> + +<p> +Währenddessen starrten mich die Bauern mit offenen +Mündern und großen Augen wie ein Wunder an. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „ich habe, +glaube ich, Ihr Gespräch mit den Bauern unterbrochen. +Es handelt sich gewiß um Wichtiges. Was +meinen Sie? Ich will ganz offen gestehen, daß ich so +meine Vermutungen habe – und daher würde ich gern +zuhören ...“ +</p> + +<p> +Mein Onkel wurde plötzlich sehr geschäftig und beinahe +aufgeregt. +</p> + +<p> +„Ach, richtig! Das hatte ich ganz vergessen! Ja, +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +sieh mal ... was soll man mit ihnen tun? Sie haben +sich in den Kopf gesetzt – ich möchte bloß wissen, wer +es als erster getan hat –, daß ich sie und ganz Kapitonowka +– du erinnerst dich doch noch, wie wir mit +meiner seligen Katjä abends immer dorthin spazieren +fuhren? – Nun ja, daß ich das ganze Kapitonowka +mit seinen rund achtundsechzig Seelen Foma Fomitsch +schenken wolle! Nun und jetzt heißt es: ‚Wir wollen +nicht von dir fort, Väterchen!‘ und damit Punktum! ...“ +</p> + +<p> +„So ist es also nicht wahr, Onkel? Sie werden +ihm Kapitonowka nicht schenken?!“ rief ich erfreut aus. +</p> + +<p> +„Wie werd’ ich denn! Ist mir nie in den Sinn gekommen! +Aber durch wen hast du es denn schon erfahren? +Es war mir nur mal so entschlüpft – und +da hat man gleich Häuser auf das eine Wort gebaut. +Ich verstehe bloß nicht, weshalb sie den Foma so wenig +mögen? Aber wart nur, Ssergei, ich werde dich mit +ihm bekannt machen,“ sagte er mit schüchternem Blick +auf mich, als ahne er auch in mir einen Feind Foma +Fomitschs. „Freund, das ist ein solcher Mensch ...“ +</p> + +<p> +„Wir wollen keinen anderen Herrn, Väterchen, nur +dich allein!“ riefen hier plötzlich im Chorus alle Bauern +aus. „Ihr seid unser Vater, wir sind Eure +Kinder!“ +</p> + +<p> +„Hören Sie mal, Onkel,“ sagte ich, „den Foma +Fomitsch habe ich zwar noch nicht gesehen, aber ... +sehen Sie ... ich habe so einiges gehört. Ich will es +Ihnen nur gleich sagen, daß ich heute unterwegs Herrn +Bachtschejeff getroffen habe. Übrigens hat sich in mir +jetzt eine andere Auffassung gebildet, wenigstens vorläufig. +Jedenfalls aber entlassen Sie nun die Bauern, +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +dann können wir ungestört, ganz allein und ohne +Zeugen, miteinander reden. Ich bin ja doch eigentlich +nur deswegen hergekommen ...“ +</p> + +<p> +„Das ist es ja! Eben, eben!“ stimmte mein Onkel +sofort eifrig bei. „Die Bauern entlassen wir und dann +reden wir, weißt du, so – kameradschaftlich, freundschaftlich, +verständig! – Nun,“ fuhr er, sich an die +Bauern wendend, in seiner schnellen Sprechweise fort, +„geht jetzt wieder nach Hause, Freunde! Und hinfort +kommt immer zu mir, immer zu mir, wenn was nötig +ist, kommt ganz einfach gleich zu mir, wenn was +nötig ist –“ +</p> + +<p> +„Väterchen, du bist ja unser Vater! Gib uns nicht +der Willkür Foma Fomitschs preis! Alle wir Armen +bitten dich!“ riefen von neuem die Bauern einstimmig +aus. +</p> + +<p> +„Ach ihr Dummköpfe! Es wird euch doch nichts +geschehen, das habe ich euch doch schon gesagt!“ +</p> + +<p> +„Sonst würde er uns ganz dumm machen mit dem +Unterricht, Väterchen! Die Hiesigen, hört man, soll er +ja alle schon ganz dumm gemacht haben ...“ +</p> + +<p> +„Was, will er denn auch euch die französische +Sprache beibringen?“ fragte ich, beinahe erschrocken. +</p> + +<p> +„Nein, Väterchen, vorläufig hat Gott der Herr uns +noch verschont!“ antwortete einer der Bauern, ihr +Sprecher und ein Schwätzer, wie es schien; er war +rothaarig und hatte eine große Glatze, die ziemlich tief +auf dem Hinterkopf lag, sowie ein spärliches, keilförmiges +Bärtchen, das sich so schnell bewegte, wenn +er sprach, als wäre es an sich lebendig gewesen. „Nein, +Herr, bis jetzt noch nicht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +„Aber worin unterrichtet er euch denn?“ +</p> + +<p> +„Ach, Euer Gnaden, in solchen Dingen, daß es nach +unserem Verständnis so herauskommt: kauf’ einen goldenen +Kasten, deine kupferne Münze gib aber hin.“ +</p> + +<p> +„Wieso, was bedeutet das, kupferne Münze ...?“ +</p> + +<p> +„Sserjosha! Du bist im Irrtum! Das ist eine Verleumdung!“ +rief mein Onkel dazwischen, war aber dabei +rot geworden und sah sehr betreten aus. „Diese +Dummköpfe haben natürlich nicht begriffen, was er +ihnen gesagt hat. Er hat nur so ... Was soll das mit +der kupfernen Münze? ... Dir aber steht es nicht zu, +über alles zu urteilen und das Maul aufzureißen,“ +fuhr mein Onkel vorwurfsvoll, zu dem Bauern gewandt, +fort; „man wollte dir doch, du Dummkopf, +Gutes tun, du aber siehst das nicht ein – und +schreist noch!“ +</p> + +<p> +„Aber um’s Himmels willen, Onkel, Sie vergessen, +daß er ihnen Französisch beibringen will!“ +</p> + +<p> +„Aber doch nur wegen der Aussprache, Sserjosha, +einzig wegen der Aussprache,“ beteuerte er mit geradezu +flehender Stimme. „Er hat es mir selbst gesagt, +daß er es einzig wegen der Schulung in der Aussprache +tut, die dann auch ihrer Muttersprache zugute kommt +... Zudem ging der Sache noch ein besonderer Fall +vorher, – du weißt das nicht und daher kannst du +auch nicht urteilen. Zuerst, Freund, muß man begreifen, +und dann erst kann man beschuldigen ... Beschuldigen +ist leicht!“ +</p> + +<p> +„Aber ich verstehe euch nicht!“ sagte ich heftig, mich +von neuem an die Bauern wendend, „so hättet ihr es +ihm doch sofort offen sagen sollen. Ganz einfach: so +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +geht es nicht, Foma Fomitsch, die Sache liegt so und +so! Ihr habt doch einen Mund!“ +</p> + +<p> +„Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umbindet, +Väterchen? ‚Ich bringe,‘ sagt er, ‚dir ungeschicktem +Bauernkerl Sauberkeit und Ordnung bei. +Warum ist dein Hemd nicht sauber?‘ – Weil es doch +voll Schweiß ist, darum kann es doch auch nicht sauber +sein! Wir können doch nicht jeden Tag das Hemd +wechseln. Sauberkeit macht noch nicht auferstehen, und +Armut ist noch nicht Tod.“ +</p> + +<p> +„Neulich kam er in die Tenne,“ fiel ein anderer +Bauer ein, ein großer, hagerer Mann, dessen Kleider +an vielen Stellen geflickt waren, und dessen Füße in +den ältesten Bastschuhen staken. Er gehörte offenbar +zu jenen, die ewig mit irgend etwas unzufrieden sind +und stets ein gehässiges, scharfes Wort in Bereitschaft +haben. Bis dahin hatte er hinter den anderen gestanden, +in mißmutiger Schweigsamkeit zugehört und +die ganze Zeit ein gewisses zweideutiges, bitteres und +verschlagenes Spottlächeln nicht aus seinem Gesicht gebannt. +– „Er kam in die Tenne. ‚Wißt ihr auch,‘ +fragt er, ‚wieviel Werst es von hier bis zur Sonne +sind?‘ Wer von uns kann denn so was wissen? Das +steht doch nicht uns zu, das ist doch Herrschaftswissen. +‚Nein,‘ sagte er, ‚du bist ein Lümmel, wie ich sehe, begreifst +nicht einmal deinen eigenen Nutzen. Ich aber,‘ +sagt er, ‚bin ein Astrolog! Ich kenne alle Planeten +Gottes!‘“ +</p> + +<p> +„Nun, hat er dir auch gesagt, wieviel Werst es +bis zur Sonne sind?“ mischte sich mein Onkel ein, der +plötzlich wieder wie neubelebt war und lustig mir zuzwinkerte, +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +als wolle er mir sagen: „Paß nur auf, was +du jetzt zu hören bekommen wirst!“ +</p> + +<p> +„Er nannte da wohl eine große Zahl,“ antwortete +der Bauer gewissermaßen wider Willen, da er eine +solche Frage offenbar nicht erwartet hatte. +</p> + +<p> +„Nun, wieviel waren es denn doch, wieviel, was +meinst du?“ +</p> + +<p> +„Ach, das wird doch Euer Gnaden besser wissen +als wir ... wir sind unaufgeklärte Leute, leben im +Dunkeln.“ +</p> + +<p> +„<em>Ich</em> weiß es ja, Bruder, aber du, hast <em>du es +auch</em> behalten?“ +</p> + +<p> +„Es werden da immer soundso viel hundert oder +auch tausend Werst sein, wie er sagte. Es war etwas +viel. Die konnte man kaum auf drei Fuhren fortführen, +diese Zahlen, die er sagte.“ +</p> + +<p> +„Aber das ist ja die Hauptsache, – daß man es +behält nämlich! Du glaubtest wohl, was wird es denn +viel mehr sein als eine Werst, da kann man ja mit +der Hand hinlangen? Nein, Bruder, die Erde – das +ist, siehst du, ein runder Ball – verstehst du?“ fuhr +mein Onkel fort, indem er mit den Händen in der Luft +einen Kreis beschrieb. +</p> + +<p> +Der Bauer lächelte schmerzlich. +</p> + +<p> +„Ja, wie ein Ball! Und so hält sie sich ganz von +selbst in der Luft und kreist um die Sonne. Die Sonne +aber steht auf einem Platz und rührt sich nicht; es +scheint dir nur so, als bewege sie sich, in Wirklichkeit +aber steht sie auf einem Fleck. Ja, siehst du, so ist es! +Entdeckt aber hat das alles der Kapitän Cook, ein Weltumsegler +... Übrigens, weiß der Teufel, ob der es nun +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +gerade war, oder wer es eigentlich entdeckt hat,“ fügte +er halblaut, zu mir gewandt, hinzu. „Ich habe ja +selbst, Freund, keine Ahnung davon ... Weißt du es, +wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“ +</p> + +<p> +„Gewiß, Onkel,“ antwortete ich, etwas verwundert +über dieses ganze Gespräch, „nur denke ich folgendermaßen +darüber: Unbildung ist natürlich Nachlässigkeit, +dagegen Bauern in der Astronomie zu unterrichten ...“ +</p> + +<p> +„Das ist es ja! Eben, eben – gerade Nachlässigkeit!“ +fiel mein Onkel dazwischen und griff begeistert +meinen Ausdruck auf, der ihm wohl überaus treffend +erschien. „Ein großartiger Gedanke! Gerade Nachlässigkeit! +Das habe ich ja immer gesagt ... das heißt, +ich habe es noch nie gesagt, aber ich habe es gefühlt. +Hört ihr,“ rief er dann den Bauern zu, „Unbildung +ist dasselbe wie Nachlässigkeit, ist genau dasselbe wie +Schmutz! Und deshalb wollte euch Foma auch belehren. +Er wollte euch das Gute lehren. Das ist gleichfalls +ein Dienst, der dem Vaterlande geleistet wird, und des +größten Lohnes wert. Seht ihr nun, wie es sich verhält! +Das ist die Wissenschaft! Nun, gut, gut, meine +Lieben! Geht mit Gott, ich freue mich, es freut mich +... jedenfalls beruhigt euch, ich werde euch nicht verlassen.“ +</p> + +<p> +„Beschütze du uns, Väterchen, bist doch immer wie +ein leiblicher Vater zu uns gewesen!“ +</p> + +<p> +„Laß uns Freude erleben, Väterchen!“ +</p> + +<p> +Und die Bauern stürzten wie ein Mann auf die +Knie nieder. +</p> + +<p> +„Nun, nun, was soll das, welch ein Unsinn! Vor +Gott und dem Kaiser sollt ihr niederknien, nicht aber +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +vor mir ... Aber so steht doch endlich auf, geht jetzt, +führt euch gut auf, verdient euch eine gute Behandlung +... nun, und alles andere, was noch nötig ist ... +Weißt du,“ sagte er dann zu mir, sich plötzlich umwendend, +und sein Gesicht schien vor Freude zu leuchten, +„so ein armer Kerl hört doch gern ein gutes Wort, +und auch ein Geschenk schadet nicht. Ich werde ihnen +etwas schenken, was? Was meinst du? So, weil du +angekommen bist ... Soll ich es tun oder nicht?“ +</p> + +<p> +„Onkel, Sie sind ja Ihren Bauern ein guter Herr, +wie ich sehe, wahrscheinlich einer jener Gutsbesitzer, +die immer nur Gutes tun wollen ... –“ +</p> + +<p> +„Aber es geht doch nicht, Freund, es geht doch +nicht anders: das ist doch nichts. Ich wollte ihnen +schon lange etwas schenken,“ sagte er wie zur Entschuldigung. +„Aber fandest du es nicht lächerlich, daß +ich den Bauern da einen wissenschaftlichen Vortrag +hielt? Nein, Freund, das habe ich nur so ... nur so +vor Freude, daß ich dich nun wiedersah, Sserjosha ... +Ich wollte einfach, daß auch er, der Bauer, erführe, +wie weit es bis zur Sonne ist, und, wenn er’s hört, +den Mund aufsperrt. Es ist so lustig zu sehen, wie er +ihn aufsperrt. Man freut sich geradezu für ihn. Nur +weißt du, Freund, sag’ das nicht dort im Salon, daß +ich hier mit den Bauern gesprochen habe. Ich habe +es absichtlich hier hinter den Pferdeställen getan, damit +man es von dort nicht sieht; denn sieh, Freund, es +war nicht anders zu machen ... eine kitzlige Sache! +Und sie waren ja auch nur heimlich gekommen. Ich +habe es ja eigentlich auch nur ihretwegen getan +...“ +</p> + +<p> +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +„Ja, Onkel, jetzt bin ich also angekommen und bin +hier!“ begann ich, um dem Gespräch eine andere Wendung +zu geben und schneller auf die Hauptsache zu +sprechen zu kommen. „Ihr Brief hat mich, offen gestanden, +dermaßen überrascht und in Erstaunen gesetzt, +daß ich ...“ +</p> + +<p> +„Mein Freund, kein Wort mehr darüber!“ unterbrach +mich mein Onkel geradezu erschrocken und mit +gesenkter Stimme. „Später, später wird sich das alles +aufklären! Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos vor +dir, vielleicht sogar sehr ...“ +</p> + +<p> +„Nicht ganz schuldlos vor <em>mir</em>, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Später, später, mein Freund, davon später! Das +wird sich später erklären! Alles, alles! Was du aber +für ein prächtiger Bursche geworden bist! Mein lieber +Junge! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte +dir alles, wollte dir mein ganzes Herz ausschütten, wie +man sagt ... du bist gelehrt, du bist der einzige, den +ich habe ... du und Korowkin. Im übrigen muß ich +dich noch darauf aufmerksam machen, daß sich hier alle +über dich ärgern. Nun sieh dich vor, sei vorsichtig, +sei auf deiner Hut!“ +</p> + +<p> +„Sich über mich ärgern?“ fragte ich und blickte +meinen Onkel verwundert an, da ich nicht begriff, wodurch +ich Menschen, die ich noch gar nicht kannte, hätte +ärgern können. „Über mich?“ +</p> + +<p> +„Über dich, Freund. Was ist da zu machen! Foma +Fomitsch ist ein bißchen ... nun, und Mamachen +natürlich gleichfalls. Überhaupt sei vorsichtig, ehrerbietig, +widersprich nicht, aber vor allem, sei ehrerbietig +...“ +</p> + +<p> +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +„Und das etwa im Verkehr mit Foma Fomitsch, +Onkel?“ +</p> + +<p> +„Was soll man tun, mein Freund, ich verteidige +ihn ja nicht ... Er hat vielleicht wirklich so als Mensch +seine Fehler, und sogar jetzt im Augenblick ... Ach, +Freund Sserjosha, wenn du wüßtest, wie mich alles +das beunruhigt! Wie könnte man das nur gutmachen, +damit wir wieder alle glücklich und zufrieden wären? +... Aber wer ist denn ohne Mängel? Auch wir sind +doch nicht vollkommen!“ +</p> + +<p> +„Aber, Onkel, so sehen Sie doch nur, was er +tut ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Freund! Das sind ja nur Klatschereien und +weiter nichts! Zum Beispiel, ich werde dir erzählen: +da ärgert er sich nun über mich, aber was glaubst du, +weswegen? ... Übrigens, vielleicht bin ich auch selbst +daran schuld. Ich werde es dir später erzählen ...“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie, Onkel, in mir hat sich, was ihn anbetrifft, +eine besondere Auffassung herausgebildet,“ +unterbrach ich ihn, um ihm noch schnell meine Kombinationen +mitzuteilen. Wir beeilten uns beide. +„Erstens war er früher ein Hausnarr: das hat ihn +erbittert, erniedrigt, ihn in seinem Innersten gekränkt +und beleidigt, und so ist denn gehässig, unnatürlich, +rachsüchtig geworden. Er will sich sozusagen an der +ganzen Menschheit rächen ... Wenn man ihn aber +mit dieser Menschheit wieder aussöhnen, ihn sich selbst +wiedergeben würde ...“ +</p> + +<p> +„Das ist es ja! Eben, eben!“ rief mein Onkel begeistert +aus. „Gerade das! Ein herrlicher Gedanke! +Und es wäre doch eine Schande, es wäre niedrig von +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +uns, wollten wir ihn jetzt ohne weiteres verurteilen! +Das ist es ja! ... Ach, Freund, ich sehe schon, du +verstehst mich, du bringst mir Trost! Wenn es sich +dort nur einrenken ließe! Weißt du, ich habe wirklich +Angst, dort zu erscheinen. Sieh, du bist nun angekommen, +ich aber werde dafür büßen müssen!“ +</p> + +<p> +„Aber Onkel, wenn es so ist ...,“ begann ich, etwas +verlegen durch dieses Geständnis. +</p> + +<p> +„Nei-nei-nein! Um keinen Preis, auf keinen Fall!“ +rief er heftig dazwischen, fest meine Hände drückend. +„Du bist mein Gast, und ich will es so!“ +</p> + +<p> +Ich wunderte mich. +</p> + +<p> +„Onkel, sagen Sie mir jetzt,“ begann ich nachdrücklich, +„aus welchem Grunde oder zu welchem Zweck +Sie mich hergerufen haben? Was erwarten Sie von +mir, und vor allen Dingen, in welcher Beziehung sind +Sie ‚nicht schuldlos‘ vor mir?“ +</p> + +<p> +„Weißt du, frage jetzt lieber nicht! Später, später! +Alles das wird sich später aufklären! Ich habe vielleicht +in vielem gefehlt, aber ich wollte wie ein ehrlicher +Mensch handeln und ... und du wirst sie heiraten! +Du wirst sie heiraten, wenn du nur einen Tropfen +Edelmut besitzest!“ schloß er, in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung +über und über errötend, und drückte +in diesem aufwallenden Gefühl schmerzhaft meine +Hand. „Aber jetzt genug davon, kein Wort mehr! Du +wirst ja selbst alles zeitig genug erfahren. Von dir +wird es abhängen ... Die Hauptsache ist, daß du dort +jetzt gefällst, daß du Eindruck machst. Laß dich nur +nicht verwirren.“ +</p> + +<p> +„Aber sagen Sie doch, Onkel, wer ist denn eigentlich +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +dort bei Ihnen? Ich muß gestehen, ich habe mich +wenig in Gesellschaft bewegt, so daß ...“ +</p> + +<p> +„So daß dir jetzt etwas bange ist, wie?“ fragte +der Onkel lächelnd. „Das hat nichts zu sagen! Verlier +bloß nicht den Mut! Die Hauptsache ist, daß du +dich nicht fürchtest. Wer dort bei uns ist, fragst du? +Ja, wen haben wir denn da? ... Erstens natürlich +meine Mutter,“ begann er geschäftig – „du erinnerst +dich doch noch ihrer, oder nicht mehr? Eine herzensgute, +durchaus edeldenkende, alte Frau, ohne alle Prätensionen, +kann man sagen. Etwas altmodisch, aber +das ist ja um so besser. Nun, und dann, weißt du, +zuweilen hat sie so ... gewisse Einfälle, sie sagt manches +so ... nun eben so in besonderem Ton. Augenblicklich +ist sie mir böse, ärgert sich, aber es ist meine Schuld, +und ich weiß es, daß es meine Schuld ist. Nun, und +sie ist doch immerhin <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Grande Dame</span>, Generalin ... +ihr Mann war ein prächtiger Mensch, General, sehr +gebildet, reich war er freilich nicht, aber vom Kriege +her mit Narben bedeckt, – mit einem Wort: er hatte +sich allgemeine Achtung verdient. Dann ist da Fräulein +Perepelizyna. Nun, die ... ich weiß nicht ... +in der letzten Zeit ist sie so etwas ... ihr Charakter, +wie gesagt ... Aber man kann doch nicht alle verurteilen! +... Nun, Gott mit ihr ... du brauchst nicht +zu glauben, daß sie so eine ist, die ... die anderen auf +dem Halse sitzt. Sie ist, weißt du, die Tochter eines +Majors. Mamas Busenfreundin, vergiß das nicht! +Und dann, nun, meine liebe Schwester Praskowja Iljinitschna. +Na, von der ist nicht viel zu sagen: eine +einfache, gute Seele; ein wenig zu geschäftig, aber was +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +für ein Herz! Du sieh nur aufs Herz, Freund, das ist +die Hauptsache ... Ein bejahrtes Mädchen, aber, denk +doch, dieser Sonderling Bachtschejeff macht ihr gewissermaßen +den Hof und scheint anhalten zu wollen. +Nur laß dir um Gottes willen nichts anmerken, kein +Wort! Geheimnis! Na, und wen haben wir denn da +noch? Von den Kindern rede ich weiter nicht: wirst +sie selbst sehen. Morgen ist Iljuschas Namenstag ... +Ja, richtig! Fast hätt’ ich’s vergessen: seit einem +Monat, sieh mal, lebt bei uns Iwan Iwanytsch Misintschikoff, +– du wirst mit ihm, denke ich, im dritten +Grade verwandt sein ... ja genau: ein Vetter deines +Vetters. Leutnant a. D. Er hat erst vor kurzem den +Abschied genommen – stand in einem Husarenregiment. +Ein noch junger Mensch. Ein wirklich guter Charakter. +Aber, weißt du, er hat sich durch seine Verschwendung +dermaßen – wie sag’ ich doch gleich? – na, abgerupft, +daß ich gar nicht weiß, wie und wo er das in einem +solchen Maße hat fertigbringen können. Übrigens +hat er auch früher nichts gehabt, aber immerhin ... +er hat viel Schulden gemacht ... Und jetzt ist er bei +mir zu Besuch. Bisher kannte ich ihn überhaupt nicht +– als er ankam, stellte er sich mir vor. So ein lieber, +guter, ruhiger, bescheidener Mensch. Es hat hier, +glaube ich, kein Mensch je ein Wort von ihm gehört. +Er schweigt ununterbrochen. Foma hat ihn – zum +Spott – den ‚schweigsamen Fremdling‘ genannt. +Aber er macht sich nichts daraus, ärgert sich nicht. +Foma ist jedenfalls mit ihm zufrieden, nur sagt er von +ihm, dem Iwan, daß es nicht weit her mit ihm sei. +Übrigens widerspricht Iwan ihm nie, er stimmt ihm +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +immer bei. Hm! So ein stiller Junge ... Na, Gott +mit ihm! Du wirst ja selbst sehen. Dann haben wir +noch Gäste aus der Stadt: Pawel Ssemjonytsch Obnoskin +mit seiner Mutter, ein junger Mann, ein ungeheuer +kluger Mensch; etwas so Reifes, weißt du, ist +in ihm, etwas Festes, Unerschütterliches ... Ich verstehe +mich nur nicht auszudrücken! Hinzu kommt noch +eine ungewöhnliche Sittlichkeit: strenge Moral! Nun, +und dann schließlich lebt noch, sieh mal, eine Tatjana +Iwanowna bei uns, mit der wir – je nachdem, wie +man’s nimmt – auch noch verwandt sein sollen, natürlich +nur sehr entfernt verwandt – du kennst sie nicht +– ein nicht mehr ganz junges Mädchen – das muß +man wohl sagen, aber immerhin ... sie hat auch ihre +Vorzüge. Reich ist sie, weißt du, kann zwei Güter wie +Stepantschikowo auf einmal kaufen. Sie hat erst vor +kurzem geerbt, bis dahin war sie bettelarm. Aber du, +Freund, du urteile nicht voreilig über sie: sie ist etwas +kränklich ... ich wollte sagen, sie hat etwas ... etwas +Phantasmagorisches in ihrem Charakter. Nun, du bist +ein edeldenkender Mensch, du wirst es begreifen, sie hat +doch sozusagen viel gelitten. Mit solchen Menschen, +weißt du, die im Unglück gewesen sind, muß man doppelt +nachsichtig sein! Aber du brauchst nicht gleich ... +nun, so ... irgend etwas zu denken! Sie hat natürlich +auch ihre Schwächen: so kommt sie zuweilen etwas +aus dem Konzept, spricht manches zu schnell aus, wählt +nicht immer das richtige Wort, das nötig ist ... das +heißt, – nicht etwa, daß sie lügt, denk nur das nicht +... das kommt ja, Freund, aus edlem Herzen ... das +heißt, wenn sie auch manches nicht ganz der Wahrheit +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +gemäß sagen sollte, so geschieht das doch einzig sozusagen +aus übergroßer Herzenseinfalt – du verstehst +doch!“ +</p> + +<p> +Mein Onkel war offenbar sehr verwirrt und wurde +immer verlegener. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „ich habe Sie sehr +lieb ... verzeihen Sie mir die offene Frage: werden +Sie eine von den Damen heiraten oder nicht?“ +</p> + +<p> +„Wer ... wer hat dir das gesagt?“ fragte er, wie +ein Kind errötend. „Sieh mal, Sserjosha, ich werde +dir alles ganz genau erzählen. Erstens – ich heirate +nicht. Meine Mutter, zum Teil auch meine Schwester +und vor allen Dingen Foma Fomitsch, den Mama vergöttert +– und mit Recht, mit Recht: er hat viel für +sie getan – sie alle wollen, daß ich diese selbe Tatjana +Iwanowna heirate, aus vernünftiger Überlegung, zum +Wohl der ganzen Familie. Natürlich wollen sie ja +nur mein Bestes – das begreife ich vollkommen. Aber +ich werde um keinen Preis heiraten – ich habe mir +schon das Wort gegeben. Nichtsdestoweniger verstand +ich – ich weiß nicht, wie’s kam – nicht so recht zu +antworten: ich habe weder ja noch nein gesagt. Das +ist, weißt du, immer so mit mir. Und so glaubten sie +denn, daß ich einwillige, und wollen jetzt unbedingt, +daß ich mich morgen, zum Familienfest, erkläre ... +... Und da sitze ich nun und weiß nicht einmal, was +ich tun soll! Hinzu kommt noch, daß Foma Fomitsch +mir zürnt – weiß Gott aus welchem Grunde. Mama +gleichfalls. Ich werde dir, weißt du, gestehen, daß ich +nur dich erwartet habe, dich und Korowkin ... ich +wollte sozusagen ausschütten, was ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +„Aber womit kann denn Korowkin Ihnen helfen, +Onkel?“ +</p> + +<p> +„Doch, doch, er kann mir helfen, du wirst sehen, – +das ist, Freund, so ein Mensch ... Wie gesagt, ein +Mann der Wissenschaft! Ich vertraue auf ihn, wie auf +einen Fels! Ein besiegender, bestrickender Mensch! +Wie er über Familienglück spricht! Weißt du, auch auf +dich setzte ich meine Hoffnung, glaubte, du wirst sie +zur Vernunft bringen. Sag’ doch selbst: nun, nehmen +wir an, ich bin an allem Unglück schuld, ich allein! +Das begreife ich doch, ich bin ja doch kein gefühlloser +Holzklotz. Aber trotzdem konnte man doch auch mir +einmal verzeihen! Himmel, wie wir dann alle leben +könnten! ... Wenn du wüßtest, wie groß meine kleine +Ssaschurka ist – sie könnte schon heiraten! Und wie +Iljuscha sich entwickelt hat! Morgen ist sein Namenstag. +Aber wegen Ssaschurka mache ich mir Sorgen +... sie ist ein kleiner Trotzkopf ...“ +</p> + +<p> +„Onkel! Wo ist mein Koffer? Ich werde mich +umkleiden und dann sofort erscheinen, und dann ...“ +</p> + +<p> +„Im Fremdenzimmer oben, mein Freund, im +Giebelzimmer. Ich hatte es im voraus so angeordnet, +daß man dich, sobald du ankommst, sofort dorthin nach +oben führen solle, damit dich niemand sieht. Ja, ja, +kleide dich um! Das ist gut, vorzüglich, vorzüglich! Ich +aber werde inzwischen die anderen dort ein wenig vorbereiten. +Nun, mit Gott! Weißt du, Freund, man +muß schlau sein. Hier wird man unfreiwillig zu einem +Talleyrand. Nun, macht nichts! Jetzt trinken sie dort +Tee. Wir haben immer ziemlich früh Teestunde. Foma +Fomitsch liebt es, Tee zu trinken, sobald er von seinem +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +Nachmittagsschläfchen aufgewacht ist. Es ist auch, +weißt du, besser so ... Nun, ich gehe also, und du +komme mir schnell nach, laß mich nicht lange allein: +man ist, weißt du, wenn man allein ist, etwas befangen +... Ja! Wart! Was ich noch sagen wollte! +Ich habe eine Bitte an dich: mach mir dort, bitte, keine +Vorwürfe, wie du sie mir vorhin hier machtest – was? +Wenn du was sagen willst, so tu’s später, hier unter +vier Augen – nicht? Bis dahin aber bezwing dich +und schieb es auf! Ich habe es dort, sieh mal, sowieso +mit allen verdorben. Sie ärgern sich ...“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, Onkel, nach allem, was ich gehört und +gesehen habe, scheint es mir, daß Sie ...“ +</p> + +<p> +„Daß ich ein Lappen bin – nicht? Sprich es nur +ruhig aus!“ unterbrach er mich ganz unvermutet. „Ja, +Freund, was ist da zu machen! Ich weiß es ja selbst. +Nun, dann kommst du also? Komm bitte, sobald wie +möglich!“ +</p> + +<p> +Oben im Giebelzimmer angelangt, kramte ich eilig +die notwendigen Sachen aus meinem Koffer, eingedenk +der Bitte meines Onkels, ihm bald zu folgen. Während +des Ankleidens dachte ich darüber nach, daß ich, +trotz der langen Unterhaltung mit meinem Onkel, doch +noch nichts von dem in Erfahrung gebracht hatte, was +ich hauptsächlich wissen wollte. Ich wurde nachdenklich. +Nur eines war mir einigermaßen klar: mein +Onkel wünschte immer noch, daß ich sie heiratete, und +folglich waren alle Gerüchte, die dem widersprachen, +wie zum Beispiel, daß er selbst in das junge Mädchen +verliebt sei, unbegründet. Ich weiß noch, daß ich mich +in großer Aufregung befand. Unter anderem dachte +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +ich auch darüber nach, daß ich durch meine Ankunft und +mein Schweigen in der Hauptsache meinem Onkel +gleichsam meine Zustimmung ausgedrückt, ihm mein +Wort gegeben, mich auf ewig gebunden hatte. +</p> + +<p> +„Es ist nicht schwer,“ dachte ich, „nicht schwer, ein +Wort auszusprechen, das einen dann später an Händen +und Füßen und auf ewig bindet. Und das Beste ist, +daß ich die Braut noch nicht einmal gesehen habe!“ +</p> + +<p> +Und andererseits: woher diese Feindschaft der +ganzen Familie gegen mich? Warum sollten sie über +meine Ankunft, wie mein Onkel sagte, ungehalten sein? +Und was für eine sonderbare Rolle spielte denn mein +Onkel hier in seinem eigenen Hause? Aus welchem +Grunde vermeidet er es, mir auf gewisse Fragen zu +antworten? Aus welchem Grunde fürchtet und quält +er sich so? Offen gesagt, der ganze Sachverhalt erschien +mir plötzlich vollkommen unsinnig, unbegreiflich. +Meine romantischen und heroischen Träume aber waren +jetzt, nach dem ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit, +endgültig verflogen. Erst jetzt, nach der Unterredung +mit meinem Onkel, begriff ich die ganze Ungereimtheit, +den ganzen Wahnsinn seines Vorschlages, +und ich sagte mir, daß unter solchen Umständen wahrlich +nur er allein einen solchen Plan aushecken konnte. +Desgleichen gestand ich mir, daß ich selbst, indem ich +auf sein erstes Wort hin Hals über Kopf hergefahren +kam, fast begeistert von seinem Vorschlag, einem Narren +und Dummkopf sogar auffallend ähnlich gewesen war. +</p> + +<p> +Mit diesen unangenehmen Erwägungen beschäftigt, +kleidete ich mich so eilig an, daß ich den mir behilflichen +Diener zuerst gar nicht bemerkte. +</p> + +<p> +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +„Werden der Herr die adelaidenfarbene Kravatte +umlegen oder diese feinkarierte?“ fragte er plötzlich +mit einer fast widerlich süßen Bescheidenheit. +</p> + +<p> +Jetzt erst sah ich ihn an, und es schien mir auf den +ersten Blick, daß seine Person ein gewisses Interesse +verdiente. Er war ein noch junger Mensch, für einen +Diener viel zu gut gekleidet, vielleicht nicht schlechter +als manch ein Geck unserer Gouvernementsstädte. Er +trug einen braunen Frack, weiße Beinkleider, eine strohfarbene +Weste, Halbstiefel aus Lackleder und eine rosa +Krawatte. Augenscheinlich war jedes Stück nicht ohne +eine gewisse Absicht gewählt: diese ganze Ausstattung +mußte sofort den feinen Geschmack des jungen Mannes +verraten. Die Uhrkette war gleichfalls nicht zufällig so +angebracht, daß sie einem in die Augen stach. Sein +Gesicht war blaß und etwas grünlich; seine Nase war +groß, gebogen, ungewöhnlich weiß, fast als wäre sie +von Porzellan gewesen. Das Lächeln seiner schmalen +Lippen drückte eine gewisse Melancholie aus, und zwar +eine sehr zartfühlende Melancholie. Seine großen +hervorquellenden Augen hatten etwas Gläsernes, ihr +Blick war auffallend stumpf, aber dennoch drückten sie +eine gewisse „Zartheit“ aus. In seinen dünnen, weichen +Ohren trug er – wohl gleichfalls aus „Zartheit“ – +je ein Flöckchen weiße Watte. Seine langen, weißblonden, +spärlichen Haare waren zu Locken gedreht und +pomadisiert. Seine Hände – oder vielmehr Händchen +– waren weiß, sauber, wie in Rosenwasser gebadet. +Seine Nägel waren geckenhaft lang und rosig. Kurz, +alles an ihm sprach von Verzärtelung und Eitelkeit. Er +lispelte vor lauter Vornehmheit und sprach nach neuester +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +Mode das r fast gar nicht aus, er schlug die Augen +auf und schlug sie nieder, seufzte und schmachtete bis +zur Unglaublichkeit. Ja, er duftete sogar nach Parfüm. +Er war nicht groß, war schwächlich und welk, und beim +Gehen knickte er sehr absonderlich in den Beinen, so +daß es aussah, als wolle er sich bei jedem Schritt setzen, +worin er wahrscheinlich die vornehmste Zartheit sah. +Mit einem Wort, der ganze Mensch war förmlich +durchtränkt mit Zartheit, Subtilität und ungewöhnlich +entwickeltem Empfinden der eigenen Würde. +Besonderes letzteres mißfiel mir im ersten Augenblick +sehr, ohne daß ich hierfür einen besonderen Grund angeben +könnte. +</p> + +<p> +„So ist diese Krawatte adelaidenfarben?“ fragte ich +und sah den jungen Diener scharf an. +</p> + +<p> +„Jawohl, genau adelaidenfarben,“ antwortete er +mit „Zartsinn“. +</p> + +<p> +„Und nicht agrafenenfarben?“ +</p> + +<p> +„Nein. Eine solche Farbe kann es überhaupt nicht +geben.“ +</p> + +<p> +„So? Warum denn nicht?“ +</p> + +<p> +„Agrafena ist ein unanständiger Name.“ +</p> + +<p> +„Wieso unanständig? Warum?“ +</p> + +<p> +„Das weiß doch ein jeder: Adelaida ist wenigstens +ein ausländischer Name, ein veradelter also; Agrafena +aber kann hier jedes Bauernweib heißen.“ +</p> + +<p> +„Du bist wohl übergeschnappt?“ +</p> + +<p> +„Keineswegs, ich bin bei vollem Verstande. Es +steht dem Herrn allerdings frei, mich wie beliebt zu benennen, +doch sind mit meinem Worte viele Generäle +und Herren aus der Hauptstadt zufrieden gewesen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +„Wie heißt du denn?“ +</p> + +<p> +„Widopljässoff.“ +</p> + +<p> +„Ah! Also du bist Widopljässoff!“ +</p> + +<p> +„So heiße ich.“ +</p> + +<p> +„Na, dich werde ich wohl noch näher kennen lernen.“ +</p> + +<p> +Bei mir aber dachte ich, als ich die Treppe hinabstieg: +„Weiß Gott, das ist ja hier eine regelrechte +Irrenanstalt!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-7"> +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +<span class="firstline">IV.</span><br> +Beim Tee. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Teesalon war dasselbe Zimmer, aus dem eine +Glastür auf jene Terrasse führte, auf der ich kurz vorher +den Diener Gawrila angetroffen hatte. Die geheimnisvollen +Warnungen meines Onkels bezüglich des +Empfanges, der mich erwartete, beunruhigten mich +nicht wenig. Um so unangenehmer war es mir, als +ich, nachdem ich kaum über die Schwelle getreten war, +plötzlich über einen Teppich stolperte und, indem ich +zum Glück gerade noch das Gleichgewicht bewahrte, +immerhin ganz unverhofft bis in die Mitte des +Zimmers flog. So stand ich denn, betreten, als hätte +ich im Augenblick meine ganze Lebenslaufbahn, Ehre +und guten Ruf verspielt, regungslos, rot wie ein +Krebs und mit verständnislosem Blick rings um mich +schauend, geraume Zeit mitten im Zimmer auf einem +Fleck. Ich erwähne diesen an sich ganz gleichgültigen +Zwischenfall einzig aus dem Grunde, weil er von einem +gewissen Einfluß auf meine Gemütsverfassung im Verlaufe +des ganzen Tages war und somit auch auf mein +Verhalten zu einigen der handelnden Personen meiner +Erzählung. Ich versuchte, so etwas wie eine Verbeugung +zu machen; doch noch bevor ich sie ausgeführt +hatte, stürzte ich zu meinem Onkel und erfaßte seine +beiden Hände. +</p> + +<p> +„Guten Tag, Onkel,“ sagte ich atemlos, obgleich +ich etwas ganz anderes, viel Geistreicheres hatte sagen +wollen ... aber ohne es zu wollen, hatte ich schon +dieses dumme „Guten Tag, Onkel“ gesagt! +</p> + +<p> +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +„Guten Tag, guten Tag, mein lieber, junger +Freund,“ antwortete mein Onkel, der sichtlich mit mir +litt, „wir ... wir haben uns ja schon so oft gesehen. +Sei doch nicht so verlegen,“ fuhr er leise fort, so daß +nur ich es hörte, „das kann ja jedem Menschen +passieren! Ich verstehe ja: zuweilen wäre man froh, +wenn man sich unter die Erde verkriechen könnte ... +Nun, jetzt aber ... erlauben Sie, Mama, daß ich +Ihnen hier meinen Gast vorstelle ... Sie werden ihn +sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe, Ssergei Alexandrowitsch,“ +sagte er zur Erläuterung, sich diesmal an +alle Anwesenden wendend. +</p> + +<p> +Doch bevor ich die folgenden Ereignisse wiedergebe, +will ich diese ganze Gesellschaft, in die ich mich +so plötzlich hineinversetzt sah, dem Leser etwas deutlicher +vor Augen führen. +</p> + +<p> +Sie bestand aus mehreren Damen und nur zwei +Herren – mich und meinen Onkel nicht mitgerechnet. +Foma Fomitsch, für den ich mich so überaus interessierte, +und der – das fühlte ich bereits – der unumschränkte +Herrscher des ganzen Hauses war, befand +sich nicht im Zimmer: er glänzte durch Abwesenheit +und hatte, wie es schien, das Sonnenlicht gleichzeitig +mit sich fortgenommen; denn alle waren finster, sorgenvoll +und bekümmert, was man unmöglich nicht herausfühlen +konnte. Aber wie verwirrt und erregt ich in +diesem Augenblick auch war, ich bemerkte doch, daß +mein Onkel fast ebenso erregt und verwirrt war wie +ich, wenn er auch alles tat, um seinen wahren Zustand +und seine Sorgen hinter scheinbarer Ungezwungenheit +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +zu verbergen. Es schien so etwas wie ein schwerer +Stein auf seinem Herzen zu liegen. +</p> + +<p> +Der eine der beiden anwesenden Herren, ein noch +junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, war +jener Obnoskin, dessen Verstand und strenge Moral +mein Onkel noch kurz vorher gerühmt hatte. Leider +gefiel er mir äußerst wenig: alles an ihm lief schließlich +auf einen gewissen „Schick“ – jedoch schlechten +Tones – hinaus; sein Anzug sah bei allem „Schick“ +doch fadenscheinig und ärmlich aus, und selbst in seinem +Gesicht schien etwas Fadenscheiniges zu sein. Sein +hellblonder, spärlicher Schnurrbart und sein zerzaustes +Bärtchen sollten an ihm offenbar einen selbständig +denkenden Menschen und vielleicht sogar einen Freigeist +kennzeichnen. Er schnitt die ganze Zeit Grimassen, +lächelte mit einer ganz besonderen, gemachten Boshaftigkeit, +saß keinen Augenblick ruhig auf seinem Stuhl +und fixierte mich beständig durch ein Lorgnon – dessen +er sich, wie jeder zeitgenössische Modenarr, bediente. +Kehrte ich mich jedoch zu ihm um, so senkte er es mit +einer neuen Grimasse sofort, ganz als wäre er zu feige +gewesen, mich offen zu fixieren. Der andere Herr +war auch noch jung, ungefähr so um achtundzwanzig: +es war dies mein Vetter dritten Grades, Herr Misintschikoff. +Er war allerdings auffallend schweigsam. +Während der ganzen Teestunde sprach er kein einziges +Wort, lachte er kein einziges Mal, auch dann nicht, +wenn alle lachten; doch konnte ich keine Spur von jener +Schüchternheit an ihm wahrnehmen, die mein Onkel +an ihm bemerkt haben wollte; im Gegenteil, ich fand, +daß der Blick seiner hellbraunen Augen Entschlossenheit +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +und einen sehr bestimmten Charakter verriet. Er +hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, fast schwarzes Haar +und war eigentlich recht hübsch; gekleidet war er tadellos +– auf Rechnung meines Onkels, wie ich später +erfuhr. Von den Damen fiel mir ganz zuerst Fräulein +Perepelizyna dank ihres erschreckend bösen, blutleeren +Gesichts auf. Sie saß neben der Generalin, +– auf die ich später zu sprechen kommen werde –, +jedoch stand ihr Stuhl nicht ganz in gleicher Reihe +mit dem der alten Dame, sondern aus Ehrerbietung +etwas zurück. Sie beugte sich jeden Augenblick vor, +um ihrer Gönnerin etwas ins Ohr zu tuscheln. Drei +andere bejahrte Gnadenbrotesserinnen saßen vollkommen +wortlos, starr und steif an der Fensterwand und erwarteten +ehrfürchtig ihre Tasse Tee, alle sechs Augen +andächtig auf die Generalin gerichtet. Auch interessierte +mich eine nicht allein dicke, sondern förmlich +ausgeflossene Dame von rund fünfzig Jahren, die sehr +geschmacklos und auffallend gekleidet und, wenn ich +mich nicht täusche, sogar geschminkt war. Im Munde +hatte sie statt der Zähne nur noch einige dunkle, abgebrochene +Zahnstummeln, was sie jedoch nicht hinderte, +in einem fort den Mund aufzureißen, schreiend laut +zu sprechen, sich zu zieren und zu kokettieren. Sie war +mit vielen Ketten und Kettchen behangen und richtete, +ganz wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihr Lorgnon +auf mich. Es war das seine Mutter. Meine +Tante, die stille Praskowja Iljinitschna, goß den Tee +ein. Man sah es ihr an, daß sie mich nach der langen +Trennung am liebsten hätte umarmen, küssen, und daß +sie bei der Gelegenheit selbstverständlich auch hätte +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +weinen wollen – aber sie wagte es nicht. Alles schien +hier gleichsam unter einem Verbot zu stehen. Neben +ihr saß ein allerliebstes, dunkeläugiges, fünfzehnjähriges +Mädchen, das mich aufmerksam mit kindlicher Neugier +ansah – das war mein Kusinchen Ssaschenjka. +Endlich bemerkte ich noch eine sehr sonderbare Dame, +die vielleicht die auffallendste von allen war: reich +und sehr jugendlich gekleidet, obschon sie längst nicht +mehr jung zu sein schien: ich schätzte sie auf mindestens +fünfunddreißig Jahre. Ihr Gesicht war sehr farblos, +hager und geradezu ausgetrocknet, doch nichtsdestoweniger +von ungewöhnlich lebhaftem Ausdruck. Fast +bei jeder Bewegung, jeder Erregung erschien flammendes +Rot auf ihren bleichen Wangen. Dabei regte +sie sich ununterbrochen auf, drehte sich auf dem Stuhl +hin und her und schien nicht eine Minute ruhig sitzen +zu können. Sie betrachtete mich mit geradezu gieriger +Neugier, beugte sich in jedem Augenblick zur Seite, um +Ssaschenjka oder ihrer Nachbarin zur Linken etwas +ins Ohr zu flüstern, worauf sie dann jedesmal in ein +offenherziges, kindlich heiteres Lachen ausbrach. Doch +dieses ganze auffallende Benehmen der Dame wurde +zu meiner nicht geringen Verwunderung von keinem +einzigen der Anwesenden bemerkt, oder wenigstens +schien man es nicht bemerken zu wollen, ganz als hätte +man schon früher ein vollkommenes Ignorieren verabredet. +Ich erriet, daß dieses Geschöpf jene Tatjana +Iwanowna war, die nach dem Ausdruck meines Onkels +etwas „Phantasmagorisches“ an sich haben sollte, und +die ihm fast mit Gewalt als Braut angehängt wurde. +Wegen ihres Reichtums sahen ihr die alten Damen +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +alles nach und waren überhaupt sehr liebenswürdig +zu ihr. Übrigens gefielen mir ihre blauen Augen, die +einen gewissen sanften Ausdruck hatten, und wenn man +auch an den Schläfen kleine Runzeln wahrnehmen +konnte, so war der Blick doch so offenherzig, so heiter +und gut, daß es ganz eigenartig angenehm war, ihm +zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer +der buchstäblichen „Heldinnen“ meiner Erzählung, +werde ich späterhin noch ausführlicher sprechen – ihre +Lebensgeschichte ist recht seltsam. +</p> + +<p> +Fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teesalon +kam aus dem Garten ein allerliebster kleiner +Junge hereingelaufen; das war mein Vetter Iljuscha, +dessen Namenstag am nächsten Tage gefeiert werden +sollte, und dessen Taschen jetzt schon mit Kuchen vollgestopft +waren. In der einen Hand hielt er eine +Peitsche, in der anderen einen Brummkreisel. Gleich +nach ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein: sie +war ein wenig bleich und anscheinend etwas müde, +aber dennoch sah sie reizend aus. Sie warf einen +prüfenden, mißtrauischen und etwas scheuen Blick auf +die Anwesenden, sah mich einmal kurz und aufmerksam +an und setzte sich dann neben Tatjana Iwanowna hin. +Ich weiß noch, daß mein Herz unwillkürlich zu klopfen +begann: das war sie, die Erzieherin ... Auch entsinne +ich mich noch, daß mein Onkel bei ihrem Eintritt mir +einen schnellen Blick zuwarf und gleich darauf errötete, +sich dann plötzlich niederbeugte, seinen Iljuscha auf den +Arm hob und ihn zu mir brachte: ich sollte ihn begrüßen +und küssen. Bei der Gelegenheit fiel es mir +auf, daß Frau Obnoskin meinen Onkel durchdringend +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +musterte, um dann mit einem sarkastischen Lächeln ihr +Lorgnon auf die Erzieherin zu richten. Mein Onkel +wußte nicht, was er tun sollte, und so rief er denn +Ssaschenjka zu sich, um sie mir vorzustellen, doch diese +stand nur auf und machte schweigend und mit aller +Wohlerzogenheit einen Knicks vor mir. Das gefiel mir +übrigens sehr; denn es paßte zu ihr. Da aber konnte +sich meine gute Tante Praskowja Iljinitschna nicht +mehr bezwingen: sie ließ ihre Teetassen stehen und +stürzte auf mich zu, um mich zu umarmen – doch siehe, +noch hatte ich nicht Zeit gehabt, ihr zwei Worte zu +sagen, als schon die schrille Stimme der alten Jungfer +Perepelizyna ertönte, die vorwurfsvoll und stellenweise +förmlich kreischend bemerkte, daß Praskowja Iljinitschna +ihr Mütterchen (die Generalin) ganz und gar +vergesse, das Mütterchen aber habe doch Tee verlangt +und müsse jetzt so lange warten! Und so eilte denn +Praskowja Iljinitschna zu ihren Tassen und Pflichten +zurück, ohne mit mir nur ein Wort gewechselt zu haben. +Diese Generalin nun, die Hauptperson im Kreise ihrer +Freundinnen, vor der alle sich wie auf Draht gezogen +bewegten, und die ganz in Trauer gehüllt dasaß, war +eine hagere, böse, alte Person – böse vornehmlich vor +Alter und infolge der Einbuße ihrer letzten, auch früher +niemals sehr reichen geistigen Fähigkeiten. Früher +war sie einfach nur launisch gewesen, dann aber hatte +sie der Titel „Exzellenz“ noch dümmer und noch eingebildeter +gemacht. Wenn sie sich ärgerte, machte sie +das Haus zur Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu +ärgern. Die eine Art war – Schweigen; dann tat +die Alte ganze Tage lang kein einziges Mal den Mund +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +auf und stieß alles, was man ihr vorsetzte, entweder +wie aus Versehen um, oder warf es ganz offen und +wütend auf den Fußboden. Die andere Art war dieser +vollkommen entgegengesetzt: nämlich wortreich. Es +begann gewöhnlich damit, daß meine verehrte Großmutter +sich in ungewöhnliche Melancholie versenkte, +das Ende der Welt und ihres Hauses erwartete, Armut +und alles nur denkbare Elend voraussah, sich an +ihren eigenen Vorgefühlen in Stimmung redete, die +zukünftigen Leiden an den Fingern abzuzählen begann, +während dieser Zählung in eine gewisse Begeisterung +geriet und aus dieser Begeisterung schließlich in förmlichen +Jähzorn. Bei der Gelegenheit stellte es sich +dann natürlich immer heraus, daß sie alles inzwischen +Eingetroffene vorausgesehen und nur aus dem einen +Grunde geschwiegen hatte, weil sie doch mit Gewalt +dazu gezwungen werde, „in diesem Hause“ zu schweigen. +Wenn man doch „wenigstens ehrerbietig“ zu ihr sein +und ihr „im voraus gehorchen“ wollte, so ... usw. +Alle derartigen Reden wurden sogleich von dem ganzen +Stabe ihrer Anhängerinnen, Fräulein Perepelizyna +an der Spitze, als unerschütterliche, ewige Wahrheit +anerkannt und zum Schluß noch von Foma Fomitsch +feierlich begutachtet und gesegnet. In jenem Augenblick, +als ich ihr vorgestellt wurde, ärgerte sie sich gerade +entsetzlich, und zwar nach der ersten Methode, der +schweigsamen – und furchtbarsten. Alle sahen sie +angstvoll an. Nur Tatjana Iwanowna, der unbedingt +alles verziehen wurde, befand sich in der besten +Stimmung. +</p> + +<p> +Da führte mich mein Onkel – fast sogar wie im +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +Triumph – zu meiner Großmutter, doch diese machte +nur eine äußerst saure Miene und schob heftig ihre Tasse +zur Seite. +</p> + +<p> +„Ist das jener Vol-ti-geur?“ fragte sie in singendem +Nasalton, sich dabei an Fräulein Perepelizyna wendend. +</p> + +<p> +Diese dumme Frage brachte mich gänzlich aus der +Fassung. Ich begriff nicht, weshalb sie mich einen +Voltigeur nannte. Doch solche Fragen waren noch +nichts, im Vergleich zu anderen Beleidigungen, mit +denen die alte Dame niemals kargte. Die Perepelizyna +beugte sich vor und tuschelte ihr etwas ins Ohr, die +Alte aber schlug nur einmal, unwillig abweisend, mit +der Hand durch die Luft. Ich stand mit halb offenem +Munde vor ihr und blickte fragend meinen Onkel an. +Alle tauschten vielsagende Blicke aus, und Obnoskin +lächelte sogar, was mir sehr wenig gefiel. +</p> + +<p> +„Sie, weißt du, sie verspricht sich manchmal,“ raunte +mir mein Onkel unauffällig zu; „aber das tut ja nichts, +sie sagt es nur so, es kommt aus gutem Herzen. Sieh +immer nur aufs Herz, immer aufs Herz, das ist die +Hauptsache!“ +</p> + +<p> +„Ja, das Herz, das Herz!“ ertönte da plötzlich die +helle Stimme Tatjana Iwanownas, die mich die ganze +Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte und tatsächlich +nicht ruhig auf ihrem Platz zu sitzen vermochte. Offenbar +hatte sie die letzten mir zugeraunten Worte aufgefangen. +Doch sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende, +obgleich sie augenscheinlich etwas sagen wollte. Wurde +sie nun verlegen, oder war es etwas anderes – jedenfalls +verstummte sie, errötete heftig, beugte sich hastig zur Erzieherin, +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +flüsterte ihr etwas ins Ohr und plötzlich warf +sie sich, das Taschentuch an die Lippen pressend, an ihre +Stuhllehne zurück und lachte, lachte, wie nur ein hysterischer +Mensch lachen kann. Ich schaute mich höchst verwundert +im Kreise um: und ich gewahrte zu meiner noch +größeren Verwunderung, daß alle sehr ernst waren und +so dreinschauten, als wäre nichts Besonderes geschehen. +Da begriff ich, wer und was Tatjana Iwanowna war. +Endlich erhielt auch ich meinen Tee und kam wieder ein +wenig zur Besinnung. Doch weiß ich nicht, aus welchem +Grunde ich plötzlich glaubte, ein überaus liebenswürdiges +Gespräch mit den Damen anknüpfen zu müssen. +</p> + +<p> +„Sie hatten vollkommen recht, Onkel,“ begann ich, +„als Sie mich vorhin vor dem Verlegenwerden warnten. +Ich muß offen gestehen – wozu sollte ich es verheimlichen?“ +fuhr ich fort, mich mit dem einschmeichelndsten +Lächeln an Frau Obnoskin wendend, „daß sich mich bis +heute noch nie in Damengesellschaft befunden habe, und +als mir jetzt beim Eintritt dieses Malheur passierte, +da ... schien es mir, daß die Pose, die ich mitten im +Zimmer so unbeabsichtigter Weise annahm, recht lächerlich +war und in etwas an den ‚Bettelsack‘ erinnerte – +nicht wahr? Sie haben doch den ‚Bettelsack‘ gelesen?“ +Ich verstummte, denn meine Verwirrung hatte mit jedem +Wort wieder zugenommen: ich schämte mich meines +Einschmeichelungsversuchs und blickte wütend auf Herrn +Obnoskin, der, die Zähne lächelnd entblößend, mich +immer noch vom Kopf bis zu den Füßen musterte. +</p> + +<p> +„Stimmt! Das ist es ja! Eben, eben!“ rief plötzlich +mein Onkel aus, ungemein belebt und aufrichtig erfreut +darüber, daß es wenigstens zu einem Gespräch kam und +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +ich mich soweit gefaßt hatte. „Aber das, Freund, das +ist noch nichts, was du da sagst von Verlegenwerden. +Wird man verlegen, dann wird man verlegen, das ist +weiter nicht schlimm! Ich aber, Freund, ich habe bei +meinem Debüt sogar gelogen – wirst du’s mir glauben? +Ja, bei Gott, Anfissa Petrowna! Und ich kann Ihnen +nur sagen, es ist eine interessante Geschichte. Ich war +kaum Fähnrich geworden, kam nach Moskau und begab +mich zu einer hochgestellten Dame, mit einem Empfehlungsbrief, +versteht sich – das heißt, sie war eine recht +hochmütige Dame, aber im Grunde doch herzensgut, +was man auch dagegen einwenden wollte. Ich trete also +ein, gebe meine Karte ab – werde empfangen. Im +Empfangssalon wimmelt es von Gästen – lauter +Größen. Ich machte meine pflichtschuldige Verbeugung, +setzte mich. Da wendet sie sich schon nach fünf Minuten +zu mir und fragt mich: ‚Hast du auch ein Gut, mein +Lieber?‘ Ich besaß damals kein Huhn – aber was sollte +ich antworten? Verwirrt war ich, wie ein Brummkreisel. +Alle sehen mich an – na was, Junkerlein! Nun, ich +hätte doch einfach sagen können: nein, habe nichts, – +und es wäre gut und anständig gewesen; denn ich hätte +doch nur die Wahrheit gesagt. Hielt es aber nicht aus! +‚Jawohl,‘ sagte ich, ‚hundertundsiebzehn Seelen.‘ Weiß +Gott, welch ein Teufel mich plagte, diese siebzehn da noch +anzuhängen! Wenn du schon lügst, dann lüg doch eine +runde Zahl – nicht wahr? Natürlich erfuhren sie gleich +darauf aus dem Empfehlungsbrief, daß ich arm war wie +eine Kirchenmaus – und zum Überfluß hatte ich jetzt +auch noch gelogen! Na, was tun? Ich machte, daß ich +fortkam, und ging seit der Zeit nie wieder hin! Ja, +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +damals besaß ich noch nichts; denn das, was ich jetzt +habe, das sind, wie ihr wißt, dreihundert Seelen von +Onkel Afanassij Matwejitsch, und dann noch die zweihundert +Seelen mit Kapitonowka, die ich vorher von +meiner Großmutter Akulina Panfilowna erbte, also +<span class="antiqua">summa summarum</span> fünfhundert plus Nachwuchs. Na +ja. Nur habe ich mir damals geschworen, nie mehr zu +lügen, und jetzt lüge ich auch tatsächlich nie mehr.“ +</p> + +<p> +„Hm, ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht geschworen. +Wer weiß, was alles noch geschehen kann,“ +bemerkte Obnoskin mit spöttischem Lächeln. +</p> + +<p> +„Nun ja, das ist ja wahr; wer weiß, was alles noch +geschehen kann!“ stimmte mein Onkel gutmütig bei. +</p> + +<p> +Obnoskin brach in schallendes Gelächter aus und +warf sich lachend an die Stuhllehne zurück. Fräulein +Perepelizyna kicherte wieder ganz besonders widerlich. +Auch Tatjana Iwanowna lachte auf, ohne selbst zu +wissen, worüber, und schlug sogar in die Hände vor Vergnügen. +Kurz, ich begriff, daß mein Onkel in seinem +eigenen Hause als vollkommene Null betrachtet wurde. +Ssaschenjka, deren dunkle Augen böse blitzten, sah unverwandt +Obnoskin an. Die Erzieherin errötete und +sah zu Boden. Mein Onkel wunderte sich. +</p> + +<p> +„Ja, was denn? Was ist denn geschehen?“ fragte +er, sich verständnislos im Kreise umblickend. +</p> + +<p> +Während dieser ganzen Zeit fiel es mir auf, daß +mein Vetter dritten Grades, Misintschikoff, der sich etwas +abseits niedergelassen hatte, ruhig und stumm auf +seinem Stuhle saß und selbst dann nicht einmal lächelte, +als alle lachten. Er trank seinen Tee, blickte philosophisch +auf das ganze Publikum und war mehr als einmal +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +im Begriff – gleichsam in einem Anfall unerträglicher +Langeweile – die Lippen zu spitzen und vor sich +hinzupfeifen, wahrscheinlich aus alter Angewohnheit, +doch besann er sich immer noch rechtzeitig. Gleichzeitig +fiel mir auf, daß Obnoskin, der meinen Onkel zum besten +hatte und sich auch über mich lustig machte, diesen Misintschikoff +kaum anzusehen wagte. Auch bemerkte ich, +daß dieser, mein schweigsamer Vetter dritten Grades, +des öfteren zu mir herübersah und es sogar mit offenkundigem +Interesse tat, als hätte er genau feststellen +wollen, was für ein Mensch ich eigentlich sei. +</p> + +<p> +„Ich bin überzeugt,“ ertönte da plötzlich die Stimme +Frau Obnoskins, „ich bin fest überzeugt, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur +Serge</span> – so war’s doch, wenn ich mich nicht irre? – +daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Damenfreund +gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele +junge Leute, die sich vor jeder Damengesellschaft scheuen. +Meiner Ansicht nach sind das aber nur Freigeister. Ich +werde mich nie dazu verstehen, diese Tatsache anders aufzufassen: +sie ist nichts als unverzeihliches Freigeistertum. +Und darum will ich es Ihnen unverhohlen sagen: +es wundert mich, es wundert mich, junger Mann, es +wundert mich über alle Maßen! ...“ +</p> + +<p> +„Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt,“ +antwortete ich eifrig. „Aber das hat ... wenigstens +denke ich so, nichts zu sagen ... Ich lebte dort, +das heißt, ich hatte mir dort ein Zimmer gemietet ... +aber das hat nichts auf sich, ich versichere Sie. Ich +werde mir alle Mühe geben, mit Damen bekannt zu werden; +bis jetzt habe ich allerdings nur zu Hause +gesessen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +„Und hast dich mit der Wissenschaft beschäftigt,“ bemerkte +mein Onkel, ersichtlich stolz darauf. +</p> + +<p> +„Ach, Onkel, – Onkel mit seiner Wissenschaft ... +Stellen Sie sich nur vor,“ fuhr ich sehr mitteilsam und +mit liebenswürdigem Lächeln fort, mich wieder an Frau +Obnoskin wendend, „mein lieber Onkel ist von der +Wissenschaft dermaßen eingenommen, daß er irgendwo +auf der Landstraße einen wundertätigen, praktizierenden +Philosophen, einen gewissen Herrn Korowkin, entdeckt +hat: und sein erstes Wort, das er mir heute nach so +langen Jahren der Trennung sagte, war, daß er diesen +phänomenalen Zauberer mit, man kann wohl sagen, +krampfhafter Ungeduld erwarte ... selbstverständlich +nur aus Liebe zur Wissenschaft ...“ +</p> + +<p> +Und ich lachte leise, in der Hoffnung, allgemeines +Gelächter als Lob meiner geistreichen Mitteilung hervorzurufen. +</p> + +<p> +„Wen? Von wem spricht er?“ fragte schroff die +Generalin, die sich wieder nur an die Perepelizyna +wandte. +</p> + +<p> +„Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte, +Leute, die sich auf der großen Landstraße umhertreiben +und von ihm aufgesammelt werden,“ berichtete schadenfroh +die alte Jungfer. +</p> + +<p> +Mein Onkel wußte zuerst nicht recht, was er dazu +sagen sollte. +</p> + +<p> +„Ach ja, richtig! Ich hatte es ganz vergessen!“ rief +er aus – warf mir aber einen Blick zu, in dem doch ein +gewisser Vorwurf lag. „Ich erwarte Herrn Korowkin. +Ein Mann der Wissenschaft, einer, der unser Jahrhundert +überleben wird ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +Er brach ab und verstummte. Die Generalin hatte +wieder einmal mit der Hand gewinkt (das bedeutete, daß +sie ihn nicht mehr anhören wollte), und zwar diesmal so +glücklich, daß sie die Tasse traf, die auf dem Fußboden +klirrend zerschlug. Es folgte eine allgemeine Aufregung. +</p> + +<p> +„Das tut sie immer, wenn sie sich ärgert,“ raunte +mir mein Onkel zur Erklärung ins Ohr. „Aber nur +wenn sie sich ärgert ... Du, Freund, sieh nicht hin, bemerke +es nicht, sieh zur Seite ... Aber, warum hast du +das von Korowkin gesagt? ...“ +</p> + +<p> +Doch ich blickte ohnehin schon zur Seite: ich hatte +den Blick der Erzieherin aufgefangen, und es schien mir, +daß in ihm mehr als ein Vorwurf, ja sogar etwas wie +Verachtung lag. Röte des Unwillens brannte auf ihren +blassen Wangen. Ich begriff ihren Blick. Ich erriet, +daß ich durch meinen kleinmütigen, häßlichen Versuch, +meinen Onkel lächerlich zu machen, um auf diese Weise +wenigstens etwas von der eigenen Lächerlichkeit abzuwälzen, +nicht gerade die Sympathie dieses Mädchens +errungen hatte. Ich vermag nicht zu sagen, wie sehr ich +mich schämte! +</p> + +<p> +„Aber ich will mit Ihnen von Petersburg sprechen,“ +begann Anfissa Petrowna Obnoskina von neuem, kaum +daß sich die Aufregung, die von der zerschlagenen Tasse +hervorgerufen worden war, etwas gelegt hatte. „Ich +denke mit einem solchen Vergnügen, kann ich sagen, an +unser Leben in dieser bezaubernden Residenz zurück ... +Wir waren damals sehr nah bekannt mit einem Hause ... +weißt du noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Paul</span>?“ (Die Dame nannte ihren Sohn +Pawel stets französisch „Poll“ und mich statt Ssergei +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +Alexandrowitsch, „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur Serge</span>“.) „General Polowizyn +... Ach, wenn Sie wüßten, was für ein bezauberndes, +be–zau–berndes Wesen die Generalin war! +Und sie können sich ja denken, dieser Aristokratismus, +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">beau monde</span>! ... Sagen Sie: Sie sind ihnen doch +wahrscheinlich begegnet? ... Glauben Sie mir, ich habe +Sie hier mit Ungeduld erwartet: ich hoffte, durch Sie +hier vieles, vieles von unseren Petersburger Freunden +zu erfahren ...“ +</p> + +<p> +„Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Lage +... entschuldigen Sie ... Ich habe Ihnen bereits gesagt, +daß ich nur sehr selten in Gesellschaft gewesen +bin, und ich kann nur hinzufügen, daß ich einen General +Polowizyn überhaupt nicht kenne, ich habe nicht einmal +den Namen gehört,“ antwortete ich nervös, da +meine ganze Liebenswürdigkeit plötzlich in eine sehr +gereizte und ärgerliche Stimmung umgeschlagen war. +</p> + +<p> +„Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!“ bemerkte +wieder stolz mein unverbesserlicher Onkel. „Das +ist doch, Freund, die Wissenschaft, die da so – verschiedene +kleine Steinchen sammelt, nicht? Die Mineralogie?“ +</p> + +<p> +„Ja, Onkel, Steine ...“ +</p> + +<p> +„Hm ... Es gibt doch viele Wissenschaften, und +alle sind sie nützlich! Ich aber, Freund, um die Wahrheit +zu sagen, wußte nicht einmal, was das eigentlich +ist, diese ganze Mineralogie! Habe nur so irgendwo +die Glocken mal läuten gehört. Weißt du, in den +anderen Dingen – da geht es noch zur Not; aber +was die Wissenschaft anbetrifft, da bin ich dumm – +gebe es ganz offen zu.“ +</p> + +<p> +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +„Sie geben es ganz offen zu?“ fragte ironisch +Obnoskin. +</p> + +<p> +„Papachen!“ rief Ssaschenjka dazwischen und sah +vorwurfsvoll ihren Vater an. +</p> + +<p> +„Was, Liebling? Ach, mein Gott, ich unterbreche +Sie immer, Anfissa Petrowna,“ entschuldigte er sich, +da er Ssaschenjkas Ausruf mißverstanden hatte, „verzeihen +Sie mir, um Gottes willen!“ +</p> + +<p> +„Oh, beunruhigen Sie sich nicht!“ wehrte Anfissa +Petrowna mit sauersüßem Lächeln ab. „Ich habe ja +Ihrem Neffen auch schon alles gesagt und kann nur +noch hinzufügen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur Serge</span> – so war’s doch, +wenn ich mich nicht irre? –, daß Sie sich unbedingt +bessern müssen. Ich bin überzeugt, daß die Wissenschaft, +die Kunst ... die Bildhauerkunst zum Beispiel +... mit einem Wort, daß alle diese hohen Ideen ihre +sozusagen be–rau–schende Seite haben, aber niemals +werden sie die Damen ersetzen! ... Die Frauen, die +Frauen, junger Mann, werden Sie bilden, und deshalb +ist es ohne sie unmöglich, unmöglich, junger +Mann, ganz un–möglich!“ +</p> + +<p> +„Unmöglich, unmöglich!“ ertönte schon wieder die +etwas schreiende Stimme Tatjana Iwanownas. „Hören +Sie,“ begann sie darauf in kindlicher Hast (natürlich +errötete sie wieder), „hören Sie, ich will Sie etwas +fragen ...“ +</p> + +<p> +„Wie beliebt?“ fragte ich und sah sie aufmerksam an. +</p> + +<p> +„Ich wollte Sie fragen: werden Sie lange hier +bleiben?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es nicht, – je nach den Verhältnissen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +„Nach den Verhältnissen! Was können denn das +für Verhältnisse sein? ... O, Sie Tor!“ +</p> + +<p> +Und Tatjana Iwanowna verbarg ihr heiß errötendes +Gesicht hinter ihrem Fächer, beugte sich dann +zur Erzieherin und begann sofort, ihr eifrig etwas zuzuflüstern. +Plötzlich lachte sie auf und schlug vergnügt +in die Hände. +</p> + +<p> +„Warten Sie, warten Sie!“ rief sie mir zu, sich +eilig von ihrer Vertrauten wieder abwendend, als hätte +sie gefürchtet, ich könnte fortgehen, „hören Sie, wissen +Sie, was ich Ihnen sagen werde? Sie ähneln auffallend, +auffallend einem jungen Menschen, einem +be–zau–bernden jungen Menschen! ... Ssaschenjka, +Nastenjka, wißt ihr noch? Er gleicht doch auffallend +jenem Toren – weißt du noch, Ssaschenjka? Wir +fuhren spazieren und begegneten ihm ... zu Pferde, +in einer weißen Weste ... er richtete noch sein Lorgnon +auf mich, der Unverschämte! Wißt ihr noch, ich schlug +meinen Schleier vors Gesicht, hielt es dann aber doch +nicht aus, beugte mich aus dem Wagen und rief ihm +ein ‚Sie Unverschämter!‘ nach. Und dann warf ich +mein Bukett auf die Landstraße ... Entsinnen Sie +sich dessen noch, Nastenjka?“ +</p> + +<p> +Und das halb geistesgestörte Mädchen, das von +Männern nie gleichmütig sprechen konnte, bedeckte das +Gesicht mit den Händen ... – Plötzlich sprang sie +auf, lief zum Fenster, riß dort von einem Rosenstock +eine Blüte ab, warf sie mir zu – die Blüte fiel in +meiner Nähe hin – und lief aus dem Zimmer. Wir +hatten das Nachsehen! Diesmal aber war man doch +etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn auch +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +die Generalin, ganz wie das erstemal, ihre Ruhe nicht +verlor. Anfissa Petrowna war nicht erstaunt, aber +sie sah jetzt besorgt aus und blickte kummervoll ihren +Sohn an. Die übrigen Damen erröteten, und „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Paul</span>“ +Obnoskin erhob sich von seinem Platz und trat, mit +einem mir damals ganz unverständlichen geärgerten +Ausdruck, ans Fenster. Mein Onkel versuchte, mir +verstohlen einige Zeichen zu machen; doch in dem +Augenblick trat ein fremder Mensch ins Zimmer und +lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich. +</p> + +<p> +„Ah! Da ist ja auch Jewgraf Larionytsch! Du +kommst ja wie gerufen!“ rief ihm mein Onkel, unbeschreiblich +erfreut, entgegen. „Nun, was, Freund, +geradenwegs aus der Stadt?“ +</p> + +<p> +„Na, das sind mir mal eigenartige Wesen! Es +scheint fast, daß sie alle mit Absicht hier versammelt +worden sind!“ dachte ich bei mir im stillen, da ich noch +nicht recht begriff, was ich sah und hörte, und – +selbstverständlich – ohne zu ahnen, daß ich die Sammlung +dieser Sonderlinge durch mein Erscheinen unter +ihnen noch um ein Exemplar vermehrt hatte. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-8"> +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +<span class="firstline">V.</span><br> +Jeshowikin. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ns</span> Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drehte sich +durch die Tür (obgleich die Tür sehr breit war) eine +Figur, die bereits auf der Schwelle Bücklinge machte, +grüßte und lächelte, während die Augen mit ungeheuerem +Interesse alle Anwesenden eilig musterten. +Es war das ein kleiner, alter Mann, pockennarbig, +mit einer großen Glatze, mit flinken, klugen Äuglein +und mit einem unbestimmbaren, feinen Lächeln auf den +ziemlich dicken Lippen. Er trug einen Frack, der recht +abgetragen aussah und wahrscheinlich für einen anderen +gemacht war. Ein Knopf baumelte nur noch an einem +Faden, zwei oder drei Knöpfe fehlten ganz. Die zerrissenen +Stiefel und die schmierige Mütze stimmten mit +dem übrigen Anzug durchaus überein. In der rechten +Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes Schnupftuch, +das er ersichtlich schon oft benutzt hatte, und mit +dem er sich jetzt den Schweiß von Stirn und Schläfen +wischte. Zufällig bemerkte ich, daß die Erzieherin ein +wenig errötete und mich flüchtig ansah. Ja, es schien +mir sogar, daß in diesem Blick gleichsam Stolz und +eine gewisse Herausforderung lagen. +</p> + +<p> +„Geradenwegs aus der Stadt, mein verehrter +Wohltäter! Geradenwegs von dort, mein Vater! +Werde alles erzählen, erlauben Sie nur, daß ich zuerst +meine Ehrerbietung bezeuge,“ sagte das eingetretene +alte Männlein und begab sich schnurstracks zur Generalin, +blieb aber dann doch auf halbem Wege stehen +und wandte sich von neuem an meinen Onkel. +</p> + +<p> +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +„Sie geruhen ja doch meinen Hauptcharakterzug +bereits zu kennen, verehrter Wohltäter: ein Lump bin +ich, ein echter Lump! Pflege ich doch, sobald ich über +die Schwelle trete, sofort die Hauptperson des Hauses +aufzusuchen und zuerst meine Schritte zu ihr zu lenken, +um mittels dieses Schrittes alsogleich Gnade und Gunst +und Vorteil zu erlangen. Ein Lump, Väterchen, wie +gesagt, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie +gnädigst, Exzellenz, den Saum Ihres Gewandes zu +küssen; denn mit meinen Lippen würde ich Ihr +goldenes Händchen, das hochwohlgeborene, nur entweihen.“ +</p> + +<p> +Die Generalin reichte ihm zu meinem Erstaunen +ihre Hand – und tat es sogar noch ziemlich gnädig. +</p> + +<p> +„Und auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich +meinen Diener,“ fuhr er fort, indem er sich vor Fräulein +Perepelizyna verneigte. „Nichts zu wollen, mein +gnädiges Fräulein: bin ein Lump! Schon im Jahre +1841 war es ausgemacht, daß ich ein Lump sei, als +ich aus dem Dienst ausgeschlossen wurde, gerade damals, +als Valentin Ignatjitsch Tichonzeff zum Hochwohlgeborenen +avancierte: den Assessor erhielt. Tatsächlich, +er kam unter die Assessoren und ich unter die +Lumpen. Aber ich bin nun einmal so aufrichtig geboren, +daß ich alles eingestehe. Was soll man machen! +Versuchte es, ehrlich zu leben, versuchte es, jawohl – +jetzt aber muß man es anders anstellen. Alexandra +Jegorowna, unser verzuckertes Äpfelchen,“ fuhr er fort +und ging um den Tisch herum, um sich vor Ssaschenjka +zu verbeugen, „erlauben Sie mir, einen Zipfel Ihres +Kleidchens zu küssen, – Sie, Fräuleinchen, duften ja +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +wie Äpfelchen und sämtliche Wohlgerüche der Welt. +Dem Stammhalter, der morgen seinen Namenstag +feiert, gleichfalls meine Reverenz. Pfeil und Bogen +habe ich mitgebracht, habe selbst den ganzen Morgen +daran geschnitzt ... meine Kinderchen haben mir geholfen +... jawohl, später können wir schießen. Zuerst +aber muß man hübsch groß werden, dann kann man +Offizier werden und dem Türken den Kopf abschlagen. +Tatjana Iwanowna ... ach, nicht anwesend, wie ich +sehe! Sonst würde ich den Saum auch ihres Kleides +küssen. Praskowja Iljinitschna, unser Hausmütterchen, +kann mich bloß nicht zu Ihnen durchzwängen, anderenfalls +würde ich Ihnen nicht nur Ihre Händchen, sondern +auch Ihre Füßchen küssen – jawohl! Anfissa Petrowna, +bezeuge hiermit meine verschiedentlichste Achtung. +Noch heute habe ich für Sie zu Gott gebetet, meine +Wohltäterin, sogar kniend und tränenden Auges, und +desgleichen für Ihren Herrn Sohn, damit Gott der +Herr ihm alle notwendigen Titel und Talente beschere +– namentlich Talente, wie gesagt! Bei der Gelegenheit +entrichte ich auch Ihnen, Iwan Iwanytsch Misintschikoff, +meinen untertänigsten Ehrensold. Möge der +Herr Ihnen alles zukommen lassen, was Sie sich selbst +wünschen; denn es dürfte schwierig sein, richtig zu erraten, +was Sie sich selbst wünschen: schweigsam wie +Sie sind und – aber das schadet nichts ... Guten +Tag, Nastjä! alle Krabben lassen dich grüßen, reden +jeden Tag von dir. Und jetzt dem Hausherrn meine +tiefste Verbeugung. Komme aus der Stadt, Euer +Gnaden, schnurstracks aus der Stadt. Und das da +ist wahrscheinlich Ihr Neffe, der in der Gelehrtenschule +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +erzogen worden ist, nicht wahr? Meinen ergebensten +Gruß, junger Herr. Ihre Hand, wenn ich +bitten darf.“ +</p> + +<p> +Man lachte. Es war klar, daß der Alte freiwillig +die Rolle eines Spaßvogels spielte, über den ein jeder +lachen durfte. Schon sein Erscheinen erheiterte die ganze +Gesellschaft. Die meisten verstanden dabei seine Sarkasmen +überhaupt nicht. Er aber verschonte fast keinen +einzigen mit ihnen. Nur die Erzieherin, die er – ich +wunderte mich nicht wenig darüber – kurzweg Nastjä +nannte, errötete und blieb ernst. +</p> + +<p> +Ich zog unwillkürlich meine Hand etwas zurück, doch +darauf hatte der Alte offenbar nur gewartet. +</p> + +<p> +„Ich will sie Ihnen ja nur drücken, mein Bester, +vorausgesetzt, daß Sie es erlauben – nicht aber küssen. +Oder glaubten Sie wirklich, daß ich sie küssen wollte? +Nein, mein Lieber, vorläufig wollte ich sie nur drücken. +Sie halten mich wohl für so einen herrschaftlichen +Narren?“ fragte er mich plötzlich mit spöttischem Lächeln +in den Augen. +</p> + +<p> +„N–ein, wieso ... wie sollte ich ...“ +</p> + +<p> +„Doch, doch, Verehrtester! Wenn ich ein Narr bin, +so ist es ein gewisser anderer hier auch. Sie aber können +mich noch mit ruhigem Gewissen achten: ein solcher +Lump, wie Sie glauben, bin ich denn doch noch nicht. +Übrigens, genau genommen – warum soll ich kein +Narr sein? Ich bin ein Sklave, meine Frau ist eine +Sklavin. Schmeichle, schmeichle! Jawohl! Etwas gewinnt +man dabei doch, und wenn’s auch nur zur Milch +für die Kinderchen reicht. Zucker, Zucker streu nur überall +aus, dann wird es besser gehen. Das sage ich Ihnen, +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +Verehrtester, nur so unterm Siegel der Verschwiegenheit +– vielleicht wird diese Methode auch Ihnen einmal +zustatten kommen. Fortuna hat mich auf dem Gewissen, +mein Bester, deshalb bin ich auch ein Narr.“ +</p> + +<p> +„Ha–ha–ha! Was dieser Alte doch für ein Spaßvogel +ist! Immer bringt er einen zum Lachen!“ meinte, +gut aufgelegt, Anfissa Petrowna Obnoskina. +</p> + +<p> +„Meine gnädigste Wohltäterin, als Dummkopf +kommt man besser durch die Welt! Hätte ich das früher +gewußt, so hätte ich mich von Kindheit an unter die +Dummen begeben – dann könnte ich jetzt klug sein. +Da ich aber in der Jugend klug sein wollte, muß ich jetzt +im Alter dumm sein.“ +</p> + +<p> +„Sagen Sie doch, bitte,“ mischte sich Obnoskin ein +(dem wahrscheinlich die Bemerkung bezüglich der „Talente“ +nicht gefallen hatte), nahm zugleich auf seinem +Lehnstuhl eine sehr selbstbewußte Pose an und betrachtete +den Alten durch sein Einglas, als hätte er ihn wie +einen Bazillus unter der Lupe, „sagen Sie doch, bitte, +... ich vergesse immer Ihren Namen ... verdammt, +wie war er doch?“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Väterchen! Mein Familienname ist ja +alles in allem Jeshowikin, aber was nützt das schließlich? +Da bin ich nun schon das neunte Jahr ohne Anstellung +– lebe nur noch dank dem ... Naturgesetz. +Dabei habe ich Kinder, Kinder, mehr als nötig! Ganz +nach dem Sprichwort: ‚der Reiche hat – Kälber, der +Arme – Kinder‘ ...“ +</p> + +<p> +„Nun, ja, schön ... Kälber ... das gehört übrigens +nicht hierher, davon später. Aber hören Sie, ich wollte +Sie etwas fragen: warum sehen Sie, wenn Sie eintreten, +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +immer – sozusagen – zurück? Das wirkt sehr +komisch.“ +</p> + +<p> +„Warum ich zurücksehe? Weil es mir immer scheint, +daß mich jemand hinter mir mit der flachen Hand platt +schlagen will, wie eine Fliege, jawohl, und deshalb sehe +ich mich immer nach rückwärts um. Bin allem Anschein +nach monomanisch geworden, mein Bester.“ +</p> + +<p> +Wieder lachten alle. Nur die Erzieherin erhob sich +und schien das Zimmer verlassen zu wollen, sank dann +aber doch wieder auf ihren Platz zurück. In ihrem Gesicht +war ein kranker, leidender Zug trotz der Röte, die +auf ihren Wangen brannte. +</p> + +<p> +„Weißt du auch, Freund, wer das ist?“ fragte +mich mein Onkel heimlich. „Das ist ihr Vater.“ +</p> + +<p> +Ich sah ihn mit weit offenen Augen an. Den Namen +Jeshowikin hatte ich ganz und gar vergessen. Ich hatte +mich als Ritter gefühlt, hatte während der ganzen Reise +nur an meine Zukünftige gedacht und großmütige Pläne +geschmiedet, und dennoch ihren Familiennamen vergessen, +oder richtiger, ihm von Anfang an überhaupt +keine Beachtung geschenkt. +</p> + +<p> +„Wieso, ihr Vater?“ fragte ich gleichfalls flüsternd. +„Aber sie ist doch, denke ich, Waise?“ +</p> + +<p> +„Ihr Vater, Freund, ihr Vater. Und weißt du, der +ehrlichste und anständigste Mensch der Welt – trinkt +nicht mal. Nur spielt er freiwillig den Spaßvogel. +Entsetzliche Armut, weißt du, acht Kinder! Leben nur +von Nastenjkas Gehalt. Aus dem Dienst ist er wegen +seiner scharfen Zunge entlassen worden. Er kommt in +jeder Woche einmal her. Und stolz ist er, – für keinen +Preis wird er etwas annehmen. Ich habe ihm oft geben +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +wollen, – er nimmt aber nichts an. Ein verbitterter +Mensch!“ +</p> + +<p> +„Na also, mein alter Jewgraf Larionytsch, was gibt +es denn dort bei euch Neues?“ fragte mein Onkel und +schlug ihm kameradschaftlich mit der Hand auf die +Schulter, da er bemerkt hatte, daß dem mißtrauischen +Alten unser heimliches Gespräch nicht entgangen war. +</p> + +<p> +„Was soll es Neues geben, mein Wohltäter? Valentin +Ignatjitsch hat gestern ein Schreiben eingereicht, +in der Trischin-Affäre. Es hat sich herausgestellt, +daß bei ihm nicht das volle Quantum Mehl zur Stelle +war. Das ist, meine Gnädigste, jener selbe Trischin, +der, wenn er einen ansieht, genau so aussieht, als bliese +er einen Samowar an. Vielleicht geruhen Sie, sich +seiner noch zu erinnern? Und so hat denn Valentin +Ignatjitsch von diesem Trischin zu den Alten gegeben: +‚Wenn der oft genannte Trischin,‘ schreibt er, ‚nicht +einmal die Ehre seiner leiblichen Nichte zu wahren gewußt +hat – denn diese ist vor einem Jahr mit einem +Offizier losgegangen, – wie sollte er dann,‘ schreibt er, +‚Kronseigentum aufzubewahren wissen?‘ Das hat er +tatsächlich so in seinem Schreiben gesagt – bei Gott, +ich lüge nicht.“ +</p> + +<p> +„Pfui, was Sie für Geschichten erzählen!“ rief Anfissa +Petrowna Obnoskin verächtlich aus. +</p> + +<p> +„Ja ja, diesmal hast du dich etwas verhauen, Freund +Jewgraf!“ pflichtete ihr mein Onkel schnell bei. „Ei, +ei, du wirst noch wegen deiner Zunge viel Ungemach erleben. +Ich weiß, du bist ein offener, ehrlicher, edelmütiger +Mensch – das kann ich bestätigen – aber deine +Zunge ist gefährlich! Ich wundere mich, wie es kommt, +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +daß du mit ihnen dort nicht in Frieden leben kannst. +Sie sind doch, glaube ich, gute, einfache Menschen ...“ +</p> + +<p> +„Mein Vater und Wohltäter! Aber den einfachen +Menschen – den fürchte ich ja gerade!“ rief der Alte +mit einer ganz eigenartigen Leidenschaftlichkeit aus. +</p> + +<p> +Die Antwort gefiel mir. Ich trat schnell entschlossen +auf ihn zu und drückte ihm fest die Hand. Um die +Wahrheit zu sagen, wollte ich nur mit irgend etwas +gegen die allgemeine Meinung protestieren, indem ich +dem Alten offen meine Zuneigung bewies. Vielleicht +aber – wer weiß! – vielleicht wollte ich nur in der +Meinung Nastassja Jewgrafownas, der Erzieherin, +etwas gewinnen. Doch aus meiner plötzlichen Handlungsweise +wurde, genau genommen, nichts allzu Gescheites. +</p> + +<p> +„Gestatten Sie eine Frage,“ sagte ich, wie gewöhnlich +errötend und mich überhastend, „haben Sie von den +Jesuiten gehört?“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Bester, nichts, oder nur so ein wenig, +dies und jenes ... wo soll unsereiner was hören! ... +Aber was ist mit ihnen?“ +</p> + +<p> +„Ich meinte nur so ... ich wollte, da das Gespräch +darauf kam, nur erzählen ... Übrigens, erinnern Sie +mich daran bei Gelegenheit. Jetzt aber ... seien Sie +überzeugt, daß ich Sie verstehe und ... zu schätzen +weiß ...“ +</p> + +<p> +In meiner hilflosen Verwirrung drückte ich ihm noch +einmal die Hand. +</p> + +<p> +„Unbedingt, mein Verehrtester, unbedingt werde ich +Sie daran erinnern! Werde es mir mit goldenen Lettern +ins Gedächtnis schreiben. Warten Sie, wenn Sie +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +erlauben, werde ich mir noch schnell einen Knoten ins +Schnupftuch binden, damit ich’s nicht vergesse.“ +</p> + +<p> +Und in der Tat suchte er an seinem schmutzigen +Taschentuch ein trockenes Eckchen, das er dann eifrig +zum Knoten schlang. +</p> + +<p> +„Jewgraf Larionytsch, hier ist Ihr Tee,“ sagte Praskowja +Iljinitschna. +</p> + +<p> +„Sofort, meine schönste Dame, sofort, ... will +sagen, Prinzessin, meine schönste Prinzessin ... nicht nur +Dame! Das wäre für den Tee. Bin unterwegs Herrn +Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff begegnet, meine +Gnädigste! Er war bei so guter Laune, daß Gott erbarm! +Ich glaubte schon, daß er auf Freiersfüßen ging +... Schmeichle, schmeichle!“ sagte er dann halblaut zu +mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorüberging, mir +zublinzelte und sein ganzes Gesicht verzog. „Aber woran +liegt es denn, daß man den Hauptwohltäter, unseren +Foma Fomitsch, heute nicht zu sehen bekommt? Wird er +denn nicht zum Tee erscheinen?“ +</p> + +<p> +Mein Onkel zuckte zusammen, als wäre er gestochen +worden, und warf einen scheuen Blick auf die Generalin. +</p> + +<p> +„Ich ... ich weiß wirklich nicht,“ antwortete er unentschlossen +und eigentümlich befangen. „Er ist gerufen +worden, aber er ... Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht +fühlt er sich nicht aufgelegt ... Ich habe schon +Widopljässoff geschickt ... und ... oder soll ich vielleicht +selbst gehen?“ +</p> + +<p> +„Ich war soeben bei ihm,“ bemerkte Jeshowikin vielsagend. +</p> + +<p> +„Wirklich?“ fragte mein Onkel erschrocken. „Nun, +und?“ +</p> + +<p> +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +„Ging zuerst zu ihm, um ihm meine Ehrerbietung +zu beweisen. Er sagte, daß er sich in der Einsamkeit am +Tee laben würde, und dann fügte er noch hinzu, daß er +sich auch von trockenen Brotrinden nähren könne, – +genau so waren seine Worte!“ +</p> + +<p> +Diese Worte erfüllten meinen Onkel, wie es schien, +mit wahrem Entsetzen. +</p> + +<p> +„Aber so hättest du es ihm doch erklären sollen, Jewgraf +Larionytsch! Hättest es ihm doch auseinandersetzen +sollen!“ sagte er, indem er den Alten traurig und vorwurfsvoll +zugleich ansah. +</p> + +<p> +„Ich hab’ ihm ja auch gesagt, hab’ geredet ...“ +</p> + +<p> +„Nun?“ +</p> + +<p> +„Lange geruhte er mir nicht zu antworten. Er saß +über einer mathematischen Aufgabe, berechnete etwas: +offenbar eine Aufgabe zum Kopfzerbrechen. Zeichnete +vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras auf, sah +es selbst ganz genau. Dreimal wiederholte er dasselbe, +erst beim vierten geruhte er das Haupt zu erheben – +und da war’s, als sähe er mich überhaupt zum erstenmal. +‚Ich werde nicht gehen,‘ sagte er, ‚dort ist ja jetzt ein +<em>Gelehrter</em> angekommen, wie sollen wir noch neben +einer solchen Leuchte Platz finden!‘ Genau so geruhte er +sich auszudrücken: ‚neben einer solchen Leuchte‘.“ +</p> + +<p> +Und der Alte blickte mich von der Seite mit feinem +Spott an. +</p> + +<p> +„Das ahnte ich ja!“ rief mein Onkel verzweifelt +aus, „das konnte ich mir ja denken! Das hat er von dir +gesagt, Ssergei, dich hat er damit gemeint – mit dem +‚Gelehrten‘! Was nun?“ +</p> + +<p> +„Ich muß gestehen, Onkel,“ sagte ich mit einem +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +Achselzucken und möglichst unbekümmert, „ich finde diese +Begründung seiner Absage so lächerlich, daß sie es wirklich +nicht wert ist, beachtet zu werden, und daher wundere +ich mich, offen gestanden, über Ihre Bestürzung.“ +</p> + +<p> +„Aber ach, Freund, was weißt du davon, das kannst +du nicht beurteilen!“ unterbrach mich mein Onkel und +wehrte mit energischer Handbewegung jeden weiteren +Einwand ab. +</p> + +<p> +„Jetzt ist es zu spät, zu trauern,“ mischte sich plötzlich +Fräulein Perepelizyna ein, „wenn alles Böse von Ihnen +selbst, Jegor Iljitsch, ausgegangen ist. Wenn einem der +Kopf abgeschlagen ist, so trauert man nicht mehr um +die Haare. Hätten Sie Ihrem Mütterchen gehorcht, so +würden Sie jetzt nicht weinen.“ +</p> + +<p> +„Aber um Gottes willen, wieso bin ich denn daran +schuld? Haben Sie doch ein wenig Angst vor Gott, +Anna Nilowna!“ bat mein Onkel mit so flehender +Stimme, als wolle er sie bitten, sein Liebesgeständnis +anzuhören. +</p> + +<p> +„Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber es kommt +doch alles nur daher, daß Sie egoistisch sind und Ihre +leibliche Mutter nicht lieben,“ antwortete Fräulein +Perepelizyna würdevoll. „Was hatten Sie für einen +Grund, gleich von vornherein ihren Willen zu mißachten? +Sie ist doch Ihre Mutter. Und ich werde Ihnen nicht +die Unwahrheit sagen. Ich bin selbst die Tochter eines +Majors ... und nicht nur irgend so eine!“ +</p> + +<p> +Es schien mir, daß die Perepelizyna sich einzig zu +dem Zweck in das Gespräch einmischte, um uns allen, +und namentlich mir, dem Neuangekommenen, zu wissen +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +zu geben, daß sie selbst die Tochter eines Majors sei und +nicht nur „irgend so eine“. +</p> + +<p> +„Ja, das kommt daher, daß er seine Mutter beleidigt!“ +sagte endlich drohend die Generalin. +</p> + +<p> +„Aber Mama, erbarmen Sie sich! Wann beleidige +ich Sie denn? Und warum?“ +</p> + +<p> +„Weil du ein unverbesserlicher Egoist bist, Jegoruschka,“ +fuhr die Generalin fort, die sich durch die +eigenen Worte gleichsam hinreißen ließ. +</p> + +<p> +„Mama, aber Mama! Wann bin ich denn ein +solcher Egoist gewesen?“ rief mein Onkel verzweifelt +aus. „Seit fünf Tagen, seit ganzen fünf Tagen sind +Sie mir böse und wollen kein Wort mit mir sprechen! +Und weshalb nicht? Was habe ich verbrochen? Möge +man mich doch richten, mag die ganze Welt mich richten! +Aber man soll doch auch meine Rechtfertigung anhören! +Ich habe lange geschwiegen, Mama. Sie wollten mich +nie anhören. Mögen nun fremde Menschen mich anhören. +Anfissa Petrowna! Pawel Ssemjonytsch, mein +bester Pawel Ssemjonytsch! Ssergei, du mein einziger +Freund! Du bist hier ein Unbeteiligter, bist sozusagen +nur ein Zuschauer, du kannst unvoreingenommen urteilen +...“ +</p> + +<p> +„Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, um Gottes +willen beruhigen Sie sich,“ fiel Anfissa Petrowna Obnoskina +energisch ein, „töten Sie nicht Ihre Mutter!“ +</p> + +<p> +„Ich töte nicht meine Mutter, Anfissa Petrowna, +aber hier ist meine Brust, – zerreißen Sie sie!“ fuhr +mein Onkel fort, aufs äußerste erregt, wie das zuweilen +mit Menschen geschieht, die einen schwachen Charakter +haben, wenn man die Grenze überschreitet und ihre letzte +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +Geduld endlich einmal „reißt“, wie man zu sagen pflegt. +Doch ihre Heftigkeit vergeht gewöhnlich ebenso schnell, +wie ein Strohfeuer verbrennt. Und so war es auch +hier. „Ich will nur sagen,“ fuhr mein Onkel fort, „ich +will nur sagen, Anfissa Petrowna, daß ich keinen beleidige. +Ich bin der erste, der da sagt, daß Foma Fomitsch +der edelste, ehrlichste Mensch ist und zum Überfluß +auch noch ein Mensch von höchster Begabung; aber +... aber in diesem Fall hat er – unrecht an mir gehandelt.“ +</p> + +<p> +„Hm!“ machte Pawel Obnoskin, wie um meinen +Onkel noch mehr zu reizen. +</p> + +<p> +„Pawel Ssemjonytsch, ums Himmels willen, Pawel +Ssemjonytsch! Glauben Sie denn wirklich, daß ich sozusagen +ein gefühlloser Pfosten bin? Sehe ich doch, +begreife ich doch – mit wehem Herzen, kann man sagen, +fühle ich es –, daß alle diese Mißverständnisse nur +<em>seiner übergroßen Liebe</em> zu mir entspringen. +Aber sagen Sie, was Sie wollen, diesmal ist er dennoch +im Unrecht. Ich werde alles erzählen. Ich will jetzt, +Anfissa Petrowna, den ganzen Sachverhalt klarlegen, +ganz ausführlich, damit alle sehen, wie es gekommen +ist, und ob meine Mutter recht tut, wenn sie mir deshalb +böse ist, weil ich Foma Fomitschs Wunsch nicht +erfüllt habe. Auch du hör mich an, Sserjosha,“ fügte +er hinzu, sich zu mir wendend, was er übrigens während +seiner ganzen Erzählung wiederholt tat, und zwar +so, als hätte er die anderen Zuhörer gefürchtet oder +wenigstens an ihrem Mitgefühl gezweifelt, – „hör +auch du mich an und urteile dann, ob ich im Recht bin +oder im Unrecht. Sieh, die Sache begann so: vor +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +einer Woche – ja, genau vor einer Woche – fuhr +hier durch unser Nachbarstädtchen mein früherer Regimentskommandeur, +General Russapetoff, mit seiner +Gemahlin und Schwägerin. Hielt sich eine Zeitlang +auf. Ich war natürlich hocherfreut, benutzte die Gelegenheit, +fuhr hin, stellte mich vor und lud sie zu mir +zu einem Diner ein. Er sagte zu, er werde kommen, +wenn es seine Zeit irgendwie erlaubte. Weißt du, ein +durch und durch edler Charakter, das sage ich dir, +Aristokrat, hoher Würdenträger! Und wieviel Gutes +er getan hat! Zum Beispiel seiner Schwägerin! Außerdem +hat er eine Waise mit einem vorzüglichen jungen +Menschen verheiratet – jetzt ist derselbe Koch in Malinowo, +ein noch junger Mensch, aber mit einer, fast +könnte man sagen, Universitätsbildung! – Kurz, der +Alte ist ein General unter den Generälen! Nun, bei +uns, versteht sich, gab’s viel zu tun, Gepolter und Geklapper, +Köche, Frikassees. Ich bestelle Musik. Nun, +selbstverständlich bin ich guter Laune, freue mich und +sehe aus wie ein Geburtstagskind. Das aber gefiel +Foma Fomitsch nicht, daß ich wie ein Geburtstagskind +aussah! Er saß bei Tisch – es wurde gerade sein +Lieblingsgericht, eines mit Sahne, gereicht, das weiß +ich noch ganz genau – er aber saß, schwieg, schwieg +... und plötzlich springt er auf: ‚Man beleidigt mich, +man beleidigt mich!‘ schreit er. – ‚Aber wieso,‘ frage +ich, ‚wieso beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‘ +– ‚Sie,‘ sagt er, ‚Sie vernachlässigen mich jetzt, Sie beschäftigen +sich jetzt nur mit Generälen, Ihnen sind Generäle +wertvoller und lieber als ich!‘ Ich gebe die Szene +jetzt selbstverständlich nur in kurzen Worten wieder, sozusagen +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +nur die springenden Punkte, nur das Wesen der +Sache. Aber wenn du zu hören wünschest, was er +damals noch alles sagte, so ... nun, mit einem Wort, +er erschütterte meinen ganzen Menschen! Was soll +man tun? Ich bin natürlich ganz niedergeschmettert. +Es hatte mich doch gar zu sehr getroffen. Ich versinke +wie ein nasser Hahn. Der feierliche Tag bricht +an. Da schickt der General die Nachricht, daß er leider +verhindert sei zu kommen: muß abreisen. Entschuldigt +sich vielmals, – also: es gibt nichts! Ich sofort zu +Foma: ‚Nun, Foma,‘ sage ich, ‚beruhige dich! Er +kommt nicht!‘ Aber was glaubst du? Er verzeiht mir +nicht. Mach, was du willst – er verzeiht nicht! ‚Man +hat mich beleidigt!‘ sagte er und dabei bleibt er. Ich +rede. So und so. ‚Nein,‘ sagt er, ‚gehen Sie zu +Ihren Generälen. Ihnen liegen die Generäle näher +am Herzen als ich – Sie haben die Bande der Freundschaft,‘ +sagt er, ‚zerrissen!‘ Großer Gott! Ich begreife +ja doch, weshalb er sich ärgert! Ich bin doch kein +Holzklotz, kein Esel, kein Schaf! Er hat es doch nur +aus übergroßer Liebe zu mir getan, sozusagen aus +Eifersucht – er sagt es ja selbst, daß er auf den General +eifersüchtig sei, meine Neigung zu verlieren +fürchte, mich prüfen und wissen wolle, was ich für +ihn zu opfern fähig und bereit wäre. ‚Nein,‘ sagt er, +‚ich bin für Sie gleichfalls ein General, bin gleichfalls +– für Sie! – Exzellenz! Werde mich nicht früher +mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie mir die mir zukommende +Ehre erweisen.‘ – ‚Womit,‘ frage ich, ‚womit +soll ich dir denn meine Hochachtung – meine +Höchstachtung ausdrücken, Foma Fomitsch?‘ – ‚Nun, +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +nennen Sie mich,‘ sagt er, ‚einen ganzen Tag nur Ew. +Exzellenz, damit werden Sie mir dann Ihre Hochachtung +ausdrücken.‘ Ich fiel aus den Wolken! Man kann +sich meine Verwunderung denken! ‚Ja,‘ sagt er, ‚das +wird Ihnen als Lehre dienen, damit Sie sich hinfort +nicht mehr für Generäle begeistern, wenn auch andere +vielleicht noch würdiger sind, als alle Ihre Generäle +zusammengenommen!‘ Na, da hielt ich es aber denn +doch nicht mehr aus, das muß ich gestehen! Gestehe +es sogar ganz offen! ‚Foma Fomitsch,‘ sagte ich, ‚ist +denn das überhaupt möglich, was du verlangst? Wie +kann ich denn auf so etwas eingehen? Wie kann ich +denn ... und habe ich denn überhaupt das Recht, dich +zum General, zur Exzellenz zu machen? Denk doch nur, +in wessen Macht allein das gelegt ist! Das wäre doch +sozusagen ein Attentat auf die Majestät des Gesetzes! +Wie, wie soll ich dich denn Ew. Exzellenz betiteln? +Ein General dient doch seinem Vaterlande: er gibt für +dasselbe sein Leben im Kriege hin, er vergießt sein +Blut auf dem Felde der Ehre, er kämpft mit dem +Feinde seines Volkes! Und du verlangst nun, daß ich +dir denselben Ehrentitel geben soll, der nur ihm mit +Recht zukommt?‘ Foma aber gab nicht nach! ‚Ich +werde dir alles zu Gefallen tun,‘ fuhr ich fort, ‚alles, +was du nur willst. Da hast du gewünscht, daß ich +meinen Backenbart abnehme, da er wenig patriotisch +sei, – ich habe ihn abgenommen, habe zwar geseufzt, +aber habe ihn trotzdem abgenommen. Und mehr noch: +ich werde alles, alles tun, was du wünschst, nur verzichte +auf diesen Generalstitel!‘ – ‚Nein,‘ sagte er, ‚so +werde ich mich nicht eher mit dir versöhnen, als bis +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +man mich Exzellenz nennt. Das wird,‘ sagte er, ‚Ihrer +Moral zugute kommen: es wird Ihren hoffärtigen +Geist demütigen!‘ sagt er. Und nun ist es schon eine +Woche her, eine ganze Woche spricht er nicht mit mir, +und über jeden Besuch, wer es auch sei, ärgert er sich. +Als er von dir hörte, daß du gelehrt seist – es war +meine Schuld: ich sagte es ganz zufällig, als das Gespräch +auf dich kam, so im Eifer, weißt du – da sagte +er, daß er nicht länger hier im Hause bleiben werde +von dem Augenblick an, in dem du das Haus betrittst. +‚Also bin ich jetzt in euren Augen nicht mehr gelehrt!‘ +sagt er. Und was wird es erst geben, wenn er von +Korowkin erfährt! Erbarm dich doch, urteile doch +selbst, was habe ich denn nun verbrochen? Soll ich +mich denn wirklich entschließen, ihn ‚Exzellenz‘ zu +nennen? Wie soll man es denn aushalten in einer +solchen Lage? Und weshalb hat er denn heute den +armen Bachtschejeff vom Tisch fortgejagt? Nun schön, +Bachtschejeff hat nicht die Astronomie erfunden, aber +auch ich hab es ja nicht und auch du hast es ja nicht +getan ... Nun also, aus welchem Grunde, weshalb, +weshalb?“ +</p> + +<p> +„Eben aus dem Grunde, weil du neidisch bist, Jegoruschka,“ +stieß die Generalin durch die Zähne hervor. +</p> + +<p> +„Mutter!“ rief mein Onkel in seiner Verzweiflung +aus, „Sie bringen mich um meinen letzten Verstand! +... Sie sprechen ja nicht ihre eigenen Worte – Sie +sprechen ja fremde Worte nach, Mama! Ich werde zu +guter Letzt nur noch zu einem Balken, einem Laternenpfahl +werden, aber nicht mehr Ihr Sohn sein!“ +</p> + +<p> +„Ich habe gehört, Onkel,“ begann ich, noch ganz +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +benommen von dem Gehörten, „ich habe unterwegs von +Herrn Bachtschejeff gehört – ich weiß allerdings +nicht, ob es sich so verhält –, daß Foma Fomitsch Ihren +Iljuscha um den bevorstehenden Namenstag beneide +und nun behaupte, daß morgen auch sein Namenstag +sei. Ich gestehe, daß dieser merkwürdige Charakterzug +mich dermaßen in Erstaunen gesetzt hat, daß ich ...“ +</p> + +<p> +„Sein Geburtstag, Freund, sein Geburtstag ist +morgen, nicht sein Namenstag, nur sein Geburtstag!“ +unterbrach mich mein Onkel eifrig. „Er hat sich nur +etwas anders ausgedrückt, aber er hat vollkommen +recht: morgen ist sein Geburtstag. Zuerst, Freund, +sagte er wohl ...“ +</p> + +<p> +„Durchaus nicht sein Geburtstag!“ rief plötzlich +Ssaschenjka dazwischen. +</p> + +<p> +„Wie denn nicht?“ fragte mein Onkel mit gesträubtem +Haar. +</p> + +<p> +„Gar nicht sein Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach +die Unwahrheit, um sich selbst zu betrügen und +Foma Fomitsch herauszureißen! Sein Geburtstag war +doch schon im März. – Sie wissen doch noch, wie wir +am Tage vorher zum Gottesdienst ins Kloster fuhren, +und er keinen in der Equipage in Frieden sitzen ließ: +er schrie die ganze Zeit, daß das <em>Kissen</em> ihm die +Seite <em>eingedrückt</em> habe, und kniff dabei die +anderen. Tantchen hat er in seiner Wut zweimal gekniffen! +Und dann, als wir am Geburtstage zu ihm +gingen, um zu gratulieren, da wurde er wieder wütend, +weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ‚Ihr +wißt, daß ich Kamelien liebe,‘ sagte er; ‚denn ich habe +den Geschmack der vornehmen Welt, euch aber ist es +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +nicht der Mühe wert gewesen, für mich in der Orangerie +welche abzuschneiden, sie sind wohl zu schade gewesen +für mich.‘ Und den ganzen Tag war er eigensinnig +und launisch wie ein ungezogener Bengel, und +wollte mit keinem von uns ein Wort sprechen! ...“ +</p> + +<p> +Ich glaube, selbst wenn eine Bombe mitten im +Zimmer explodiert wäre, hätte sie die Anwesenden doch +nicht so erschreckt und aufgeregt, wie es diese offene +Empörung tat – und die Empörung wessen? – eines +kleinen Mädchens, dem sonst in der Anwesenheit der +Großmutter nicht einmal laut zu sprechen gestattet +wurde! Die Generalin erhob sich, stumm vor Verwunderung +und Entrüstung zugleich, richtete sich +kerzengerade auf und sah ihr Enkeltöchterchen an, als +traue sie ihren Augen nicht. Mein Onkel wurde blaß. +</p> + +<p> +„So ein verzogenes Ding! Man will hier wohl +die Großmutter mit Gewalt umbringen!“ stieß die +Perepelizyna wutzischend hervor. +</p> + +<p> +„Ssaschenjka, Ssaschenjka, besinne dich! Was ist +mit dir, Ssaschenjka?“ rief mein Onkel in höchster Erregung +seiner Tochter zu, wußte aber nicht, was er +tun sollte. +</p> + +<p> +„Ich will nicht mehr schweigen, Papa!“ schrie Ssaschenjka, +die plötzlich vom Stuhl aufsprang und mit +den Füßen trampelte. Ihre hübschen Augen sprühten +nur so vor Zorn. „Ich will nicht mehr schweigen! +Wir haben alle lange genug unter diesem Foma Fomitsch +gelitten, unter eurem schändlichem scheußlichen +Foma Fomitsch! Denn Foma Fomitsch wird uns alle +zugrunde richten. Ihm wird ja nichts anderes vorgesungen, +als daß er brav und gut und edel und gelehrt +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +und die Vereinigung aller Tugenden der Welt +sei, ein wahres Potpourri von Tugenden! Foma Fomitsch +aber glaubt wie ein Esel alles, was man ihm +sagt! Es sind ihm so viel süße Schüsseln vorgesetzt +worden, daß ein anderer sich schämen würde, Foma +Fomitsch aber hat alles aufgegessen, was nur vor ihn +hingesetzt worden ist, und will immer noch mehr haben! +Ihr werdet sehen, er wird uns alle auffressen! Und +schuld daran ist Papa! Schändlich, schändlich ist Foma +Fomitsch, das sage ich dreist und fürchte nichts! Er +ist dumm, eigensinnig, ein Schmutzfink ist er, ein niedriger, +herzloser Mensch, ein Tyrann, eine Klatschbase, +ein erbärmlicher Lügner ... Ach, ich würde ihn sofort, +sofort hinausjagen, Papa aber vergöttert ihn, +Papa ist ja ganz vernarrt in ihn!“ +</p> + +<p> +Da ertönte ein „Ach!“ und die Generalin fiel in +Ohnmacht – d. h. behutsam auf das Sofa. +</p> + +<p> +„Oh, mein Täubchen, Agafja Timofejewna, mein +Engel!“ flötete sofort hilfsbereit Anfissa Petrowna +Obnoskina, „nehmen Sie mein Flakon! Wasser, schnell +Wasser!“ +</p> + +<p> +„Wasser, Wasser!“ schrie nun auch mein Onkel. +„Mama, Mamachen, beruhigen Sie sich! Ich flehe +Sie auf den Knien an, beruhigen Sie sich! ...“ +</p> + +<p> +„Man müßte Sie bei Brot und Wasser in ein dunkles +Zimmer setzen ... diese Menschenmörderin!“ schrie +die Perepelizyna zitternd vor Wut Ssaschenjka an. +</p> + +<p> +„Gut, ich werde nur von Brot und Wasser leben, +ich fürchte mich nicht davor!“ rief Ssaschenjka zur +Antwort zurück, in heller Begeisterung. „Ich verteidige +nur meinen Papa! Mein Papa versteht nicht, +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +sich selbst zu verteidigen! Was ist euer Foma Fomitsch +gegen meinen Papa, was ist er? Er ißt Papas +Brot und wagt es, Papa zu erniedrigen! Dieser Unverschämte! +Ich würde ihn in Stücke zerreißen, euren +ganzen Foma Fomitsch! Ich würde ihn zum Duell +fordern und ihn auf der Stelle aus zwei Pistolen mausetot +schießen ...“ +</p> + +<p> +„Ssaschenjka, Ssaschenjka!“ flehte ihr Papa. „Noch +ein Wort – und ich bin verloren, unwiderruflich verloren!“ +</p> + +<p> +„Papachen!“ Ssaschenjka lief zu ihm hin, umarmte +krampfhaft seinen Hals und brach in Tränen aus. +„Papachen! Sie guter, lieber, lustiger, kluger Papa, +wie können Sie sich nur so erniedrigen lassen! Wie +können <em>Sie</em>, <em>Sie</em> sich diesem schändlichen, undankbaren +Menschen so unterordnen, wie können Sie sein +Spielzeug sein und sich so lächerlich machen! Papachen, +mein gutes, goldenes Papachen! ...“ +</p> + +<p> +Da schluchzte sie auf, bedeckte das Gesicht mit den +Händen und lief aus dem Zimmer. +</p> + +<p> +Die Aufregung war unbeschreiblich. Die Generalin +lag in tiefer Ohnmacht. Ihr Sohn, der fast +vierzigjährige Oberst, kniete vor dem Sofa und küßte +ihre Hände. Fräulein Perepelizyna machte sich in der +Nähe der Liegenden zu schaffen und warf böse, doch +triumphierende Blicke auf uns. Anfissa Petrowna +Obnoskina befeuchtete mit einem nassen Tuch die +Schläfen der Generalin und hantierte mit ihrem Flakon. +Praskowja Iljinitschna zitterte und weinte lautlos. +Jeshowikin suchte einen Winkel, wo er sich hätte verstecken +können, und die Erzieherin stand bleich und wie +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +verloren vor ihrem Stuhl. Nur Misintschikoff, mein +Vetter dritten Grades, blieb, wie er war: er stand bloß +auf, trat schweigend ans Fenster und begann seelenruhig +hinauszuschauen, ohne dem ganzen Vorgang auch +nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken. +</p> + +<p> +Da erhob sich plötzlich die Generalin aus der Ohnmacht, +sie erhob sich auch vom Sofa, erhob sich und +richtete sich sogar auf und maß mich mit drohendem +Blick. +</p> + +<p> +„Hinaus!“ rief sie plötzlich und stampfte mit dem +Fuß auf. +</p> + +<p> +Offen gestanden: ich hatte alles eher erwartet +als das. +</p> + +<p> +„Hinaus! Hinaus aus diesem Hause! Hinaus! +Wozu ist er hergekommen? Daß sein Atem nicht mehr +hier zu spüren sei! Hinaus!“ +</p> + +<p> +„Aber Mama! Wie kommen Sie darauf! Das +ist doch Sserjosha!“ stotterte mein Onkel – wenn ich +mich nicht täusche, zitterte er am ganzen Körper. „Aber +er ist doch zu uns zu Besuch gekommen, Mama!“ +</p> + +<p> +„Was für ein Sserjosha? Unsinn! Ich will nichts +hören – hinaus! Das ist Korowkin! Ich bin überzeugt, +daß es Korowkin ist! Meine Ahnung täuscht +mich nicht! Er ist hergekommen, um Foma Fomitsch +zu verdrängen, nur zu diesem Zweck hat man ihn hergerufen! +Mein Herz fühlt es ... Hinaus, Elender!“ +</p> + +<p> +„Lieber Onkel, wenn es so ist,“ begann ich mit einer +Stimme, in der ehrlicher Unwille bebte, „wenn es so +ist, dann werde ich ... entschuldigen Sie mich ...“ +Und ich wollte mich nach meinem Hut umsehen. +</p> + +<p> +„Ssergei, aber so hör doch, Ssergei, was tust du! +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +... Da ist nun dieser ... Mama! das ist doch Sserjosha! +... Ssergei, besinne dich!“ Er holte mich mit +schnellen Schritten ein, um mich zurückzuhalten. „Du +bist mein Gast, du wirst hierbleiben, ich will es! Sie +sagt es ja nur so!“ fügte er halblaut hinzu, „das ist +ja nur, weil sie sich ärgert ... Nur jetzt, in der ersten +Zeit, wäre es vielleicht besser, wenn du dich etwas unsichtbar +machtest ... nur eine Zeitlang – und alles +wird wieder gut sein! Sie wird dir bestimmt verzeihen, +– ich versichere dich! Sie ist ja doch ein guter +Mensch ... Das war ja nur so ... sie hat sich versprochen +... Du hörst doch, sie hält dich für Korowkin, +aber sie wird es vergessen und wird verzeihen, glaube +mir! ... Was willst du?“ rief er plötzlich dem alten +Gawrila zu, der in diesem Augenblick furchtzitternd +ins Zimmer trat. +</p> + +<p> +Gawrila kam nicht allein: ihm folgte ein etwa +sechzehnjähriger Knabe vom Gesinde, der, wie ich später +erfuhr, wegen seiner Schönheit ins Herrenhaus genommen +worden war. Er hieß Falalei. Mir fiel sofort +seine Kleidung auf: er trug eine rotseidene russische +Bluse, die um den Hals herum ausgenäht war, einen +Gürtel aus breiten Goldtressen, schwarze, weite Pluderhosen +und bocklederne Stiefel mit roten saffianledernen +Stulpen. Dieses Kostüm hatte die Generalin persönlich +für ihn ausgedacht. Der Knabe weinte bitterlich, +und die Tränen rollten eine nach der anderen aus +seinen hübschen, blauen Augen über seine roten Backen. +</p> + +<p> +„Was hat denn das zu bedeuten?“ rief mein +Onkel. „Was ist geschehen? So sprich doch, Junge!“ +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch haben geruht, uns herzubefehlen,“ +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +antwortete betrübt Gawrila. „Mich zum Examen und +ihn ...“ +</p> + +<p> +„Und ihn?“ +</p> + +<p> +„Er hat getanzt!“ war Gawrilas weinerliche +Antwort. +</p> + +<p> +„Getanzt!“ Entsetzen drückte sich auf dem Gesicht +meines Onkels aus. +</p> + +<p> +„Ge–e–e–tanz–t!“ brüllte Falalei schluchzend +und schluckend. +</p> + +<p> +„Die Kamarinskaja?“ +</p> + +<p> +„Die Kama–a–arinskaja!“ +</p> + +<p> +„Und Foma Fomitsch hat dich dabei ertappt?“ +</p> + +<p> +„Erta–appt!“ +</p> + +<p> +„Das hat gerade noch gefehlt!“ stöhnte mein Onkel. +„Jetzt bin ich verloren!“ Und er faßte sich mit beiden +Händen an den Kopf. +</p> + +<p> +Da trat der Diener Widopljässoff ins Zimmer und +meldete: +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch.“ +</p> + +<p> +Die Tür ging auf, und Foma Fomitsch erschien in +eigener Person vor dem ratlosen Publikum. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-9"> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +<span class="firstline">VI.</span><br> +Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">B</span><span class="postfirstchar">evor</span> ich die Ehre haben werde, das Äußere Foma +Fomitschs dem Leser, so gut ich dies kann, vor Augen +zu führen, halte ich es für durchaus notwendig, in +Kürze von Falalei einiges zu erzählen und namentlich +zu erklären, inwiefern es denn so ungeheuerlich war, +daß er die Kamarinskaja getanzt und Foma Fomitsch +ihn bei dieser fröhlichen und, man sollte meinen, harmlosen +Zerstreuung überrascht hatte. +</p> + +<p> +Falalei war als Sohn eines Hofbauern in Stepantschikowo +zur Welt gekommen und hatte seine +Eltern im ersten Lebensjahre verloren. Die verstorbene +Frau meines Onkels war seine Taufmutter gewesen. +Mein Onkel liebte ihn sehr. Dies genügte, um ihn +Foma Fomitsch, als er aufs Gut übergesiedelt war und +den Gutsherrn sich unterworfen hatte, verhaßt zu +machen. Doch zu Fomas Pein geschah es, daß der +Knabe auch der Generalin ganz besonders gefiel: und +so blieb denn Falalei, trotz Foma Fomitschs ganzer +Wut, nach wie vor bei der Herrschaft gut angeschrieben. +Die Generalin bestand auf ihrer Neigung, und Foma +mußte nachgeben, wenn er auch im Herzen die „Kränkung“ +nicht vergaß – er hielt ja alles für eine +„Kränkung“ seiner Person – und sich dafür an +meinem armen Onkel, der in diesem Falle doch wirklich +unschuldig war, bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit +rächte. +</p> + +<p> +Falalei war in seiner Art allerdings eine Schönheit. +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +Eigentlich hatte er ein Mädchengesicht, das Gesicht +einer Dorfschönheit. Die Generalin verwöhnte +und beschützte ihn. Er war ihr teuer wie etwa ein +nettes, seltenes Spielzeug, und man wußte nicht, wen +sie mehr liebte: ihr kleines Schoßhündchen Ami oder +diesen Falalei. Sein Kostüm habe ich bereits beschrieben. +Die Damen gaben ihm obendrein noch +Salben und Pomaden, und der Barbier und Friseur +Kusjma mußte ihm zu den Feiertagen Locken brennen. +Andererseits war dieser Knabe ein sonderbares Geschöpf: +man konnte ihn nicht einen vollkommenen +Idioten oder Geistesschwachen nennen; doch war er +dermaßen naiv, in seiner Redeweise dermaßen wahrheitsgetreu +und offenherzig, daß man ihn mitunter +wirklich für einen großen Dummkopf halten konnte. +Hatte er in der Nacht einmal einen Traum gehabt, so +erzählte er ihn sofort der Herrschaft. Er mischte sich +sogar in ihr Gespräch ein, unbekümmert darum, daß +er ihnen ins Wort fiel. Er erzählte zuweilen Dinge, +die man als Hofjunge der Gutsherrschaft ganz unmöglich +erzählen kann. Er weinte die aufrichtigsten +Tränen, wenn seine Herrin – die Generalin – in +Ohnmacht fiel, oder wenn sein Herr gar zu sehr von +Foma beschuldigt wurde. Er hatte für jedes Unglück +ein mitfühlendes Herz. Zuweilen schlich er zur Generalin, +küßte ihr die Hände und bat sie, nicht böse zu +sein – und die Alte verzieh ihm gnädig alle Dreistigkeiten. +Er hatte ein äußerst empfindsames Gemüt, war +gut und friedfertig wie ein Lämmlein auf der Weide +und heiter wie ein glückliches Kind. Bei Tisch wurde +ihm immer etwas Süßes gegeben. +</p> + +<p> +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +Bei jeder Mahlzeit stellte er sich regelmäßig hinter +dem Stuhl der Generalin auf und wartete, bis er sein +Naschwerk erhielt. Gab man ihm ein Stück Zucker, +so zerknabberte er es unverzüglich mit seinen milchweißen +Zähnen. Dann leuchtete in seinen lustigen +Blauaugen wie in seinem ganzen hübschen Gesicht unbeschreibliche +Zufriedenheit auf. +</p> + +<p> +Lange zürnte Foma. Endlich überlegte er sich die +Sache und sagte sich, daß er damit nichts ausrichten +könne: so beschloß er dann, Falaleis Wohltäter zu +werden. Nachdem er zuerst meinem Onkel die Leviten +dafür gelesen hatte, daß dieser sich um die Bildung +seines Hofgesindes gar nicht kümmere, nahm er sich +vor, dem armen Knaben sofort Moral, gute Manieren +und die französische Sprache beizubringen. +</p> + +<p> +„Wie!“ rief er aus, als er seinen unsinnigen Einfall +verteidigte, einem Bauernknaben Französisch beizubringen +(einen Einfall, der übrigens nicht nur einem +Foma Fomitsch gekommen ist, was der Aufzeichner +dieser Erinnerungen selbst bezeugen kann) – „wie! +er ist beständig hier im Herrenhause bei seiner Herrin: +wenn sie nun einmal vergißt, daß er nicht Französisch +versteht und zum Beispiel sagt ‚<span class="antiqua">donneh mua mon +muschuar</span>‘, so muß er sich doch auch in einem solchen +Fall zurechtfinden und sie sofort bedienen können!“ +</p> + +<p> +Leider zeigte es sich sehr bald, daß dem Falalei +nicht nur die französische Sprache nicht beizubringen +war, sondern daß auch der Koch Andron, sein Onkel, +der sich, vollkommen uneigennützig, lange genug gemüht +hatte, ihm das russische Alphabet beizubringen, schon +längst die Hoffnung aufgegeben und die Fibel auf das +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +Regal zurückgelegt hatte. Falalei war für geistige Belehrung +so unzugänglich, daß nichts, aber auch nichts +in seinem Gedächtnis haften blieb. Ja, dieser Belehrungsversuch +sollte noch ein Nachspiel haben: das +Hofgesinde begann alsbald, Falalei als „Franzosen“ +zu necken – der alte Gawrila aber, der verdienstvolle +Kammerdiener meines Onkels, unterstand sich, der Erlernung +dieser fremden Sprache offen jeden Nutzen +abzusprechen. Dieses Urteil des alten Dieners kam +auch Foma Fomitsch zu Ohren, und da befahl dieser +in seinem Zorn, daß der Opponent Gawrila von nun +an selbst die französische Sprache erlernen müsse. Und +das war der Anfang dieser ganzen „Französischen +Marotte“, die Herrn Bachtschejeff in solche Wut versetzt +hatte. +</p> + +<p> +Mit den guten Manieren, die Foma dem Knaben +beibringen wollte, machte er noch schlechtere Erfahrungen: +es wollte ihm in keiner Beziehung gelingen, +Falalei nach seinem Geschmack umzumodeln. Falalei +kam trotz des Verbots jeden Morgen zur Generalin, +um seine Träume zu erzählen, was Foma höchst unanständig, +weil allzu „familiär“, fand. Falalei aber +war und blieb Falalei. Es versteht sich wohl von +selbst, daß für dieses ganze Mißgeschick am meisten und +vor allen anderen wieder mein Onkel büßen mußte. +</p> + +<p> +„Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute +getan hat?“ schrie eines Tages Foma, wozu er um der +größeren Wirkung willen die Zeit wählte, in der alle +versammelt waren ... „Wissen Sie auch, Oberst, wie +weit Sie es mit Ihrer systematischen Vernachlässigung +bringen? Heute verschlang er ein Stück Fischpastete, +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +das man ihm bei Tisch gegeben hatte, und wissen Sie, +was er nachher sagte? Komm her, komm her, armselige +Kreatur, komm her, du Idiot, du rote Fratze! ...“ +</p> + +<p> +Falalei näherte sich weinend und wischte sich mit +beiden Fäusten die Tränen ab. +</p> + +<p> +„Was hast du gesagt, als du die Pastete verschlungen +hattest? Wiederhole es noch einmal!“ +</p> + +<p> +Falalei brach, statt zu antworten, in bittere Tränen +aus. +</p> + +<p> +„Dann werde ich es für dich tun. Du sagtest, indem +du auf deinen vollgestopften Bauch klopftest: +‚Habe mich mit Pasteten vollgeschlagen wie Martyn +mit Seife!‘ – Bedenken Sie, Oberst, – kann man +denn so etwas in einer gebildeten Gesellschaft sagen, +und dazu noch in der höheren Gesellschaft? Hast du +das gesagt? Sprich!“ +</p> + +<p> +„Ha–ab gesa–agt! ...“ bestätigte Falalei +schluckend, und erneute Tränenströme rannen herab. +</p> + +<p> +„So. Dann sag mir jetzt: ißt denn Martyn Seife? +Wo hast du einen solchen Martyn gesehen, der Seife +ißt? Sag doch, gib mir eine Vorstellung von diesem +phänomenalen Martyn!“ +</p> + +<p> +Schweigen. +</p> + +<p> +„Ich frage dich, wer war dieser Martyn?“ bestand +Foma auf seiner Frage. „Ich will ihn sehen, will seine +Bekanntschaft machen. Nun, wer ist er? Ein Registrator, +ein Astronom, ein Erfinder, ein Dichter, ein +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Captaine d’armes</span>, ein Leibeigener – irgend jemand +muß er doch sein! Antworte!“ +</p> + +<p> +„Ein Lei–eibeigener!“ antwortete schließlich Falalei +und weinte. +</p> + +<p> +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +„Wessen? Wessen Leibeigener?“ +</p> + +<p> +Hierauf wußte Falalei nichts zu antworten. Natürlich +endete die Sache schließlich damit, daß Foma +wutentbrannt aus dem Zimmer stürzte und schrie und +klagte, daß man ihn beleidigt habe. Die Generalin +fiel daraufhin in Ohnmacht, mein Onkel verwünschte +die Stunde seiner Geburt, bat alle um Verzeihung und +ging während des ganzen übrigen Tages in seinem +eigenen Hause nur noch auf den Fußspitzen umher. +</p> + +<p> +Nun aber sollte es auch noch geschehen, daß am +nächsten Tage – nach dem Seifenvorfall – Falalei, +als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte, +und sein ganzes gestriges Leid schon längst vergessen +hatte, vollkommen unschuldig und harmlos erzählte, +daß ihm in der Nacht von einem weißen Ochsen geträumt +habe. Ja – wahrlich – das hatte gerade +noch gefehlt! Foma Fomitsch geriet in einen wahren +Wutanfall, ließ sofort den Oberst rufen und begann +dann unverzüglich, diesem für den Traum eine Strafpredigt +zu halten, den <em>sein</em>, des Obersten, Falalei +gehabt hatte. Diesmal griff man denn auch zu den +strengsten Maßregeln: Falalei wurde bestraft – er +mußte im Winkel knien. Außerdem wurde ihm noch +einmal strengstens und nachdrücklich untersagt, so +„rohe“, so „bäuerische“ Träume zu haben. +</p> + +<p> +„Begreifen Sie auch, <em>weshalb</em> ich darüber so +ungehalten bin?“ fragte Foma Fomitsch. „Ganz abgesehen +davon, daß er es sich nicht einfallen lassen, daß +er es überhaupt nicht wagen dürfte, mir mit seinen +Träumen zu kommen, und noch dazu solchen weißen +Ochsenträumen ... ganz abgesehen davon, sage ich – +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +und Sie müssen es doch selbst zugeben, Oberst – +was ist denn dieser weiße Ochse anderes als ein Beweis +der Roheit, Unwissenheit und bäuerischen Empfindungsart +Ihres unbehauenen Falalei? Wie die +Gedanken, so die Träume. Habe ich nicht gleich gesagt, +daß aus dem Burschen nichts werden wird und +man ihn folglich nicht im Herrenhause behalten sollte? +Niemals, niemals werden Sie diesen sinnlosen, einfachen +Volksgeist zu etwas Höherem, Poetischem entwickeln! +Kannst du denn nicht,“ fuhr er zu Falalei +fort, „kannst du denn nicht etwas anderes im Traum +sehen, etwas Vornehmes, Zartes, Veredeltes, eine Szene +aus der guten Gesellschaft, sagen wir zum Beispiel +Herren bei einer Kartenpartie oder Damen, die in +einem schönen Garten lustwandeln?“ +</p> + +<p> +Als Falalei an jenem Tage zu Bett ging, bat er +den lieben Gott unter Tränen um einen schönen Traum +und dachte lange darüber nach, wie er es anstellen +sollte, daß er nicht mehr diesen verwünschten weißen +Ochsen sähe. Doch die Hoffnungen der Menschen +pflegen trügerisch zu sein. Als er am nächsten Morgen +erwachte, da ward er sich mit Schrecken bewußt, daß +ihm die ganze liebe Nacht wieder nur von dem verhaßten +weißen Ochsen geträumt hatte – und von keiner +einzigen im Garten lustwandelnden schönen Dame. +Diesmal aber waren die Folgen besonderer Art. Foma +Fomitsch erklärte unerschütterlich, daß er an die Möglichkeit +einer ähnlichen Wiederholung nicht glaube, daß +Falalei vielmehr lüge und womöglich von einem der +Bewohner des Herrenhauses, vielleicht sogar vom +Obersten selbst, absichtlich dazu verleitet worden sei, um +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +ihn, Foma Fomitsch, zu ärgern. Es kam wiederum +zu viel Geschrei, Vorwürfen und Tränen. Am Abend +erkrankte die Generalin. Die ganze Einwohnerschaft +von Stepantschikowo ließ die Köpfe hängen. Und es +blieb nur noch die eine schwache Hoffnung, daß Falalei +in der nächsten Nacht, in der dritten, etwas aus der +höheren Gesellschaft träumen werde. Wie groß aber +war der allgemeine Unwille, als Falalei eine ganze +Woche in jeder Herrgottsnacht regelmäßig den weißen +Ochsen sah, einzig und allein immer nur den weißen +Ochsen! An die höhere Gesellschaft war gar nicht zu +denken!! +</p> + +<p> +Das merkwürdigste war aber, daß Falalei kein +einziges Mal darauf kam, zu lügen: einfach zu sagen, +er habe im Traum nicht einen weißen Ochsen, sondern, +zum Beispiel, eine Equipage gesehen, in der schöne +Damen und Foma Fomitsch vorübergefahren wären, +– um so mehr, als in einem solchen Notfall das Lügen +doch keine gar so große Sünde hätte sein können. Aber +Falalei war dermaßen wahrheitsliebend, daß er zu +lügen entschieden nicht verstand, – selbst wenn er es +gewollt hätte. So kam es, daß man ihn nicht einmal +auf diesen Gedanken zu bringen suchte; denn alle +wußten, daß Falalei sich sofort verraten und Foma Fomitsch +ihn auf der Lüge ertappen werde. Was sollte +man also tun? Die Lage, in der sich mein armer Onkel +befand, wurde nahezu verzweifelt. Falalei war unverbesserlich. +Der arme Junge wurde sogar merklich +magerer. Die Haushälterin Malanja behauptete, daß +er behext worden sei, und besprengte ihn, nach altem +Aberglauben, von einem Winkel aus mit kaltem Wasser. +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +An dieser zweckmäßigen Behandlung beteiligte sich auch +die mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das +sonst so wohltätige kalte Wasser verweigerte diesmal +seine Wirkung. Es half alles nicht! +</p> + +<p> +„Daß ihn doch! ... den verfluchten Ochsen!“ sagte +Falalei seinerseits, „in jeder Nacht träumt mir von +ihm! Jeden Abend bete ich: ‚Traum, komm’ mir nicht +mit dem weißen Ochsen, Traum, komm’ mir nicht +mit dem weißen Ochsen!‘ – Er aber ist da, der verfluchte, +steht vor mir, so groß, mit Hörnern, mit so ’ner +stumpfen Schnauze, hu–u–u!“ +</p> + +<p> +Mein Onkel geriet schließlich wirklich in Verzweiflung. +Doch siehe, zum Glück vergaß Foma Fomitsch, +wie es schien, plötzlich den weißen Ochsen. Natürlich +glaubte niemand, daß Foma Fomitsch im Ernst +etwas so Wichtiges vergessen könnte, und so sagten sich +alle mit angstvollem Herzen, daß er diese unerledigte +Geschichte mit dem weißen Ochsen gleichsam für den +Bedarfsfall aufheben wolle, um sie dann bei der ersten +sich bietenden Gelegenheit wieder vorzuführen. In der +Folge stellte es sich aber heraus, daß es Foma Fomitsch +in dieser Zwischenzeit tatsächlich nicht um den weißen +Ochsen zu tun gewesen war: er hatte andere Sorgen, +andere Pläne waren in seinem emsigen und vieldenkenden +Kopfe entstanden. Nur darauf war es zurückzuführen, +daß er Falalei endlich aufatmen ließ. Gleichzeitig +mit Falalei atmeten auch die anderen auf. Ja, +der Junge vergaß sogar bald das Vorgefallene, und +selbst der weiße Ochse erschien ihm immer seltener im +Traum, obschon er ihn hin und wieder doch noch an seine +phantastische Existenz erinnerte. Kurz, es wäre alles +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +gut gewesen, wenn es in der Welt nicht einen Tanz +gegeben hätte, der die Kamarinskaja heißt. +</p> + +<p> +Ich muß hier vorausschicken, daß Falalei vorzüglich +tanzte. Die Tanzkunst war seine größte Begabung, +sie war ihm gewissermaßen als innerer Trieb angeboren. +Er tanzte mit Energie und unermüdlicher Lust, und von +allen Tänzen liebte er am meisten den „Kamarinskij-Mushick“ +zu tanzen. Nicht, daß ihm etwa die leichtsinnigen +und jedenfalls unverständlichen Handlungen +dieses flatterhaften Bauern gar so sehr gefallen hätten +– nein, er liebte diesen Tanz einzig deshalb, weil es +für ihn, wenn er die Kamarinskaja spielen hörte, vollkommen +unmöglich war, nicht zu tanzen. Es kam vor, +daß zuweilen abends zwei oder drei Diener, die +Kutscher, der Gärtner und einige Hofmädchen sich versammelten, +natürlich irgendwo auf einem möglichst entfernten +Wiesenplan hinter den Ställen des Herrenhofes, +möglichst weit von Foma Fomitsch. Dann ertönte +alsbald Musik, und das Tanzen begann, bis +schließlich auch die Kamarinskaja in ihr Recht trat. +Die Musikkapelle bestand aus zwei Balalaiken, einer +Gitarre, einer Geige und einer Handtrommel, die der +Vorreiter Mitjuschka vorzüglich zu bearbeiten verstand. +Dann hätte man sehen sollen, was schon beim ersten +Takt mit Falalei geschah: er sprang in den Kreis und +tanzte, tanzte bis zu völliger Bewußtlosigkeit, bis zur Erschöpfung +seiner letzten Kräfte, angefeuert noch durch +die Zurufe und das Lachen seiner Zuschauer; er jauchzte, +lachte, schlug in die Hände und tanzte, als risse ihn +eine fremde, unerfaßliche Kraft, gegen die er nicht anzukämpfen +vermochte, mit sich fort, und tat sich Gewalt +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +an, um das immer schneller werdende Tempo des temperamentvollen +Motivs einzuhalten, während er im +Rhythmus mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Das +waren Augenblicke seiner höchsten Begeisterung. Und +es wäre auch hier alles gut gewesen, wenn das Gerücht +von seiner Kamarinskaja nicht auch Foma Fomitsch +zu Ohren gekommen wäre. +</p> + +<p> +Foma Fomitsch – erstarrte, und als er zu sich kam, +schickte er sofort nach dem Oberst. +</p> + +<p> +„Ich wollte mich von Ihnen nur über eines aufklären +lassen, Oberst,“ begann Foma. „Haben Sie +sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten vollständig +zu verderben, oder nicht? Ist das erstere der Fall, +so ziehe ich mich selbstverständlich sofort zurück; falls +aber nicht, so werde ich ...“ +</p> + +<p> +„Ja, was ist denn los? Was ist geschehen?“ fragte +der Oberst, der aus den Wolken fiel. +</p> + +<p> +„Wie? Sie fragen, was geschehen ist? Wissen Sie +denn nicht, daß er die Kamarinskaja tanzt?“ +</p> + +<p> +„Nun, – nun, und?“ +</p> + +<p> +„Wie – nun, und?!“ schrie Foma auf. „Und +das sagen Sie – Sie, sein Herr und in gewissem +Sinne sein Vater! Ja, haben Sie denn nach alledem +überhaupt eine annähernd richtige Vorstellung davon, +was dieser Tanz überhaupt ist? Wissen Sie denn nicht, +daß dieses Lied einen verkommenen Kerl besingt, der +es in der Trunkenheit auf das allerunsittlichste Vergehen +abgesehen hat? Wissen Sie denn nicht, was +dieser verderbte Knecht im Schilde führt? Er hat die +wertvollsten, die heiligsten Bande zerrissen und unter +die Füße getreten, hat sie mit seinen klobigen Bauernstiefeln, +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +die sonst nur den Fußboden der Schenke zu +stampfen pflegen, – <em>zertreten</em>! Begreifen Sie +denn nicht, daß Sie mit dieser Antwort meine edelsten +Gefühle beleidigt haben? Begreifen Sie denn nicht, +daß Ihre Antwort eine persönliche Beleidigung meiner +Person ist? Begreifen Sie das, oder begreifen Sie +das nicht?“ +</p> + +<p> +„Aber, Foma ... es ist doch nur ein Lied, Foma ...“ +</p> + +<p> +„Was, nur ein Lied? Und Sie schämen sich nicht, +mir zu gestehen, daß Sie, Sie selbst dieses Lied kennen, +– Sie, der Sie zur Gesellschaft gehören, Sie, der +Sie der Vater vornehmer und unschuldiger Kinder und, +zum Überfluß, noch Oberst sind! Nur ein Lied! Ich +bin aber überzeugt, daß dieses Lied nach einer wirklichen +Begebenheit entstanden ist! Nur ein Lied! Aber +welcher anständige Mensch kann denn zugeben, ohne +vor Scham zu vergehen, daß er dieses Lied kenne, daß +er es jemals auch nur gehört habe? Welch ein Mensch, +frage ich Sie, welch einer?“ +</p> + +<p> +„Nun, aber du, Foma, du kennst es doch offenbar, +wenn du so fragst,“ antwortete in seiner Herzenseinfalt +und völlig harmlos mein verwirrter Onkel. +</p> + +<p> +„Was! Ich kenne es? ... Ich ... ich ... das +heißt! ... Man hat mich beleidigt!“ schrie plötzlich +Foma, sprang vom Stuhl auf und brüllte vor Wut. +</p> + +<p> +Alles hatte er eher erwartet, als eine solche geradezu +vernichtende Antwort. +</p> + +<p> +Doch wozu Foma Fomitschs Zorn beschreiben! Der +Oberst wurde mit Schmach und Schande wegen der +„Unschicklichkeit“ und „Ungeschicktheit“ seiner Antwort +aus dem Gesichtskreise dieses „Wahrers der Sittlichkeit“ +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +verbannt. Foma Fomitsch selbst aber hatte sich +seit diesem Tage geschworen, Falalei einmal <span class="antiqua">in flagranti</span> +zu ertappen – wenn dieser wieder das Verbrechen begehen +sollte, die Kamarinskaja zu tanzen, und so schlich +er sich abends, wenn alle ihn mit irgend etwas Literarischem +beschäftigt glaubten, heimlich in den Park, +ging im Bogen um den Gemüsegarten herum und schlug +sich dann in ein Gebüsch, von wo aus man deutlich +jene kleine Wiese sehen konnte, auf der gewöhnlich getanzt +wurde. So stellte er dem Falalei nach, wie der +Jäger dem armen Wild, und malte sich inzwischen mit +Wonne aus, was für einen Skandal er im Fall eines +Erfolges seiner Bemühungen machen könne, und wie +alle, und namentlich der Oberst ihm dafür würden +„büßen müssen“! Der Lohn für seine Mühe blieb denn +auch nicht aus. Der Augenblick kam, in dem er „ihn +hatte“. Endlich, endlich! Und das geschah – gerade +heute!! +</p> + +<p> +Nun wird es verständlich sein, weshalb mein +Onkel sich das Haar raufte, als er den weinenden +Falalei sah und vernehmen mußte, was geschehen war, +und als dann noch Widopljässoff eintrat, um Foma +Fomitschs Erscheinen anzumelden, und Foma Fomitsch +so plötzlich und in einem so peinlichen Augenblick in +eigener Person vor unseren sündigen Augen erschien. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-10"> +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +<span class="firstline">VII.</span><br> +Foma Fomitsch. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">it</span> unendlicher Neugier sah ich diesem Herrn entgegen. +Gawrila hatte recht, wenn er ihn ein gemausertes +Menschlein nannte. Foma war klein von Wuchs, +mit weißblondem, kaum merklich grau untermischtem +Haar, weißen Augenbrauen und Wimpern, mit einer +gebogenen Nase und vielen kleinen Runzeln im ganzen +Gesicht. Am Kinn hatte er eine große Warze. Er +war ungefähr fünfzig Jahre alt. Leise trat er ein, mit +gleichmäßigen Schritten, die Augen zu Boden gesenkt. +Aber das unverschämteste Selbstbewußtsein drückte sich +in seinem Gesicht und in seiner ganzen, überaus pedantischen +Erscheinung aus. Zu meiner Verwunderung erschien +er im Schlafrock – freilich von ausländischem +Schnitt, aber es war immerhin ein Schlafrock – und +obendrein in Hausschuhen. Eine Krawatte trug er +nicht. Der Kragen seines Hemdes war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à l’enfant</span> +zurückgeschlagen, was der ganzen Erscheinung Fomas +etwas überaus Dummes verlieh. Er schritt zu einem +Lehnstuhl, rückte ihn ein wenig näher zum Tisch und +setzte sich, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. +Im Augenblick war alles still geworden, von der Aufregung +und dem Spektakel, die noch vor einer Minute +hier geherrscht hatten, war nichts mehr zu sehen und +zu hören. Es war so still, daß man das Summen der +kleinsten Fliege hätte hören können. Die Generalin +saß sanft und fromm wie ein Lamm auf dem Sofa. +Die ganze sklavische Ergebenheit dieser Törin ihrem +Idol Foma gegenüber trat jetzt so recht klar zutage. +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +Sie schien sich an ihrem Liebling gar nicht satt sehen +zu können, sie hing unverwandt mit den Blicken an +ihm, sie verschlang ihn förmlich mit den Augen. +</p> + +<p> +Fräulein Perepelizyna entblößte lächelnd ihre alten +Zähne und rieb sich die Hände, die arme Praskowja +Iljinitschna aber zitterte merklich vor Furcht. Mein +Onkel fand als erster die Sprache wieder. +</p> + +<p> +„Tee, Schwesterchen, bitte, Tee! Nur etwas +süßer, Schwesterchen. Foma Fomitsch trinkt ihn nach +dem Schläfchen gern etwas süßer. Nicht wahr, Foma, +du liebst den Tee nachmittags doch etwas süßer?“ +</p> + +<p> +„Mir ist es jetzt nicht um Tee zu tun!“ begann +Foma langsam und würdevoll, und mit bekümmerter +Miene machte er eine wegwerfende Handbewegung. +„Sie dagegen scheinen sich ja nur darum zu sorgen, +daß alles süßer sei!“ +</p> + +<p> +Diese ersten Worte und der in seiner pedantischen +Wichtigkeit unbeschreiblich lächerliche Eintritt Fomas +interessierten mich natürlich außerordentlich. Es interessierte +mich vor allem, bis zu welch einer Gewissenlosigkeit +die Unverschämtheit dieses von sich so eingenommenen +Menschen gehen konnte. +</p> + +<p> +„Foma!“ begann mein Onkel von neuem. „Hier +stelle ich dir jemand vor: meinen Neffen Ssergei +Alexandrowitsch! Er ist erst vor kurzem angekommen.“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch maß meinen Onkel vom Kopf bis +zu den Füßen. +</p> + +<p> +„Es wundert mich, daß Sie mich mit Vorliebe +immer so systematisch unterbrechen, Oberst,“ sagte er +endlich nach bedeutsamem Schweigen und ohne mich +auch nur eines Blickes zu würdigen. „Man redet mit +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +Ihnen über eine ernste Sache, Sie aber ... schwatzen +... weiß Gott was ... Haben Sie Falalei gesehen?“ +</p> + +<p> +„Ja, Foma ...“ +</p> + +<p> +„Ah, also Sie haben ihn gesehen! Nun, dann +werde ich Ihnen denselben noch einmal zeigen, wenn +Sie ihn schon gesehen haben. Dann können Sie sich +ergötzen an Ihrem Produkt ... ich meine, in sittlicher +Beziehung. Komm her, Bursche! Komm her, du holländische +Fratze! Nun, hörst du nicht? – komm her! +Fürchte dich nicht!“ +</p> + +<p> +Falalei näherte sich ihm, schluchzend, mit halboffenem +Munde, und schluckte seine Tränen. Foma Fomitsch +betrachtete ihn mit augenscheinlichem Vergnügen. +</p> + +<p> +„Ich habe ihn mit Absicht ‚holländische Fratze‘ genannt, +Pawel Ssemjonytsch,“ bemerkte er, indem er +es sich ungeniert in seinem Lehnstuhl bequem machte, +mit einer leichten Wendung seines Kopfes zu Obnoskin, +der als Nächster links von ihm saß. „Und überhaupt, +wissen Sie, halte ich es nicht für nötig, daß man seine +Ausdrücke mildert, gleichviel in welchem Fall. Die +Wahrheit muß immer Wahrheit bleiben. Und andererseits: +womit man auch Schmutz bedecken wollte, es +bleibt immer Schmutz. Wozu also die Mühe, eine Sache +noch zu beschönigen? Um sich und die Menschen zu +betrügen! Nur in dem dummen Kopf eines Menschen +aus der sogenannten höheren Gesellschaft konnte das +Verlangen nach so sinnlosen Anstandsregeln entstehen. +Sagen Sie doch – ich bitte um Ihr Urteil – können +Sie in dieser Fratze etwas Schönes finden? Ich meine: +etwas Höheres, Erhabenes, Wunderbares – und nicht, +wie gesagt, nur eine schöne Fratze?“ +</p> + +<p> +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +Foma Fomitsch sprach ziemlich leise, ruhig, jedes +Wort abmessend und mit einem fast erhabenen +Gleichmut. +</p> + +<p> +„Schönes?“ fragte Obnoskin mit einer geradezu +frechen Nachlässigkeit. „Mir scheint, es ist nur ein +gutes Stück Roastbeef und nichts weiter ...“ +</p> + +<p> +„Trat heute zum Spiegel und besah mich in ihm,“ +fuhr Foma ruhig fort, würdevoll das Wörtlein „ich“ +auslassend. „Halte mich längst nicht für eine Musterschönheit, +kam aber unwillkürlich zu der Überzeugung, +daß doch etwas in diesem grauen Auge liegt, das mich +von einem Falalei unterscheidet. Das ist der Gedanke, +das ist das Leben, das ist der Verstand in diesem Auge! +Will mich nicht damit loben. Rede nur so im allgemeinen +von meinem Ich. Jetzt, was meinen Sie? Kann +es überhaupt auch nur ein Stückchen, auch nur ein +Atom von einer Seele in diesem lebenden Beefsteak +geben? Nein, in der Tat, beobachten Sie es doch, +Pawel Ssemjonytsch, wie diese <em>Menschen</em>, die jedes +Gedankens, jedes Ideals vollkommen bar sind, und die +nur Rindfleisch essen, wie bei diesen Menschen die Gesichtsfarbe +immer so widerlich frisch ist, von einer so +rohen und dummen Frische! Wünschen Sie, den Grad +seiner Denkfähigkeit zu erkennen? He, du, Kasus! +Komm mal näher, gönn uns, daß wir uns an deinem +Anblick berauschen! Warum sperrst du den Mund auf? +Willst du etwa einen Walfisch verschlingen? Bist du +schön? Antworte: bist du schön?“ +</p> + +<p> +„Ich ... bin ... schön!“ antwortete Falalei mit +ersticktem Schluchzen. +</p> + +<p> +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +Obnoskin wälzte sich vor Lachen. Ich fühlte, wie +ich vor Wut zu zittern begann. +</p> + +<p> +„Haben Sie gehört?“ fuhr Foma fort, mit einem +gewissen Triumph sich wieder an Obnoskin wendend. +„Aber Sie werden noch ganz andere Dinge von ihm +hören! Ich kam nur, um ihn zu examinieren. Sehen +Sie, Pawel Ssemjonytsch, es gibt Menschen, deren +Wunsch es zu sein scheint, diesen armseligen Idioten +endgültig zu verderben. Vielleicht urteile ich zu streng, +kann mich ja täuschen, aber ich rede und tue alles nur +aus Liebe zur Menschheit. Er hat den unanständigsten +aller Tänze getanzt. Hier scheint das keinen Menschen +etwas anzugehen. Aber ... nun, Sie können +es hier mit eigenen Ohren hören ... Antworte: was +hast du vorhin getan? Antworte, antworte sofort! – +hörst du?“ +</p> + +<p> +„I ... ich ... habe ... getanzt ...“ sagte Falalei, +der nur mit Mühe das Schluchzen unterdrückte. +</p> + +<p> +„Was hast du denn getanzt? Welch einen Tanz? +So sprich doch!“ +</p> + +<p> +„Die Kamarinskaja ...“ +</p> + +<p> +„Die Kamarinskaja! Aber wer ist diese Kamarinskaja? +Was ist das für ein Name? Wie soll ich denn +deine Antwort verstehen? Nun, so gib mir doch wenigstens +eine Vorstellung davon: wer ist denn diese deine +Kamarinskaja?“ +</p> + +<p> +„Ein ... Bauer ...“ +</p> + +<p> +„Ein Bauer! Nur ein Bauer? Ich wundere mich! +Das muß doch ein ganz hervorragender Bauer sein! +Dann ist er wohl irgendein berühmter Mann, wenn +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +man ihn in Liedern besingt und in Tänzen verherrlicht? +Nun, so antworte doch!“ +</p> + +<p> +Es schien Foma ein Bedürfnis zu sein, Menschen +zu foltern. Er spielte mit seinem Opfer wie die Katze +mit der Maus. Doch Falalei schwieg, schluchzte und +begriff die Frage nicht. +</p> + +<p> +„So antworte doch! Du wirst gefragt, was das +für ein Bauer ist. So sprich doch ...! Ein Gutsbauer +oder ein Kronsbauer, ein freier oder ein leibeigener +oder vielleicht ein Ökonomiebauer<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>? Es gibt +viele Bauern ...“ +</p> + +<p> +„E–e–ein ... Ö–ko–nomiebauer ...“ +</p> + +<p> +„Ah, also ein Ökonomiebauer! Haben Sie gehört, +Pawel Ssemjonytsch? Ein neues historisches Faktum: +die Kamarinskaja ist ein – Ökonomiebauer. Hm! +Nun, aber was hat denn dieser Ökonomiebauer getan? +Für welche Taten wird er denn besungen und ... +wird ihm zu Ehren getanzt?“ +</p> + +<p> +Die Frage war nicht wenig kitzlig, und da er sie +an Falalei richtete, auch sehr gefährlich. +</p> + +<p> +„Nun – aber Sie ... einstweilen ...“ versuchte +Obnoskin einzulenken, nach einem flüchtigen Blick auf +seine Mutter, die sich so eigentümlich auf ihrem Sofa +hin und her zu bewegen begann. +</p> + +<p> +Was sollte man tun? Die Launen Foma Fomitschs +wurden als Gesetz betrachtet. +</p> + +<p> +„Aber, lieber Onkel, wenn Sie diesen Esel nicht ablenken, +so kann er ja ... Sie begreifen doch, auf was +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +er es abgesehen hat – Falalei wird vielleicht irgendeine +Dummheit sagen, sogar bestimmt, ich versichere +Sie ...“ flüsterte ich unbemerkt meinem Onkel zu, der +selbst nicht wußte, wozu er sich entschließen oder was +er sagen sollte. +</p> + +<p> +„Wenn du, Foma ...“ begann er etwas unsicher. +„Hier stelle ich dir meinen Neffen vor, Foma: mein +junger Freund, der sich mit Mineralogie beschäftigt ...“ +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie inständig, Oberst, unterbrechen Sie +mich nicht mit Ihrer Mineralogie, von der Sie, soviel +mir bekannt ist, keine Ahnung haben, und <em>andere</em> +vielleicht ebensowenig. Ich bin kein Kind. Er wird +mir antworten, daß dieser Bauer, anstatt für das +Wohlergehen seiner Familie zu arbeiten, in der Schenke +seinen Halbpelz vertrunken hat und betrunken auf die +Straße hinausgelaufen ist. Das ist bekanntlich der +Inhalt dieses Liedes, das die Trunkenheit verherrlicht. +Beunruhigen Sie sich nicht, <em>jetzt</em> weiß er, was er zu +antworten hat. – Nun, so antworte doch: was hat +dieser Bauer denn getan? Ich habe es dir doch schon +vorgesagt, habe es dir in den Mund gelegt. Ich will +nur von dir, von dir selbst hören, was er getan hat, +wodurch er berühmt geworden ist, wodurch er einen so +unsterblichen Ruhm verdient hat, daß er sogar besungen +wird? Nun?“ +</p> + +<p> +Der arme Falalei blickte sich hilflos im Kreise um, +und da er nicht wußte, was er sagen sollte, machte er +nur den Mund auf und ratlos wieder zu, wie eine +Karausche, die aus dem Wasser auf den Sand gezogen +ist. +</p> + +<p> +„Ich schäm’ mich, es zu sagen!“ brachte er schließlich +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +in seiner Hilflosigkeit mit langen Lippen ziemlich +undeutlich hervor. +</p> + +<p> +„Ah! du schämst dich, es zu sagen!“ Foma triumphierte. +„Nur diese Antwort erwartete ich, Oberst! +Man schämt sich, es zu sagen; aber es zu tun, schämt +man sich nicht! Das ist die Sittlichkeit, die Sie hier +gesät haben, die jetzt aufgegangen ist, und die Sie noch +... begießen! Doch wozu so viel Worte verlieren! Geh +in die Küche, Falalei. Im Augenblick sage ich dir +nichts – aus Achtung vor den Anwesenden; aber heute +noch, <em>heute noch</em> wirst du unbarmherzig und schmerzhaft +bestraft werden. Geschieht es aber nicht, zieht man +auch diesmal <em>dich</em> – <em>mir</em> – vor, so bleibe du hier +und tröste deine Herren mit der Kamarinskaja, ich aber +werde dann heute noch dieses Haus verlassen! Genug! +Ich habe gesprochen. Geh!“ +</p> + +<p> +„Nun, das war, glaube ich, denn doch etwas ... +streng ...“ brummte Obnoskin. +</p> + +<p> +„Eben, eben ...!“ griff sofort mein Onkel auf und +wollte ihm beipflichten, brach aber ab und verstummte. +Foma warf ihm einen finsteren Blick zu. +</p> + +<p> +„Ich wundere mich, Pawel Ssemjonytsch,“ fuhr er +fort, „ich wundere mich nur über eines: was tun denn +eigentlich unsere zeitgenössischen Literaten, die Dichter, +die Gelehrten, die Denker? Wie kommt es, daß sie gar +nicht darüber nachdenken, welche Lieder das russische +Volk singt, und zu welchen Liedern das russische Volk +tanzt? Was haben denn bis jetzt alle unsere Puschkin, +Lermontoff, Borosdin getan? Ich wundere mich. Das +Volk tanzt die Kamarinskaja, diese Apotheose der +Trunkenheit und der Ausschweifung; sie aber besingen +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +da irgendwelche Vergißmeinnicht! Warum schreiben sie +nicht einige sittliche Lieder für den Volksgebrauch? +Was nützen diese Gedichte an die Vergißmeinnicht und +Gänseblümchen? Hier handelt es sich doch um eine +soziale Frage! Mögen sie mir meinetwegen einen +Bauern schildern, aber einen veredelten Bauern, einen +Landmann, der eigentlich nichts mehr mit dem rohen +Bauern gemein hat. Mögen sie doch einen solchen +Dorfweisen womöglich in seiner ganzen Einfachheit uns +zeigen, meinetwegen sogar in Bastschuhen – ich bin +auch damit noch einverstanden –, aber es muß ein +Mann sein, der alle Tugenden besitzt, Tugenden, um +die ihn – das sage ich kühn – selbst irgend so ein +berühmter Alexander von Mazedonien beneiden müßte. +Ich kenne Rußland und Rußland kennt mich: darum +rede ich so. Mögen sie uns diesen Mann darstellen, +der, sagen wir, bei grauem Haar noch eine große Familie +zu ernähren hat, meinetwegen sogar in einer +stickigen Hütte lebt, vielleicht sogar hungern muß, der +aber dennoch zufrieden ist und nicht murrt, sondern +seine Armut preist, und den alles Gold des Reichen +gleichgültig läßt. Mag ihm der Reiche schließlich gerührt +sein ganzes Gold bringen ... bei dieser Gelegenheit +kann sogar eine Vereinigung der Tugend des Bauern +mit der Tugend des Reichen, seines Herrn und, +sagen wir, geborenen Aristokraten sich vollziehen. Der +Landmann und der Reiche, die auf den Stufen der Gesellschaft +so weit voneinander getrennt sind, – mögen +sie dann in der Tugend sich vereinigen, – das wäre +ein edler Grundgedanke! Aber sonst – was haben +wir jetzt in unserer Literatur? Einerseits Vergißmeinnicht +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +und andererseits – einen Bauern, der aus der +Schenke herausstürzt und in betrunkenem Zustande +durch die Straßen läuft! Nun, was ist denn hier, +sagen Sie doch selbst: Was ist denn hier Poetisches? +Woran soll man sich erbauen? Wo ist hier Verstand? +Wo Grazie? Wo Moral? ... Ich wundere mich!“ +</p> + +<p> +„Hundert Rubel schulde ich Ihnen, Foma Fomitsch, +für solche Worte!“ sagte Jeshowikin anscheinend begeistert. +– „Würde ihm keinen grindigen Deubel jemals +geben!“ rannte er mir dabei leise zu, fast ohne die +Lippen zu bewegen. „Schmeichle, schmeichle!“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... das haben Sie gut gesagt,“ brummte +Obnoskin. +</p> + +<p> +„Eben, eben! Vortrefflich!“ rief mein Onkel aus, +der die ganze Zeit mit angestrengter Aufmerksamkeit +zugehört hatte und mich jetzt triumphierend ansah. – +„Was für ein Thema!“ flüsterte er mir unbemerkt ins +Ohr und rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Vielseitig, +weiß der Teufel! – Foma Fomitsch, hier ist +mein Neffe,“ fuhr er laut im Überschwang seiner Gefühle +fort. „Er hat sich gleichfalls mit der Literatur +beschäftigt – hier stelle ich ihn dir vor.“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch schenkte wiederum nicht die geringste +Beachtung weder mir, noch meinem Onkel. +</p> + +<p> +„Um Gottes willen, stellen Sie mich doch nicht nochmals +vor! Ich bitte Sie darum!“ flüsterte ich in sehr +bestimmtem Ton meinem Onkel zu. +</p> + +<p> +„Iwan Iwanytsch!“ hub plötzlich Foma Fomitsch +an, sich mit aufmerksam betrachtendem Blick an Misintschikoff +wendend, „da haben wir nun gesprochen – +welcher Meinung aber sind Sie?“ +</p> + +<p> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +„Ich? Sie fragen mich?“ erkundigte sich verwundert +Misintschikoff, mit einem Gesichtsausdruck, als +hätte man ihn soeben erst aus dem Schlaf geweckt. +</p> + +<p> +„Ja, gerade Sie. Ich frage Sie aus dem Grunde, +weil mir die Meinung wirklich kluger Menschen immer +wertvoll ist, nicht aber diejenige – weiß Gott was für +welcher – problematischer kluger Köpfe, die nur deshalb +klug sind, weil sie einem <em>beständig als klug +vorgestellt werden</em>, als sogenannte <em>Gelehrte</em>, +und die man sich mitunter sogar absichtlich +verschreibt, um sie in einer Jahrmarktsbude auszustellen +oder an einem ähnlichen Ort.“ +</p> + +<p> +Dieser Stein war natürlich in meinen Garten geworfen. +Es konnte überhaupt kein Zweifel darüber +bestehen, daß Foma Fomitsch, der mich scheinbar gar +nicht beachtete, dieses ganze Gespräch über die Literatur +einzig und allein meinetwegen begonnen hatte, um mich, +den „Klugen“, den „Petersburger Gelehrten“, von +vornherein zu besiegen, zu vernichten. Ich wenigstens +zweifelte nicht daran. +</p> + +<p> +„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ... +bin ich ... so bin ich ganz Ihrer Meinung,“ antwortete +Misintschikoff träge und gleichsam wider Willen. +</p> + +<p> +„Sie sind stets ganz meiner Meinung! Es könnte +einem sogar übel davon werden,“ bemerkte Foma. +„Werde Ihnen ganz aufrichtig sagen, Pawel Ssemjonytsch,“ +wandte er sich nach kurzem Schweigen wieder +an Obnoskin, „wenn ich unseren unsterblichen Karamsin +für etwas hochachte, so tue ich es nicht wegen seiner +‚Statthalterin Marfa‘, nicht wegen seiner ‚Russischen +Geschichte‘, auch nicht wegen seines Werkes über das +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +‚Alte und neue Rußland‘, sondern einzig deshalb, weil +er ‚Froll Ssilin‘ geschrieben hat: Das ist ein großes +Epos! Es ist ein rein volkliches Werk und wird alle +Ewigkeiten überleben! Ein großes Epos!“ +</p> + +<p> +„Eben, das ist es! Stimmt! Ein großes <em>Epos</em>! +Froll Ssilin ist ein tugendhafter Mensch! Ich weiß, +habe ihn gelesen; er kaufte <em>noch</em> zwei Mädchen aus, +und dann sah er zum Himmel empor und weinte. Ein +erhabener Zug!“ bestätigte mein Onkel, strahlend vor +Zufriedenheit. +</p> + +<p> +Mein armer Onkel! Er konnte es doch auf keine +Weise unterlassen, sich in „gelehrte“ Gespräche einzumischen! +Foma lächelte boshaft, schwieg aber. +</p> + +<p> +„Es wird auch jetzt Interessantes geschrieben,“ +mischte sich vorsichtig Anfissa Petrowna Obnoskina ein. +„Zum Beispiel: die ‚Geheimnisse von Brüssel‘!“ +</p> + +<p> +„Ich enthalte mich eines Urteils,“ sagte Foma, +gleichsam mitleidig. „Ich habe vor nicht langer Zeit +einen von den neueren Dichtern gelesen ... Was soll +man sagen? ‚Vergißmeinnicht‘! Aber wenn ich Ihnen +die Wahrheit sagen soll, so gefällt mir von den Modernsten +am besten der ‚Kopist‘, – wie er sich unterzeichnet +– eine leichte Feder!“ +</p> + +<p> +„Der Kopist!“ schrie förmlich Anfissa Petrowna +auf, „das ist doch dieser, der an die Zeitung Briefe +schreibt? Ach, wie ist er doch entzückend! Welch ein +Spiel mit Worten!“ +</p> + +<p> +„Ganz recht, ein Spiel mit Worten. Er spielt, wie +man sagt, mit der Feder. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit +im Satzbau!“ +</p> + +<p> +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +„Ja, aber er ist ein Pedant,“ bemerkte Obnoskin +nachlässig. +</p> + +<p> +„Pedant! gewiß ein Pedant – das bestreite ich +nicht. Aber er ist ein sympathischer Pedant, ein graziöser +Pedant! Natürlich, keine einzige seiner Ideen +hält einer ernsten Kritik stand, aber man läßt sich unwillkürlich +von seiner Leichtigkeit fortreißen! Schön, +es sind leere Worte – ich will es gern zugeben; aber +es sind sympathische, es sind graziöse Worte! Entsinnen +Sie sich vielleicht, wie er in einem literarischen Artikel +erklärte, daß er seine eigenen Güter habe?“ +</p> + +<p> +„Güter?“ griff sofort mein Onkel auf. „Das ist +nicht übel. In welchem Gouvernement?“ +</p> + +<p> +Foma blieb stumm, richtete nur einen aufmerksamen +Blick auf den Hausherrn und fuhr dann im selben Ton +fort: +</p> + +<p> +„Nun sagen Sie mir doch um der gesunden Vernunft +willen: wozu brauche ich, der Leser, zu wissen, daß +er Güter hat? Hat er sie – dann gratuliere ich! Aber +wie lieblich, wie spaßhaft ist es beschrieben! Er sprüht +von Geist, er wirft ihn verschwenderisch um sich! Er +ist ein unerschöpflicher Quell von sprudelndem Geist! +Ja, <em>so</em> muß man schreiben! Ich glaube, daß ich gerade +in dieser Art schreiben würde, wenn ich mich entschließen +wollte, für Zeitschriften zu schreiben ...“ +</p> + +<p> +„Sicherlich sogar noch besser!“ bemerkte ehrerbietig +Jeshowikin. +</p> + +<p> +„Es ist sogar etwas Melodisches im Stil!“ bestätigte +mein Onkel. +</p> + +<p> +Nun aber hielt es Foma nicht mehr aus. +</p> + +<p> +„Oberst,“ hub er an, „dürfte man Sie vielleicht +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +bitten – natürlich mit aller nur möglichen Rücksicht – +sich nicht einzumischen und uns in Ruhe unser Gespräch +beenden zu lassen? Sie können über unsere Gespräche +nicht urteilen, die Themata sind nicht für Sie geschaffen! +So haben Sie doch die Güte, unsere angenehme literarische +Unterhaltung nicht zu unterbrechen. Beschäftigen +Sie sich mit Ihrer Landwirtschaft, trinken Sie Tee, +aber ... kümmern Sie sich nicht um die Literatur ... +sie wird dadurch nicht verlieren, dessen kann ich Sie +versichern!“ +</p> + +<p> +Das war denn doch der Gipfel aller Frechheit! Ich +wußte nicht, wie ich mich beherrschen sollte. +</p> + +<p> +„Aber du hast doch selbst gesagt, Foma, daß sogar +etwas Melodisches im Stil sei,“ versuchte sich mein +Onkel, peinlich berührt, zu verteidigen. +</p> + +<p> +„Gewiß. <em>Ich</em> aber habe es mit Kenntnis der Sache +gesagt, als es angebracht war – und Sie?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, wir haben es mit Verständnis und Verstand +gesagt,“ griff Jeshowikin auf, der Foma Fomitsch +auffällig umschmeichelte. „Verstand haben wir nur so +ein wenig, man muß ihn sich zuweilen leihen; denn zur +Not reicht er noch zu zwei Ministerien, und wenn’s +darauf ankommt, dann werden wir auch noch mit dem +dritten fertig, – jawohl, so steht’s mit uns!“ +</p> + +<p> +„Nun, dann habe ich also wieder etwas Unrichtiges +gesagt!“ sagte mein Onkel und lächelte sein gutmütiges +Lächeln. +</p> + +<p> +„Zum Glück sehen Sie es wenigstens ein,“ bemerkte +Foma. +</p> + +<p> +„Tut nichts, Foma, ich ärgere mich nicht. Ich weiß, +daß du mich wie ein Freund lenken und leiten willst, +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +wie ein Verwandter, ein Bruder ... Das habe ich dir +selbst erlaubt, ich habe dich sogar darum gebeten ... +Das ist ganz recht, ganz recht von dir. Du tust es ja +nur zu meinem Besten! Also hab Dank, ich werde es +mir merken.“ +</p> + +<p> +Meine Geduld war zu Ende. Alles, was ich von +Foma Fomitsch gehört hatte, war mir übertrieben erschienen. +Als ich nun aber selbst alles sah und hörte, +fand meine Verwunderung keine Grenzen. Ich glaubte +mir selbst nicht mehr; eine solche Frechheit, eine so unverschämte +Anmaßung einerseits, und eine so freiwillige +Knechtschaft und so arglose Gutmütigkeit andererseits +begriff ich einfach nicht. Übrigens war mein Onkel +durch diese Dreistigkeit doch auch verwirrt. Das sah +man ihm an, obschon er es zu verbergen suchte. Ich +brannte vor Begier, mit Foma irgendwie aneinander +zu geraten, mit ihm einen Zweikampf auszufechten, ihm +hageldicht die Wahrheit zu sagen – aber mit Überlegenheit +und Temperament, so daß sie ihren Ohren nicht +trauen sollten – und dann möge kommen, was da +kommen wolle! Dieser Gedanke begeisterte mich. Ich +wartete krampfhaft auf eine Gelegenheit, und in der +Erwartung verbog ich gänzlich den Rand meines Hutes, +den ich in der Hand behalten hatte. Die Gelegenheit +aber bot sich nicht: Foma geruhte überhaupt nicht, mich +zu bemerken. +</p> + +<p> +„Es ist wahr, es ist wahr, was du sagst, Foma,“ +fuhr mein Onkel fort, aus allen Kräften bemüht, das +Unangenehme des vorhergegangenen Gespräches wenigstens +durch irgend etwas ein wenig gutzumachen. „Du +trittst damit für die Wahrheit ein, Foma. Ich danke +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +dir. Zuerst muß man eine Sache kennen, und nur dann +kann man urteilen. Ich bereue es. Aber ich bin ja +schon mehr als einmal in eine solche Patsche geraten. +Stell dir vor, Ssergei, ich habe einmal sogar examiniert. +Ihr lacht! Nun ja! Bei Gott, ich habe faktisch examiniert! +Das war so: man forderte mich einmal auf, +in irgendeiner Lehranstalt einem Examen beizuwohnen, +und man setzte mich zusammen mit den Examinatoren +an den großen Tisch, nur so, als Ehrenbezeugung, es +war dort ein überflüssiger Platz. Aber weißt du, ich +sage dir, ich bekam ordentlich Angst, – nein wirklich: +regelrechte Angst erfaßte mich. Wie sollte ich nicht – +denk doch nur: habe doch von keiner einzigen Wissenschaft +auch nur einen Schimmer! Was tun also? Gott im +Himmel, denke ich, jetzt wirst du selbst auch noch an die +Tafel gerufen werden! Nun, dann aber – ging alles +gut vonstatten: ich stellte sogar selbst noch Fragen, +fragte: Wer war Noah? Überhaupt, es wurde vorzüglich +geantwortet. Nachher frühstückten wir noch und tranken +auf das Gedeihen der Anstalt Champagner. Eine vortreffliche +Lehranstalt war’s!“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch und Obnoskin brachen in schallendes +Gelächter aus. +</p> + +<p> +„Aber ich habe ja später auch gelacht!“ rief mein +Onkel dazwischen, lachte selbst mit in seiner Gutmütigkeit +und freute sich, daß er andere erheitert hatte. „Nein, +Foma, wart, ich werde euch alle noch mehr zum Lachen +bringen – ich werde euch erzählen, wie ich einmal hereingefallen +bin ... Stell dir vor, Ssergei, wir standen +damals in Krasnogorsk ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +„Gestatten Sie eine Frage, Oberst: Wird Ihre Geschichte +lang werden?“ unterbrach ihn Foma. +</p> + +<p> +„Ach, Foma! Aber das ist doch eine wundervolle +Geschichte, einfach zum Kranklachen! Hör doch nur zu! +Sie ist gut, bei Gott, sie ist gut!“ +</p> + +<p> +„Ich höre Ihre Geschichten, wenn sie von dieser Art +sind, stets mit Vergnügen an,“ sagte Obnoskin, indem +er sich absichtlich kaum die Mühe gab, ein Gähnen zu +verbergen. +</p> + +<p> +„Tja, man wird also wohl zuhören müssen,“ meinte +Foma resigniert. +</p> + +<p> +„Aber es lohnt sich, bei Gott, Foma! Ich werde +Ihnen erzählen, wie ich einmal hereinfiel, Anfissa Petrowna. +Hör auch du zu, Ssergei: es ist zugleich lehrreich. +Unser Regiment stand damals in Krasnogorsk,“ +begann mein Onkel, strahlend vor Freude, schnell und +eilig, mit unzähligen einleitenden Sätzen, wie es nun +einmal seine Art war, wenn er etwas zur Unterhaltung +seiner Gäste erzählte. „Kaum waren wir angekommen, +da ging’s auch schon am selben Abend ins Theater. +Die Primadonna, Fräulein Kuropatkina, war berückend +schön. Später entfloh sie mit dem Rittmeister Swerkoff, +noch bevor sie das Stück zu Ende gespielt hatte. Der +Vorhang mußte fallen ... Das heißt, dieser Swerkoff +war eine Bestie, trank und spielte; aber eigentlich war +er doch kein Trunkenbold, sondern nur so, – immer +bereit, mit den Kameraden gemütlich zu sein. Wenn er +dann aber einmal ins Trinken kam, dann vergaß er +alles: wo er lebte, in welchem Reich, wie er hieß – +kurz: alles! Im Grunde aber war er ein prächtiger +Junge ... Nun, ich sitze also im Theater. In der +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +Pause gehe ich hinaus ins Foyer, und da treffe ich +zufällig meinen früheren Regimentskameraden, Kornuchoff +... Ein prachtvoller Mensch! Wir hatten uns +seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Nun, er war im +Feuer gewesen, mit Kreuzen behängt – jetzt ist er, wie +ich vor kurzem hörte, schon Wirklicher Staatsrat: er ist +nämlich in den Staatsdienst übergetreten und wird es +noch zu hohem Ansehen bringen ... Nun, versteht sich, +wir freuten uns. Reden dies und das. Neben uns +aber in der Loge sitzen drei Damen: die eine, die links +sitzt, hat ein Gesicht, wie die Welt kein fürchterlicheres +hervorbringen kann ... Später erfuhr ich, daß sie eine +treffliche Dame war, Familienmutter – was will man +mehr – hat den Mann glücklich gemacht ... Nun, +und ich Dummkopf frage Kornuchoff: ‚Sag mal, +Freund, weißt du nicht, was ist denn das da für eine +Vogelscheuche?‘ – ‚Wer?‘ – ‚Na, diese dort links!‘ – +‚Ja so ... das ist meine Cousine.‘ – Pfui Teufel! Man +denke sich meine Situation! Ich will’s natürlich sofort +gutmachen: – ‚Nein doch, nicht diese,‘ sage ich, ‚was du +doch für Augen hast! Diese, die rechts sitzt: wer ist das?‘ +– ‚Das ist meine Schwester.‘ – Verdammte Zucht! +denke ich. Seine Schwester aber war, wie zum Trotz, +eine wahre Rosenknospe, ganz allerliebst, und dazu angekleidet: +Kettchen und Armbänder und Spitzen, – mit +einem Wort, wie so’n Engelchen. Späterhin heiratete +sie einen prächtigen jungen Menschen, einen gewissen +Pychtin; sie war zuerst mit ihm losgezogen und hatte +sich ungefragt trauen lassen; jetzt aber ist alles, wie es +sich gehört, leben gut, die Eltern haben ihre Freude an +ihnen ... Na also –: ‚Nein doch!‘ sage ich unwillig, +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +weiß aber selbst nicht, wo ich mich verkriechen soll, +‚nicht diese! Ich meine jene, die in der Mitte sitzt, – +wer ist das?‘ – ‚Tja, in der Mitte – nun, Freund, +das ist meine Frau ...‘ Unter uns: ein wahrer Leckerbissen, +aber kein Mensch: ihr Anblick allein war schon +ein solches Vergnügen, daß man sie am liebsten heil verschluckt +hätte ... – ‚Nun,‘ sage ich, ‚hast du jemals +einen Dummkopf gesehen? Dann sieh ihn dir jetzt an; +hier ist er, und sein Kopf steht dir gleichfalls zur Verfügung: +köpfe nur zu, brauchst nichts zu bedauern!‘ Er +lachte. Nach der Aufführung machte er mich mit seinen +Damen bekannt, und wahrscheinlich hatte der Schlingel +ihnen schon alles erzählt. Es wurde etwas viel gelacht! +Aber ich muß sagen, ich habe noch nie so lustig die Zeit +verbracht. Nun siehst du, Foma, wie man zuweilen +hereinfallen kann! Ha–ha–ha–ha!“ +</p> + +<p> +Doch vergeblich lachte mein armer Onkel, vergeblich +blickten seine heiteren treuen Augen im Kreise umher: +Schweigen war die Antwort auf seine „lustige“ Geschichte. +Foma Fomitsch saß in finsterer Stummheit da, +und seinem Beispiel folgten pflichtschuldig alle anderen +– nur Obnoskin lächelte kaum merklich, da er die Philippika +voraussah, die meinem armen Onkel bevorstand. +Dieser wurde etwas verlegen und errötete. Das war +es, was Foma gewünscht hatte. +</p> + +<p> +„Sind Sie nun fertig?“ fragte er endlich feierlich. +</p> + +<p> +„Ja, ich bin fertig, Foma.“ +</p> + +<p> +„Und Sie freuen sich?“ +</p> + +<p> +„Das heißt ... wieso, Foma? – wie meinst du +das?“ fragte gleichsam schmerzlich mein Onkel. +</p> + +<p> +„Ist Ihnen jetzt leichter? Sind Sie jetzt zufrieden, +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +da es Ihnen doch gelungen ist, die angenehme literarische +Unterhaltung der Freunde zu stören, indem Sie +sie unterbrachen und so Ihrem kleinlichen Ehrgeiz Genüge +tun konnten?“ +</p> + +<p> +„Aber hör doch auf, Foma! Ich wollte euch alle ja +nur erheitern, du aber ...“ +</p> + +<p> +„Erheitern!“ schrie Foma auf, plötzlich sehr belebt. +„Sie sind ja nur fähig, einen schwermütig zu machen, +aber nicht zu erheitern! Zu erheitern! Begreifen Sie +denn nicht, daß Ihre Erzählung fast unsittlich war? Ich +sage nicht einmal: unanständig – das versteht sich von +selbst ... Sie erklärten soeben mit seltener Gefühlsroheit, +daß Sie über eine Unschuldige gelacht haben, +über eine geborene Aristokratin, und zwar nur deshalb, +weil diese nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen! Und +uns, uns wollen Sie veranlassen zu lachen, mit anderen +Worten: uns wollten Sie verleiten, einer rohen und +unanständigen Tat Beifall zu spenden, und das alles +nur deshalb, weil Sie hier der Hausherr sind! Tun Sie, +was Sie wollen, Oberst, Sie können sich Schmarotzer, +Speichellecker und Partner jeder Art zusammensuchen, +Sie können sie sogar aus fernen Landen verschreiben und +auf diese Weise Ihre Suite vergrößern, zum Nachteil +der Gesinnungstüchtigkeit und des Edelsinnes aller noch +reinen Herzen. Niemals aber wird Foma Opiskin +weder ein Schmeichler, noch ein Speichellecker, noch Ihr +Gnadenbrotesser sein! Wenn auch sonst nichts, dieses +aber können Sie mir glauben: dessen versichere ich +Sie ...!“ +</p> + +<p> +„Ach, Foma, du hast mich ja gar nicht verstanden, +Foma!“ +</p> + +<p> +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +„Nein, Oberst, ich bin schon lange hinter Ihr +wahres Wesen gekommen, ich durchschaue Sie vollkommen. +An Ihnen nagt grenzenlose Eigenliebe: Sie +machen Ansprüche auf unübertrefflichen Witz, und Sie +vergessen, daß Ansprüche den Geist stumpf machen – +Sie ...“ +</p> + +<p> +„Um Gottes willen, Foma, laß es doch gut sein! +Schäm dich doch wenigstens vor den anderen ...!“ +</p> + +<p> +„Aber es ist doch traurig, so etwas mit ansehen zu +müssen, Oberst, und wenn man es sieht, kann man nicht +schweigen. Ich bin arm, ich lebe bei Ihrer Frau +Mutter. Da könnte man ja glauben, daß ich durch mein +Schweigen mich bei Ihnen einschmeicheln wollte. Ich +aber will nicht, daß mich der erste beste <em>Grünschnabel</em> +für Ihren Gnadenbrotesser hält! Vielleicht +habe ich vorhin, als ich hier eintrat, absichtlich meine +wahrheitsliebende Offenheit betont und unterstrichen, +ich war <em>gezwungen</em>, sie bis zur Grobheit zu treiben, +eben weil Sie selbst belieben, mich in eine solche Lage +zu bringen. Sie gehen gar zu anmaßend mit mir um, +Oberst. So kann man mich ja für Ihren Sklaven, +Ihren Schmarotzer, Ihren Speichellecker halten! Es +scheint Ihnen Vergnügen zu bereiten, mich vor <em>Unbekannten</em> +zu erniedrigen, während ich Ihnen gleichstehe +– hören Sie? – in jeder Beziehung gleichstehe! +Vielleicht bin sogar <em>ich</em> es, der Ihnen damit einen +Dienst erweist, daß ich bei Ihnen lebe ... und es ist +nicht so, daß <em>Sie</em> mir einen erweisen. Man erniedrigt +mich, folglich muß ich mich vor Ihnen loben – das ist +nur natürlich! Ich darf nicht schweigen, ich muß +sprechen, ich muß unverzüglich protestieren; denn ich +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +erkläre Ihnen offen und einfach, daß Sie phänomenal +neidisch sind! Sie sehen, zum Beispiel, daß ein Mensch +in einem einfachen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich +sein Wissen, seine Belesenheit, seinen guten +Geschmack bewiesen hat: und schon ärgern Sie sich, Sie +ertragen es nicht: ‚Wart, jetzt werde auch ich schnell +meine Kenntnisse, meinen guten Geschmack zeigen!‘ denken +Sie sogleich. Aber was haben Sie denn für einen +Geschmack, mit Erlaubnis zu fragen? Vom Geschmack +verstehen Sie ebensoviel wie – verzeihen Sie, Oberst +– wie zum Beispiel, sagen wir, ein Ochs von Rindfleisch! +Das ist schroff und grob ausgedrückt – ich gebe +es selbst zu ... aber es ist wenigstens offenherzig und +gerecht. So etwas würden Sie von Ihren Schmeichlern +nicht hören, Oberst.“ +</p> + +<p> +„Ach, Foma ...!“ +</p> + +<p> +„Das ist’s ja: ‚Ach, Foma!‘ Man sieht, die Wahrheit +ist kein Daunenkissen. Nun gut. Wir werden darauf +noch später zu sprechen kommen, jetzt aber erlauben Sie +auch mir einmal, das Publikum zu erheitern. Sie +können sich doch nicht immer nur allein auszeichnen. +Pawel Ssemjonytsch! Haben Sie dieses Meerungeheuer +in Menschengestalt schon gesehen? Ich beobachte ihn +schon geraume Zeit. Sehen Sie ihn sich nur aufmerksam +an: er würde mich mit Vergnügen verschlingen, +lebendig, mit Haut und Haaren!“ +</p> + +<p> +Er sprach von Gawrila. Der alte Diener stand +an der Tür und hörte allerdings mit tiefem Herzeleid +zu, wie seinem Herrn „der Kopf gewaschen“ +wurde. +</p> + +<p> +„Auch ich will Sie mit einem Schaustück belustigen, +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +Pawel Ssemjonytsch. – He, du, Krähe, komm her! +Aber so geruhen Sie doch, sich hierherzubemühen, Gawrila +Ignatjitsch! Das ist, wie Sie sehen, Gawrila, der +zur Strafe für seine Grobheit Französisch lernt. Ich +mildere wie Orpheus die hiesigen Sitten, nur tue ich +es nicht mit Liedern, sondern mittels der französischen +Sprache. Nun, mein Franzose, mßjö Schematon – +er kann es nicht leiden, wenn man mßö Schematon zu +ihm sagt – hast du deine Aufgabe gelernt?“ +</p> + +<p> +„Habe sie gelernt,“ antwortete Gawrila mit gesenktem +Kopf. +</p> + +<p> +„Nun, parleh-wu-franßeh?“ +</p> + +<p> +„Wui mßö, shö-lö-parl-ön-pö ...“ +</p> + +<p> +Ich weiß nicht, war die traurige Miene Gawrilas +beim Aussprechen der französischen Phrase die Ursache, +oder hatten alle den Wunsch Fomas erraten – jedenfalls +ertönte eine schallende Lachsalve, kaum daß Gawrila +den Mund aufgetan hatte. Sogar die Generalin +geruhte zu lachen. Anfissa Petrowna Obnoskina warf +sich an die Sofalehne zurück und wieherte geradezu, das +Gesicht mit dem Fächer bedeckt. Gawrila aber, als +er sah, welche Wendung das Examen nahm, riß die Geduld, +er spie plötzlich aus und sagte: +</p> + +<p> +„Daß ich in meinen alten Jahren eine solche +Schande erleben muß!“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch fuhr auf: +</p> + +<p> +„Was? Was hast du gesagt? Du läßt es dir einfallen, +frech zu werden?“ +</p> + +<p> +„Nein, Foma Fomitsch,“ antwortete Gawrila ernst, +„meine Worte sind keine Frechheit, und mir, dem Leibeigenen, +steht es nicht zu, gegen Euch, der Ihr als Freier +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +geboren seid, unehrerbietig zu sein. Aber jeder Mensch +trägt Gottes Geist in sich und ist sein Ebenbild. Ich +stehe im dreiundsechzigsten Lebensjahr. Mein Vater +erinnert sich noch Pugatschoffs<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>, und mein Großvater +ist mit Matwei Nikititsch – Gott hab ihn selig! – +also zusammen mit seinem gnädigen Herrn von Pugatschoff +an ein und demselben Galgen erhängt worden, +wofür mein Vater vom seligen Herrn Afanassij Matwejitsch +mehr als alle anderen ausgezeichnet wurde: er +diente als Kammerdiener und starb als freier Hofbauer. +Ich aber, Herr, bin wohl nur ein herrschaftlicher Leibeigener, +aber eine solche Schande, wie jetzt, habe ich +bis heute noch nicht erlebt!“ +</p> + +<p> +Bei den letzten Worten führte Gawrila seine herabhängenden +Hände auseinander und senkte den Kopf. +Mein Onkel sah ihn unruhig an. +</p> + +<p> +„Schon gut, schon gut, Gawrila!“ rief er ihm zu, +„wozu so viel reden! Schon gut!“ +</p> + +<p> +„Tut nichts, tut nichts,“ sagte Foma, der ein wenig +erbleicht war und sich zu einem Lächeln zwang. „Mag +er nur reden: das sind ja doch nur Ihre Früchte ...“ +</p> + +<p> +„Ich werde jetzt einmal alles sagen,“ fuhr Gawrila +fort, in den plötzlich irgendein Geist gefahren zu sein +schien, – „alles sagen und nichts beschönigen! Und +wenn man mir auch die Hände binden wird – meine +Zunge kann man mir doch nicht binden. Ich weiß, Foma +Fomitsch, daß ich vor Euch nur ein niedriger Mensch +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +bin, ein Knecht, aber auch ich hab mein Ehrgefühl! Zu +Dienstbarkeit bin ich Euch für alle Zeit verpflichtet, da +ich als Unfreier geboren bin und jede Pflicht in Furcht +gewissenhaft erfüllen muß. Wenn Ihr Euch einschließt, +um ein Buch zu schreiben, so ist es meine Pflicht, daß +ich Wache stehe und keinen zu Euch lasse, weil Ihr mir +das so angesagt und befohlen habt. Und wenn Ihr +Bedienung verlangt – ich tue alles gern. Nicht aber, +daß ich in meinen alten Tagen noch wie ein Ausländer +bellen und vor den Menschen mir solche Schmach und +Schande antun lassen muß! Wage ich es doch jetzt nicht +mehr, in die Gesindestube zu gehen: ein Franzose bist du, +sagen sie mir alle, guten Tag, Herr Franzose! Nein, +Foma Fomitsch, nicht ich Dummkopf allein, sondern alle +guten Leute sagen dasselbe: daß Ihr jetzt wahrhaftig +ein böser Mensch geworden seid, und daß unser Herr +so gut wie ein kleines Kind zu Euch sind, und daß Ihr, +wenn Ihr auch von Geburt so viel wie ein Generalssohn +seid und es vielleicht selbst nicht viel weniger weit als bis +zum General gebracht habt, so doch ebendasselbe seid, +was man eine Furie nennt.“ +</p> + +<p> +Gawrila hatte zu Ende geredet. Ich war außer mir +vor Entzücken. Foma Fomitsch saß bleich und vor Wut +regungslos da, inmitten der allgemeinen Bestürzung, +und schien nach diesem unerwarteten Angriff noch nicht +zur Besinnung kommen zu können. Es war, als überlegte +er, in welchem Maße er sich ärgern sollte, bis zu +welchem Grade es richtig wäre, sich zu ärgern. Endlich +erfolgte der erste Aufschrei. +</p> + +<p> +„Wie!“ kreischte er auf. „Er hat es gewagt, mich +zu beschimpfen! – mich! Aber das ist doch Rebellion!“ +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +schrie Foma, vom Stuhl emporschnellend, mit der +Stimme eines alten Weibes. +</p> + +<p> +Seinem Beispiel folgte sogleich die Generalin: sie +schlug sogar die Hände zusammen. Mein Onkel bemühte +sich, den verbrecherischen Gawrila aus dem +Gesichtskreise zu schaffen. +</p> + +<p> +„Fesselt ihn, fesselt ihn! Legt ihn in Ketten!“ schrie +die Generalin. „Laß ihn sofort in die Stadt bringen +und gib ihn unter die Soldaten, Jegoruschka! Sonst +versage ich dir meinen Muttersegen! Laß ihm sofort +Fußfesseln anlegen – und dann unter die Soldaten!“ +</p> + +<p> +„Wie!“ schrie Foma, „dieser Knecht! dieser Chaldäer! +dieser Hamlet! Er hat sich unterstanden, mich zu +beschimpfen! Er, er, mein Schuhputzlappen! Er hat es +gewagt, mich eine Furie zu nennen!“ +</p> + +<p> +Da trat ich plötzlich entschlossen vor. +</p> + +<p> +„Ich muß gestehen, in diesem Fall bin ich vollkommen +derselben Meinung wie Gawrila,“ sagte ich, zitternd +vor Aufregung, und blickte Foma offen in die +Augen. +</p> + +<p> +Dieses Auftreten meinerseits machte ihn so bestürzt, +daß er im ersten Augenblick, glaube ich, seinen Ohren +nicht traute. +</p> + +<p> +„Was soll denn das bedeuten!“ brachte er endlich +hervor, stürzte wie rasend ein paar Schritte vor und +durchbohrte mich gerader mit seinen kleinen, blutunterlaufenen +Augen. „Was bist du denn für einer?!“ +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch ...“ wollte mein Onkel, der selbst +nicht wußte, wo sein Kopf stand, einlenken, „Foma +Fomitsch, das ist Sserjosha, mein Neffe ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +„Der Gelehrte!“ brüllte Foma auf, „das ist also +jener <em>Gelehrte</em>! Liberté – Egalité – Fraternité! +Journal des Débats! Nein, du lügst! Hier ist nicht +Petersburg, hier kannst du nicht betrügen! Hol der +Teufel deine Débats! Bei dir heißt es Débats, bei uns +aber Kabbala! Gelehrter! Ich habe siebenmal mehr +vergessen, als du überhaupt weißt! Was weißt du denn +überhaupt?“ ... +</p> + +<p> +Wenn man ihn nicht gehalten hätte, so würde er +sich wahrscheinlich mit den Fäusten auf mich gestürzt +haben. +</p> + +<p> +„Aber er ist ja betrunken!“ sagte ich, mich im Kreise +umblickend. +</p> + +<p> +„Wer? <em>Ich?!</em>“ schrie Foma mit einer noch nie +gehörten Stimme. +</p> + +<p> +„Ja, Sie!“ +</p> + +<p> +„Betrunken?“ +</p> + +<p> +„Gewiß: betrunken!“ +</p> + +<p> +Das war zu viel für ihn. Er stieß einen Schrei aus, +als wenn er aufgespießt worden wäre, und stürzte aus +dem Zimmer. Die Generalin wollte, wie es schien, in +Ohnmacht fallen, sagte sich aber, daß es besser wäre, +Foma Fomitsch nachzueilen. Ihr folgten alle anderen, +– und allen anderen folgte auch mein Onkel. Als ich +wieder zu mir kam und mich umsah, fand ich im Zimmer +außer mir nur noch Jeshowikin. Er lächelte und rieb +sich die Hände. +</p> + +<p> +„Von den Jesuiten versprachen Sie mir zu erzählen,“ +sagte er mit einschmeichelnder Stimme. +</p> + +<p> +„Was?“ fragte ich, da ich nicht begriff, wovon er +sprach. +</p> + +<p> +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +„Von den Jesuiten versprachen Sie vorhin zu erzählen +... eine Anekdote ...“ +</p> + +<p> +Ich ließ ihn stehen und eilte hinaus auf die Terrasse +und von dort in den Garten. In meinem Kopf drehte +sich alles durcheinander ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-11"> +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +<span class="firstline">VIII.</span><br> +Die Liebeserklärung. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">ohl</span> über eine Viertelstunde irrte ich, aufgebracht +und äußerst unzufrieden mit mir, im Garten umher. +Was sollte ich tun? Die Sonne stand schon tief im +Westen ... Ich bog in eine dunkle Allee ein – und +plötzlich stand Nastenjka vor mir. In ihren Augen +blitzten Tränen. In der Hand zusammengeballt hielt sie +ein Taschentuch. +</p> + +<p> +„Ich habe Sie gesucht,“ sagte sie. +</p> + +<p> +„Und ich Sie,“ antwortete ich. „Sagen Sie, ich +bitte Sie: bin ich hier in einer Irrenanstalt?“ +</p> + +<p> +„Durchaus nicht!“ war die Antwort. Sie schien +gekränkt zu sein und sah mich streng an. +</p> + +<p> +„Aber wenn es nicht der Fall ist, warum geschieht +dann das alles? Geben Sie mir doch um Gottes willen +eine Erklärung, einen Rat! Wohin ist mein Onkel jetzt +gegangen? Kann ich nicht zu ihm gehen? Es freut mich +sehr, daß ich Sie getroffen <a id="corr-9"></a>habe, vielleicht werden Sie +mich wenigstens über einiges aufklären.“ +</p> + +<p> +„Nein, gehen Sie jetzt nicht hin. Ich bin selbst fortgegangen +...“ +</p> + +<p> +„Aber wo sind sie denn jetzt alle?“ +</p> + +<p> +„Weiß ich es!? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten +gelaufen,“ sagte sie gereizt. +</p> + +<p> +„In welch einen Gemüsegarten?“ +</p> + +<p> +„In der vergangenen Woche schrie Foma Fomitsch, +daß er nicht mehr in diesem Hause bleiben wolle, und +plötzlich lief er in den Gemüsegarten, fand im Schuppen +glücklich einen Spaten und begann Beete zu graben. +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +Wir wunderten uns alle und glaubten schon, daß er verrückt +geworden sei. ‚Ich werde Erde schaufeln,‘ sagte +er, ‚damit man mir später nicht vorwerfen kann, daß +ich umsonst hier gelebt und gegessen habe. Wenn ich +aber das gegessene Brot mit meiner Hände Arbeit bezahlt +haben werde, dann werde ich mich aufmachen und +fortgehen. So weit hat man mich gebracht!‘ Da aber +weinten alle, und viel fehlte nicht, so wären sie vor ihm +niedergekniet. Den Spaten wollten sie ihm mit Gewalt +fortnehmen. Er aber grub und grub drauflos. Alle +Rüben hat er umgegraben. Ist man ihm damals so begegnet, +so wird er, denke ich, jetzt vielleicht dasselbe tun. +Von ihm ist alles zu erwarten.“ +</p> + +<p> +„Und Sie ... Sie erzählen das so kaltblütig!“ rief +ich in heftigem Unwillen aus. +</p> + +<p> +Da sah sie mich mit aufblitzenden Augen von der +Seite an. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie mir: ich weiß eigentlich gar nicht +mehr, was ich rede! ... Wissen Sie, weshalb ich hergekommen +bin?“ +</p> + +<p> +„N–ein,“ antwortete sie errötend, und ein gewisses +peinliches Gefühl spiegelte sich auf ihrem lieblichen +Gesicht wider. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie mir;“ fuhr ich fort, „ich bin jetzt +ganz aus dem Konzept gebracht, und ich fühle, daß ich +nicht in dieser Weise hätte anfangen sollen, davon zu +sprechen ... namentlich mit Ihnen nicht ... Aber, +gleichviel! Ich glaube, Offenheit ist in solchen Dingen +immer das beste. Ich gestehe ... das heißt, ich wollte +sagen ... Sie kennen doch die Absicht meines Onkels? +Er wünscht, daß ich um Ihre Hand anhalte ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +„Ach, welch ein Unsinn! Sprechen Sie nicht davon, +ich bitte Sie!“ unterbrach sie mich heftig, während sie +heiß errötete. +</p> + +<p> +Ich war baff. +</p> + +<p> +„Wieso: – Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!“ +</p> + +<p> +„Hat er es Ihnen wirklich so ohne weiteres geschrieben?“ +fragte sie lebhaft. „Ach, er ist doch! ... +Wie hat er mir dann versprechen können, daß er es +<em>nicht</em> schreiben werde! ... Welch ein Unsinn! Gott, +welch ein Unsinn!“ +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie,“ stotterte ich, da ich nicht wußte, +was ich sagen sollte. „Vielleicht war es unvorsichtig +von mir, vielleicht sogar roh ... Aber wer kann denn +hier, nach diesen Erlebnissen ... Denken Sie doch nur, +von ... weiß Gott was für Menschen und Plänen wir +umringt sind ...“ +</p> + +<p> +„Ach, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich doch +nicht! Glauben Sie mir, daß es mir ohnehin schwer +ist, davon reden zu hören; aber ich habe Sie gesucht, um +von Ihnen etwas zu erfahren ... Ach, wie ärgerlich! +So hat er es Ihnen also wirklich geschrieben? Das +fürchtete ich ja am meisten! Mein Gott, was ist denn +das für ein Mann! ... Und Sie glaubten natürlich +sofort alles und kamen stehenden Fußes hergefahren? +Das war gerade noch nötig!“ +</p> + +<p> +Sie verbarg ihren Ärger nicht im geringsten. Meine +Lage war nichts weniger als beneidenswert. +</p> + +<p> +„Offen gestanden, ich hatte nicht erwartet ...“ +brachte ich in größter Verwirrung hervor. „Eine solche +Wendung ... ich glaubte, im Gegenteil ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +„Ah, also Sie glaubten?“ fragte sie mit leichter +Ironie und biß sich die Lippe. „Wissen Sie – zeigen +Sie mir den Brief, den er an Sie geschrieben hat?“ +</p> + +<p> +„Wie Sie wünschen.“ +</p> + +<p> +„Aber bitte seien Sie mir nicht böse, nehmen Sie +es mir nicht übel! Es gibt ja auch ohnehin schon Leid +genug!“ fuhr sie mit bittender Stimme fort, doch erschien +schon wieder ein spöttisches Lächeln flüchtig auf +ihren reizenden Lippen. +</p> + +<p> +„Ach, halten Sie mich bitte nicht für so dumm!“ +rief ich leidenschaftlich aus. „Sie sind vielleicht voreingenommen +gegen mich? Vielleicht hat Ihnen jemand +Schlechtes von mir erzählt? – Oder vielleicht – weil +ich dort heute so schlecht abgeschnitten habe? Aber das +ist ja nichts, – ich versichere Sie! Ich begreife sehr +gut, für wie dumm Sie mich jetzt halten müssen. Aber +lachen Sie, bitte, nicht über mich! Ich weiß nicht, was +ich rede ... Aber das kommt ja alles nur daher, daß +ich in diesem verwünschten Alter von zweiundzwanzig +Jahren stehe!“ +</p> + +<p> +„Oh, mein Gott, was hat das damit zu tun?“ +</p> + +<p> +„Wie, was das damit zu tun hat? Aber wer zweiundzwanzig +Jahre alt ist, dem steht ja die Jugend noch +auf der Stirn geschrieben! Zum Beispiel wie mir, als +ich vorhin so wider Willen in die Mitte des Zimmers +flog, oder wie jetzt ... hier vor Ihnen ... Oh, dieses +verwünschte Alter!“ +</p> + +<p> +„Oh, nein, nein!“ beteuerte Nastenjka, die sich kaum +das Lachen verbeißen konnte. „Ich bin überzeugt, daß +Sie ein guter, lieber und kluger Mensch sind. – Sie +können mir glauben, daß ich es aufrichtig meine! +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +Aber ... Sie sind nur sehr ... ehrgeizig, sehr ... +eigenliebig. Doch das kann man sich ja noch abgewöhnen.“ +</p> + +<p> +„Ich glaube, daß ich nicht ehrgeiziger als nötig bin!“ +</p> + +<p> +„N ... das doch wohl nicht. Was war es denn vorhin, +als Sie so verlegen wurden – und weshalb? Weil +Sie beim Eintritt gestolpert waren! ... Welches Recht +hatten Sie da, Ihren guten Onkel, der so viel für Sie +getan hat, lächerlich zu machen? Warum wollten Sie +das Lächerliche auf ihn abwälzen, während Sie selbst +lächerlich waren? Das war schlecht, das war häßlich +von Ihnen! Das machte Ihnen wahrlich keine Ehre +und – ich sage es Ihnen ganz offen – Sie waren mir +in jenem Augenblick sehr unsympathisch – jawohl, damit +Sie’s wissen!“ +</p> + +<p> +„Sie haben recht! Ich war ein großer Esel! Sogar +mehr als das: ich beging einfach eine Gemeinheit! +Meine Strafe dafür ist – daß Sie es bemerkt haben! +Schelten Sie mich, lachen Sie über mich, aber hören +Sie mich an: vielleicht werden Sie Ihre Meinung von +mir doch einmal ändern,“ fuhr ich fort, beherrscht von +einem ganz eigenartigen Gefühl; „Sie kennen mich noch +so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich näher kennen +gelernt haben werden, vielleicht ...“ +</p> + +<p> +„Um Gottes willen, lassen wir dieses Gespräch!“ +unterbrach mich Nastenjka mit sichtlicher Ungeduld. +</p> + +<p> +„Gut, gut, lassen wir es! Aber ... wo kann ich +Sie wiedersehen?“ +</p> + +<p> +„Wie das – wo wiedersehen?“ +</p> + +<p> +„Aber es kann doch nicht sein, daß wir jetzt hier das +letzte Wort miteinander gesprochen haben sollen, +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +Nastassja Jewgrafowna! Ich flehe Sie an, mir zu +sagen, wo und wann ich Sie wiedersehen kann, wenn +möglich heute noch! Übrigens nein, es dunkelt ja schon. +Nun, dann also, wenn es irgend geht, morgen früh, so +früh wie möglich ... Ich werde mich früher wecken +lassen. Wissen Sie, dort am Weiher ist eine Laube. +Ich entsinne mich ihrer noch sehr gut und ich werde +auch schon den Weg dorthin finden. Ich habe ja als +kleiner Junge hier gelebt.“ +</p> + +<p> +„Aber wozu dieses Rendezvous? Wir sprechen doch +schon miteinander!“ +</p> + +<p> +„Aber ich weiß ja vorläufig noch nichts, Nastassja +Jewgrafowna! Ich muß vorher noch mit meinem Onkel +reden. Er muß mir doch endlich alles erzählen, und +dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges +sagen ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein! Das ist nicht nötig, gar nicht nötig!“ +rief Nastenjka aus. „Lassen Sie es uns jetzt zu einem +Ende bringen, aber so, daß wir später kein Wort mehr +darüber zu verlieren brauchen. In jene Laube aber bemühen +Sie sich nicht. Ich versichere Sie, daß ich nicht +kommen werde. Bitte, schlagen Sie sich doch diesen +ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie allen +Ernstes darum ...“ +</p> + +<p> +„Dann ist ja mein Onkel verrückt gewesen, als er +jenen Brief schrieb!“ rief ich in unerträglichem Ärger +aus. „Warum hat er mich denn hergerufen? Doch +– Hören Sie? – Was ist das für ein Geschrei?“ +</p> + +<p> +Wir waren nicht weit vom Hause stehen geblieben. +Aus den offenen Fenstern drangen Gekreisch und ganz +absonderliche Schreie in den Garten. +</p> + +<p> +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +„Mein Gott!“ sagte sie erbleichend, „schon wieder! +Ich ahnte es ja!“ +</p> + +<p> +„Sie ahnten es? Gestatten Sie mir noch eine Frage, +Nastassja Jewgrafowna? Ich habe allerdings nicht das +geringste Recht, sie zu stellen, aber des allgemeinen +Wohles wegen entschließe ich mich dazu. Sagen Sie +– es soll in mir begraben sein – sagen Sie mir ganz +offen: ist mein Onkel in Sie verliebt?“ +</p> + +<p> +„Ach glauben Sie doch, bitte, nicht an solchen Unsinn!“ +rief sie heftig aus und errötete vor Unwillen. +„Nun fangen auch Sie damit an! Wenn er mich lieben +würde, so hätte er mich doch nicht Ihnen angeboten,“ +fügte sie mit bitterem Lächeln hinzu. „Und wie kommen +Sie überhaupt darauf? Begreifen Sie denn wirklich +nicht, um was es sich hier handelt? Hören Sie dieses +Geschrei?“ +</p> + +<p> +„Aber ... das ist ja Foma Fomitsch ...“ +</p> + +<p> +„Natürlich Foma Fomitsch! Jetzt streiten sie sich +dort um meinetwillen; denn sie sagen ja dasselbe, was +Sie soeben sagten, denselben Unsinn: sie argwöhnen, +daß er in mich verliebt sei! Und da ich arm und gering +bin, und es folglich nichts kostet, mich mit Schmutz zu +bewerfen, so wollen sie ihn mit einer anderen verheiraten +– und daher verlangen sie, daß er mich zur Sicherheit +nach Haus, zu meinem Vater schicke. Wenn man ihm +aber damit kommt, so gerät er sofort außer sich – ich +glaube, er wäre sogar fähig, Foma Fomitsch zu zerreißen. +Und nun streiten sie sich wieder darum! Ich +fühle es, daß es sich wieder um mich handelt.“ +</p> + +<p> +„So ist also alles wahr? Dann wird er diese +Tatjana heiraten?“ +</p> + +<p> +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +„Was für eine Tatjana?“ +</p> + +<p> +„Nun, dieses verrückte Frauenzimmer.“ +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie, Tatjana Iwanowna ist durchaus +nicht verrückt! Sie ist ein sehr guter Mensch. Und Sie +haben kein Recht, so von ihr zu sprechen! Sie hat ein +edles Herz, ein edleres, als es manch einer hat. Sie ist +nicht schuld daran, daß sie unglücklich ist.“ +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie. Nehmen wir an, daß Sie hierin +vollkommen recht haben; aber täuschen Sie sich dann +nicht in der Hauptsache? Wie kommt es denn, sagen +Sie doch, – daß zum Beispiel Ihr Herr Vater, wie ich +bemerkt habe, so freundlich von ihnen empfangen wird! +Denn – wenn sie sich wirklich dermaßen über Sie +ärgerten, wie Sie versichern, und wenn man Sie sogar +aus dem Hause schicken wollte, dann würde man sich +doch auch über ihn ärgern und ihn schlecht empfangen.“ +</p> + +<p> +„Aber haben Sie denn nicht gesehen, was mein +Vater für mich tut? Er erniedrigt sich doch bis zum +Narren vor ihnen! Er wird nur deshalb empfangen, +weil er Foma Fomitsch schmeichelt; da dieser Foma Fomitsch +selbst eine Narrenrolle gespielt hat, so freut es +ihn, wenn nun auch er seine Narren hat. Was glauben +Sie denn, warum mein Vater es tut? – Nur um +meinetwillen, einzig und allein für mich tut er es! Er +hat es nicht nötig, seinetwegen wird er keinem einen +unnützen Bückling machen. Vielleicht erscheint er manchem +sehr lächerlich; ich weiß aber, daß er der ehrenhafteste +und edelste Mensch ist. Er glaubt, weiß Gott +aus welchem Grunde – jedenfalls aber nicht deshalb, +weil ich hier ein gutes Gehalt bekomme – das schwöre +ich Ihnen ...! er glaubt, daß es für mich besser sei, +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +wenn ich in diesem Hause bleibe. Aber jetzt habe ich +ihn vom Gegenteil überzeugt. Ich hatte ihm in sehr +bestimmtem Ton geschrieben; und deshalb ist er heute +hergekommen, um mich mitzunehmen. Und wenn es +darauf ankommt, so fahre ich morgen fort. Ich bin ja +doch schon zum Äußersten getrieben. Die da – die +würden froh sein, wenn sie mich verschlingen könnten. +Ich weiß, daß ich die Ursache ihres Streites bin. Sie +zermalmen <em>ihn</em> nur deswegen, und nur weil ich hier +bin, werden sie <em>ihn</em> unglücklich machen! <em>Er</em> aber ist +mir ein zweiter Vater, hören Sie! – sogar mehr als +mein leiblicher Vater! Ich will es nicht so weit kommen +lassen. Ich sehe weiter voraus als andere; denn ich +weiß mehr. Nein, morgen, morgen noch werde ich fortfahren! +Vielleicht werden sie dann wenigstens seine +Hochzeit mit Tatjana Iwanowna auf einige Zeit noch +hinausschieben ... Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt. +Und nun sagen Sie ihm das wieder; denn ich kann jetzt +nicht mehr mit ihm sprechen: wir werden beobachtet ... +von der Perepelizyna. Sagen Sie <em>ihm</em>, daß er sich +nicht beunruhigen soll, daß ich lieber schwarzes Brot +essen und in der Hütte meines Vaters leben, als die +Ursache <em>seiner</em> Folter sein will. Ich bin arm und +folglich muß ich auch so leben wie Arme. Aber, Gott, +welch ein Geschrei! Was mag dort wieder vor sich +gehen? ... Nein, was daraus auch entstehen mag, ich +gehe hin! Ich werde ihnen alles offen ins Gesicht +sagen, gleichviel, was dann geschieht! Ich muß es tun! +Leben Sie wohl.“ +</p> + +<p> +Sie lief fort. Ich stand immer noch auf demselben +Fleck, war mir vollkommen der Lächerlichkeit der Rolle, +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +die ich soeben gespielt hatte, bewußt und konnte mir +nicht denken, wie sich der Knoten lösen sollte. Das +arme Mädchen tat mir aufrichtig leid, und ich fürchtete +für meinen Onkel. Da bemerkte ich plötzlich, daß +Gawrila vor mir stand. Er hielt immer noch sein +Vokabelheft in der Hand. +</p> + +<p> +„Jegor Iljitsch lassen bitten,“ sagte er mit wehmütiger +Stimme. +</p> + +<p> +Da kam ich wieder zur Besinnung. +</p> + +<p> +„Wie – ich soll zu meinem Onkel? Wo ist er jetzt? +Was ist mit ihm geschehen? Wo ist er?“ +</p> + +<p> +„Im Teezimmer.“ +</p> + +<p> +„Und wer ist bei ihm?“ +</p> + +<p> +„Sie sind allein und warten.“ +</p> + +<p> +„Auf wen? Auf mich?“ +</p> + +<p> +„Sie haben nach Foma Fomitsch geschickt ... Ach +ja! unsere guten Tage sind jetzt gewesen!“ fügte er tief +aufseufzend hinzu. +</p> + +<p> +„Nach Foma Fomitsch? Hm! Aber wo sind die +anderen? Wo ist die Gnädige?“ +</p> + +<p> +„Sie sind in ihrer Hälfte. Sie geruhten, in Ohnmacht +zu fallen, und jetzt liegen sie bewußtlos da und +weinen.“ +</p> + +<p> +Inzwischen hatten wir die Terrasse erreicht. Es war +fast schon ganz dunkel. Mein Onkel war tatsächlich +ganz allein im Teesalon und ging in ihm mit großen +Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten Lichter. +Als er mich erblickte, eilte er mir entgegen und erfaßte +meine Hände. Er war bleich und atmete schwer. Seine +Hände bebten. Von Zeit zu Zeit lief ein nervöses +Zucken über seinen ganzen Körper. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-12"> +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +<span class="firstline">IX.</span><br> +„Ew. Exzellenz.“ +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Freund! Alles ist zu Ende, alles ist zu Ende!“ +sagte mein Onkel halblaut mit einer fast tragischen +Stimme. +</p> + +<p> +„Onkel ... ich hörte vorhin eigentümliche Schreie.“ +</p> + +<p> +„Gewiß, Freund, eigentümliche Schreie, – hier hat +es alle möglichen Schreie gegeben! Mama ist in Ohnmacht +gefallen, und dort steht jetzt alles auf dem Kopf. +Aber ich habe mich entschlossen und bestehe auf dem +meinen. Jetzt fürchte ich nichts mehr, Ssergei. Ich +will ihnen beweisen, daß auch ich Charakter habe, und +ich werde es beweisen! Darum habe ich absichtlich nach +dir geschickt, damit du mir hilfst, es ihnen zu beweisen +... Mein Herz ist wund, mein junger Freund +... aber ich muß! Es ist geradezu meine Pflicht, mit +aller Strenge vorzugehen! Gerechtigkeit ist unerbittlich!“ +</p> + +<p> +„Aber was ist denn vorgefallen, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Ich trenne mich von Foma,“ antwortete mein +Onkel mit entschlossener Stimme. +</p> + +<p> +„Onkel!“ rief ich begeistert aus, „auf etwas Besseres +hätten Sie ja überhaupt nicht verfallen können! +Und wenn ich nur irgendwie zur Ausführung Ihres +Entschlusses beitragen kann, so ... verfügen Sie ewig +über mich!“ +</p> + +<p> +„Ich danke dir, Freund, ich danke dir! Aber jetzt +ist alles beschlossen. Ich erwarte Foma. Ich habe schon +nach ihm geschickt. Entweder er oder ich! Wir müssen +auseinandergehen. Entweder verläßt Foma morgen +das Haus, oder – ich schwöre es – ich verlasse hier +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +alles und trete wieder in mein Husarenregiment ein! +Mich wird man schon nehmen. Man wird mir schon +einen Platz geben! Zum Teufel mit diesem ganzen +System! Jetzt geht es nach neuen Grundsätzen! ... +Wozu hältst du da noch immer dein französisches Heft +in der Hand?“ schrie er plötzlich heftig den alten +Gawrila an. „Fort damit! Verbrenn es, zerstampf es, +zerreiß es! <em>Ich</em> bin dein Herr, und <em>ich</em> befehle dir, +französisch nicht zu lernen! <em>Mir</em> mußt du gehorchen; +denn <em>ich</em> bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!“ +</p> + +<p> +„Gott sei gelobt und gedankt!“ murmelte Gawrila +vor sich hin. +</p> + +<p> +Die Sache schien wirklich ernst zu werden. +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ fuhr mein Onkel mit tiefem Gefühl +fort, „sie verlangen Unmögliches von mir! Du +sollst mich richten, du sollst jetzt zwischen ihnen und mir +wie ein unparteiischer Richter stehen ... Du weißt +nicht, du weißt nicht, was sie von mir wollten, und +was sie schließlich ganz ausdrücklich bereits von mir +verlangten! Jetzt haben sie alles offen ausgesprochen! +Aber das ist wider die Nächstenliebe, wider Anstand und +Ehre ... Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß bereits alles, Onkel,“ unterbrach ich ihn, +„oder ich errate es wenigstens ... Ich habe soeben +mit Nastassja Jewgrafowna gesprochen.“ +</p> + +<p> +„Freund, kein Wort, jetzt kein Wort davon!“ unterbrach +er mich eilig, als hätte ich ihn erschreckt. „Ich +werde dir später alles selbst erzählen, aber vorläufig ... +Nun was?“ rief er den eingetretenen Widopljässoff an, +„wo ist Foma Fomitsch?“ +</p> + +<p> +Widopljässoff meldete, daß Foma Fomitsch „nicht +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +zu kommen wünschten und die Forderung, zu erscheinen, +unerhört beleidigend fänden, so daß sie, Foma Fomitsch, +sich sehr gekränkt zu fühlen geruhten“. +</p> + +<p> +„Bring ihn her! Schlepp ihn an! Her mit ihm! +Mit Gewalt schleif ihn her!“ schrie mein Onkel, und er +stampfte mit dem Fuß auf. +</p> + +<p> +Widopljässoff, der seinen Herrn noch nie in einem +solchen Zorn gesehen hatte, zog sich erschreckt zurück. Ich +wunderte mich. +</p> + +<p> +„Dann muß es sich doch um etwas sehr Wichtiges +handeln,“ dachte ich, „wenn ein Mensch mit einem so +weichen Charakter in eine solche Wut geraten kann und +so energisch seinen Entschluß durchsetzen will.“ +</p> + +<p> +Schweigend ging mein Onkel eine Weile auf und +ab, als kämpfe er innerlich mit sich selbst. +</p> + +<p> +„Du, zerreiß übrigens nicht das Heft,“ sagte er +schließlich zu Gawrila. „Wart noch etwas und bleibe +auch hier: du wirst vielleicht nötig sein. Freund!“ fuhr +er fort, sich wieder an mich wendend, „ich bin, glaube +ich, doch etwas zu laut gewesen. Jede Sache muß man +würdig und männlich tun, und ohne zu schreien, ohne +Beleidigungen. Ja, so muß man’s tun. Weißt du, +Ssergei: würde es nicht besser sein, wenn du so lange +fortgingst? Dir kann es doch gleichgültig sein, nicht? +– denn ich werde dir später ja doch alles erzählen – +was? Was meinst du? tu es mir zuliebe, bitte!“ +</p> + +<p> +„Sie fürchten sich, Onkel? Sie bereuen es?“ fragte +ich und sah ihn aufmerksam an. +</p> + +<p> +„Nein, nein, mein Freund, ich bereue nichts!“ rief +er mit doppelter Lebhaftigkeit aus. „Jetzt fürchte ich +nichts mehr. Ich habe entscheidende Maßregeln getroffen, +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +die entscheidendsten! Du weißt nicht, du kannst +es dir nicht vorstellen, was sie von mir verlangt haben! +Hätte ich denn wirklich einwilligen sollen? Nein, ich +werde es beweisen! Ich habe mich frei gemacht und +werde es beweisen! Irgendeinmal hätte ich es doch +beweisen müssen! Aber, weißt du, Freund, ich bereue es, +daß ich dich habe rufen lassen: es könnte Foma sehr +schwer werden ... wenn auch du zugegen bist ... +sozusagen als Zeuge seiner Erniedrigung. Sieh mal, +ich will ihm in einer anständigen Form meine Gastfreundschaft +kündigen, aber ohne jede Beleidigung oder +Erniedrigung. Aber, sieh, das kann ich doch nur so +sagen, bloß sagen, daß ich es ohne Beleidigung tun will; +denn die Sache an sich, Freund, ist und bleibt doch derart, +daß sie, auch wenn du sie mit noch so honigsüßen +Worten ausschmückst, immerhin kränkt. Und dazu bin +ich noch ein roher, ungebildeter Mensch; da kann es +denn geschehen, daß ich aus Dummheit irgend etwas +sage, worüber ich mein Lebtag nicht wieder froh sein +werde. Er hat doch immerhin viel für mich getan ... +Geh, Freund, bitte! ... Da kommt er schon, da bringt +man ihn schon! Ssergei, ich bitte dich, geh fort! Ich +werde dir später alles erzählen. Geh, um Christi willen, +geh!“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel schob mich auf die Terrasse hinaus +– fast im selben Augenblick, als Foma ins Zimmer trat. +</p> + +<p> +Doch nun muß ich eines gestehen: Ich ging nicht +fort: ich beschloß, auf der Terrasse zu bleiben, wo man +mich in der Dunkelheit, vom Zimmer aus, kaum sehen +konnte: ich nahm mir vor, zu lauschen! +</p> + +<p> +Ich will meine Handlungsweise nicht weiter zu +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +rechtfertigen suchen; aber ich darf wohl sagen, daß ich, +indem ich diese halbe Stunde dort auf der Terrasse aushielt, +ohne die Geduld zu verlieren und ins Zimmer zu +stürzen – die Heldentat eines Märtyrers vollbrachte. +Von meinem Versteck aus konnte ich nicht nur gut hören, +ich konnte auch das ganze Zimmer übersehen: ich war +ja nur durch eine Glastür von ihnen getrennt. +</p> + +<p> +Jetzt bitte ich nur, sich einen Foma Fomitsch vorzustellen, +dem <em>befohlen</em> worden war, zu erscheinen +– und das noch mit der Androhung sofortiger Gewaltanwendung, +falls er nicht freiwillig kommen wollte. +</p> + +<p> +„War es für meine Ohren bestimmt, diese Drohung +zu vernehmen, Oberst?“ brüllte Foma, als er ins +Zimmer trat. „Habe ich recht gehört?“ +</p> + +<p> +„Für deine, für deine Ohren, Foma, beruhige dich,“ +antwortete mein Onkel mutig. „Setz dich, laß uns einmal +ernst, freundschaftlich, brüderlich miteinander reden. +Setz dich doch, Foma.“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch ließ sich feierlich auf einen Lehnstuhl +nieder. Mein Onkel ging mit schnellen, ungleichen +Schritten im Zimmer auf und ab, offenbar wußte er +nicht, wie er anfangen sollte. +</p> + +<p> +„Eben brüderlich,“ wiederholte er. „Du wirst mich +verstehen, Foma, du bist kein Kind. Ich bin auch kein +Kind – mit einem Wort, wir sind beide in den Jahren +... Hm! Sieh, Foma, wir stimmen in manchen +Punkten nicht ganz überein ... ja, eben in manchen +Punkten, und darum, Foma – sollte es da nicht besser +sein, Freund, wenn wir auseinandergingen? Ich bin +überzeugt, daß du edelmütig bist, daß du mein Bestes +willst, und darum ... Aber wozu soviel Worte! Foma, +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +ich werde ewig dein Freund sein, ich schwöre es dir bei +allem, was mir heilig ist! Hier sind fünfzehntausend +Rubel, das ist alles, Freund, was ich habe flüssig +machen können, habe das Letzte zusammengescharrt und +noch den Meinen abgenommen. Nimm es ruhig! Ich +muß, ich bin verpflichtet, dich sicherzustellen! Hier ist +der Betrag, fast nur in Kassenscheinen. Nimm es ruhig! +Du wirst mir deshalb nichts schulden; denn ich werde +dir ja sowieso niemals all das entgelten können, was +du für mich getan hast. Ja, ja, eben, ich fühle es, wenn +wir auch jetzt im Hauptpunkte auseinandergehen. Morgen +oder übermorgen ... oder wann es dir recht ist ... +gehen wir auseinander. Fahr in unser Städtchen, +Foma, es ist ja nicht weit von hier, einige zehn Werst +nur. Dort ist ein Häuschen neben der Kirche, gleich +in der ersten Querstraße, mit grünen Läden und weißen +Fensterrahmen, ein allerliebstes Häuschen. Es gehört +der Witwe des früheren Geistlichen, es ist für dich wie +geschaffen. Sie will es verkaufen. Ich werde es für +dich erstehen, natürlich nicht von diesem Gelde. Richte +dich dort gemütlich ein, nicht weit von uns. Beschäftige +dich mit der Literatur, mit der Wissenschaft: du +wirst berühmt werden ... Die Beamten sind dort im +Städtchen ohne Ausnahme ehrenwerte, freundliche, uneigennützige +Leute. Der Geistliche ist ein gelehrter +Mann. Zu den Feiertagen kommst du zu uns gefahren, +zum Besuch – und wir leben wie im Paradiese! Bist +du einverstanden?“ +</p> + +<p> +„Also unter solchen Zugeständnissen wird Foma aus +dem Hause geschafft!“ dachte ich. „Vom Gelde hat er +mir nichts gesagt.“ +</p> + +<p> +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +Lange Zeit herrschte tiefe Stille. Foma saß wie betäubt +im Lehnstuhl und blickte unverwandt meinen +Onkel an, der sich unter diesem Schweigen und diesem +Blick augenscheinlich sehr unbehaglich fühlte. +</p> + +<p> +„Geld!“ hauchte schließlich Foma mit einer gemacht +schwachen Stimme. „Wo ist es denn, wo ist denn +dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es nur +schneller her!“ +</p> + +<p> +„Hier ist es, Foma: alles, was ich in bar habe, rund +fünfzehntausend, alles, was ich habe auftreiben können. +In Banknoten und Wertpapieren – du wirst schon +selbst sehen ... hier!“ +</p> + +<p> +„Gawrila! Nimm dieses Geld,“ sagte Foma +demütig, „es kann dir, Alter, einmal zustatten kommen. +– Doch nein!“ rief er plötzlich mit einer Stimme aus, +in der noch ein ganz besonderer kreischender Ton mitklang, +und er sprang auf – „nein! Gib es mir zurück, +Gawrila! Gib es mir, dieses Geld! Gib es mir! Gib +mir diese Millionen, damit ich sie mit meinen Füßen in +den Staub trete, gib sie mir, damit ich sie zerreiße, bespeie, +in alle Winde zerstreue, beschmutze, schände! ... +Mir, mir bietet man Geld an! Man will mich – bestechen, +damit ich dieses Haus verlasse! Habe ich recht +gehört? Darf ich meinen Ohren trauen? Warum mußte +ich noch diese Schmach erleben! Hier, hier sind sie, Ihre +Millionen! Sehen Sie: hier, hier, hier und hier! Sehen +Sie: so handelt Foma Opiskin, wenn Sie es bis jetzt +noch nicht gewußt haben, Oberst!“ +</p> + +<p> +Und Foma streute das ganze Geld auf dem Fußboden +aus. Bemerkenswert war nur, daß er keine einzige +Banknote weder zerriß noch bespie, wie er es zuerst +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +angekündigt hatte, er verknitterte sie nur ein wenig, +und auch das tat er ersichtlich ziemlich vorsichtig. Gawrila +stürzte sofort hinzu, um das Geld aufzusammeln, +das er dann später, nach Fomas Fortgang, seinem +Herrn wieder einhändigte. +</p> + +<p> +Diese Handlungsweise Fomas machte meinem Onkel +buchstäblich starr vor Verwunderung. Er stand unbeweglich, +verständnislos, mit halboffenem Munde vor +Foma. Dieser hatte sich inzwischen wieder auf seinen +Lehnstuhl niedergelassen und atmete keuchend, ganz als +befände er sich in unbeschreiblicher Aufregung. +</p> + +<p> +„Du bist ein erhabener Mensch, Foma!“ rief endlich +mein Onkel aus, wie aus einem Traum erwachend. +„Du bist der edelste Mensch der Welt!“ +</p> + +<p> +„Das weiß ich,“ antwortete Foma mit ergebener +Stimme, doch mit unendlicher Würde. +</p> + +<p> +„Foma, vergib mir! Ich bin ein Schuft vor dir, +Foma!“ +</p> + +<p> +„Ja, vor mir,“ bestätigte Foma. +</p> + +<p> +„Hör, Foma, nicht über deinen Edelmut wundere +ich mich,“ fuhr mein Onkel begeistert fort, „sondern darüber, +daß ich dermaßen roh, blind und niedrig sein +konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten. +Aber, Foma, nur in einem täuschst du dich: ich habe dich +nicht bestechen wollen, nicht dir dafür <em>zahlen</em> wollen, +wenn du das Haus verließest, sondern ich wollte nur, +daß du Geld hättest, daß du nicht Not zu leiden brauchtest, +wenn du von mir fortgingst. Das schwöre ich dir! +Auf den Knien, auf den Knien bin ich bereit, dich um +Verzeihung zu bitten, Foma, und wenn du willst, werde +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +ich sogleich vor dir niederknien ... wenn du nur +willst ...“ +</p> + +<p> +„Ich brauche Ihr Knien nicht, Oberst! ...“ +</p> + +<p> +„Aber, mein Gott! ... Foma, du mußt doch verstehen: +ich war doch aufgebracht, war von Sinnen, war +außer mir ... Aber so sage mir, womit ich diese Kränkung +wieder gutmachen könnte? Belehre mich, sag es +doch ...“ +</p> + +<p> +„Mit nichts, mit nichts Oberst! Und seien Sie überzeugt, +daß ich morgen noch, auf der Schwelle dieses +Hauses, den Staub von meinen Füßen schütteln werde.“ +</p> + +<p> +Und Foma begann sich langsam aus dem tiefen +Lehnstuhl zu erheben. Als mein Onkel das sah, stürzte +er entsetzt zu ihm und versuchte ihn wieder zum Sitzen +zu bringen. +</p> + +<p> +„Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, ich flehe +dich an! Was redest du da von Staub und Füßen, +Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich folge dir bis +ans Ende der Welt und werde dir so lange folgen, +bis du mir endlich verzeihst ... Ich schwör dir, Foma, +daß es so sein wird!“ +</p> + +<p> +„Ihnen verzeihen?“ fragte Foma, „aber begreifen +Sie denn noch immer nicht Ihre ganze Schuld vor mir? +Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit jedem Stück +Brot, daß Sie mir hier gegeben haben, schuldig vor +mir geworden sind? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie +in dieser einen Minute alle jene Brotstücke, die ich +früher hier in diesem Hause gegessen habe, nachträglich +mit Gift vergiftet haben? Sie haben mir soeben einen +Vorwurf wegen dieser Brotstücke gemacht, wegen jedes +Bissens, den ich hier zu mir genommen! Sie haben mir +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +soeben gezeigt, daß ich hier in Ihrem Hause wie ein +Knecht, wie ein Diener, wie ein Putzlappen Ihrer Lackstiefel +gelebt habe! Währenddessen habe ich in meiner +Herzensreinheit bis jetzt geglaubt, daß ich in Ihrem +Hause als Freund, als Bruder lebte! Haben Sie mich +nicht selbst, nicht selbst mit Ihren Schlangenreden tausendmal +dieser Brüderschaft versichert? Warum haben +Sie denn heimlich hinter meinem Rücken diese Netze +gestrickt, in denen ich nun wie ein Tölpel gefangen bin? +Warum haben Sie mir in der Dunkelheit diese Wolfsgruben +gegraben, in die Sie mich jetzt noch eigenhändig +hineinstoßen? Warum haben Sie mich nicht mit einem +einzigen, kurzen Schlage niedergestreckt, mit einem +Schlage dieser Keule? Warum haben Sie mir nicht +gleich zu Anfang den Kopf umgedreht, wie einem Hahn, +zur Strafe dafür, daß er ... nun, sagen wir, keine Eier +legt? Ja, gerade so verhält es sich! Ich bestehe auf +diesem Vergleich, Oberst, wenn er auch dem Provinzleben +entnommen ist und durch seinen trivialen Ton an +die zeitgenössische Literatur erinnert: ich bestehe deshalb +auf ihm, weil er so anschaulich die ganze Sinnlosigkeit +Ihrer Beschuldigungen zeigt; denn ich bin vor Ihnen +genau so wenig schuldig wie dieser Hahn, der durch +seine Unfähigkeit zum Eierlegen den Unwillen seines +leichtsinnigen Besitzers erregt. Ich bitte Sie, Oberst! +– zahlt man denn einem Freunde, einem Bruder Geld +– und wofür noch? Die Hauptsache ist doch dieses: +wofür! ‚Hier, nimm, mein geliebter Bruder, ich schulde +dir viel: du hast sogar mein Leben gerettet; hier hast du +ein paar Judassilberlinge, aber pack dich jetzt aus meinem +Hause!‘ Wie naiv! Wie roh Sie mich behandelt +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +haben! Sie glaubten, daß ich nach Ihrem Golde trachtete, +während ich nur paradiesische Gefühle nährte und +mich um Ihr Wohlergehen sorgte. Oh, wenn Sie +wüßten, wie Sie mein Herz verwundet haben! Mit +meinen edelsten Gefühlen haben Sie gespielt wie ein +Knabe mit einem Käfer, den er durchbohrt! Schon +lange, schon lange, Oberst, habe ich das jetzt Eingetroffene +vorausgesehen. Das war auch der Grund, +warum ich schon lange an Ihrem Brot zu ersticken +meinte, warum dieses Brot mir innere Pein verursachte! +Das ist auch der Grund, warum Ihre Daunenkissen mich +drückten, ja, mich drückten, statt mir ein weiches Lager +zu sein! Das war der Grund, weshalb Ihr Zucker, +Ihre Konfitüren mir wie Pfeffer schmeckten, nicht aber +wie Süßigkeiten! Nein, Oberst! Leben Sie hinfort +allein, seien Sie allein selig und lassen Sie Foma einsam +seinen traurigen Weg gehen, mit einem kleinen Kleiderbündel +auf dem Rücken. So wird es sein, Oberst!“ +</p> + +<p> +„Nein, Foma, nein! So wird es nicht sein, so kann +es nicht sein!“ stöhnte mein unglücklicher Onkel. +</p> + +<p> +„Doch, Oberst, doch! Gerade so wird es sein; denn +so <em>muß</em> es sein. Morgen noch werde ich Sie verlassen. +Breiten Sie alle Ihre Millionen aus, bedecken Sie die +ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich +werde stolz und verachtend über Ihr Geld dahinschreiten! +Hier, dieser selbe Fuß, Oberst, wird diese Banknoten +zertreten, in den Schmutz treten, und Foma Opiskin +wird einzig von seinem Seelenadel satt sein! Ich +habe es gesagt und – bewiesen! Leben Sie wohl, +Oberst! Le–ben – Sie wohl, Oberst!“ +</p> + +<p> +Und Foma begann von neuem sich zu erheben. +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +„Verzeih mir, Foma, vergib mir! Vergiß, was ich +getan!“ bat mein Onkel mit flehender Stimme. +</p> + +<p> +„‚Vergib!‘ Was liegt Ihnen an meiner Vergebung? +Nun gut, nehmen wir an, ich vergebe Ihnen: +ich bin Christ, ich kann Ihnen schlechterdings meine +Vergebung nicht vorenthalten, – ich habe Ihnen ja +auch jetzt schon fast verziehen. Aber urteilen Sie selbst: +wäre es denn auch nur irgendwie mit der gesunden +Vernunft und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich +jetzt noch eine Minute in Ihrem Hause bliebe? Sie +haben mich doch aus dem Hause <em>fortgetrieben</em>!“ +</p> + +<p> +„Ach, gewiß ist es vereinbar, Foma, gewiß ist es +vereinbar! Ich versichere dir, daß es vereinbar ist!“ +</p> + +<p> +„Vereinbar? Aber sind wir denn jetzt noch Gleichstehende? +Begreifen Sie denn wirklich nicht, daß ich +Sie mit meinem Edelmut sozusagen vernichtet habe – +und daß Sie sich selbst durch Ihre niedrige Handlung +erniedrigt haben? Sie sind in den Staub geworfen +und ich bin erhoben worden. Wo kann hier jetzt noch +von Gleichheit die Rede sein? Wie aber kann es ohne +diese Gleichheit eine Freundschaft geben? Ich frage +es mit einem Schmerzensschrei, nicht aber triumphierend, +wie Sie vielleicht wähnen.“ +</p> + +<p> +„Aber ich stoße ja selbst einen Schmerzensschrei +aus, Foma, ich versichere dich! ...“ +</p> + +<p> +„Und das ist derselbe Mensch,“ fuhr Foma fort, +den strengen Ton in einen andächtig-frommen verwandelnd, +„derselbe Mensch, um dessentwillen ich so +viele Nächte nicht geschlafen habe! Wie oft, wie oft +habe ich mich in meinen schlaflosen Nächten von meinem +Lager erhoben, das Nachtlicht angezündet und zu +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +mir gesagt: ‚Jetzt schläft er ruhig und verläßt sich auf +dich. So schlafe denn nicht, Foma, und wache du für +ihn, vielleicht wirst du noch etwas zu seinem Wohle +ersinnen.‘ So dachte Foma Opiskin in seinen schlaflosen +Nächten, Oberst! Und so wird er dafür von diesem +selben Obersten belohnt! Doch genug, genug! ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich werde, Foma, ich werde mir deine Freundschaft +wieder verdienen, das schwör’ ich dir!“ +</p> + +<p> +„Verdienen? Sie wollen sie wieder verdienen? +Welche Gewähr können Sie mir geben? Als Christ, +der ich bin, verzeihe ich Ihnen und werde Sie sogar +lieben – als Mensch aber, und als edler Mensch, werde +ich Sie unwillkürlich verachten. Ich muß es, es ist +meine Pflicht, um der Sittlichkeit willen; denn – ich +wiederhole es – Sie haben sich selbst in den Schmutz +getreten, und ich habe die edelste <em>Tat</em> vollbracht. Wer +von den <em>Ihrigen</em> würde eine ähnliche <em>Tat</em> je vollbringen +können? Wer von ihnen würde auf eine so +ungeheure Summe Geldes freiwillig verzichten, auf +eine Summe, auf die der bettelarme, von allen verachtete +Foma Opiskin aus Liebe zu seiner Seelengröße +indessen verzichtet hat? Nein, Oberst, um sich als +Gleichstehender mit mir messen zu können, müßten Sie +jetzt <em>eine ganze Reihe</em> von großen <em>Taten</em>, von +<em>Heldentaten</em> vollbringen. Zu welch einer Heldentat +aber sind Sie fähig, wenn Sie nicht einmal in der +Anrede ‚Sie‘ zu mir sagen können, wie zu einem Gleichstehenden, +sondern stets ‚du‘ zu mir sagen, wie zu einem +Diener?“ +</p> + +<p> +„Aber Foma, ich habe doch nur aus Freundschaft +<em>du</em> zu dir gesagt!“ rief mein Onkel aus. „Ich ahnte +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +es nicht, daß es dir unangenehm sein könnte ... Mein +Gott! Wenn ich es nur geahnt hätte ...“ +</p> + +<p> +„Sie,“ fuhr Foma unerschütterlich fort, „Sie, der +Sie nicht einmal die geringste, die geringfügigste Bitte +erfüllen konnten oder richtiger – nicht erfüllen +<em>wollten</em>, als ich Sie bat, mich wie einen General +‚Eure Exzellenz‘ zu nennen ...“ +</p> + +<p> +„Aber, Foma, das wäre doch sozusagen schon ein +höherer Eingriff ...“ +</p> + +<p> +„Ein höherer Eingriff! Da haben Sie nun irgendeine +Bücherphrase auswendig gelernt und behalten: +und die wiederholen Sie jetzt wie ein Papagei! Wissen +Sie denn nicht, daß Sie mich beschimpft, entehrt haben +mit Ihrer Weigerung, mich ‚Exzellenz‘ zu nennen, jawohl: +entehrt! Denn indem Sie meine Gründe nicht +begriffen, stellten Sie mich als launischen Dummkopf +bloß, der es verdient hat, in die Irrenanstalt zu kommen! +Glauben Sie denn, ich begriffe nicht, daß ich +lächerlich wäre, wenn ich mich Exzellenz betiteln ließe, +ich, der ich alle diese Titel und irdischen Auszeichnungen +verachte, alle diese Ehrungen, die an sich vollkommen +wertlos und nichtig sind, wenn sie nicht durch die Tugend +geheiligt werden? Für keine Million würde ich +den Adel eines Generals <em>ohne diese Tugend</em> annehmen! +Und <em>Sie</em>, <em>Sie</em> hielten mich für einen Wahnsinnigen! +Nur zu Ihrem Vorteil opferte ich meine +Eigenliebe und ließ es zu, daß <em>Sie</em>, <em>Sie</em> mich für +einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie und Ihre +<em>Gelehrten</em>! Einzig zu dem Zweck, um Ihren Verstand +zu erleuchten, Ihre Sittlichkeit zu entwickeln und +Sie mit dem Strahlenlicht neuer Ideen zu überschütten, +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +entschloß ich mich, von Ihnen die Anrede ‚Exzellenz‘ +zu fordern. Ich wollte nur, daß Sie hinfort nicht +mehr die Generäle für die höchsten Koryphäen oder +Gestirne unseres Erdballes hielten; ich wollte Ihnen +beweisen, daß der Titel ohne Größe – nichts ist, und +daß kein Grund vorhanden war, sich dermaßen über +den Besuch Ihres Generals zu freuen, wenn neben +Ihnen Menschen leben, die im Glanze der Tugend +leuchten! Aber Sie haben sich ja stets so gebrüstet vor +mir mit Ihrem Oberstentitel, daß es Ihnen gar zu +schwer fiel, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir zu sagen. Das war +der Grund Ihrer Weigerung! Hierin muß man den +wahren Grund suchen, nicht aber in irgendwelchen Eingriffen +in das heilige Reglement! Der ganze Grund +war der, daß Sie Oberst sind, ich aber nur Foma +Opiskin bin ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Foma, nein! Ich versichere dich, daß es sich +nicht so verhielt. Du bist ein Gelehrter, du bist nicht +ein gewöhnlicher Foma ... ich achte dich ...“ +</p> + +<p> +„Achten, mich? Nun gut! Dann sagen Sie mir +doch, wenn Sie mich so achten, Ihre volle Meinung: +bin ich des Generalstitel wert, bin ich seiner würdig +oder unwürdig? Antworten Sie mir bestimmt und +ohne zu zögern: ja oder nein? Ich will bei der Gelegenheit +Ihren Verstand, Ihre geistige Entwicklung +prüfen.“ +</p> + +<p> +„Für deine Ehrlichkeit, deine Uneigennützigkeit, +deinen Verstand, deinen unvergleichlichen Edelmut – +gewiß!“ antwortete mein Onkel stolz. +</p> + +<p> +„Und wenn ich ihn verdient habe, weshalb sagen +Sie dann nicht ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir?“ +</p> + +<p> +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +„Foma, wenn du willst ... werde ich alles sagen ...“ +</p> + +<p> +„Ich verlange es! Jetzt verlange ich es, Oberst, +ich bestehe darauf und fordere es von Ihnen! Ich sehe, +daß es Ihnen schwerfällt, und deshalb verlange ich es. +Dieses Opfer Ihrerseits wird der erste Schritt zu einer +großen Tat sein; denn – vergessen Sie das nicht! – +Sie werden eine ganze Reihe von großen Taten vollbringen +müssen, um sich mit mir messen zu können. Sie +müssen sich selbst überwinden, dann erst werde ich an +Ihre Aufrichtigkeit glauben ...“ +</p> + +<p> +„Morgen, Foma, werde ich ‚Exzellenz‘ zu dir sagen!“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht morgen, Oberst, morgen versteht es +sich von selbst. Ich fordere von Ihnen, daß Sie hier, +jetzt gleich, hier auf der Stelle, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir +sagen.“ +</p> + +<p> +„Wie du willst, Foma, ich bin bereit ... Nur ... +wie soll ich denn das, Foma? So ... ohne weiteres +... jetzt gleich?“ +</p> + +<p> +„Weshalb denn nicht jetzt? Oder schämen Sie sich +etwa? In dem Falle ist es eine neue Kränkung, wenn +Sie sich schämen.“ +</p> + +<p> +„Nun, dann ... gut, Foma, ich bin bereit ... ich +bin sogar stolz darauf ... Nur ... wie soll ich denn, +Foma, so ohne weiteres? Ich kann doch nicht sagen: +‚Guten Tag, Exzellenz‘, – das geht doch nicht ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht ‚guten Tag, Exzellenz‘, das ist wieder +ein beleidigender Ton. Das erinnert an einen Scherz, +an eine Farce. Ich erlaube aber nicht, daß man mit +mir scherzt. Besinnen Sie sich, Oberst, besinnen Sie +sich sofort! Ändern Sie Ihren Ton!“ +</p> + +<p> +„Du willst doch nicht, Foma –?“ +</p> + +<p> +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +„Erstens bitte ich, mich nicht zu duzen, Jegor Iljitsch, +– Sie haben mich mit ‚Sie‘ anzureden, vergessen +Sie das nicht. Und nicht Foma, sondern Foma +Fomitsch.“ +</p> + +<p> +„Aber, bei Gott, ich freue mich, Foma Fomitsch! +Ich freue mich ... aus allen Kräften ... Nur – was +soll ich denn sagen?“ +</p> + +<p> +„Es macht Ihnen offenbar große Schwierigkeiten, +Ihren Worten ‚Exzellenz‘ hinzuzufügen – das sehe ich. +Das ist einerseits sogar verzeihlich, namentlich wenn +der Mensch ... <em>kein Schriftsteller</em> ist – höflich +ausgedrückt. Nun, ich werde Ihnen helfen, weil Sie +<em>kein</em> Schriftsteller sind. Sprechen Sie mir jetzt nach: +‚Eure Exzellenz‘ ...“ +</p> + +<p> +„Nun, ‚Eure Exzellenz‘.“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht: ‚<em>nun</em>, Eure Exzellenz‘, sondern einfach: +‚Eure Exzellenz!‘ Ich sage Ihnen nochmals, +Oberst, ändern Sie Ihren Ton! Auch hoffe ich, daß +Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Sie +auffordere, sich bei dieser Gelegenheit leicht zu verbeugen +und gleichzeitig den Körper ein wenig nach +vorn zu neigen, um auf diese Weise Ihre Ehrerbietung +auszudrücken und sozusagen Ihre Bereitschaft, auf den +leisesten Wink hin, gleichsam zu fliegen, um meinen +Befehl auszuführen. Ich habe selbst in Generalskreisen +verkehrt und kenne das ... Nun also: ‚Eure Exzellenz‘.“ +</p> + +<p> +„Eure Exzellenz.“ +</p> + +<p> +„‚Wie unsäglich freut es mich, endlich Gelegenheit +zu haben und um Entschuldigung dafür bitten zu können, +daß ich nicht sogleich den wahren Seelenrang +Eurer Exzellenz erkannt habe. Ich erlaube mir, zu versichern, +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +daß ich hinfort meine schwachen Kräfte zum +allgemeinen Nutzen nicht schonen werde ...‘ So, das +mag vorläufig genügen!“ +</p> + +<p> +Mein armer Onkel! Er mußte tatsächlich und +wortwörtlich diese ganze Tirade Satz für Satz, Wort +für Wort nachsprechen! Ich stand und errötete wie +ein Schuldiger. Die Wut schnürte mir die Kehle zu. +</p> + +<p> +„Nun, fühlen Sie jetzt nicht,“ fuhr der Henker fort, +„daß es Ihnen plötzlich leichter ums Herz geworden +ist, als ob in Ihrer Seele ein Engel sich niedergelassen +hätte? ... Fühlen Sie diese Gegenwart eines Engels? +Antworten Sie mir!“ +</p> + +<p> +„Ja, Foma, es scheint mir jetzt wirklich leichter zumute +zu sein,“ antwortete mein Onkel. +</p> + +<p> +„Als wäre Ihr Herz, nachdem Sie sich selbst überwunden +haben, gleichsam in Öl untergetaucht!“ +</p> + +<p> +„Ja, Foma, es ist wirklich wie mit Butter bestrichen.“ +</p> + +<p> +„Wie mit Butter? Hm! ... Ich habe Ihnen von +Butter nichts gesagt, sondern von Öl ... Nun, gleichviel! +Sehen Sie jetzt, was das bedeutet, Oberst – +erfüllte Pflicht! Überwinden, besiegen Sie sich nur! +Sie sind eigenliebig, unendlich eigenliebig!“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es, Foma, ich sehe es vollkommen ein,“ +sagte mein Onkel aufseufzend. +</p> + +<p> +„Sie sind ein Egoist und sogar ein großer, ein +grausamer Egoist ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es, Foma, auch das sehe ich ein; seitdem +ich dich kenne, habe ich auch das eingesehen.“ +</p> + +<p> +„Und jetzt sage ich Ihnen, wie ein Vater, wie eine +zärtliche Mutter ... Sie scheuchen alle von sich und +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +vergessen, daß ein liebenswürdiges Kalb an zwei Kühen +saugt.“ +</p> + +<p> +„Auch das ist wahr, Foma.“ +</p> + +<p> +„Sie sind roh. Sie drängen sich so roh in das +Herz anderer Menschen, Sie drängen sich so eigenliebig +der Aufmerksamkeit anderer auf, daß ein anständiger +Mensch am liebsten auf dreißig Meilen von +Ihnen fortlaufen würde.“ +</p> + +<p> +Mein Onkel seufzte noch einmal tief auf. +</p> + +<p> +„Seien Sie also zärtlicher, aufmerksamer, liebenswürdiger +gegen andere. Vergessen Sie sich für andere +– sehen Sie, das ist meine Regel! Duldend mühe dich, +bete und hoffe – das sind Wahrheiten, die ich gerne +der ganzen Menschheit einprägen möchte! Eifern Sie +ihnen nach, und dann werde ich Ihnen als erster mein +Herz öffnen, werde an Ihrer Brust weinen ... falls +es nötig sein sollte ... Denn sonst heißt es bei Ihnen +nur ‚ich‘ und ‚ich‘ und ‚meine Gnade‘! Aber diese Ihre +Gnade bekommt man doch schließlich satt, mit Erlaubnis +zu sagen!“ +</p> + +<p> +„Welch ein Mensch!“ murmelte Gawrila, der an +der Tür stand, voll Andacht. +</p> + +<p> +„Das ist wahr, Foma, ich fühle es selbst,“ bestätigte +mein Onkel gerührt. „Aber schließlich ist doch +nicht alles nur meine Schuld! Ich bin so erzogen +worden, habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre +dir, Foma, auch ich verstand zu fühlen und zu empfinden. +Als ich aus meinem Regiment trat und von +der Truppe Abschied nahm, da hatten alle meine braven +Husaren Tränen in den Augen, mein ganzes Regiment +weinte fast, und sie sagten, einen solchen Vorgesetzten +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +würden sie wohl nie wieder bekommen! ... Und so +dachte ich damals, daß auch ich vielleicht dennoch kein +ganz verlorener Mensch sei.“ +</p> + +<p> +„Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich +Sie auf einem Beweise Ihrer Eigenliebe, Sie brüsten +sich, und bei der Gelegenheit machen Sie mir noch +wegen der Tränen Ihrer Husaren einen Vorwurf. +Wie kommt es, daß ich mich niemals mit Tränen anderer +brüste? Und doch, und doch – ich hätte so manchen +guten Grund dazu.“ +</p> + +<p> +„Weißt du, das ist mir nur so entschlüpft, Foma, +ich erinnerte mich der alten, guten Zeit – da hielt ich’s +denn nicht aus und erzählte es dir jetzt.“ +</p> + +<p> +„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern +wir selbst schaffen sie uns: sie ist in unserem Herzen +enthalten, Jegor Iljitsch. Weshalb bin ich denn immer +glücklich und trotz meiner Leiden zufrieden? Weshalb +bin ich ruhig und werde niemandes überdrüssig, ausgenommen +vielleicht der Dummköpfe und der sogenannten +<em>Gelehrten</em>, die ich nicht schone und nie schonen +werde. Ich liebe die Dummköpfe nicht. Und was +sind denn diese Gelehrten? ‚Ein Mann der Wissenschaft!‘ +Seine ganze ‚Wissenschaft‘ besteht ja nur in +seiner ‚Gewissenshaft‘! Nun, was hat <em>er</em> denn vorhin +gesprochen? Laßt ihn herkommen! Ihn und alle Gelehrten! +Ich kann alles widerlegen! Ich werde alle +ihre aufgestellten Gesetze widerlegen! Und vom Seelenadel, +von allem Edlen – rede ich schon gar nicht!“ +</p> + +<p> +„Natürlich, Foma, ich glaube es dir! Wer zweifelt +denn überhaupt daran?“ +</p> + +<p> +„Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Begabung, +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +große Belesenheit, Kenntnisse des Menschenherzens, +Kenntnis der zeitgenössischen Literatur, ich +zeigte und bewies glänzend, wie ein talentvoller Mensch +sogar aus irgendeiner Kamarinskaja ein hohes und +interessantes Gespräch entwickeln kann. Und nun frage +ich: Hat auch nur einer von ihnen allen das Ganze +würdig zu schätzen verstanden? Nein, und nicht genug +damit – sie wandten sich obendrein ab! Ich bin +ja überzeugt, daß sie Ihnen schon gesagt haben, ich +‚wüßte nichts‘. Dabei hat aber in Wirklichkeit ein +zweiter Machiavelli vor ihnen gesessen und ist nur deshalb +von ihnen nicht als solcher erkannt worden, weil +er noch arm und unbekannt war ... Nein, das soll +ihnen nicht durchgehen! ... Ferner habe ich da noch +von einem Korowkin gehört. – Was ist das nun wieder +für ein Gänserich?“ +</p> + +<p> +„O, das ist, weißt du, ein kluger Mensch, ein Mann +der Wissenschaft ... Ich erwarte ihn. Der wird +dir aber sicherlich gefallen, Foma!“ +</p> + +<p> +„Hm! das bezweifle ich. Wahrscheinlich irgend +so ein moderner Esel, der mit Bücherweisheit vollgepfropft +ist. Die haben keine Seele, Oberst, die haben +auch kein Herz! Was aber ist selbst Gelehrtheit, wenn +sie keine Tugend hat?“ +</p> + +<p> +„Nein, Foma, nein! Wie er über Familienglück +redet! – ich sage dir, das Herz begreift es ganz von +selbst, Foma!“ +</p> + +<p> +„Hm! Warten wir ab; wir können ja auch den +Korowkin noch examinieren. Doch jetzt genug,“ schloß +Foma, sich erhebend. „Noch kann ich Ihnen nicht ganz +verzeihen, Oberst; Sie haben mich bis aufs Blut gekränkt. +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +Aber ich werde beten, vielleicht wird Gott +dann meinem gekränkten Herzen Frieden senden. Wir +werden morgen noch darüber reden, jetzt aber erlauben +Sie, daß ich mich zurückziehe. Ich bin ermüdet und +entkräftet ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Foma!“ rief mein Onkel erschrocken aus, +„nun habe ich dich auch noch ermüdet! Weißt du was, +– willst du dich nicht etwas stärken, einen kleinen +Imbiß nehmen? Ich werde ihn sofort bestellen.“ +</p> + +<p> +„Einen Imbiß nehmen! Hahaha! Einen Imbiß +nehmen!“ war Fomas Antwort mit verächtlichem +Lachen. „Zuerst wird man mit Gift getränkt, und dann +wird man gefragt, ob man nicht einen Imbiß nehmen +wolle! Die Wunden, die dem Herzen geschlagen sind, +wollen Sie mit irgendwelchen gedämpften Pilzen oder +eingemachten Früchten heilen! Was für ein armseliger +Materialist Sie doch sind, Oberst!“ +</p> + +<p> +„Ach, Foma, ich wollte es doch, bei Gott, nur aus +gutem Herzen ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut. Genug davon. Ich gehe. Sie aber, +gehen Sie unverzüglich zu Ihrer Mutter, knien Sie +vor ihr nieder, schluchzen Sie, weinen Sie, erflehen +Sie ihre Verzeihung, – das ist Ihre Pflicht, das +müssen Sie!“ +</p> + +<p> +„Ach, Foma, ich habe ja die ganze Zeit nur daran +gedacht. Sogar jetzt, als ich mit dir sprach, dachte +ich die ganze Zeit daran. Ich bin bereit, bis zum +Morgen vor ihr auf den Knien zu liegen. Aber bedenk +doch auch, Foma, was man von mir verlangt! +Das ist doch ungerecht, das ist doch grausam, Foma! +Sei doch großmütig, mach mich vollkommen glücklich, +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +denk doch nur nach, erlöse mich, und dann ... dann +... ich schwöre dir ...“ +</p> + +<p> +„Jegor Iljitsch, das ist nicht meine Sache,“ antwortete +Foma. „Sie wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit +überhaupt nicht hineinmische. Das heißt, +Sie sind ja, sagen wir, überzeugt, daß ich die Ursache +sei; aber ich versichere Ihnen, daß ich mich von Anfang +an vollkommen davon zurückgezogen und nichts damit +zu tun habe und haben will. Hier handelt es sich +einzig und allein um den Willen Ihrer Frau Mutter, +sie aber will natürlich nur Ihr Bestes ... So gehen +Sie denn hin, eilen Sie, und machen Sie Ihre Schuld +durch vollkommenen Gehorsam wenigstens teilweise +wieder gut ... Lasset nicht die Sonne über eurem +Zorne untergehen! Ich aber ... ich werde die ganze +Nacht für Sie beten. Schon seit langem weiß ich nicht +mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch. Leben Sie wohl! +Auch dir verzeihe ich, Alter,“ sagte er, zu Gawrila +gewandt. „Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antriebe +Böses getan hast. Vergib also auch du mir, +wenn ich dir etwas zuleide getan haben sollte ... +Lebt wohl, lebt alle wohl, und der Herr segne euch! ...“ +</p> + +<p> +Foma entfernte sich. Ich trat ins Zimmer. +</p> + +<p> +„Du hast gelauscht!“ rief mein Onkel aus. +</p> + +<p> +„Ja, Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie +konnten ‚Exzellenz‘ zu ihm sagen! ...“ +</p> + +<p> +„Was sollte ich tun, Freund! Ich bin sogar stolz +darauf, daß ich es getan habe ... Das ist ja noch +nichts im Vergleich zu seiner großen Heldentat! Welch +ein edler, uneigennütziger, erhabener Mensch! Ssergei +– du hast ja zugehört – so sag du mir doch, wie +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +konnte ich da nur mit dem Gelde kommen! Ich begreife +mich selbst nicht! Aber ich war nicht bei klarer +Vernunft, ich war aufgebracht, ich verstand ihn nicht, +ich beargwöhnte ihn, beschuldigte ihn ... Doch nein! +– er konnte nicht mein Gegner sein – das begreife +ich jetzt vollkommen ... Aber weißt du, hast du gesehen, +welch einen edlen Ausdruck sein Gesicht hatte, +als er das Geld zurückwies?“ +</p> + +<p> +„Gut, Onkel, seien Sie so stolz, wie Sie nur wollen, +ich aber reise morgen: meine Geduld ist zu Ende! Zum +letzten Male frage ich Sie: was verlangen Sie von +mir? Wozu haben Sie mich hergerufen, und was erwarten +Sie von mir? Und wenn nun alles zu Ende +und besiegelt ist und ich Ihnen zu nichts mehr nütze +bin – dann fahre ich eben. Ich ertrage solche Schaustücke +nicht! Heute noch reise ich ab!“ +</p> + +<p> +„Freund,“ sagte mein Onkel eifrig, wie es so seine +Art war, „wart nur noch zwei Minuten: ich werde jetzt +zu meiner Mutter gehen ... ich muß dort zuerst ins +reine kommen ... es ist eine wichtige, große, eine +entscheidende Sache! ... Du aber geh in dein Zimmer +und erwarte mich dort. Hier, Gawrila wird dich ins +Sommerhaus führen. Du erinnerst dich doch noch? +Es liegt dort mitten im Garten. Ich habe schon alles +angeordnet, auch dein Koffer ist hingeschafft worden. +Ich werde jetzt schnell zu meiner Mutter gehen, nur +ihre Verzeihung erwirken, mich rasch entschließen – +jetzt weiß ich, wie ich es anfassen muß –, und dann +komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles, alles, +alles bis aufs Letzte, werde meine ganze Seele vor dir +ausschütten! Und ... und auch wir werden noch einmal +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +glückliche Tage erleben! ... Zwei Minuten, nur +zwei Minuten, Ssergei!“ +</p> + +<p> +Er drückte meine Hand und verließ eilig das Zimmer. +Mir blieb nichts anderes übrig, als mich von +Gawrila ins Sommerhaus führen zu lassen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-13"> +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +<span class="firstline">X.</span><br> +Misintschikoff. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">as</span> Sommerhaus, in dem man für mich ein Zimmer +eingeräumt hatte, wurde aus alter Gewohnheit +noch immer „das neue Haus“ genannt, obgleich es +schon vor langen Jahren, noch von den früheren Besitzern +des Gutes Stepantschikowo erbaut worden war. +Es war dies ein nettes, einstöckiges Holzgebäude, das +nicht weit vom Herrenhause im Garten lag. Von drei +Seiten umstanden das Sommerhäuschen alte, hohe +Lindenbäume, deren Äste das Dach überragten. Alle +vier Zimmer dieses Sommerhauses waren gut möbliert +und ausschließlich für etwaigen Besuch bestimmt. Als +ich mich in dem mir zugewiesenen Gemach umsah, bemerkte +ich zuerst meinen Koffer und dann auf dem +Nachttisch neben dem Bett einen Bogen Postpapier, +das von einem wahren Meister in der Schönschreibekunst +beschrieben und mit Girlanden und Schnörkeln +überreich verziert war. Die Anfangsbuchstaben und +die Blumengewinde leuchteten sogar in bunten Farben. +Alles in allem war es eine bewundernswerte kalligraphische +Arbeit. Schon aus den ersten Zeilen ersah +ich, daß es ein an mich gerichteter Bittbrief war, in +dem ich ein „aufgeklärter Wohltäter“ genannt wurde. +Als Überschrift stand: „Widopljässoffs Wehklagen.“ +Wie sehr ich aber auch meine Aufmerksamkeit anstrengte, +um wenigstens etwas von dem ganzen Schreiben +zu begreifen, so waren doch alle meine Bemühungen +umsonst: es war der reinste Blödsinn in hochtrabendem +Dienerstil. Ich erriet nur ungefähr, daß Widopljässoff +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +sich in einer bedauernswerten Lage befand, meine Hilfe +erbat und in irgendwelchen Dingen große Hoffnungen +auf mich setzte – „von wegen Eurer Bildung ...“ +Zum Schluß bat er mich dann noch, zu seinen Gunsten +auf meinen Onkel einzuwirken, und zwar – „kraft +Eurer Maschine“, wie es buchstäblich in der letzten +Zeile dieses Handschreibens geschrieben stand. Ich war +noch in die Lektüre vertieft, als die Tür aufging und +Iwan Iwanytsch Misintschikoff, mein Vetter dritten +Grades, in das Zimmer trat. +</p> + +<p> +„Ich hoffe, Sie werden mir gestatten, Ihre Bekanntschaft +zu machen,“ sagte er ungezwungen, doch +äußerst höflich, und er reichte mir die Hand. „Vorhin +habe ich Ihnen keine zwei Worte sagen können, und +doch empfand ich schon im ersten Augenblick den +Wunsch, Sie näher kennen zu lernen.“ +</p> + +<p> +Ich antwortete ihm sogleich, daß auch ich mich +freue usw., obschon ich mich in der miserabelsten Laune +befand. +</p> + +<p> +Wir setzten uns. +</p> + +<p> +„Was haben Sie denn da?“ fragte er, nach einem +Blick auf das Blatt, das ich noch in der Hand hielt. +„Etwa ‚Widopljässoffs Wehklagen‘? Na, natürlich! +Ich war ja überzeugt, daß Widopljässoff unfehlbar auch +Sie attackieren würde. Mir hat er gleichfalls so ein +wunderbar bemaltes Blatt mit denselben ‚Wehklagen‘ +überreicht. Sie sind von ihm wohl schon lange sehnsüchtig +erwartet worden, so daß er Zeit genug gehabt +hat, inzwischen dieses Gemälde herzustellen. Doch +können Sie sich die Mühe sparen, sich darüber zu wundern: +hier gibt es viel Sonderbares, und wenn man +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +Lust zum Lachen hat, fände sich eine Unmenge Stoff +dazu.“ +</p> + +<p> +„Nur zum Lachen?“ +</p> + +<p> +„Na, doch nicht etwa zum Weinen? Wenn Sie +wollen, kann ich Ihnen Widopljässoffs Leben erzählen, +und ich wette, daß Sie lachen werden.“ +</p> + +<p> +„Offen gestanden, es ist mir jetzt nicht um Widopljässoff +zu tun,“ antwortete ich etwas ungehalten. +</p> + +<p> +Es war mir vollkommen klar, daß der Besuch +Herrn Misintschikoffs und sein liebenswürdiges Gespräch +– einen besonderen Zweck verfolgten und mein +Herr Vetter dritten Grades sehr einfach meiner bedurfte. +Im Teesalon hatte er finster und ernst ausgesehen, +und nun war er plötzlich so aufgeräumt und +sogar bereit, lange Geschichten zu erzählen. Man sah +es ihm sofort an, daß er sich vorzüglich zu beherrschen +verstand und, wie mir schien, ein Menschenkenner war. +</p> + +<p> +„Dieser verdammte Foma!“ knirschte ich wütend +und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin +überzeugt, daß nur er allein die Quelle alles Übels +hier ist, und daß jede Verrücktheit sich auf ihn zurückführen +läßt! Dieser verfluchte Spitzbube!“ +</p> + +<p> +„Sie haben sich ja, wie es scheint, sehr über ihn +geärgert,“ bemerkte Misintschikoff. +</p> + +<p> +„Sehr über ihn geärgert!“ Ich geriet plötzlich in +Wut. „Ich weiß, ich habe mich heute nachmittag hinreißen +lassen und somit jedem das Recht gegeben, mich +abfällig zu beurteilen. Ich sehe es jetzt sehr wohl ein, +daß ich unnützerweise aus mir herausgegangen bin und +in jeder Beziehung schlecht abgeschnitten habe; aber ich +denke, es ist zum mindesten überflüssig, mir das obendrein +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +noch zu verstehen zu geben! ... Auch begreife +ich vollkommen, daß man so etwas in guter Gesellschaft +nicht tut; aber, sagen Sie doch selbst, war es denn +überhaupt möglich, nicht aus der Haut zu fahren? Das +ist ja hier eine Irrenanstalt, genau genommen! und +... und ... schließlich ... Ach was! Ich fahre einfach +fort und damit basta!“ +</p> + +<p> +„Rauchen Sie?“ fragte Misintschikoff ruhig. +</p> + +<p> +„Ja.“ +</p> + +<p> +„Dann werden Sie hoffentlich nichts dagegen +haben, wenn auch ich rauche. Dort wird es nicht gestattet. +Ich bin schon auf dem besten Wege, darüber +melancholisch zu werden. Ich gebe gern zu,“ fuhr er +fort, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte, +„daß hier manches stark an eine Irrenanstalt erinnert; +doch seien Sie versichert, daß ich mir nicht erlauben +werde, Sie oder Ihr Auftreten zu verurteilen, und +zwar deshalb nicht, weil ich an Ihrer Stelle vielleicht +noch dreimal mehr in Wut geraten oder aus der Haut +gefahren wäre als Sie vorhin.“ +</p> + +<p> +„Aber warum taten Sie es dann nicht, wenn Sie +wirklich so ungehalten waren? Ich entsinne mich, im +Gegenteil, noch ganz genau, daß Sie sehr kaltblütig +waren. Ich will Ihnen sogar ganz offen sagen – es +wunderte mich, daß Sie für meinen armen Onkel nicht +eintraten, ihn nicht verteidigten, da er doch soviel +Gutes ... allen und jedem erweist!“ +</p> + +<p> +„Sie haben recht: er hat vielen Gutes getan. Doch +für ihn einzutreten, das halte ich in diesem Fall für +vollkommen nutzlos: erstens würde es ihm nichts helfen +und hätte gewissermaßen sogar etwas Erniedrigendes +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +für ihn – und zweitens würde man mich dann am +nächsten Tage vor die Tür setzen. Und nun will auch +ich Ihnen etwas ganz offen gestehen: nämlich, daß +meine Verhältnisse augenblicklich derart sind, daß ich +die Gastfreundschaft, die ich hier genieße, sehr hoch +einschätzen muß.“ +</p> + +<p> +„Ich verlange von Ihnen durchaus keine Aufschlüsse +über Ihre Verhältnisse ... Aber übrigens, ich würde +Sie gern etwas fragen wollen, da Sie ja doch schon +einen ganzen Monat hier leben ...“ +</p> + +<p> +„Haben Sie die Güte, fragen Sie nur: ich stehe +Ihnen jederzeit zu Diensten,“ antwortete Misintschikoff +bereitwillig und rückte seinen Stuhl näher zu mir. +</p> + +<p> +„Erklären Sie mir, bitte, eines: soeben hat Foma +Fomitsch fünfzehntausend Rubel, die er bereits in der +Hand hielt, verschmäht – ich habe es mit eigenen +Augen gesehen.“ +</p> + +<p> +„Wie das? Ist’s möglich!“ Misintschikoff war erstaunt. +„Erzählen Sie doch, bitte!“ +</p> + +<p> +Ich erzählte, was ich gesehen und gehört hatte, +verschwieg aber alles, was sich auf „Eure Exzellenz“ +bezog. Misintschikoff hörte mir mit lebhafter Neugier +zu; sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, als +ich auf die Einhändigung der fünfzehn Tausend zu +sprechen kam. +</p> + +<p> +„Raffiniert!“ sagte er, als ich meine Erzählung +beendet hatte. „Das hätte ich eigentlich von Foma +gar nicht erwartet.“ +</p> + +<p> +„Jedenfalls – er hat das Geld zurückgewiesen! +Wie soll man sich das erklären? Doch nicht mit seinem +Seelenadel?“ +</p> + +<p> +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +„Er hat fünfzehn Tausend zurückgewiesen, um +später dreißig Tausend zu nehmen. Übrigens – wissen +Sie!“ fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „ich bezweifle +es, daß Foma eine bestimmte Berechnung gehabt +habe. Er ist doch ein unpraktischer Mensch – er +ist in seiner Art gleichfalls so etwas wie ein Dichter. +Fünfzehn Tausend ... hm! Sehen Sie: er hätte das +Geld sicherlich genommen und behalten, nur: er widerstand +nicht der Versuchung, Theater zu spielen, sich zu +verstellen, sich in schönem Lichte zu zeigen. Ich sage +Ihnen, er ist nichts als ein unendlich saurer, tränenreicher +Schwamm bei unbegrenzter Eigenliebe!“ +</p> + +<p> +Misintschikoff geriet beinahe in Wut. Man sah es +ihm an, daß er sich aufrichtig ärgerte; ja, es schien mir +sogar, als beneide er Foma wegen der angebotenen +fünfzehn Tausend. Ich beobachtete ihn genau. +</p> + +<p> +„Hm! Dann muß man großer Veränderungen gewärtig +sein,“ meinte er nachdenklich. „Jegor Iljitsch +ist ja bereit, Foma anzubeten. Was kann man wissen +... vielleicht wird er sie noch heiraten – einfach aus +Herzensrührung,“ sprach er durch die Zähne vor +sich hin. +</p> + +<p> +„So glauben Sie, daß diese schändliche, diese +widernatürliche Ehe mit diesem übergeschnappten, verdrehten +Frauenzimmer wirklich zustande kommen +wird?“ +</p> + +<p> +Misintschikoff warf mir einen forschenden Blick zu. +</p> + +<p> +„Diese Schurken!“ rief ich heftig aus. Er schwieg. +</p> + +<p> +„Übrigens haben sie es verstanden, ihre Idee recht +gut zu begründen,“ bemerkte Misintschikoff. „Sie behaupten +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +nämlich, daß er doch irgend etwas für die +Familie tun müsse.“ +</p> + +<p> +„Als ob er noch zu wenig für sie getan hätte!“ Ich +war empört. „Und auch Sie, auch Sie wagen noch +zu sagen, daß es eine vernünftige Idee sei – eine +dumme Gans zu heiraten!“ +</p> + +<p> +„O, ich stimme mit Ihnen darin vollkommen überein, +daß sie eine dumme Gans ist ... Hm! Es freut +mich, daß Sie Ihren Onkel so lieben ... auch ich kann +es nachfühlen ... obschon man mit ihrem Gelde das +Gut prächtig vergrößern könnte. Aber sie haben außerdem +noch andere Gründe: sie fürchten, daß Jegor Iljitsch +die Erzieherin seiner Kinder heiraten könnte – +Sie entsinnen sich doch noch des interessanten jungen +Mädchens, das nach Iljuscha eintrat?“ +</p> + +<p> +„Aber ... aber ist denn das möglich? Ist denn das +anzunehmen?“ fragte ich erregt. „Es scheint mir vielmehr +eine Verleumdung zu sein. Sagen Sie doch, um +Gottes willen, es interessiert mich über alle Maßen ...“ +</p> + +<p> +„O, er ist bis über die Ohren verliebt! Nur verbirgt +er es selbstredend.“ +</p> + +<p> +„Verbirgt es! Sie glauben, er will es verbergen? +Nun, aber sie? Liebt auch sie ihn?“ +</p> + +<p> +„Sehr leicht möglich, daß auch sie ihn liebt. Und +zudem sind ja alle Vorteile auf ihrer Seite: sie ist sehr +arm.“ +</p> + +<p> +„Aber welche Anhaltspunkte haben Sie, um hier +eine gegenseitige Liebe zu vermuten?“ +</p> + +<p> +„Da müßte man ja blind sein, wenn man das nicht +sehen wollte. Hinzu kommt, daß sie, glaube ich, sich +heimlich treffen. Es ist sogar behauptet worden, daß +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +sie unerlaubte Beziehungen unterhielten. Aber erzählen +Sie das, ich bitte Sie, nicht weiter. Ich sage +es Ihnen nur unterm Siegel der strengsten Verschwiegenheit.“ +</p> + +<p> +„Wie kann man nur an so etwas glauben!“ rief +ich unwillig aus. „Und Sie geben zu, daß Sie diesem +Märchen Glauben schenken?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich glaube ich es nicht ganz, ich bin +nicht dabei gewesen. Aber es kann sehr leicht möglich +sein.“ +</p> + +<p> +„Was! es kann möglich sein! Denken Sie doch nur +an die Ehrenhaftigkeit, an die Ehre meines Onkels!“ +</p> + +<p> +„Einverstanden. Aber man kann sich doch vergessen +– kann sich damit beruhigen, daß man später +mit der Heirat unfehlbar alles wieder gutmachen wird. +Das kommt ja häufig vor ... so läßt man sich denn +hinreißen. Doch ich sage nochmals, daß ich durchaus +nicht für die vollkommene Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte +einstehe, um so weniger, als man das Mädchen +hier schon zur Genüge in den Schmutz zu ziehen versucht +hat. So wurde zum Beispiel auch erzählt, daß +sie mit Widopljässoff ein Verhältnis habe.“ +</p> + +<p> +„Mit Widopljässoff! – Da sehen Sie es ja! Ist +das überhaupt denkbar? Ist es denn nicht ekelhaft, so +etwas auch nur zu hören? Und Sie glauben es?“ +</p> + +<p> +„Ich sage Ihnen doch, daß ich es nicht glaube,“ +antwortete Misintschikoff ruhig, „aber schließlich – +hätte es ja auch vorkommen können. In der Welt kann +alles vorkommen. Ich aber bin nicht zugegen gewesen, +und überdies finde ich, daß es mich nichts angeht. Da +Sie aber, wie ich sehe, an allen Dingen, die mit Ihrem +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +Onkel zu schaffen haben, so lebhaften Anteil nehmen, +so halte ich es für meine Pflicht, ausdrücklich hinzuzufügen, +daß dieses Verhältnis mit Widopljässoff allerdings +sehr wenig Wahrscheinliches für sich hat. Das +ganze Gerücht scheint vielmehr nur ein Machwerk Anna +Nilownas zu sein – der Perepelizyna. Sie hat natürlich +nur aus Neid diesen ganzen Klatsch verbreitet, da +sie früher selbst davon geträumt hat, Jegor Iljitsch zu +heiraten – bei Gott! – und zwar, wie ich glaube, +hauptsächlich deshalb, weil sie selbst die Tochter eines +Majors ist. Jetzt hat sie ihre Hoffnung aufgeben +müssen, und so ist auch ihre Wut danach. Doch, ich +glaube – ich habe Ihnen bereits alles erzählt und +dieses Thema erschöpft, und – offen gestanden – ich +bin nichts weniger als ein Freund von solchen Klatschgeschichten. +Außerdem verlieren wir über diesem Geschwätz +die kostbare Zeit. Ich bin, sehen Sie mal, ich +bin mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.“ +</p> + +<p> +„Mit einer Bitte? O, ich bin gern zu allem bereit, +was ich für Sie tun kann ...“ +</p> + +<p> +„Besten Dank; ich hoffe sogar, Sie gewissermaßen +mit meinem Anliegen zu interessieren; denn wie ich +sehe, lieben Sie Ihren Onkel und nehmen großen Anteil +an seinem Schicksal, namentlich bezüglich seiner zukünftigen +Ehe. Doch, vor <em>dieser</em> Bitte habe ich noch +eine andere Bitte an Sie.“ +</p> + +<p> +„Und das wäre?“ +</p> + +<p> +„Folgendes. Vielleicht werden Sie einwilligen, +meine Hauptbitte zu erfüllen, vielleicht aber auch nicht. +Daher würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen, +wenn Sie die Güte hätten, mir vorher Ihr Ehrenwort +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +als Edelmann und Ehrenmann zu geben, daß alles, +was Sie von mir hören werden, zwischen uns bleibt, +als größtes Geheimnis, und daß Sie in keinem Fall +und mit Ausnahme keiner einzigen Person dieses Geheimnis +verraten werden, sowie ferner, daß Sie die +betreffende Idee nicht für sich benutzen werden, diese +Idee, die ich jetzt notwendigerweise Ihnen mitteilen +muß. Sind Sie damit einverstanden?“ +</p> + +<p> +Die Einleitung war recht feierlich. Ich erklärte +mich mit seinen Bedingungen einverstanden. +</p> + +<p> +„Nun, und?“ fragte ich dann. +</p> + +<p> +„Die Sache ist im Grunde sehr einfach,“ begann +Misintschikoff. „Ich will, sehen Sie mal ... ich will +Tatjana Iwanowna entführen und sie dann heiraten. +Kurz, es soll etwas in der Art eines spanischen Romans +werden – Sie verstehen mich doch?“ +</p> + +<p> +Ich blickte Herrn Misintschikoff unverwandt in die +Augen, und es dauerte etwas, bis ich die ersten Worte +fand. +</p> + +<p> +„Ich ... ich begreife nicht ...“ sagte ich endlich; +„und außerdem,“ fuhr ich fort, „außerdem, da ich es +mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu haben +glaubte ... habe ich keineswegs erwartet ...“ +</p> + +<p> +„Erwartet oder nicht erwartet,“ unterbrach mich +Misintschikoff, „ins Unverblümte übersetzt, heißt das +ungefähr soviel wie: daß sowohl ich wie mein Vorhaben +dumm ist, nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Aber durchaus nicht ... nur ...“ +</p> + +<p> +„O, bitte sehr, tun Sie sich in Ihren Ausdrücken +keinen Zwang an. Beunruhigen Sie sich nicht. Sie +erweisen mir damit sogar ein großes Entgegenkommen; +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +denn so gelangen wir schneller zum Ziel. Ich gebe +übrigens gern zu, daß mein ganzer Plan so auf den +ersten Blick etwas sonderbar erscheinen muß. Doch +ganz abgesehen davon, versichere ich Sie, daß meine +Absicht nicht nur keineswegs dumm, sondern sogar +höchst vernünftig ist. Und wenn Sie so freundlich sein +wollen, zuerst die Klarlegung der Verhältnisse anzuhören, +so ...“ +</p> + +<p> +„O, bitte – ich bin sehr gespannt.“ +</p> + +<p> +„Übrigens ist hier fast nichts zu erzählen. Sehen +Sie mal: ich habe augenblicklich nur Schulden und +dementsprechend keine Kopeke in der Tasche. Außerdem +habe ich noch eine Schwester, ein Mädchen von +ungefähr neunzehn Jahren. Sie ist Waise, wissen +Sie, gänzlich mittellos und verdient sich selbst ihr Brot. +Das ist zum Teil auch meine Schuld. Wir erbten +vierzig Seelen. Da mußte ich wie verhext gerade damals +zum Fähnrich avancieren! Nun, zuerst natürlich +verpfändete ich die vierzig Seelen, dann brachte ich sie +durch. Ich führte ein törichtes Leben, gab den Ton +an, spielte den Lebemann, spielte auch am grünen Tisch, +trank – mit einem Wort: töricht war’s, man schämt +sich geradezu, daran zu denken. Jetzt bin ich zur Besinnung +gekommen, habe mich anders bedacht: ich will +nun ein ganz neues Leben beginnen. Zu diesem Zweck +aber brauche ich unumgänglich eine Summe von +hunderttausend Rubeln in bar. Da ich jedoch mit dem +Offiziersdienst nichts verdienen würde, zu irgendeinem +Beruf nicht begabt bin und fast gar keine wissenschaftliche +Bildung habe, so bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: +entweder zu stehlen oder eine reiche Dame zu +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +heiraten. Hergekommen bin ich so gut wie ohne Stiefel, +und, wohl verstanden: ich bin zu Fuß gekommen, nicht +mit Postpferden. Meine Schwester gab mir ihre letzten +drei Rubel, als ich mich aus Moskau fortbegab. Hier +lernte ich diese Tatjana Iwanowna kennen, und mir +kam sofort ein Gedanke. Ich beschloß, mich zu opfern +und sie zu heiraten. Sie müssen mir doch zugeben, +daß das nichts anderes ist als – Vernünftigkeit. Zudem +tue ich es ja mehr für meine Schwester ... das +heißt, in erster Linie selbstredend für mich ...“ +</p> + +<p> +„Aber erlauben Sie, Sie wollen doch formell bei +Tatjana Iwanowna anhalten?“ +</p> + +<p> +„Gott soll mich davor bewahren! Dann wäre ich +ja am längsten hier gewesen, und auch sie würde nicht +wollen. Schlage ich ihr dagegen eine Entführung vor, +eine Flucht, so wird sie sofort einwilligen. Das ist die +Hauptsache: es muß etwas Romantisches, etwas Effektvolles +sein. Versteht sich, wir werden dann in kürzester +Zeit gesetzmäßig getraut werden. Wenn man sie nur +erst einmal herausgelockt hätte!“ +</p> + +<p> +„Aber wie können Sie so fest überzeugt sein, daß +sie mit Ihnen entfliehen wird?“ +</p> + +<p> +„O, machen Sie sich deshalb keine Sorgen! Davon +bin ich vollkommen überzeugt. Das ist ja gerade +mein Grundgedanke, wenn ich so sagen darf, daß Tatjana +Iwanowna tatsächlich fähig ist, mit jedem ersten +besten eine Liebesgeschichte anzufangen, buchstäblich mit +jedem, dem es nur einfällt, darauf einzugehen. Deswegen +habe ich auch Ihnen zuerst das Ehrenwort abgenommen, +diese Idee nicht zu Ihren eigenen Gunsten +auszunutzen. Jetzt werden Sie, denke ich, begreifen, +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +daß es von mir einfach Sünde wäre, wenn ich diese +Gelegenheit nicht benutzen wollte, und noch dazu bei +meinen Verhältnissen.“ +</p> + +<p> +„So ist sie denn also ganz und gar verrückt ... +Ach! verzeihen Sie,“ unterbrach ich mich, plötzlich mich +besinnend, „da Sie jetzt diese Absicht haben, so ...“ +</p> + +<p> +„Bitte, genieren Sie sich nicht, ich habe Sie darum +schon einmal gebeten. Sie fragen, ob Tatjana Iwanowna +total verrückt sei? Was soll ich Ihnen darauf +antworten? Natürlich ist sie <em>nicht</em> verrückt; denn noch +sitzt sie nicht in einer Irrenanstalt. Zudem vermag +ich in dieser Manie für Liebesdinge eigentlich keinen +besonderen Irrsinn zu sehen. Sie aber ist trotz allem +ein ehrenhaftes Mädchen. Sehen Sie mal: vor einem +Jahre war sie noch entsetzlich arm, hatte seit ihrer Geburt +bei ihren Wohltäterinnen wie im Joch gelebt. Sie +hat ein sehr gefühlvolles Herz, um ihre Hand hat niemand +sie jemals gebeten ... Nun, Sie verstehen: +Träume, Wünsche, Hoffnungen, die Leidenschaften, die +sie beständig hat unterdrücken müssen, die ewigen Schikanen +der sogenannten Wohltäterinnen – alles das +zusammen konnte seinen empfindsamen Menschen sehr +wohl aufreiben. Und dann plötzlich dieser Reichtum! +Sie werden doch zugeben, daß so etwas nicht nur eine +Tatjana Iwanowna aus dem Gleichgewicht bringen +kann. Nun, und jetzt sind natürlich alle hinter ihr her, +alle machen ihr den Hof, umschwärmen sie – und alle +ihre Hoffnungen sind auferstanden. Was sie zum Beispiel +beim Tee von dem Geck in der weißen Weste erzählte, +– Tatsache, es ist wirklich buchstäblich alles so +geschehen, wie Sie es gehört haben. Nach dieser Begebenheit +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +können Sie sich auch das übrige denken. Mit +Seufzern, Billets-doux, Gedichten können Sie sie sofort +erobern, und wenn Sie dann noch heimliche Zusammenkünfte, +spanische Serenaden und diesen ganzen Humbug +hinzufügen, so können Sie sie zu allem bewegen. +Ich habe auch schon einmal einen Versuch gemacht und +sogleich ein nächtliches Stelldichein erreicht. Vorläufig +habe ich mich aber bis zu günstigerer Zeit auf +neutralen Boden zurückgezogen. Doch spätestens binnen +vier Tagen wird man sie entführen müssen. Am Tage +vor der Entführung fange ich mit dem Mumpitz an: +Augendrehen, Seufzer und so weiter ... ich spiele nicht +schlecht Gitarre und singe sogar. In der Nacht ein +Stelldichein in der Laube und – beim Morgengrauen +ist der Wagen bereit: ich locke sie hinaus, wir steigen +ein und fahren los. Wie Sie sehen, ist hierbei nichts +zu riskieren: sie ist mündig – und ganz abgesehen davon, +wird es doch ihr freier Wille sein. Und wenn +sie erst einmal mit mir entflohen ist, so heißt das natürlich, +daß ... wir uns gegenseitig verpflichtet haben. +Ich werde sie in eine gute, aber arme Familie bringen +– ich kenne hier eine, vierzig Werst von hier – wo +man sie bis zur Hochzeit auf den Händen tragen, doch +keinen Menschen zu ihr lassen wird. Und ich werde +inzwischen auch nicht unnütz die Zeit verlieren: nach +spätestens drei Tagen müssen wir getraut sein – das +läßt sich machen. Natürlich gehört dazu vor allen +Dingen Geld. Aber ich habe schon berechnet: ich brauche +nicht mehr als fünfhundert Rubel für das ganze Intermezzo, +und zwar hoffe ich in der Beziehung auf Jegor +Iljitsch: er wird sie mir geben, natürlich ohne zu wissen, +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +um was es sich handelt. Haben Sie mich jetzt vollkommen +verstanden?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ sagte ich, da ich ihn allerdings nur zu gut +verstanden hatte. „Aber sagen Sie doch, bitte, inwiefern +ich Ihnen hierbei behilflich sein könnte?“ +</p> + +<p> +„O, in sehr vielem, ich bitte Sie! Sonst hätte ich +Sie doch wahrlich nicht eingeweiht. Ich habe Ihnen +schon gesagt, daß ich sie in eine arme, aber sehr ehrenwerte +Familie zu bringen beabsichtige. Sie nun können +mir sowohl hier wie dort aushelfen, außerdem mein +Trauzeuge sein. Ohne Ihren Beistand stehe ich gleichsam +mit gebundenen Händen da.“ +</p> + +<p> +„Noch eine Frage: Warum haben Sie gerade mich +Ihres Vertrauens gewürdigt? Sie kennen mich doch +gar nicht, ich bin doch erst vor ein paar Stunden hier +eingetroffen.“ +</p> + +<p> +„Ihre Frage,“ antwortete Misintschikoff mit dem +liebenswürdigsten Lächeln, „Ihre Frage bereitet mir, +offen gestanden, ein großes Vergnügen; denn sie bietet +mir Gelegenheit, Sie meiner ganz besonderen Hochachtung +zu versichern.“ +</p> + +<p> +„O, zuviel Ehre!“ +</p> + +<p> +„Nein, sehen Sie mal, ich habe Sie vorhin, beim +Tee, ein wenig studiert. Sie sind, nun ja, Sie sind +heftig und ... und ... nun ja, und noch jung. Aber +von einem bin ich durchaus überzeugt: Wenn Sie mir +einmal Ihr Wort gegeben haben, keinem Menschen etwas +davon zu erzählen, so werden Sie es auch halten. +Sie sind kein Obnoskin – dies wäre Punkt eins. Punkt +zwei: Sie sind ehrlich und werden mir meine Idee nicht +stehlen, nicht wahr – natürlich ausgenommen den +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +Fall, daß Sie etwa mit mir in aller Freundschaft einen +entsprechenden Vergleich abschließen wollten. In dem +Fall wäre ich vielleicht einverstanden, Ihnen meine Idee +abzutreten, oder vielmehr: Tatjana Iwanowna. Und +ich würde sogar bereit sein, Ihnen bei der Entführung +eifrig beizustehen, nur mit der Bedingung, daß Sie mir +einen Monat nach der Trauung eine Summe von fünfzigtausend +Rubel bar zahlen, selbstredend nach einer +vorhergehenden Sicherstellung durch eine Schuldverschreibung +... doch ohne Prozente.“ +</p> + +<p> +„Wie! Sie bieten die Dame jetzt bereits mir an?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich kann ich sie abtreten ... wenn +Sie es sich überlegen sollten und zulangen wollen. +Freilich verliere ich dabei, aber ... Doch die Idee gehört +nun einmal mir, und für Ideen nimmt man doch +Geld. Und schließlich, drittens, habe ich Sie gewählt, +weil mir keine andere Wahl übrigbleibt. Lange zu +zögern aber erscheint mir, nachdem ich mir über die +hier herrschenden Zustände klar geworden bin, mehr +als gefährlich. Hinzu kommt, daß bald die Fastenzeit +vor Mariä Himmelfahrt beginnt und dann nicht getraut +wird. So, jetzt haben Sie mich hoffentlich ganz +verstanden?“ +</p> + +<p> +„Vollkommen, und ich verspreche Ihnen nochmals, +Ihr Geheimnis heilig zu halten. Ihr Helfershelfer +kann ich aber in dieser Angelegenheit nicht sein, was +Ihnen unverzüglich mitzuteilen ich für meine Pflicht +halte.“ +</p> + +<p> +„Wieso, weshalb nicht?“ +</p> + +<p> +„Sie fragen noch?“ rief ich heftig aus, endlich den +Gefühlen, die sich in mir angesammelt hatten, freien +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +Lauf lassend. „Sehen Sie denn nicht ein, daß eine +solche Handlung schuftig, unehrenhaft ist? Gut, nehmen +wir an, Sie rechneten ganz richtig, wenn Sie sich +auf die Unklugheit und die unglückliche Manie dieses +Mädchens stützen, aber – ebendies müßte Sie doch als +Ehrenmann davon abhalten! Sie sagen ja selbst, daß +Tatjana Iwanowna ein ehrenwertes Mädchen sei, wenn +sie auch lächerlich ist. Und nun plötzlich wollen Sie +ihr Unglück benutzen, um ihr hunderttausend Rubel abzuzapfen! +Sie werden doch gewiß nicht ihr wirklicher +Mann sein, der seine Pflicht in jeder Beziehung erfüllt. +Sie werden sie unfehlbar verlassen ... Das ist aber +so wenig ehrenhaft, daß ich, verzeihen Sie, eigentlich +nicht begreife, wie Sie sich haben entschließen +können mir die Rolle eines Helfershelfers zuzumuten!“ +</p> + +<p> +„Donnerwetter, das ist mir mal eine Romantik!“ +rief Misintschikoff aus, während er mich mit ehrlicher +Verwunderung ansah. „Übrigens handelt es sich hier +wohl nicht so sehr um Romantik, sondern – Sie scheinen +einfach nicht zu begreifen, um was es sich handelt. Sie +sagen, es sei unehrenhaft, vergessen aber, daß alle Vorteile +nicht auf meiner, sondern auf ihrer Seite sind +... Bedenken Sie doch nur ...“ +</p> + +<p> +„Ja, natürlich, wenn man von Ihrem Standpunkt +aus urteilt, dann ergibt sich womöglich noch, daß Sie +die großmütigste Tat begehen, wenn Sie Tatjana Iwanowna +heiraten,“ antwortete ich mit sarkastischem +Lächeln. +</p> + +<p> +„Ja, wie denn nicht? Aber das <em>ist</em> es doch! Es +ist doch tatsächlich eine großmütige Tat!“ rief Misintschikoff +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +aus, der nun seinerseits in Hitze geriet. „Überlegen +Sie es sich doch nur: erstens opfere ich mich und +willige ein, ihr Mann zu sein – das kostet doch wohl +etwas? Zweitens: ungeachtet dessen, daß sie blank und +bar mehrere hunderttausend Rubel besitzt, werde ich nur +einhunderttausend Rubel von ihr nehmen. Ich habe +mir bereits mein Wort gegeben, daß ich, solange ich +lebe, keine Kopeke mehr von ihr nehmen werde, obgleich +ich es doch könnte: das aber kostet doch wiederum +etwas – denken Sie nur nach: kann sie denn so ihr +Leben ruhig verbringen? Damit sie ruhig leben kann, +muß man ihr unbedingt das Geld abnehmen und ... +müßte sie eigentlich in eine Irrenanstalt einsperren; +denn sonst kann man sich darauf gefaßt machen, daß +in jeder Minute irgendein Tagedieb, ein Schwindler +oder Spekulant auftaucht, irgend so einer mit einem +Spitzbart und Schnurrbart, mit einer Gitarre und mit +Serenaden – wie etwa Obnoskin – der sie verführt, +sie heiratet, ihr alles abnimmt und sie dann auf der +Landstraße sitzen läßt. Hier, zum Beispiel, befinden +wir uns in einem ehrenwertesten Hause – und dennoch +hat man sie auch hier nur deshalb aufgenommen, +weil man auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen zweifelhaften +Chancen muß man sie bewahren, beschützen, +retten. Nun aber, begreifen Sie doch, sobald sie mich +geheiratet hat, hört diese Berechnung sofort auf. Ich +werde schon dafür Sorge tragen, daß kein Unglück sie +wird treffen können. Nach der Trauung bringe ich +sie zuerst nach Moskau in eine ehrenwerte, doch mittellose +Familie – ich meine jetzt nicht jene, von der ich +vorhin sprach –, nein, in eine andere Familie. Meine +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +Schwester wird beständig bei ihr sein. Man wird sie +nicht aus den Augen lassen. An Geld behält sie etwa +zweihundertfünfzigtausend Rubel, vielleicht sogar dreihunderttausend: +damit kann man, wissen Sie, doch +leben! Alle Vergnügungen sollen ihr geboten werden, +alle Zerstreuungen, Bälle, Maskeraden, Konzerte. Sie +kann sogar von Liebesabenteuern träumen – wenn +ich mich auch in der Beziehung natürlich sicherstellen +werde: träume soviel du willst, in Wirklichkeit aber +– nie und nimmer! Jetzt kann ein jeder sie beleidigen, +dann aber kann das keiner mehr tun: sie ist meine +Frau, Madame Misintschikoff, und meinen Namen gebe +ich nicht zum Gespött hin! Denken Sie doch nur, was +das allein wert ist – das kostet doch etwas! Selbstredend +werde ich nicht mit ihr zusammen leben: sie in +Moskau und ich irgendwo in Petersburg. Diese meine +Absicht teile ich Ihnen gleichfalls im voraus mit; denn +Ihnen gegenüber will ich ehrlich sein. Aber was hat +denn das auf sich, daß wir getrennt leben? Überlegen +Sie es sich doch nur, denken Sie an ihren Charakter +und sagen Sie selbst: Ist sie denn überhaupt fähig, Frau +zu sein und mit ihrem Mann zusammen zu leben? Kann +man denn auch nur irgendeine Beständigkeit von ihr +erwarten? Sie ist doch das leichtsinnigste Geschöpf der +Welt! Sie bedarf ewig der Veränderung. Sie ist +fähig, am nächsten Tage zu vergessen, daß sie vor vierundzwanzig +Stunden mir angetraut worden ist. Ja, +ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn +ich mit ihr zusammen leben und strenge Erfüllung ihrer +ehelichen Pflichten verlangen wollte! Natürlich werde +ich sie von Zeit zu Zeit besuchen, etwa einmal im Jahr +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +oder auch öfter, aber nicht, um dann Geld von ihr zu +verlangen – ich versichere Sie, daß ich nichts von ihr +verlangen werde. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich +mehr als hunderttausend Rubel nicht nehmen werde, +bestimmt nicht! Im Geldpunkt werde ich mehr als verständig +sein. Wenn ich auf zwei, drei Tage zum Besuch +komme, werde ich ihr sogar Vergnügen und nicht +etwa Langeweile bereiten: ich werde mit ihr scherzen, +werde ihr Geschichten erzählen, werde mit ihr Bälle +besuchen, flirten, ihr Andenken schenken, Romanzen +singen und einen Liebesbriefwechsel mit ihr eingehen. +Sie wird doch einfach entzückt sein – von einem so +romantischen, verliebten und liebenswürdigen Ehemann! +Meiner Meinung nach ist es sogar sehr rationell: alle +Männer sollten so verfahren. Den Frauen sind sie ja +nur dann wertvoll, wenn sie abwesend sind, und wenn +ich mein System durchhalte, werde ich gewiß in der +süßesten Weise Tatjana Iwanownas Herz für ihr +ganzes Leben einnehmen. Was könnte man ihr noch +Besseres wünschen? Sagen Sie doch! Das ist ja ein +Paradies, aber keine Erdenwirklichkeit!“ +</p> + +<p> +Ich hörte schweigend und mit wachsender Verwunderung +zu. Ich sagte mir, daß man Herrn Misintschikoff +nicht gut widerlegen konnte. Er war von der +Rechtlichkeit und Genialität seines Projektes fanatisch +überzeugt und sprach von ihm mit der ganzen Begeisterung +eines Erfinders. Es blieb nur noch ein +peinlicher Punkt übrig, über den man sich unbedingt +aussprechen mußte. +</p> + +<p> +„Aber denken Sie denn gar nicht daran,“ fragte +ich, „daß sie schon so gut wie die Braut meines Onkels +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +ist? Wenn Sie sie nun entführen, dann nehmen Sie +ihm die Braut fast am Tage vor der öffentlichen Verlobung +fort und tun es außerdem noch mit seinem +Gelde, das Sie von ihm zur Ausführung der gewagten +Tat borgen wollen und werden.“ +</p> + +<p> +„Warten Sie, damit fange ich Sie gerade!“ rief +Misintschikoff eifrig aus. „Ich habe diese Ihre Einwendung +vorausgesehen. Aber erstens – und das ist +die Hauptsache: Ihr Onkel hat ja noch nicht bei ihr +angehalten, folglich brauche ich doch gar nicht zu wissen, +daß man ihn mit ihr verkuppeln will. Zudem bitte +ich, nicht zu vergessen, daß ich bereits vor drei Wochen +meinen Entschluß gefaßt habe, also zu einer Zeit, als +ich von allen Absichten der Generalin und Foma Fomitschs +nichts ahnte. Folglich bin ich in moralischer +Hinsicht durchaus im Recht, und genau genommen, +mache nicht ich ihm, sondern macht er mir die Braut +abspenstig, mit der ich – nicht zu vergessen! – inzwischen +schon ein nächtliches Stelldichein in der Laube +gehabt habe. Und dann erlauben Sie mal: Waren Sie +nicht selbst außer sich darüber, daß man Ihren lieben +Onkel mit dieser Tatjana Iwanowna verheiraten will? +Und nun treten Sie plötzlich für diese Ehe ein, reden +von Familienbeleidigung und Ehre! Im Gegenteil: ich +verpflichte mir Ihren Onkel ganz außerordentlich, ich +rette ihn gewissermaßen – das müssen Sie doch einsehen! +Er denkt mit Ekel an diese Heirat – und hinzu +kommt noch, daß er ein anderes Mädchen liebt. Und +was wäre denn Tatjana Iwanowna für eine Frau für +ihn? Und auch sie würde doch mit ihm nur unglücklich +werden; denn – sagen Sie, was Sie wollen – man +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +wird sie dann doch zum mindesten im Zaume halten +müssen, damit sie wenigstens jungen Herren keine Rosen +zuwirft! Und wenn ich sie in der Nacht entführe, so +kann doch weder die Generalin noch ein Foma Fomitsch +als Hindernis in den Weg treten. Ein einmal entführtes +Mädchen aber zu heiraten, das ist auch gerade +keine Ehre. Also – verpflichte ich mir Jegor Iljitsch +nicht zu ewigem Dank? Wende ich nicht ein großes +Unglück von ihm ab?“ +</p> + +<p> +Dieses letzte Argument machte allerdings einen sehr +starken Eindruck auf mich. +</p> + +<p> +„Aber wenn er morgen bei ihr anhält?“ fragte +ich. „Dann würde es doch zu spät sein – wenn sie +seine offizielle Braut ist.“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich wäre es dann zu spät. Deshalb +muß man auch schnell handeln, um dies zu verhüten. +Weshalb und wozu habe ich Sie denn um Ihren +Beistand gebeten? Allein würde es mir schwerfallen, +vereint aber könnten wir alles gut einleiten und durchführen, +können wir vor allem verhindern, daß Jegor +Iljitsch bei ihr anhält. Man muß alles daransetzen, +um das, wie gesagt, zu verhindern, muß im äußersten +Fall – wenn’s nicht anders geht – Foma Fomitsch +verprügeln und damit die allgemeine Aufmerksamkeit +so ablenken, daß dann niemand mehr an Hochzeiten +denkt. Selbstredend käme dieses Mittel nur für den +äußersten Fall in Frage; wie gesagt, ich nahm es nur +als Beispiel. Nun sehen Sie: In all diesen Beziehungen +hoffe ich auf Sie.“ +</p> + +<p> +„Noch eine Frage, die letzte: Haben Sie außer mir +niemandem etwas von Ihrem Plan gesagt?“ +</p> + +<p> +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +Misintschikoff kratzte sich ein wenig hinterm Ohr +und schnitt eine überaus saure Grimasse. +</p> + +<p> +„Ich will Ihnen gestehen,“ antwortete er, „daß +diese Frage für mich schlimmer ist als die bitterste Pille. +Das ist ja der Haken, daß ich meinen Plan schon einem +anderen mitgeteilt habe ... Ich habe ... ich habe ... +ich habe mir da einen verteufelten Brei eingebrockt! +Und was glauben Sie wohl, wem ich ihn mitgeteilt +habe? – <em>Obnoskin!</em> Ich begreife es selbst nicht, +ich kann es mir selber gar nicht glauben! ... Ja, ich +weiß nicht einmal, wie es eigentlich kam! Er scharwenzelte +hier herum ... ich kannte ihn noch nicht näher, +und als die Eingebung mich beglückte, da war ich natürlich +wie im Fieber – ... und da ich mir gleichzeitig +sagte, daß ich ohne einen Helfershelfer nicht auskommen +würde, so wandte ich mich eben an Obnoskin. +... Unverzeihlich von mir, unverzeihlich!“ +</p> + +<p> +„Nun, und Obnoskin?“ +</p> + +<p> +„O, er war mit Begeisterung zu allem bereit, aber +am nächsten Morgen verschwand er. Nach drei Tagen +erschien er wieder – diesmal aber mit seiner Frau +Mutter. Mit mir spricht er seitdem kein Wort und er +meidet mich sogar auffallend: er scheint mich geradezu zu +fürchten. Ich begriff natürlich sofort, um was es sich +handelte. Seine Mutter ist ein so abgefeimtes, durchtriebenes +Frauenzimmer, wie man ein zweites schwerlich +finden könnte. Ich habe sie schon früher gekannt. +Er hat ihr natürlich alles erzählt. Ich schweige vorläufig +und warte ab. Sie spionieren hier jetzt eifrig +herum, und die Situation ist sehr gespannt ... Deshalb +beeile ich mich auch.“ +</p> + +<p> +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +„Was befürchten Sie denn von ihnen?“ +</p> + +<p> +„Großes werden sie freilich nicht ausrichten; daß +sie aber Unfug anstiften werden, davon bin ich überzeugt. +Wahrscheinlich werden sie fürs Schweigen und +vielleicht auch für ihren Beistand Geld fordern – +darauf bin ich schon gefaßt. Aber mehr als dreitausend +bar – kann ich unmöglich. Urteilen Sie selbst: +Dreitausend den Obnoskins, fünfhundert blank und +bar für die Trauung und Entführung; denn dem Onkel +muß unverzüglich die ganze Summe zurückgegeben +werden. Dann noch alte Schulden. Nun, meiner +Schwester noch eine kleine Summe, nicht viel, aber +immerhin etwas. Was bleibt dann von hunderttausend +noch übrig? Das ist doch der reine Bankrott! ... Die +Obnoskins sind übrigens heute fortgefahren.“ +</p> + +<p> +„Fortgefahren?“ fragte ich interessiert. +</p> + +<p> +„Sogleich nach dem Tee. Ach, zum Teufel mit +ihnen! Morgen aber, das werden sie sehen, werden +Mutter und Sohn wieder erscheinen. Nun, wie ist’s +denn, sind Sie einverstanden?“ +</p> + +<p> +„Ich ... verzeihen Sie,“ begann ich zögernd in +dieser etwas peinlichen Lage, „ich weiß nicht recht, was +ich sagen soll. Die Sache ist etwas kitzlig ... Ich +werde das Geheimnis natürlich heilig halten – ich bin +nicht Obnoskin ... aber, ich glaube ... Sie können +sich nicht auf meinen Beistand verlassen.“ +</p> + +<p> +„Ich sehe,“ sagte Misintschikoff ruhig und erhob +sich vom Stuhl, „ich sehe, daß Foma Fomitsch und die +Großmama Ihre Geduld noch nicht erschöpft haben, +und daß Sie, wenn Sie Ihren guten, durch und durch +edlen Onkel auch lieben mögen, dennoch nicht genügend +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +begriffen haben, wie sehr er gequält wird. Sie sind +hier noch Neuling ... Aber nur ein wenig Geduld! +Wenn Sie nur den morgigen Tag noch miterleben, +werden Sie schon am Abend einwilligen; denn sonst +ist doch Ihr Onkel rettungslos verloren – Sie verstehen +mich? Man wird ihn unfehlbar zwingen, Tatjana +Iwanowna zu heiraten. Und vergessen Sie nicht, +daß er vielleicht morgen schon anhalten wird. Dann +werden wir zu spät kommen – man müßte sich also +eigentlich schon heute entschließen.“ +</p> + +<p> +„Glauben Sie mir, ich wünsche Ihnen den besten +Erfolg, aber helfen ... ich weiß nicht recht ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut. Warten wir bis morgen,“ entschied +Misintschikoff mit etwas spöttischem Lächeln. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">La +nuit porte conseil.</span> Auf Wiedersehen! Ich werde +morgen etwas früher zu Ihnen kommen, und Sie überlegen +es sich inzwischen ...“ +</p> + +<p> +Er ging, irgend etwas vor sich hinpfeifend. +</p> + +<p> +Ich trat fast unmittelbar nach ihm hinaus in den +Garten, um mich zu erfrischen. Der Mond war noch +nicht aufgegangen. Die Nacht war dunkel, die Luft +warm und schwül. Die Blätter der Bäume regten +sich nicht. Ungeachtet meiner entsetzlichen Müdigkeit +wollte ich etwas gehen, mich zerstreuen und doch wieder +meine Gedanken sammeln. Ich war aber noch keine +zehn Schritte gegangen, als ich die Stimme meines +Onkels vernahm. Er stieg mit einem anderen die +Treppenstufen zum Sommerhaus hinan und sprach lebhaft. +Ich kehrte sofort zurück und rief ihn. Der andere +war Widopljässoff. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-14"> +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +<span class="firstline">XI.</span><br> +Äußerste Verwunderungen. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>O</span><span class="postfirstchar">nkel!“</span> rief ich, „da sind Sie ja endlich!“ +</p> + +<p> +„Freund, ich wollte mich die ganze Zeit losmachen, +um zu dir zu kommen. Laß mich jetzt noch den Widopljässoff +abfertigen, dann können wir uns ruhig aussprechen. +Ich habe dir viel zu erzählen.“ +</p> + +<p> +„Wie, Sie wollen sich noch mit Widopljässoff abgeben! +Schicken Sie ihn doch zum Teufel, Onkel!“ +</p> + +<p> +„Nur noch fünf, höchstens zehn Minuten, und ich +gehöre dir allein, Ssergei. Sieh: es handelt sich um +eine wichtige Angelegenheit.“ +</p> + +<p> +„Ach, der Kerl kommt doch sicherlich nur mit +Dummheiten!“ meinte ich ärgerlich. +</p> + +<p> +„Ja, was soll ich dir nun sagen, mein Bester? +Hättest du dir nicht eine andere Zeit wählen können, +um mir mit diesen Kleinigkeiten zu kommen! Hast du +denn wirklich keine andere Zeit, um deine Klagen vorzubringen, +Grigorij? Nun, was kann ich denn für dich +tun? Hab doch <em>du</em> wenigstens Mitleid mit mir! Ich +werde ja doch von euch sozusagen wie eine Zitrone ausgepreßt, +werde lebendig verzehrt, gierig verschlungen! +Meine Kraft ist erschöpft, Ssergei!“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel streckte die Arme auseinander, wie +in aussichtsloser Verzweiflung. +</p> + +<p> +„Was ist denn das für eine so wichtige Sache, daß +sie sich nicht bis morgen früh aufschieben läßt? Ich +hätte es dagegen so dringend nötig, mit Ihnen, Onkel, +über Wichtiges zu reden ...“ +</p> + +<p> +„Ach Freund, es wird ja ohnehin schon laut genug +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +geklagt und geschrien, daß ich mich um die Sittlichkeit +meiner Leute nicht kümmere! Da könnte er sich ja +morgen über mich beschweren, daß ich ihn nicht angehört +hätte, und dann ...“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel machte wieder seine bezeichnende +Armbewegung. +</p> + +<p> +„Na, dann fertigen Sie ihn schnell ab! Kann ich +Ihnen nicht helfen? Gehen wir hinein. Was will +er denn eigentlich?“ fragte ich, als wir ins Zimmer +traten. +</p> + +<p> +„Ja, sieh mal, Freund, sein Familienname gefällt +ihm nicht, er bittet mich, ihm einen anderen zu verschaffen. +Was sagst du dazu?“ +</p> + +<p> +„Sein Familienname gefällt ihm nicht? Wie das? +... Wissen Sie, Onkel, bevor ich ihn selbst anhöre, +erlauben Sie, Ihnen zu sagen, daß nur in Ihrem Hause +solche Wunderlichkeiten vorkommen können!“ Und vor +lauter Nichtverstehenkönnen breitete ich kopfschüttelnd +die Arme aus. +</p> + +<p> +„Ach, Freund! Glaub mir, auch ich verstehe es, so +die Arme auszubreiten, aber damit ist keinem geholfen!“ +sagte mein Onkel etwas ärgerlich. „Versuch es doch, +mit ihm zu reden, versuch’s nur. Schon ganze zwei +Monate quält er mich damit ...“ +</p> + +<p> +„Es ist ein unbegründeter Familienname,“ bemerkte +Widopljässoff von der Tür her. +</p> + +<p> +„Warum denn ein unbegründeter?“ fragte ich ihn +erstaunt. +</p> + +<p> +„So. Ich meine, er stellt jede Abscheulichkeit dar, +die man sich nur ausdenken kann.“ +</p> + +<p> +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +„Wieso – jede Abscheulichkeit? Und wie soll man +ihn denn ändern? Wer tut denn so etwas überhaupt?“ +</p> + +<p> +„Ich bitte Euch, welcher Mensch hat denn einen +solchen Familiennamen?“ +</p> + +<p> +„Ich gebe ja zu, daß dein Familienname zum Teil +etwas eigenartig ist,“ fuhr ich in wachsender Verwunderung +fort, „aber was läßt sich denn jetzt noch +daran ändern? Dein Vater hat doch denselben Namen +geführt?“ +</p> + +<p> +„Das ist durchaus wahr: daß ich durch meinen +Vater dieserhalb zu ewigem Leiden verurteilt bin, da +es mir beschieden ist, dank meinem Namen viel Spott +und Schimpf ertragen zu müssen,“ antwortete Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Ich könnte wetten, Onkel, daß hinter dieser Idee +Foma Fomitsch steckt!“ rief ich geärgert aus. +</p> + +<p> +„Nein, nein, Freund, nein, da täuschst du dich! Es +ist allerdings wahr, Foma tut ihm viel Gutes. Er +hat ihn zu seinem Sekretär ernannt. In Sekretärobliegenheiten +besteht jetzt seine ganze Beschäftigung. +Nun und außerdem hat Foma selbstverständlich für +seine geistige Entwicklung gesorgt, hat ihn zu wahrem +Seelenadel erhoben, so daß ihm in gewisser Beziehung +sogar ein Licht aufgegangen ist ... Hör, ich werde dir +alles erzählen ...“ +</p> + +<p> +„Das stimmt genau,“ unterbrach Widopljässoff, +„daß Foma Fomitsch mein wahrhaftiger Wohltäter +sind, und da sie mein wahrhaftiger Wohltäter sind, +haben sie mir auch meine ganze irdische Nichtigkeit +mehrfach bewiesen, wie ich beispielsweise hier auf +Erden nur ein Wurm bin, so daß ich nur dank ihrer +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +Unterweisungen zum erstenmal mein Schicksal erkannt +und vorausgesehen habe.“ +</p> + +<p> +„Hör mich an, Sserjosha, ich werde dir erzählen, +um was es sich hier handelt,“ wandte sich mein Onkel +eilig, wie es seine Art war, an mich wie an einen +Schiedsrichter. „Er lebte zuerst, fast seit seiner Kindheit, +in Moskau bei einem Schönschreiblehrer als – +nun, so als dienstbarer Geist. Du müßtest sehen, wie +er bei ihm die Schönschreibekunst erlernt hat: mit +Farben und Gold ... und ... rund herum, weißt du, +malt er dir noch Kupidos – mit einem Wort, ein +Künstler! Iljuscha lernt jetzt bei ihm Schönschreiben. +Zahle ihm anderthalb Rubel für die Stunde. Foma +hat selbst den Preis bestimmt, anderthalb Rubel, wie +gesagt. Er fährt außerdem zu drei benachbarten Gutsbesitzern +ins Haus – die zahlen gleichfalls. Und sieh, +wie er sich kleidet! Außerdem schreibt er Gedichte.“ +</p> + +<p> +„Gedichte! Das fehlte gerade noch!“ +</p> + +<p> +„Jawohl, Gedichte, Freund, glaub mir, Gedichte! +Und denke nicht, daß ich scherze: wirkliche Gedichte, +sag ich dir, Versifikationen, oder wie man es nennt, +mit Reimen am Ende. Er behandelt alle Gegenstände, +nimmt irgendein x-beliebiges Ding und beschreibt’s dir +sofort in Versen. Ein richtiges Talent, sozusagen. +Zum Namenstage meiner Mutter hatte er eine Epistel +verfaßt, daß wir nur so die Münder aufsperrten: sogar +aus der Mythologie hatte er was genommen, und +die Musen schwebten in der Luft, so daß sogar, weißt +du, diese ... wie heißt das Ding doch gleich? – na +ja, diese Vollendung der Form zu sehen war, – mit +einem Wort, jede Zeile klappte und reimte sich immer +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +mit einer vorhergehenden. Foma hatte es korrigiert +... Nun, ich, natürlich – was sollte ich sagen? freute +mich auch meinerseits. Mag er doch dichten, wenn er +es nur nicht zu bunt treibt! Ich, weißt du, Grigorij,“ +wandte er sich an Widopljässoff, „ich sage dir das ja +nur wie ein Vater. Foma hörte davon, ließ sich das +Gedicht bringen, munterte ihn noch auf und ernannte +ihn sogleich zu seinem Vorleser und Schreiber, – mit +einem Wort, er sorgte für seine Bildung. Das ist also +durchaus wahr, was er da sagte: daß Foma sein Wohltäter +sei. Nun und so, weißt du, hat sich so ein bißchen +edle Romantik in seinem Kopf entwickelt und so ein +Gefühl der Unabhängigkeit – das hat mir alles Foma +erklärt; leider habe ich die Einzelheiten, Hand aufs +Herz, wieder vergessen. Nun wollte ich – Ehrenwort! +– ich wollte ihn ohnehin befreien, noch bevor +Foma davon zu reden anfing. Es ist, weißt du, doch +immer irgendwie ... man schämt sich gewissermaßen +... Ja, aber Foma war dagegen, er braucht ihn, er +hat ihn liebgewonnen. Und dann sagt er: mir, seinem +Herrn, gereiche es zur größeren Ehre, wenn ich unter +meinen Leibeigenen Dichter habe, – es habe irgendwo +mal solche Barone gegeben oder Ritter, na, kurz +und gut – das sei <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>. Nun, soll’s einmal +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span> sein, dann meinetwegen <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>! Ich +habe ihn, den Grigorij, schon achten gelernt – verstehst +du das? ... Aber Gott weiß, wie er sich aufführt. +Am schlimmsten ist, daß er, nachdem er sein +Gedicht verfaßt hat, vor dem ganzen übrigen Gesinde +die Nase in die Höhe zieht und mit den anderen nicht +einmal mehr sprechen will. Doch fühl dich nicht gekränkt, +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +Grigorij, ich sage es nur wie ein Vater von +dir. Im letzten Winter wollte er heiraten: es ist hier +ein junges Mädchen, vom Hofgesinde, Matrjona, und, +weißt du, so ein nettes, ehrliches, arbeitsames, lustiges +Mädel. Na, und nun will er sie plötzlich nicht, sagt +ab. Ist er jetzt so hoher Meinung von sich oder beabsichtigt +er, zuerst berühmt zu werden und dann bei +einer anderen anzuhalten ...“ +</p> + +<p> +„Mehr auf den Rat Foma Fomitschs hin,“ bemerkte +Widopljässoff, „da Sie mein wahrhaftiger Wohltäter +sind ...“ +</p> + +<p> +„Aber natürlich! Wie wäre denn hier etwas ohne +Foma Fomitsch möglich!“ rief ich unwillkürlich aus. +</p> + +<p> +„Ach, Freund, nicht darum handelt es sich!“ unterbrach +mich mein Onkel eilig, „sieh mal: jetzt lassen sie +ihm keine Seelenruh. Jenes Mädchen, ein gewandtes +und gescheites Ding, hat jetzt alle gegen ihn aufgehetzt: +sie necken und foppen ihn beständig – und sogar die +kleinen Hofjungen behandeln ihn wie einen Narren ...“ +</p> + +<p> +„Was mehr auf Matrjona zurückzuführen ist,“ bemerkte +wieder Widopljässoff; „denn sie ist eine echte +dumme Gans, und da sie eine echte dumme Gans ist, +ist sie, was ihren Charakter angeht, ein unbeflügeltes +Weibsbild. Auf diese Weise bin ich zu ewigem Leiden +in meinem Leben verdammt.“ +</p> + +<p> +„Ach, Grigorij, ich habe es dir doch gesagt,“ fuhr +mein Onkel fort, nach einem vorwurfsvollen Blick auf +Widopljässoff. „Sieh mal, Ssergei, die Hofleute haben +nun glücklich ein schmutziges Wort gefunden, das sich +auf seinen Namen reimt. Und jetzt kommt er zu mir, +beklagt sich und bittet, ihm einen anderen Familiennamen +<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a> +zu geben, sagt, daß er schon lange unter dem +Mißklang desselben gelitten habe ...“ +</p> + +<p> +„Es ist kein veredelter Name,“ bemerkte wieder +Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Na, du schweige mal jetzt, wenn ich rede, Grigorij! +Foma hat ihn darin natürlich bestärkt ... das heißt +... nicht gerade, daß er den Einfall gutgeheißen hätte; +aber sieh, es handelt sich um folgende Erwägung: wenn +nun, nehmen wir an, seine Gedichte gedruckt werden, +was Foma projektiert, so kann ein solcher Familienname +ihm doch geradezu schaden – nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„So will er seine Gedichte drucken lassen, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Drucken, drucken, Freund. Das ist schon beschlossene +Sache – auf meine Rechnung, – und auf +dem Titelblatt wird stehen, daß sie von einem Leibeigenen +Soundso verfaßt sind, und im Vorwort, das +Foma schreiben wird, soll der Dank des Autors für die +ihm gebotene Bildung ausgesprochen werden. Das +Ganze ist Foma gewidmet. Foma wird, wie gesagt, +selbst eine Einleitung schreiben. Und nun denke dir, +wenn auf dem Titelblatt steht: ‚Widopljässoffs Gedichte‘ +...“ +</p> + +<p> +„‚Widopljässoffs Wehklagen‘,“ korrigierte Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Nun, sieh – dazu noch Wehklagen! Was ist denn +Widopljässoff für ein Name? Er verletzt ja geradezu +unser Zartgefühl. Das sagt auch Foma. Die Kritiker +aber sollen, wie es heißt, alle sehr unangenehme Spötter +sein. Zum Beispiel unser großer Kritiker der ‚Moskauer +Nachrichten‘ ... Die nehmen auf nichts Rücksicht. +Sie können ihn ja einzig wegen seines Familiennamens +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +unmöglich machen – nicht wahr? Nun, ich meine: +mag er doch gleichviel welch einen Namen auf seinen +Buchdeckel schreiben – wie nennt man das doch gleich +... Pseudonym, glaube ich, oder so ungefähr, jedenfalls +etwas mit ‚nym‘. Aber nein, damit ist er nicht +einverstanden; er will, daß ich dem ganzen Hofgesinde +anbefehle, ihn sein Leben lang nur bei einem ganz +neuen Namen zu nennen, damit er, seinem Talent entsprechend, +wie gesagt, einen ‚veredelten Namen‘ +habe ...“ +</p> + +<p> +„Ich könnte wetten, daß Sie es ihm auch versprochen +haben, Onkel.“ +</p> + +<p> +„Ich ... weißt du, Freund Sserjosha, nur um +mit ihnen nicht wieder in Streit zu geraten ... Laß +gut sein! Es war damals zwischen uns, Foma und +mir, hm! ... so ein Mißverständnis – du verstehst +schon. Nun, und seit der Zeit gibt es in jeder Woche +einen anderen Familiennamen, und immer wählt er sich +so zarte Bedeutungen aus: Oleandroff, Tulpenoff ... +Sag doch selbst, Grigorij, denk doch nach: Zuerst batest +du, daß man dich Wernyj<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a> nenne, ‚Grogorij Wernyj‘. +Dann aber gefiel dir der Name nicht mehr, weil irgendein +Hofbengel einen Reim gefunden hatte und dich +‚Skwernyj‘<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a> nannte. Du beklagtest dich: der Bengel +wurde bestraft. Zwei Wochen lang dachtest du dir +einen anderen Namen aus. Endlich hattest du dich +entschlossen: Kamst, batest, man solle dich ‚Ulanoff‘ +nennen. Aber sag doch selbst, kann es denn einen +dümmeren Namen als ‚Ulanoff‘ überhaupt geben? +<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a> +Doch ich war auch damit einverstanden: befahl von +neuem, dich nur noch ‚Ulanoff‘ zu nennen. Ich tat es +nur, Freund“ – mein Onkel wandte sich wieder an +mich – „um die Sache vom Halse zu haben. Drei +Tage lang hießest du ‚Ulanoff‘. Du hast alle Wände, +alle Fensterbretter im Pavillon verdorben; denn, weißt +du, Sserjosha, er hat überall seinen Namenszug angebracht: +‚Grogorij Ulanoff‘. Später mußte dann alles +mit weißer Farbe übergestrichen werden. Du hast ein +ganzes Buch holländisches Papier zur Übung deiner +Unterschrift verbraucht: ‚Ulanoff – Schriftprobe – +Ulanoff – Schriftprobe‘. Na, dann war ihm auch +Ulanoff nicht recht: auf Ulanoff reimt sich zum Unglück +‚Bolwanoff‘<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a>. ‚Ich will vom Gesinde nicht +Bolwanoff genannt werden,‘ sagte er – und wieder +mußte der Name geändert werden! Wie hießest du +dann noch, ich habe es vergessen.“ +</p> + +<p> +„‚Tanzeff‘,“ antwortete Widopljässoff. „Wenn es +mir durch meinen Namen Widopljässoff auferlegt ist, +einen Hampelmann darzustellen, dann möge es doch +wenigstens eine veredelte, eine ausländische Benennung +sein: Tanzeff.“ +</p> + +<p> +„Richtig: ‚Tanzeff‘. Nun, Freund, weißt du, ich +war auch damit einverstanden. Aber die Hofbengel +sind dann auf einen solchen Reim verfallen, daß man +ihn überhaupt nicht aussprechen darf. Heute kommt +er wieder, will wieder einen neuen Namen haben. Ich +wette, daß du ihn schon in Bereitschaft hast. Nun, +hab’ ich nicht recht, Grigorij, heraus mit der Sprache!“ +</p> + +<p> +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +„Ich habe dieserhalb schon seit langem die Absicht, +Euch meinen neuen Namen zu Füßen zu breiten: einen +neuen veredelten.“ +</p> + +<p> +„Und wie lautet er denn?“ +</p> + +<p> +„Esbuketoff.“ +</p> + +<p> +„Was? Und du schämst dich nicht, Grigorij? Ein +Name, von der Pomadenbüchse genommen! Du willst +doch ein vernünftiger Mensch sein! Und wie lange du +darüber gebrütet haben wirst! Nicht wahr, den hast +du auf der Parfümflasche gelesen?“ +</p> + +<p> +„Erbarmen Sie sich, Onkel,“ sagte ich halblaut zu +ihm, „der Kerl ist doch ein Esel, ein ausgesprochener +Narr!“ +</p> + +<p> +„Was soll ich denn tun, Freund?“ fragte mein +Onkel gleichfalls halblaut zurück. „Rund herum versichern +alle, daß er klug und so begabt sei, und daß +dies nur die edlen Gefühle seien, die sich in ihm +regten ...“ +</p> + +<p> +„So schicken Sie ihn doch um Christi willen zum +Teufel, machen Sie sich doch endlich von ihm los!“ +</p> + +<p> +„Hör mal, Grigorij! Sieh, mein Lieber, ich habe +doch bei Gott keine Zeit!“ begann mein Onkel mit +einer geradezu bittenden Stimme, als fürchte er sogar +seinen eigenen Diener. „Nun, sag doch selbst, wie kann +ich mich denn jetzt mit deinen Klagen befassen! Du +sagst, man hätte dich wieder gekränkt? Nun gut, also +höre: ich gebe dir hiermit mein Ehrenwort, daß ich +morgen die ganze Angelegenheit erledigen werde, jetzt +aber geh mit Gott ... Wart! Was macht Foma +Fomitsch?“ +</p> + +<p> +„Haben sich zur Ruhe begeben. Geruhten nur zu +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +befehlen, falls jemand nach ihnen fragen sollte, dann +zu sagen, daß sie diese Nacht im Gebet kniend zu verbringen +gedächten.“ +</p> + +<p> +„Hm! Nun, geh mal, geh! – Sieh, Sserjosha, +er ist beständig bei Foma, so daß ich ihn ordentlich +fürchte. Und das Hofgesinde liebt ihn ja auch nur +deshalb nicht, weil er Foma alles hinterbringt. Jetzt +ist er gegangen, aber wer weiß, ob er nicht morgen +irgend etwas klatschen wird. Aber jetzt habe ich alles +gut gemacht, Freund. Ich bin jetzt ganz ruhig ... +Es drängte mich nur zu dir ... Gott sei Dank, jetzt +habe ich dich endlich wieder!“ sagte er mit innigem +Gefühl, und er drückte fest meine Hand. „Weißt du, +ich glaubte und fürchtete schon, daß du ernstlich böse seist +und mir entschlüpfen würdest. Ich habe sogar auf dich +aufpassen lassen, damit du mir nicht entwischst! Nun, +Gott sei Dank! Jetzt ist’s überstanden! Aber vorhin – +was? – der alte Gawrila? – was er ihm da sagte! +Und auch Falalei, und du! – eins zum anderen! Nun, +Gott sei Dank, Gott sei Dank! Endlich kann ich mich +mit dir aussprechen. Werde dir mein ganzes Herz +ausschütten. Du, Ssergei, fahre mir nur nicht fort: du +bist der einzige, den ich habe, du und Korowkin ...“ +</p> + +<p> +„Aber, erlauben Sie, Onkel, was haben Sie denn +dort ‚gut gemacht‘, und worauf soll ich denn hier noch +warten, nach dem, was vorgefallen ist? Offen gestanden, +mir dreht sich der Kopf im Kreise!“ +</p> + +<p> +„Ach – steht mein Kopf etwa still? Der tanzt +schon seit einem halben Jahre Walzer! Aber Gott sei +Dank! jetzt ist alles wieder gut. Man hat mir vor +allen Dingen verziehen, vollkommen verziehen, unter +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +verschiedenen Bedingungen natürlich: aber dafür bin +ich jetzt ganz ruhig und brauche nichts mehr zu fürchten. +Meiner Ssaschenjka haben sie gleichfalls alles verziehen. +Aber die war doch vorhin, die war doch! – was? ... +heißes Herzchen! Ließ sich bißchen hinreißen ... Aber +hat doch ein goldenes Herzchen! Weißt du, ich bin sehr +stolz auf mein kleines Mädchen, Sserjosha. Möge Gott +sie immer behüten. Dir wurde gleichfalls verziehen, und +weißt du, sogar <em>wie</em>! – Du kannst alles tun, was +du willst, kannst durch alle Zimmer gehen und auch +im Garten spazieren, und sogar dann, wenn Gäste da +sind – mit einem Wort, alles, was du willst; aber +nur unter einer Bedingung, daß du morgen in Foma +Fomitschs oder meiner Mutter Gegenwart nicht sprichst, +nur unter der Bedingung! Also buchstäblich keine +Silbe – ich habe es auch schon in deinem Namen +feierlich versprochen, – und du wirst nur zuhören, was +die Älteren ... Das heißt, ich wollte sagen, was die +anderen sprechen. Sie sagten, du seist noch zu jung. +Du, Ssergei, nimm es nicht übel; denn schließlich bist +du ja auch wirklich noch jung ... Auch Anna Nilowna +sagt es ...“ +</p> + +<p> +Allerdings war ich damals noch sehr jung, was +ich sofort dadurch bewies, daß ich ob solcher beleidigenden +Bedingungen in helle Empörung geriet. +</p> + +<p> +„Hören Sie, Onkel!“ rief ich heftig aus, „sagen +Sie mir bitte nur eines, und beruhigen Sie mich wenigstens +in dieser Hinsicht: Befinde ich mich hier tatsächlich +in einer Irrenanstalt, oder –?“ +</p> + +<p> +„Da haben wir’s, Freund, du willst gleich Kritik +üben! Konntest du denn das auf keine Weise unterdrücken?“ +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +sagte er betrübt. „Durchaus nicht in einer +Irrenanstalt! Wir sind nur so von beiden Seiten ein +wenig in Eifer geraten. Aber du mußt doch zugeben, +Freund, daß auch du dich nicht ganz <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">comme il faut</span> +benommen hast. Du entsinnst dich doch noch dessen, +was du ihm an den Kopf warfst, – einem Manne, +der doch immerhin in ehrwürdigem Alter steht!“ +</p> + +<p> +„Solche Leute wie er haben kein ehrwürdiges Alter, +Onkel.“ +</p> + +<p> +„Na, Freund, das ist denn doch etwas über die +Schnur gehauen! Das ist mehr als Freidenkertum. +Ich habe ja selbst nichts gegen ein vernünftiges Freidenkertum, +aber das ist denn doch etwas zu stark – +das heißt ... ich meine ... ich – du hast mich eigentlich +überrascht, Ssergei.“ +</p> + +<p> +„Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich sehe meine +Schuld vollkommen ein, meine Schuld vor Ihnen. +Was aber Ihren Foma Fomitsch betrifft ...“ +</p> + +<p> +„Da haben wir’s! Nun auch noch ‚<em>Ihren</em>‘ Foma +Fomitsch! Ach, Freund, beurteile ihn nicht gar zu +streng: er ist etwas misanthropisch veranlagt – und +das ist alles ... und ein bißchen kränklich. Man darf +ihn nicht so streng beurteilen. Dafür aber ist er ein +edler Mensch, der edelste, kann man sagen, von allen! +Du warst ja doch vorhin selbst Zeuge – er leuchtete +förmlich! Und daß er zuweilen so seine kleinen Eigenheiten +hat und uns ein Stückchen spielt – lohnt es +sich denn, das zu beachten? Bei wem kommt denn so +etwas nicht vor?“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil, Onkel, bei wem kommt denn so +etwas überhaupt vor?“ +</p> + +<p> +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +„Ach, da kommst du wieder damit! Gutmütig bist +du gerade nicht, Sserjosha; zu verzeihen verstehst du +nicht! ...“ +</p> + +<p> +„Nun gut, Onkel, gut, lassen wir das. Sagen +Sie, haben Sie Nastassja Jewgrafowna gesehen?“ +</p> + +<p> +„Ach, Freund, um sie allein handelte sich ja alles. +Sieh, Sserjosha, erstens – und das ist das wichtigste +–: wir haben beschlossen, ihn morgen alle zum Geburtstage +zu beglückwünschen, – Foma, meine ich – +weil nämlich morgen wirklich sein Geburtstag ist. +Ssaschenjka ist ein gutes Kind, aber hierin täuschte sie +sich. Wir werden also alle, die ganze Karawane, zu +ihm gehen, noch vor dem Frühgottesdienst. Iljuschka +wird ein Gedicht vortragen, so daß er sich sehr geschmeichelt +fühlen wird. Wenn doch auch du ihn, Sserjosha, +zusammen mit uns beglückwünschen würdest! +Er würde dir dann vielleicht alles verzeihen. Und wie +gut das doch wäre, wenn ihr euch aussöhnen würdet! +Vergiß, Freund, die Kränkung, du hast ihn ja doch +auch gekränkt, Sserjosha ... Er ist ein so ehrenwerter +Mensch ...“ +</p> + +<p> +„Onkel, um’s Himmels willen, ich habe von so wichtigen +Dingen mit Ihnen zu reden, Sie aber ... +Wissen Sie denn,“ fragte ich nochmals, „wissen Sie +denn, was mit Nastassja Jewgrafowna geschehen ist?“ +</p> + +<p> +„Was, Freund, wie? Was fehlt dir? Weshalb +bist du so heftig? Aber ihretwegen hat doch die ganze +Geschichte vorhin angefangen! Übrigens hat sie nicht +erst vorhin, sondern schon vor langer Zeit angefangen. +Ich wollte dir davon nur jetzt noch nichts sagen, um +dich nicht zu erschrecken ... Man wollte sie einfach hinausjagen, +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +nun, und von mir verlangt man, daß ich sie +nach Hause schicke. Du kannst dir meine Lage vorstellen +... Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist alles wieder +gut. Sie dachten nämlich, sieh mal, – ich werde dir +lieber schon alles sagen – sie glaubten, daß ich selbst +in sie verliebt sei und sie heiraten wollte, kurz und +gut, daß ich sie in mein eigenes Unglück hineinzureißen +beabsichtigte – denn das wäre es wirklich. So haben +sie mir auch alles erklärt ... und daher, um mich zu +retten, hatten sie beschlossen, sie hinauszujagen. Vor +allem meine Mutter, aber hauptsächlich Anna Nilowna. +Foma schweigt vorläufig noch. Aber jetzt habe ich sie +alle beruhigt, und ich will dir sogleich gestehen: Ich +habe dort gesagt, du seist bereits mit Nastenjka verlobt +– und nur deshalb hergekommen. Nun, das beruhigte +sie zum Teil, und sie kann jetzt hierbleiben. Und auch +du bist jetzt in ihrer Meinung sehr gestiegen, nachdem +ich erklärt habe, daß du als Freier hier auftrittst. Wenigstens +hat sich meine Mutter allem Anschein nach beruhigt. +Nur Anna Nilowna Perepelizyna hat immer +noch etwas auszusetzen. Ich weiß wirklich nicht, was +ich noch tun soll, um es ihr recht zu machen. Ja, was +die nur wollen mag, wirklich, diese Anna Nilowna?“ +</p> + +<p> +„Onkel, lieber Onkel, Sie sind ja auf ganz falschem +Wege, Sie täuschen sich vollkommen! So hören Sie +denn, daß Nastassja Jewgrafowna morgen von hier +fortfahren wird, wenn sie inzwischen nicht schon fortgefahren +sein sollte! Wissen Sie denn nicht, daß ihr +Vater heute nur deshalb hergekommen ist, um sie mitzunehmen? +– daß schon alles beschlossen ist, daß sie +es mir heute selbst gesagt und mir zum Schluß aufgetragen +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +hat, Sie zu grüßen – wissen Sie das oder +wissen Sie das nicht?“ +</p> + +<p> +Mein Onkel blieb so, wie er vor mir stand, wie erstarrt +stehen und vergaß sogar, den Mund zu schließen. +Es schien mir, daß sich alles zusammenkrampfte in ihm, +und ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust. +</p> + +<p> +Ohne jetzt noch zu zögern, erzählte ich ihm mein +ganzes Gespräch mit Nastenjka, meinen Antrag, ihre +entschiedene Absage, ihren Ärger über ihn, meinen +Onkel, weil er mich brieflich hergerufen hatte. Ich +sagte, daß sie mit ihrer Abreise ihn vor der Ehe mit +Tatjana Iwanowna bewahren wolle – kurz, ich verschwieg +nichts; ja, ich übertrieb noch, was es an Unangenehmem +in diesen Nachrichten gab. Ich wollte +ihn schmerzhaft treffen, wollte ihn endlich zu entschlossenem +Eingreifen zwingen – und es gelang mir +wirklich, ihn wenigstens zu erschrecken. Er schrie plötzlich +auf und griff sich an den Kopf. +</p> + +<p> +„Wo ist sie jetzt, weißt du das? Wo ist sie jetzt?“ +fragte er endlich, bleich vor Angst. „Und ich, ich war +bereits ruhig, glaubte, alles sei jetzt wieder gut!“ rief +er verzweifelt aus. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, wo sie augenblicklich ist; nur ging +sie vorhin, als sich dort im Zimmer das Geschrei erhob, +zu Ihnen: sie wollte alles, was ich Ihnen soeben +erzählt habe, denen da selbst sagen. Wahrscheinlich ist +sie nicht zugelassen worden.“ +</p> + +<p> +„Das fehlte noch, daß man sie zugelassen hätte! +Gott, was hätte sie dann angerichtet! Ach Gott, was +sie sich da wieder in ihr stolzes Köpfchen gesetzt haben +mag! Und wohin will sie denn gehen, wohin? Wohin? +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +Aber du, du bist auch gut! Warum hat sie dir +denn abgesagt? Unsinn! Du mußt ihr gefallen! Weshalb +hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte +doch, um Gottes willen, was stehst du denn da und +schweigst!“ +</p> + +<p> +„Aber – Onkel! Wie kann man nur solche +Fragen stellen?“ +</p> + +<p> +„Es ist doch unmöglich! Du mußt, du mußt sie +heiraten! Wozu habe ich dich denn aus Petersburg +hergebeten? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt will +man sie von hier fortschicken, wenn sie aber deine Frau +und meine Nichte ist – dann wird man sie nicht mehr +fortjagen können. Und wohin will sie denn gehen? +Was soll aus ihr werden? Eine Gouvernantenstelle? +Aber das ist doch Unsinn – Gouvernante! Und bis +sie eine Stelle findet – wovon sollen die Ihrigen so +lange leben? Der Vater hat ja ganze neun zu ernähren! +Die haben selbst nichts zu beißen! Sie wird +ja doch keine Kopeke von mir annehmen, wenn sie +wegen dieser schmutzigen Verleumdungen fortgeht, +weder sie noch ihr Vater. Und wie soll sie dann in +dieser Weise mein Haus verlassen? Entsetzlich! Und +ohne Skandal ist es ganz undenkbar – das weiß ich. +Und ihr Gehalt ist schon vorausbezahlt, sie hatten es +für den Lebensunterhalt nötig ... sie allein ernährt sie +doch. Nun, sagen wir, ich empfehle sie, finde für sie +eine ehrliche und ehrenwerte Familie ... aber Teufel +noch eins! – woher nimmst du sie denn, diese ehrenwerten, +wirklich ehrlichen Menschen? Na, gut, sagen +wir, es gibt sogar sehr viele solcher, – wozu Gott erzürnen! +– aber es ist doch, Freund, immerhin gefährlich: +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +kann man sich denn auf die Menschen verlassen? +Zudem ist doch ein armer Mensch immer mißtrauisch: +es scheint ihm unwillkürlich, daß man ihn +das Brot und die Freundlichkeit mit seiner Erniedrigung +bezahlen läßt! Man wird sie sicherlich kränken, +sie aber ist stolz, und dann ... ja, und was dann? +Und was dann, wenn schließlich noch so ein elender +Verführer hinzukommt? ... Sie wird ihn ohrfeigen, +– ich weiß, daß sie ihn ohrfeigen wird – aber er wird +sie doch beleidigen, der Schurke! Und sie kann dann +doch immer in üblen Leumund geraten, ein Schatten, +ein Verdacht kann auf sie fallen – was dann? ... +Mein Kopf, mein Kopf droht mir zu zerspringen! +Großer Gott!“ +</p> + +<p> +„Onkel! Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Frage +an Sie richte,“ sagte ich plötzlich feierlich. „Seien Sie +mir nicht böse und vergessen Sie nicht, daß Ihre Antwort +auf diese Frage vieles entscheiden kann. Ich +habe zum Teil sogar das Recht, von Ihnen eine Antwort +zu verlangen, Onkel.“ +</p> + +<p> +„Was, was meinst du? Was für eine Frage?“ +</p> + +<p> +„Sagen Sie mir wie vor Gott, offen und ohne +Umschweife: Empfinden Sie nicht, daß Sie selbst in +Nastassja Jewgrafowna ein wenig verliebt sind und sie +gern selbst heiraten würden? Bedenken Sie doch nur: +einzig wegen dieser Befürchtung will man sie doch aus +dem Hause entfernen.“ +</p> + +<p> +Mein Onkel machte eine energische Geste wie in +heftigster Ungeduld. +</p> + +<p> +„Ich? Verliebt? In sie? Ihr seid wohl alle nicht +recht bei Troste oder habt euch gegen mich verschworen! +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +Wozu habe ich denn dich herbestellt, wenn nicht, um +ihnen allen endlich zu beweisen, daß sie nicht recht gescheit +sind? Weshalb will ich denn dich mit ihr verheiraten? +Ich? In sie? Ver... Verliebt? Ihr seid +wohl wirklich alle ...!“ +</p> + +<p> +„Wenn es sich so verhält, Onkel, dann erlauben +Sie mir, alles auszusprechen. Ich erkläre Ihnen hiermit +feierlich, daß ich in dieser Annahme entschieden +nichts Schlechtes finden kann. Im Gegenteil, Sie +würden sie überaus glücklich machen, wenn Sie sie nun +einmal so lieben, und – und Gott gebe es! Möge +Gott Ihnen Liebe und Rat schenken!“ +</p> + +<p> +„Aber, um’s Himmels willen, was redest du da!“ +rief mein Onkel fast entsetzt aus. „Ich wundere mich +nur, wie du das so kaltblütig aussprechen kannst ... +und ... überhaupt, Freund, eilst du immer irgendwohin +– diesen Zug habe ich schon an dir bemerkt! +Ist denn das nicht einfach sinnlos, was du da sagst? +Wie, sag doch selbst, wie soll ich sie denn heiraten, wenn +ich sie gewissermaßen als meine Tochter betrachte? +Ja, eben nur wie ein Vater seine Tochter und nicht +anders! Es wäre sogar eine Schande und eine Sünde, +wenn ich anders auf sie blicken würde! Ich – ein +Greis, und sie – ein kleines Mädchen! Sogar Foma +hat es mir genau so in diesen Ausdrücken erklärt. Ich +empfinde nur väterliche Liebe für sie in meinem Herzen, +und da kommst du nun mit Eheschließung! Sie würde +ja vielleicht aus Dankbarkeit nicht absagen, aber dann +müßte sie mich doch ewig verachten, wenn ich ihre Dankbarkeit +in dieser Weise ausnutzte. Ich würde sie nur +unglücklich machen und ... und würde ihre Anhänglichkeit +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +verlieren! Ach, ich würde ihr ja meine ganze +Seele hingeben, mein kleines Mädchen, das heißt ... +Sie ... sie ... Ich liebe sie ebenso wie Ssaschenjka, +sogar mehr, aber das will ich nur dir allein gestehen; +denn Ssaschenjka ist, siehst du, sowieso meine Tochter, +nach dem Gesetz und mit Recht, diese aber habe ich +durch meine Liebe zu meiner Tochter gemacht. Ich +habe sie aus armen Verhältnissen zu mir genommen. +Auch Katjä, mein toter Liebling, hat die Kleine geliebt +und hat sie mir als Tochter hinterlassen. Ich +habe sie gut erziehen lassen: französische Stunden und +Klavierstunden und Literaturstunden – kurz und gut, +alles was dazu gehört. Was für ein Lächeln sie hat! +Hast du es nicht bemerkt, Sserjosha? Man glaubt, +sie lache über einen, indessen lacht sie gar nicht, sondern, +im Gegenteil, liebt dich ... Ich ... sieh, ich glaubte, +du würdest kommen, bei ihr anhalten – dann würden +sie sich alle überzeugen, daß ich keine ... Absichten auf +sie habe, und würden dann endlich aufhören, alle diese +dummen, schmutzigen Geschichten über sie zu verbreiten. +Sie würde dann hier bei uns in Ruhe und Frieden +leben: und wie würden wir alle glücklich sein! Ihr +seid ja beide meine Kinder, beide gewissermaßen +Waisen, beide seid ihr unter meiner Vormundschaft aufgewachsen +... ich würde euch beide so lieben, so lieben! +Ich würde euch mein ganzes Leben hingeben, niemals +mich von euch trennen, überall würde ich bei euch sein! +Ach, wie glücklich wir doch sein könnten! Und warum +nur ärgern sich die Menschen, warum sind sie alle so +böse, warum hassen sie einander? Ich ... ich würde +sie alle einmal so fest in meine Arme nehmen und es +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +ihnen so recht von Herzensgrund erklären wollen! +Würde ihnen so die ganze Herzenswahrheit zeigen! +Ach, du, Grundgütiger!“ +</p> + +<p> +„Onkel, Sie haben in allem vollkommen recht, nur +ändert das an der Tatsache nichts, daß sie mir einen +Korb gegeben hat.“ +</p> + +<p> +„Einen Korb! ...? ... Hm! ... Aber weißt du, +es ist mir doch, als hätte ich es vorausgefühlt, daß sie +dir absagen würde,“ sagte er nachdenklich. „Aber +nein!“ rief er aus, „ich glaube es nicht! Das ist unmöglich. +In dem Falle würde ja nichts zustande +kommen! Sicherlich hast du es irgendwie ungeschickt +angefangen, hast sie vielleicht sogar gekränkt oder ihr +womöglich Komplimente zu machen versucht ... Erzähle +mir noch einmal, wie es war, Ssergei!“ +</p> + +<p> +Ich wiederholte alles noch einmal ganz ausführlich. +Als ich sagte, daß Nastenjka mit ihrer Entfernung ihn, +meinen Onkel, vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna +bewahren wolle, lächelte er bitter. +</p> + +<p> +„Bewahren!“ sagte er. „Bewahren bis morgen!“ +</p> + +<p> +„Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie Tatjana +Iwanowna heiraten werden?“ rief ich erschrocken +aus. +</p> + +<p> +„Womit habe ich es denn erkauft, daß Nastjä +morgen nicht hinausgeworfen wird? Morgen noch +werde ich anhalten – ich habe es versprochen.“ +</p> + +<p> +„Wie, Sie haben sich dazu entschließen können, +Onkel?“ +</p> + +<p> +„Was sollte ich tun, Freund, es war nichts zu +wollen! Es zerreißt mir ja das Herz, aber ich habe +mich entschlossen. Morgen halte ich um sie an ... die +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Hochzeit soll still gefeiert werden, nur im Familienkreise. +Es ist auch besser so, Freund. Du wirst natürlich mein +Ehrenmarschall sein ... bei der Trauung. Das habe +ich auch drüben schon angedeutet, so daß sie dich bis dahin +bestimmt nicht vor die Tür setzen werden. Was soll +man denn tun, Freund? Sie sagen: ‚Du machst deine +Kinder steinreich!‘ Natürlich, was ist man für seine +Kinder nicht zu tun bereit! Selbst auf den Kopf stellt +man sich ... um so mehr, als es ja auch im Grunde +ganz richtig so ist. Und ich muß doch etwas für meine +Familie tun! Ich kann doch nicht immer dieser Egoist +bleiben!“ +</p> + +<p> +„Aber, Onkel, sie ist doch verrückt!“ rief ich aus, +ohne im Augenblick daran zu denken, daß sie ja doch +schon so gut wie seine Braut war. Mein Herz krampfte +sich zusammen vor Schmerz. +</p> + +<p> +„Na, jetzt erklärst du sie sogar schon für verrückt! +Sie ist durchaus nicht verrückt, Freund, sondern ... +nur so, weißt du, sie hat viel Schweres durchgemacht ... +Was soll man denn tun, Freund, ich wäre ja auch froh, +eine mit vollem Verstande ... Aber übrigens, was für +welche gibt es nicht auch unter denen, die geistig normal +sind! Und wenn du wüßtest, wie gut sie ist, wie edelmütig +...“ +</p> + +<p> +„Großer Gott! Er söhnt sich mit dem Gedanken +bereits aus!“ Ich war im Begriff, zu verzweifeln. +</p> + +<p> +„Aber was soll ich denn tun, wenn ich mich nicht +aussöhne? Und sie wollen das alles doch nur zu meinem +Besten, und ... und schließlich sah ich ein, daß ich früher +oder später doch daran werde glauben müssen, davor +wird mich keiner retten: sie werden mich zu zwingen verstehen, +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +sie zu heiraten. Deshalb ist es doch besser, sich +sogleich zu entschließen, als erst noch lange herumzustreiten. +Ich werde dir, Freund, alles ganz offen sagen: +weißt du, ich bin zum Teil sogar ganz froh darüber. +Hat man sich entschlossen, so hat man sich entschlossen – +dann ist es wenigstens erledigt, und man hat es hinter +sich. Man fühlt sich auch ruhiger, weißt du. Ich, siehst +du, ich kam ja auch schon ganz ruhig hierher. Aber so +will es wahrscheinlich mein Stern! Und die Hauptsache, +unser Gewinn sozusagen, ist doch, daß Nastjä bei uns +bleibt. Ich habe doch nur unter dieser Bedingung eingewilligt. +Und nun will <em>sie selbst</em> fortgehen! Das +darf nicht sein!“ Mein Onkel stampfte mit dem Fuß auf. +„Hör, Ssergei,“ fuhr er plötzlich entschlossen fort, „erwarte +mich hier, bleibe hier im Zimmer, ich werde im +Augenblick wieder hier sein.“ +</p> + +<p> +„Wohin, wohin gehen Sie, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Vielleicht treffe ich sie, Ssergei. Dann wird sich +alles aufklären, glaube mir, alles wird sich aufklären +und ... und ... du wirst sie heiraten – ich gebe dir +mein Ehrenwort!“ +</p> + +<p> +Mein Onkel verließ das Zimmer, schlug aber, wie +ich sah, nicht den Weg zum Hause ein, sondern ging +noch tiefer in den Garten, in der Richtung auf den +Weiher. Ich blickte ihm durch das Fenster nach. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-15"> +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +<span class="firstline">XII.</span><br> +Die Katastrophe. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> war allein. Die Lage, in der ich mich befand, +war unerträglich: Ich hatte einen Korb erhalten, und +mein Onkel wollte mich ungeachtet dessen mit Gewalt +verheiraten. Meine Gedanken schweiften unruhig umher, +doch ich konnte keinen ruhig zu Ende denken. +Misintschikoff und sein Vorschlag wollten mir nicht aus +dem Sinn. Es galt, was es auch koste, meinen Onkel +zu retten. Ich dachte sogar daran, Misintschikoff unverzüglich +aufzusuchen und ihm alles zu erzählen ... +Aber wohin war mein Onkel gegangen? Er hatte gesagt, +daß er Nastenjka sprechen wolle, und hatte doch +den Weg in den Garten eingeschlagen. Einen Augenblick +dachte ich an heimliche Zusammenkünfte, und ein +unangenehmes Gefühl regte sich in meinem Herzen. +Mir fielen Misintschikoffs Worte ein: daß sie heimliche +Beziehungen zueinander hätten ... Ich sann nach – +wies dann aber jeden Verdacht unwillig von mir. Nein, +mein Onkel konnte nicht betrügen, das lag ja auf der +Hand. Doch meine Unruhe wuchs mit jeder Minute. +Fast unbewußt trat ich hinaus auf die Treppe und ging +dann in Gedanken versunken dieselbe Allee entlang, die +mein Onkel verfolgt hatte. Der große Sommermond +stand rot und noch niedrig über dem Horizont. +Ich kannte den Garten gut und brauchte nicht zu fürchten, +irrezugehen. Als ich mich der alten Laube näherte, +die einsam am Ufer des schlammigen, schilfbewachsenen +Weihers stand, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen: +ich vernahm deutlich Stimmengeflüster, das aus der +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +Laube kam. Ich kann nicht sagen, welch ein eigenartig +ärgerliches Gefühl mich erfaßte! Ich war überzeugt, +daß mein Onkel und Nastenjka dort saßen, und ich ging +geradeaus weiter, indem ich auf alle Fälle mein Gewissen +wenigstens damit beruhigte, daß ich denselben +Schritt beibehielt und mich nicht etwa unbemerkt heranzuschleichen +suchte. Da vernahm ich plötzlich, daß zwei +sich küßten, und darauf folgte eine Menge begeisterter +Worte und dann – ein durchdringender weiblicher +Schrei! Fast im selben Augenblick aber lief oder flog +auch schon eine weißgekleidete Dame wie eine Schwalbe +an mir vorüber. Es schien mir, daß sie das Gesicht mit +den Händen bedeckt hatte, um nicht erkannt zu werden. +Man hatte mich also aus der Laube bemerkt. Wie groß +aber war meine Verwunderung, als ich in dem Herrn, +der nach der aufgescheuchten Dame aus der Laube trat, +– Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach Misintschikoffs +Behauptung Stepantschikowo bereits verlassen +hatte! Auch Obnoskin war nicht wenig verwirrt: seine +sonst so anmaßende Haltung war völlig verschwunden. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, aber ... ich hatte nicht erwartet, +mit Ihnen hier zusammenzutreffen,“ brachte er +stotternd und mit verlegenem Lächeln hervor. +</p> + +<p> +„Dasselbe kann ich auch von mir sagen,“ entgegnete +ich spöttisch, „um so mehr, als ich gehört habe, daß Sie +bereits fortgefahren seien.“ +</p> + +<p> +„Nein ... das war nur so ... ich begleitete nur +meine Mutter ... eine Strecke ... Aber darf ich mich +an Sie mit einer Bitte wenden; denn ich weiß, daß Sie +ein ehrenwerter Mensch sind ...“ +</p> + +<p> +„Und diese Bitte wäre?“ +</p> + +<p> +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +„Es gibt Fälle – und Sie werden mir darin zustimmen +– in denen ein wirklich edler Mensch gezwungen +ist, an den ganzen Edelmut eines anderen, +gleichfalls edlen Menschen zu appellieren ... Ich hoffe, +Sie verstehen mich ...“ +</p> + +<p> +„Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe Sie tatsächlich +nicht.“ +</p> + +<p> +„Sie haben doch die Dame gesehen, die hier mit mir +in der Laube war?“ +</p> + +<p> +„Gesehen – ja, aber nicht erkannt.“ +</p> + +<p> +„Ah, nicht erkannt ... Diese Dame werde ich alsbald +meine Frau nennen.“ +</p> + +<p> +„Gratuliere. Aber womit kann ich Ihnen dienen?“ +</p> + +<p> +„Nur mit einem: es als tiefstes Geheimnis zu bewahren, +daß Sie mich mit dieser Dame hier gesehen +haben ...“ +</p> + +<p> +„Wer mag das gewesen sein?“ dachte ich, „doch +nicht ...?“ +</p> + +<p> +„Wirklich, ich weiß nicht ...“ sagte ich. „Sie werden +entschuldigen, daß ich Ihnen mein Wort nicht geben +kann ...“ +</p> + +<p> +„Um’s Himmels willen, ich <em>bitte</em> Sie doch darum!“ +flehte Obnoskin. „Begreifen Sie doch meine +Situation! Es ist noch ein Geheimnis. Sie können +gleichfalls einmal Bräutigam sein: dann werde auch ich +meinerseits ...“ +</p> + +<p> +„Pst! Jemand kommt!“ +</p> + +<p> +„Wo?“ +</p> + +<p> +In der Tat bemerkten wir kaum dreißig Schritt von +uns den Schatten eines Menschen vorübergleiten. +</p> + +<p> +„Das ... das war Foma Fomitsch!“ flüsterte Obnoskin, +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +am ganzen Leibe zitternd. „Ich erkannte ihn +am Gang. Mein Gott! da kommen wieder Schritte! +Von der anderen Seite! Hören Sie ... Leben Sie +wohl! Ich danke Ihnen und ... flehe Sie an ...“ +</p> + +<p> +Obnoskin verschwand. Nach einer Minute stand +mein Onkel vor mir, wie aus der Erde gewachsen. +</p> + +<p> +„Bist du es?“ fragte er hastig. „Alles ist verloren, +Ssergei, jetzt ist alles verloren!“ +</p> + +<p> +Ich bemerkte, daß auch er am ganzen Körper zitterte. +</p> + +<p> +„Was ist verloren, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Gehen wir!“ Er erfaßte krampfhaft meine Hand +und zog mich nach sich. Während des ganzen Weges +bis zum Sommerhaus sprach er kein Wort und ließ +auch mich nicht sprechen. Ich erwartete etwas Außergewöhnliches +und kann sagen, daß ich in meiner Erwartung +auch nicht enttäuscht wurde. Als wir mein Zimmer +betraten, schwindelte ihm und er wankte. Er war +bleich wie ein Toter. Ich spritzte ihm sofort Wasser ins +Gesicht. „Es muß etwas Furchtbares geschehen sein,“ +dachte ich, „wenn ein Mann wie er – in dieser Weise +... fast ohnmächtig wird.“ +</p> + +<p> +„Onkel, was haben Sie nur?“ fragte ich schließlich. +</p> + +<p> +„Alles ist verloren, Ssergei! Foma überraschte mich +und Nastenjka im Garten ... gerade in dem Augenblick, +als ich sie küßte ...“ +</p> + +<p> +„Als Sie sie küßten? Im Garten?“ Ich sah ihn +verständnislos an. +</p> + +<p> +„Im Garten, Freund, Gott wollte es so! Ich ging, +um sie unverzüglich zu sprechen ... Ich wollte ihr alles +sagen, wollte ihr zureden, sie zur Vernunft bringen ... +in bezug auf dich, weißt du. Sie aber hatte schon seit +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +einer ganzen Stunde auf mich gewartet, dort, bei der +zerbrochenen Bank ... hinter dem Weiher ... Sie +kommt oft dorthin, wenn ich mit ihr sprechen muß.“ +</p> + +<p> +„Oft?“ +</p> + +<p> +„Oft, oft, Freund! In der letzten Zeit haben wir +uns dort fast in jeder Nacht getroffen. Nun haben sie +uns wahrscheinlich aufgelauert – ich weiß es genau, +daß sie spioniert haben, und ich weiß auch, daß Anna +Nilowna die Hauptbeteiligte ist. So stellten wir denn +unsere Zusammenkünfte ein: seit vier Tagen hatten wir +uns nicht gesehen ... aber heute ging es doch nicht +anders ... Du weißt doch selbst, wie notwendig es +war ... Und wie und wo hätte ich sonst ein Wort +mit ihr reden können? Ich ging also in der Hoffnung +hin, sie dort anzutreffen ... Und sie saß auch schon +seit einer Stunde da ... und hatte auf mich gewartet: +sie hatte mir gleichfalls Wichtiges zu sagen ...“ +</p> + +<p> +„Wie kann man nur so unvorsichtig sein! Sie wußten +doch, daß man Sie beide beobachtet!“ +</p> + +<p> +„Aber es war doch ein kritischer Augenblick, Ssergei! +Wir mußten uns doch über so vieles aussprechen! Am +Tage wage ich ja nicht einmal, sie anzusehen: sie sieht in +den einen Winkel und ich absichtlich in den anderen, als +wenn ich überhaupt nicht bemerkte, daß sie auf der Welt +ist. In der Nacht aber treffen wir uns und können +uns dann aussprechen ...“ +</p> + +<p> +„Und was geschah nun heute, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Oh! Kaum hatte ich ihr zwei Worte gesagt, weißt +du – da fing mein Herz zu hämmern an, und die +Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte sie bereden, +dich doch zu heiraten – sie aber sagte mir ohne weiteres: +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +‚Dann lieben Sie mich offenbar überhaupt nicht, dann +sehen Sie ja gar nichts!‘ Und plötzlich wirft sie sich an +meine Brust, umarmt mich krampfhaft, weint und +schluchzt: ‚Ich liebe nur Sie allein,‘ sagte sie, ‚ich +werde keinen anderen heiraten! Ich liebe Sie schon +lange, nur werde ich auch Sie nicht heiraten, sondern +morgen noch fortfahren und ins Kloster gehen.‘“ +</p> + +<p> +„Donnerwetter! Hat sie das wirklich so gesagt? +Und was geschah dann weiter – weiter, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Da – ich blickte auf: vor uns steht Foma! Woher +er nur gekommen sein mag? Er kann doch unmöglich +hinter dem Gebüsch gehockt haben, um nur auf diesen +Sündenaugenblick zu warten?“ +</p> + +<p> +„Der Schuft!“ +</p> + +<p> +„Ich erstarrte, Nastenjka lief fort, und Foma Fomitsch +ging schweigend an uns vorüber und drohte mir +nur einmal so mit dem Finger. – Begreifst du jetzt, +Ssergei, was es morgen geben wird?“ +</p> + +<p> +„Wie sollte ich nicht!“ +</p> + +<p> +„Begreifst du?“ rief er verzweifelt aus und sprang +vom Stuhl auf. „Begreifst du, daß sie sie verderben, +verleumden, entehren wollen? Sie suchen einen Vorwand, +um ihr eine Schande anhängen und sie dann aus +dem Hause treiben zu können! Und jetzt haben sie ihn +glücklich gefunden! Haben sie doch schon gesagt, sie +hätte ein ehrloses Verhältnis mit mir! Ja, diese Schurken +haben sogar gesagt, sie hätte auch eins mit Widopljässoff +gehabt! Und das hat alles diese Anna Nilowna +verbreitet! Was wird jetzt werden? Was wird morgen +sein? Sollte Foma es wirklich erzählen?“ +</p> + +<p> +„Unbedingt wird er es erzählen, Onkel.“ +</p> + +<p> +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +„Wenn er es aber erzählt, wenn er es wagt ...“ +Mein Onkel biß sich die Lippen und ballte die Fäuste. +„Nein, nein! Ich glaube es nicht! Er wird es nicht +sagen, er wird begreifen ... er ist ein Mensch mit +edler Gesinnung! Er wird sie schonen ...“ +</p> + +<p> +„Schonen oder nicht schonen,“ unterbrach ich ihn +entschlossen; „jedenfalls aber ist es jetzt Ihre Pflicht, +morgen um Nastassja Jewgrafownas Hand anzuhalten.“ +</p> + +<p> +Mein Onkel blickte mich unbeweglich an. +</p> + +<p> +„Sehen Sie denn nicht ein, Onkel, daß Sie dem +Mädchen die Ehre nehmen, wenn Sie die Sache an die +große Glocke hängen lassen? Sehen Sie denn nicht ein, +daß Sie allem Gerede so schnell wie möglich die Spitze +abbrechen müssen? Sie müssen jedem furchtlos und stolz +in die Augen blicken können, Ihre Verlobung sofort veröffentlichen, +alle Ihre Vernunftgründe zum Teufel +schicken und Foma, wenn er dagegen auch nur zu mucken +wagt, einfach zu Pulver zerstäuben! ...“ +</p> + +<p> +„Ssergei, Freund, ich dachte daran, als wir herkamen!“ +</p> + +<p> +„Und zu was haben Sie sich entschlossen?“ +</p> + +<p> +„Mein Entschluß steht fest! Ich hatte mich bereits +entschlossen, noch bevor ich dir zu erzählen begann!“ +</p> + +<p> +„Bravo, Onkel!“ +</p> + +<p> +Ich fiel ihm um den Hals vor Freude. +</p> + +<p> +Lange noch sprachen wir. Ich hielt ihm alle die unerbittlichen +Gründe vor, die ihn zwangen, Nastenjka +zu heiraten, und die er übrigens selbst noch viel besser +begriff als ich. Aber ich kam nun einmal ins Reden. +Ich freute mich unsäglich für ihn. Jetzt zwang ihn die +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +Pflicht, anderenfalls hätte er sich wohl nie entschlossen. +Vor der Pflicht aber, und noch dazu einer Ehrenpflicht, +war er machtlos. +</p> + +<p> +Doch ungeachtet alles dessen wußte ich entschieden +nicht, wie das Vorhaben ausgeführt werden sollte. Ich +wußte und glaubte ohne den geringsten Zweifel, daß +mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen werde, +was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte. Aber +im Grunde fürchtete ich doch, daß er nicht rücksichtslos +genug sein könne, um sich gegen die Herrscher in seinem +Hause aufzulehnen. Nur deshalb bemühte ich mich so +hartnäckig, ihn anzutreiben und in dieser Richtung vorwärtszustoßen: +und so legte ich mich denn mit dem +ganzen Eifer der Jugend ins Zeug. +</p> + +<p> +„... Um so mehr, um so mehr müssen Sie es,“ +wiederholte ich, „als jetzt bereits alles beschlossen ist und +Ihre letzten Zweifel aufgehoben sind! Es ist etwas geschehen, +was <em>Sie</em> nicht erwartet haben, obgleich es alle +seit langer Zeit wissen: Nastassja Jewgrafowna liebt +Sie! Wollen Sie es denn wirklich zulassen!“ rief ich +heftig aus, „daß diese reine Liebe sich für sie in Schmach +und Schande verwandle?“ +</p> + +<p> +„Niemals will ich das! Aber, Freund, ist es denn +überhaupt möglich, daß ich so glücklich werden könnte? +Und wie kann sie mich nur lieben, und wofür eigentlich? +wofür? Ich glaube, es ist doch so gar nichts an mir ... +Ich bin ein Greis im Vergleich zu ihr. Nein, das hätte +ich nie erwartet! Liebling, mein Liebling! ... Höre, +Sserjosha, vorhin fragtest du mich, ob ich nicht in sie +verliebt sei: hattest du irgendeine ... Idee vielleicht?“ +</p> + +<p> +„Ich sah nur, Onkel, daß Sie sie so liebten, wie man +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +noch mehr einen Menschen überhaupt nicht lieben kann; +und daß Sie sie liebten, ohne es selbst zu wissen. Denken +Sie doch einmal nach: Sie rufen mich aus Petersburg +her und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig damit +sie Ihre Nichte werde und Sie, Onkel, uns dann ewig +bei sich haben können ...“ +</p> + +<p> +„Und du ... du verzeihst mir, Ssergei?“ +</p> + +<p> +„Ach, Onkel ...“ +</p> + +<p> +Er preßte mich an sein Herz. +</p> + +<p> +„Aber jetzt seien Sie auf der Hut; denn es haben +sich ja dort alle gegen Sie verschworen. Sie müssen sich +erheben und gegen alle kämpfen, und zwar gleich +morgen!“ +</p> + +<p> +„Ja ... ja, morgen!“ wiederholte er etwas nachdenklich, +„und weißt du, wir wollen die Sache männlich +und vollkommen überzeugt von unserem Recht anfassen, +mit wirklicher Charakterstärke ... ja eben mit Charakterstärke!“ +</p> + +<p> +„Lassen Sie den Mut nicht sinken, Onkel!“ +</p> + +<p> +„Nein, ich werde den Mut nicht sinken lassen, Ssergei! +Nur eines: ich weiß nicht, welch einen Schlachtplan +ich wählen soll!“ +</p> + +<p> +„Denken Sie jetzt nicht daran, Onkel. Morgen wird +alles seine Lösung finden. Für heute beruhigen Sie sich. +Je mehr man jetzt grübelt, um so schlimmer ist es. Und +falls Foma den Mund auftut – dann entweder: ihn +unverzüglich vor die Tür setzen, oder: ihn zu Staub +zermalmen!“ +</p> + +<p> +„Geht es denn nicht auch ohne das? Freund, ich +habe so beschlossen: morgen gehe ich in aller Frühe zu +ihm und erzähle ihm den ganzen Sachverhalt, so wie ich +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +ihn dir erzählt habe. Er kann mich doch unmöglich +nicht verstehen wollen! Er ist doch ein edler Mensch, +der edelste von allen! Aber sieh, was mich beunruhigt: +was dann, wenn er meine Mutter und Tatjana Iwanowna +heute schon von der bevorstehenden Werbung benachrichtigt +hat? Das wäre doch furchtbar?“ +</p> + +<p> +„Tatjana Iwanownas wegen brauchen Sie sich +nicht zu beunruhigen, Onkel.“ Und ich erzählte ihm +meine Begegnung mit Obnoskin vor der Laube. Mein +Onkel war maßlos erstaunt. Misintschikoff erwähnte +ich mit keinem Wort. +</p> + +<p> +„Eine phantasmagorische Person, in der Tat! Wirklich, +eine phantasmagorische Person!“ rief er aus. „Die +Arme! Man will ihre Naivität ausnutzen! Und war es +wirklich Obnoskin? Aber er fuhr doch nach dem Tee +fort? Sonderbar, höchst sonderbar! Ich bin wirklich +betroffen, Sserjosha ... Das muß man morgen noch +untersuchen, um gegebenenfalls Maßregeln ergreifen zu +können ... Aber bist du auch überzeugt, daß es Tatjana +Iwanowna war?“ +</p> + +<p> +Ich sagte, daß ich ihr Gesicht zwar nicht gesehen +hätte, aber aus gewissen Gründen fest überzeugt sei, daß +es Tatjana Iwanowna gewesen war. +</p> + +<p> +„Hm! Oder sollte es nicht doch ein kleines Techtelmechtel +mit einem der Hofmädchen gewesen sein, und dir +hat es vielleicht nur so geschienen, daß es Tatjana +Iwanowna war? War es nicht Dascha, die Gärtnerstochter? +Das ist ein durchtriebenes Mädchen! Man +hat sie bereits öfter bemerkt ... Nur deshalb sage ich +es ja, weil man sie wirklich schon gesehen hat. Anna +Nilowna hat sie ertappt! ... Aber nein, das ist auch +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +unwahrscheinlich! Und er hat dir gesagt, daß er sie heiraten +wolle? Sonderbar, sehr sonderbar ...“ +</p> + +<p> +Endlich trennten wir uns. Ich umarmte ihn zum +Abschied. +</p> + +<p> +„Morgen, morgen wird sich alles entscheiden,“ sagte +er lebhaft, „noch bevor du aufstehst! Ich werde zu Foma +gehen und ihm ritterlich alles aufdecken, wie meinem +leiblichen Bruder, alles, was ich auf meinem Herzen +habe, meine ganze Seele. Leb wohl, Sserjosha. Leg +dich jetzt hin, du wirst müde sein. Na, und ich – ich +werde in der ganzen Nacht wohl kein Auge schließen.“ +</p> + +<p> +Er ging. Ich legte mich unverzüglich schlafen; denn +ich war in der Tat todmüde. Das war ein schwerer +Tag gewesen! Meine Nerven waren überreizt, und bevor +ich endlich einschlief, zuckte ich noch mehrmals zusammen +und wachte immer wieder aus dem Halbschlaf +auf. +</p> + +<p> +Aber wie seltsam meine Eindrücke auch während +des Einschlafens waren, so war ihre Seltsamkeit doch +noch nichts im Vergleich mit der Seltsamkeit meines +Erwachens am nächsten Morgen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-16"> +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +<span class="firstline">XIII.</span><br> +Die Verfolgung. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> schlief traumlos und ungewöhnlich fest. Plötzlich +fühlte ich, wie ein Gewicht von etwa vierhundert Pfund +sich auf meine Beine legte: ich schrie auf und erwachte. +</p> + +<p> +Es war schon hell: durch die Fenster flutete gelbes +Sommermorgenlicht ins Zimmer. Auf meinem Bett, +oder richtiger, auf meinen Beinen saß – Herr Bachtschejeff. +</p> + +<p> +Ein Zweifel war ausgeschlossen: er war es. Nachdem +ich meine Füße mit genauer Not von dieser Last +befreit hatte, setzte ich mich im Bett auf und sah ihn +mit der stumpfen Verständnislosigkeit eines kaum erwachten +Menschen an. +</p> + +<p> +„Er glotzt noch!“ rief der Dicke empört aus. „Was +staunst du mich denn an? Steh auf, Alter, steh auf! +Wecke dich hier schon seit einer halben Stunde. Reib +dir endlich den Schlaf aus den Augen!“ +</p> + +<p> +„Was ist geschehen? Wieviel ist die Uhr?“ +</p> + +<p> +„Die Uhr ist noch nicht viel, aber unsere Fewronja +hat nicht einmal den Tag erwartet, um loszuziehen. +Steh mal auf, fix, wir setzen ihr nach!“ +</p> + +<p> +„Was für eine Fewronja?“ +</p> + +<p> +„Na, die unserige doch, die Holde, wer denn sonst! +Ist schon über alle Berge! Bereits vor Sonnenaufgang +ausgekniffen! Ich aber bin ja, mein Bester, nur auf +einen Augenblick zu Ihnen gekommen, bloß um Sie auf +die Beine zu bringen – und da vertrödele ich nun mit +ihm geschlagene zwei Stunden! Stehen Sie auf, mein +Lieber, Ihr Onkel erwartet Sie schon ... Da hat man +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +nun die Bescherung!“ knurrte er zum Schluß, mit einer +gewissen schadenfrohen Gereiztheit in der Stimme. +</p> + +<p> +„Aber von wem ... wovon reden Sie?“ fragte ich +erregt; denn ich begann bereits zu ahnen, „... doch +nicht ... Tatjana Iwanowna?“ +</p> + +<p> +„Von wem denn sonst? Natürlich von ihr! Habe ich +nicht gesagt, gewarnt – keiner wollte auf mich hören! +Da habt ihr jetzt die Bescherung ... zum Feiertage! +Kupido hat ihr den Kopf verdreht, nur deswegen ist sie +verrückt! Pfui! Aber jener, jener – was? Da habt +ihr jetzt den Spitzbart!“ +</p> + +<p> +„Doch nicht mit Misintschikoff?“ +</p> + +<p> +„Hör nur einer <em>so</em> was! Nun reib dir aber den +Schlaf aus den Augen und werde wenigstens dem +großen Feiertage zu Ehren nüchtern! Bist wohl gestern +bis untern Tisch gekommen, wenn dir der Schädel jetzt +noch brummt! Was: Misintschikoff! – Mit Obnoskin, +aber nicht mit Misintschikoff! Iwan Iwanowitsch +Misintschikoff ist ein anständiger Mensch und macht sich +mit uns auf die Verfolgung.“ +</p> + +<p> +„Was Sie sagen!“ rief ich erschrocken aus und +machte, noch halb sitzend, einen Sprung aus dem Bett, +„tatsächlich mit Obnoskin?“ +</p> + +<p> +„Pfui, du langweiliger Mensch!“ Der Dicke erhob +sich fauchend von meinem Bett. „Ich komme zu ihm +wie zu einem gebildeten Menschen, um ihm das Unglück +mitzuteilen, er aber zweifelt noch! Du, mein Lieber, +wenn du mit willst, so erheb dich schleunigst und zieh dir +deine Höschen an; ich aber hab’s satt, hier mit meiner +Lunge für dich zu arbeiten: habe sowieso schon meine +Zeit an dich verschwendet!“ +</p> + +<p> +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +Und er verließ äußerst ungehalten mein Zimmer. +</p> + +<p> +Noch ganz bestürzt von der Nachricht, sprang ich +aus dem Bett, kleidete mich schnell an und eilte ins +Herrenhaus. +</p> + +<p> +Dort schien noch alles zu schlafen: und so trat ich +denn vorsichtig durch die Paradetür ein, um unbemerkt +zu meinem Onkel zu kommen. Kaum war ich eingetreten, +als plötzlich Nastenjka vor mir stand: sie mußte +soeben erst aufgestanden sein und sich in aller Eile angezogen +haben. Ihr Haar war in Unordnung, und sie +trug eine Art Morgenkleid oder Umwurf. Wahrscheinlich +hatte sie im Flur auf jemanden gewartet. +</p> + +<p> +„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna +mit Obnoskin fortgefahren ist?“ fragte sie mich +erregt mit zitternder Stimme, bleich und sichtlich erschrocken. +</p> + +<p> +„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel ... +Wir wollen ihr nachfahren ...“ +</p> + +<p> +„Oh, bringen Sie sie, bringen Sie sie schnell zurück! +Wenn Sie es nicht tun, ist sie verloren!“ +</p> + +<p> +„Aber wo ist denn mein Onkel?“ +</p> + +<p> +„Wahrscheinlich bei den Pferdeställen. Die Pferde +werden schon angeschirrt. Ich habe hier auf ihn gewartet. +Hören Sie, sagen Sie ihm von mir, daß ich +unbedingt heute noch fortfahren will: ich bin fest entschlossen. +Mein Vater nimmt mich zu sich. Am liebsten +würde ich sofort fahren, wenn es sich nur machen ließe! +Jetzt ist alles verloren! Jetzt ist alles zu Ende!“ +</p> + +<p> +Während sie das sagte sah sie mich selbst wie eine +Verlorene an – und plötzlich brach sie in Tränen aus. +Es schien ein nervöser Anfall zu sein. +</p> + +<p> +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!“ bat ich +sie. „Das ist doch nur eine günstige Wendung – Sie +werden sehen ... Was haben Sie nur, Nastassja Jewgrafowna?“ +</p> + +<p> +„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist,“ sagte +sie erregt und preßte unbewußt meine Hände krampfhaft +zusammen. „Sagen Sie ihm ...“ +</p> + +<p> +Da hörten wir hinter der nächsten Tür ein Geräusch. +</p> + +<p> +Sie zog erschrocken ihre Hände zurück und eilte die +Treppe hinauf. +</p> + +<p> +Ich fand sie alle – d. h. meinen Onkel, Herrn +Bachtschejeff und Misintschikoff – auf dem hinteren +Hof bei den Ställen. Vor Herrn Bachtschejeffs Wagen +wurden frische Pferde angeschirrt. Alles war zur Abfahrt +bereit: man hatte nur noch auf mich gewartet. +</p> + +<p> +„Da ist er!“ rief mein Onkel aus, als er mich +erblickte. „Hast du es schon gehört, Freund?“ fragte +er leiser mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck. +Schreck, Zerstreutheit und doch so etwas wie eine neue +Hoffnung lagen in seinem Blick, in seiner Stimme und +selbst in seinen Bewegungen. Offenbar fühlte er, daß +in seinem Schicksal eine Wendung eingetreten war. +</p> + +<p> +Ich wurde sogleich in die Einzelheiten eingeweiht. +</p> + +<p> +Herr Bachtschejeff war nach einer qualvollen Nacht +beim ersten Morgengrauen von Hause aufgebrochen, um +rechtzeitig zum Frühgottesdienst im Kloster einzutreffen, +das einige fünf Werst von seinem Gut entfernt lag. +Als er gerade von der Landstraße in den Nebenweg zur +Einsiedelei einbiegen wollte, hatte er mit einemmal +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +einen offenen Wagen in rasender Schnelligkeit daherkommen +sehen und in den Insassen Tatjana Iwanowna +und Obnoskin erkannt. Tatjana Iwanowna sei verweint +gewesen und habe, als sie Herrn Bachtschejeff +erblickt, vor Schreck aufgeschrien und ihm dann die +Hände wie hilfesuchend entgegengestreckt – so wenigstens +ging es aus seiner Erzählung hervor. „Jener +aber, der Schuft mit dem Spitzbart, wollte sich vor mir +verstecken, jawohl, ja! – vor mir aber versteckst du dich +nicht!“ +</p> + +<p> +Ohne lange zu zögern, hatte Stepan Alexejewitsch +(Herr Bachtschejeff) dem Kutscher wieder auf die Landstraße +zurückzukehren befohlen und war schnurstracks +nach Stepantschikowo gefahren, hatte hier ohne weiteres +meinen Onkel geweckt, ferner Misintschikoff und schließlich +auch mich. Es war beschlossen worden, ihnen sogleich +nachzufahren. +</p> + +<p> +„Aber Obnoskin, was sagst du zu Obnoskin?“ +fragte mein Onkel und sah mich unverwandt an, als +wolle er mir gleichzeitig noch sagen: „Wer hätte das +gedacht!“ +</p> + +<p> +„Von diesem niedrigen Menschen war jede Gemeinheit +zu erwarten!“ bemerkte Misintschikoff in sehr scharfem +Ton, wandte sich aber im selben Augenblick ab, um +meinen Blick zu vermeiden. +</p> + +<p> +„Na, was nun: fahren wir oder fahren wir nicht? +Oder werden wir bis zum Abend hier stehen und uns +Märchen erzählen?“ erinnerte Herr Bachtschejeff an +unser Vorhaben und schob sich als erster in den Wagen. +</p> + +<p> +„Fahren wir, fahren wir!“ rief sogleich eilig mein +Onkel. +</p> + +<p> +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +„Es wendet sich alles zum guten, Onkel,“ raunte ich +ihm noch schnell zu. „Dieser Punkt ist jetzt besser erledigt, +als wir es uns hätten träumen können!“ +</p> + +<p> +„Schon gut, Freund, lästere nicht ... Aber jetzt +wird man <em>sie</em> ja einfach hinauswerfen, zur Strafe +dafür, daß das andere mißglückt ist, aus Rache – du +verstehst doch? Entsetzlich, Freund, was ich jetzt kommen +sehe!“ +</p> + +<p> +„Zum Donner, Jegor Iljitsch, wollen Sie Geheimnisse +tuscheln – oder wollen Sie fahren?“ schrie Herr +Bachtschejeff zum zweitenmal. „Sollte man nicht lieber +die Pferdchen vorläufig wieder ausschirren lassen und +erst noch einen Imbiß einnehmen – was meinen Sie? +– und womöglich noch ein paar Gläschen sich hinter die +Binde gießen?“ +</p> + +<p> +Diese Worte waren mit einem so grimmigen Sarkasmus +gesagt, daß es ganz ausgeschlossen war, Herrn +Bachtschejeff nicht unverzüglich zu befriedigen. Wir +stiegen eilig ein, und die Pferde zogen an. +</p> + +<p> +Eine Zeitlang schwiegen alle. Mein Onkel streifte +mich ab und zu mit einem bedeutungsvollen Blick, schien +aber in Gegenwart der anderen nicht sprechen zu wollen. +Mitunter versank er in Gedanken, um dann nach einer +Weile zusammenzuzucken, plötzlich gleichsam zur Besinnung +zu kommen und sich erregt umzublicken. Misintschikoff +war scheinbar ruhig, rauchte seine Zigarette +und schaute mit dem Selbstbewußtsein eines ungerechterweise +gekränkten Menschen drein. Dafür ereiferte sich +Herr Bachtschejeff für drei. Er brummte die ganze +Zeit vor sich hin, blickte auf alle und alles mit entschiedener +Mißbilligung, wurde rot, fauchte, spie fortwährend +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +seitwärts auf die Landstraße und konnte sich auf +keine Art und Weise beruhigen. +</p> + +<p> +„Bist du denn auch wirklich überzeugt, Stepan, daß +die beiden nach Mischino gefahren sind?“ erkundigte sich +plötzlich mein Onkel. „Das ist, <a id="corr-17"></a>mußt du wissen, +zwanzig Werst von hier,“ fügte er, zu mir gewandt, erklärend +hinzu, „ein kleines Gut mit dreißig Seelen. Es +ist vor kurzem von einem ehemaligen Gouvernementsbeamten +den früheren Besitzern abgekauft worden. Ein +Schikaneur, sagt man, wie die Welt keinen zweiten aufzuweisen +hat! Wenigstens wird es ihm nachgesagt. +Stepan Alexejewitsch behauptet, Obnoskin sei dorthin +gefahren, und dieser Beamte helfe ihm.“ +</p> + +<p> +„Du zweifelst wohl noch?“ fuhr Herr Bachtschejeff +sofort auf. „Ich sage es und bleibe dabei: sie sind nach +Mischino gefahren. Nur hat man ihn in Mischino +wahrscheinlich schon längst wieder vergessen, den Obnoskin. +Warum auch nicht! Haben doch drei Stunden auf +dem Hof verschwatzt!“ +</p> + +<p> +„Beunruhigen Sie sich nicht,“ bemerkte Misintschikoff, +„wir werden sie dort noch antreffen.“ +</p> + +<p> +„Jawohl, ja! Antreffen! Der will gerade dort +noch Wiedersehen mit dir feiern! Er hat doch die Schatulle +in den Fingern, worauf soll er jetzt noch warten?“ +</p> + +<p> +„Beruhige dich, Stepan, beruhige dich nur,“ redete +ihm mein Onkel gütig zu. „Sie haben ja noch zu nichts +Zeit gehabt – du wirst sehen, daß es so ist.“ +</p> + +<p> +„Zu nichts Zeit gehabt!“ wiederholte Herr Bachtschejeff +boshaft. „Zu was hat diese nicht Zeit, wenn +sie auch noch so bescheiden ist! ‚Ach ja, sie ist so bescheiden, +ein so bescheidenes Kind!‘“ flötete er plötzlich +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +aus der Fistel, als wolle er jemand nachäffen. „‚Sie +hat so viel Unglück erfahren!‘ – Jawohl, ja! Da hat +sie uns jetzt ihre Absätze gezeigt, die bescheidene Unglückliche! +Da rast man ihr nun auf der großen Landstraße +nach, mit der Zunge aus dem Halse womöglich, und +sucht sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang! +Läßt einen nicht einmal an Gottes heiligem Feiertage +beten, wie es sich gehört! Pfui!“ +</p> + +<p> +„Aber sie ist doch mündig,“ bemerkte ich, „sie steht +doch nicht unter Vormundschaft. Wir können sie doch +nicht zwingen, zurückzukehren, wenn sie es nicht selbst +will. Was werden wir dann tun?“ +</p> + +<p> +„Sie wird gewiß zurückkehren wollen, ich versichere +dich,“ sagte mein Onkel. „Das hat sie jetzt nur so ... +Sobald sie uns nur erblickt, wird sie zurück wollen – +dafür garantiere ich. Und außerdem – es geht doch +nicht anders, Freund, man kann sie doch nicht so dem +Zufall überlassen, dem Schicksal als Opfer ... es ist +doch gewissermaßen eine Pflicht ...“ +</p> + +<p> +„Steht nicht unter Vormundschaft!“ rief Herr Bachtschejeff +aufgebracht aus und sah mich mit bösen Augen +an. „‚Ist mündig!‘ – Eine Gans ist sie, mein Lieber, +eine echte Gans! – <em>So</em> muß man es nennen, aber +nicht, daß sie <em>mündig</em> ist! Gestern wollte ich mit +dir überhaupt nicht von ihr sprechen; denn ein paar +Stunden vorher hatte ich aus Versehen die Tür zu ihrem +Zimmer aufgemacht – und was sehe ich: sie ist allein +im Zimmer vor dem Spiegel, die Hände in die Seiten +gestemmt und tanzt so was wie ’ne Ecossaise! Und wie +aufgeputzt! Ein Journal, sag ich, einfach ein Modejournal! +Ich spie nur aus und ging. Und damals +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +schon sah ich voraus, sah ich alles so kommen, wie es +jetzt gekommen ist – buchstäblich, genau so!“ +</p> + +<p> +„Wozu soll man sie so hart beurteilen,“ wagte ich +etwas eingeschüchtert einzuwenden, „wir wissen doch, +daß Tatjana Iwanowna ... sich nicht ihrer vollen +Gesundheit erfreut ... oder richtiger, daß sie eine gewisse +Manie ... Ich glaube, daß man nur Obnoskin +beschuldigen darf und nicht sie.“ +</p> + +<p> +„Sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut! Da +werde einer mit ihm fertig!“ griff der Dicke wieder +meinen Ausdruck auf, das Gesicht rot vor Zorn. „Er +hat sich ja wahrhaftig geschworen, einen aus der Haut +zu bringen! Schon gestern hat er den Schwur abgelegt! +<em>Eine Gans ist sie</em>, hörst du mich, Väterchen, ich +sage es dir nochmals: eine <em>kapitale</em> Gans! <em>So</em> +heißt’s, nicht aber, daß sie sich ‚nicht ihrer vollen Gesundheit +erfreut‘! Sie ist von Kindesbeinen <span class="antiqua">in puncto</span> +Liebe übergeschnappt, das laß dir gesagt sein! Und jetzt +hat der Kupido sie glücklich bis zum Letzten gebracht! +Von jenem aber mit dem Spitzbart – von dem lohnt es +sich gar nicht zu reden! Der wird jetzt für dreie leben, +da sei du unbesorgt, und das Geld springen lassen und +sich ins Fäustchen lachen.“ +</p> + +<p> +„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie verlassen +wird?“ +</p> + +<p> +„Was denn sonst? Soll er denn einen solchen Schatz +noch mit sich herumschleppen? Was soll er mit ihr +anfangen? Er wird ihr das Geld abrupfen und sie +dann an der Landstraße unter einen Busch setzen – und +Lebewohl sagen –, sie aber kann dann dort unterm +Busch sitzen und Blümchen riechen, wenn sie will.“ +</p> + +<p> +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +„Nein, Stepan, da hast du dich denn doch etwas +fortreißen lassen, so wird es nicht sein!“ sagte mein +Onkel. „Und weshalb ärgerst du dich so? Wirklich, +ich wundere mich über dich, Stepan! Was hast du +davon?“ +</p> + +<p> +„Soo? Bin ich denn kein Mensch? Da kann man +doch auch wütend werden! Ganz unwillkürlich! Und +vielleicht rede ich nur aus mitleidigem Herzen ... Ach, +mag die ganze Welt versauern! Sagt mir doch, wozu +bin ich eigentlich hergefahren? Weshalb bin ich nicht +ruhig weitergefahren? Was geht denn das mich an? +Was schert das mich, Schockschwerenot!“ +</p> + +<p> +So haderte Herr Bachtschejeff mit dem Schicksal, +doch ich hörte ihm nicht lange zu und beschäftigte mich +in Gedanken mit derjenigen, der wir nachfuhren – mit +Tatjana Iwanowna. Ihre Lebensgeschichte, über die +ich mich in der Folge habe unterrichten lassen, und die +als Erklärung ihres Abenteuers interessieren dürfte, ist +kurz folgende: +</p> + +<p> +Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen +Hause aufgewachsen war, dann als armes, +junges Mädchen und mit der Zeit als armes, altes Mädchen +hatte Tatjana Iwanowna in ihrem ganzen kärglichen +Leben alles Leid, das Verwaistheit, Erniedrigung, +Vorwürfe und ungern gegebenes Gnadenbrot verursachen, +zur Genüge ausgekostet. Von Natur mit einem +heiteren, sehr empfänglichen und wohl auch leichtsinnigen +Charakter begabt, hatte sie ihr bitteres Los anfangs +noch leicht genommen und mitunter sogar fröhlich und +sorglos wie ein Kind lachen können. Mit den Jahren +tat aber die Zeit das Ihre: Tatjana Iwanowna wurde +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +gelb und mager, wurde reizbar, krankhaft empfänglich +und überschwenglich und träumte immer phantastischer +von allem Schönen der Erde, träumte einen Traum, der +nur von hysterischen Tränen oder plötzlichem, krampfartigem +Schluchzen unterbrochen wurde. Je weniger +irdische Güter die Wirklichkeit ihr verlieh, um so mehr +tröstete sie sich mit ihrer Phantasie: je unwiederbringlicher +und unaufhaltsamer ihre letzten Berechtigungen +zu irgendwelchen Hoffnungen dahinschwanden, um so +berauschender wurden ihre Illusionen, die sich doch niemals +verwirklichen konnten. Unermeßliche Reichtümer, +unverwelkbare Schönheit, elegante, reiche, vornehme +Kavaliere, wenn nicht gar Großfürsten, die ihr den +Hof machten, die für sie allein ihr Herz in jungfräulicher +Reinheit erhalten hatten, und zu ihren Füßen vor lauter +Liebe starben, und schließlich <em>er</em> – <em>er</em>, das Schönheitsideal, +ein Mann, der alle Vollkommenheiten in sich vereinigte, +sie leidenschaftlich liebte, dazu Künstler, Dichter, +General war – alles zusammen oder abwechselnd – +alles das sah und erlebte sie bald nicht nur in ihrer +Phantasie, sondern fast wie in Wirklichkeit. Ihre Vernunft +widerstand nicht lange dem Gift dieser heimlichen, +ununterbrochenen Träume ... Und nun plötzlich – +griff das Schicksal in ihr Leben ein und hatte sie zum +besten. In der letzten Erniedrigung, inmitten der traurigsten, +das Herz bedrückenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin +einer alten, zahnlosen, launischen Dame – +die sie beständig beschuldigte, die ihr wegen jedes Brotstücks +und jedes Kleides Vorwürfe machte –, fast als +Dienstmagd, die ein jeder kränken durfte, und die von +niemand beschützt wurde, die durch ihr armseliges Leben +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +um ihre Vernunft gebracht war und im geheimen nur +im Zauber der sinnlosesten und glühendsten Phantasiegebilde +lebte – erhielt sie eines Tages die Nachricht +vom Tode eines ihrer entfernten Verwandten, dessen +Angehörige alle vor ihm gestorben waren, wovon sie in +ihrem Leichtsinn keine Ahnung gehabt hatte. Dieser +entfernte Verwandte war ein Sonderling gewesen, hatte +wie ein Einsiedler gelebt, irgendwo weit in einem Provinznest, +mürrisch, einsam und mit der Welt zerfallen, +sich nur mit Kraniologie beschäftigt und sein Geld auf +Wucherzinsen geliehen. Und so war denn plötzlich wie +durch ein Wunder dieser Tatjana Iwanowna ein ganzes +großes Vermögen in den Schoß gefallen: sie war die +einzige noch lebende Verwandte und folglich die einzige +gesetzmäßige Erbin des Alten. Hunderttausend Rubel +erhielt sie sofort blank und bar ausgezahlt. Dieser Hohn +des Lebens aber brachte sie alsbald um den Rest ihres +Verstandes. Wie sollte nun ihre ohnehin schon geschwächte +Vernunft nicht an die Erfüllung aller ihrer +Träume glauben, wenn solche Wunder geschehen konnten? +Und so kam es, daß sie, fast betäubt vom Glück, +unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien +und verführerischer Illusionen versank. Verschwunden +waren alle Zweifel, alle Grenzen der Wirklichkeit +und deren Gesetze. Fünfunddreißig Jahre und +blendende Schönheit, traurig stimmende Herbstkälte und +die ganze Wonne unendlicher Liebesseligkeit lebten in +ihrem Wesen nebeneinander, ohne miteinander auch nur +einmal in Konflikt zu geraten. War doch <em>ein</em> Traum +Wirklichkeit geworden – weshalb sollten es nicht auch +die anderen werden? Weshalb sollte nicht auch <em>er</em> erscheinen? +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +Tatjana Iwanowna dachte nicht – sie +glaubte. Und während sie <em>ihn</em> noch erwartete, das +Ideal – sah sie jetzt Tag und Nacht nur noch Werbende +vor sich, Offiziere und Zivilpersonen, Infanteristen +und Gardekavalleristen, Millionäre und Dichter, +die in Paris gewesen waren, und auch solche, die nur +Moskau gesehen hatten, solche mit spanischen Spitzbärten +und solche ohne Spitzbärte, Spanier und Nichtspanier +(größtenteils aber doch Spanier) – jedenfalls +sah sie dieselben in erschreckend großer Anzahl, so daß +sie in ihrer Umgebung ernstliche Befürchtungen erregte. +Es fehlte nicht viel, und man hätte sie in eine Irrenanstalt +schaffen müssen. Alle ihre schönen Illusionen +umgaben sie wie eine glänzende Kette, und im wirklichen +Leben sah sie alles im selben phantastischen Licht: +wen sie nur sah, der schien ihr in sie verliebt zu sein; +wer nur an ihr vorüberging, der war in ihren Augen +ein Spanier, wer starb – der starb unfehlbar aus Liebe +zu ihr. Und in diesen Einbildungen wurde sie noch +dadurch bestärkt, daß ihr jetzt tatsächlich viele Herren, +wie zum Beispiel ein Obnoskin, mit demselben Ziel, das +auch Misintschikoff verfolgte, den Hof machten. Plötzlich +wurde sie von allen umschmeichelt, verwöhnt und +„geliebt“. Die Arme konnte und wollte nicht einmal +argwöhnen, daß es nur um ihres Geldes willen geschah. +Sie war vollkommen überzeugt, daß alle Menschen, von +denen sie früher so schlecht behandelt worden war, sich +plötzlich wie auf irgend jemandes Befehl gebessert +hatten, heiter, lieb, freundlich und gut geworden seien. +<em>Er</em> erschien zwar vorläufig noch nicht, und wenn es +auch nicht dem geringsten Zweifel unterlag, daß <em>er</em> +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +einmal kommen werde, so war doch das Leben auch so +nicht schlecht, es war sogar sehr angenehm, so voll Zerstreuungen +und netter Erlebnisse, daß man sehr gut noch +warten konnte! Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, +pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. +Diese Romane regten ihre Phantasie noch mehr an; doch +las sie keinen einzigen zu Ende, sondern legte das Buch +gewöhnlich schon nach den ersten Seiten aus der Hand. +Sie hielt die Lektüre nicht länger aus, da schon die gleichgültigste +Andeutung einer Liebe oder auch nur die Beschreibung +des Ortes, eines Zimmers etwa, ihre Gedanken +gänzlich gefangen nahm. Fortwährend wurden +ihr neue Kleider, Spitzen, Hüte, Bänder, Musterbogen +und Schnittmuster, Stickereien, Konfekt, Blumen +und Schoßhündchen zugesandt. In der Mädchenstube +waren drei Mädchen ganze Tage lang nur mit dem +Nähen ihrer Kleider beschäftigt, sie aber drehte sich fast +vom Morgen bis zum Abend und sogar in der Nacht vor +dem Spiegel und hatte eine Anprobe nach der anderen. +Sie schien dabei nach der Erbschaft jünger und hübscher +geworden zu sein. Ich habe bis jetzt leider noch nicht +in Erfahrung bringen können, wie sie mit dem verstorbenen +General Krachotkin verwandt war. Im Grunde +war ich von Anfang an überzeugt, daß diese ganze Verwandtschaft +nur eine Erfindung der Generalin sein +konnte, die sich Tatjana Iwanownas bemächtigen +wollte, um sie dann, was es auch koste, mit meinem +Onkel zu verheiraten. Herr Bachtschejeff hatte recht, +wenn er sagte, Kupido hätte sie um die letzte Vernunft +gebracht. Andererseits war der Entschluß meines +Onkels, als er von ihrer Flucht mit Obnoskin erfahren +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +hatte, ihr sogleich nachzufahren und sie zurückzubringen, +das Vernünftigste, was er tun konnte. Die Arme war +gar nicht fähig, ohne Bevormundung zu leben, und sie +würde unfehlbar ihrem Verderben entgegengegangen +sein, wenn sie unter schlechte Menschen geraten wäre. +</p> + +<p> +Es war über neun, als wir in Mischino anlangten. +Das Gut lag drei Werst abseits von der großen Landstraße. +Es war dort nur ein kleines Gutshaus mit ein +paar ärmlichen Nebengebäuden, die alle gleichsam in +einer Grube lagen. Sechs oder sieben Bauernhütten, +die schief und verräuchert, nur spärlich mit schwarz gewordenem +Stroh bedeckt am Wege standen, machten +einen traurigen Eindruck auf den Vorüberfahrenden. +Kein Garten, kein Strauch war rings im Umkreise von +einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum +stand einsam an einem grünen Tümpel, der „Teich“ +genannt wurde. Ein solcher Ort konnte auf Tatjana +Iwanowna unmöglich einen freundlichen Eindruck +machen. Das Wohngebäude des Besitzers war ein langgestreckter, +schmaler Neubau mit sechs Fenstern in einer +Reihe und einem vorderhand nur mit Stroh gedeckten +Dach. Der Besitzer – ein ehemaliger Beamter – +hatte das Gut erst kürzlich übernommen. Selbst der +Hof war noch nicht einmal mit einem Zaun umgeben: +nur an einer Seite war ein Stück von einem neuen +Flechtzaun zu sehen, von dem die trockenen Nußbaumblätter +noch nicht abgefallen waren. Dort am Zaun +stand auch Obnoskins offener Wagen. Aus einem geöffneten +Fenster hörten wir Geschrei und Weinen. +</p> + +<p> +Im Flur trafen wir nur einen barfüßigen Knaben +an, der Hals über Kopf davonlief. Im ersten Zimmer, +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +das wir betraten, saß auf einem langen, kattunüberzogenen +„türkischen“ Diwan ohne Lehne – Tatjana +Iwanowna, die ganz verweint war. Als sie uns erblickte, +schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den +Händen. Neben ihr stand Obnoskin – mitleiderregend +verwirrt und erschrocken. Er verlor dermaßen den Kopf, +daß er uns entgegenstürzte, um uns die Hände zu +drücken, ganz als hätte ihn unsere Ankunft unsäglich +gefreut. Durch die halboffene Tür sah man den Zipfel +eines Frauenkleides: jemand schien dort durch einen +Spalt zu lauern und zu lauschen. Weder war der +Hausherr noch war die Hausfrau zu sehen: sie schienen +überhaupt nicht im Hause zu sein – oder sie hatten sich +irgendwo versteckt. +</p> + +<p> +„Da ist sie ja, unsere Ausflüglerin! Will sich jetzt +noch hinter den Händen verstecken!“ rief Herr Bachtschejeff +aus, der hinter uns als letzter in das Zimmer +gerollt kam. +</p> + +<p> +„Mäßigen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! +Das ist hier durchaus nicht angebracht. Das Recht zu +sprechen hat jetzt nur Jegor Iljitsch, wir aber sind hier +vollkommen Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikoff +scharf. +</p> + +<p> +Mein Onkel, der dem Dicken nur einen strengen Blick +zugeworfen hatte, ging, ohne Obnoskin und seine ausgestreckten +Hände auch nur zu beachten, auf Tatjana +Iwanowna zu, die ihr Gesicht immer noch verbarg, und +sagte mit ungeheuchelter Teilnahme in seiner sympathischen +Stimme: +</p> + +<p> +„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten +Sie so, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +zu erfahren. Wollen Sie nicht mit uns nach +Stepantschikowo zurückkehren? Heute ist doch Iljuschas +Namenstag. Meine Mutter erwartet Sie ungeduldig, +und Ssaschenjka und Nastenjka werden sicherlich den +ganzen Morgen vor Sehnsucht nach Ihnen geweint +haben ...“ +</p> + +<p> +Tatjana Iwanowna erhob schüchtern den Kopf, sah, +ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, vorsichtig durch +die Finger zu ihm auf, und plötzlich warf sie sich aufschluchzend +an seinen Hals. +</p> + +<p> +„Ach, bringen Sie mich, bringen Sie mich schnell +von hier fort!“ flehte sie unter Tränen, „schnell, schnell, +so schnell wie möglich!“ +</p> + +<p> +„Hat das Durchbrennen schon satt!“ tuschelte mir +Bachtschejeff mit einem gleichzeitigen Rippenstoß zu. +</p> + +<p> +„Dann wäre also die Angelegenheit erledigt,“ sagte +mein Onkel trocken, sich an Obnoskin wendend; doch +vermied er es, ihn anzusehen. „Tatjana Iwanowna, +Ihren Arm, wenn ich bitten darf. Fahren wir!“ +</p> + +<p> +Im Nebenzimmer hinter der Tür hörte man Kleiderrascheln. +Die Tür kreischte ein wenig und der Spalt +wurde größer. +</p> + +<p> +„Einstweilen aber ... wenn man von einem anderen +Standpunkt aus urteilt ...“ bemerkte Obnoskin +mit unruhigem Blick nach der offenen Tür, „so müßten +Sie sich doch selbst sagen, Jegor Iljitsch ... Ihre +Handlungsweise in meinem Hause ... und schließlich +– ich begrüße Sie, und Sie erwidern nicht einmal +meinen Gruß, Jegor Iljitsch ...“ +</p> + +<p> +„Ihre Handlungsweise in <em>meinem</em> Hause, mein +Herr, war ehrlos,“ sagte mein Onkel und sah Obnoskin +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +mit strengem Blick offen an, „– und das hier ist nicht +Ihr Haus. Sie haben es soeben selbst gehört: Tatjana +Iwanowna will keinen Augenblick mehr hier verweilen. +Was wollen Sie denn noch? Kein Wort – hören Sie, +kein Wort mehr, ich bitte Sie darum! Ich würde gern +weitere Erklärungen vermeiden, und das – wäre wohl +auch vorteilhafter für Sie.“ +</p> + +<p> +Obnoskin verlor so sehr den Kopf, daß er den +größten Unsinn zusammenschwatzte. +</p> + +<p> +„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch,“ begann +er halblaut, vor Beschämung, wie es schien, den Tränen +nahe, wobei er sich fortwährend nach der Tür umsah – +wahrscheinlich in der Furcht, daß man ihn dort hören +könnte. „Ich habe ja eigentlich nichts getan, das war +doch nur Mama ... Ich habe es nicht in meinem +Interesse getan, Jegor Iljitsch ... ich habe es nur so +getan ... natürlich habe ich es zum Teil auch in +meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe +es mit einem edlen Ziel vor Augen getan, Jegor Iljitsch +... Ich hätte das Kapital nutzbringend angewandt ... +ich hätte den Armen geholfen. Ich wollte ferner zum +Fortschritt der gegenwärtigen Aufklärung etwas beitragen +... ich beabsichtigte sogar, ein Stipendium an +der Universität zu stiften ... Sehen Sie, in welcher +Weise und zu welchen Zwecken ich meinen Reichtum +angewandt hätte, Jegor Iljitsch ... und nicht, daß ich +sonst etwas, Jegor Iljitsch ...“ +</p> + +<p> +Wir alle schämten uns mit einem Male ganz entsetzlich. +Misintschikoff wurde rot und wandte sich ab, +mein Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte, +was er sagen sollte. +</p> + +<p> +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +„Schon gut, schon gut!“ sagte er endlich. „Beruhigen +Sie sich nur, Pawel Ssemjonytsch. Was soll +man hier viel sagen ... Es kann jedem passieren ... +Wenn Sie wollen, besuchen Sie uns ... ich aber freue +mich ... es freut mich, daß ...“ +</p> + +<p> +Doch nicht ganz so zartfühlend verfuhr Herr Bachtschejeff. +</p> + +<p> +„Stipendium stiften!“ schrie er plötzlich jähzornig. +„Der ist mir der Rechte zum Stiften! Du würdest gern +selbst einem jeden das Letzte abrupfen! ... Hat sich im +Leben noch kein Paar Hosen verdient, kräht aber schon +wie die anderen von Stipendienstiften! So ein Lumpenkerl! +Und hat jetzt noch ein zärtliches Herz besiegt! +Aber wo ist denn die Hauptperson, die verehrte Frau +Mutter? Oder hat sie sich versteckt? Ich will nicht +Bachtschejeff heißen, wenn sie nicht dort irgendwo sitzt, +sich hinter einem Bettschirm verborgen hält oder vor +Schreck sich unters Bett verkrochen hat ...“ +</p> + +<p> +„Stepan, Stepan!“ unterbrach ihn mein Onkel geärgert. +</p> + +<p> +Obnoskin wurde feuerrot und schien protestieren zu +wollen. Doch noch bevor er den Mund aufmachen +konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und Anfissa +Petrowna Obnoskina stürzte mit blitzenden Augen empört +und zornbebend ins Zimmer. +</p> + +<p> +„Was soll das bedeuten?“ kreischte sie laut. „Was +geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit einer +ganzen Kohorte in ein ehrenwertes Haus, erschrecken +Damen, treffen eigenmächtig Anordnungen! ... Das +ist doch unerhört! Ich bin zum Glück noch meiner Sinne +mächtig, Jegor Iljitsch! ... Du Tölpel!“ fuhr sie in +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +ihrem Redeschwall fort, sich auf ihren Sohn stürzend, +„du scheinst ja hier vor ihnen noch weinen zu wollen! +Deiner Mutter wird in ihrem Hause eine Beleidigung +zugefügt, und du stehst da und schweigst! Was bist du? +ein ehrenwerter junger Mann und Sohn? Ein Lappen +bist du, aber kein Mann!“ +</p> + +<p> +Vergessen waren alle Ziererei und die ganze lächerliche +Koketterie, die mir am Tage zuvor an ihr aufgefallen +waren – auch keine Spur war mehr davon +sichtbar: man sah nur noch eine Furie vor sich, eine +Furie, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte. +</p> + +<p> +Kaum hatte sie ihren ersten Redeschwall beendet, als +mein Onkel auch schon Tatjana Iwanowna seinen Arm +bot und sie zur Tür hinausgeleiten wollte. Anfissa Petrowna +jedoch versperrte ihm sogleich den Weg. +</p> + +<p> +„Sie werden so nicht fortgehen, Jegor Iljitsch!“ begann +sie von neuem ihr Geschrei. „Mit welchem Recht +wollen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam entführen? +Es macht Ihnen einen Strich durch die Rechnung, daß +der Goldfisch den erbärmlichen Netzen entschlüpft ist, +mit denen Sie sie in Gemeinschaft mit Ihrer Mutter und +dem Esel Foma Fomitsch einzufangen gedachten! Sie +würden sie gern selbst aus niedriger Geldgier heiraten. +Verzeihen Sie, aber hier ist man edler gesinnt! Da +Tatjana Iwanowna sah, was man dort gegen sie plante, +vertraute sie sich meinem Sohn Pawluscha an. Sie hat +ihn selbst gebeten, sie vor Ihnen zu retten und sie zu beschützen: +Sie war gezwungen, in der Nacht aus Stepantschikowo +zu fliehen – sehen Sie, so verhält sich die +Sache! So weit haben Sie sie gebracht! Nicht wahr, +so ist es doch, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +so verhält, wie können Sie es dann wagen, mit einer +solchen Bande, wie dieser, in ein angesehenes Haus +einzudringen und mit Gewalt ein ehrenwertes Mädchen +zu entführen, trotz der Tränen desselben? Das erlaube +ich nicht! Das erlaube ich nicht! Ich bin ein vernünftiger +Mensch, kein verrückter! ... Tatjana Iwanowna +wird hierbleiben; denn das ist ihr Wunsch und +ihr Wille! Gehen wir, Tatjana Iwanowna, es lohnt +sich nicht, diese Menschen anzuhören: das sind unsere +Feinde und nicht unsere Freunde! Ich werde sie schon +hinausbringen, die – ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken +aus, „ich will nicht, ich will nicht! Was ist er für ein +Mann? Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was ist +er denn für ein Mann?“ +</p> + +<p> +„Sie wollen nicht!“ schrie Anfissa Petrowna wutschnaubend, +„Sie wollen nicht? Erst sind Sie hergekommen +und jetzt wollen Sie nicht? Wie haben Sie +uns denn so betrügen können? Wie haben Sie ihm dann +Ihre Zusage geben können? Sie sind in der Nacht mit +ihm entflohen, haben sich ihm selbst an den Hals geworfen, +haben uns in Ausgaben gestürzt! Mein Sohn +hat Ihretwegen vielleicht eine gute Partie verloren, +die er hätte machen können ... Er hat vielleicht +zehntausend Rubel Mitgift verloren durch Sie! ... +Nein! Sie werden es bezahlen, Sie müssen es bezahlen! +Wir haben Beweise in der Hand ... Sie sind in der +Nacht mit ihm entflohen ...“ +</p> + +<p> +Doch wir hatten genug von ihrem Geschrei: wie auf +Kommando scharten wir uns alle dicht um meinen Onkel +und drängten zur Tür hinaus, rücksichtslos auf Anfissa +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +Petrowna zu, die uns den Weg versperren wollte, und +gelangten auch glücklich ins Freie. Unser Wagen +fuhr vor. +</p> + +<p> +„So etwas tun nur Schufte, nur Schurken!“ schrie +uns in rasender Wut Anfissa Petrowna von der Treppe +noch nach. +</p> + +<p> +„Ich werde die Rechnung schicken! Sie werden sie +bezahlen! Sie fahren in ein ehrloses Haus, Tatjana +Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten, +er hält sich ja vor Ihrer Nase seine Gouvernante als +Mätresse im Hause! ...“ +</p> + +<p> +Mein Onkel fuhr zusammen, erbebte, erbleichte, biß +sich auf die Lippe und half eifrig Tatjana Iwanowna +beim Einsteigen. Ich ging um den Wagen herum und +wartete, bis an mich die Reihe kam, einzusteigen, als +plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand +erfaßte. +</p> + +<p> +„Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Sie um +Ihre Freundschaft zu bitten!“ flüsterte er mir mit einem +ganz verzweifelten Ausdruck zu und drückte krampfhaft +meine Hand. +</p> + +<p> +„Wie das – Freundschaft?“ fragte ich verwundert +und setzte schnell den Fuß auf das Trittbrett. +</p> + +<p> +„Ja! Ich habe gestern in Ihnen einen überaus gebildeten +Menschen erkannt. Verurteilen Sie mich nicht +... Mich hat eigentlich nur meine Mutter verleitet, ich +aber bin in dieser Angelegenheit ganz <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à part</span>. Ich neige +mehr zur Literatur – versichere Sie! Dies hier aber +hat alles nur meine Mutter ...“ +</p> + +<p> +„Ich glaube es, glaube es,“ sagte ich, „leben Sie +wohl!“ +</p> + +<p> +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +Wir setzten uns und fuhren fort. Das Geschrei +und die Verwünschungen Anfissa Petrownas schallten +uns noch lange nach. Und nun tauchten auch in allen +Fenstern des Hauses unbekannte Gesichter auf, die uns +mit unbeschreiblicher Neugier nachstarrten. +</p> + +<p> +Wir saßen jetzt zu fünfen im Wagen. Misintschikoff +hatte sich neben den Kutscher gesetzt und seinen Platz +auf dem Rücksitz Herrn Bachtschejeff abgetreten, der nun +Tatjana Iwanowna gegenübersaß. Tatjana Iwanowna +war sehr zufrieden damit, daß wir sie wieder zurückbrachten, +weinte aber immer noch. Mein Onkel tröstete +sie, so gut er es konnte. Er selbst war dabei niedergedrückt +und nachdenklich: man sah es ihm an, daß die +schändlichen Worte über Nastenjka, die Anfissa Petrowna +in ihrer Wut uns nachgeschrien hatte, schmerzlich +in seinem Herzen widerhallten. Übrigens – unsere +Rückfahrt wäre ohne jeden Zwischenfall sehr glücklich +verlaufen, wenn Herr Bachtschejeff nicht mit uns gewesen +wäre. +</p> + +<p> +Kaum hatte er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz +genommen, als er plötzlich ein ganz anderer wurde: er +konnte nicht mehr gleichmütig dreinblicken und noch +weniger ruhig auf seinem Platz sitzen, er drehte sich +vielmehr hin und her, wurde rot wie ein gekochter Krebs +und rollte beängstigend die Augen. Namentlich als +mein Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten suchte, schien +der Dicke förmlich aus der Haut fahren zu wollen und +brummte und knurrte wie eine aufs äußerste gereizte +Bulldogge, die man zum Überfluß noch neckt. Mein +Onkel blickte ihn mehrmals etwas ängstlich an und schien +einige Befürchtungen zu hegen. Schließlich fiel auch +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +Tatjana Iwanowna die eigentümliche Gemütsstimmung +ihres Gegenübers auf, und sie begann ihn aufmerksam +zu betrachten. Dann blickte sie uns an, lächelte, und +plötzlich nahm sie ihren kleinen Sonnenschirm und schlug +mit einer graziösen Bewegung Herrn Bachtschejeff leicht +auf die Schulter. +</p> + +<p> +„Sie Tor!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie +und verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Fächer. +</p> + +<p> +Das war der Tropfen, der den Becher überlaufen +machte. +</p> + +<p> +„Wa–a–as!“ brüllte der Dicke, „wa–as sagten +Sie, Madame? Also jetzt hast du’s schon auf mich abgesehen!“ +</p> + +<p> +„Sie Tor! Sie Tor!“ rief Tatjana Iwanowna +und brach in heiteres Lachen aus, wozu sie in die Hände +klatschte. +</p> + +<p> +„Halt an!“ schrie Bachtschejeff dem Kutscher zu, +„halt an!“ +</p> + +<p> +Die Pferde blieben stehen. Bachtschejeff öffnete +den Wagenschlag und machte sich eilig daran, auszusteigen. +</p> + +<p> +„Was fällt dir ein, Stepan? Wohin willst du?“ +fragte mein Onkel verwundert und erschrocken. +</p> + +<p> +„Nein, das ist mir zu stark!“ antwortete der Dicke +zitternd vor Unwillen, „mag die ganze Welt verderben! +Ich bin zu alt, Madame, um mich noch auf Amouren +einlassen zu können. Ich, meine Beste, ich sterbe lieber +allein! Adieu, Madame, kommang wu porteh-wu!“ +</p> + +<p> +Und er begann in der Tat zu Fuß zu marschieren. +Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her. +</p> + +<p> +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +„Stepan!“ rief ihm mein Onkel ärgerlich zu, da er +endlich die Geduld verlor. „Mach doch keine Dummheiten, +steig ein! Es ist doch die höchste Zeit, nach Haus +zu kommen!“ +</p> + +<p> +„Fällt mir ein!“ rief Herr Bachtschejeff zwar empört, +aber es klang doch schon etwas atemlos vom +Gehen; denn infolge seiner Dicke hatte er das Gehen +fast ganz verlernt. +</p> + +<p> +„Fahr zu, so schnell die Pferde können!“ befahl +plötzlich Misintschikoff ganz unerwartet dem Kutscher. +</p> + +<p> +„Was tust du, was tust du?“ rief zwar mein Onkel +gerade noch erschrocken aus, aber der Wagen flog schon +dahin. Misintschikoff hatte sich nicht getäuscht: die gewünschten +Folgen ließen nicht lange auf sich warten. +</p> + +<p> +„Halt an! Halt an!“ ertönte alsbald hinter uns +ein verzweifeltes Gegröl, „halt an, du Räuber! Halt +an, du Seelenverführer, der du bist! ...“ +</p> + +<p> +Der Dicke kam schließlich müde und halberstickt, mit +Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundener Krawatte +und in Hemdsärmeln wieder bei uns an. Stumm +und finster kletterte er mühsam in den Wagen, doch +diesmal mußte ich ihm meinen Platz abtreten. So +brauchte er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüberzusitzen, +die unaufhörlich lachte, vor Vergnügen +in die Hände schlug und während der ganzen Fahrt +nicht mehr gleichmütig den Dicken ansehen konnte. Er +aber sprach bis zur Ankunft kein einziges Wort und +schien sich die ganze Zeit grundsätzlich nur noch dafür +zu interessieren, wie sich das eine Hinterrad das Wagens +drehte. +</p> + +<p> +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +Die Sonne stand im Zenith, als wir in Stepantschikowo +ankamen. Ich begab mich sogleich in das +Sommerhaus, wohin mir der alte Gawrila mit dem +Tee folgte. Als ich mich, kaum dort angelangt, zu ihm +wandte, um ihn einiges zu fragen, trat mein Onkel ein +und schickte ihn fort. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-17"> +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +<span class="firstline">XIV.</span><br> +Neuigkeiten. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Freund, ich bin nur auf einen Augenblick +zu dir gekommen,“ sagte er eilig. „Ich wollte dir nur +mitteilen ... Ich habe mich nach allem erkundigt. Es +ist niemand von ihnen zum Gottesdienst gefahren, +außer Iljuschka, Ssaschenjka und Nastenjka. Meine +Mutter soll in Krämpfen gelegen haben. Man hat sie +nur mit Mühe wieder zu sich gebracht. Jetzt hat man +beschlossen, daß alle sich bei Foma versammeln sollen, +und auch mich hat man hingebeten. Nur weiß ich nicht, +ob ich Foma zum Geburtstag gratulieren soll oder nicht +– das ist die Frage! Und dann – wie werden sie +überhaupt diesen ganzen Zwischenfall auffassen? Entsetzlich, +Ssergei, wenn ich daran denke, was ich jetzt +alles kommen sehe ...“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil, Onkel,“ beeilte ich mich, ihn zu +beruhigen, „es wird jetzt alles vorzüglich werden. Jetzt +können Sie doch unmöglich Tatjana Iwanowna heiraten +– bedenken Sie doch nur, was das allein +wert ist! Ich wollte Ihnen das schon unterwegs +sagen ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, ich weiß, Freund. Aber das ist es ja +nicht! Das ist natürlich ein Fingerzeig Gottes, wie du +sagst, aber nicht davon wollte ich sprechen ... Die arme +Tatjana Iwanowna! Was sie für Anfälle hat! ... +Ein Schuft, ein Schuft ist dieser Obnoskin! Doch – +was sage ich ‚Schuft‘! Hätte ich nicht dasselbe getan, +wenn ich sie geheiratet hätte? ... Aber ich wollte doch +nicht davon reden ... Hast du gehört, was vorhin diese +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +schändliche Anfissa von Nastjä uns nachrief?“ fragte +er leise. +</p> + +<p> +„Ich habe es gehört, Onkel. Sehen Sie jetzt ein, +daß Sie sich beeilen müssen?“ +</p> + +<p> +„Unbedingt! Und was es auch koste, um jeden +Preis!“ antwortete mein Onkel. „Der Augenblick ist +gekommen. Nur haben wir beide, Freund, gestern an +eines nicht gedacht; später aber habe ich mir die ganze +Nacht den Kopf darüber zerbrochen: wird sie mich denn +auch nehmen – sieh, das ist die Frage!“ +</p> + +<p> +„Aber hören Sie ...! Wenn sie Ihnen doch selbst +gesagt hat, daß sie Sie liebt ...“ +</p> + +<p> +„Aber, mein Freund, sie hat doch gleich darauf hinzugefügt, +daß sie mich niemals heiraten werde!“ +</p> + +<p> +„Ach, Onkel! Das wird doch nur so gesagt worden +sein, und zudem liegen ja auch die Verhältnisse heute +ganz anders.“ +</p> + +<p> +„Glaubst du? Nein, Freund Ssergei, das ist eine +delikate Sache, hier muß man unendlich zartfühlend +sein! Hm! ... Aber weißt du, ich war ja wohl traurig +darüber, aber im Herzen verspürte ich doch die ganze +Nacht so etwas wie – ein großes Glück ... Nun, +leb wohl, ich eile. Sie erwarten mich, ich komme sowieso +zu spät. Ich wollte überhaupt nur einen Augenblick +bei dir vorsprechen, bloß um zwei Worte mit dir +zu wechseln. Ach, mein Gott!“ rief er plötzlich aus und +kehrte von der Tür zurück, „und die Hauptsache habe +ich doch noch vergessen! Weißt du: ich habe ihm ja +doch geschrieben, dem Foma!“ +</p> + +<p> +„Wann?“ +</p> + +<p> +„In der Nacht. Am Morgen aber, als es kaum +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +dämmerte, schickte ich ihm den Brief durch Widopljässoff +zu. Ich habe, weißt du, ihm alles klargelegt, zwei ganze +Briefbogen lang, habe ihm alles wahrheitsgetreu und +aufrichtig geschrieben – kurz, daß es, wie gesagt, meine +Pflicht ist, das heißt, unbedingt meine Pflicht – du +verstehst doch? – um Nastenjkas Hand in aller Form +anzuhalten. Ich habe ihn gebeten, von unserer Begegnung +im Garten nichts verlauten zu lassen, und ich +habe mich an den ganzen Edelmut seiner Seele gewandt, +mit der Bitte, mir bei meiner Mutter zu helfen. +Ich habe mich natürlich – ich weiß es, mein Freund +– schlecht ausgedrückt, aber ich habe jedes Wort von +ganzem Herzen geschrieben, mit Tränen geschrieben, +kann ich wohl sagen ...“ +</p> + +<p> +„Und? Er hat nichts geantwortet?“ +</p> + +<p> +„Vorläufig noch nicht. Nur am Morgen, als wir +zur Fahrt aufbrachen, begegnete ich ihm im Flur – +er war noch im Nachtkostüm, in Pantoffeln und Zipfelmütze +– er schläft immer mit einer Zipfelmütze – +er ging gerade irgendwohin. Er sagte kein Wort, +sah mich nicht einmal an. Ich sah ihm, weißt du, ins +Gesicht, aber das verriet nichts!“ +</p> + +<p> +„Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn: er wird Ihnen +noch was Schönes einbrocken!“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, Freund, sprich nicht so!“ unterbrach +mich mein Onkel eilig, „ich bin überzeugt! Und dann +– es ist dies ja auch meine letzte Hoffnung. Er wird +einsehen, er wird es verstehen ... Er ist launisch, eigensinnig +– ich gebe es zu. Wenn es sich aber um etwas +Großes handelt, um, sozusagen, um höheren Edelmut, +dann steht Foma in seinem vollen Glanze da – ja, in +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +seinem vollen Glanze ... Das sagst du nur deshalb, +Ssergei, weil du ihn noch nicht in einem solchen Augenblick +gesehen hast ... Aber, Herrgott! Wenn er ... +wenn er wirklich das Geheimnis nicht als solches wahrt, +so ... ich weiß nicht, Ssergei, was dann geschehen +wird! An was in der Welt kann man dann noch +glauben? Doch nein, er kann nicht so schlecht sein. +Ich bin ja nicht einmal seinen kleinen Finger wert! +Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln, Freund: es +ist wahr – ich bin ihn nicht wert.“ +</p> + +<p> +„Jegor Iljitsch! Ihre Exzellenz beunruhigen sich +um Sie!“ ertönte da plötzlich die Stimme der Perepelizyna +unter dem offenen Fenster. Wahrscheinlich +hatte die alte Jungfer unser ganzes Gespräch belauscht. +„Sie werden im ganzen Hause gesucht, und niemand +kann Sie finden.“ +</p> + +<p> +„Herrgott, ich habe mich verspätet!“ rief mein +Onkel entsetzt aus. „Freund, um Christi willen, zieh +dich schnell an und komm hin! Ich bin ja eigentlich +auch nur deshalb hergekommen, um dich abzuholen ... +Ich komme, Anna Nilowna, ich komme ...“ +</p> + +<p> +Ich blieb allein zurück. Ich dachte an meine Begegnung +mit Nastenjka und war froh darüber, daß ich +meinem Onkel nichts davon gesagt hatte: ich hätte ihn +nur noch unentschlossener gemacht. Ich sah voraus, +daß ein großer Sturm bevorstand, und konnte eigentlich +nicht begreifen, wie mein Onkel die Sache zu Ende +bringen und um Nastenjkas Hand anhalten würde. Ich +wiederhole und gestehe es: trotz meines ganzen Glaubens +an seine Ritterlichkeit, zweifelte ich doch unwillkürlich +am Erfolge. +</p> + +<p> +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +Einstweilen hieß es jedoch: sich schnellstens ankleiden! +Ich hielt es für meine Pflicht, ihm zu helfen, +und beeilte mich mit dem Umziehen. Aber wie sehr +ich mich auch beeilte, es dauerte doch länger – wie es +gewöhnlich geschieht, wenn man sich etwas sorgfältiger +ankleiden und dabei beeilen will. Und während ich +mich noch ankleidete, trat Misintschikoff ein. +</p> + +<p> +„Ich bin gekommen, um Sie abzuholen,“ sagte er. +„Jegor Iljitsch läßt Sie bitten, schnell zu kommen.“ +</p> + +<p> +„Gehen wir!“ +</p> + +<p> +Ich war jetzt fertig. Wir gingen. +</p> + +<p> +„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn unterwegs. +</p> + +<p> +„Alle sind bei Foma versammelt,“ antwortete +Misintschikoff, „Foma ist diesmal nicht launenhaft, +scheint nachdenklich zu sein und spricht wenig, knurrt +nur durch die Zähne. Er hat sogar Iljuscha geküßt, +was Jegor Iljitsch selbstredend in wahre Begeisterung +versetzte. Er hat kurz vorher durch die Perepelizyna +der Generalin sagen lassen, daß man ihn nicht zum +Namensfest beglückwünschen solle, er habe ‚nur prüfen +wollen‘ ... Die Alte riecht zwar den Braten, hat sich +aber beruhigt; denn auch Foma ist ruhig. Von der +Flucht wird mit keiner Silbe gesprochen – als wäre +überhaupt nichts vorgefallen. Man schweigt; denn auch +Foma geruht zu schweigen. Er hat den ganzen Morgen +keinen Menschen zu sich gelassen, die Alte aber hat ihn +bei allen Heiligen angefleht, zu einer Beratung zu ihr +zu kommen. Sie hat sogar selbst und eigenhändig an +seiner Tür gerüttelt. Er aber hatte sich eingeschlossen +und soll gesagt haben, er bete ‚für die Menschheit‘ – +oder Ähnliches. Er scheint irgend etwas im Schilde +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +zu führen: das sieht man seinem Gesicht sofort an. Da +aber Jegor Iljitsch nicht fähig ist, aus einem Gesicht +etwas zu erraten, so ist er jetzt durch Fomas Frömmigkeit, +wie gesagt, völlig bezaubert: ein richtiges Kind! +Iljuscha hat ein Gedicht gelernt, das er jetzt vortragen +soll. Deshalb hat man mich auch nach Ihnen +geschickt.“ +</p> + +<p> +„Und Tatjana Iwanowna?“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Wo ist sie? Dort bei den anderen?“ +</p> + +<p> +„Nein, sie ist in ihrem Zimmer,“ antwortete Misintschikoff +trocken. „Sie erholt sich und weint. Vielleicht +schämt sie sich auch. Bei ihr befindet sich, glaube +ich, diese ... Erzieherin. Aber was ist denn das? +Ein Gewitter zieht auf, wie es scheint. Sehen Sie +doch, dort – den Himmel!“ +</p> + +<p> +„Ja, wahrscheinlich ein Gewitter,“ sagte ich nach +einem Blick auf die dunklen Wolken am Horizont. +</p> + +<p> +In dem Augenblick stiegen wir zur Terrasse hinauf. +</p> + +<p> +„Doch – Obnoskin? – was sagen Sie zu dem?“ +fragte ich, da ich es nicht verbeißen konnte, Misintschikoff +ein bißchen auf den Zahn zu fühlen. +</p> + +<p> +„Sprechen Sie nicht von ihm! Erinnern Sie mich +überhaupt nicht an diesen Schurken!“ rief er aus und +blieb plötzlich stehen. Er wurde rot und stampfte mit +dem Fuß auf. „Dieser Esel! Dieser Esel! einen so +sicheren Plan, einen so glänzenden Gedanken zu verpfuschen! +Hören Sie, ich bin natürlich auch ein Esel, +da ich seine Schliche nicht bemerkt und nicht erraten +habe – das gestehe ich vollkommen ehrlich und feierlich +selbst ein, und vielleicht wünschten Sie nur diese +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +Selbstbeschuldigung zu hören. Aber ich schwöre Ihnen: +Hätte der Kerl die Sache nach allen Regeln der Kunst +durchgeführt, so würde ich ihm vielleicht noch verzeihen. +Der Esel, o, der Esel! Wie kann man nur solche Leute +in der Gesellschaft überhaupt dulden? Weshalb verschickt +man sie nicht nach Sibirien, in die Zwangsarbeit, +als Kolonisten! Aber was da! Die sollen mich +nicht überlisten! Jetzt habe ich wenigstens Erfahrungen +gesammelt, ich habe ein Beispiel vor Augen – und +wir werden uns noch einmal messen! Ich überlege jetzt +– einen neuen Plan ... Sie werden mir zugeben: +soll man denn die Früchte seiner Ideen wirklich nur +deshalb verlieren, weil irgendein Esel die Idee gestohlen, +doch die Sache nicht richtig auszuführen verstanden +hat? Das wäre doch töricht! Und schließlich +– diese Tatjana muß unbedingt heiraten: das ist nun +einmal ihre Bestimmung. Und wenn bis jetzt noch +niemand sie in eine Irrenanstalt gesteckt hat, so ist das +doch nur deshalb nicht geschehen, weil man sie immer +noch heiraten konnte. Ich werde Ihnen meinen neuen +Plan auseinandersetzen ...“ +</p> + +<p> +„Aber doch wohl später,“ unterbrach ich ihn, „denn +jetzt sind wir ja angelangt.“ +</p> + +<p> +„Gut, gut, später!“ sagte Misintschikoff – sein +Mund verzog sich zu einem kurzen Lächeln. „Jetzt aber +... Wohin gehen Sie denn? Ich sagte Ihnen doch: +direkt zu Foma Fomitsch! Folgen Sie mir. Sie sind +noch nie dort gewesen. Jetzt werden Sie eine neue +Komödie erleben ... Da nun einmal die Komödien +hier Mode sind ...“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-18"> +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +<span class="firstline">XV.</span><br> +Iljuschas Namenstag. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">F</span><span class="postfirstchar">oma</span> bewohnte zwei große, prachtvolle Räume: sie +waren besser möbliert als alle anderen in Stepantschikowo. +Der größte Komfort umgab den großen Mann. +Neue, teure Tapeten an den Wänden, seidene, gemusterte +Vorhänge an den Fenstern, Teppiche, Trumeaus, +ein Kamin und weiche, elegante Polstersessel +– alles sprach von der zarten, liebevollen Aufmerksamkeit +des gastfreundlichen Hausherrn, der es Foma +Fomitsch nicht gut genug machen konnte. Vor den +Fenstern standen auf runden Marmortischen schöne +Blumen. Mitten im „Arbeitskabinett“ stand ein großer +Tisch, der mit einer schweren roten Tuchdecke bedeckt +war, und auf dem viele Bücher und Manuskriptbogen +lagen; ferner stand auf ihm ein kostbares, in Bronze +gearbeitetes Tintenfaß – daneben ein ganzer Stoß +von Gänsefedern, für die Widopljässoff zu sorgen hatte. +Alles das sollte ersichtlich von der schweren geistigen +Arbeit Foma Fomitschs zeugen. Nebenbei bemerkt: +Foma, der runde acht Jahre hier lebte, hat eigentlich +überhaupt nichts verfaßt. Späterhin, als er das Zeitliche +gesegnet hatte, durchsuchten wir seine hinterlassenen +Manuskripte, die, wie es sich dann zeigte, in nichts als +bekritzeltem Papier bestanden. Das von ihm Geschriebne +war barer Unsinn, einfach Blödsinn. So +fanden wir zum Beispiel den Anfang eines historischen +Romans, der in Nowgorod spielte, und zwar im +siebenten Jahrhundert! – als Nowgorod überhaupt +noch nicht vorhanden war. Dann noch ein ungeheuerliches +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +Gedicht: „Anachoret auf dem Friedhof“, das er +in reimlosen Versen geschrieben hatte; ferner eine sinnlose +Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften +des russischen Bauern, sowie darüber, wie man +mit ihm umgehen müsse; und schließlich noch eine Novelle: +„Gräfin Wlonskaja“, aus der eleganten Welt, +gleichfalls sinnlos und unbeendet. Das war alles, was +wir fanden. Indes hatte Foma Fomitsch meinen Onkel +jährlich große Summen für Bücher und Zeitschriften +zahlen lassen. Die meisten von ihnen blieben jedoch +unaufgeschnitten liegen. Dagegen habe ich Foma +später nicht selten bei der Lektüre eines Romans von +Paul de Kock überrascht, den er vor anderen Sterblichen +natürlich möglichst verbarg. +</p> + +<p> +An der einen Seite des Zimmers war eine Glastür, +durch die man über ein paar Stufen auf den Hof +gelangte. +</p> + +<p> +Wir wurden erwartet. Foma Fomitsch saß in +seinem Philosophenstuhl und trug einen eigentümlich +langen Rock, der fast bis zu den Fersen herabreichte, +doch hatte er sich keine Krawatte umgebunden. Er war +auffallend wortkarg und nachdenklich. Als wir eintraten, +hob er nur ein wenig die Brauen in die Höhe +und richtete einen prüfenden Blick auf mich. Ich machte +ihm meine Verbeugung, und er dankte mir mit einem +nur leichten Kopfnicken, das aber doch ziemlich höflich +ausfiel. Als die Generalin sah, daß Foma Fomitsch +mir gnädig gesinnt war, nickte auch sie mir lächelnd +zu. Die Arme! – sie hatte am Morgen alles eher erwartet, +als daß ihr Liebling die Nachricht von dem +„Zwischenfall“ ruhig aufnehmen werde! Daher war +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +sie jetzt sehr gut aufgelegt, – ungeachtet dessen, daß +sie noch vor wenigen Stunden in Krämpfen und Ohnmachtsanfällen +gelegen hatte. Hinter ihrem Stuhl +stand wie gewöhnlich Fräulein Perepelizyna, die ihre +Lippen zu einem schmalen Streifen zusammenpreßte, +bitter und boshaft lächelte und ihre mageren Hände, +an denen alle Gelenke hervorstanden, unaufhörlich rieb. +Neben der Generalin hatten sich ihre zwei Freundinnen +niedergelassen, zwei alte adlige Damen, die beständig +bei ihr lebten und fast nie ein Wort sprachen. Dann +saßen dort noch eine am Morgen angekommene Nonne +und eine Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft, die zum +Morgengottesdienst ins Kloster gefahren und auf dem +Rückwege in Stepantschikowo ausgestiegen war, um +die alte Generalin zum Fest zu beglückwünschen. Meine +Tante Praskowja Iljinitschna zog sich ängstlich in einen +Winkel zurück und blickte unruhig bald auf Foma Fomitsch, +bald auf ihre Mutter, die Generalin. Mein +Onkel saß in einem Lehnstuhl, und ungetrübte Freude +leuchtete aus seinen Augen. Vor ihm stand Iljuscha, +festlich angezogen – in einem rotgestickten russischen +Kittelchen – und war mit seinem Lockenkopf reizend +wie ein kleiner Engel anzusehen. Ssaschenjka und +Nastenjka hatten ihm heimlich ein Gedicht beigebracht, +damit er den Vater an diesem Tage durch seine Fortschritte +erfreue. Mein Onkel war vor lauter Freude +fast den Tränen nahe: die unerwartete Sanftmut Fomas, +die freundliche Stimmung seiner Mutter, dazu +Iljuschas Namenstag, und dazu das Gedicht – kurz, +alles zusammen wirkte geradezu begeisternd auf ihn, +und er hatte feierlich Misintschikoff gebeten, mich zu +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +rufen, damit auch ich schneller des allgemeinen Glücks +teilhaftig würde und das Gedicht mit anhören könne. +</p> + +<p> +Ssaschenjka und Nastenjka, die kurz vor uns eingetreten +waren, standen nicht weit von Iljuscha. Ssaschenjka +brach immer wieder in helles Lachen aus und +war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. +Nastenjka mußte beim Anblick meines fröhlichen Kusinchens +gleichfalls lächeln, doch eingetreten war sie +bleich und ernst. Sie allein hatte Tatjana Iwanowna +empfangen und getröstet und war die ganze Zeit bei +ihr gewesen. Der kleine Schlingel Iljuscha konnte +auch nicht ernst bleiben, wenn er seine Lehrerinnen ansah. +Wie es schien, hatten die drei einen Scherz vorbereitet, +der sehr zum Lachen anregte ... +</p> + +<p> +Herrn Bachtschejeff habe ich noch vergessen. Er +saß etwas abseits auf einem kleinen Stuhl, war +immer noch wütend und rot, schwieg, maulte, schnaubte +sich und spielte überhaupt eine recht finstere Rolle auf +dem Familienfest. Neben ihm scharwenzelte Jeshowikin +umher, übrigens nicht nur bei ihm allein, sondern so +ziemlich überall: bald küßte er der Generalin die Hand, +bald der fremden Gutsbesitzerin, bald flüsterte er +Fräulein Perepelizyna etwas ins Ohr, oder er machte +Foma Fomitsch den Hof. Er erwartete gleichfalls mit +großem Mitgefühl Iljuschas Vortrag. Bei meinem +Eintritt erschien er mit seinen üblichen Bücklingen sofort +an meiner Seite, um mir seine große Hochachtung +und Ergebenheit zu bezeugen. Es war ihm durchaus +nicht anzusehen, daß er hergekommen war, um seine +Tochter zu verteidigen und sie wieder zu sich nach Haus +zu bringen. +</p> + +<p> +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +„Da ist er!“ rief mein Onkel freudig aus, als er +mich erblickte. „Freund, Iljuscha hat ein Gedicht auswendig +gelernt – auswendig – das ist doch eine +Überraschung – nicht? Ich fiel aus den Wolken! Ich +ließ dich rufen, damit du es mit anhören kannst ... +Also setz dich her! Hören wir zu! Aber, Foma, gesteh +es nur, du hast sie sicherlich auf die Idee gebracht, um +mir eine Freude zu bereiten? Ich wette meinen Kopf +darauf!“ +</p> + +<p> +Wenn mein Onkel in Fomas Gemach in diesem +Ton und mit einer solchen Stimme zu sprechen wagte, +so hätte man glauben dürfen, daß alles sich in der +größten Ordnung befände. Aber das war ja das Unglück, +daß mein Onkel nichts aus einem Gesicht zu erraten +verstand, wie Misintschikoff sich ausgedrückt hatte. +Als ich jetzt Fomas Miene sah, mußte ich zugeben, daß +allerdings etwas Besonderes bevorstand ... +</p> + +<p> +„Beunruhigen Sie sich nicht um mich,“ antwortete +Foma mit schwacher Stimme – mit der Stimme eines +Menschen, der seinen Feinden vergibt. „Die Überraschung +lobe ich natürlich: sie spricht von der Anhänglichkeit +und Wohlerzogenheit Ihrer Kinder. Gedichte +sind gleichfalls nützlich, schon wegen der Aussprache, +die sie bilden ... Doch ich war an diesem +Morgen nicht mit Gedichten beschäftigt, Jegor Iljitsch: +ich habe gebetet ... Sie wissen es ... Aber ich bin +schließlich bereit, auch Gedichte anzuhören.“ +</p> + +<p> +Inzwischen hatte ich Iljuscha gratuliert und auf +beide Bäckchen geküßt. +</p> + +<p> +„Ich weiß, Foma, verzeih! Ich hatte es vergessen +... wenn ich auch von deiner Freundschaft überzeugt +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +bin, Foma!“ fügte er unvermittelt hinzu. „Küß ihn +noch einmal, Ssergei! Sieh mal, was für ein Bengel! +Nun, fang an, Iljuscha! Wovon handelt es denn? +Wohl eine feierliche Ode ... von Lomonossoff gar? +Hm?“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel nahm eine wichtige Miene an. Er +konnte dabei kaum ruhig bleiben vor Freude und Ungeduld. +</p> + +<p> +„Nein, Papachen, nicht von Lomonossoff,“ mischte +sich Ssaschenjka ein, die nur mit Mühe ihr Lachen +unterdrückte, „da Sie Soldat waren und sogar im +Kriege gewesen sind, so hat Iljuscha etwas Kriegerisches +gelernt ... ‚Die Belagerung von Pamba‘ heißt es, +Papachen.“ +</p> + +<p> +„‚Die Belagerung von Pamba‘? ah! Entsinne mich +bloß nicht ... Was ist das für ein Pamba, weißt du +es nicht, Ssergei? ... Sicherlich etwas Historisches.“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel setzte von neuem eine wichtige +Miene auf. +</p> + +<p> +„Fang an, Iljuscha!“ kommandierte Ssaschenjka. +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Seit neun Jahren liegt Don Pedro“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +begann Iljuscha mit seinem kleinen, hellen, gleichmäßigen +Stimmchen, ohne Kommata und Punkte zu +beachten, wie kleine Kinder gewöhnlich auswendig gelernte +Gedichte aufsagen – +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Vor der stolzen Festung Pamba;</p> + <p class="verse">Seit neun Jahren hat er selber,</p> + <p class="verse">Ganz wie alle seine Krieger,</p> + <p class="verse">Nie was anderes genossen</p> + <p class="verse">Als nur reine Kuhmilch.</p> +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> + <p class="verse">Denn es haben die neuntausend</p> + <p class="verse">Kämpfenden Kastilier</p> + <p class="verse">Hoch und heilig sich geschworen:</p> + <p class="verse">Bis zur Einnahme der Festung</p> + <p class="verse">Nichts als Kuhmilch zu genießen.“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +„Wie! Was? Was ist das für eine Milch!“ unterbrach +ihn mein Onkel und sah mich verwundert an. +</p> + +<p> +„Weiter, Iljuscha!“ kommandierte wieder Ssaschenjka. +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Täglich trauert Pedro Gomez,</p> + <p class="verse">Denn es schwinden seine Kräfte,</p> + <p class="verse">Und das zehnte Jahr bricht an.</p> + <p class="verse">Doch die Mauren triumphieren:</p> + <p class="verse">Denn vom stolzen Heer Don Pedros</p> + <p class="verse">Sind im ganzen ihm geblieben</p> + <p class="verse">Nicht mehr als nur neunzehn Mann.“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +„Aber das ist ja Unsinn!“ unterbrach hier mein +Onkel wieder. „Das ist ja doch unmöglich! Neunzehn +Mann bleiben von einem Heer übrig, das zu Anfang +der Belagerung so groß und mächtig gewesen +ist! Was soll denn das heißen?“ +</p> + +<p> +Hier aber konnte Ssaschenjka ihr Lachen nicht mehr +zurückhalten: sie lachte schallend auf, wie nur Kinder +lachen können. Und wenn auch gerade kein besonderer +Grund zum Lachen vorhanden war, so war es doch unmöglich, +bei ihrem Anblick ernst zu bleiben. +</p> + +<p> +„Ach, Papachen, das ist doch nur ein Scherzgedicht!“ +rief sie aus, königlich erfreut über ihren Einfall. „Das +ist doch mit Absicht so gemacht, vom Verfasser, damit +es um so spaßiger ist, Papachen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +„Ah so! Ein Scherzgedicht also!“ Meines Onkels +Gesicht hellte sich auf. „Das heißt, ein satirisches! ... +Deshalb, ich höre ... Eben, eben, ein Scherzgedicht, +wie du sagst! Und es ist ja auch zum Lachen: Mit +Milch will er ein ganzes Heer ernähren! – nach irgend +so einem Gelübde! Als ob das zu geloben gerade nötig +gewesen wäre! Sehr geistreich – nicht wahr, Foma? +Sehen Sie, Mama, das ist so ein Scherzgedicht, wie +es die Dichter zuweilen schreiben – nicht wahr, Ssergei, +Sie schreiben doch mitunter auch so etwas? Vorzüglich! +Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?“ +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Nicht mehr als nur neunzehn Mann!</p> + <p class="verse">Sie nun rief Don Pedro zu sich.</p> + <p class="verse">Und er sprach hierauf wie folgt:</p> + <p class="verse">‚Freunde!‘ sagt er, ‚laßt uns heute</p> + <p class="verse">Unsre Fahnen hoch erheben,</p> + <p class="verse">In die Felddrommete stoßen</p> + <p class="verse">Und von Pamba uns zurückzieh’n.</p> + <p class="verse">Wenn wir diese stolze Festung</p> + <p class="verse">Auch nicht eingenommen haben –</p> + <p class="verse">Können wir doch allenthalben</p> + <p class="verse">Dreist auf Ehre und Gewissen</p> + <p class="verse">Jedem schwören, daß wir niemals</p> + <p class="verse">Das Gelübde übertreten,</p> + <p class="verse">Wie wir’s einst geschworen haben:</p> + <p class="verse">Nichts zu trinken als nur Milch!‘“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +„Dieser Dummkopf! Womit er sich tröstet!“ unterbrach +ihn wieder mein Onkel. „Daß er neun Jahre +nichts als Milch genossen hat! ... Was ist denn das +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +für eine besondere Tugend? Hätt’ er doch lieber täglich +einen ganzen Ochsen gegessen und seine Leute nicht umkommen +lassen! Aber das Gedicht – vorzüglich, ganz +vorzüglich ist das Gedicht! Ich sehe jetzt: das ist so +eine Satire oder ... wie nennt man das doch – eine +Allegorie, nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen +ausländischen General gemünzt – Wie?“ fragte +mein Onkel plötzlich, erhob bedeutsam die Brauen und +blinzelte mir zu – „was? Was meinst du dazu? +Aber nur, versteht sich, eine ganz unschuldige Satire, +ohne Spitze, so daß sie keinen verletzen kann. Vorzüglich, +ganz vorzüglich! Und – die Hauptsache – +belehrend! Nun, Iljuscha, fahre fort! Ach ihr unartigen +Mädel!“ fügte er hinzu, mit dem Finger +drohend, und sah dabei lächelnd Ssaschenjka an, während +er Nastenjka nur verstohlen mit einem flüchtigen +Blick zu streifen wagte – was jedoch genügte, sie erröten +zu machen. Sie lächelte gleichfalls. +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Neue Kraft gab diese Rede</p> + <p class="verse">Seinen neunzehn tapfren Kriegern,</p> + <p class="verse">Die, in ihren Sätteln wankend,</p> + <p class="verse">Mit erschöpfter Stimme riefen:</p> + <p class="verse">‚Sancto Jago Compostello!</p> + <p class="verse">Ehr’ und Ruhm Don Pedro Gomez,</p> + <p class="verse">Unsrem Löwen von Kastilien!‘</p> + <p class="verse">Sein Kaplan jedoch, Diego,</p> + <p class="verse">Brummte unwirsch vor sich hin:</p> + <p class="verse">‚Wäre ich der Feldherr hier,</p> + <p class="verse">Hätt’ ich nur noch Fleisch zu essen</p> + <p class="verse">Und nur edlen Wein zu trinken</p> + <p class="verse">Als Gelübde abgelegt!‘“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +„Da hört ihr’s! Sagt’ ich nicht dasselbe?“ rief +mein Onkel höchst erfreut dazwischen. „In dem ganzen +Heer gibt es nur einen einzigen vernünftigen Menschen, +und sogar der ist noch weiß Gott was für ein – +Kaplan! Was ist das eigentlich, ein Kaplan, Ssergei? +Ein Hauptmann?“ +</p> + +<p> +„Ein Mönch, Onkel, ein Geistlicher.“ +</p> + +<p> +„Ach, ja ja, richtig! Kaplan, Kapellan? Ich weiß +schon, jetzt entsinne ich mich! Habe es schon in einem +Roman gelesen, im Radcliff war’s, glaube ich. Dort +im Auslande gibt es doch verschiedene Orden ... +wart mal – Benediktiner heißen auch welche ... +Nicht wahr, es gibt noch immer solch einen Orden?“ +</p> + +<p> +„Ja, Onkel.“ +</p> + +<p> +„Hm! ... Das meinte ich eben auch. Nun, Iljuscha, +wie geht es weiter? Vorzüglich, ganz vorzüglich!“ +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">„Da sprach hell mit lautem Lachen</p> + <p class="verse">Pedro Gomez zu den neunzehn:</p> + <p class="verse">‚Gebt ihm schnell doch einen Ochsen!</p> + <p class="verse">Denn, fürwahr, der Mann hat recht!‘“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +„Das war wohl die richtige Zeit zum Lachen!? +Ist das aber ein Dummkopf! Zu guter Letzt ist es also +auch ihm lächerlich vorgekommen, was er sich da selbst +zusammengelübdet hat! Außerdem: Ochsen hat es doch +gegeben – weshalb hat er denn da seine Soldaten +nicht Rindfleisch essen lassen? und selbst auch welches +gegessen? Nun, Iljuscha, weiter! Es ist wirklich ganz +vorzüglich! Ungemein geistreich!“ +</p> + +<p> +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +„Aber es ist ja schon zu Ende, Papachen!“ +</p> + +<p> +„Ach? Schon zu Ende? Ja, in der Tat, was blieb +ihm denn auch anderes übrig – nicht wahr, Ssergei? +Vortrefflich, Iljuscha! ganz wundervoll hast du es vorgetragen! +Küsse mich, mein Liebling! Ach, du, mein +kleiner Junge! Aber wer hat es ihm denn beigebracht: +du, Ssaschenjka?“ +</p> + +<p> +„Nein, das hat Nastenjka getan. Vor einigen +Tagen lasen wir beide das Gedicht. Sie las es und +sagte: ‚Was für ein komisches Gedicht! Bald ist Iljuschas +Namenstag – wollen wir es ihn lernen lassen, +dann kann er es vortragen. Es paßt wie geschaffen!‘“ +</p> + +<p> +„Dann also Nastenjka? Ich danke, herzlichen +Dank!“ brachte mein Onkel nicht gerade sehr sicher +hervor, während er zugleich wie ein Kind über und +über errötete. „Küß mich noch einmal, Iljuscha! Küß +auch du mich, Unart du!“ sagte er scherzend zu Ssaschenjka, +indem er sie zu sich zog und ihr zärtlich in die +Augen sah. +</p> + +<p> +„Wart nur, Ssaschurka, auch du wirst bald deinen +Namenstag feiern!“ fügte er hinzu, als wüßte er nicht, +was er vor lauter Freude sagen sollte. +</p> + +<p> +Ich wandte mich an Nastenjka und fragte sie, von +wem das Gedicht sei. +</p> + +<p> +„Ja, richtig, wer hat es denn gedichtet?“ fragte +sogleich auch mein Onkel. „Es muß sicherlich ein +kluger Dichter gewesen sein – was meinst du, +Foma?“ +</p> + +<p> +„Hm!“ brummte Foma vor sich hin. +</p> + +<p> +Während des ganzen Vortrags war ein beißend +spöttisches Lächeln nicht von seinen Lippen gewichen. +</p> + +<p> +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +„Ich ... habe es im Augenblick vergessen,“ antwortete +Nastenjka mit scheuem Blick auf Foma. +</p> + +<p> +„Das hat Kusjma Prutkoff gedichtet, Papachen, +und im ‚Zeitgenossen‘ ist es erschienen,“ sagte Ssaschenjka +eifrig. +</p> + +<p> +„Kusjma Prutkoff? Kenne ich nicht,“ sagte mein +Onkel. „Nur Puschkin, den kenne ich! ... Doch man +sieht sofort, das es ein talentvoller Dichter ist. Habe +ich nicht recht, Ssergei? Und außerdem ein Mensch +mit wirklich edlen Eigenschaften – das ist klar! Vielleicht +ist er sogar ein Offizier ... Ja, das lobe ich +mir! Wirklich ein gutes Blatt, der ‚Zeitgenosse‘! Wir +müssen unbedingt darauf abonnieren, wenn solche +Dichter in ihm schreiben ... Ich liebe die Dichter! +Prächtige Jungen! Alles sagen sie in Versen! Weißt +du noch, Ssergei, ich habe ja bei dir in Petersburg +auch einen Literaten kennen gelernt. Er hatte noch +so eine ganz besondere Nase ... in der Tat! ... +Was sagtest du, Foma?“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch, dessen Ärger inzwischen bedeutend +gewachsen war, kicherte vor sich hin. Dieses Kichern +war eine nur ihm eigentümliche Art zu lachen. +</p> + +<p> +„Nichts, ich lache nur so ... es hat nichts auf +sich ...“ sagte er mit einer Miene, als unterdrücke er +nur mit Mühe ein ganz gewaltiges Lachen. „Fahren +Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie nur fort! Ich +werde später mein Wort sagen ... Auch Stepan +Alexejewitsch hört Sie mit großem Interesse von Ihren +Petersburger Literatenbekanntschaften erzählen ...“ +</p> + +<p> +Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der die ganze +Zeit etwas weiter ab in Gedanken verloren auf einem +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +Stuhl gesessen hatte, wurde plötzlich rot, erhob den +Kopf und sagte ziemlich scharf mit halber Wendung +zu Foma: +</p> + +<p> +„Du, Foma, fang gefälligst nicht wieder an, sondern +laß mich in Ruh!“ Seine kleinen, sogleich rot +anlaufenden Augen sahen den Gegner zornig an. „Was +schiert mich deine Literatur? Wenn Gott mir nur Gesundheit +gibt,“ brummte er halblaut, „das übrige kann +mir ... Und diese Schriftsteller ... lauter Voltairianer +und nichts weiter!“ +</p> + +<p> +„Die Schriftsteller – lauter Voltairianer?“ fragte +Jeshowikin, der im Augenblick neben Bachtschejeff auftauchte. +„Da haben Sie die reinste Wahrheit gesagt. +Genau so hat sich kürzlich auch Valentin Ignatjitsch +auszudrücken geruht, und zwar hat er mich selbst einen +Voltairianer genannt – bei Gott! Ich aber habe doch +bekanntlich nichts geschrieben. Man redet bloß manchmal +so ein wenig literarischer. Aber auch daran soll +nun wieder Voltaire schuld sein. So ist es immer +bei uns!“ +</p> + +<p> +„Nein, so doch nicht!“ meinte mein Onkel gewichtig, +„das ist doch wohl ein Irrtum! Voltaire war +nur ein mokanter Schriftsteller, er machte sich über die +Vorurteile lustig. Ein ‚Voltairianer‘ aber ist er selber +nie gewesen! Seine Feinde haben ihn verleumdet. Aber +weshalb hacken sie jetzt immer so auf den Armen los? +Das begreife ich wirklich nicht!“ +</p> + +<p> +Wieder ertönte das häßliche Kichern Foma Fomitschs. +Mein Onkel blickte sofort beunruhigt zu ihm +hinüber und wurde augenscheinlich verlegen. +</p> + +<p> +„Nein, sieh, Foma, ich rede ja nur von unseren +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +Zeitschriften,“ sagte er verwirrt, um das Gesagte +wieder gutzumachen. „Du hattest vollkommen recht, +Foma, als du sagtest, daß wir das Blatt halten müßten. +Ich bin jetzt auch der Meinung, daß wir es müssen! +... Denn ... warum auch nicht, es verbreitet doch +Aufklärung! Und schließlich, was wäre man sonst für +ein Sohn des Vaterlandes, wenn man eine solche Zeitschrift +nicht hält? Habe ich nicht recht, Ssergei? Hm! +... Ja! ... Da haben wir nun diesen ‚Zeitgenossen‘ +... Aber weißt du, Ssergei, die größten Wissenschaften +sind meiner Meinung nach doch in der dicken Revue – +wie heißt sie doch gleich? Im gelben Umschlag ...“ +</p> + +<p> +„‚Vaterländische Aufzeichnungen‘, Papachen.“ +</p> + +<p> +„Ja, richtig – ‚Vaterländische Aufzeichnungen‘ – +ein vorzüglicher Titel – nicht wahr, Ssergei? Das +ganze Vaterland sitzt sozusagen und zeichnet auf ... +Und dabei verfolgen sie ein edles Ziel! Ein äußerst +nützliches Blatt! Und wie dick! Geh mal, versuch du, +eine solche Diligence herauszugeben! Und Wissenschaften, +sag’ ich dir, daß einem fast die Augen übergehn! +... Vor ein paar Tagen ging ich dort durch +das Zimmer, sehe – das Heft liegt auf dem Tisch ... +nahm es aus Neugier in die Hand, schlug es auf und +las in einem Strich ganze drei Seiten. Glaub mir, +Freund, ich vergaß den Mund zu schließen! Weißt +du, es gibt dort über alles Abhandlungen, so zum Beispiel, +was bedeutet das Wort Besen, Spaten, Kochlöffel, +Henkel? Ich glaubte, ein Besen sei nichts als +ein Besen, ein Henkel eben ein Henkel. Aber nein, +Freund, wart! Ein Besen ist nach der Wissenschaft +nicht nur ein Besen, sondern ein Sinnbild, ein Emblem, +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +oder gar etwas aus der Mythologie, ich weiß +nicht mehr, was er da eigentlich war; aber jedenfalls +kam schließlich etwas Ähnliches heraus ... Ja, sieh +mal, so verhält es sich, Freund! Man kommt eben +hinter alles!“ +</p> + +<p> +Ich weiß nicht, was Foma nach diesem neuen Erguß +meines Onkels zu tun oder zu sagen beabsichtigte; +denn das Gespräch wurde durch Gawrila unterbrochen, +der plötzlich eintrat und mit gesenktem Haupt auf der +Schwelle stehenblieb. +</p> + +<p> +Foma Fomitsch blickte ihn bedeutsam an. +</p> + +<p> +„Ist alles bereit, Gawrila?“ fragte er mit +schwacher, jedoch entschlossener Stimme. +</p> + +<p> +„Alles ist bereit,“ antwortete Gawrila traurig und +seufzte. +</p> + +<p> +„Und auch mein Reisebündel hast du im Wagen +untergebracht?“ +</p> + +<p> +„Jawohl.“ +</p> + +<p> +„Nun, dann bin auch ich bereit!“ sagte Foma und +begann, sich langsam zu erheben. Mein Onkel blickte +ihn verwundert an. Die Generalin erhob sich plötzlich +gleichfalls und blickte sich unruhig im Kreise um. +</p> + +<p> +„Erlauben Sie mir jetzt, Oberst,“ hub Foma würdevoll +an, „Sie zu bitten, das interessante Gespräch über +die literarischen Besen für eine kurze Zeit zu unterbrechen. +Sie können es ohne mich fortsetzen. Ich aber +will, <em>indem ich mich auf ewig von Ihnen +verabschiede</em>, gerade Ihnen noch ein paar letzte +Worte sagen ...“ +</p> + +<p> +Schreck und Verwunderung lähmten alle Anwesenden. +</p> + +<p> +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +„Foma! ... Foma! Was fällt dir ein? Wohin +willst du?“ rief endlich mein Onkel aus. +</p> + +<p> +„Ich will Ihr Haus verlassen, Oberst,“ fuhr Foma +mit der ruhigsten Stimme fort. „Ich habe beschlossen, +zu gehen, wohin der Weg mich führt, und deshalb habe +ich mir für mein Geld einen einfachen, ganz gewöhnlichen +Bauernwagen gemietet. In ihm liegt bereits +mein Reisebündel. Es ist nicht groß: ein paar Bücher, +die mir lieb sind, Wäsche, um zu wechseln: das ist alles! +Ich bin arm, Jegor Iljitsch, werde aber um keinen +Preis Ihr Geld annehmen, das ich ja auch gestern schon +verschmäht habe!“ +</p> + +<p> +„Aber um Gottes willen, Foma! Was bedeutet +das?“ rief mein Onkel bestürzt aus, bleich wie ein Tuch. +</p> + +<p> +Die Generalin stieß einen Schrei aus und streckte +mit verzweifeltem Blick Foma Fomitsch beide Hände +entgegen. Fräulein Perepelizyna stürzte zu ihr, um sie +nötigenfalls aufzufangen. Die übrigen Schmarotzerinnen +erstarrten auf ihren Plätzen. Nur Herr Bachtschejeff +erhob sich schwerfällig. +</p> + +<p> +„Jetzt geht es los!“ raunte mir Misintschikoff zu, +der neben mir stand. +</p> + +<p> +Und im selben Augenblick hörte man fern den ersten +Donner grollen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-19"> +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +<span class="firstline">XVI.</span><br> +Die Vertreibung. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>S</span><span class="postfirstchar">ie</span> fragten, glaube ich, was das zu bedeuten habe, +Oberst?“ hub Foma feierlich an, indem er die allgemeine +Bestürzung förmlich zu genießen schien. „Die +Frage wundert mich! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, +wie <em>Sie</em> es fertigbringen, mir jetzt noch offen +in die Augen zu sehen? Erklären Sie mir dieses größte +Beispiel menschlicher Unverschämtheit, und ich werde +von dannen ziehen, wenigstens um eine neue Erkenntnis +der Verderbtheit des Menschengeschlechts bereichert.“ +</p> + +<p> +Mein Onkel war nicht fähig zu einer Antwort. Erschrocken +und ratlos, wie er war, blickte er nur starr +Foma Fomitsch an. +</p> + +<p> +„Jesus Christ! Welche Leidenschaften!“ stöhnte +Fräulein Perepelizyna. +</p> + +<p> +„Begreifen Sie denn nicht, Oberst,“ fuhr Foma +fort, „daß Sie mich jetzt einwandlos und ohne Fragen +meines Weges ziehen lassen <em>müssen</em>? In Ihrem +Hause muß selbst ich, der ich doch ein denkender Mensch +und schon in reifen Jahren bin, ernstlich für meine +Sittlichkeit fürchten und auf der Hut sein. Glauben +Sie mir, daß Ihre Fragen zu nichts anderem führen +würden, als nur zur Aufdeckung Ihrer Schmach ...“ +</p> + +<p> +„Foma! Aber Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, +auf dessen Stirn kalter Schweiß hervortrat. +</p> + +<p> +„So erlauben Sie mir denn, Ihnen ohne weitere +Erklärungen zum Abschied nur noch einige Geleitworte +zu sagen: meine letzten Worte in Ihrem Hause. Es +ist geschehen, und das Geschehene kann man nicht mehr +<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a> +ungeschehen machen! Ich hoffe, Sie verstehen, was +ich meine. Aber ich flehe Sie auf den Knien an: Wenn +in Ihrem Herzen noch ein Funken von Sittlichkeit übriggeblieben +ist, so zügeln Sie den Lauf Ihrer Leidenschaften! +Und wenn das Gift der Verwesung noch +nicht das ganze Gebäude Ihrer Seele erfaßt hat, so +löschen Sie nach Möglichkeit die Feuersbrunst!“ +</p> + +<p> +„Foma! Glaube mir, du bist im Irrtum!“ rief mein +Onkel aus, der allmählich zur Besinnung kam und mit +Entsetzen begriff, worauf es hinauslief. +</p> + +<p> +„Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften,“ fuhr Foma +mit derselben Feierlichkeit fort – als hätte er den +Ausruf meines Onkels gar nicht gehört, „besiegen Sie +sich! ‚Willst du die ganze Welt erobern – besiege dich +selbst!‘ Das ist meine Lebensregel. Sie sind Gutsherr. +Sie müßten wie ein Brillant in höchster Tugend +strahlen, statt dessen – was für ein schmachvolles Beispiel +der Zügellosigkeit geben Sie hier allen Ihren Gästen +sowie allen Ihren Untergebenen! Ich habe ganze Nächte +für Sie gebetet und um Sie gezittert, habe gerungen +um Ihr Glück. Ich habe es nicht gefunden; denn +Glück ist nur in der Tugend enthalten ...“ +</p> + +<p> +„Aber das ist doch unmöglich, Foma!“ unterbrach +ihn wieder mein Onkel, „du hast es falsch verstanden, +du hast es ganz anders aufgefaßt! ...“ +</p> + +<p> +„Und so vergessen Sie denn nicht, daß Sie Gutsherr +sind,“ fuhr Foma, wieder ohne die Worte des +anderen zu beachten, in seiner Rede fort. „Geben Sie +sich nicht dem verderblichen Glauben hin, daß Nichtstun +und seiner Wollust frönen die Bestimmung des +Gutsherrenstandes seien. Dieser Glaube bringt Sie +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +ins Verderben! Nicht das Nichtstun ist es, sondern +die Verantwortung vor Gott, vor dem Zaren und dem +Vaterlande! Arbeiten, arbeiten muß der Gutsherr, und +zwar arbeiten wie der Letzte seiner Bauern!“ +</p> + +<p> +„Was, ich soll also hinfort für meine Leibeigenen +arbeiten?“ brummte Herr Bachtschejeff, „ich bin doch +<em>auch</em> Gutsbesitzer ...“ +</p> + +<p> +„Jetzt wende ich mich an euch, Dienstboten,“ fuhr +Foma fort, sich an Gawrila und Falalei, der in der +Tür erschien, wendend. „Liebet eure Herrschaft und +erfüllet deren Gebote in Ehrfurcht und Bescheidenheit. +Dafür werdet ihr von euren Herren wiedergeliebet +werden. Sie aber, Oberst, seien Sie gerecht und barmherzig +zu ihnen. Der Dienstbote ist derselbe Mensch – +das Ebenbild Gottes, wie es in der Heiligen Schrift +geschrieben steht, der minderjährig vom Zaren und vom +Vaterlande Ihrer Obhut anvertraut ist. Groß ist die +Pflicht, aber groß wird auch Ihr Verdienst sein!“ +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch! Täubchen! Was hast du vor?“ +rief in ihrer Verzweiflung die Generalin aus, bereit, +jeden Augenblick wieder in Ohnmacht zu fallen. +</p> + +<p> +„Doch ... das dürfte genügen, denke ich?“ schloß +Foma, der Generalin weiter gar keine Beachtung +schenkend. „Jetzt noch einige Einzelheiten, die freilich +nur geringfügig, aber doch notwendig sind, Jegor +Iljitsch. Auf der Waldwiese bei Harinskoje ist Ihr +Heu noch nicht gemäht. Lassen Sie es nicht zu spät +werden, Oberst, lassen Sie es mähen, möglichst bald +mähen. Dies wäre mein Rat ...“ +</p> + +<p> +„Aber, Foma ...“ +</p> + +<p> +„Sie hatten die Absicht, ich weiß es, einen Teil des +<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a> +Syrjänower Waldes fällen zu lassen: lassen Sie ihn +nicht fällen – dies wäre mein zweiter Rat. Erhalten +Sie Ihre Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit +auf der Erdoberfläche ... Schade, daß Sie so +spät das Sommerkorn gesät haben, – wirklich erstaunlich, +wie spät Sie es gesät haben! ...“ +</p> + +<p> +„Aber, Foma ...“ +</p> + +<p> +„Doch genug! Alles kann man ja doch nicht sagen, +und es ist auch nicht die Zeit dazu! Ich werde Sie +schriftlich vom Nötigen unterrichten ... ich werde +Ihnen ein ganzes Heft schicken. Jetzt aber – leben +Sie wohl! Lebt alle wohl! Gott sei mit euch, mag der +Herr euch segnen! Ich segne auch dich, mein Kind,“ +sagte er zu Iljuscha, „der Herr beschütze dich vor dem +Verwesungsgifte deiner zukünftigen Leidenschaften! +Auch dich, Falalei, segne ich. Vergiß die Kamarinskaja! +Und euch, euch alle! ... Denkt an Foma! ... +Aber gehen wir, Gawrila! Hilf mir in den Wagen, +guter Alter!“ +</p> + +<p> +Und Foma schritt langsam zur Tür. Die Generalin +schrie auf und stürzte ihm nach. +</p> + +<p> +„Nein, Foma! So lasse ich dich nicht fort!“ rief +mein Onkel aus, holte ihn mit drei Schritten ein und +erfaßte seine Hand. +</p> + +<p> +„Heißt das, daß Sie Gewalt anwenden wollen?“ +fragte Foma hochmütig. +</p> + +<p> +„Ja, Foma ... auch Gewalt, wenn es darauf ankommt.“ +Mein Onkel zitterte vor Erregung. „Du +hast zuviel gesagt, du mußt deine Worte erklären! Du +hast meinen Brief falsch verstanden, Foma! ...“ +</p> + +<p> +„Ihren Brief!“ kreischte Foma plötzlich wie rasend, +<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> +im Augenblick lichterloh, als hätte er nur auf dieses +Wort gewartet, um zu explodieren. „Ihren Brief! +Hier ist er, Ihr Brief! Hier ist er! Ich zerreiße diesen +Brief, ich speie ihn an! Ich zerstampfe Ihren Brief +mit meinen Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht +der Menschheit! Sehen Sie, was ich tue, wenn Sie +mich mit Gewalt zu Erklärungen zwingen! Sehen Sie! +Sehen Sie! Sehen Sie! ...“ +</p> + +<p> +Und die Papierfetzen flogen auf den Fußboden. +</p> + +<p> +„Ich wiederhole es, Foma, du hast ihn falsch verstanden!“ +beteuerte mein Onkel, der immer bleicher +wurde, „ich halte um ihre Hand an, Foma, ich suche +mein Glück ...“ +</p> + +<p> +„Um ihre Hand! Sie haben dieses Mädchen verführt, +und jetzt wollen Sie mich mit einem Heiratsantrag +betrügen; denn ich habe Sie gestern nacht mit +ihr im Garten unter den Büschen gesehen!“ +</p> + +<p> +Die Generalin stieß einen Schrei aus und sank +kraftlos auf ihren Lehnstuhl. Ihre ganze Suite verlor +den Kopf. Die arme Nastenjka saß bleich wie eine +Tote und rührte sich nicht. Ssaschenjka umklammerte +vor Schreck Iljuscha und zitterte am ganzen +Körper. +</p> + +<p> +„Foma!“ rief mein Onkel außer sich. „Wenn du +dieses Geheimnis verrätst, so tust du die schändlichste +Tat der Welt!“ +</p> + +<p> +„Ja, ich will dieses Geheimnis verraten,“ kreischte +Foma, „und damit die edelste aller Taten vollbringen! +Dazu bin ich von Gott selbst gesandt, um die ganze +Welt in ihrem Schmutz zu entlarven! Ich bin bereit, +auf eines armen Bauern elendes Strohdach zu steigen +<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> +und von dort aus allen Gutsbesitzern in der Runde +und jedem Vorüberfahrenden die Kunde von Ihrer +Schandtat zuzuschreien! ... Ja, hört es alle, wißt, +daß ich gestern, mitten in der Nacht ihn mit diesem +Mädchen, das die Maske der Unschuld zur Schau +trägt, im Garten unter dichtem Gebüsch überrascht +habe!“ +</p> + +<p> +„Ach, Jesus, welche Schande!“ kam es fast zischend +über die schmalen Lippen der Perepelizyna. +</p> + +<p> +„Foma! Setz nicht dein Leben aufs Spiel!“ schrie +ihm mein Onkel mit blitzenden Augen zu und ballte die +Fäuste. +</p> + +<p> +„... Er aber,“ kreischte Foma, „er aber hat es +gewagt, – nach dem ersten Schreck darüber, daß ich +ihn sah – hat es gewagt, mich mit einem Brief betrügen +und bestechen zu wollen, mich, mich, den Ehrlichen, +Ehrenhaften und Offenherzigen, um mich zu +überzeugen, daß er kein Verbrechen begangen habe – +ja, Verbrechen, sage ich! ... denn aus dem bis jetzt +unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie ...“ +</p> + +<p> +„Noch ein einziges Wort, das sie beleidigt, – und +ich schlage dich tot, Foma, das schwöre ich dir!! ...“ +</p> + +<p> +„Und ich spreche dieses Wort aus; denn aus dem +bis jetzt unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie +<em>eines der verderbtesten gemacht</em>!“ +</p> + +<p> +Kaum jedoch war das letzte Wort über Fomas +Lippen gekommen, als mein Onkel ihn auch schon gepackt +hatte, ihn wie einen Strohhalm zusammenknickte +und gegen die Glastür schleuderte, die auf den Hof +führte. Der Anprall war so stark, daß die Tür krachend +aufflog und Foma wie ein Brummkreisel über die sieben +<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> +Stufen der steinernen Treppe kollerte und sich unten +in seiner ganzen Länge auf dem Hof ausstreckte. +Klirrend flogen die Glasscherben der zerschlagenen +Scheiben auf die weißen Steine der Treppe. +</p> + +<p> +„Gawrila, heb ihn auf!“ schrie mein Onkel totenbleich +dem Diener zu, „setz ihn in den Wagen! und +daß mir nach zwei Minuten sein Fuß nicht mehr in +Stepantschikowo ist!“ +</p> + +<p> +Was Foma Fomitsch nun auch beabsichtigt haben +mochte – diese Lösung wird er in seiner Berechnung +jedenfalls nicht vorausgesehen haben. +</p> + +<p> +Ich will es lieber gar nicht versuchen, die ersten +hierauf folgenden Minuten zu schildern: Das kreischende +Geschrei der Generalin, die sich in ihrem Lehnstuhl +wand; den Starrkrampf der Perepelizyna infolge der +unerwarteten Handlungsweise meines sonst stets so +sanften und gehorsamen Onkels; das Ach und Weh +der übrigen „Freundinnen“; die vor Schreck fast ohnmächtige +Nastenjka, neben der Jeshowikin, ihr Vater, +auftauchte; die vor Angst zähneklappernde Ssaschenjka; +meinen Onkel, der in unbeschreiblicher Erregung im +Zimmer auf und ab ging und wartete, bis die Mutter +wieder zu sich käme; schließlich das laute Geheul Falaleis, +der seine Herrschaft beklagte und bejammerte +– alles das stellte ein lebendes Bild dar, wie man es +mit Worten nicht zu beschreiben vermag. Hierzu +denke man sich noch, daß sich gerade jetzt, im selben +Augenblick, ein starkes Gewitter entlud. Die Donnerschläge +wurden immer lauter und unheimlicher, und +plötzlich peitschte der Regen in Strömen an die Fensterscheiben. +</p> + +<p> +<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> +„Da habt ihr jetzt ’nen Feiertag!“ brummte Herr +Bachtschejeff grollend, senkte den Kopf und schlug sich +auf den Schenkel. +</p> + +<p> +„Die Sache ist gefährlich!“ flüsterte ich ihm zu – +gleichfalls zitternd vor Aufregung. „Aber wenigstens +ist Foma hinausgeworfen und wird wohl nicht mehr +zurückgebracht werden!“ +</p> + +<p> +„Mama! Sind Sie zu sich gekommen? Fühlen +Sie sich etwas besser? Könnten Sie mich jetzt anhören?“ +fragte mein Onkel, der vor seiner Mutter +stehengeblieben war. +</p> + +<p> +Diese erhob den Kopf, faltete die Hände und blickte +flehend zu ihrem Sohn empor, den sie in ihrem ganzen +Leben noch nie in solchem Zorn gesehen hatte. +</p> + +<p> +„Mama!“ begann der Oberst, „das Maß ist voll +– Sie haben es selbst gesehen. Nicht in dieser Weise +wollte ich mein Vorhaben ausführen, aber die Stunde +hat geschlagen, und jetzt duldet es keinen Aufschub. Sie +haben die Verleumdung gehört, so hören Sie denn jetzt +auch die Rechtfertigung. Mama, ich liebe dieses edle +und ehrenwerte Mädchen, ich liebe sie schon lange und +werde nie, niemals aufhören, sie zu lieben. Sie wird +meine Kinder glücklich machen und wird Ihnen eine +ehrerbietige Tochter sein, und deshalb spreche ich jetzt +hier in Ihrer, meiner Verwandten und Freunde Gegenwart +meine innige Bitte aus, Nastassja Jewgrafowna, +mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen, +meine Frau zu werden.“ +</p> + +<p> +Nastenjka zuckte zusammen, errötete heiß und erhob +sich erschrocken. Die Generalin starrte ihren Sohn +eine Zeitlang an, als begreife sie nicht, wovon er sprach, +<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> +und plötzlich stürzte sie mit einem gellenden Schrei vor +ihm auf die Knie nieder. +</p> + +<p> +„Jegoruschka, du mein Täubchen, bring Foma Fomitsch +zurück!“ schrie sie, „bring ihn sofort zurück! +Ohne ihn sterbe ich noch vor dem Abend!“ +</p> + +<p> +Mein Onkel erstarrte, als er seine alte Mutter, +die stets launische und eigensinnige Frau, vor sich auf +den Knien sah. Ein schmerzliches Gefühl spiegelte sich +auf seinem Antlitz wider. Endlich besann er sich, beugte +sich nieder, hob sie auf und setzte sie wieder in ihren +Lehnstuhl. +</p> + +<p> +„Bring Foma Fomitsch zurück, Jegoruschka!“ fuhr +die Alte in ihrem Geheul fort, „bring ihn mir zurück, +Täubchen! Ohne ihn kann ich nicht leben!“ +</p> + +<p> +„Mama!“ rief mein Onkel bekümmert aus, „– +dann haben Sie ja überhaupt nicht verstanden, was ich +Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma Fomitsch nicht +zurückrufen – begreifen Sie das doch! Ich kann es +nicht, und ich habe auch kein Recht dazu nach seiner +niedrigen, schändlichen, schmutzigen Verleumdung dieses +Mädchens, das mir heilig ist! Sehen Sie denn nicht +ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre +es mir befiehlt, für ihren guten Ruf, für ihre Ehre +einzustehen! Sie haben es doch gehört: ich halte um +die Hand dieses Mädchens an und bitte Sie, wie ein +Sohn seine Mutter bittet, unseren Bund zu segnen.“ +</p> + +<p> +Doch die Generalin erhob sich, ehe er sich dessen +versah, wieder von ihrem Platz und stürzte vor Nastenjka +auf die Knie nieder. +</p> + +<p> +„Ich flehe dich an! Sei ein Engel!“ schrie die Alte +in ihrer Verzweiflung, „heirate ihn nicht! Heirate ihn +<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> +nicht, sondern bitte ihn, daß er Foma Fomitsch zurückbringt! +Sei mein Täubchen, Nastassja Jewgrafowna! +Ich gebe dir alles hin, ich opfere dir alles, wenn du +ihn nicht heiratest! Ich habe noch nicht alles aufgezehrt, +ich habe noch einen Sparpfennig von meinem +Seligen. Alles ist dein, mein Engel, werde dich mit +allem beschenken, und auch Jegoruschka wird dich beschenken, +nur bringe mich nicht lebendig ins Grab; bitte +ihn, daß er mir Foma Fomitsch zurückbringt! ...“ +</p> + +<p> +Lange noch hätte die Alte geschrien und gefleht, +wenn nicht alle ihre Busenfreundinnen, voran die Perepelizyna, +mit Gekreisch und Klagegeschrei zu ihr gestürzt +wären und sie mit vereinten Kräften emporgehoben +hätten – empört darüber, daß sie vor der „Gouvernante“ +ihrer Enkelkinder auf den Knien lag. Nastenjka +konnte sich kaum noch auf den Füßen halten vor Schreck. +Die Perepelizyna aber weinte fast vor Wut. +</p> + +<p> +„Töten wollen Sie Ihre Mutter!“ schrie sie meinen +Onkel an, „umbringen wollen Sie sie! Sie aber, +Nastassja Jewgrafowna, hätten nicht die Mutter mit +ihrem leiblichen Sohne entzweien sollen! So etwas +wird auch Gott der Herr nicht verzeihen ...“ +</p> + +<p> +„Anna Nilowna, nehmen Sie sich mit Ihrer Zunge +in acht!“ rief ihr mein Onkel zornig zu. „Ich habe +genug ertragen! ...“ +</p> + +<p> +„Und auch ich habe genug von Ihnen ertragen! +Was werfen Sie mir meine Verwaistheit vor? Werden +Sie mich noch lange – mich Waise – beleidigen? +Ich bin doch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst die +Tochter eines Majors! Mein Fuß soll nicht mehr hier +in diesem Hause weilen! ... Heute noch – ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a> +Doch mein Onkel hörte sie nicht an: er trat zu +Nastenjka und ergriff schüchtern ihre Hand. +</p> + +<p> +„Nastassja Jewgrafowna ... haben Sie gehört, +um was ich Sie gebeten habe?“ fragte er langsam, +während sein Blick kummervoll auf ihrem lieben Gesicht +ruhte. +</p> + +<p> +„Nein, Jegor Iljitsch, nein! Lassen wir es lieber,“ +antwortete Nastenjka, die allen Mut verloren hatte. +„Das ist es ja nicht,“ fuhr sie fort und preßte unbewußt +wie im Krampf seine Hand, während Tränen +ihr in die Augen traten. „Das sagen Sie jetzt, nach +dem – Gestrigen ... Aber es kann ja nichts daraus +werden, Sie sehen es doch selbst ... Wir haben uns +getäuscht, Jegor Iljitsch ... Ich aber werde ewig an +Sie als an meinen Wohltäter denken und ... und +werde ewig, ewig für Sie beten! ...“ +</p> + +<p> +Tränen erstickten ihre Stimme. Mein armer Onkel +hatte offenbar keine andere Antwort erwartet; er verfiel +nicht einmal darauf, etwas einzuwenden, sie zu +bitten ... Er hörte, den Kopf zu ihr hinabgeneigt, ohne +ihre Hand freizugeben, stumm und wie geschlagen an, +was sie sagte. Seine Augen schimmerten feucht. +</p> + +<p> +„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt,“ fuhr Nastenjka +fort, „daß ich nicht Ihre Frau werden kann. +Sie sehen doch: man will mich hier nicht ... und das +habe ich schon lange vorausgefühlt. Ihre Mutter wird +Ihnen nicht ihren Segen geben ... <em>andere</em> auch +nicht. Und Sie selbst, wenn Sie es auch nicht bereuen +werden – denn Sie sind der großmütigste Mensch – +so würden Sie doch um meinetwillen unglücklich sein +... bei Ihrem Charakter, bei Ihrer Güte ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a> +„Ganz recht – <em>bei Ihrer Güte</em>! – bei Ihrem +<em>Charakter</em>! Du hast recht, Nastenjka!“ griff ihr +alter Vater auf, der an der anderen Seite neben ihrem +Stuhl stand. „Gerade dieses eine Wort sagt +alles.“ +</p> + +<p> +„Ich will nicht Unfrieden in Ihr Haus bringen,“ +fuhr Nastenjka fort. „Um mich aber machen Sie sich +keine Sorgen, Jegor Iljitsch: mich rührt niemand an, +niemand wird mich beleidigen ... ich gehe zu meinem +Vater ... heute noch ... Es ist besser, wir nehmen +Abschied voneinander, Jegor Iljitsch ...“ +</p> + +<p> +Tränen rollten ihr über die Wangen. +</p> + +<p> +„Nastassja Jewgrafowna, – ist das wirklich Ihr +letztes Wort?“ fragte mein Onkel, Verzweiflung im +Blick. „Sagen Sie nur ein Wort, nur ein Wort, und +ich opfere Ihnen alles! ...“ +</p> + +<p> +„Es war das letzte, das letzte, Jegor Iljitsch,“ sagte +Jeshowikin, „und sie hat es Ihnen so gut erklärt, wie +ich es nicht einmal erwartet hätte. Sie sind der gütigste +Mensch, Jegor Iljitsch, gerade der gütigste, und Sie +haben uns eine große Ehre erwiesen! Große Ehre, +große Ehre! ... Aber immerhin passen wir nicht zu +Ihnen, Jegor Iljitsch. Sie müssen sich eine andere +Braut aussuchen, eine, die sowohl reich, als vornehm +und schön und auch mit einer lauten Stimme begabt +ist, und die nur in Brillanten und Straußenfedern +durch Ihre Säle rauscht ... Dann wird vielleicht auch +Foma Fomitsch etwas nachgiebiger sein ... und den +Ehebund segnen! Den Foma Fomitsch aber bringen +Sie nur wieder zurück! Umsonst, ganz umsonst haben +Sie ihn so beleidigt! Er hat ja nur aus Tugendeifer, +<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a> +aus übermäßiger Moralität so gesprochen ... Sie +werden es selbst später zugeben, daß er es nur deshalb +getan hat – Sie selbst werden es selbst sagen! Er +ist der ehrwürdigste Mensch der Welt. Jetzt aber wird +er in dem Regen ganz naß werden. Wäre es daher +nicht besser, ihn sogleich zurückzurufen? ... denn einmal +wird man es doch tun müssen ...“ +</p> + +<p> +„Bring ihn! Bring ihn zurück!“ schrie wieder die +Generalin. „Täubchen, er sagt dir ja nur die Wahrheit +...“ +</p> + +<p> +„Jawohl,“ fuhr Jeshowikin fort, „da sehen Sie, +daß auch Ihre Frau Mutter sich tot zu ängstigen geruht +– und zwar ganz umsonst ... Bringen Sie ihn +nur zurück! Wir aber, Nastenjka und ich, wir werden +uns mittlerweile aufmachen ...“ +</p> + +<p> +„Wart, Jewgraf Larionytsch!“ unterbrach ihn +mein Onkel, „ich bitte dich! Noch ein Wort, Jewgraf, +nur ein Wort habe ich noch zu sagen!“ +</p> + +<p> +Er ging mit schnellen Schritten in eine Ecke, setzte +sich in einen Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände, +mit denen er seine Augen bedeckte, – es war, als wolle +er für einen Augenblick seine Gedanken sammeln. +</p> + +<p> +Da ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag fast +gerade über dem Hause. Das ganze Gebäude erzitterte. +Die Generalin schrie auf, die Perepelizyna gleichfalls, +die „Freundinnen“, dumm geworden vor Angst, bekreuzten +sich, was übrigens gleichzeitig mit ihnen auch +Herr Bachtschejeff tat. +</p> + +<p> +„Heiliger Vater, steh uns bei!“ flüsterten fünf +oder sechs Stimmen wie auf ein Kommando. +</p> + +<p> +Unmittelbar nach dem Donnerschlage folgte ein +<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a> +Platzregen, als wenn ein ganzer See auf Stepantschikowo +herabstürzen wollte. +</p> + +<p> +„Und Foma Fomitsch, was wird jetzt mit ihm dort +auf dem freien Felde?“ kreischte die Perepelizyna. +</p> + +<p> +„Jegoruschka, bring ihn zurück!“ schrie die Generalin +mit Verzweiflung in der Stimme, und sie stürzte +wie eine Wahnsinnige zur Tür. Doch sie wurde von +ihrer Suite zurückgehalten: die ganze Weiberbande umringte +sie, weinte, tröstete, kreischte und schrie. Sodom +war einst sicherlich nichts dagegen! +</p> + +<p> +„Nur im leichten Rock ist er gegangen! Wenn er +doch wenigstens sein Mäntelchen mitgenommen hätte!“ +jammerte die Perepelizyna. „Und einen Regenschirm +hat er auch nicht! Der Blitz wird ihn erschlagen! ...“ +</p> + +<p> +„Unbedingt!“ stimmte Herr Bachtschejeff bei. „Und +der Regen wird ihn dann auch noch durchnässen!“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie doch!“ flüsterte ich ihm ungehalten +zu. +</p> + +<p> +„Ja, aber ist er denn kein Mensch?“ fragte mich +der Dicke aufgebracht. „Er ist doch kein Hund. Du +würdest jetzt auch nicht hinausgehen. Oder geh, versuch’s +doch, nimm ein Bad, bloß zum Vergnügen!“ +</p> + +<p> +Da ich die drohende Gefahr erkannte, ging ich zu +meinem Onkel, der wie erstarrt in seinem Lehnstuhl saß. +</p> + +<p> +„Onkel,“ sagte ich, mich zu seinem Ohr beugend, +„werden Sie denn wirklich einwilligen, Foma Fomitsch +zurückzurufen? Begreifen Sie denn nicht, daß es die +größte Charakterlosigkeit wäre und eine Schändlichkeit +von Ihrer Seite, wenigstens so lange wie Nastassja +Jewgrafowna hier ist ...“ +</p> + +<p> +„Freund,“ sagte mein Onkel, indem er den Kopf +<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a> +erhob und mir mit entschlossenem Blick in die Augen +sah, „ich habe hier über mich selbst Gericht gehalten, +und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Beunruhige dich +nicht, ihr soll keine Kränkung widerfahren – ich werde +es so einrichten ...“ +</p> + +<p> +Er erhob sich und trat zur Mutter. +</p> + +<p> +„Mama!“ sagte er, „beruhigen Sie sich: ich werde +Foma Fomitsch zurückbringen, ich werde ihm nachfahren, +ihn einholen; er kann noch nicht weit sein. Aber +eines schwöre ich: nur unter der Bedingung wird er +zurückkehren, daß er hier im Kreise aller Zeugen der +Beleidigung seine Schuld eingesteht und dieses ehrenwerteste +Mädchen feierlich um Verzeihung bittet. Das +werde ich durchsetzen! Ich werde ihn dazu zwingen! +Anderenfalls wird er nie die Schwelle meines Hauses +überschreiten! Auch schwöre ich Ihnen feierlich, +Mutter: wenn er es freiwillig tut, so bin ich bereit, +ihn auch meinerseits um Entschuldigung zu bitten, und +ich werde ihm alles hingeben, alles, was ich nur geben +kann, ohne meine Kinder zu berauben! Ich selbst aber +werde mich von allem zurückziehen. Der Stern meines +Glückes ist untergegangen ... Ich verlasse Stepantschikowo. +Dann könnt ihr hier alle ruhig und glücklich +leben. Ich werde wieder in mein Regiment eintreten +und auf dem Schlachtfelde, im Kaukasus oder in Asien +mein Leben beschließen ... Doch wozu soviel Worte! +Ich fahre!“ +</p> + +<p> +Da tat sich die Tür auf, und Gawrila erschien, +triefend und bis zur Unkenntlichkeit beschmutzt, vor der +sprachlosen Versammlung. +</p> + +<p> +„Was fehlt dir? Woher kommst du? Wo ist Foma?“ +<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a> +fragte erschrocken mein Onkel, der ihn als erster +erblickte. +</p> + +<p> +Aller Augen wandten sich zur Tür, alle stürzten zu +Gawrila und umringten mit geradezu gieriger Neugier +den alten Diener, von dessen Kleidern das schmutzige +Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Ausrufe, +Schreie, Gekreisch begleiteten jedes Wort Gawrilas. +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch sind beim Birkenwäldchen geblieben, +anderthalb Werst von hier,“ begann er mit +weinerlicher Stimme. „Das Pferd erschrak vor einem +Blitz und lief in den Graben ...“ +</p> + +<p> +„Und? ...“ rief mein Onkel aus. +</p> + +<p> +„Der Wagen fiel um ...“ +</p> + +<p> +„Und ... und Foma?“ +</p> + +<p> +„Geruhten, in den Graben zu fallen ...“ +</p> + +<p> +„Aber so erzähl doch, Mensch!“ +</p> + +<p> +„Sie geruhten sich die Seite zu beschädigen +und hierauf begannen sie zu weinen. Da schirrte +ich das Pferd aus und kam reitend her, um zu melden +...“ +</p> + +<p> +„Und Foma blieb dort liegen?“ +</p> + +<p> +„Sie erhoben sich und gingen mit dem Stöckchen +weiter,“ schloß Gawrila, seufzte hierauf und senkte +den Kopf. +</p> + +<p> +Das Weinen und Schluchzen der Damen war unbeschreiblich. +</p> + +<p> +„Sofort den Polkan!“ befahl der Oberst und +stürzte aus dem Zimmer. Das Pferd wurde im Augenblick +vorgeführt. Mein Onkel schwang sich, wie es +nur ein Husar fertigbringt, auf das ungesattelte Pferd +und sprengte davon – ohne Mütze, so wie er war. +<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a> +Der verhallende Hufschlag zeigte uns die Richtung an, +in der er ritt. +</p> + +<p> +Die Damen eilten zu den Fenstern. Zwischen Gestöhn +und Wehklagen wurden weise Ratschläge erteilt. +Es wurde von den Vorzügen eines heißen Bades gesprochen +und von denen einer Einreibung mit Spiritus. +Ferner sprach man von mildem Brusttee und davon, +daß Foma seit dem frühen Morgen noch keinen Bissen +zu sich genommen habe und folglich noch nüchtern sei. +Die Perepelizyna fand seine vergessene Brille im +Futteral, und dieser Fund machte einen ungewöhnlichen +Eindruck: die Generalin stieß einen Schrei aus, entriß +der Finderin das Andenken, um dann nach neuen +Tränenströmen und ohne das Ding aus der Hand zu +legen, wieder ans Fenster zu eilen und hinauszuspähen, +ob der Entschwundene nicht schon zurückkehrte. Die +Erwartung erreichte schließlich den höchsten Grad der +Spannung ... In einer anderen Ecke versuchte Ssaschenjka +Nastjä zu trösten: beide hatten sich eng umschlungen +und weinten still. Nastenjka hielt Iljuschas +Händchen umklammert und küßte zum Abschied immer +wieder ihren kleinen Schüler. Iljuscha weinte mit +offenem Mäulchen, ohne zu wissen, weshalb. Jeshowikin +und Misintschikoff redeten etwas abseits sehr +eifrig miteinander. Mir schien, daß Bachtschejeff beim +Anblick der weinenden Damen gleichfalls den Tränen +beängstigend nahe war. Ich trat an ihn heran. +</p> + +<p> +„Nein, mein Lieber,“ sagte er, „Foma Fomitsch +hätte sich vielleicht auch ohnedem von hier fortgemacht, +nur war der rechte Augenblick offenbar noch nicht gekommen: +noch hatte man ihm keine Ochsen mit goldenen +<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a> +Hörnern vor seine Equipage geschirrt! Keine Sorge, +mein Lieber, der wird noch die Besitzer aus dem Hause +jagen und selber hier bleiben!“ +</p> + +<p> +Das Gewitter war nämlich schon weitergezogen, +weshalb Herr Bachtschejeff seine Meinung inzwischen +geändert hatte. +</p> + +<p> +Plötzlich erhob sich ein Geschrei: „Sie kommen, sie +kommen! Sie bringen ihn!“ Und die Damen eilten +mit Gekreisch zur Tür. Es waren kaum zehn Minuten +nach dem Aufbruch meines Onkels vergangen. Aber +wie war es denn möglich gewesen, Foma Fomitsch so +schnell einzuholen? Das Rätsel sollte später sehr einfach +gelöst werden: Foma war allerdings, nachdem er +Gawrila zurückgeschickt hatte, mit seinem „Stöckchen“ +weitergegangen. Als er sich dann aber so verlassen in +der Einsamkeit bei Sturm, Donner, Blitz und Regen +gesehen hatte, da hatte ihn der Mut gar schmählich im +Stich gelassen, und er war unverzüglich Gawrila nachgelaufen. +Jedenfalls hatte mein Onkel ihn schon in +nächster Nähe des Gutshofes angetroffen. Sofort war +ein Mann, der gerade vorüberfuhr, angerufen worden, +und mit Hilfe von ein paar Bauern hatte man den +ganz zahm gewordenen Foma in den Wagen gehoben. +Und so wurde er denn glücklich in die offenen Arme +der Generalin zurückgeführt, die fast den Verstand – +ihren letzten – verlor, als sie sah, in welchem Zustande +ihr Abgott sich befand. Er war nämlich noch bedeutend +nasser und schmutziger als Gawrila. Ein entsetzliches +Durcheinander war die erste Folge: die einen wollten +ihn sogleich ins Schlafzimmer schaffen, damit er die +Wäsche wechsele, die anderen sprachen von Holundertee +<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a> +und ähnlichen Stärkungsmitteln. Alles lief hin +und her. Die Kopflosigkeit war allgemein. Alle +sprachen zu gleicher Zeit, so daß man kein Wort verstehen +konnte ... Doch Foma schien nichts zu sehen und +nichts zu hören. Er wurde unter den Armen gestützt +und langsam zu seinem Philosophenstuhl geführt, in den +er sich erschöpft niedersinken ließ, um sogleich die Augen +zu schließen. Jemand schrie, daß Foma Fomitsch sterbe. +Darauf erhob sich ein entsetzliches Geheul. Am lautesten +aber von allen heulte Falalei, der sich krampfhaft +bemühte, durch die Mauer der Damen zu Foma +vorzudringen, um ihm, wie er sagte, „die Händchen +zu küssen“. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-20"> +<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a> +<span class="firstline">XVII.</span><br> +Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">ohin</span> hat man mich gebracht?“ fragte Foma +endlich mit der Stimme eines Sterbenden – eines für +die Wahrheit den Märtyrertod Sterbenden. +</p> + +<p> +„Verd...!“ fluchte Misintschikoff halblaut neben +mir, „als ob er nicht sähe, wo er ist! Jetzt wird er uns +wieder Theater vorspielen!“ +</p> + +<p> +„Du bist bei uns, Foma, du bist im Kreise deiner +Freunde!“ rief ihm mein Onkel zu. „Faß dich, beruhige +dich! Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn du jetzt +deine Kleider wechseln wolltest, Foma, so kannst du dich +noch erkälten ... Und willst du dich nicht etwas stärken +– was meinst du? So, weißt du ... ein Gläschen, +um dich zu erwärmen.“ +</p> + +<p> +„Malaga ... würde ich vielleicht trinken,“ stöhnte +Foma und schloß wieder die Augen. +</p> + +<p> +„Malaga? Ich weiß nicht, ob wir den gerade vorrätig +haben ...“ sagte mein Onkel, mit unruhigem +Blick sich nach Praskowja Iljinitschna umsehend. +</p> + +<p> +„Aber natürlich doch!“ Praskowja Iljinitschna +schien ordentlich gekränkt zu sein. „Ganze vier Flaschen +haben wir noch!“ Und schlüsselklirrend eilte sie nach +dem Wein, begleitet vom Geschrei aller Damen, die +ihren Foma, ungefähr wie Fliegen einen Honigteller, +belagerten. Dafür geriet freilich Herr Bachtschejeff so +ziemlich in das letzte Stadium des Unwillens. +</p> + +<p> +„Malaga! Malaga will er!“ fauchte er. „Na +natürlich! Es muß doch unbedingt ein Wein sein, den +<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a> +sonst kein Mensch trinkt! Wer trinkt denn jetzt noch +Malaga, außer vielleicht so ’m Schuft wie er! Pfui! ... +Pfui! ... Aber was stehe <em>ich</em> denn hier? Was habe +<em>ich</em> denn hier zu suchen? Worauf warte <em>ich</em> denn noch?“ +</p> + +<p> +„Foma,“ hub mein Onkel an, verwirrte sich aber +bei jedem Satz, „jetzt wäre es ... wenn du dich erholt +hast und wieder mit uns zusammen ... Ich meine, ich +will nur sagen, Foma, wie du vorhin, nachdem du das +unschuldige Mädchen beleidigt hattest ...“ +</p> + +<p> +„Wo, wo ist sie, meine Unschuld?“ griff Foma sofort +das Wort auf, als phantasiere er im Fieber. „Wo +sind die goldenen Tage meiner Unschuld? Wo bist du, +meine goldene Kindheit, als ich noch schuldlos und schön +über die Wiesen dem ersten Frühlingsschmetterling nachlief? +Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld +wieder, gebt sie mir wieder zurück ...“ +</p> + +<p> +Und Foma wandte sich mit ausgestreckten Armen der +Reihe nach an alle Anwesenden, als hätte jemand von +uns seine Unschuld in der Tasche gehabt. Bachtschejeff +schien platzen zu wollen vor Wut. +</p> + +<p> +„Hört doch, was der Mensch will!“ fauchte er empört. +„Gebt ihm seine Unschuld wieder! Will er sie +etwa abküssen? Vielleicht war er auch als Knabe schon +so ein Räuber, wie jetzt! Könnte schwören, daß er’s +war!“ +</p> + +<p> +„Foma!“ ... hub mein Onkel wieder an. +</p> + +<p> +„Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die +Liebe glaubte und den Menschen liebte?“ phantasierte +Foma, „als ich den Nächsten umarmte und an seiner +Brust Tränen vergoß? Jetzt aber – wo bin ich? Wo +bin ich?“ +</p> + +<p> +<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a> +„Du bist bei uns, Foma, beruhige dich!“ rief ihm +mein Onkel zu. „Ich aber will dir jetzt folgendes sagen, +Foma ...“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie doch jetzt wenigstens schweigen wollten!“ +keuchte haßerfüllt die Perepelizyna, deren kleine +Schlangenaugen meinen Onkel böse anblitzten. +</p> + +<p> +„Wo bin ich?“ fuhr Foma fort, „wer umgibt mich +hier? Das sind ja Büffel und Stiere, die ihre Hörner +gegen mich senken! Leben, was bist du? Ach, lebe, lebe, +sei entehrt, geschmäht, gegeißelt, geschlagen, und wenn +dann dein Grab zugeschüttet ist, dann erst kommen die +Menschen zur Besinnung, und deine armen Knochen +werden von einem Monument zerdrückt!“ +</p> + +<p> +„Himmlischer Vater, jetzt kommt er noch auf sein +Monument zu sprechen!“ flüsterte Jeshowikin und schlug +die Hände zusammen. +</p> + +<p> +„Oh, errichtet mir kein Monument!“ phantasierte +Foma ohne Unterlaß weiter, „errichtet mir keines! Ich +brauche keine Monumente! Errichtet mir in Eurem +Herzen Monumente ... das ist alles ... sonst aber +verlange ich nichts, nichts, nichts!“ +</p> + +<p> +„Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, „so hör doch +jetzt auf! Beruhige dich! Es ist kein Grund vorhanden, +von Monumenten zu reden. Hör mich jetzt an ... Sieh, +Foma, ich begreife, daß du vielleicht ... sagen wir, in +edlem Feuer branntest, als du mir vorhin ... diese Vorwürfe +machtest; aber du ließest dich zu weit fortreißen, +Foma, du überschrittest jede Grenze – ich versichere +dich, du hast dich geirrt, Foma ...“ +</p> + +<p> +„Werden Sie denn nicht endlich aufhören!“ schrie +wieder die Perepelizyna, „wollen Sie denn den Unglücklichen +<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a> +ganz und gar töten, bloß weil er jetzt in Ihren +Händen ist? ...“ +</p> + +<p> +Nach dem Beispiel der Perepelizyna fuhr auch die +Generalin sofort auf, und mit ihr das ganze Gefolge: +alle winkten sie meinem Onkel wie besessen mit den +Händen zu, damit er nur endlich schweige. +</p> + +<p> +„Anna Nilowna, halten Sie gefälligst selbst den +Mund; ich weiß, was ich sage!“ fuhr mein Onkel mit +entschlossener Stimme fort. „Es handelt sich um eine +heilige Sache der Ehre und Gerechtigkeit ... Foma, ich +weiß, du bist vernünftig. Du mußt unverzüglich das +edelste Mädchen, das du beleidigt hast, um Verzeihung +bitten.“ +</p> + +<p> +„Welches Mädchen? Welches Mädchen habe ich +beleidigt?“ fragte Foma und sah sich mit verständnislosem +Blick im Kreise um, als hätte er alles vergessen, +was geschehen war, und als begreife er nicht, wovon +man sprach. +</p> + +<p> +„Ja, Foma, und wenn du jetzt freiwillig deine +Schuld eingestehst, so werde ich, das schwöre ich, dir +hier meinetwegen zu Füßen fallen und ...“ +</p> + +<p> +„Aber wen habe ich denn beleidigt?“ rief Foma +leidenschaftlich. „Welches Mädchen? Wo ist sie? Wo +ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Erinnert mich doch, +helft mir, sagt mir doch nur mit einem Wort, wer +dieses Mädchen ist! ...“ +</p> + +<p> +Da trat Nastenjka verwirrt und geängstigt zu +meinem Onkel und berührte ihn zaghaft am Ärmel. +</p> + +<p> +„Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn, es ist nicht nötig, +daß er sich entschuldigt! Wozu das alles?“ sagte sie mit +bittender, gequälter Stimme. „Lassen Sie doch!“ +</p> + +<p> +<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a> +„Ah! Jetzt besinne ich mich!“ rief plötzlich Foma +aus. „Gott! Ich besinne mich! Oh, helft mir, helft +mir, mich zu erinnern!“ flehte er, scheinbar in unbeschreiblicher +Aufregung. „Sagt mir, ist es wahr, daß +man mich von hier wie den räudigsten aller Hunde hinausgejagt +hat? Ist es wahr, daß ich vom Blitz getroffen +wurde? Ist es wahr, daß ich von hier auf die Treppe +hinausgeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das +alles wahr?“ +</p> + +<p> +Das Weinen und Gejammer der Damen war eine +beredte Antwort auf seine Frage. +</p> + +<p> +„Richtig, richtig!“ fuhr er fort, „ich entsinne mich +jetzt, daß ich nach dem Blitz und nach meinem Sturz +hergelaufen kam, verfolgt vom Donner, um hier meine +Pflicht zu erfüllen und um dann auf ewig zu verschwinden! +Erhebt mich! Wie erschöpft ich jetzt auch +bin, ich muß sie erfüllen – meine letzte Pflicht!“ +</p> + +<p> +Man faßte ihn stützend unter die Arme und hob ihn +aus dem Ruhestuhl. Er selbst nahm hierauf die Pose +eines klassischen Redners an und streckte beschwörend +seine Hand aus. +</p> + +<p> +„Oberst!“ begann er, „jetzt bin ich wieder erwacht! +Der Donner hat meine geistigen Kräfte nicht gänzlich +vernichtet: es ist zwar noch eine gewisse Taubheit in +meinem rechten Ohr vorhanden, aber die ist vielleicht +nicht so sehr auf den Donner als auf den Sturz von der +Treppe zurückzuführen ... Doch was hat das zu sagen! +Und wen geht hier das rechte Ohr Foma Opiskins +etwas an!“ +</p> + +<p> +Den letzten Worten verlieh Foma so viel traurige +Ironie und begleitete sie mit einem so wehmütigen +<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a> +Lächeln, daß das Gestöhn der gerührten Damen unwillkürlich +von neuem ertönte. Alle sahen sie mit bitterem +Vorwurf, einige aber mit wahrem Haß auf meinen +armen Onkel, der sich allmählich, beim Anblick eines so +einmütigen Urteils, wie vernichtet zu fühlen begann. +Misintschikoff spie heimlich aus vor Wut und trat ans +Fenster. Bachtschejeff versetzte mir immer stärker werdende +Rippenstöße: er konnte sich wirklich nicht mehr +ruhig verhalten, der arme Dicke! +</p> + +<p> +„Jetzt hören Sie alle meine Beichte!“ hub Foma +mit erhöhter Stimme an und ließ stolz und entschlossen +seinen Blick über die ganze Versammlung schweifen, +„und gleichzeitig entscheiden Sie, Jegor Iljitsch, über +das Schicksal des unglücklichen Foma Opiskin! Schon +lange habe ich Sie beobachtet, habe ich Sie bangen Herzens +beobachtet und alles bemerkt, alles, während Sie +noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete. +Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt, aber ich kannte +Ihren Egoismus, Ihre unbegrenzte Eigenliebe, Ihre +schreckliche Wollüstigkeit, und – wer wird mich deshalb +verdammen können, daß ich unwillkürlich für die Ehre +des unschuldigsten Wesens erzitterte?“ +</p> + +<p> +„Foma! ... Foma! ...“ fiel ihm mein Onkel ins +Wort, da er mit Unruhe den gequälten Ausdruck in +Nastenjkas Gesicht gewahrte. +</p> + +<p> +„Nicht so sehr die Unschuld und die Vertrauenswürdigkeit +dieses Mädchens ängstigten mich als gerade +ihre Unerfahrenheit,“ fuhr Foma fort, als hätte er die +Warnung meines Onkels überhaupt nicht gehört. „Ich +sah, wie ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen erwachte +und erblühte, gleich der Frühlingsrose, und ich dachte +<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a> +unwillkürlich an Petrarca, der da sagt: ‚Die Unschuld +ist so oft nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt.‘ +Ich seufzte und litt, und wenn ich auch für dieses Mädchen, +das rein wie eine Perle, wie ein kostbarer Edelstein +ist, mein ganzes Blut als Bürgschaft hingegeben hätte +– wer aber hätte mir für Sie gebürgt, Jegor Iljitsch? +Da ich das zügellose Streben Ihrer Leidenschaften +kannte, da ich wußte, daß Sie für deren kurze Befriedigung +alles zu opfern bereit sind, – so versenkte ich +mich plötzlich in einen Abgrund des Entsetzens und der +Befürchtungen bezüglich des Schicksals dieses edelsten +aller Mädchen ...“ +</p> + +<p> +„Foma! Wie hast du das nur denken können!“ rief +mein Onkel erregt aus. +</p> + +<p> +„Mit schmerzendem Herzen habe ich Sie beobachtet. +Wenn Sie wissen wollen, wie ich gelitten habe, fragen +Sie Shakespeare: er wird Ihnen in seinem ‚Hamlet‘ von +meinem Seelenzustande erzählen. Ich wurde argwöhnisch +und unerträglich. In meiner Unruhe, in +meinem Unwillen sah ich alles schwarz, aber, das war +nicht dieses ‚Schwarz‘, von dem in der bekannten Romanze +die Rede ist, das können Sie mir glauben. Deshalb +hegte ich auch den Wunsch, <em>sie</em> aus diesem Hause +zu entfernen: ich wollte sie retten. Dies war der eigentliche +Grund, weshalb Sie mich in der letzten Zeit so +gereizt und mit der ganzen Menschheit zerfallen gesehen +haben. Oh! wer wird mich jetzt mit dieser Menschheit +wieder aussöhnen? Ich fühle, daß ich vielleicht anmaßend +und ungerecht zu Ihren Gästen, zu Ihrem +Neffen, zu Herrn Bachtschejeff gewesen bin, indem ich +von ihm Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer +<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a> +kann mich wegen meines damaligen Seelenzustandes +tadeln? Ich berufe mich nochmals auf Shakespeare und +sage, daß die Zukunft mir wie ein finsterer Abgrund von +unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grunde ein Krokodil +lag. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, das +Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, daß ich dazu +gesandt war, – doch was geschah? Sie begriffen die +edelsten Beweggründe meiner Seele nicht und zahlten +mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit, Undankbarkeit, +Spott, Erniedrigungen ...“ +</p> + +<p> +„Foma! Wenn es so ist ... ich fühle ...“ unterbrach +ihn mein Onkel in unsäglicher Erregung. +</p> + +<p> +„Wenn Sie tatsächlich etwas fühlen, Oberst, so seien +Sie so gut und lassen Sie mich zu Ende sprechen, ohne +mich zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze +Schuld bestand folglich darin, daß ich mich gar zu sehr +um das Schicksal und das Glück dieses Kindes sorgte, – +denn sie ist ja noch ein Kind im Vergleich zu Ihnen. +Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser +Zeit fast zu einem Dämon des Argwohns und Zornes. +Ich wäre fähig gewesen, mich auf die Menschen zu +stürzen und sie zu zerreißen. Und wissen Sie auch, +Jegor Iljitsch, daß ein jeder Ihrer Schritte meinen Argwohn +noch bestärkte und mich von der Richtigkeit aller +meiner Befürchtungen überzeugte? Wissen Sie auch, +daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Golde überschütteten, +um mich auf diese Weise los zu werden, bei +mir im stillen dachte: ‚Er will in mir, in meiner Person +sein eigenes Gewissen entfernen, um dann bequemer das +Verbrechen begehen zu können ...‘“ +</p> + +<p> +„Foma! Aber Foma ... Hast du das wirklich +<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a> +gestern gedacht?“ rief mein Onkel entsetzt aus. „Gott, +und ich habe nichts geahnt!“ +</p> + +<p> +„Der Himmel selber flößte mir diesen Argwohn +ein,“ fuhr Foma fort. „Und sagen Sie doch: was mußte +ich denken, als der blinde Zufall mich noch am selben +Abend zu jener Bank im Garten führte, was mußte ich +fühlen, – o Gott! – als ich endlich mit eigenen Augen +sah, daß alle meine Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiteten +und mir in der glänzendsten Weise recht gaben? +Mir blieb nur noch eine Hoffnung, eine schwache, allerdings, +aber es war doch immerhin eine Hoffnung! Und +was mußte ich erleben?! Heute morgen zerstörten Sie +sie selbst zu Schutt und Trümmer! Sie sandten mir +Ihren Brief. Sie sprachen von der Absicht, sie zu heiraten, +und Sie flehten mich an, von dem Gesehenen +nichts verlauten zu lassen ... ‚Aber weshalb,‘ dachte ich, +‚weshalb hat er mir denn gerade jetzt geschrieben, nachdem +ich ihn bereits überrascht habe, warum nicht früher? +Weshalb ist er nicht früher eilends zu mir gekommen, +glücklich und schön – denn die Liebe verschönt das +Gesicht –, weshalb hat er sich nicht in meine Arme geworfen, +warum ist er nicht an meiner Brust in Tränen +grenzenlosen Glücks ausgebrochen, und weshalb hat er +mir nicht alles, alles gestanden?‘ Oder bin ich ein +Krokodil, das Sie nur verschlungen, nicht aber Ihnen +einen klugen Rat gegeben haben würde? Oder bin ich +irgendein widerliches Insekt, das Sie nur gebissen, +nicht aber Ihnen zu Ihrem Glück verholfen haben +würde? ‚Bin ich sein Freund, oder bin ich ein ekelhaftes +Gewürm?‘ Das war die Frage, die ich heute +morgen an mich stellte! ‚Und wozu schließlich,‘ dachte +<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a> +ich, ‚wozu hat er aus der Hauptstadt einen Neffen hergerufen +und mit diesem Mädchen verlobt, wenn nicht, +um sowohl uns wie den leichtsinnigen Neffen zu betrügen +und inzwischen heimlich die verbrecherischste aller +Absichten auszuführen?‘ Nein, Oberst, wenn jemand +mich in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre Liebe verbrecherisch +ist, so sind Sie es selbst, und nur Sie allein! +Ja, Sie sind auch vor diesem Mädchen ein Verbrecher; +denn durch Ihre Ungeschicklichkeit und Ihr eigensüchtiges +Mißtrauen haben Sie sie der Verleumdung und häßlichem +Argwohn preisgegeben!“ +</p> + +<p> +Mein Onkel schwieg, den Kopf gesenkt. Die Beredsamkeit +Fomas behielt offenbar die Oberhand; denn +mein Onkel wagte nichts mehr zu entgegnen und gab +damit eigentlich schon zu, daß er der „große Verbrecher“ +sei. Die Generalin und ihre Freundinnen hatten stumm +und andächtig Fomas Rede angehört; die Perepelizyna +blickte mit schadenfrohem Triumph auf die arme Nastenjka. +</p> + +<p> +„Bestürzt, erregt, halbtot,“ fuhr Foma fort, „schloß +ich mich heute ein und betete, daß Gott mich erleuchte! +Endlich beschloß ich, Sie zum letzten Male und öffentlich +zu prüfen. Vielleicht habe ich mich mit gar zu großem +Eifer darangemacht, vielleicht habe ich mich gar zu sehr +meinem Unwillen hingegeben! Doch für meine edelsten +Absichten warfen Sie mich zur Tür hinaus! Noch als +ich aus der Türe flog, dachte ich bei mir: ‚Sieh, so wird +in der Welt die Tugend belohnt!‘ Hieran schlug ich +auf die Erde, und was weiter mit mir geschah – dessen +entsinne ich mich kaum noch.“ +</p> + +<p> +Gestöhn und Wehklagen unterbrachen Foma bei +<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a> +dieser tragischen Erinnerung. Die Generalin stürzte +mit der Flasche Malaga, die sie vor einer Minute der +zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand +gerissen hatte, zu Foma; dieser jedoch wies mit majestätischer +Handbewegung die Flasche samt der Generalin +zurück. +</p> + +<p> +„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß beenden. +– Was nach meinem Sturz geschah – ich weiß es +nicht. Ich weiß nur eines, daß ich jetzt, durchnäßt und +der Gefahr einer Influenza ausgesetzt, hier stehe, um +Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen +Anzeichen, die ich jetzt nicht weiter erklären will, habe +ich schließlich die Überzeugung gewonnen, daß Ihre +Liebe rein und sogar erhaben ist. Und wenn auch +gleichzeitig von einem geradezu verbrecherischen Mißtrauen +gemartert, erniedrigt, der Beleidigung eines +ehrenhaften Mädchens verdächtigt, desselben Mädchens, +für das ich wie ein mittelalterlicher Ritter mein Blut +bis auf den letzten Tropfen hingegeben hätte, entschließe +ich mich nunmehr, Ihnen zu zeigen, wie Foma Opiskin +sich für ihm zugefügte Beleidigungen rächt. Geben Sie +mir Ihre Hand, Oberst!“ +</p> + +<p> +„Mit Vergnügen, Foma!“ rief mein Onkel aus. +„Und da du dich jetzt deutlich über die Ehre des ehrenwertesten +Mädchens ausgesprochen hast, so ... hier +ist meine Hand, Foma, und gleichzeitig gestehe ich dir +meine aufrichtige Reue ...“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel reichte ihm von ganzem Herzen +die Hand, ohne zu ahnen, was daraus entstehen +sollte. +</p> + +<p> +„Geben Sie mir auch Ihre Hand,“ fuhr Foma +<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a> +mit milder Stimme fort, indem er sich durch den Kreis +der ihn umgebenden Damen an Nastenjka wandte. +</p> + +<p> +Nastenjka erschrak, verwirrte sich und blickte schüchtern +zu Foma hinüber. +</p> + +<p> +„Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Kind! +Das ist unbedingt notwendig zu Ihrem Glück,“ fuhr +Foma freundlich fort, während er immer noch die Hand +meines Onkels in der seinen hielt. +</p> + +<p> +„Was mag er wollen?“ fragte Misintschikoff leise. +</p> + +<p> +Nastjä näherte sich schließlich, noch immer erschrocken +und ängstlich, Foma Fomitsch und reichte ihm +zaghaft ihr Händchen. +</p> + +<p> +Foma nahm dieses Händchen und legte es in die +Hand meines Onkels. +</p> + +<p> +„<em>Ich vereinige und segne euch!</em>“ sagte +er mit der feierlichsten Stimme. „Und wenn der Segen +eines vom Leid erdrückten Märtyrers euch Nutzen +bringen kann, so seid glücklich! Nun seht ihr, wie sich +Foma Opiskin rächt! Hurra!“ +</p> + +<p> +Wir waren sprachlos. Diese Lösung kam so unerwartet, +daß niemand sie verstand. Die Generalin glich +einer Salzsäule mit einer Flasche Malaga in der Hand. +Die Perepelizyna erbleichte und erzitterte vor Wut. +Das übrige Gefolge schlug die Hände über dem Kopf +zusammen und erstarrte in dieser Stellung. Mein Onkel +fuhr zusammen und wollte etwas sagen, brachte aber +kein Wort hervor. Nastjä war blaß wie eine Tote und +stammelte zwar ein „aber das geht doch nicht ...“ – +aber jetzt war es zu spät. Bachtschejeff war der erste +– man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen –, +der in Fomas Hurra einstimmte, nach ihm ich, nach +<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a> +mir Ssaschenjka mit allem Jubel ihrer hellen Kinderstimme. +Zugleich eilte sie zum Vater und umarmte und +küßte ihn –, dann Iljuscha, dann Jeshowikin, und zum +Schluß auch Misintschikoff. +</p> + +<p> +„Hurra!“ schrie noch einmal Foma, „hurra! Und +jetzt auf die Knie, meine Herzenskinder, auf die Knie +vor der zärtlichsten der Mütter! Bittet um ihren Segen, +und wenn es nötig ist, werde ich selbst mit euch vor +ihr niederknien ...“ +</p> + +<p> +Mein Onkel und Nastjä, die einander noch nicht +angesehen hatten und im ersten Schreck wahrscheinlich +noch gar nicht begriffen, was mit ihnen geschah, knieten +sogleich vor der Generalin nieder: die übrigen gruppierten +sich um sie herum. Die Generalin stand wie betäubt, +rührte sich nicht und schien nicht begreifen zu +können, was sie tun sollte. Doch da half Foma: er +kniete in eigener Person vor seiner Gönnerin nieder, +was diese im Augenblick zur Besinnung brachte. Sie +brach in Tränen aus und sagte, daß sie einverstanden +sei. Der Oberst sprang auf und preßte Foma an seine +Brust. +</p> + +<p> +„Foma! ... Foma!“ rief er aus, doch seine Stimme +versagte. +</p> + +<p> +„Champagner!“ rief Herr Bachtschejeff. „Hurra!“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht Champagner,“ unterbrach ihn die Perepelizyna, +die inzwischen schon Zeit gehabt hatte, sich zu +besinnen, sich die Sachlage zu überlegen und gleichzeitig +auch die Folgen zu berechnen, – „jetzt muß man Gott +ein Licht anzünden, vor dem Heiligenbilde beten und +mit dem Heiligenbilde das Brautpaar segnen, wie alle +Gottesfürchtigen es tun ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a> +Sofort beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zu +befolgen. Alles lief kreuz und quer. Zuerst mußte das +Licht angezündet werden. Herr Bachtschejeff zog einen +Stuhl herbei, stellte ihn vor das Heiligenbild und kletterte +höchst eigen hinauf, um das Licht einzusetzen. Der +Stuhl jedoch war nicht für eine solche Last gedacht: er +krachte in allen Fugen, und Herr Bachtschejeff rettete +nur mit Mühe und Not sein Gleichgewicht. Doch ohne +sich im geringsten über seinen Mißerfolg zu ärgern, trat +er den Platz sofort höflich der Perepelizyna ab. Die +dünne Jungfer erledigte die Sache denn auch im Augenblick: +das Licht brannte. Und wie die Perepelizyna, so +bekreuzte sich und verneigte sich das ganze Gefolge bis +zur Erde. Hierauf wurde das Heiligenbild der Generalin +gereicht. Der Oberst und Nastenjka knieten nochmals +vor ihr nieder, und die Zeremonie vollzog sich unter +gottesfürchtigen Vorhaltungen der Perepelizyna, die zu +jedem ihrer Worte Unterweisungen hinzufügte: „Knien +Sie jetzt nieder, küssen Sie jetzt das Heiligenbild, küssen +Sie der Mutter die Hand!“ Nach den Verlobten hielt +es auch Herr Bachtschejeff für seine Pflicht, das Heiligenbild +zu küssen, worauf er die Hand der Generalin +an die Lippen führte. Er befand sich mit einem Male +in unbeschreiblicher Begeisterung. +</p> + +<p> +„Hurra!“ schrie er immer von neuem. „Aber jetzt +Champagner!“ +</p> + +<p> +Übrigens waren alle begeistert. Die Generalin +weinte, doch waren es diesmal Tränen der Freude: die +Verbindung, die Foma gesegnet hatte, wurde in ihren +Augen ohne weiteres sowohl heilig wie auch möglich, +und vor allen Dingen fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich +<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a> +ausgezeichnet hatte und jetzt ganz sicher wieder bei +ihr bleiben werde. Auch ihr Gefolge teilte – wenigstens +äußerlich – die allgemeine Begeisterung. Mein Onkel +ging bald zu seiner Mutter, um ihre Hände zu küssen; +bald umarmte er mich, Bachtschejeff, Misintschikoff und +Jeshowikin. Seinen Iljuscha hätte er um ein Haar erdrückt +in seinen Armen. Ssaschenjka hing sich an +Nastenjka und küßte sie unaufhörlich. Praskowja Iljinitschna +weinte still. Als Herr Bachtschejeff das bemerkte, +ging er zu ihr hin und küßte ihr die Hand. +Der alte Jeshowikin wischte sich, in die entfernteste Ecke +zurückgezogen, mit einem Zipfel seines karierten +Schnupftuches gleichfalls Tränen aus den Augen. In +der anderen Ecke schluchzte Gawrila und sah andächtig +zu Foma Fomitsch auf. Falalei aber brüllte herzbrechend +vor lauter Rührung, trat zu jedem Anwesenden und +küßte ihm die Hand. Alle flossen über vor lauter Gefühl. +Niemand vermochte zu sprechen. Niemand dachte +an Erklärungen. Es schien alles schon gesagt zu sein. +Nur freudige Ausrufe wurden laut. Im Grunde begriff +zwar noch keiner so recht, was und wie es eigentlich +geschehen war. Man wußte nur das eine: daß +Foma Fomitsch alles getan und geordnet hatte, und daß +eine unwiderrufliche Tatsache vor einem stand. +</p> + +<p> +Noch waren keine fünf Minuten des allgemeinen +Glücks vergangen, als plötzlich auch Tatjana Iwanowna +erschien. Durch wen, durch welchen Spürsinn mochte +sie oben in ihrem Zimmer Kunde von der Verlobung +erhalten haben? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen +in den Augen und in bezaubernd eleganter +Toilette – sie hatte inzwischen doch Zeit und Lust dazu +<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a> +gehabt, sich umzukleiden – erschien sie in der Tür und +flatterte wie eine Schwalbe zu Nastenjka, die sie krampfhaft +in ihre Arme schloß. +</p> + +<p> +„Nastenjka, Nastenjka! Du hast ihn geliebt, ich +aber habe es nicht einmal gewußt!“ rief sie aus. +„O Gott! Sie haben sich geliebt, sie haben heimlich gelitten, +ohne daß jemand es gewußt hätte! Man hat sie +verfolgt! Welch ein Roman! Nastjä, mein Täubchen, +sag mir die ganze Wahrheit: liebst du denn wirklich +diesen – Toren?“ +</p> + +<p> +Statt einer Antwort umarmte Nastjä sie und küßte +sie auf den Mund. +</p> + +<p> +„O Gott, welch ein entzückender Roman!“ Tatjana +Iwanowna klatschte in die Hände vor Freude. Hör, +Nastjä, hör, mein Engel: alle diese Männer, alle bis +auf den letzten sind sie undankbare Unmenschen, Ungeheuer +und unserer Liebe nicht wert. Er aber ist vielleicht +noch der beste von ihnen. „Komm her zu mir, du Tor!“ +rief sie plötzlich meinem Onkel zu, sich an ihn wendend, +und sie erfaßte seine Hand, um ihn zu sich zu ziehen. +„Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu +lieben? Sieh mich an: ich will dir in die Augen sehen, +ich will sehen, ob diese Augen lügen ... Nein, nein, +sie lügen nicht – in ihnen leuchtet wahre Liebe. Oh, +wie glücklich ich bin! Nastenjka, meine Freundin, hör +mich an: du bist nicht reich – ich schenke dir dreißig +Tausend. Nimm sie, um Christi willen! – ich bitte +dich! Ich brauche sie nicht, ich habe sie nicht nötig! Es +bleibt mir ja noch genug! Nein, nein, nein!“ wehrte sie +heftig, als sie sah, daß Nastjä das Geschenk nicht annehmen +wollte. „Schweigen Sie, Jegor Iljitsch, das +<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a> +geht Sie nichts an. Nein, Nastjä, ich habe es so beschlossen +– sie dir zu schenken. Ich wollte dir immer +schon ein Geschenk machen, aber ich wartete auf deine +erste Liebe ... Und nun werde ich euer Glück sehen und +mich mitfreuen. Du wirst mich kränken, wenn du es +nicht annimmst, ich werde weinen, Nastjä ... Nein, +nein, nein und nein, du darfst mir die Bitte nicht abschlagen!“ +</p> + +<p> +Tatjana Iwanowna war so glücklich, daß man ihr +– wenigstens in diesem Augenblick – unmöglich ihre +Bitte und ihr Geschenk abschlagen konnte: sie hätte +einem zu leid getan. So tat man es denn auch vorläufig +nicht ... man schob es auf. Darauf fiel sie der +alten Generalin um den Hals, küßte sie, küßte die Perepelizyna +– küßte alle. Bachtschejeff drängte sich in der +höflichsten Weise zu ihr durch und bat sie, ihr die Hand +küssen zu dürfen. +</p> + +<p> +„Du mein Mütterchen, mein Täubchen! Verzeih +mir altem Dummkopf, was auf der Rückfahrt geschah +– ich kannte doch dein goldenes Herz noch +nicht!“ +</p> + +<p> +„Ach, Sie Tor! Ich aber kenne Sie schon lange!“ +sagte Tatjana Iwanowna mit schelmischer Koketterie, +schlug Stepan Alexejewitsch mit dem Batisttüchelchen +auf die Nase und flatterte wie eine Nixe davon, während +ihr prächtiges Kleid ihn streifte. +</p> + +<p> +Der Dicke trat ehrerbietig zurück. +</p> + +<p> +„Ein vortreffliches Mädchen!“ sagte er gerührt. +„Aber dem Deutschen ist ja die Nase wieder angeklebt +worden!“ flüsterte er mir vertrauensvoll zu und sah mir +froh in die Augen. +</p> + +<p> +<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a> +„Was für eine Nase? Welch einem Deutschen?“ +fragte ich verständnislos. +</p> + +<p> +„Na, dem verschriebenen doch, der seiner Dame das +Händchen küßt, während diese sich eine Träne mit dem +Schnupftuch aus dem Auge wischt. Mein Jewdokim +hat sie ihm noch gestern zu Haus angeleimt. Als wir +aber vorhin von der Jagd zurückkamen, schickte ich einen +reitenden Boten ... Bald wird er hier sein. Ein +großartiges Ding, sag’ ich Ihnen!“ +</p> + +<p> +„Foma!“ rief mein Onkel in fassungsloser Begeisterung +aus, „du bist der Urheber meines Glücks! Womit +kann ich es dir vergelten?“ +</p> + +<p> +„Mit nichts, Oberst,“ sagte Foma mit einer Asketenmiene. +„<em>Fahren Sie fort, mir keine +Beachtung zu schenken</em>, und seien Sie glücklich +ohne Foma.“ +</p> + +<p> +Er fühlte sich offenbar verletzt – während des +großen Gefühlsüberschwanges schien man ihn, und wenn +auch nur einen Augenblick, beinahe vergessen zu haben. +</p> + +<p> +„Das war ja nur die übergroße Seligkeit, Foma!“ +rief mein Onkel aus. „Ich ... weiß kaum noch, wo ich +bin, Freund! Höre, Foma: ich habe dich beleidigt. +Mein ganzes Leben, all mein Blut würde nicht ausreichen, +um diese Beleidigung wieder gutzumachen, +und deshalb schweige ich lieber und versuche gar nicht, +meine Tat zu entschuldigen. Wenn du aber jemals +meines Kopfes, meines Lebens bedarfst, wenn jemand +sich für dich in einen Abgrund stürzen muß, so befiehl +nur, und du wirst sehen ... Ich sage nichts weiter, +Foma!“ +</p> + +<p> +Und mein Onkel machte nur eine Handbewegung, +<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a> +da er die Unmöglichkeiten, in Worten noch etwas hinzuzufügen, +das seinen Gedanken stärker ausdrücken +könnte, vollkommen einsah. Dann blickte er Foma mit +dankbaren, feucht schimmernden Augen an. +</p> + +<p> +„Jetzt sieht man erst, was für ein Engel er ist!“ +flötete honigsüß die Perepelizyna – bereit, Foma anzubeten. +</p> + +<p> +„Ja, ja!“ stimmte ihr Ssaschenjka bei. „Ich wußte +gar nicht, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch +– und ich war so ungezogen zu Ihnen. Verzeihen +Sie mir, Foma Fomitsch, und glauben Sie mir, +daß ich Sie von ganzem Herzen lieben werde. Wenn +Sie wüßten, wie ich Sie jetzt achte!“ +</p> + +<p> +„Foma!“ sagte Herr Bachtschejeff, „verzeih auch +mir. Ich war dumm. Ich kannte dich nicht, ich kannte +dich wahrhaftig nicht! Du, Foma Fomitsch, du bist +nicht nur ein Gelehrter, sondern einfach – ein Held! +Mein ganzes Haus steht dir zur Verfügung. Komm +nur. Am besten aber, weißt du, komm gleich übermorgen +zu mir; aber selbstverständlich lade ich auch die +Braut und den Bräutigam ein ... Jawohl! – das +ganze Haus zu mir! Dann wollen wir mal speisen – +ich will nichts vorher loben, nur eines schicke ich voraus: +bloß Vogelmilch kann ich euch nicht vorsetzen! Darauf +gebe ich mein Wort!“ +</p> + +<p> +Währenddessen war Nastenjka zu Foma Fomitsch +getreten und hatte ihn, ohne viel zu reden, umarmt und +herzlich geküßt. +</p> + +<p> +„Foma Fomitsch,“ sagte sie, „Sie sind unser Wohltäter, +Sie haben so viel für uns getan, daß ich nicht +weiß, wie ich es Ihnen entgelten soll ... Ich weiß nur, +<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a> +daß ich Ihnen die liebevollste und ehrerbietigste Schwester +sein will ...“ +</p> + +<p> +Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf +die Stirn und war sehr gerührt. +</p> + +<p> +„Meine Kinder, Kinder meines Herzens!“ sagte er. +„Lebt, blüht, und in den Stunden des Glücks gedenkt +bisweilen auch des armen Ausgestoßenen! Von mir +aber sage ich, daß Unglück vielleicht die Mutter der +Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein +sonst leichtfertiger Schriftsteller, der aber mitunter gute +Gedanken hat. Ausgestoßen werden – ist Unglück! +Als unsteter Wanderer werde ich jetzt mit meinem +Wanderstabe des Weges ziehen und – wer weiß? – +durch mein Unglück vielleicht immer noch tugendreicher +werden! Dieser Gedanke ist der einzige mir noch verbliebene +Trost!“ +</p> + +<p> +„Aber ... wohin willst du denn gehen, Foma?“ +fragte mein Onkel erschrocken. +</p> + +<p> +Alle zuckten zusammen und richteten ihre Blicke auf +Foma. +</p> + +<p> +„Kann ich denn nach der mir zugefügten Kränkung +noch in diesem Hause bleiben, Oberst?“ fragte Foma +mit ungeheurer Würde. +</p> + +<p> +Man ließ ihn nicht weitersprechen: ein wahrer +Tumult erhob sich und verschlang jedes gesprochene +Wort. Er wurde wieder in seinen Sessel gesetzt, wurde +angefleht und beweint, und ich weiß nicht, was noch +alles mit ihm getan wurde. Natürlich hatte er diesmal +ebensowenig die Absicht, „dieses Haus“ zu verlassen, +wie vor seinem Flug durch die Glastür oder wie am +Abend vorher oder wie damals, als er im Gemüsegarten +<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a> +alle Rüben umgrub. Er wußte genau, daß man sich jetzt +erst recht an ihn klammern werde, – gerade jetzt, nachdem +er alle glücklich gemacht hatte, alle von neuem an +ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu +tragen und sich das noch zur Ehre anzurechnen. Wahrscheinlich +war es seine feige Rückkehr – die sehr aus +eigenem Antriebe geschehen war, als das Gewitter ihn +erschreckt hatte – die nun seinen Ehrgeiz anstachelte +und ihn trieb, den Helden zu spielen. In der Hauptsache +aber war es natürlich die Versuchung, einen +erhabenen Menschen darzustellen, – die war denn doch +zu groß! Man konnte so schön reden, das eigene Unglück +ausmalen, sich selbst erheben und loben – wie sollte +man da der Versuchung widerstehen? Und so widerstand +er ihr denn auch nicht: er wollte sich aus den +Armen der ihn Zurückhaltenden reißen, verlangte einen +Wanderstab, bat sogar, ihm seine Freiheit wiederzugeben, +ihn seines Weges ziehen zu lassen: in „diesem Hause“ +sei er entehrt und geschlagen worden, er sei nur aus +dem Grunde zurückgekehrt, um erst noch das Glück der +Zurückgebliebenen zu schaffen – wie könne er „im +Hause der Undankbarkeit“ bleiben? Wie könne er „am +selben Tische mit ihnen Kohl – wenn auch fettgekochten +– zu essen fortfahren“? Kohl, der „mit Schlägen gewürzt“ +war? Endlich ließ er sich besänftigen. Er wurde +wieder in seinen Ruhestuhl gesetzt – doch seine Beredsamkeit +hatte, wie sich zeigte, auch jetzt noch nicht ihr +Ende erreicht. +</p> + +<p> +„Hat man mich denn hier nicht beleidigt?“ rief er +aus. „Hat man mir hier nicht die Zunge gezeigt? +Haben denn nicht Sie, Sie selbst, Oberst, wie die ungezogenen +<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a> +Kinder in den Vorstadtstraßen mir täglich, +stündlich die Faust gezeigt? Ja, Oberst! Ich bestehe +auf diesem Vergleich, weil Sie mir diese Faust, wenn auch +nicht physisch, so doch moralisch gezeigt haben. Eine +moralische Faust ist aber in manchen Fällen sogar kränkender +als eine physische. Von den Schlägen ganz zu +schweigen ...“ +</p> + +<p> +„Foma! ... Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel. +„Martere mich nicht mit dieser Erinnerung! Ich habe +dir gesagt, daß all mein Blut nicht genügen würde, um +die Tat vergessen zu machen. Sei doch großmütig! Vergiß, +vergib, bleibe hier und freue dich an unserem Glück! +Es ist dein Werk, Foma ...“ +</p> + +<p> +„... Ich will lieben, ich will den Menschen lieben,“ +redete Foma unaufhaltsam weiter; „man gibt ihn mir +aber nicht, man verbietet mir, ihn zu lieben, man nimmt +ihn mir fort, den Menschen! Gebt mir, gebt mir den +Menschen, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser +Mensch? Wo hat er sich versteckt dieser Mensch? Wie +Diogenes suche ich ihn mit der Laterne, suche ihn mein +ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden ... und +kann doch keinen anderen lieben, bevor ich nicht diesen +Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zum +Menschenhasser gemacht hat! Da rufe ich nun: Gebt mir +den Menschen, auf daß ich ihn lieben kann, und man +schiebt mir Falalei zu! Werde ich denn einen Falalei +jemals lieben können? Will ich denn Falalei lieben? +Kann ich denn Falalei überhaupt lieben, selbst wenn ich +es <em>wollte</em>? Nein!! Und warum nicht? Weil er +Falalei ist. Warum liebe ich nicht die ganze Menschheit? +Weil alles, was es auf der Welt gibt – Falalei ist +<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a> +oder Falalei ähnlich ist. Ich will keinen Falalei, ich +hasse Falalei, ich speie auf Falalei, ich werde Falalei +erwürgen, und wenn ich wählen soll, so werde ich eher +Asmodei lieben als Falalei! Komm, komm her, du mein +ewiger Peiniger, komm her!“ rief er plötzlich dem armen +Falalei zu, der sich mit dem unschuldigsten Gesicht der +Welt hinter der Foma umgebenden Schar auf die Fußspitzen +erhob und mit langgerecktem Hals über die +Schultern der anderen lauerte. „Komm her! Ich werde +Ihnen beweisen, Oberst,“ eiferte Foma und zog den vor +Schreck fast bewußtlosen Falalei an der Hand zu sich +heran, „ich werde Ihnen die Wahrheit meiner Worte +über den ewigen Spott und die Beleidigungen beweisen! +Sprich, Falalei, und sage die Wahrheit: wovon hat dir +heute nacht geträumt? Sie werden sehen, Oberst, Sie +werden Ihre Früchte sehen! Nun, Falalei, sprich!“ +</p> + +<p> +Der arme Knabe blickte sich zitternd vor Angst im +Kreise um und suchte einen Retter in einem von uns, +doch alle zitterten nur gleich ihm und harrten mit Bangen +der Antwort. +</p> + +<p> +„Sprich, Falalei, ich warte!“ +</p> + +<p> +Statt einer Antwort zog Falalei das Gesicht kraus, +sperrte langsam den Mund auf und brüllte dann los wie +ein junges Kalb. +</p> + +<p> +„Oberst! Sehen Sie diesen Eigensinn? Halten Sie +ihn wirklich für natürlich? Zum letztenmal wende ich +mich an dich, Falalei, – antworte: wovon hat dir heute +nacht geträumt?“ +</p> + +<p> +„Von ...“ +</p> + +<p> +„Sag von mir!“ raunte ihm Bachtschejeff ins +eine Ohr. +</p> + +<p> +<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a> +„Von Euren Tugenden!“ raunte ihm Jeshowikin ins +andere Ohr. +</p> + +<p> +Falalei sah sich bloß um. +</p> + +<p> +„Von ... von einer Ku– ... von einer weißen +K ... u ... h“ brüllte er schließlich, und ein Strom +von Tränen ergoß sich über seine roten Backen. +</p> + +<p> +Alles stöhnte auf. +</p> + +<p> +Foma Fomitsch jedoch war diesmal von ganz ungewöhnlicher +Großmut. +</p> + +<p> +„Wenigstens sehe ich deine Aufrichtigkeit, Falalei,“ +sagte er, „eine Aufrichtigkeit, die ich bei den anderen +nicht wahrzunehmen vermag. Gott mit dir! Wenn du +mich absichtlich mit diesem Traum verspottest, auf Grund +der Einflüsterung anderer, so wird Gott sowohl dich wie +diese anderen dafür heimsuchen. Wenn du mich jedoch +nicht verspotten willst, dann achte ich wenigstens deine +Aufrichtigkeit; denn selbst in der niedrigsten aller +Kreaturen, selbst in dir bin ich Gottes Ebenbild zu sehen +gewohnt ... Ich verzeihe dir, Falalei! Meine Kinder, +umarmt mich! Ich bleibe! ...“ +</p> + +<p> +„Er bleibt!“ rief alles begeistert aus. +</p> + +<p> +„Ich bleibe und verzeihe! Oberst, belohnen Sie Falalei +mit Zucker. Mag auch er an einem solchen +Freudentage nicht traurig sein!“ +</p> + +<p> +Eine solche Großmut erschien geradezu wunderbar! +<em>So</em> sich zu sorgen und das noch dazu in einer <em>solchen</em> +Stunde, und um wen? – um Falalei! +</p> + +<p> +Mein Onkel beeilte sich, dem Befehl sofort nachzukommen. +Und schon erschien eine Zuckerdose in Praskowja +Iljinitschnas Händen. Mein Onkel nahm zuerst +zwei Stücke, dann drei, ließ sie in der Aufregung fallen, +<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a> +und da er schließlich einsah, daß er mit seinen zitternden +Händen nichts machen konnte, so nahm er einfach die +Dose und schüttete den ganzen Inhalt Falalei in die +Bluse. +</p> + +<p> +„Ach! Zur Feier eines solchen Tages! Halt fest, +Falalei ... Das ist für deine Aufrichtigkeit,“ fügte er +noch als „Moral“ hinzu. +</p> + +<p> +Da erschien plötzlich Widopljässoff in der Tür und +meldete: „Herr Korowkin!“ +</p> + +<p> +Alle waren überrascht. Der Besuch Korowkins kam +gerade in diesem Augenblick äußerst ungelegen. Alle +sahen fragend meinen Onkel an. +</p> + +<p> +„Korowkin!“ rief er etwas bestürzt aus. „Natürlich, +es freut mich ...“ fügte er mit scheuem Blick auf +Foma hinzu; „nur weiß ich nicht, soll ich ihn jetzt, in +diesem Augenblick herbitten lassen ...? Was meinst +du, Foma?“ +</p> + +<p> +„Oh, nichts!“ sagte Foma gnädig, „fordern Sie den +Korowkin nur auf, einzutreten, mag er an dem allgemeinen +Glück teilnehmen.“ +</p> + +<p> +Kurz, Foma Fomitsch war die Güte selbst. +</p> + +<p> +„Wage untertänigst zu melden,“ bemerkte Widopljässoff, +„daß Herr Korowkin sich nicht in Ihrem gewöhnlichen +Zustande zu befinden geruhen.“ +</p> + +<p> +„Was? Was faselst du da?“ fuhr mein Onkel erschrocken +auf. +</p> + +<p> +„Zu Befehl: der Herr befinden sich nicht in nüchternem +Zustande ...“ +</p> + +<p> +Doch noch bevor mein Onkel den Mund auftun, +erröten, erschrecken und sich besinnen konnte, fand das +Rätsel schon seine Lösung: in der Tür erschien Herr +<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a> +Korowkin in höchsteigener Person, schob den Diener mit +der Hand zur Seite und trat vor das verwunderte +Publikum. +</p> + +<p> +Es war ein mittelgroßer, dicker Herr von vierzig +Jahren, mit dunklem, über den Kamm geschnittenem, +grau untermischtem Haar, mit kleinen, geröteten +Augen, einem roten, runden Gesicht, einer billigen +Krawatte, die hinten mit einer Gummistrippe schloß, +und in einem ungewöhnlich abgetragenen Frack, mit +dem er im Heu und auf der Erde gelegen zu haben schien, +und der unter den Armen bereits Risse hatte. Dazu +denke man sich ein unmögliches Beinkleid und eine +Mütze, die bis zur Unglaublichkeit fettig glänzte, und die +er noch obendrein wie einen <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Chapeau claque</span> mit gebogenem +Arm weit von sich hielt. Dieser Herr nun war +tatsächlich vollkommen betrunken. Er trat bis in die +Mitte des Zimmers vor, blieb dann stehen und +schwankte, die Nase gesenkt, wie in tiefem Nachdenken. +Schließlich weiteten sich langsam seine Mundwinkel, und +er lächelte übers ganze Gesicht. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, meine Verehrtesten,“ sagte er, „ich +... habe ... etwas (er knipste sich an den Kragen) +hier hinabgegossen!“ +</p> + +<p> +Die Generalin setzte sofort die Miene beleidigter +Würde auf. Foma, der in seinem Ruhestuhl lehnte, +maß den exzentrischen Gast mit ironischem Blick. Bachtschejeff +sah ihn verständnislos an, doch blickte durch +diese Verständnislosigkeit ein gewisses Mitgefühl. Die +Verwirrung meines Onkels war unbeschreiblich: er litt +mit ganzer Seele für Korowkin. +</p> + +<p> +„Korowkin!“ begann er zwar, „hören Sie! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Attendez</span> gefälligst!“ unterbrach ihn Korowkin. +„Habe die Ehre, mich vorzustellen: ein Kind der Natur +... Aber was sehe ich? Hier sind ja Damen ... +Aber warum hast du mir nicht gesagt, du Schuft, daß +du hier Damen hast?“ fragte er, sich mit verschlagenem +Lächeln an meinen Onkel wendend. „Tut nichts! Habe +keine Angst! ... Stellen wir uns also auch dem schönen +Geschlechte vor ... Vereh...ehrungswürdige Damen!“ +begann er, während er nur mit Mühe die Zunge bewegte +und bei jeder Silbe stecken blieb, „Sie sehen einen Unglücklichen +vor sich, der ... nun ja, und dann so +weiter ... Das übrige wird nicht ausgesprochen ... +Musikkapelle! Eine Polka!“ +</p> + +<p> +„Wäre es Ihnen nicht recht, zunächst ein wenig zu +schlafen?“ fragte Misintschikoff, der ruhig zu ihm trat. +</p> + +<p> +„Schlafen? Fragen Sie das in beleidigendem +Sinne?“ +</p> + +<p> +„Durchaus nicht. Wissen Sie, es ist manchmal gut +nach der Reise ...“ +</p> + +<p> +„Niemals!“ antwortete Korowkin voll Unwillen. +„Du glaubst, ich sei betrunken? – nicht im geringsten! +... Aber übrigens, wo schläft man denn hier bei +euch?“ +</p> + +<p> +„Gehen wir, ich werde Sie hinführen.“ +</p> + +<p> +„Wohin? In den Schuppen? Nein, Freund, mich +betrügst du nicht! Dort habe ich schon übernachtet ... +Aber übrigens, führ mich mal zu ... Warum soll man +nicht gehen – mit einem guten Menschen? ... Ein +Kissen ist nicht nötig ... ein Soldat braucht kein Kissen. +Du könntest mir aber, Freund, einen Diwan, einen +Diwan, weißt du, einen Diwan zusammenstellen ... +<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a> +Aber hör (er blieb stehen), du bist, wie ich sehe, ein +witziger Bruder ... Komponier mir mal so etwas ... +verstehst du? Etwas, um eine Fliege hinabzuspülen ... +einzig, um eine Fliege hinabzuspülen, ein ... das heißt, +ein Gläschen!“ +</p> + +<p> +„Schön, schön!“ sagte Misintschikoff. +</p> + +<p> +„Schön ... Aber du, wart doch, man muß sich erst +verabschieden ... Also: Adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span> und <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdemoiselles</span>! +... Sie haben mich, wie man sagt, +durchbohrt ... Aber was! Werden uns später aussprechen +... nur wecken Sie mich, wenn es anfängt ... +oder sogar fünf Minuten vor dem Beginn ... ohne +mich aber bitte – nicht zu beginnen! Hören Sie? +Nicht zu beginnen!“ +</p> + +<p> +Und der lustige Herr verschwand hinter Misintschikoff. +</p> + +<p> +Alles schwieg. Niemand begriff, was geschehen war. +Da begann plötzlich Foma leise, zunächst kaum hörbar zu +kichern. Dann wurde dieses Kichern immer lauter, bis +es schließlich in helles Lachen überging. Als die Generalin +das sah, wurde sie sanftmütiger, wenn auch der +Ausdruck gekränkter Würde immer noch in ihrem Gesicht +verblieb. Allmählich erhob sich auf allen Seiten unwillkürlich +Lachen und Fröhlichkeit. Mein Onkel stand +wie betäubt auf einem Fleck, errötete fast bis zu Tränen +und war eine Zeitlang zu keinem Wort fähig. +</p> + +<p> +„Großer Gott!“ stieß er endlich hervor, „wer hätte +das ahnen können! Aber ... aber das kann ja doch +einem jeden passieren, Foma, glaube mir, er ist der ehrlichste, +der edelste Mensch und außerordentlich belesen, +Foma ... du wirst es selbst sehen! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a> +„Sehe schon, sehe schon,“ antwortete Foma, atemlos +vor Lachen, „ungewöhnlich belesen ... belesen!“ +</p> + +<p> +„Und wie er spricht!“ bemerkte Jeshowikin halblaut. +</p> + +<p> +„Foma! ...“ rief mein Onkel aus, doch das allgemeine +Lachen verschlang seine Worte. Foma Fomitsch +wälzte sich geradezu. Als mein Onkel diese Heiterkeit +sah, stimmte auch er ein. +</p> + +<p> +„Weiß Gott, ihr habt recht!“ sagte er lachend. „Du +bist großmütig, Foma, du hast ein gutes Herz: du hast +mich glücklich gemacht ... du wirst auch Korowkin verzeihen!“ +</p> + +<p> +Nur Nastenjka lachte nicht. Sie sah nur mit liebeleuchtenden +Blicken zu ihrem Verlobten auf, als hätte +sie ihm sagen wollen: +</p> + +<p> +„Wie lieb du bist, wie gut, und wie lieb ich dich +habe!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-21"> +<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a> +<span class="firstline">XVIII.</span><br> +Schluß. +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">F</span><span class="postfirstchar">omas</span> Sieg war unwiderruflich – war größer +noch, als man sich denken kann. Es ist ja wahr: ohne +ihn wäre es nie zu dieser Verlobung gekommen – die +Tatsache, vor der man mit einem Male stand, hob jeden +Einwand auf. Die Dankbarkeit der Glücklichen war +denn auch grenzenlos. Als ich eine kleine Anspielung +zu machen versuchte, auf welche Weise man Fomas Einwilligung +erlangt hatte, winkten mir Nastenjka und +mein Onkel nur flehend mit den Händen ab: nichts +davon! nichts davon! Ssaschenjka war gleichfalls begeistert +für den Ehebundstifter: „Der gute, gute Foma +Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen dafür sticken!“ sagte +sie und tadelte mich ernstlich, weil ich „so hartherzig“ +sein konnte. Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff war +geradezu verwandelt und hätte mich wahrscheinlich erwürgt, +wenn es mir nur eingefallen wäre, in seiner +Gegenwart etwas Schlechtes über Foma zu sagen. Er +hing jetzt wie ein Schoßhündchen an ihm und sagte zu +allem, was dieser sprach: „Ein edler Mensch bist du, +Foma, der Gelehrteste von allen!“ Was Jeshowikin anbetrifft, +nun – so hatte seine Freude einfach die letzte +Grenze erreicht. Der Alte hatte es schon lange geahnt, +daß Jegor Iljitsch in seine Tochter verliebt war, und +seit der Zeit hatte er Tag und Nacht nur daran gedacht, +wie er die beiden zusammenbringen und glücklich machen +könnte. Er hatte die Sache so lange hingezogen, wie es +nur noch irgend ging, und erst dann abgesagt, als ihm +nichts anderes mehr übrigblieb. Da hatte – Foma +<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a> +ganz unerwarteterweise eingegriffen! Natürlich durchschaute +der Alte trotz seiner ehrlichen Freude den +Schmarotzer Foma nur zu gut. Nun war es klar, daß +Foma Fomitsch sich für sein ganzes Leben in diesem +Hause festgesetzt hatte und seine Tyrannei hinfort keine +Schranken mehr kennen werde. Bekanntlich sagt man +sogar von den unangenehmsten, den launischsten Menschen, +daß sie sich wenigstens für einige Zeit besänftigen, +wenn man alle ihre Wünsche erfüllt. Foma Fomitsch +aber – das konnte man schon damals voraussehen – +wurde im Gegenteil nur noch hochmütiger, nur noch anspruchsvoller +und hob die Nase immer noch höher. Kurz +vor dem Essen, nachdem er sich vollkommen umgekleidet +hatte, setzte er sich wieder in seinen Ruhestuhl, rief +meinen Onkel zu sich und begann hierauf in Gegenwart +der ganzen Versammlung ihm eine neue Predigt zu +halten. +</p> + +<p> +„Oberst!“ hub er an, „Sie wollen eine rechtmäßige +Ehe schließen. Sind Sie sich auch klar ... Sind Sie +sich auch jener Pflichten bewußt, die ...“ usw. +</p> + +<p> +Man denke sich zehn Seiten im Format des „Journal +des Débats“, ganze zehn Seiten, in denen so gut +wie überhaupt nicht von Pflichten die Rede ist, sondern +nur von dem Verstande, der Frömmigkeit, der Großmut, +dem männlichen Charakter und der allgemein menschlichen +Uneigennützigkeit – Foma Fomitschs. Alle waren +hungrig, alle wollten essen. Nichtsdestoweniger wagte +niemand, ihn zu unterbrechen. Alle hörten andächtig +den ganzen Blödsinn bis zu Ende an. Sogar Bachtschejeff +saß mit seinem ganzen quälenden Hunger da, +ohne sich zu rühren, saß mit der größten Ehrfurcht auf +<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a> +einem kleinen Stuhl. Nachdem sich dann Foma Fomitsch +endlich, endlich genügend an seiner Redekunst erfreut +hatte, ward auch er sehr guter Laune und trank +bei Tisch sogar ziemlich viel zu seinen unvermeidlichen +Toasten. Darauf machte er verschiedene Witzchen über +die Verlobten, und alle lachten und spendeten Beifall. +Schließlich wurden die Witzchen aber dermaßen +schlüpfrig und unzweideutig, daß selbst Herr Bachtschejeff +nicht wußte, wohin er blicken sollte – und daß +Nastenjka es schließlich nicht mehr aushielt und fortlief. +Das war für Foma denn ein unbeschreibliches +Gaudium. Übrigens wußte er sich sogleich zu fassen: in +kurzen, beredten Worten schilderte er alle ihre Tugenden +und brachte zum Schluß ein Hoch auf die Abwesenden +aus. Mein Onkel, der noch vor einer Minute Höllenqualen +ausgestanden hatte, war jetzt sofort wieder bereit, +Foma Fomitsch zu umarmen. Es war mir überhaupt +aufgefallen, daß die beiden Verlobten sich ihres Glücks +gewissermaßen zu schämen schienen; ich hatte bemerkt, +daß sie seit dem Augenblick ihrer Verlobung noch so gut +wie kein Wort untereinander gewechselt hatten. Als die +Tafel aufgehoben wurde, verschwand mein Onkel plötzlich +– niemand wußte, wohin. Auf der Suche nach +ihm war es dann, daß ich zufällig auch auf die Terrasse +kam. Dort redete Foma im Triumphstuhl und bei einer +Tasse Kaffee, ersichtlich stark „ermutigt“. Bei ihm +saßen Jeshowikin, Bachtschejeff und Misintschikoff. Ich +gesellte mich zu ihnen, um ein wenig zuzuhören. +</p> + +<p> +„Warum,“ rief Foma aus, „warum bin ich sofort +bereit, für meine Überzeugungen auf den Scheiterhaufen +zu gehen? Und warum ist von euch kein einziger +<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a> +fähig, den Scheiterhaufen zu besteigen? Warum, +warum?“ +</p> + +<p> +„Aber das würde ja doch ganz überflüssig sein, +Foma Fomitsch, sich einen Scheiterhaufen zu leisten!“ +meinte Jeshowikin, der sich natürlich über Foma lustig +machte. „Was hätte denn das für einen Sinn? Erstens +ist es doch schmerzhaft und zweitens: verbrennt man dich +– was bleibt dann noch von dir übrig?“ +</p> + +<p> +„Was von mir übrigbleibt? Edelste Asche bleibt +übrig! Aber wie solltest du das verstehen! – wie solltest +du mich richtig zu schätzen verstehen! Für euch gibt es +keine großen Menschen, außer irgendeinem Cäsar oder +Alexander von Mazedonien. Doch was hat denn dein +Cäsar Großes vollbracht? Wen hat er glücklich gemacht? +Was hat dein gerühmter Alexander der Große getan? +Die ganze Welt erobert? Aber gib mir nur ein solches +Heer, wie er es hatte, und ich werde gleichfalls erobern, +und auch du wirst erobern, und auch jeder Dritte, Vierte +wird erobern ... Dafür aber hat er den tugendhaften +Kleitos erstochen, ich aber habe den tugendhaften Kleitos +<em>nicht</em> erstochen! ... Dieser Schuft! Dieser +Prahlhans! Ruten müßte man ihm geben, aber nicht +ihn in der Weltgeschichte unsterblich machen ... Und +ebenso Cäsar!“ +</p> + +<p> +„Aber den Cäsar verschonen Sie doch wenigstens, +Foma Fomitsch!“ +</p> + +<p> +„Fällt mir nicht ein, den Rüpel! ...“ schrie Foma. +</p> + +<p> +„Und ’s ist recht so: schone ihn auch nicht!“ griff +mit Eifer Herr Bachtschejeff auf, der gleichfalls mehr +als nötig getrunken hatte. „Wozu soll man ihn schonen? +Alle sind sie Hampelmänner, alle würden sie sich am liebsten +<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a> +nur auf einem Fuß um sich selber drehen! Diese +Wurstmacher! Da wollte vorhin einer von ihnen noch +ein Stipendium stiften. Was ist denn so ein Stipendium? +Der Teufel weiß, was es eigentlich bedeutet! +Könnte wetten, daß es wieder irgend so ’ne neue +Schweinerei ist. Und jener andere, dort, vorhin, +schwankt auf den Beinen, schwatzt allen Unsinn zusammen, +will aber noch Rum trinken! Ich aber denke so: +Warum soll der Mensch nicht trinken? Trink doch, trink, +aber dann mußt du auch zu stoppen verstehen ... +und dann, nach einem Weilchen trink meinethalben +wieder ... Wozu soll man sie schonen? Alle sind Spitzbuben! +Nur du allein bist gelehrt und groß, Foma!“ +</p> + +<p> +Wenn Herr Bachtschejeff sich jemandem hingab, so +gab er sich ihm restlos hin, einwandlos und ohne jede +Kritik. +</p> + +<p> +Endlich fand ich meinen Onkel im Garten – im +entlegensten Teil: hinter dem Weiher. Er war nicht +allein, sondern mit Nastenjka. Als sie mich erblickte, +verschwand sie im Augenblick hinter dem Gebüsch, als +hätte ich sie bei etwas Unrechtem ertappt. Mein Onkel +kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen. In seinen +Augen standen, glaube ich, Tränen. Er nahm meine +beiden Hände und drückte sie krampfhaft. +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ sagte er, „ich vermag noch immer +nicht, an mein Glück zu glauben ... Nastjä kann es +auch noch nicht fassen. Wir wundern uns nur und +danken dem Höchsten ... Sie weinte soeben ... Wirst +du mir glauben – ich bin noch nicht zur Besinnung gekommen: +ich glaube es und glaube es auch wieder nicht! +Und womit habe ich das nur verdient? Wofür dieses +<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a> +Glück? Was habe ich getan? Womit habe ich es +verdient?“ +</p> + +<p> +„Wenn jemand Glück verdient hat, so sind Sie es, +Onkel,“ sagte ich herzlich. „Ich habe noch niemals +einen so ehrlichen, so guten, so prächtigen Menschen +gesehen, wie Sie ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Ssergei, nein, das ist zuviel,“ antwortete +er gleichsam betrübt. „Das ist ja das schlimmste, daß +wir nur dann gut sind – ich rede natürlich nur von +mir allein – wenn wir es selbst gut haben; wenn wir +es aber schlecht haben, dann kommt uns nicht zu nahe! +Darüber sprachen wir soeben noch, Nastjä und ich. Wie +erhaben Foma sich auch zeigte, ich habe vielleicht doch +– wirst du es mir glauben? – bis auf den heutigen +Tag nicht ganz an ihn geglaubt, wenn ich mir auch +immer wieder seine Vollkommenheit vorhielt! Selbst +gestern glaubte ich nicht, nachdem er doch ein solches +Geschenk zurückgewiesen hatte! Ich muß es zu meiner +Schande gestehen! Mein Herz zittert, wenn ich daran +denke, was ich vorhin getan habe! Aber ich war meiner +nicht mehr mächtig ... Als er das von Nastjä sagte, +da war es mir, als hätte mich etwas bis ins Herz verwundet. +Ich verstand ihn nicht und handelte wie ein +Tiger ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Onkel! – das war sogar sehr richtig –“ +</p> + +<p> +Mein Onkel winkte wieder nur ab. +</p> + +<p> +„Nein, nein, Freund, sprich nicht so! – das kommt +alles ganz einfach nur von der Verderbtheit meiner +Natur, weil ich ein grausamer und wollüstiger Egoist +bin und mich rücksichtslos meinen Leidenschaften hingebe. +Das sagt auch Foma.“ (Was sollte ich darauf +<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a> +erwidern?) „Du weißt nicht, Ssergei,“ fuhr er mit +tiefem Gefühl fort, „wie oft ich gereizt, unnachsichtig, +ungerecht, anmaßend gewesen bin – und nicht nur +Foma gegenüber. Und jetzt habe ich mich alles dessen +wieder erinnert, es ist mir zum Bewußtsein gekommen, +und ich schäme mich, daß ich bis jetzt noch nichts getan +habe, um dieses Glückes würdig zu sein. Nastjä sagte +soeben Ähnliches von sich, wenn ich auch nicht weiß, was +sie für Sünden haben könnte; denn sie ist doch ein Engel +– kein Mensch! Sie sagte mir, daß wir Gott unendlich +viel schuldig sind, und daß wir uns jetzt bemühen müssen, +besser zu sein und Gutes zu tun ... Wenn du gehört +hättest, wie begeistert, wie schön sie sprach! Himmlischer +Vater, was das für ein Mädchen ist!“ +</p> + +<p> +Er verstummte erregt. Nach einer Weile fuhr er +fort: +</p> + +<p> +„Wir haben beschlossen, Freund, vor allem zu Foma +gut zu sein, zu meiner Mutter und zu Tatjana Iwanowna. +Aber Tatjana Iwanowna! Was sagst du dazu! +Was für ein guter Mensch sie ist! Oh, wieviel ich +allen abzubitten habe! Auch dir, mein Freund ... +Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, Tatjana Iwanowna +zu beleidigen, oh! dann ... Ach, was rede ich +da viel! ... Für Misintschikoff muß man auch etwas +tun.“ +</p> + +<p> +„Ja, Onkel, ich habe jetzt meine Meinung über +Tatjana Iwanowna geändert. Man muß sie hochachten +und Mitleid mit ihr haben.“ +</p> + +<p> +„Eben, eben!“ bestätigte mein Onkel eifrig. „Man +<em>muß</em> sie achten! Und da, zum Beispiel, Korowkin ... +Du wirst im stillen gewiß über ihn gelacht haben,“ +<a id="page-374" class="pagenum" title="374"></a> +meinte er mit zaghaftem Seitenblick auf mich, „und +wir alle haben ja über ihn gelacht ... Aber das war +doch vielleicht unverzeihlich von uns ... Er kann +doch der beste, der prächtigste Mensch sein ... Im +übrigen aber – das Schicksal ... Er hat vielleicht +viel Unglück gehabt ... Du glaubst es nicht, aber +es kann doch wirklich so sein.“ +</p> + +<p> +„Wieso, Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?“ +</p> + +<p> +Und ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß selbst +in dem gesunkensten Geschöpf sich noch die höchsten +menschlichen Gefühle erhalten können, daß die Tiefe +der Menschenseele unergründlich sei, daß man die Gefallenen +nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil +versuchen müsse, sie wieder aufzurichten – daß das allgemein +angenommene Maß des Guten und Bösen und +des sittlichen Wertes nicht richtig sei, usw. Mit einem +Wort, ich geriet in Begeisterung und erzählte meinem +Onkel sogar von der Schule der Materialisten und Skeptiker. +Zum Schluß zitierte ich noch ein Gedicht von +Puschkin – „Wenn aus dem Dunkel der Verirrung“ ... +– kurz, mein Onkel war schließlich auch in vollständiger +Begeisterung. +</p> + +<p> +„Mein Freund, mein Freund!“ sagte er, bis ins Herz +gerührt, „du verstehst mich vollkommen, du hast alles, +was ich selbst sagen wollte, viel besser ausgedrückt, als +ich es verstanden hätte. So, so ist es, genau so! Herrgott! +Weshalb ist der Mensch böse? Weshalb bin ich +so oft böse, wenn es doch so wunderschön ist, gut zu +sein? Dasselbe hat auch Nastjä soeben gesagt ... +Aber sieh doch nur, wie schön es hier am Weiher ist,“ +sagte er plötzlich, sich umschauend, „sieh doch diese ganze +<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a> +Natur! Welch ein Bild! Sieh mal dort diesen Baum. +Den Stamm kann kein Mann umfassen! Welche Kraft, +welch ein Saft, was für Blätter! Und sieh nur die +Sonne! Wie sauber jetzt alles nach dem Regen ist, wie +frisch! ... Man könnte ja glauben, daß auch die +Bäume etwas begreifen, fühlen und das Leben genießen +... Oder sollten sie es wirklich nicht tun – +was? Was meinst du?“ +</p> + +<p> +„Warum nicht, Onkel, das ist sehr leicht möglich. +Auf ihre Art natürlich.“ +</p> + +<p> +„Eben, natürlich auf ihre Art ... Wunderbarer, +wundervoller Schöpfer! ... Aber du mußt dich doch +noch gut dieses Gartens entsinnen, Sserjosha? – Wie +du hier spieltest und umherliefst, als du klein warst! Ich +erinnere mich noch so gut, wie du klein warst,“ sagte er +plötzlich und blickte mich mit einem Ausdruck von so +grenzenloser Liebe und so unfaßlichem Glück an. „Nur +hierher zum Weiher durftest du nicht allein gehen. Und +weißt du noch, wie einmal am Abend die selige Katjä +dich zu sich rief und dich streichelte ... Du warst im +Garten umhergelaufen, vorher, und deine Bäckchen +waren ganz rot; dein Haar war noch ganz hellblond und +ringelte sich zu Löckchen ... Sie spielte mit deinen Locken +und dann sagte sie: ‚Es ist gut, daß du das Waisenkind +zu uns genommen hast.‘ Entsinnst du dich dessen noch, +oder nicht mehr?“ +</p> + +<p> +„Kaum, kaum, lieber Onkel.“ +</p> + +<p> +„Es war damals Abend, und die Sonne schien auf +euch beide, und ich saß in der Ecke, rauchte meine Pfeife +und sah zu euch hinüber ... Ich ... weißt du, Sserjosha, +ich fahre in jedem Monat einmal zu ihr, zu ihrem +<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a> +Grabe, in die Stadt,“ fügte er mit gesenkter Stimme +hinzu, deren leises Beben aufsteigende, unterdrückte +Tränen verriet. „Ich habe auch mit Nastjä vorhin +davon gesprochen; sie sagte, daß wir jetzt beide zusammen +zu ihr fahren werden ...“ +</p> + +<p> +Mein Onkel verstummte, um seine Erregung niederzuringen. +</p> + +<p> +In dem Augenblick näherte sich uns Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Widopljässoff!“ rief mein Onkel erschrocken +aus, als er ihn erblickte. „Schickt dich Foma Fomitsch?“ +</p> + +<p> +„Nein, Herr, ich bin mehr in eigener Angelegenheit +gekommen.“ +</p> + +<p> +„Ah! nun gut! Dann können wir gleich Näheres +über Korowkin erfahren ... Ich wollte schon vorhin +nachfragen ... Ich hatte ihm, weißt du, anbefohlen, +Korowkin zu bewachen. Nun, was ist es, Widopljässoff?“ +</p> + +<p> +„Erlaube mir, zu erinnern,“ sagte der Diener, „daß +der Herr gestern hinsichtlich meiner Bitte Hilfe zu versprechen +geruhten, sowie Schutz vor den mir alltäglich +zugefügten Beleidigungen ...“ +</p> + +<p> +„Du kommst wieder mit deinem Familiennamen?“ +fragte mein Onkel wahrhaft entsetzt. +</p> + +<p> +„... Die alltäglich und allstündlich mir zugefügten +Beleidigungen ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Widopljässoff, Widopljässoff! Was soll ich +nur mit dir tun?“ fragte mein Onkel ratlos. „Was +können denn das für Beleidigungen sein? Wenn das +so weitergeht, wirst du ja einfach wahnsinnig werden +und in der Irrenanstalt dein Leben beschließen!“ +</p> + +<p> +<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a> +„Ich glaube, daß ich mit meinem Verstande ...“ +begann Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Ach, das ist es doch nicht!“ unterbrach ihn mein +Onkel. „Ich sage es nur so, nicht um dich zu kränken, +sondern um dir Vernunft zuzureden. Nun, was können +denn das für Beleidigungen sein? Es ist doch wahrscheinlich +nur ein dummer Scherz!“ +</p> + +<p> +„Sie lassen mich nicht ruhig vorübergehen.“ +</p> + +<p> +„Wer das?“ +</p> + +<p> +„Sowohl alle wie vornehmlich diese Matrjona. +Durch sie muß ich fortan mein ganzes Leben lang leiden. +Wie bekannt, haben alle vornehmen Menschen, welche +mich von Kindesbeinen an gesehen haben, gesagt, daß +ich ganz wie ein Ausländer aussehe, vornehmlich in +meinem Gesicht. Und deswegen muß ich jetzt dulden! +Sobald ich nur vorübergehe, schreien mir alle häßliche +Worte nach – sogar kleine Kinder, die man zu allererst +durchprügeln müßte, selbst die schreien mir nach ... +Auch jetzt, als ich herkam, schrien sie wieder ... Und +das ist zuviel! Wenn der Herr mich zu verteidigen +geruhen wollten, mit Ihrem Schirm und Schutz – +denn ich – ... kann ... nicht mehr!“ +</p> + +<p> +„Ach, Widopljässoff! ... Was schreien sie dir denn +nach? Es wird doch bestimmt nur irgendeine Dummheit +sein, die man überhaupt nicht beachten sollte!“ +</p> + +<p> +„Es läßt sich nicht sagen.“ +</p> + +<p> +„Weshalb nicht?“ +</p> + +<p> +„Es ist ekelhaft auszusprechen.“ +</p> + +<p> +„Ach was, sag es nur!“ +</p> + +<p> +„Sie rufen: Grischka der Franzose – hat eine rote +Hose.“ +</p> + +<p> +<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a> +„Nun? Und? Ach, Gott, und ich dachte, daß es +weiß der Himmel was sei! So spei doch einfach aus +und geh deines Weges!“ +</p> + +<p> +„Habe gespien: sie schreien dann noch mehr.“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „er beklagt sich darüber, +daß er hier kein Leben habe. So schicken Sie ihn +doch nach Moskau zu jenem Schönschreiber. Sie sagten +doch, daß er dort einmal bei einem solchen gewesen sei.“ +</p> + +<p> +„Ach, Freund, der hat gleichfalls tragisch geendet!“ +</p> + +<p> +„Wieso?“ +</p> + +<p> +„Sie hatten das Unglück,“ sagte Widopljässoff, „sich +fremdes Eigentum anzueignen, wofür sie, ungeachtet +ihres ganzen Talents, ins Gefängnis gebracht wurden, +woselbst sie jetzt unrettbar verloren sind.“ +</p> + +<p> +„Gut, gut, Widopljässoff: beruhige dich nur. Ich +werde alles das untersuchen und erledigen,“ sagte mein +Onkel, „ich verspreche es dir! Nun, aber was macht +Korowkin? Schläft er?“ +</p> + +<p> +„Mit nichten. Sie haben geruht fortzufahren. Ich +bin aus diesem Grunde auch gekommen, um seine Abreise +zu melden.“ +</p> + +<p> +„Wie das – fortgefahren? Was sprichst du? Wie +hast du ihn denn fortgelassen?“ +</p> + +<p> +„Aus reinem Mitleid. Es war traurig anzusehen. +Als sie erwachten und sich des Vorgefallenen erinnerten, +da schlugen sie sich vor den Kopf und schrien herzzerreißend +...“ +</p> + +<p> +„Herzzerreißend? ...“ +</p> + +<p> +„Ehrerbietiger gesagt: sie gaben verschiedene Schreie +von sich. Sie schrien: wie könnten sie sich jetzt noch +dem schönen Geschlecht zeigen? Und dann sagten sie: +<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a> +‚Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‘ Und so +sprachen sie die ganze Zeit mitleiderregend und nur in +gewählten Worten.“ +</p> + +<p> +„Habe ich dir nicht gesagt, Ssergei, daß er ein +überaus zartfühlender Mensch ist? ... Aber wie konntest +du ihn denn fortfahren lassen, Widopljässoff, wenn ich +dir doch anbefohlen hatte, ihn zu bewachen? Ach Gott, +ach Gott!“ +</p> + +<p> +„Mehr infolge meines Mitleids. Sie baten mich +himmelhoch, nichts zu erzählen. Der Postknecht, mit +dem sie gekommen waren, hatte die Pferde inzwischen +gefüttert und schirrte sie dann wieder an. Und für die +vor drei Tagen eingehändigte Summe befahlen sie, +ihren höflichsten Dank zu übermitteln und zu sagen, daß +sie die Schuld mit der ersten Post zurücksenden würden.“ +</p> + +<p> +„Was ist das für eine Summe, Onkel?“ +</p> + +<p> +„Sie nannten fünfundzwanzig Rubel,“ sagte Widopljässoff. +</p> + +<p> +„Ach, das habe ich ihm, weißt du, auf der Station +geliehen: sein Geld reichte nicht ganz. Er wird es mir +selbstverständlich mit der nächsten Post zurücksenden, wie +er gesagt hat ... Ach, mein Gott, wie schade, daß er +fortgefahren ist! Soll ich ihm nicht nachschicken? Was +meinst du, Ssergei?“ +</p> + +<p> +„Nein, Onkel, schicken Sie ihm lieber nicht nach.“ +</p> + +<p> +„Das denke ich auch. Sieh, Ssergei, ich bin natürlich +kein Philosoph, aber ich glaube, daß in jedem Menschen +doch viel mehr Gutes ist, als es äußerlich scheint. +So ist es auch mit Korowkin: er hat die Schande nicht ertragen +... Aber gehen wir jetzt zu Foma! Wir haben +uns sowieso zu lange hier aufgehalten. Er kann sich +<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a> +gekränkt fühlen, er kann es als Undankbarkeit, als Unaufmerksamkeit +auffassen ... Gehen wir also! Nein, +dieser Korowkin, dieser Korowkin!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="chapter" id="part-22"> +<span class="firstline">Nachbemerkungen.</span> +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, +und der Genius der Güte hat sich in der Person +Foma Fomitschs endgültig im Herrenhause von Stepantschikowo +niedergelassen. Zwar könnte man noch +eine Menge Erklärungen, Erläuterungen usw. hinzufügen, +doch im Grunde sind diese jetzt ganz überflüssig. +Wenigstens meiner Meinung nach. An Stelle aller +Ergänzungen und Zusätze werde ich nur ein paar Worte +über das fernere Schicksal meiner Helden sagen. Ohne +das geht es ja bekanntlich nicht! Die Kunst selbst will +es so! Also – +</p> + +<p> +Die Trauung des glücklichen Brautpaares fand in +der sechsten Woche nach ihrer Verlobung statt. Die +Hochzeit wurde sehr still gefeiert, nur im Familienkreise, +ohne jeden Pomp und vor allem ohne überflüssige +Gäste. Misintschikoff und ich waren die Brautführer: +ich geleitete Nastenjka, er meinen Onkel. Übrigens +waren doch einige Gäste zugegen. Die erste und wichtigste +Person war natürlich Foma Fomitsch. Ihm wurde +alles zu Willen getan – wie auf den Händen wurde er +getragen. Leider aber sollte es geschehen, daß man einmal +vergaß, ihm Champagner zu reichen, und sofort – +hub das alte Lied von neuem an: Foma sprang auf, +weinte, grölte, lief in sein Zimmer, schloß die Tür zu, +schrie, daß man ihn jetzt nicht mehr achte, daß jetzt „neue +<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a> +Menschen“ in die Familie kämen und folglich er, Foma, +nichts mehr sei oder nur soviel wie ein Holzspan, den +man zum Fenster hinauswerfen könne. Mein Onkel +war verzweifelt, Nastenjka weinte und die Generalin fiel +nach alter Gewohnheit in Ohnmacht ... Das Hochzeitsmahl +glich alsbald einem Totenschmaus. Und ein +solches Zusammenleben mit dem Wohltäter Foma Fomitsch +stand meinem armen Onkel und der armen +Nastenjka noch ganze sieben Jahre bevor! Bis zu seinem +Tode (Foma Fomitsch ist vor einem Jahr gestorben) war +er eigensinnig, launisch, ärgerte sich täglich und hielt +allen Moralpredigten. Doch die Ehrfurcht vor ihm verminderte +sich bei den von ihm Beglückten nicht etwa, +sondern wuchs noch täglich, stündlich, in genauem Verhältnis +zur Zunahme seiner Launenhaftigkeit. Jegor +Iljitsch und Nastenjka waren nämlich so glücklich miteinander, +daß sie für ihr Glück fürchteten: sie glaubten, +es sei zu groß, sei von ihnen nicht verdient, Gott gäbe +ihnen zuviel Glück, und späterhin würden sie es vielleicht +mit Leid und Kummer bezahlen müssen. So konnte +Foma Fomitsch in diesem friedlichen Hause buchstäblich +alles tun, was er nur wollte. Und was tat er nicht +alles in diesen sieben Jahren! Es ist schwer, ja, es ist +unmöglich, sich vorzustellen, bis zu welchen zügellosen +Phantasien sich seine übersättigte, müßige Seele in der +Erfindung der raffiniertesten Launen einer wahrhaft +lukullischen Moralität verstieg. Im dritten Jahre nach +der Heirat meines Onkels starb meine Großtante, die +Generalin. Der verwaiste Foma war die Verzweiflung +selbst. Sogar jetzt wird in Stepantschikowo mit wahrem +Entsetzen von seinem Zustande in diesen Tagen gesprochen. +<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a> +Als die Gruft zugeschüttet wurde, wollte er +sich mit aller Gewalt von den anderen, die ihn krampfhaft +festhielten, losreißen: in einem fort schrie er, daß +man ihn zusammen mit ihr beerdigen solle! Einen ganzen +Monat gab man ihm weder eine Gabel noch ein +Messer in die Hand, und einmal hatten ganze vier +Menschen ihm mit Gewalt den Mund öffnen müssen, +um eine Stecknadel, die er hatte verschlucken wollen, +wieder herauszunehmen. Jemand von den gleichgültigeren +Zeugen des Kampfes hat zwar gemeint, daß Foma +Fomitsch, wenn ihm im Ernst darum zu tun gewesen +wäre, diese Stecknadel während des Kampfes schon +tausendmal hätte verschlucken können. Doch diese Behauptung +war von allen mit entschiedenem Unwillen +zurückgewiesen worden, und man hatte dem Betreffenden +sogleich Herzensroheit vorgeworfen. Nur Nastenjka +schwieg darüber und lächelte kaum merklich, während +mein Onkel stets ein wenig unruhig wurde, wenn er +dieses Lächeln sah. Ich muß hier bemerken, daß Foma +zwar wie ehedem im Hause meines Onkels sich vieles +herausnehmen und nach Herzenslust launisch sein konnte; +doch die anmaßenden, die geradezu unverschämten +Moralpredigten, die er früher meinem Onkel hielt, die +gab es jetzt nicht mehr. Foma beklagte sich, weinte, +machte Vorwürfe, tadelte; aber er durfte nicht mehr +frech werden, – solche Szenen, wie z. B. die wegen des +Titels Exzellenz, waren jetzt nicht mehr denkbar. Es +war das, glaube ich, auf Nastenjkas Einfluß zurückzuführen. +Fast unmerklich zwang sie Foma, in manchem +nachzugeben und sich in manches zu fügen. Sie duldete +es nicht, daß ihr Mann beleidigt wurde, und sie setzte +<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a> +ihren Willen auch durch. Foma erkannte bald, daß sie +ihn fast <em>durchschaute</em>. Ich sage: <em>fast</em>; denn andererseits +verwöhnte Nastenjka ihn gleichfalls und +stimmte ihrem Mann jedesmal bei, wenn dieser begeistert +seinen Weisen in den Himmel hob. Sie wollte +offenbar die Zuhörer zwingen, alles an ihrem Mann +zu achten, und so suchte sie auch seine Anhänglichkeit an +Foma Fomitsch vor anderen stets gutzuheißen. Ich bin +überzeugt, daß ihr gutes Herz alles Leid, das ihr früher +von ihm zugefügt worden war, verziehen und vergessen +hatte, wahrscheinlich schon in demselben Augenblick, als +er sie mit meinem Onkel vereinigte. Außerdem hatte +sie sich, glaube ich, im Ernst und mit ganzem Herzen dem +Gedanken hingegeben, daß man von einem „Märtyrer“, +einem ehemaligen Narren, nicht viel verlangen dürfe, +sondern ihn pflegen und ihn die „Wunden“ vergessen +machen müsse. Die arme Nastenjka hatte selbst zu den +Erniedrigten gehört, sie hatte selbst gelitten und daher +wußte sie, wie Erniedrigtsein ist. Schon nach einem +Monat wurde Foma kleinlauter, wurde sogar freundlich +und bescheiden; dafür aber kamen jetzt neue, überaus +unerwartete Anfälle: er verfiel nämlich bisweilen in +einen sogenannten magnetischen Schlaf, der alle zuerst +heftig erschreckte. Der Arme sprach zum Beispiel etwas +ganz Gleichgültiges, oder er lachte – und plötzlich war +er dann erstarrt, und zwar genau in der Stellung, in der +er sich im letzten Augenblick vor dem Anfall befunden +hatte: wenn er zum Beispiel gelacht hatte, so erstarrte +er mit einem lachenden Gesicht; hatte er etwas in der +Hand gehalten, eine Gabel vielleicht, einen Löffel, so +blieb die Gabel in der erhobenen Hand. Später sank +<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a> +die Hand natürlich nieder, doch Foma Fomitsch fühlte +nichts und entsann sich auch später nicht, daß sie niedergesunken +sei. Er saß, sah, blinzelte sogar, sprach jedoch +nichts, hörte nichts und begriff nichts. Und das dauerte +mitunter eine ganze Stunde an. Natürlich verging +dann das ganze Haus fast vor Angst; alle hielten den +Atem an, schlichen nur auf den Fußspitzen, weinten ... +bis Foma endlich zu erwachen geruhte. Dann fühlte +er sich unsäglich erschöpft und versicherte, während der +ganzen Zeit seines Starrkrampfes nichts gesehen und +nichts gehört zu haben. Das hatte nämlich wirklich +noch gefehlt, daß dieser Mensch ganze Stunden lang +sich freiwillig Qualen auferlegte, einzig zu dem Zweck, +um dann sagen zu können: „Seht auf mich, seht, um +wieviel ich mehr empfinde als ihr!“ Einmal geschah es +auch, daß Foma Fomitsch ganz unvermittelt meinen +Onkel wegen dessen „Unehrerbietung und fortwährender +Beleidigungen“ anzeterte und zu Herrn Bachtschejeff +fuhr, bei dem er fortan leben wollte. Stepan Alexejewitsch +Bachtschejeff, der nach meines Onkel Verlobung +und Hochzeit sich noch oft mit Foma gestritten, ihn jedoch +zu guter Letzt jedesmal wieder um Verzeihung gebeten +hatte, entschloß sich diesmal mit ungewöhnlichem Eifer, +energisch in die Sache einzugreifen: er empfing Foma +mit wahrem Enthusiasmus, fütterte ihn bis zum Platzen +und beschloß hierauf, sich formell von der Freundschaft +meines Onkels loszusagen und sogar gerichtlich eine +Klage gegen ihn einzureichen. Es gab dort irgendwo +ein strittiges Stück Land, um das sie aber eigentlich nie +gestritten hatten, da es ihm von meinem Onkel ohne +jeden Streit freiwillig abgetreten worden war. Ohne +<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a> +Foma ein Wort davon zu sagen, ließ Herr Bachtschejeff +die Pferde anschirren und fuhr in die Stadt, setzte dort +die Klage auf und reichte sie ein, mit dem Ersuchen, +ihm formell das Stück Land zuzusprechen, mit Vergütung +der Zinsen und Erstattung der Gerichtskosten, +um auf diese Weise die „Räuberei und das eigenmächtige +Verfahren“ zu bestrafen. Inzwischen aber war es +Foma langweilig geworden, und so hatte er schon am +nächsten Tage meinem Onkel – der ihm nachgefahren +war und um Verzeihung gebeten hatte –, wieder verziehen +und war dann mit ihm nach Stepantschikowo +zurückgekehrt. Der Zorn des Herrn Bachtschejeff, der, +als er zu Hause ankam, Foma nicht mehr vorfand, soll +fürchterlich gewesen sein. Nach drei Tagen aber erschien +auch er mit dem Eingeständnis seiner Schuld in +Stepantschikowo, bat meinen Onkel unter Tränen um +Verzeihung und zog seine Klage zurück. Mein Onkel +versöhnte ihn noch am selben Tage auch mit Foma +Fomitsch, worauf Stepan Alexejewitsch diesem wieder +wie ein Hündchen ergeben war und zu jedem Wort hinzufügte: +„Du bist ein kluger und großer Mensch, Foma, +du bist wirklich mit einem Wort ein Genie!“ +</p> + +<p> +Foma Fomitsch ruht jetzt neben der Generalin. Über +seinem Grabe erhebt sich ein kostbares Monument aus +weißem Marmor, das mit Trauerzitaten und Lobpreisungen +seiner Person von oben bis unten bedeckt ist. +Zuweilen gehen Jegor Iljitsch und Nastenjka, wenn sie +einen Spaziergang machen, auch auf den Friedhof, um +an Fomas Grab zu beten. Auch jetzt noch können sie +nicht gleichgültig von ihm sprechen, sie erinnern sich +jedes Wortes, das er gesprochen, aller Speisen, die er +<a id="page-386" class="pagenum" title="386"></a> +gern gegessen, und alles dessen, was er geliebt hat. +Seine Sachen werden wie Kostbarkeiten aufbewahrt. +Mein Onkel und Nastjä, die sich nach seinem Tode zuerst +ganz verwaist fühlten, haben sich jetzt noch mehr aneinandergeschlossen. +Kinder hat Gott ihnen nicht geschenkt +– sie sind sehr traurig darüber, wagen aber nie zu +klagen. Ssaschenjka hat schon vor langer Zeit einen +prächtigen jungen Mann geheiratet. Iljuscha studiert +in Moskau. So leben denn mein Onkel und Nastjä +ganz allein in Stepantschikowo und sind immer +noch genau so verliebt ineinander. Die Sorge des +einen um den anderen ist geradezu rührend. Wenn +einer von ihnen früher sterben sollte, was doch wohl +einmal geschehen wird, so wird ihn der andere, denke ich, +kaum eine Woche überleben. Doch gebe ihnen Gott noch +ein langes Leben! Sie empfangen jeden Gast mit unendlicher +Herzlichkeit und sind bereit, mit einem Unglücklichen +alles zu teilen, was sie nur haben. Nastenjka +liest oft die Lebensgeschichten der Heiligen und sagt gerührt, +daß bloß „bei Gelegenheit Gutes tun“ zu wenig +sei, man müsse alles, was man hat, den Armen hingeben +und in freiwilliger Armut glücklich sein. Hätten +sie nicht Iljuscha und Ssaschenjka, so würde mein Onkel +wohl schon längst alles unter die Armen verteilt haben; +denn er ist in allem vollkommen einverstanden mit seiner +Frau. Praskowja Iljinitschna lebt bei ihnen und tut +ihnen mit Freuden alles zu Willen. Sie führt vor allem +die Wirtschaft. Herr Bachtschejeff hat ihr zwar bald +nach der Hochzeit meines Onkels einen Heiratsantrag +gemacht, sie aber hat ihn rund abgeschlagen. Daraus +schloß man zunächst, daß sie wohl ins Kloster gehen wolle +<a id="page-387" class="pagenum" title="387"></a> +und werde, aber auch das geschah nicht. Sie hat von +Natur die bemerkenswerte Eigenschaft, sich vollkommen +denen zu opfern, die sie liebhat, sich zu jeder Zeit ihnen +unterzuordnen, ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen, +allen ihren Launen nachzugehen, sie zu warten +und zu pflegen und zu bedienen. Jetzt, nach dem Tode +ihrer Mutter, der Generalin, hält sie es für ihre Pflicht, +bei ihrem Bruder und Nastenjka zu bleiben und sich +diesen unterzuordnen. Der alte Jeshowikin lebt noch, +und in der letzten Zeit besucht er seine Tochter immer +häufiger. Anfangs brachte er meinen Onkel zur Verzweiflung +damit, daß er sich und seine Krabben (so +nennt er seine Kinder) mit erklärter Absichtlichkeit von +Stepantschikowo fernhielt. Alle Aufforderungen seines +Schwiegersohnes waren fruchtlos: Das geschah jedoch +von ihm nicht so sehr aus Stolz als aus Empfindlichkeit +und Argwohn. Der Gedanke, daß man ihn, den Armen, +aus Barmherzigkeit im reichen Hause empfangen, daß +man ihn im Herzen aufdringlich und lästig finden könnte +– dieser Gedanke lastete schwer auf ihm. Er wies sogar +Nastenjkas Hilfe zurück und nahm nur im äußersten +Notfall etwas an. Von meinem Onkel wollte er unter +keiner Bedingung etwas annehmen. Nastenjka hatte +sich sehr geirrt, als sie mir seinerzeit sagte, ihr Vater +spiele nur deshalb den Narren, weil er damit ihr, seiner +Tochter, Nutzen zu bringen hoffe. Freilich wollte er sie +damals gerne mit dem Oberst verheiraten, aber den +Narren spielte er doch wohl mehr aus innerem Bedürfnis: +um der in ihm angesammelten Wut einen Ausgang +zu verschaffen. Das Bedürfnis, zu spotten und seine +scharfe Zunge zu üben, war ihm angeboren. So machte +<a id="page-388" class="pagenum" title="388"></a> +er aus sich den niedrigsten Schmeichler, um gleichzeitig +mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zeigen zu +können, daß er es nur zum Schein tat. Und je mehr er +schmeichelte, um so beißender und unverhohlener schaute +dann aus der Schmeichelei sein Spott hervor. Das lag +ihm nun einmal im Blut. Schließlich gelang es doch, +seine „Krabben“ in den besten Lehranstalten Moskaus +und Petersburgs unterzubringen, aber erst dann, als +Nastenjka ihm schwarz auf weiß bewiesen hatte, daß +sie es nicht mit dem Gelde ihres Gatten tue, vielmehr +mit den Dreißigtausend, die Tatjana Iwanowna ihr zur +Verlobung geschenkt hatte. Diese dreißigtausend Rubel +waren in Wirklichkeit natürlich niemals von Tatjana +Iwanowna angenommen worden; damit diese sich nicht +gekränkt fühlte, hatte man ihr einfach gesagt, daß man +sich sogleich an sie wenden werde, sobald man einmal in +Verlegenheit geraten sollte. Und so tat man denn +schließlich auch und lieh von ihr „scheinbar“ größere +Summen. Doch Tatjana Iwanowna starb vor drei +Jahren, und da fielen Nastjä ihre Dreißigtausend von +selbst zu. Der Tod Tatjana Iwanownas kam ganz unerwartet. +Die ganze Familie war von einem benachbarten +Gutsbesitzer zum Ball eingeladen worden, Tatjana +Iwanowna hatte sich bereits ihr Ballkleid angezogen +und einen wundervollen Kranz weißer Rosen ins +Haar gesteckt, als ihr plötzlich schlecht wurde: sie setzte +sich auf den nächsten Stuhl und – starb. Mit diesem +Kranz weißer Rosen wurde sie auch begraben. Nastjä +war untröstlich. Tatjana Iwanowna war von allen +wie ein Kind geliebt und verwöhnt worden. Nach +ihrem Tode setzte sie noch alle durch ihr vernünftiges +<a id="page-389" class="pagenum" title="389"></a> +Testament in Erstaunen: außer Nastjäs Dreißigtausend +hatte sie alles übrige, an dreihunderttausend Rubel, zur +Erziehung armer Waisenmädchen vermacht, denen bei +Verlassen der Erziehungsanstalt auch noch eine gewisse +Summe ausgezahlt werden sollte. Noch vor Tatjana +Iwanownas Hinscheiden heiratete Fräulein Perepelizyna, +die nach dem Tode der Generalin ruhig in Stepantschikowo +verblieben war, wahrscheinlich in der Absicht, +sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Inzwischen +war aber der Besitzer von Mischino, jenem +selben kleinen Gut, wohin Obnoskin mit seiner Mutter +und später mit Tatjana Iwanowna gefahren war, Witwer +geworden. Dieser ehemalige Beamte war ein entsetzlicher +Schikaneur. Er hatte von der ersten Frau sechs +Kinder. Da er bei der Perepelizyna Geld vermutete, so +machte er gelegentlich einige Andeutungen, die auf eine +Heirat anspielten. Sie aber warf sich ihm sofort an +den Hals. Leider war die Perepelizyna arm wie eine +Kirchenmaus: alles, was sie in die Ehe brachte, waren +dreihundert Rubel, die Nastenjka ihr zur Hochzeit geschenkt +hatte. Jetzt führt das Ehepaar vom Morgen +bis zum Abend Krieg miteinander: sie zieht seine Kinder +an den Haaren und verabreicht ihnen Ohrfeigen; ihm +zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens erzählt man es in +der ganzen Umgegend) und hält ihm beständig vor, daß +sie die Tochter eines Majors sei. – Misintschikoff hat +sein Leben gleichfalls einzurichten gewußt. Er gab vernünftigerweise +alle seine Hoffnungen auf Tatjana Iwanowna +auf und machte sich allmählich daran, die Landwirtschaft +zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem +reichen Grafen, einem Gutsbesitzer, der etwa achtzig +<a id="page-390" class="pagenum" title="390"></a> +Werst von Stepantschikowo dreitausend Seelen besaß, +doch nur sehr selten sein Gut besuchte. Da der Graf in +Misintschikoff einige Fähigkeiten entdeckt zu haben +glaubte und sich im übrigen auf die Empfehlung meines +Onkels verließ, bot er ihm die Stelle eines Verwalters +seiner Güter an, nachdem er seinen früheren Verwalter +fortgejagt hatte – einen Deutschen, der aber trotz der +berühmten deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen gründlich +bestohlen hatte. Nach fünf Jahren war das Gut nicht +wiederzuerkennen: die Bauern lebten im Wohlstande; +Misintschikoff hatte Verwaltungsbücher eingeführt und +führte sie fehlerlos – was niemand von ihm erwartet +hätte; die Einnahmen hatten sich verdoppelt – mit +einem Wort: Der neue Verwalter hatte sich trefflich eingeführt, +und sein Ruhm ertönte bereits durch das ganze +Gouvernement. Wie groß aber war die Überraschung +und der Kummer des Grafen, als Misintschikoff nach +fünf Jahren, ungeachtet aller Bitten und Gehaltserhöhungen, +sein Amt niederlegte! Der Graf glaubte, +daß ihn die Nachbargutsbesitzer fortgelockt hätten oder +vielleicht sogar jemand aus einem anderen Gouvernement. +Um wieviel größer war aber das Erstaunen +aller, als plötzlich, im zweiten Monat nach seinem Austritt, +Iwan Iwanytsch Misintschikoff ein schönes Gut +von hundert Seelen besaß, das nur vierzig Werst von +dem des Grafen entfernt war, und das er von einem +verschuldeten Husarenoffizier, seinem früheren Regimentskameraden, +gekauft hatte! Diese hundert Seelen +verpfändete er sogleich, und nach einem Jahr war er im +Besitz von noch weiteren sechzig Seelen! Jetzt ist er selbst +Gutsherr, und seine Wirtschaft ist mustergültig. Alle +<a id="page-391" class="pagenum" title="391"></a> +wundern sich und fragen, woher er wohl das Geld dazu +erhalten haben mag. Einige aber schütteln nur das +Haupt und schweigen. Iwan Iwanytsch jedoch ist vollkommen +ruhig und fühlt sich durchaus in seinem Recht. +Jetzt hat er aus Moskau seine Schwester zu sich gerufen, +dieselbe, die ihm einst ihre letzten drei Rubel zur Wanderung +nach Stepantschikowo gegeben hatte – ein sehr +nettes Mädchen, nicht mehr ganz jung, bescheiden, zärtlich, +gebildet, nur etwas eingeschüchtert. Vorher hatte +sie in Moskau als Gesellschafterin bei einer „Wohltäterin“ +gelebt; jetzt hängt sie mit aller Liebe am Bruder, +führt in seinem Hause die Wirtschaft, hält jeden seiner +Wünsche für ein Gesetz und sich selbst für vollkommen +glücklich. Ihr Bruder verwöhnt sie nicht gerade und +hält sie, wie man zu sagen pflegt, etwas „unter dem +Daumen“, was sie aber gar nicht zu merken scheint. In +Stepantschikowo hat man sie sehr liebgewonnen, und es +heißt, Herr Bachtschejeff sei nicht abgeneigt – ... +und er würde wohl auch bei ihr anhalten, fürchte aber +eine Absage. Doch von Herrn Bachtschejeff hoffe ich +noch ein anderes Mal zu erzählen, in einer neuen Erzählung, +und dann ausführlicher. +</p> + +<p> +Das waren, denke ich, alle ... Ja! richtig! fast +hätte ich vergessen: Gawrila ist sehr gealtert und hat +sein Französisch ganz und gar verlernt. Aus Falalei +ist ein guter Kutscher geworden. Der arme Widopljässoff +aber mußte tatsächlich schon sehr bald in einer Irrenanstalt +untergebracht werden: er ist dort, wenn ich mich +nicht täusche, auch schon gestorben ... In den nächsten +Tagen muß ich nach Stepantschikowo fahren – dann +werde ich mich bei meinem Onkel nach ihm erkundigen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-23"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bauern, die zur Zelt der Leibeigenschaft den Kirchen und +Klöstern gehörten. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Führer des Kosakenaufstandes von 1773, gab sich für +den ermordeten Peter III. aus, wurde 1775 hingerichtet. +<span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Treu. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Schändlich. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> Von „Bolwann“ – Schafskopf. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung +der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren +Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde +transkribiert nach: +</p> + +<p class="nowrap center"> +F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br> +Zweite Abteilung: Sechzehnter Band<br> +R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.<br> +6. bis 10. Tausend +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen +Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ +vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen +Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. +sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. +Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert. +</p> + +<p> +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) +eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen +wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. +</p> + +<p> +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: +Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. +Die Schreibweise häufig vorkommender Namen +wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): +</p> + +<p class="list"> +Matwejitsch (Matvejitsch)<br> +Widopljässoff (Widapljässoff) +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... an <span class="underline">des</span> glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...<br> +... an <a href="#corr-1"><span class="underline">das</span></a> glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...<br> +</li> + +<li> +... sehr, daß ich Sie getroffen <span class="underline">haben</span>, vielleicht werden Sie ...<br> +... sehr, daß ich Sie getroffen <a href="#corr-9"><span class="underline">habe</span></a>, vielleicht werden Sie ...<br> +</li> + +<li> +... plötzlich mein Onkel. „Das ist, <span class="underline">mußte</span> du wissen, ...<br> +... plötzlich mein Onkel. „Das ist, <a href="#corr-17"><span class="underline">mußt</span></a> du wissen, ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/75923-h/images/cover.jpg b/75923-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..71dfc8a --- /dev/null +++ b/75923-h/images/cover.jpg diff --git a/75923-h/images/logo.jpg b/75923-h/images/logo.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e569b5e --- /dev/null +++ b/75923-h/images/logo.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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