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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 ***
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+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+
+ Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski
+ herausgegeben von Moeller van den Bruck
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+ Übertragen von E. K. Rahsin
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+ Zweite Abteilung: Sechzehnter Band
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+ F. M. Dostojewski
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+ Das Gut Stepantschikowo
+ und seine Bewohner
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+ (Aufzeichnungen eines Unbekannten)
+
+ Humoristischer Roman
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
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+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920
+ 6. bis 10. Tausend
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+ Copyright 1920 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
+ Verlag in München
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+ Bayer. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel, Augsburg.
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+ Inhalt.
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+ Seite
+ Humor in Rußland. Von Moeller van den Bruck V
+ Vorbemerkung. Von E. K. R. XVI
+ 1. Kapitel. Stepantschikowo 1
+ 2. „ Herr Bachtschejeff 37
+ 3. „ Mein Onkel 65
+ 4. „ Beim Tee 92
+ 5. „ Jeshowikin 111
+ 6. „ Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja 135
+ 7. „ Foma Fomitsch 148
+ 8. „ Die Liebeserklärung 176
+ 9. „ „Ew. Exzellenz“ 186
+ 10. „ Misintschikoff 211
+ 11. „ Äußerste Verwunderungen 236
+ 12. „ Die Katastrophe 259
+ 13. „ Die Verfolgung 270
+ 14. „ Neuigkeiten 296
+ 15. „ Iljuschas Namenstag 303
+ 16. „ Die Vertreibung 319
+ 17. „ Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen 338
+ Glücks
+ 18. „ Schluß 367
+ Nachbemerkungen 380
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+
+
+ Zur Einführung.
+
+ Bemerkungen über russischen Humor.
+
+
+Der Humor ist früher als die Dichtung. Das Humoristische umgibt ein Volk
+mit einer zweiten Hautlichkeit, die schon lange an ihm bemerkt wird,
+bevor das Volk selbst sie bemerkt. Der Don Quichotte im Spanier war
+früher als die Figur, die Cervantes bildete. Das Figaronaturell der
+Franzosen saß ihnen schon vor der Revolution im Beaumarchaistemperament.
+Mit Eulenspiegeleien und Münchhausiaden, mit Streichen und Abenteuern in
+Sagen und Anekdoten, entschädigten die Deutschen sich für ihre verlorene
+Wirklichkeit, ehe ihnen Jean Paul mit der Laterne des gravitätischen
+Kleinstädters den Nachthimmel einer kosmischen Komik entzündete, in der
+Endlichkeit und Unendlichkeit durcheinanderrannen. Ebenso fand der Humor
+in der russischen Dichtung seine Probleme bereits im russischen Leben
+vor: in jener grotesken Unvereinbarkeit eines asiatischen und eines
+europäischen Daseins, die durch die petrinische Kultur von Staats wegen
+überwunden werden sollte, während sie gerade von dieser Kultur
+geschaffen wurde, und die nun aus dem einzelnen Massen, der von Hause
+aus ganz Natur war, durch Dressur eine Karikatur machte, deren
+Widersprüche sich nicht auf das Kostüm beschränkten, sondern in der
+Seele fortsetzten.
+
+Es war ein Humor, der zunächst in der Wirkung auf uns liegt. Peter der
+Große selbst ist als Gestalt der Geschichte von dieser Wirkung nicht
+frei. Schon seine große Reise ins Ausland, die Rußland in Europa
+berüchtigt machte, hatte die bekannten komischen schahhaften Züge. Und
+wenn er dann später seinen Russen die Bärte scheren ließ, wenn er nur
+rasierten Adel an seinem europäisierten Hofe duldete, andererseits aber
+sich als russischer Selbstherrscher nicht scheute, nach gewonnener
+Schlacht aus Freude über den Sieg seinen Soldaten im Lager
+höchsteigenbeinig einen Kasatschak vorzutanzen, dann waren dies
+Gegensätze, deren Humor in ihrer Naivität lag. Aber schon ein
+Menschenalter nach Peter wurde dieser Humor zum Symbol in einem Manne,
+der nicht mehr den Ernst Peters besaß, der die Pioniertradition, die
+Peter für Rußland hatte schaffen wollen, durch eine Scharlatantradition
+unterbrach und den Russen das Beispiel eines Schwindels hinterließ, der
+sich in öffentlichen Angelegenheiten an alles Russische heftete und bei
+dem Rußland sich immer am wohlsten fühlte. Der Mann war Potemkin.
+
+Auch Potemkin hat eine Reise berühmt gemacht. Aber schon dadurch
+unterschied sich die Reise der Katharina von derjenigen Peters, daß
+Peter nach Europa ging, um zu lernen, Nützliches zu sehen, Erfahrungen
+heimzubringen, Katharina dagegen nach dem Neurußland ihres Potemkin nur
+gefahren zu sein scheint, um dem Günstling und Liebhaber die Gelegenheit
+zu dem großen Betruge zu geben, der seinen Namen mit allem russischen
+und menschlichen Scheinwesen dauernd verbinden sollte. Die Kulissen, mit
+denen Potemkin damals seiner Kaiserin ein reichbesiedeltes wohlhabendes
+glückliches Land vortäuschte, sind in Rußland nie gefallen. Ganze
+Gouvernemente wurden zu den Blendzwecken dieser Reise entvölkert.
+Bauern, Herden, Mensch und Vieh wurden an die Fahrstraße getrieben, über
+die der Reisezug kommen sollte. Höchste Zufriedenheit der Kaiserin war
+der Lohn für Potemkin. Tiefstes Elend der Bevölkerung war die Folge für
+seine Provinz. Doch dies war immer gleichgültig in Rußland. Am wohlsten
+fühlte Potemkin sich später als Satrap der Krim, in fanariotischen
+Launen und bei echtrussischer Unmäßigkeit, im Kreise von Mätressen und
+Musikanten, Schauspielern und Ballettänzern, und bei Gelagen, wo man
+ihn, den ordengeschmückten Mann, wie ein französischer Bericht der Zeit
+über ihn erzählt, nacheinander einen Schinken, eine gesulzte Gans und
+drei Hühner, dazu durcheinander Met, Kwas und allerlei Wein vertilgen
+sehen konnte. Und doch war auch dieser slawische Gargantua nicht ohne
+die grübelnden und unberechenbaren Anwandlungen des echten Russen, war
+bei aller fetten Gewöhnlichkeit ein sehr zusammengesetzter Mensch. Wie
+ein orientalischer Großkönig konnte er fragen: Wer ist glücklicher als
+ich? Aber wie ein dekadenter Bojar erhob er sich gleich darauf, nahm ein
+köstliches Porzellan in die Hand, sah es hamletisch an und – warf es in
+Scherben, um eilends davonzugehen und für Stunden sich einzuschließen.
+Sein Hirn war unzufrieden vor Plänen, die sich nicht verwirklichen
+ließen. Er selbst war, ewig genießend zwar, aber auch ewig unternehmend.
+Als dann die politische Not herandrängte, wurde er freilich sehr klein.
+Im Türkenkriege wollte er die eben eroberte Krim gleich wieder
+herausgeben. Und während der Schlacht sah man ihn zagend und jammernd
+auf dem Erdboden hocken. König von Dakien ist er nie geworden. Er starb
+banal, an einem Schlagflusse.
+
+Potemkins Seele jedoch flog über dieses ganze russische Volk, und als
+Gogols Held auf einer dritten russischen Reise, die in der Welt berühmt
+geworden ist, durch das weite Land fuhr, um tote Seelen zu kaufen, da
+stieß er überall auf Potemkin. Käufer und Verkäufer, Schwindler und
+Beschwindelte, Ausbeuter und Ausgebeutete: sie alle waren Potemkin. „Es
+gibt Menschen,“ sagt Gogol einmal, „die auf der Welt nicht als eigene
+Wesen vorhanden zu sein scheinen, sondern als Pünktchen oder Fleckchen
+auf anderen Wesen.“ Alle Russen, denen Gogol auf seiner Reise begegnete,
+alle die Büttel und Beamte der Autokratie und Bürokratie, alle die
+Verdorbenen durch Korruption, durch Betrügen und Betrogenwerden,
+schienen aus dem einen großen Kadaver Potemkins hervorgekrochen zu sein
+und sich wie Pünktchen und Fleckchen, die in jedes russische Dorf, in
+jede russische Kreisstadt getupft waren, über Rußland zu verstreuen.
+Ganz Rußland bekam Potemkincharakter. Und auch die russische Dichtung,
+der Humor, mit dem in ihr Rußland sich selbst erkannte, bekam diesen
+Potemkincharakter.
+
+Puschkin besang freilich den Helden, den ritterlichen Jüngling. Doch
+Gogol meinte, daß es ein Gelächter gebe, welches sich würdig mit den
+höheren, den lyrischen Regungen des Menschen vergleichen lasse und weit
+entfernt von den Sprüngen eines gewöhnlichen Lustigmachers sei. Er fand
+es billig, Freskocharaktere und Romanzeronaturelle zu skizzieren, Heroen
+mit flammenden Augen, hängenden Brauen, einer gefurchten Stirn und einem
+über die Schulter geworfenen Mantel. Deshalb wählte er das Alltägliche,
+an dem ein gleichgültiger Blick vorüberzuschauen pflegt, und suchte es
+mit seinen feinen und verborgenen, fast unsichtbaren und doch so
+eigentümlichen Zügen zu erfassen. Er tat es gleichwohl mit Drastik, mit
+einer Bildkraft, die so sicher wie neu war, mit einer Handschrift, die
+das russische Land, in dem alles in größerem Maßstabe erscheint, die
+Wälder und Steppen wie die Gesichter, Lippen und Füße, in einem breiten
+und weiträumigen und doch wieder dichten und menschenerfüllten
+Bilderbogen zusammenfaßte, volklich, holzschnitthaft und handbemalt. Er
+sagte einmal: „Es gibt bekanntlich Gesichter, deren Verfertigung der
+Natur nicht viel Kopfzerbrechen gekostet und zu denen sie gar keine
+feineren Instrumente, als da sind Feilen, Bohrer und Zangen, gebraucht
+zu haben scheint, Gesichter vielmehr, die wie mit der Axt gehauen sind,
+so daß auf einen Schlag vielleicht die Nase entstand, auf einen anderen
+das Auge, der Mund usw.; ohne Hobel anzulegen, schickte die Natur sie
+dann in die Welt, indem sie ausrief: Gehet hin und lebt!“ Gogol tat wie
+die Natur, solange es den Umriß galt, aber er gebrauchte gar viele
+Feilen, Bohrer und Zangen, sobald er das Allzumenschliche hineinkerbte.
+Er hatte wohl die Mitleidlosigkeit, russische Bauern wie Klötze
+hinzustellen, mit Köpfen wie Brote, mit Bärten wie Holzkeile, oder auch
+die Liebenswürdigkeit, einmal ein slawisches Mädchenoval mit einem
+frischen Ei zu vergleichen, dessen durchsichtige Weiße die sorgfältige
+Wirtschafterin durch das Sonnenlicht betrachtet. Aber sein größerer
+Vorwurf war die russische Provinzgesellschaft potemkinischer Herkunft
+mit ihren zweifelhaften Zwischengestalten, die in unzähligen Exemplaren
+vorkommen und von denen eine jede ein Original ist. Hier verband sich im
+Leben die Einfalt mit der Geriebenheit. Und hier gehörte in der Dichtung
+zur Kontur die Nuance.
+
+Um die russische Erbsünde am russischen Menschen zu strafen, wählte
+Gogol keinen Tugendhelden, sondern einen Spitzbuben. Er umgab ihn mit
+seinesgleichen und belebte den patriarchalischen Hintergrund Rußlands
+mit den fatalen Gestalten seines Realismus. Gogols Kenntnis des
+russischen Menschen wurde zur Erkenntnis des russischen Schicksals. Er
+sprach von den Eigenschaften der Rasse, sprach von seinen Landsleuten,
+die nie etwas erreichen, weil sie schon gleich, wenn sie anfangen,
+völlig befriedigt sind und daher alles getan glauben und sich fürder
+gehen lassen. Er sprach auch davon, daß der russische Erfindungsgeist,
+mochte innerlich jeder Russe noch so „nach Fortschritt lechzen“, immer
+nur durch Druck zur Tätigkeit angetrieben werden könne. Er machte sich
+lustig über die Reformer aller Art, zeigte in dem Versuch jeder Ordnung
+das Verhängnis ewiger Unordnung auf und gab an einer grimmigen Stelle in
+den „Toten Seelen“, an der er ein russisches Landgut schilderte, das nur
+aus Büros und Ressorts, Zentralen und Filialen, Plakaten und Avisen
+bestand, die Karikatur aller Organisationsversuche in Rußland. Den Grund
+dieser Leidigkeit aber fand er dort, wo der Russe die Ordnung und die
+Organisation, die das Gegenteil des Chaos sind, das er in sich trägt, in
+der Vollendung suchen zu können glaubt: in den Einflüssen des
+Westlertums, Europas. Er fragte, ob es nicht ärgerlich sei, so sehen zu
+müssen, wie der Charakter des Russen durch Bildung verstümmelt werde:
+„denn die sogenannte Humanität erzeugt, wenn sie zur Manie wird, doch
+nur Don Quichotte“. Organisiert erschien in Rußland lediglich die
+Korruption: sie ist die Gesamtfunktion des Staates, wie sie das
+Lebensmotiv des Einzelnen ist. Gogols letzter menschlicher Rat für
+Rußland war ein Lob des Landlebens, als der letzten Stätte russischer
+und menschlicher Reinheit: dort, auf dem Lande „gibt es im Leben des
+Menschen keinen leeren Raum, dort geht der Mensch eins und einig mit der
+Natur, mit den Jahreszeiten, und nimmt Anteil an allem, was sich in der
+Schöpfung vollzieht“. Sein letztes geistiges Wort an Rußland aber war
+ein Gebet zu Gott: „ergreift irgendeine Beschäftigung, ergreift sie so,
+als ob ihr das, was ihr tut, für Ihn und nicht für die Menschen tätet!“
+
+Dostojewskis erstes und letztes Wort war dagegen der Mensch, war Gott um
+des Menschen willen, Gott und Mensch in Verbundenheit. Das unterscheidet
+ihn von Gogol, mit dem er als Russe den Konservativismus, das Leben aus
+der Urzelle teilte, und als Dichter das Problem Rußlands, die Korruption
+im Russentume, die Korrumpierung des russischen Menschen durch Bildung,
+durch Westlertum, durch das petrinische Phantom. Von der tragischen
+Schuld, die der Russe damit für Rußland auf sich geladen hatte, befreite
+er ihn in seinen großen Romanen, in der apokalyptischen Epik, die sich
+in den „Brüdern Karamasoff“ zum Berg der Läuterung türmte. Ein Inferno,
+eine Messe des schwarzen Terror, machte er daraus in den „Dämonen“, in
+denen der Politiker Dostojewski, der immer gegen das Zeitliche das Ewige
+setzte, die revolutionäre Ideologie in ihrer ethischen Untiefe und
+metaphysischen Verworrenheit bloßstellte. Und eine Groteske machte er
+daraus in einer so bizarren Erzählung wie dem „Gut Stepantschikowo“, in
+dem der Ironiker Dostojewski die russische Bildung, Unbildung,
+Halbbildung gleich einem Teufel austrieb.
+
+Gogol blieb unversöhnt und unversöhnlich. Sein Lachen war wohl voll
+Verliebtheit in den Gegenstand, aber blieb voll Bitterkeit zum Leben,
+blieb, wie es boshaft war, böse zu den Menschen. Dostojewski dagegen
+legte in seinen Humor seine Liebe zu den Menschen, zu den Russen und
+Rußland. Der Humor war für ihn ein Mittler, um diese russischen
+Menschen, die im Leben vielleicht hassenswert genug erschienen, wieder
+liebenswert in der Dichtung zu machen. Die Komik hängte er ihnen nicht
+an, gleich einer Schelle, die immer und überall den Narren verrät, wie
+Gogol tat. Die Komik legte er in die Menschen nur hinein, als eine
+Versöhnung mit ihnen in jeder Lage, in die das Leben sie bringt. Gogol
+war mitleidlos, der unbarmherzige Charakterologe, der die Menschen in
+Typen hinstellt, und einem jeden, wie mit einem Zettel, einer Marke,
+einer Nummer, die er ihnen anheftet, seinen Steckbrief mitgibt. Der
+Psychologe Dostojewski dagegen löste noch eine Hülle mehr von den
+Menschen und legte ihre Seele bloß, die den Körper belebt, und selbst
+den Kadaver belebte, auch wenn er sie verdeckte.
+
+Sogar der ewige Potemkin im russischen Leben war für ihn nicht nur
+Figur, sondern Mensch. Er kannte diesen Menschen mit allen seinen
+Schwachheiten, seinen sprunghaften europäischen Anstrengungen, seinen
+ewigen russischen Unzulänglichkeiten. Er sagte einmal: „Für mich ist die
+höchste Komik – eine Tätigkeit, die niemandem nützt.“ Das war russisch,
+das war in Rußland beobachtet, wo die einzige bemerkenswerte Tätigkeit
+seit langem die bürokratische des Staates und die dilettantische einer
+Bildung waren, die beide diesen russischen Menschen nur verdarben, der
+vor allem auf sich selbst beruhen will. Aber die Gestalt, die
+Dostojewski dann aus diesen verdorbenen russischen Menschen machte, aus
+den schuldigen und den unschuldigen, war die Gestalt der Güte, die er zu
+ihnen empfand. Er hetzte dazu die Menschen durch alle ihre
+Menschlichkeiten, aber er hetzte sie nur so lange, bis er sie dort
+hatte, wo er sie haben wollte, wo er ihre Komik herausbekam, und er sie
+durch ihre Menschlichkeit rechtfertigen konnte. Dostojewski kannte
+diesen Weg zum Humor, der auch noch immer schmerzlich ist, und dennoch
+erlösend für den, der den Humor besitzt, wie für den, den er betrifft:
+„Humor,“ sagte er ein anderes Mal, „ist die Spitzfindigkeit eines tiefen
+Gefühls.“
+
+Hinter diesem Gefühl lag bei ihm der Glaube an Rußland, an die Kraft,
+Jugend und Urgesundheit des russischen Volkes, das unzerstörbar ist und
+alle Potemkinaden der Aufklärung, der bürokratischen wie der
+literarisch-westlerischen, in innerer Unversehrtheit überdauert. Auch
+sein Humor war eine Form seiner russischen Religiosität. Im Humor der
+Völker mischen sich immer ein Menschliches und ein Seeliges, ein
+Empirisches und ein Transzendentes. Humor ist von jener Welt und äußert
+sich doch in dieser. Eine Liebe fällt aus dem Himmel auf die Erde, ein
+Lachen auf das Leid. Ja, so tief im Seelischen, in der Herzlichkeit der
+Dinge, die sind, und des Menschen, der sie anschaut, ist der Humor der
+Russen verwurzelt, daß er selbst dort, wo er zur Satire wird, sich zu
+entschuldigen und mit allem, was Anlaß zur Satire gibt, zu versöhnen
+sucht. Was dieser Humor gibt, mittelbar bei Gogol, unmittelbar bei
+Dostojewski, das ist in der Form einer großen Versöhnung mit Rußland
+eine große Entschuldigung Rußlands. Auch Dostojewski, der große Leidende
+für den russischen Menschen in jedwedem Menschen, nahm nur die
+Überlieferung auf, die sich fast von den Reformen Peters an durch die
+Literatur Rußlands gezogen hatte. Damals war zum ersten Male die
+Schicksalsfrage des Russentums gestellt worden: Europäertum oder
+Asiatentum? Fremdkultur oder Eigenkultur? oder, wie sie später
+formuliert wurde, Anschluß an die Partei der Westler? oder an die der
+Slawophilen? Und nicht müde war man von da an geworden, von Kantemir bis
+Vonwisin und Gribojedoff, den Konflikt in dieser Frage in Satiren
+auszutragen. Dann wurde die Korruption das tragikomische Thema Gogols,
+des „Revisors“ und der „toten Seelen“. Die Korruption war das moralische
+Nebenproblem des geistigen Grundproblems: wie kommt Rußland wieder zu
+sich selbst, auf daß es von sich selbst erlöst werde? Diese Frage wurde
+das zentrale Lebensproblem, das Dostojewski in Rußland vorfand und das
+über die russische Gesellschaft hinaus den russischen Menschen anging.
+Um dieses Problemes willen zog Dostojewski aus, um lebende Seelen zu
+kaufen. Und niemals wurde es ihm klarer als damals, da er aus Sibirien
+heimkehrte, aus der Einsamkeit in die Gesellschaft zurücktrat. Da sah er
+seines Volkes große und kleine Laster, sah seine Häßlichkeiten, und in
+den Häßlichkeiten seine geheime Schönheit, aber auch seine offenbare
+Lächerlichkeit. Er, der ein Dichter war, weil er ein Dulder war,
+durchschaute mit einem Male die Halben und Leeren, die wandelnden
+Karikaturen der Literatur und der Politik, die Poeten und Nihilisten,
+die Emanzipierten und Bildungsphilister. Er wurde nicht wahnsinnig über
+dieser verrückten Welt, wie Gogol über seiner verdorbenen geworden war.
+Er fand in der Tragik die Schuld, und im Humor immer noch die
+Entschuldigung der Menschen: Rußlands.
+
+ M. v. d. B.
+
+
+
+
+ Vorbemerkung.
+
+
+Die satirisch-humoristischen Dichtungen Dostojewskis: „Das Gut
+Stepantschikowo“ und „Onkelchens Traum“, sind die ersten, die er nach
+seiner Rückkehr aus Sibirien in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben,
+bzw. vollendet hat.
+
+ E. K. R.
+
+
+
+
+ I.
+
+ Stepantschikowo.
+
+
+Mein Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostaneff, war, nachdem er seinen
+Abschied genommen, auf das ihm durch Erbschaft zugefallene Gut
+Stepantschikowo übergesiedelt und hatte sich daselbst alsbald in einer
+Weise eingelebt, daß man ihn für einen eingefleischten, einen geborenen
+Gutsherrn hätte halten und von ihm denken können, er sei in seinem
+ganzen Leben noch nie über die Grenze seines Besitztums hinausgekommen.
+
+Es gibt Naturen, die tatsächlich mit allem zufrieden sind und sich an
+alles gewöhnen können. Von dieser Art war entschieden auch die Natur
+meines Onkels, des Obersten a. D. Es ist schwer, sich einen Menschen
+vorzustellen, der sanftmütiger und widerspruchsloser zu allem und jedem
+bereit gewesen wäre als er. Hätte jemand den Einfall gehabt, ihn etwa
+mit ernstestem Gesicht zu bitten, irgendeinen ihm ganz fremden Menschen
+zwei Werst weit auf seinen Schultern zu tragen, so würde er es
+wahrscheinlich auch getan haben. Er war dermaßen gut, daß er am liebsten
+gleich alles, was er besaß, auf die erste Bitte hin fortgegeben hätte –
+sein letztes Hemd dem ersten besten Bettler. Sein Äußeres war
+reckenhaft: er hatte eine hohe, straffe Gestalt, ein frisches Gesicht,
+wie Elfenbein weiße Zähne, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart, eine
+klangvolle, laute Stimme und ein offenherziges, tiefklingendes Lachen.
+Er sprach schnell und in abgerissenen Sätzen. Damals, als er nach
+Stepantschikowo zog, war er noch nicht vierzig Jahre alt. Von seiner
+Geburt oder vielmehr von seinem sechzehnten Lebensjahre an war er Husar
+gewesen. Geheiratet hatte er sehr früh, hatte seine Frau abgöttisch
+geliebt, sie aber schon bald verloren. Eine unauslöschliche, tief
+zärtliche Erinnerung an sie bewahrte er in seinem Herzen. Als ihm dann
+eines Tages das Gut Stepantschikowo, das seinen Besitz um sechshundert
+Seelen vergrößerte, durch Erbschaft zugefallen war, da hatte er den
+Abschied genommen und sich, wie gesagt, auf dem Lande niedergelassen,
+zusammen mit seinen beiden Kindern: dem achtjährigen Iljuscha – dessen
+Geburt der Mutter das Leben gekostet hatte – und der älteren, etwa
+fünfzehnjährigen Tochter Alexandra, genannt Ssaschenjka oder auch
+Ssaschúrka, die nach dem Tode der Mutter in einer vornehmen Moskauer
+Pension erzogen worden war.
+
+Leider nahm das Haus meines Onkels alsbald das Aussehen einer Arche Noah
+an, und das ging auf folgende Weise vor sich.
+
+Zur selben Zeit, als mein Onkel das Gut erbte und seinen Abschied nahm,
+geschah es, daß seine Mutter, die Generalin Krachotkina, ihren zweiten
+Mann verlor. Sie hatte nämlich zum zweitenmal geheiratet – vor etwa
+sechzehn, siebzehn Jahren, als mein Onkel noch als Fähnrich in seinem
+Regiment stand, sich aber nichtsdestoweniger auch seinerseits bereits
+mit Heiratsgedanken trug. Seine „Mama“ hatte ihm damals lange ihren
+Segen zur Heirat vorenthalten, dafür aber mit bitteren Tränen nicht
+gekargt, ihm Eigennutz vorgeworfen, Undankbarkeit, Unehrerbietung ...
+Sie hatte ihm nachgewiesen, daß heißt, mehrfach auseinandergesetzt, daß
+seine Einkünfte – er besaß zweihundertundfünfzig Seelen – nicht einmal
+zum Unterhalt seiner „Familie“ ausreichten (zum Unterhalt seiner „Mama“
+nämlich, mit deren ganzem Stabe von guten Freundinnen, die unentgeltlich
+bei ihr lebten, ihren Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und ähnlichem
+Gezeug in Mengen), bis sie dann plötzlich, inmitten dieser Vorwürfe,
+Auseinandersetzungen und Tränen, ganz unerwartet, noch bevor der Sohn
+dazu gekommen war, selbst heiratete, – obgleich sie nicht weniger als
+zweiundvierzig Jahre zählte. Übrigens fand sie auch hierfür eine
+Erklärung, die selbstredend die Schuld meinem armen Onkel in die Schuhe
+schob: sie versicherte unter Tränen, daß sie einzig aus dem Grunde
+heirate, um in ihren alten Tagen eine Unterkunft zu haben; denn ihr
+unehrerbietiger, selbstsüchtiger Herr Sohn wolle sie ja für künftighin
+ihres Obdaches berauben, jetzt, da er die unverzeihliche
+„Eigenmächtigkeit“ habe, sich einen „eigenen Hausstand“ zu gründen.
+
+Leider habe ich nie in Erfahrung bringen können, welcher entscheidende
+Grund einen anscheinend so vernünftigen Menschen wie den General
+Krachotkin zu dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe bewogen
+hatte. So muß ich denn als einzige Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er
+sie wohl für reich gehalten haben wird. Manche Leute meinten zwar, er
+hätte einfach einer Wärterin bedurft, da er schon damals jenen Schwarm
+von Krankheiten vorausgeahnt habe, der sich dann im Alter auch richtig
+auf ihn niederließ. Sicher ist nur eines: daß der General seine Frau
+während der ganzen Zeit seines Zusammenlebens mit ihr nichts weniger als
+geachtet oder gar geliebt, sondern sich bei jeder Gelegenheit mit
+beißendem Spott über sie lustig gemacht hat.
+
+Er war ein eigentümlicher Mensch: war halbgebildet und durchaus nicht
+dumm, aber er verachtete entschieden alle und jeden, befolgte keinerlei
+Regeln, spottete über sämtliche Lebenserscheinungen, angefangen beim
+Menschen und so weiter bis ins Endlose, und wurde in seinen alten Tagen
+unter dem Einfluß all seiner Krankheiten – die eine gerechte Folge
+seines nicht ganz gerechten oder rechtschaffenen Lebens waren – böse,
+boshaft, reizbar und unbarmherzig. Im Dienst hatte er Glück gehabt; aber
+zu guter Letzt war er doch gezwungen gewesen, wegen irgendeiner
+„unangenehmen Geschichte“ etwas plötzlich seinen Abschied zu nehmen,
+wobei er nur mit genauer Not dem entging, daß man ihn vor ein
+Kriegsgericht stellte und um seine Pension brachte. Dieser Abschied
+erbitterte ihn endgültig. Und so legte er denn, fast mittellos, nur im
+Besitze eines Hunderts im Elend lebender Leibeigener, die Hände in den
+Schoß und erkundigte sich hinfort bis an das Ende seiner Tage, das noch
+zwölf Jahre auf sich warten ließ, kein einziges Mal weder nach den
+Kosten seines Unterhalts, noch danach, wer sie für ihn bestritt.
+Indessen schränkte er sich nicht im mindesten ein, hielt eine Equipage,
+Pferde und einen Kutscher und verlangte nach wie vor alle
+Lebensbequemlichkeiten. Bald darauf ward er noch des Gebrauches seiner
+Beine beraubt und saß zehn Jahre lang in einem triumphstuhlartigen
+Fauteuil, der, sobald er es nur wünschte, von zwei dazu bestimmten
+Dienern geschaukelt wurde, wofür diese ausschließlich die
+verschiedenartigsten Schimpfwörter von ihm zu hören bekamen. Die
+Equipage, die Pferde und den kostspieligen Fauteuil bezahlte sämtlich
+der unehrerbietige Herr Stiefsohn, der seiner Mutter das Letzte
+schickte, sein Gut doppelt und dreifach belastete, sich selbst das
+Notwendigste versagte und Schulden über Schulden auf sein armes Haupt
+lud, die er bei seinem damaligen Besitzstand nie zu tilgen vermocht
+hätte. Nichtsdestoweniger verblieb ihm unwandelbar die Bezeichnung des
+„Egoisten“ und „undankbaren Sohnes“. Mein Onkel war aber von Natur so
+veranlagt, daß er schließlich selbst glaubte, ein „Egoist“ zu sein, und
+so schickte er, erstens um sich dafür zu strafen, und zweitens, um sich
+den „Egoismus“ abzugewöhnen, immer noch mehr Geld. Die Generalin dagegen
+war vor ihrem zweiten Gatten die Andacht selbst. Wahrscheinlich gefiel
+ihr an ihm vor allem dies, daß der General und sie folglich Generalin
+war.
+
+Im Hause bewohnte er die eine, sie die andere Hälfte. Und in dieser
+anderen Hälfte gedieh sie während der ganzen Zeit des halblebendigen
+Lebens ihres Mannes im Kreise von ihren daselbst wohnenden Freundinnen,
+Möpsen und den zum Kaffee sich einfindenden Stadthistorikerinnen. Sie
+war eine wichtige Persönlichkeit in ihrem Städtchen. Der Klatsch, die
+ergebensten Bitten, Kinder aus der Taufe zu heben, sowie die geliebte
+Kopekenpatience entschädigten sie vollauf für ihre häuslichen
+Unannehmlichkeiten. Alle Stadtelstern erschienen bei ihr mit
+ausgearbeiteten Berichten, ihr wurde überall der erste Platz eingeräumt,
+– mit einem Wort, sie wußte aus ihrem Generalstitel alles
+herauszuschlagen, was daraus nur herauszuschlagen war. Der General
+kümmerte sich um so etwas nicht. Dafür aber verspottete er seine Frau,
+und zwar mit Vorliebe in Gegenwart Fremder, fragte zum Beispiel
+ungeniert, weshalb er eigentlich „ein solches Weibsbild“ geheiratet habe
+– und niemand durfte dagegen Einspruch erheben. Mit der Zeit zogen sich
+alle Bekannten von ihm zurück, während gerade er ohne Gesellschaft nicht
+auskommen konnte: denn er wollte erzählen, schwatzen, streiten; kurz, er
+wollte, daß beständig ein Zuhörer vor ihm saß. Er war ein Freigeist und
+Atheist vom alten Schlage, und daher philosophierte er gern über höhere
+Dinge. Zum Unglück waren aber die Zuhörer des Städtchens nicht sehr
+begeistert für höhere Dinge, und so kamen sie immer seltener zu ihm.
+Dann versuchte man es mit einem Whist- oder Préférenceabend, aber auch
+daraus wurde nichts: das Spiel endete für den General gewöhnlich mit
+solchen Wutanfällen, daß die Generalin und ihr ganzer Stab von
+Freundinnen vor lauter Entsetzen vor den Heiligen Wachskerzen
+anzündeten, Messen lesen ließen, sich mit weißen Bohnen und
+französischen Karten im Wahrsagen übten, barmherzige Semmeln im
+Gefängnis austeilten und mit Hangen und Bangen der Stunde entgegensahen,
+in der sie wieder eine Partie Whist oder Préférence zustande bringen
+mußten, um für das geringste Versehen abermals Geschrei, Geschimpfe und
+fast sogar Prügel zum Dank zu erhalten. Wenn dem General etwas mißfiel,
+so tat er sich vor keinem einzigen Menschen Zwang an: er kreischte dann
+wie ein altes Weib, schimpfte wie ein Droschkenkutscher; zuweilen aber,
+wenn er alle seine Partner zum Teufel gejagt, die Karten zerrissen und
+ihnen an den Kopf geworfen hatte, weinte er vor Verdruß und Wut, was
+alles nur wegen eines armen Buben geschah, den man statt einer Neun
+ausgespielt hatte. Schließlich, als seine Sehkraft immer mehr abnahm,
+bedurfte er eines Vorlesers. Und da erschien denn Foma Fomitsch Opiskin!
+
+Ich muß gestehen, daß ich mich mit einer gewissen Feierlichkeit
+anschicke, von dieser neuen Persönlichkeit zu berichten – einer der
+wichtigsten meiner Erzählung. Inwieweit er ein Recht auf die
+Aufmerksamkeit des Lesers hat, will ich nicht im voraus zu erklären
+versuchen; darüber zu entscheiden steht vielmehr weiterhin dem Leser
+selbst zu.
+
+Als Foma Fomitsch sein Amt beim General Krachotkin antrat, erhielt er
+lediglich freie Kost – nichts mehr und nichts weniger. Woher er kam –
+ist unbekannt. Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Genaueres über das
+früheres Leben dieses merkwürdigen Menschen in Erfahrung zu bringen. Es
+hieß, daß er irgendeinmal irgendwo Beamter gewesen sei, daß man ihm dann
+ein „Unrecht“ getan und er – selbstverständlich! – „um der Wahrheit
+willen“ zum Märtyrer geworden sei. Auch verlautete von anderer Seite,
+daß er sich einmal in Moskau mit Literatur abgegeben habe, was ja weiter
+nicht erstaunlich gewesen wäre; die geradezu schmutzige Unwissenheit
+Foma Fomitschs konnte für seine literarische Laufbahn gewiß nicht als
+Hindernis in Frage kommen. Glaubwürdig ist jedoch fraglos nur das eine:
+daß er es in keinem Fach sehr weit gebracht hatte und schließlich
+gezwungen gewesen war, als Vorleser in den Dienst des Generals zu
+treten.
+
+Es gibt keine Erniedrigung, die Foma nicht für einen satten Magen in den
+Kauf genommen hätte. Freilich versicherte er uns nach dem Tode seines
+Peinigers, als er plötzlich und ganz unerwartet zu einer wichtigen,
+überaus einflußreichen Person wurde, daß er sich mit seiner
+Bereitwilligkeit, den Narren zu spielen, nur großmütig dem Freunde, der
+Freundschaft geopfert habe, daß der General sein Wohltäter und ein
+großer, doch leider unverstandener Mann gewesen sei und nur ihm, Foma,
+die tiefsten Tiefen seiner Seele vertrauensvoll erschlossen habe, und
+wenn er, Foma, auf den Wunsch des Generals die verschiedensten Tiere
+nachgeahmt und lebende Bilder gestellt, so sei dieses von ihm aus einzig
+und allein zur Zerstreuung und Erheiterung des von Krankheiten aller Art
+heimgesuchten Dulders und Freundes geschehen. Nichtsdestoweniger sind
+die Versicherungen und nachträglichen Erklärungen Foma Fomitschs
+bezüglich jenes Sachverhaltes unbedingtem Zweifel unterworfen. Doch wie
+dem auch sei, jedenfalls spielte Foma Fomitsch bereits während seines
+Narrendienstes eine durchaus andere Rolle in der Damenabteilung des
+Hauses der Generalin. Wie er das fertiggebracht hat, kann sich jemand,
+der in solchen Dingen nicht Spezialist ist, schwer vorstellen. Die
+Generalin hegte für ihn eine gerader mystische Hochachtung, – aus
+welchem Grunde sie sie hegte, vermag ich nicht zu sagen. Mit der Zeit
+gewann er über alles Weibliche im Hause eine erstaunliche Macht, die in
+etwas an die Macht gewisser Iwan Jakowlewitschs erinnerte, oder ähnlich
+benannter Weisen und Propheten, die in Irrenhäusern von Damen, die für
+dergleichen empfänglich sind, besucht zu werden pflegen. Er las ihnen
+aus seelenrettenden Büchern vor, erklärte ihnen mit beredten Tränen den
+tieferen Sinn verschiedener christlicher Tugenden, schilderte auch sein
+eigenes Leben und seine Heldentaten, ging zum Gottesdienst (und sogar
+zum Frühgottesdienst), sagte außerdem die Zukunft voraus, verstand mit
+ganz besonderem Talent Träume zu deuten und meisterhaft den Nächsten zu
+verdammen. Der General ahnte bald, was in der anderen Hälfte seines
+Hauses geschah, und tyrannisierte seinen Krippenreiter noch
+erbarmungsloser. Doch siehe, das Martyrium Foma Fomitschs verlieh diesem
+in den Augen der Generalin und ihrer ganzen Suite eine um so glänzendere
+Aureole, an die sich natürlich entsprechend gesteigerte Hochachtung
+knüpfte.
+
+Da starb der General, und die Situation änderte sich. Seine Sterbestunde
+soll übrigens ziemlich originell gewesen sein. Dem ehemaligen Freigeist
+und Atheisten war bis zur Unglaublichkeit bange geworden. Er weinte,
+bereute, küßte Heiligenbilder, rief Geistliche herbei, ließ Messen lesen
+und alle für sich beten; dazwischen schrie der arme Teufel, daß er nicht
+sterben wolle, und bat Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung, was
+diesem in der Folge sehr zustatten kam. Doch kurz bevor sich die Seele
+des Generals von seinem Körper trennte, geschah noch folgendes: Die
+Tochter der Generalin, meine Tante Praskowja Iljinitschna, die
+unverheiratet im Hause ihrer Mutter lebte – eines der liebsten Opfer des
+Generals, da sie ihm während seiner zehnjährigen Beinlosigkeit zur
+beständigen Bedienung unentbehrlich war und ihm wegen ihrer Einfachheit
+und stummen Güte gefiel, – trat nun an sein Lager, bittere Tränen
+vergießend, um das Kopfkissen des armen Sterbenden zu rücken. Da aber
+packte sie der „arme Sterbende“ an den Haaren, und es gelang ihm noch,
+sie ungefähr dreimal, fast knirschend vor Wut, mit aller und letzter
+Kraft hin und her zu reißen. Nach zehn Minuten war er tot. Der Oberst,
+mein Onkel, wurde sofort von seinem Hinscheiden benachrichtigt, obgleich
+die Generalin hundertmal gesagt hatte, daß sie eher gleichfalls sterben
+werde, als daß der Sohn ihr in einer solchen Stunde vor die Augen kommen
+sollte. Die Beerdigung war großartig – selbstverständlich auf Kosten des
+unehrerbietigen Sohnes, der, nebenbei bemerkt, auch dann sich nicht
+unterstehen durfte, das Haus seiner Mutter zu betreten.
+
+Auf dem verschuldeten Gut Knjäsewka, das mehreren Herren gemeinsam
+gehörte, und auf dem auch die hundert Leibeigenen des Generals lebten,
+steht jetzt ein Mausoleum aus weißem Marmor, besät mit Inschriften, die
+alle dem hohen Verstande, den mannigfachen Talenten, der Herzensgüte,
+dem Seelenadel und den trefflichen militärischen Eigenschaften des
+Entschlafenen das höchste Lob spenden. Bei der Zusammenstellung dieser
+Inschriften hat Foma Fomitsch stark mitgewirkt. Es dauerte lange, bis
+die Generalin ihrem unehrerbietigen Sohne Verzeihung gewährte.
+Schluchzend beteuerte sie, umringt von ihrem ganzen Gefolge,
+einschließlich der Möpse und Katzen, daß sie lieber trockenes Brot essen
+– welches sie natürlich mit ihren Tränen anfeuchten würde – oder mit
+einem Krückstock betteln gehen wolle, als daß sie der Bitte ihres
+„ungehorsamen“ Sohnes nachgäbe und zu ihm nach Stepantschikowo
+übersiedelte.
+
+„Niemals, niemals werde ich meinen _Fuß_ über seine Schwelle setzen!“
+rief sie erregt aus, wobei das Wort „mein _Fuß_“, in dieser Verbindung
+gebraucht, ungewöhnlich effektvoll herausgebracht wurde. Sie sprach es
+wirklich meisterhaft, geradezu künstlerisch aus. Kurz, Reden wurden von
+ihr in unglaublichem Überfluß vergeudet. Nur muß ich hier bemerken, daß
+gleichzeitig mit diesen Versicherungen bereits die Koffer zur
+Übersiedelung nach Stepantschikowo gepackt wurden – allerdings heimlich.
+
+Inzwischen jagte der Oberst alle seine Pferde zuschanden, da er täglich
+von seinem Gute in die vierzig Werst entfernte Stadt gefahren kam, bis
+er dann endlich, vierzehn Tage nach der Beerdigung des Generals, die
+Erlaubnis erhielt, bei seiner tiefgekränkten Frau Mutter zu erscheinen.
+Foma Fomitsch war in dieser Zeit als Unterhändler benutzt worden. Zwei
+Wochen lang warf er dem Ungehorsamen sein „unmenschliches“ Verhalten zur
+Mutter vor, brachte den Armen zu aufrichtigen Tränen und fast zur
+Verzweiflung. Von diesen Tagen an datiert der unbegreifliche,
+unmenschlich despotische Einfluß Foma Fomitschs auf meinen armen Onkel.
+Foma erriet sofort, was für einen Menschen er vor sich hatte und – daß
+seine Narrenrolle zu seinem Glück zu Ende gespielt war, folglich aber
+auch er, Foma, so etwas wie „Herr“ sein konnte. Und so entschädigte er
+sich denn.
+
+„Wie würde Ihnen zumute sein,“ fragte Foma, „wenn Ihre leibliche Mutter,
+sozusagen die Urheberin Ihrer Tage, einen Krückstock nähme und, mit
+ihren zitternden, von Hunger abgemagerten Händen sich auf ihn stützend,
+tatsächlich betteln ginge? Wäre das nicht ungeheuerlich, erstens bei
+ihrem Rang als Generalin, und zweitens bei ihren Tugenden? Was würden
+Sie empfinden, wenn sie eines Tages unter den Fenstern Ihres Hauses
+erschiene (was natürlich nur aus Versehen geschehen könnte, aber es wäre
+doch immerhin möglich), und wenn sie ihre Hand um ein Almosen bittend
+ausstreckte, während Sie, ihr Sohn, gerade irgendwo in einem Daunenbett
+versinken und ... nun, in Luxus, kurz gesagt, schwelgen? ... So etwas
+wäre doch entsetzlich, ganz entsetzlich! Am entsetzlichsten ist aber –
+gestatten Sie, Oberst, daß ich Ihnen das ganz offen sage – ja, am
+entsetzlichsten hierbei ist, daß Sie jetzt wie ein gänzlich gefühlloser
+Pfosten vor mir stehen, den Mund halb aufsperren und nur die Augenlider
+von Zeit zu Zeit zusammenklappen, was gewissermaßen sogar unhöflich ist,
+während Sie bei dem bloßen Gedanken an eine solche Möglichkeit sich die
+Haare Ihres Hauptes mit der Wurzel ausraufen und Ihren Augen Ströme ...
+was sage ich! – Flüsse, Seen, Meere, Ozeane von Tränen entfließen
+müßten!“
+
+Der übliche Ausgang seiner Reden war, daß er vor lauter Hingerissensein
+sich fortreißen ließ und die Übersicht über die Tragweite der eigenen
+Worte verlor.
+
+So kam es denn, daß die Generalin samt ihrem ganzen Stabe – alles
+Vierbeinige inbegriffen – samt Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna,
+ihrer größten Busenfreundin, endlich das Herrenhaus von Stepantschikowo
+mit ihrer Ankunft beglückte. Sie erklärte, daß sie vorläufig nur
+_versuchen_ wolle, bei ihrem Sohn zu leben, und gleichzeitig käme sie,
+um seinen Gehorsam zu prüfen. Man kann sich wohl die Lage des Obersten
+in dieser Zeit der „Prüfung seines Gehorsams“ ungefähr vorstellen!
+Anfangs hielt es die Generalin, als jüngst verwitwete Frau, für ihre
+Pflicht, etwa zwei- oder dreimal wöchentlich in der Erinnerung an ihren
+unwiederbringlich verlorenen Gatten, in Verzweiflung zu geraten; und
+diese Verzweiflung hatte die Eigentümlichkeit, sich alsbald aus
+unbekannten Gründen in einem Gewitter über dem Haupte des armen Obersten
+zu entladen. Zuweilen, vornehmlich wenn Besuch zugegen war, rief sie
+ihre beiden Enkelkinder zu sich, den kleinen Iljuscha und die
+fünfzehnjährige Ssaschenjka, hieß sie sich ihr gegenüber hinsetzen, sah
+sie lange, lange, mit traurigem, kummervollem Blick an, eben wie Kinder,
+die bei einem „_solchen Vater_“ dem Untergang geweiht sind, seufzte tief
+und schwer und brach in wortlose, geheimnisvolle, weil unerklärliche
+Tränen aus, die dann mindestens eine geschlagene Stunde unaufhaltsam
+flossen. Wehe dem Obersten, wenn er diese Tränen nicht zu begreifen
+_verstand_! Er aber, der Arme, verstand nie, sie zu begreifen, geriet
+vielmehr in seiner Naivität wie mit Absicht gerade zu diesen
+gefährlichen Stunden in ihren Gesichtskreis und mußte daher, ob er
+wollte oder nicht, eine neue Prüfung bestehen. Nichtsdestoweniger
+verringerte sich seine Ehrerbietung nicht – im Gegenteil, sie wuchs noch
+... bis sie schließlich die äußersten Grenzen erreichte. Die Generalin
+und Foma Fomitsch fühlten nun beide, daß das Gewitter, welches so lange
+Jahre in der Gestalt des Generals Krachotkin in unwandelbarer
+Beständigkeit über ihren Häuptern geschwebt hatte, endlich
+vorübergezogen war und nie mehr wiederkehren werde. Zuweilen kam es auch
+vor, daß die Generalin mir nichts dir nichts auf das Sofa sank und – „in
+Ohnmacht fiel“: alles lief dann und schrie, der Oberst war aufs äußerste
+erschrocken und zitterte wie ein Espenblatt.
+
+„Du grausamer Sohn!“ kreischte dann die Generalin los, kaum daß sie das
+Bewußtsein wiedererlangt hatte, „du hast mich zerrissen, – ^oui, moi, ta
+mère, ta mère^!“
+
+„Ja aber – wann habe ich Sie denn zerrissen, Mama?“
+
+„Das hast du, das hast du! Mich zerrissen hast du! Jetzt will er sich
+noch rechtfertigen! Er wird noch unehrerbietig! O du grausamer,
+unbarmherziger Sohn! Oh, ich sterbe!“
+
+Der Oberst aber war zerknirscht.
+
+Nur weiß ich nicht, wie es kam, daß die Generalin es mit dem Sterben nie
+wörtlich nahm.
+
+Nach einer halben Stunde erklärte der Oberst wohl einem seiner
+„Hausgäste“, ihn am Rockknopf festhaltend, die Sache auf folgende Weise:
+
+„Nun, ja, sie ist doch, Freund, Grandedame, Generalin! – das mußt du
+nicht vergessen. Sonst ist sie ja eine herzensgute, alte Frau, nur ist
+sie, weißt du, an diesen höheren Ton gewöhnt ... nun, und ich Tölpel
+verstehe eben so etwas nicht. Jetzt ärgert sie sich über mich. Es ist ja
+wahr, ich bin schuldig ... obschon mir, offen gestanden, immer noch
+nicht so recht klar ist, was ich denn eigentlich verschuldet habe, aber
+es wird wohl so sein, selbstverständlich! ...“
+
+Mitunter glaubte sich in solchen Fällen wohl auch Fräulein Perepelizyna
+verpflichtet, ihm deswegen eine Moralpredigt zu halten. Sie war ein
+etwas überreifes Fräulein, ohne Augenbrauen, mit falschem Haar, kleinen,
+stechenden Äuglein, mit Lippen, die wie Bindfaden so schmal waren, und
+mit Händen, die sie in gesalzenem Gurkenwasser wusch.
+
+„Das kommt daher, daß Sie unehrerbietig sind, und weil Sie egoistisch
+sind, weil Sie Ihre Frau Mutter kränken, Ihre Frau Mutter aber an eine
+solche Behandlung nicht gewöhnt ist ... denn sie ist doch Generalin ...
+Sie aber sind nur erst Oberst.“
+
+„Nein, weißt du, Freund,“ sagte dann wohl der Oberst zu seinem Zuhörer,
+„Fräulein Perepelizyna ist doch im Grunde ein vorzügliches Mädchen, sie
+steht wie ein Mann für meine Mutter ein! Wirklich ein seltenes Mädchen!
+Glaub’ nur nicht, daß sie irgend so eine aus Gnade und Barmherzigkeit
+ernährte Klatschbase sei! Bewahre! Sie ist selbst die Tochter eines
+Majors. Tatsache!“
+
+Doch das sind vorläufig nur so einige Beispiele. Dieselbe Generalin
+aber, die so verschiedenartige Anfälle bekam, zitterte ihrerseits wie
+eine Maus vor dem ehemaligen Narren ihres Gatten. Foma Fomitsch besaß
+förmlich Zaubermacht über diese Dame. Sie wagte nicht zu mucken, wenn er
+etwas befahl; sie hörte nur mit seinen Ohren, sah nur mit seinen Augen.
+Einer meiner Vettern zweiten Grades, gleichfalls ein Husarenoffizier a.
+D., ein noch junger Mensch, der aber nichtsdestoweniger sein ganzes
+Vermögen bereits doppelt durchgebracht hatte und sich seit einiger Zeit
+bei meinem Onkel aufhielt, erklärte mir kurz und bündig, ohne den
+geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß die Generalin nach seiner
+felsenfesten Überzeugung in „unerlaubten Beziehungen“ zu Foma Fomitsch
+stünde. Ich ließ jedoch diese Deutung selbstverständlich nicht gelten.
+Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes, viel Feineres – doch
+bleibt mir zur Erklärung dieses anderen nur eines übrig: den Charakter
+Foma Fomitschs so zu erklären, wie ich ihn mit der Zeit selbst
+beurteilen lernte.
+
+Man denke sich einen der niedrigsten, kleinmütigsten Menschen, einen
+Auswurf der Gesellschaft, für den niemand eine Verwendung hat, einen
+vollkommen nutzlosen, erbärmlichen Wicht, der aber grenzenlos eitel,
+selbstgefällig und eigennützig ist und zum Überfluß von der Natur
+entschieden nichts erhalten hat, wodurch er auch nur annähernd eine
+solche krankhaft überspannte Eigenliebe und Eigensucht rechtfertigen
+könnte. Ich will hier eines gleich vorausschicken: Foma Fomitsch ist die
+Verkörperung jener ganz besonderen schrankenlosen Eigenliebe, die sich
+nur bei der größten Nichtigkeit entwickelt. Wie gewöhnlich in solchen
+Fällen, scheint diese Eigenliebe ständig beleidigt und durch frühere
+schwere Mißerfolge gezüchtet zu sein. Sie gärt seit vielen, vielen
+Jahren, Jahrzehnten, und zeugt nur noch Neid, Gift und Galle,
+gleichviel, ob es sich um einen fremden Erfolg handelt oder bloß um eine
+neue Bekanntschaft. Es ist vielleicht überflüssig, noch hinzuzufügen,
+daß dieser ganze Charakter von einer nahezu schändlichen unverschämten
+Empfindlichkeit, dem verrücktesten Argwohn und Mißtrauen beherrscht
+wird. Vielleicht wird man fragen: Woraus ist denn diese Eigenliebe
+entstanden? Wie kann sie bei einer so offenkundigen Wertlosigkeit des
+ganzen Menschen entstehen, bei einem so nichtigen Menschen, der doch
+allein seiner sozialen Stellung nach den ihm in Wirklichkeit zukommenden
+Platz kennen müßte? – Was soll man auf solche Fragen antworten?
+Vielleicht gibt es Ausnahmen, zu denen dann auch mein Held gehört; denn
+daß er eine Ausnahme von der Regel war, unterliegt keinem Zweifel, was
+sich bei näherer Bekanntschaft sonnenklar zeigen wird. Einstweilen
+erlaube man mir eine Gegenfrage: Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß
+diese Menschen, die sich ganz und gar ergeben haben, die darin ihr Glück
+sehen und es sich zur Ehre anrechnen, daß sie jemandes Hausnarr und
+Gnadenbrotschlucker sein können – sind Sie wirklich überzeugt, daß diese
+Kreaturen sich von jedem Selbstgefühl, von jeder Eigenliebe losgesagt
+haben? Aber der Neid, der Klatsch, die Verleumdungen, die Ohrenbläserei
+und das geheimnisvolle Gezischel in den Winkeln Ihres eigenen Hauses,
+hinter Ihrem Rücken, oder die Seitenstiche an Ihrem eigenen Tisch?? Wer
+weiß, ob in einigen dieser vom Schicksal erniedrigten Gnadenbrotessern,
+Ihren Narren und Speichelleckern, die natürliche Eigenliebe durch die
+Erniedrigung nicht etwa vermindert oder erstickt, sondern gerade durch
+diese Erniedrigung, durch die Narrenrolle und die ewig erzwungene
+Unterwürfigkeit und Persönlichkeitslosigkeit noch zu einer weit größeren
+Eigenliebe aufgeschraubt wird? Wer weiß, vielleicht ist diese ins
+Ungeheuerliche entwickelte Eigenliebe nur ein falsches, entstelltes
+Empfinden der eigenen Menschenwürde, die zum erstenmal vielleicht schon
+in der Kindheit durch fremdes Joch, Armut, Schmutz oder Verachtung mit
+Füßen getreten worden ist. Oder vielleicht hat der Betreffende als
+kleines Kind seine Eltern so behandelt gesehen? Doch ich habe gesagt,
+daß Foma Fomitsch außerdem noch eine Ausnahme darstellte – er war in der
+Tat ein ganz besonderer Fall. Er hatte sich einmal für einen Literaten
+gehalten, war aber von den anderen nicht anerkannt und folglich
+zurückgesetzt, gekränkt, beleidigt worden. Die Literatur aber – d. h.
+jene, die er natürlich nicht anerkannte – kann sich wegen eines Foma
+Fomitsch nicht selbst aufgeben! Ich weiß es zwar nicht genau, aber es
+ist doch anzunehmen, daß Foma Fomitsch auch _vor_ seinen literarischen
+Versuchen nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war; vielleicht hatte
+er auch in jeder anderen von ihm versuchten Tätigkeit nur Nasenstüber
+anstatt einer Belohnung erhalten – oder vielleicht noch Schlimmeres.
+Doch darüber läßt sich nichts Genaues feststellen; erfahren habe ich nur
+nach vielfachen Erkundigungen, daß Foma Fomitsch in Moskau tatsächlich
+einmal einen kleinen Roman geschrieben hat, äußerst ähnlich jenen Werken
+der dreißiger Jahre, von denen jährlich ein Dutzend erschienen, in der
+Art der „Befreiungen Moskaus“ oder der „Söhne der Liebe oder der Russen
+im Jahre 1104“. Das war allerdings vor langer Zeit, aber der
+Schlangenbiß des literarischen Ehrgeizes verwundet oft tief und
+unheilbar, was namentlich von nichtigen und dummen Leuten gilt. Foma
+Fomitsch war sogleich nach seinem ersten literarischen Versuch, wie wir
+annehmen müssen, in seinem Ehrgeiz getroffen, und so schloß er sich ohne
+weiteres endgültig jener unzählbaren Schar der Zurückgesetzten an, aus
+der dann später alle diese Sonderlinge, Hampelmänner und
+gesellschaftlichen Vagabunden hervorgehen. Zu derselben Zeit begann, wie
+ich glaube, auch diese unglaubliche Prahlsucht sich in ihm zu
+entwickeln, dieses gierige Bedürfnis nach Lob und Auszeichnungen,
+Verehrung und Bewunderung. Selbst als Narr hatte er sich einen Kreis ihn
+andächtig anstaunender Idioten zu schaffen gewußt. Sein einziges
+Verlangen war: stets den Vorrang zu haben, sich zeigen zu können, gelobt
+zu werden. Lobten ihn die anderen nicht, so lobte er sich selbst. Ich
+habe seine Reden im Hause meines Onkels in Stepantschikowo, nachdem er
+dort unumschränkter Herrscher geworden war, selbst gehört. „Ich gehöre
+nicht in Ihren Kreis,“ pflegte er oft genug mit einer gewissen
+geheimnisvollen Feierlichkeit zu sagen.
+
+„Ja, ich gehöre nicht hierher in Ihren Kreis! Ich werde wirken, werde
+Sie hier zuerst alle unterbringen und Ihr Leben einrichten, Sie zu leben
+lehren, dann aber – lebt wohl! Dann geht’s nach Moskau, und dort werde
+ich eine Zeitschrift herausgeben. Dreißigtausend Menschen werden sich
+monatlich zu ihrer Lektüre zusammenfinden. Ja, dann wird mein Name
+klingen ... und dann – wehe meinen Feinden!“
+
+Inzwischen aber forderte das Genie die Belohnung im voraus. Es ist ja im
+allgemeinen sehr angenehm, im voraus belohnt zu werden, um wieviel mehr
+aber ist es das in einem solchen Fall. Wie ich genau weiß, hat er meinem
+Onkel in allem Ernst versichert, daß ihm eine große Tat bevorstehe, eine
+Tat, zu der er allein berufen und geboren sei, und zu deren Vollbringung
+ihn ein geflügeltes Wesen von Menschenart, das in der Nacht bei ihm
+erscheine, zwinge. Und diese Tat sei: ein tiefsinniges, die Seelen der
+Menschen errettendes Werk zu schreiben, von dem „ein allgemeines
+Erdbeben ausgehen“ und das „ganz Rußland erzittern machen“ werde. Doch
+wenn dann sein Name in aller Mund sei, dann werde er, Foma, den Ruhm und
+die Ehre verachtend, sich ins Kijewsche Höhlenkloster zurückziehen, um
+dort unter der Erde Tag und Nacht für das Glück des Vaterlandes zu beten
+... So etwas aber rührte meinen Onkel.
+
+Jetzt stelle man sich vor, zu was sich dieser Foma entwickeln konnte,
+dieser selbe Foma, der sein ganzes Leben lang geknechtet und vielleicht
+sogar tatsächlich geprügelt worden war, dieser selbe Foma, der im
+geheimen so genußgierig und so eigenliebig war wie kein zweiter, Foma,
+der enttäuschte, erbitterte Literat, Foma, der für das tägliche Brot den
+Narren gespielt, Foma, der im Grunde seiner Seele der größte Despot war,
+ungeachtet seiner ganzen vorhergehenden Niedrigkeit und
+Bedeutungslosigkeit, Foma, der Prahlhans und unverschämte Frechling
+(sobald er nur Gelegenheit hatte, es zu sein), dieser selbe Foma, der
+dann plötzlich zu Ruhm und Ehre gelangte, verhätschelt und gelobt und in
+den Himmel gehoben wurde, dank einer törichten, kindisch-dummen
+Beschützerin und einem ahnungslosen, von vornherein mit allem
+einverstandenen Beschützer, in dessen Hause er sich endlich nach langen
+Irrfahrten zur Ruhe setzen konnte! Freilich muß ich auch den Charakter
+meines Onkels eingehender erklären; denn sonst würde der Erfolg Foma
+Fomitschs immerhin nicht ganz verständlich sein. Auf Foma paßte
+vorzüglich das Sprichwort: läßt du den Ziegenbock in die Kirche hinein,
+so steigt er sofort auf die Kanzel. Ja, Foma verstand es wahrlich, sich
+für das Vergangene zu entschädigen! Ein niedriger Charakter wird, sobald
+er von seinem Bedrücker befreit ist, sofort andere bedrücken. Foma nun
+war tyrannisiert worden – und er empfand sofort das Bedürfnis, jetzt
+selbst zu tyrannisieren; man hatte ihn zum besten gehabt, – folglich
+wollte auch er jetzt andere zum besten haben; er war Narr gewesen, nun
+mußte auch er unbedingt Narren haben. Er prahlte bis zur Verrücktheit,
+war herrschsüchtig bis zur Unmenschlichkeit, war anspruchsvoll ohne
+jedes Maß, verlangte womöglich Vogelmilch – so daß Leute, die von ihm
+nur erzählen hörten, ihn aber nicht persönlich kannten, diese
+Geschichten aus Stepantschikowo für Märchen hielten oder für des Teufels
+Machwerk, sich bekreuzten und ausspien.
+
+Ich sagte vorhin, daß ohne eine Erklärung des bemerkenswerten Charakters
+meines Onkels diese freche Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden
+Hause unbegreiflich erscheinen müsse, unbegreiflich diese Metamorphose
+aus einem Narren in eine große Persönlichkeit. Mein Onkel war nicht nur
+unsäglich gut, sondern trotz seiner ganzen militärischen Erscheinung
+auch ein selten zartfühlender Mensch, ein überaus edler, männlicher
+Charakter. Ich sage mit Absicht „männlich“ und betone dieses Wort. Wenn
+es für ihn hieß, eine Pflicht zu erfüllen, dann kannte er nie ein
+Hindernis, dann schrak er vor nichts zurück. Seine Seele war rein wie
+die eines Kindes. Man konnte ihn wirklich ein fast vierzigjähriges Kind
+nennen. Er war äußerst mitteilsam, stets heiter gestimmt, sah in jedem
+Menschen einen Engel, hielt alle fremden Mängel nur für Folgen seiner
+eigenen Fehler, vergrößerte die guten Eigenschaften der anderen
+unendlich und sah solche sogar dort, wo sie überhaupt nicht vorhanden
+sein konnten. Er war einer jener durch und durch edlen Menschen, die so
+keuschen Herzens sind, daß sie sich geradezu schämen, in einem anderen
+Menschen etwas Schlechtes zu vermuten, ja, daß sie sich beeilen, ihre
+Nächsten mit allen Tugenden auszuschmücken; einer jener Menschen, die
+sich über jeden Erfolg anderer freuen, auf diese Weise beständig in
+einer idealen Welt leben und bei einem Unglück immer sich zuerst, sich
+ganz allein beschuldigen. Sich selbst den Interessen anderer zu opfern,
+scheint ihre Lebensaufgabe zu sein. Manch einer hätte meinen Onkel
+vielleicht sogar kleinmütig, charakterlos, schwach genannt. Allerdings
+war er schwach bei seinem gar zu weichen Herzen; nur war er es nicht aus
+Mangel an Charakterfestigkeit, sondern aus Furcht, zu kränken, grausam
+zu sein, oder aus gar zu großer Hochachtung vor anderen – vor dem
+Menschen überhaupt. Und übrigens war er nur dann schwach und kleinmütig,
+wenn es sich um seine eigenen Interessen handelte, die er immer
+hintansetzte, wofür er sich sein Leben lang dem Gespött der Menschen
+aussetzte, und nicht selten dem Gespött gerade derjenigen, für die er
+sich opferte. Niemals hätte er geglaubt, daß er Feinde haben könnte, und
+dennoch hatte er sie – nur bemerkte er sie nicht. Zwist und Geschrei im
+Hause fürchtete er mehr als Feuer, und so gab er allen in allem sofort
+nach und ergab und beschied sich stets. Er tat es aus einer gewissen
+schüchternen Gutmütigkeit heraus, aus einem fast zärtlichen Zartgefühl,
+– „damit, weißt du,“ sagte er schnell, gewissermaßen, um sich gegen
+etwaige Vorwürfe zu verteidigen, – „damit, weißt du ... nun, damit alle
+zufrieden und glücklich sind!“ Es versteht sich von selbst, daß er jedem
+edlen Einfluß zugänglich war; ja, ein gewandter Spitzbube hätte sich
+seiner vollkommen bemächtigen und ihn sogar zu einer schlechten Tat
+verleiten können, d. h. wenn er diese schlechte Tat als edel hingestellt
+hätte. Mein Onkel ließ sich leicht von anderen lenken, besonders wenn er
+dem Betreffenden einmal sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte; in dieser
+Beziehung war er also durchaus nicht fehlerfrei. Wenn er sich aber dann
+nach lange gezahltem schmerzlichen Lehrgeld endlich entschloß, daran zu
+glauben, daß der ihn Betrügende ein unehrlicher Mensch war, so
+beschuldigte er vor allen anderen sich selbst, und nicht selten nur sich
+allein. Nun denke man sich in seinem stillen Hause diese plötzlich die
+Herrschaft an sich reißende, launenhafte, verschrobene Idiotin von
+Mutter, zusammen mit einem anderen Idioten – ihrem Abgott –, eine
+Idiotin, die bis dahin nur ihren General gefürchtet hatte, jetzt aber
+nichts mehr fürchtete und sogar das Bedürfnis empfand, sich für die
+schlechten Lebensjahre zu entschädigen – eine Idiotin, der der Oberst
+frommen Gehorsam schuldig zu sein glaubte, und zwar einzig aus dem
+Grunde, weil sie seine Mutter war.
+
+Man begann damit, daß man dem Oberst bewies, daß er ein roher Mensch
+sei, unduldsam, unwissend und vor allen Dingen ein „Egoist ersten
+Ranges“. Bemerkenswert war dabei, daß die blödsinnige Alte selbst
+vollkommen an das glaubte, was sie predigte. Ja, ich vermute sogar, auch
+Foma Fomitsch tat das, oder wenigstens zum Teil. Man überzeugte den
+Oberst, daß Foma von Gott selbst zur Rettung seiner, des Obersten, Seele
+vom Himmel herabgesandt sei, desgleichen zur Besänftigung seiner
+zügellosen Leidenschaften; daß er stolz sei, mit seinem Reichtum prahle
+und fähig wäre, Foma Fomitsch wegen des täglichen Brotes, das er von ihm
+empfing, Vorwürfe zu machen. Mein armer Onkel glaubte bald selbst an die
+Tiefe seiner sittlichen Gesunkenheit und war bereit, sich die Haare vor
+Reue auszuraufen und Foma um Verzeihung zu bitten ...
+
+„Weißt du, Freund, ich bin selbst daran schuld,“ sagte er zuweilen einem
+seiner Hausgäste, mit dem er sich gerade unterhielt, „und zwar an allem!
+Man muß doppelt zartfühlend sein im Umgang mit einem Menschen, dem man
+Gutes tut ... Das heißt ... was sage ich! Was Gutes tut! Was schwatze
+ich da wieder! Durchaus nicht Gutes tut, sondern im Gegenteil – er ist
+es, der mir Gutes tut, indem er bei mir wohnt, aber nicht umgekehrt! ...
+Das heißt, ich habe ihm meines Wissens noch nie auch nur das Geringste
+vorgeworfen, aber ich muß es doch wohl getan haben ... wahrscheinlich
+ist mir wieder einmal so etwas entschlüpft, – mir entschlüpft oft etwas
+Unüberlegtes ... Nun, und schließlich – der Mensch hat gelitten, hat
+Großes vollbracht, hat zehn Jahre lang, ohne auf die Kränkungen zu
+achten, seinen kranken Freund gepflegt: so etwas muß belohnt werden! Ja,
+und dann die Wissenschaft ... Er ist doch Schriftsteller! Ungemein
+gebildet! Ein überaus edler Mensch, mit einem Wort! ...“
+
+Ja, Foma, der Gebildete und Unglückliche, der bei einem launischen und
+grausamen Freunde den Narren hatte spielen müssen, erweckte in dem edlen
+Herzen meines Onkels das tiefste Mitleid. Alle Seltsamkeiten Fomas,
+sowie alle seine schändlichen Ausfälle dem Hausherrn gegenüber, wurden
+von diesem ohne weiteres mit seinen früheren Leiden, seiner Erniedrigung
+und Verbitterung entschuldigt. Er sagte sich in seiner gutmütigen, stets
+nachsichtigen Seele, daß man von einem Gemarterten nicht dasselbe
+verlangen könne wie von einem gewöhnlichen Menschen, daß man ihm nicht
+nur alles verzeihen, sondern mit Demut seine Wunden heilen, ihn
+aufrichten und mit der Menschheit wieder aussöhnen müsse. Nachdem er
+sich dieses einmal zum Ziel gesetzt hatte, begeisterte er sich geradezu
+für seine Aufgabe und verlor gänzlich die Fähigkeit, auch nur entfernt
+zu erraten, daß sein neuer Freund ein gieriger, eigennütziger Lump war,
+ein Egoist, Faulpelz und Aussauger – und weiter nichts. An das Wissen
+und die Genialität Fomas glaubte er einwandlos. Ich habe noch vergessen
+zu sagen, daß mein Onkel vor Worten wie „Wissenschaft“ oder „Literatur“
+eine Hochachtung empfand, die von der größten Naivität war, um so mehr,
+als er selbst niemals etwas gelernt hatte. Das war nun einmal eine
+seiner wirklichen und unschuldigsten Schwächen.
+
+„Pst! Er schreibt an seinem Werk!“ sagte er zuweilen zur Erklärung, wenn
+er schon in einem Zimmer, das noch ganz fern von Foma Fomitschs
+„Arbeitskabinett“ lag, nur auf den Fußspitzen zu gehen wagte. „Ich weiß
+nicht, was er da eigentlich schreibt,“ fügte er mit halbwegs stolzer und
+geheimnisvoller Miene hinzu; „aber sicherlich wird es, Freund, ein
+solches Durcheinander sein ... Das heißt selbstverständlich, was sage
+ich! – nur im guten Sinne ein Durcheinander! Für manch einen wird es ja
+klar wie Tinte sein, für unsereinen aber, Bruder, sind das solche
+Gedankenpurzelbäume, daß ... Ich glaube, er schreibt da von gewissen
+erzeugenden Kräften – so sagt er wenigstens selbst. Es ist
+wahrscheinlich etwas Politisches. Ja, ja, einmal wird sein Name einen
+großen Klang haben! Dann werden auch wir beide durch ihn berühmt werden!
+Das hat er mir, weißt du, selbst gesagt ...“
+
+Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat sich mein Onkel auf Fomas Befehl
+seinen prächtigen dunkelblonden Backenbart abrasieren müssen, da jener
+gefunden hatte, daß er mit dem Backenbart wie ein Engländer aussehe und
+folglich „wenig Vaterlandsliebe“ habe. Mit der Zeit begann Foma sich
+auch in die Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge zu
+erteilen, die, nebenbei bemerkt, fürchterlich waren. Die Bauern errieten
+denn auch bald, wie es sich damit verhielt, und wer der wahre Herr auf
+dem Gute war – und sie kratzten sich bedenklich hinterm Ohr. Ich habe
+späterhin selbst Gelegenheit gehabt, einem Gespräch Foma Fomitschs mit
+den Bauern zuzuhören. Ich will gleich gestehen, daß ich heimlich
+gelauscht habe. Foma hatte oft genug gesagt, daß er gern mit einem
+klugen russischen Bauern rede. Eines Tages ging er zur Tenne. Er sprach
+mit den Bauern über die Feldarbeit, die Landwirtschaft – obgleich er
+selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden verstand, – sprach von
+den heiligen Pflichten des Bauern seinem Herrn gegenüber, berührte
+darauf Themen wie Industrialismus, Elektrizität und die Erleichterung
+der Arbeit – wovon er selbst natürlich kein Wort begriff, – erklärte
+seinen Zuhörern, in welcher Weise die Erde sich um die Sonne drehe, um
+dann schließlich, ganz gerührt von seinen eigenen Kenntnissen, auf die
+Minister zu sprechen zu kommen. Ich verstand ihn. Erzählt doch Puschkin
+von einem Vater, der seinem vierjährigen Söhnchen sagt, er, sein
+„Papachen“, sei so „brav und tapfer, daß der Kaiser ihn ganz besonders
+liebe“. Auch dieser Vater bedurfte eines Zuhörers, und wenn der Zuhörer
+auch erst vier Jahre zählte ... Die Bauern aber hörten Foma stets voll
+Ehrerbietung zu.
+
+„Aber was, Väterchen, bekommst du auch viel kaiserliches Gehalt?“ fragte
+ihn plötzlich ein kleiner Alter, Archip Korotkij genannt, aus der Schar
+der vor ihm stehenden Bauern, mit der unverhohlenen Absicht, etwas
+Angenehmes zu fragen. Foma Fomitsch fand jedoch diese Frage zu
+„familiär“. „Familiarität“ aber konnte er nicht ertragen.
+
+„Was geht das dich an, du Lümmel?“ antwortete er mit verächtlichem Blick
+auf das arme Bäuerlein. „Was steckst du hier deine Schnauze vor – soll
+ich sie etwa anspeien?“
+
+Foma Fomitsch sprach nie in einem anderen Tone mit dem „verständigen
+russischen Bauern“.
+
+„Ach, Väterchen, wir sind doch unwissende Leute,“ sagte ein anderes
+Bäuerlein. „Was wissen wir viel, vielleicht bist du Major, vielleicht
+Oberst, vielleicht sogar ganzer General – wir wissen ja nicht einmal,
+wie man dich betiteln muß.“
+
+„Lümmel!“ wiederholte bloß Foma Fomitsch, war aber doch sogleich
+nachsichtiger gestimmt. „Zwischen Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied,
+Dummkopf! Manch einer ist General und erhält überhaupt nichts; denn es
+ist kein Grund vorhanden, ihm etwas zu geben, weil er dem Kaiser keinen
+Nutzen bringt. Ich dagegen erhielt zwanzigtausend Rubel jährlich, als
+ich beim Minister angestellt war, und selbst dieses Geld nahm ich nicht;
+denn ich diente um der Ehre willen und hatte außerdem eigenes genug.
+Mein Gehalt aber stiftete ich für staatlichen Unterricht und für die
+niedergebrannten Einwohner der Stadt Kasanj.“
+
+„Dann hast du ja halb Kasanj von neuem aufgebaut?“ fragte verwundert
+derselbe Bauer.
+
+Überhaupt kann man sagen, daß alle Bauern sich nicht wenig über Foma
+Fomitsch wunderten ...
+
+„Nun, ja, versteht sich, auch mein Teil ist dabei ...“ sagte Foma,
+gleichsam ungehalten über sich, daß er einen _solchen_ Menschen eines
+_solchen_ Gesprächs gewürdigt hatte.
+
+Mit meinem Onkel dagegen waren seine Gespräche anderer Art.
+
+„Was waren Sie früher für ein Mensch?“ fragte zum Beispiel Foma, sich
+nach dem opulenten Mittagsmahl im Lehnstuhl streckend – hinter dem ein
+Diener stehen und mit einem frischen Lindenzweig die Fliegen sanft
+fortwedeln mußte.
+
+„Wem glichen Sie früher, bevor ich kam? Jetzt habe ich in Ihnen einen
+Funken jenes himmlischen Feuers entzündet, das seitdem in Ihrer Seele
+brennt. Habe ich das himmlische Feuer in Sie hineingelegt oder nicht?
+Antworten Sie: ja oder nein?“
+
+Foma Fomitsch wußte, genau genommen, selbst nicht, weshalb er diese
+Frage stellte. Aber das Schweigen und die gewisse Betretenheit in der
+Miene meines Onkels reizten ihn sogleich. Er, der früher geduldig alles
+ertragen hatte, war jetzt zu wahrem Schießpulver geworden, das bei
+jedem, auch dem geringsten Widerspruch aufflammte. Da er das Schweigen
+des Obersten als Beleidigung auffaßte, bestand er mit doppeltem
+Eigensinn auf der Antwort.
+
+„Antworten Sie: brennt in Ihnen dieses Feuer oder nicht?“
+
+Der arme Oberst wand sich innerlich in seiner Ratlosigkeit: er wußte
+wirklich nicht, was er tun oder sagen sollte.
+
+„Gestatten Sie, Sie daran zu erinnern, daß ich warte,“ bemerkte Foma mit
+gekränkter Stimme.
+
+„^Mais répondez donc^, Jegóruschka!“ mischte sich auch die Generalin mit
+einem Achselzucken ein.
+
+„Ich frage Sie: Glimmt in Ihnen noch dieser Funke oder nicht?“
+wiederholte Foma mit nachsichtiger Herablassung und nahm einen Bonbon
+aus der Bonbonnière, die immer und überall vor ihn hingesetzt wurde. Das
+geschah auf Anordnung der Generalin.
+
+„Bei Gott, ich weiß es nicht, Foma,“ antwortete der Oberst schließlich,
+Verzweiflung im Blick – „es muß doch wahrscheinlich etwas von der Art
+... Nein wirklich, frag’ mich lieber nicht, sonst lüge ich noch irgend
+etwas zusammen ...“
+
+„Gut! So bin ich denn Ihrer Meinung nach so wertlos, daß ich nicht
+einmal einer Antwort wert bin – das ist es doch, was Sie damit sagen
+wollten? Nun, mag es denn so sein; mag ich also nichts bedeuten!“
+
+„Aber nein doch, Foma, um Gottes willen! Wann habe ich denn so etwas
+sagen wollen?“
+
+„Sie haben gerade dieses und nichts anderes damit sagen wollen.“
+
+„Aber ich schwöre dir, – _nein_!“
+
+„Gut! Mag ich also ein Lügner sein! Mag ich also, nach Ihrer
+Anschuldigung, absichtlich einen Vorwand zum Streit suchen! Mag also zu
+allen anderen Beleidigungen auch diese noch hinzukommen – ich trage
+alles ...“
+
+„^Mais mon fils!^“ rief erschrocken die Generalin aus.
+
+„Aber Foma Fomitsch! Mama!“ beschwor der Oberst verzweifelt. „Bei Gott,
+ich bin doch nicht daran schuld! Es ist mir vielleicht nur wieder etwas,
+ohne zu wollen, entschlüpft! ... Sieh mich doch nicht so an, Foma: ich
+bin ja ein ungebildeter Mensch – ich fühle ja selbst, daß ich dumm bin,
+ich fühle ja selbst, daß etwas nicht stimmt ... Ich weiß es, Foma,
+glaub’ mir, ich weiß alles! Du brauchst es mir ja gar nicht erst zu
+sagen!“ wehrte er sich, immer verzweifelter. „Ich habe vierzig Jahre
+verlebt und die ganze Zeit, bis zu dem Augenblick, da ich dich kennen
+lernte, immer von mir geglaubt, daß ich ein Mensch sei ... Nun, und
+alles, was daraus folgt, mit einem Wort: eben ein Mensch! ... Und ich
+habe ja wirklich bis jetzt nicht gewußt, daß ich sündig bin wie nur
+einer, ein Egoist erster Sorte – und so viel Schlechtes in meinem Leben
+getan habe, daß man sich nur wundern kann, wie die Erde mich noch
+trägt!“
+
+„Ja, Sie sind allerdings ein beispielloser Egoist, das muß ich sagen!“
+bemerkte überzeugt Foma Fomitsch.
+
+„Aber ich begreife es ja jetzt selbst, daß ich ein Egoist bin! Nein,
+Kreuzmillionen, ich muß mich bessern, und ich werde es!“
+
+„Gott geb’s!“ schloß Foma Fomitsch mit einem frommen Aufseufzen und
+erhob sich aus seinem Lehnstuhl, um sich zu seinem Nachmittagsschläfchen
+zurückzuziehen. Foma Fomitsch pflegte jedesmal nach dem Essen zu
+schlafen.
+
+Zum Schlusse dieses Kapitels muß ich noch einiges von meinen
+persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel sagen und vor allem erklären,
+wie es kam, daß ich plötzlich Auge in Auge Foma Fomitsch gegenüberstand
+und ungewollt und unverhofft in den Strudel der größten Ereignisse
+hineingeriet, die sich jemals in dem gesegneten Herrenhause von
+Stepantschikowo zugetragen haben. Damit beabsichtige ich diese
+Einleitung zu schließen, um alsdann zur eigentlichen Erzählung
+überzugehen.
+
+In meiner Kindheit, als ich verwaist und ohne Geld in der Welt
+zurückblieb, nahm sich mein Onkel meiner an, erzog mich auf seine Kosten
+und tat für mich, kurz gesagt, manches, was oft selbst ein leiblicher
+Vater nicht getan hätte. Schon am ersten Tage, an dem er mich zu sich
+nahm, hing ich mich mit ganzer Seele an ihn. Damals war ich zehn Jahre
+alt, und ich weiß noch, daß wir bald die besten Freunde waren und
+einander vorzüglich verstanden. Wir drehten beide Brummkreisel,
+stibitzten beide die Nachthaube einer alten, giftigen Jungfer, mit der
+wir entfernt verwandt waren. Die Nachthaube band ich übrigens an den
+Schweif meines Papierdrachens und ließ sie mit diesem in die Lüfte
+steigen. Darauf vergingen viele Jahre, und ich sah meinen Onkel erst in
+Petersburg wieder, wohin er auf ein paar Tage gekommen war, als ich –
+immer auf seine Kosten – das Gymnasium absolvierte. Während dieses
+Besuches hing ich mich wieder mit der ganzen Leidenschaft der Jugend an
+ihn: es war etwas Edles, Vornehmes, Aufrichtiges in seinem Charakter,
+und es war vor allem seine Heiterkeit und seine unglaubliche Naivität,
+die mich und jeden anderen anzogen. Nachdem ich dann mein Studium auf
+der Universität beendet hatte, lebte ich eine Zeitlang in Petersburg,
+ohne mit etwas beschäftigt zu sein, und war, wie so mancher Milchbart,
+fest überzeugt, daß ich in allernächster Zeit ungeheuer viel
+Bemerkenswertes und sogar Großes vollbringen werde. Petersburg verlassen
+wollte ich noch nicht. Meinem Onkel schrieb ich nicht allzuoft,
+eigentlich nur dann, wenn ich Geld brauchte, das er mir nie verweigerte.
+Da geschah es, daß ich von einem Hofbauern meines Onkels, der zufällig
+in Geschäften nach Petersburg gekommen war, hörte, daß bei ihnen in
+Stepantschikowo wunderliche Dinge vor sich gingen. Die betreffenden
+Mitteilungen setzten mich in Erstaunen und erweckten sogleich mein
+Interesse. Ich begann meinem Onkel öfter zu schreiben. Er antwortete mir
+immer etwas undeutlich und eigentümlich, und schien sich offenbar beim
+Schreiben eines jeden Briefes krampfhaft zu bemühen, nur von der
+Wissenschaft zu reden, da er von mir in Zukunft große Dinge erwartete,
+und auf meine etwaigen Erfolge bereits im voraus nicht wenig stolz war.
+Dann aber erhielt ich eines schönen Tages, nach längerem Schweigen,
+einen Brief von ihm, der allen vorhergehenden Briefen durchaus unähnlich
+war. Er setzte sich aus so seltsamen Andeutungen zusammen, aus so
+wunderlichen Widersprüchen, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht
+verstand. Ich fühlte nur heraus, daß der Schreiber des Briefes sich in
+großer Aufregung befunden haben mußte. Nichtsdestoweniger ging aus dem
+ganzen Schreiben die Hauptsache ziemlich klar hervor: der Onkel bat mich
+in allem Ernst, ja, fast flehte er mich an, sobald wie möglich die
+Erzieherin seiner Kinder, die Tochter eines armen Provinzialbeamten
+Jeshowikin, die in Moskau, gleichfalls auf Kosten meines Onkels, in
+einer vorzüglichen Anstalt erzogen worden war, – zu heiraten. Er
+schrieb, sie sei unglücklich, ich aber könnte sie glücklich machen, ganz
+abgesehen davon, daß es eine großmütige Handlung meinerseits wäre. Er
+rief noch den Edelmut meines Herzens an und versprach gleichzeitig, dem
+jungen Mädchen eine gute Mitgift zu geben. Von der Mitgift schrieb er
+übrigens sehr ängstlich, wie von einer dummen Nebensache –
+wahrscheinlich in der Furcht, mich zu kränken – und schloß den Brief mit
+der flehenden Bitte, tiefstes Schweigen in dieser ganzen Angelegenheit
+zu wahren.
+
+Dieser Brief stieß mich dermaßen vor den Kopf, daß mir förmlich
+schwindlig wurde. Aber auf welchen jungen Menschen, der wie ich kaum
+erst von der Schule und Universität kam, würde ein solches Anerbieten
+keinen tiefen Eindruck machen, und wär’s auch nur, sagen wir, von der
+romanhaften Seite? Zudem hatte ich schon gehört, daß diese junge
+Gouvernante – eine ganz reizende junge Dame sei. Indessen wußte ich
+wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn ich auch meinem Onkel umgehend
+schrieb, daß ich mich unverzüglich nach Stepantschikowo begeben werde.
+Mein Onkel hatte mir gleichzeitig mit dem Brief auch das Reisegeld
+übersandt. Doch trotz alledem konnte ich mich nicht so schnell
+entschließen und zögerte noch ganze drei Wochen in Petersburg. Da traf
+ich plötzlich einen Freund meines Onkels, der mit ihm früher im selben
+Regiment gestanden und nun auf der Rückreise aus dem Kaukasus nach
+Petersburg ihn unterwegs in Stepantschikowo besucht hatte. Es war dies
+ein schon älterer, sonst vernünftig denkender Mensch, doch ein
+eingefleischter Junggeselle. Ganz empört erzählte er mir von Foma
+Fomitsch, und dann teilte er mir noch etwas mit, wovon ich bis dahin
+keine Ahnung gehabt hatte: daß Foma und die Generalin beschlossen
+hätten, den Obersten mit einem äußerst seltsamen alten Mädchen, das
+mindestens halbverrückt sei, eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und
+wenigstens eine halbe Million Mitgift habe, zu verkuppeln. Die Generalin
+habe ihre zukünftige Schwiegertochter zu überzeugen gewußt, daß sie
+verwandt seien und sie folglich bei ihnen leben müsse; der Oberst sei
+natürlich verzweifelt, doch werde es aller Voraussicht nach damit enden,
+daß er die halbe Million heirate; und zum Schluß fügte der Betreffende
+noch hinzu, daß die beiden Diplomaten, Foma wie die Generalin, die arme,
+schutzlose Erzieherin der Kinder meines Onkels entsetzlich behandelten
+und sie mit aller Gewalt zum Hause hinaustreiben wollten, wahrscheinlich
+in der Angst, der Oberst könnte sich in sie verlieben, oder weil er sich
+vielleicht schon in sie verliebt hatte. Diese letzte Mitteilung machte
+mich stutzig. Doch auf alle meine Fragen, ob der Oberst sich inzwischen
+nicht tatsächlich in sie verliebt habe, konnte oder wollte er mir keine
+bestimmte Antwort geben – und überhaupt sprach er ziemlich einsilbig und
+ersichtlich ungern von der ganzen Angelegenheit, ja, er umging einfach
+alle näheren Erklärungen. Ich wurde nachdenklich: diese neuen
+Aufschlüsse widersprachen so auffallend dem Briefe meines Onkels und
+seinem Vorschlag! ... Aber wozu Zeit verlieren, dachte ich. Ich
+beschloß, sofort nach Stepantschikowo zu fahren, nicht nur, um meinen
+Onkel zu beruhigen und zur Vernunft zu bringen, sondern auch, um ihn zu
+retten, nämlich Foma vor die Tür zu setzen, zu verhindern, daß er mit
+der alten Jungfer verkuppelt wurde, und dann – da mir nach reiflicher
+Überlegung die Liebe meines Onkels zu der jungen Erzieherin als
+entschiedenes Hirngespinst Foma Fomitschs erschien – die Unglückliche zu
+beglücken, mit anderen Worten, um die Hand des interessanten jungen
+Mädchens anzuhalten usw. Allmählich begeisterte ich mich immer mehr für
+mein Vorhaben, so daß ich – wie das so in der Jugend zu geschehen pflegt
+– aus den stärksten Bedenken alsbald in das entgegengesetzte Extrem
+geriet. Mich verzehrte förmlich das Verlangen, möglichst schnell die
+größten Wunder und Heldentaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß
+ich ungewöhnliche Großmut bekunde, mich edelmütig opfere, um ein
+unschuldiges, prachtvolles Geschöpf zu beglücken, – kurz, ich war
+während der ganzen Fahrt überaus zufrieden mit mir. Es war Juli; die
+Sonne schien strahlend hell; ringsum sah ich, soweit nur das Auge
+schweifen konnte, die unermeßliche Weite reifender Erntefelder. Ich aber
+hatte so lange in Petersburg eingeschlossen gelebt, daß ich, wie mir
+schien, zum erstenmal Gottes freie Welt erblickte.
+
+
+
+
+ II.
+
+ Herr Bachtschejeff.
+
+
+Ich näherte mich bereits dem Ziele meiner Reise, als ich in dem kleinen
+Städtchen B., kaum zehn Werst von Stepantschikowo entfernt, an der
+Schmiede in der nächsten Nähe des Schlagbaums aussteigen mußte, um den
+gesprungenen Reifen des einen Vorderrades meiner kleinen Postkutsche
+ausbessern zu lassen. Für die Strecke von zehn Werst, die mir noch
+bevorstanden, ließ sich die Reparatur leicht machen; daher beschloß ich,
+so lange daselbst bei der Schmiede zu warten und mich nicht erst in das
+Städtchen zu begeben. Als ich ausstieg, bemerkte ich einen dicken Herrn,
+der gleichfalls eine Ausbesserung an seinem Gefährt, einer Landequipage,
+vornehmen ließ. Er stand, wie ich später erfuhr, schon seit einer Stunde
+im unerträglichen Sonnenbrand, schrie, schimpfte und trieb mit der
+ganzen Ungeduld eines Eigensinnigen und ewig Unzufriedenen die
+Schmiedegesellen, die an seinem prächtigen Wagen arbeiteten, zur Eile
+an. Ein Blick in das Gesicht dieses Herrn genügte, um in ihm den Typ
+eines Brummbären zu erkennen. Er war etwa fünfundvierzig Jahre alt,
+mittelgroß, sehr dick und pockennarbig. Sein Schmerbauch, das
+Doppelkinn, die aufgeblasenen, hängenden Wangen zeigten anschaulich, daß
+er ein bequemes Gutsherrnleben führte. Es war etwas Weibisches an ihm,
+das sofort ins Auge fiel. Seine Kleider waren sehr breit zugeschnitten,
+jedenfalls beengten sie ihn nicht, waren sauber und nicht billig, doch
+nicht gerade allzu modisch.
+
+Ich weiß nicht, weshalb er sich sogleich über mich ärgerte, wozu er doch
+um so weniger Veranlassung hatte, als er mich zum erstenmal im Leben sah
+und noch kein Wort mit mir gesprochen hatte. Seinen Ärger aber bemerkte
+ich sofort an seinem unglaublich wütenden Blick, den er auf mich
+richtete, als ich kaum meinen Fuß auf die Landstraße gesetzt hatte.
+Gleichwohl wollte ich ihn ungeheuer gern näher kennen lernen. Aus dem
+Gespräch seiner Leute erriet ich, daß er aus Stepantschikowo kam,
+wahrscheinlich also von einem Besuch bei meinem Onkel nach Hause fuhr –
+so war’s denn doppelt begreiflich, daß ich ihn gern ein wenig ausgefragt
+hätte, um mir von dem, was mich erwartete, ein Bild machen zu können.
+Ich lüftete also den Hut und bemühte mich, möglichst liebenswürdig zu
+bemerken, wie unangenehm doch solch unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs
+zu sein pflege – aber der dicke Herr maß mich nur mit einem
+unzufriedenen, mürrischen Blick vom Hut bis zu den Stiefeln, brummte
+darauf etwas Unverständliches in seinen Schnurrbart und drehte mir dann
+behäbig seine Rückseite zu. Wenn nun auch dieser Teil seiner Person für
+einen Beobachter ein sehr bemerkenswertes Objekt abgegeben hätte – eine
+angenehme Unterhaltung war von ihm nicht zu erwarten.
+
+„Grischka! Was brummst du da wieder! Durchbleuen werde ich dich!“ schrie
+er plötzlich seinen Diener an, als hätte er meine Äußerung über die
+Unterbrechungen einer Reise überhaupt nicht gehört.
+
+Dieser „Grischka“ war ein alter Kammerdiener mit langem, grauem
+Backenbart und in einem langschößigen Dienerrock. Nach einigen Anzeichen
+zu urteilen, war er gleichfalls sehr schlechter Laune. Er knurrte
+beständig etwas vor sich hin. So kam es denn zwischen dem Herrn und dem
+Diener alsbald zu einer Auseinandersetzung.
+
+„Durchbleuen! Schrei nur noch mehr!“ brummte Grischka, anscheinend nur
+vor sich hin – tat es aber doch so laut, daß alle es hörten – und wandte
+sich unwillig weg, um sich am Wagen zu schaffen zu machen.
+
+„Was? Was sagst du? ‚Schrei nur noch mehr?‘ Willst du grob werden!“
+schrie der Dicke, puterrot im Gesicht.
+
+„Weshalb belieben der Herr über einen herzufallen? Man darf wohl kein
+Wort mehr sagen?“
+
+„Wieso herzufallen? Hört ihr, Leute? Selbst knurrst du die ganze Zeit,
+und dann soll ich nicht einmal über dich herfallen!“
+
+„Weshalb soll ich denn knurren, möcht’ ich wissen!“
+
+„Weshalb! ... Als ob! ... Ich weiß ja ganz genau, weshalb du knurrst:
+weil ich vom Mittagsmahl weggefahren bin, – deshalb!“
+
+„Was geht das mich an! Meinethalben brauchten der Herr überhaupt nicht
+zu essen! Ich knurre nicht des Essens wegen, ich habe hier nur den
+Schmiedegesellen ein Wort gesagt.“
+
+„Den Schmiedegesellen ... Was hast du denn für einen Grund, die
+Schmiedegesellen anzuknurren?“
+
+„Nu, wenn nicht sie, dann knurre ich eben die Equipage an.“
+
+„Was hast du denn die Equipage anzuknurren?“
+
+„So! – warum ist sie denn entzweigegangen? Hinfort hat sie zu gehorchen
+und heil zu bleiben!“
+
+„Die Equipage ... Nein, du hast mich angeknurrt, nicht aber die
+Equipage! Selbst ist er der Schuldige, und dabei schimpft er noch auf
+mich!“
+
+„Was wollen denn der Herr heute von mir? Kann man mich denn nicht in
+Ruhe lassen!“
+
+„Weshalb hast du denn während der ganzen Fahrt wie ein Talglicht
+dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen? Sonst bist du doch nicht
+stumm!“
+
+„Eine Fliege war mir in den Mund geflogen, deshalb schwieg ich und saß
+wie ein Talglicht, wie der Herr sagen. Soll ich denn Märchen zu erzählen
+anfangen? So mögen der Herr doch die alte Malanja auf Reisen mitnehmen,
+wenn der Herr Märchen zu hören liebt.“
+
+Der Dicke tat wohl den Mund auf, um heftig etwas zu erwidern, fand sich
+aber nicht zurecht und klappte den Mund wieder zu. Er schwieg. Der
+Diener aber wandte sich, zufrieden mit seiner Dialektik und seinem vor
+Zeugen bewiesenen Einfluß auf den Herrn, mit doppelter Wichtigkeit an
+die Schmiedegesellen, um ihnen etwas Besonderes zu erklären.
+
+Mein Annäherungsversuch war also vergeblich gewesen – vielleicht nur
+wegen meiner Ungeschicklichkeit – doch plötzlich half mir ein
+unvorhergesehener Zufall.
+
+Aus einer geschlossenen Kutsche, die offenbar seit undenklichen Zeiten
+ohne Räder vor der Schmiede stand und täglich, doch vergeblich ihre
+Ausbesserung erwartete, blickte plötzlich durch das Türfenster ein
+verschlafenes, ungewaschenes Mannsgesicht heraus, über dem die Haare
+verwühlt zu Berge standen. Kaum war diese Physiognomie im Fenster der
+Kutschentür erschienen, als plötzlich alle Schmiedegesellen in lautes
+Gelächter ausbrachen. Die Sache war nämlich die, daß der Betreffende in
+betrunkenem Zustande von den Schmiedegesellen in diese Kutsche
+eingeschlossen worden war und nun als Gefangener in ihr saß. Da er
+inzwischen seinen Rausch ausgeschlafen hatte, bat er nun flehentlich,
+man möge ihn doch wieder in Freiheit setzen, was natürlich niemand tat.
+Endlich verlangte er sein Werkzeug, das ihm jemand aus der Schmiede
+bringen sollte, doch dieses anmaßende Verlangen erheiterte die Zuschauer
+nur noch mehr.
+
+Es gibt Naturen, denen Gott weiß was alles zur größten Erheiterung
+dient. Die Grimassen eines Betrunkenen, ein auf der Straße stolpernder
+oder hinfallender Mensch, ein paar streitende Weiber oder Ähnliches
+können bei manchen Menschen aus ganz unerklärlichen Gründen das größte
+Entzücken hervorrufen. Zu diesen Naturen gehörte nun offenbar auch der
+dicke Gutsbesitzer. Sein Gesicht, das noch vor wenigen Minuten wütend
+gewesen war, wurde jetzt immer freundlicher, bis schließlich das letzte
+Wölkchen seines Ärgers daraus verschwand.
+
+„Aber das ist ja doch Wassiljeff?“ fragte er plötzlich sehr
+interessiert. „Wie ist er denn dorthin geraten?“
+
+„Jawohl, Wassiljeff, Herr! Wassiljeff!“ rief man lachend von allen
+Seiten.
+
+„Er hat wieder blauen Montag gemacht,“ sagte einer der Schmiedegesellen,
+ein älterer, langer, hagerer Mann mit pedantischem Gesichtsausdruck und
+dem offenbaren Bestreben, der erste unter seinen Genossen zu sein. „Er
+ist vor drei Tagen von seinem Herrn fortgegangen, ist uns auf den Hals
+gekommen und versteckt sich nun hier. Jetzt will er sein Stemmeisen
+haben. – Was willst du denn jetzt mit dem Stemmeisen anfangen, du
+Dummkopf! Willst wahrscheinlich noch dein letztes Werkzeug versetzen!“
+
+„Ach, du, Archipuschka! Geld ist – wie Tauben: es kommt angeflogen und
+fliegt wieder weg! Laß mich doch um des himmlischen Vaters willen wieder
+heraus!“ bat Wassiljeff mit hohler, unsicherer Stimme, den Kopf zum
+Kutschenfenster hinaussteckend.
+
+„Sitz jetzt, hast es verdient, wenn du hineingekommen bist!“ sagte
+Archip unerbittlich. „Seit drei Tagen bist du ja überhaupt kein Mensch
+mehr! Heute morgen hat man dich noch in aller Herrgottsfrühe von der
+Straße aufgelesen und hergeschleppt. Dank dem Schöpfer, daß wir dich
+versteckt haben. Und deinem Matwei Iljitsch sagten wir, du seist
+erkrankt: man habe bei dir Anzeichen von schleichendem Faulfieber
+entdeckt ...“
+
+Alles lachte.
+
+„Aber wo ist denn mein Stemmeisen?“
+
+„Bei unserem Handlanger, – wo soll es denn sein! ... Das ist ein echter
+Saufbruder, Herr, dieser Wassiljeff.“
+
+„He–he–he! So ein Schuft! Also das ist deine Arbeit in der Stadt: dein
+Werkzeug versetzen!“ rief der Dicke vollkommen zufrieden, in der
+angenehmsten Gemütsverfassung aus, und sein Schmerbauch schaukelte zu
+seinem gemächlichen Lachen.
+
+„Und dabei ist der Kerl ein Tischler, wie man in ganz Moskau keinen
+findet! Aber da sieh nun einer, wie der Schuft sich aufführt!“ Mit
+diesen Worten wandte sich der Dicke plötzlich und ganz unerwarteterweise
+an mich. „Laß ihn heraus, Archip, vielleicht hat er irgend etwas nötig.“
+
+Da der Herr es gesagt hatte, gehorchte man. Der Nagel, mit dem sie die
+Kutschentür unten zugenagelt hatten, – eigentlich nur um über Wassiljeff
+lachen zu können, wenn er wieder aufwachte – wurde herausgezogen, und
+Wassiljeff erschien zerlumpt, beschmutzt und nur halb ausgeschlafen im
+freien Sonnenlicht.
+
+Er blinzelte, nieste und wankte auf den Beinen; dann legte er die Hand
+als Schirm über die Augen und sah sich die Umgebung an.
+
+„Wieviel Volk ... wieviel Volk!“ sagte er kopfschüttelnd. „Und alle ...
+wie man sieht ... nü–üchtern,“ sagte er langsam, wie in traurigen
+Gedanken, geradezu vorwurfsvoll zu sich selbst. „Nun, guten Morgen,
+Freunde, zum anbrechenden Tage.“
+
+Wieder lachten alle.
+
+„Zum anbrechenden Tage! Mach doch die Augen auf und sieh, wieviel vom
+anbrechenden Tage noch übrig ist, du dummer Mensch!“
+
+„Lüg nur, Jemelja, – jetzt ist’s deine Woche.“
+
+„He–he–he! Der Junge ist wirklich nicht übel!“ meinte der Dicke lachend,
+wieder mit einem freundlichen Blick auf mich. „Aber schämst du dich denn
+nicht, Wassiljeff?“
+
+„Ach, Herr, es ist doch nur aus Kummer!“ sagte Wassiljeff, schlug
+abwinkend mit der Hand zur Seite und war offenbar froh darüber, noch
+einmal von seinem Kummer reden zu können.
+
+„Was ist denn das für ein Kummer, Esel?“
+
+„Das ist nun so einer, wie man ihn bisher noch nie gesehen hat: man
+überschreibt uns auf Foma Fomitsch.“
+
+„Auf – wen? Was? Wann?“ schrie der Dicke, im Augenblick außer sich
+geratend.
+
+Ich trat gleichfalls einen Schritt vor: die Sache ging plötzlich auch
+mich etwas an.
+
+„Jawohl, ganz Kapitonowka. Unser Herr, der Oberst – Gott erhalte ihn! –
+will ganz Kapitonowka, sein väterliches Erbgut, dem Foma Fomitsch
+opfern, ganze siebzig Seelen. ‚Da hast du es,‘ sagte er, ‚Foma! Sieh,
+jetzt gehört dir ja so gut wie nichts; du bist kein großer Gutsbesitzer:
+im ganzen arbeiten für dich zwei Stinten im Ladogasee – das ist alles,
+was dir dein Verstorbener Vater an Besitz hinterlassen hat; denn dein
+Vater war,‘“ fuhr Wassiljeff mit einem gewissen boshaften Vergnügen
+fort, als wolle er auf jedes Wort, das sich auf Foma Fomitsch bezog,
+gewissermaßen noch Pfeffer streuen; „‚denn dein Vater war ein Mann von
+altem Adel, unbekannt woher, unbekannt wer; und ebenso wie du hat er bei
+Herren das Gnadenbrot gegessen und hat sich dank ihrer Barmherzigkeit in
+den Küchen aufhalten dürfen. Nun aber, wenn ich dir Kapitonowka schenke,
+wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein alter Adliger, und du wirst
+deine eigenen Leute haben, kannst selbst auf dem Ofen liegen, ein
+adliges Leben führen‘ ...“
+
+Doch der Dicke hörte nicht mehr zu. Der Eindruck, den diese Erzählung
+des halbbetrunkenen Wassiljeff auf ihn machte, war unbeschreiblich: er
+war dermaßen empört und aufgeregt, daß sein Gesicht blaurot wurde. Sein
+Doppelkinn zitterte, seine Augen waren blutunterlaufen. Ich fürchtete
+schon, daß ihn der Schlag rühren werde.
+
+„Das fehlte noch!!“ stieß er atemlos hervor. „Dieser Foma als
+Gutsbesitzer!! Pfui! Hol euch der Satan! He, ihr da! Schneller! Macht,
+daß ihr fertig werdet! Nach Haus!“
+
+„Gestatten Sie mir eine Frage,“ begann ich und trat etwas unsicher einen
+Schritt vor, „Sie nannten soeben den Namen Foma Fomitsch; ich glaube,
+sein Familienname ist, wenn ich mich nicht täusche – Opiskin. Ich würde
+gern ... mit einem Wort, ich habe besondere Gründe, mich für diese
+Persönlichkeit zu interessieren, und würde daher gern wissen wollen,
+inwieweit man den Worten dieses Menschen da“ – ich wies auf Wassiljeff –
+„trauen kann, daß sein Gutsherr Jegor Iljitsch Rostaneff eines seiner
+kleineren Güter Foma Fomitsch schenken will. Das interessiert mich sehr,
+und ich ...“
+
+„Aber gestatten Sie zuerst, daß ich Sie frage,“ unterbrach mich der
+Dicke, „von welcher Seite Sie sich für diese Persönlichkeit, wie Sie
+sagen, interessieren; denn meiner Ansicht nach müßte man ihn einen
+gottverfluchten Schurken nennen, aber nicht Persönlichkeit! Was kann
+denn dieser Grindkopf überhaupt für eine ‚Persönlichkeit‘ sein! Nichts
+als Schmach und Schande ist der ganze Kerl, aber nicht eine
+‚Persönlichkeit‘!“
+
+Ich erklärte ihm hierauf, daß ich mich bezüglich seiner Person vorläufig
+noch in völliger Ungewißheit befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostaneff
+mein Onkel sei und ich – Ssergei Alexandrowitsch soundso heiße und sei.
+
+„Was! Dann sind Sie also dieser Gelehrte aus Petersburg? Gott im Himmel,
+man erwartet Sie ja dort sehnsüchtig!“ rief der Dicke in unbegreiflicher
+Freude aus. „Ich komme ja doch soeben selbst aus Stepantschikowo, stand
+vom Mittagstisch auf und fuhr weg, gleich vom Pudding weg! Konnte nicht
+länger mit Foma an einem Tisch sitzen! Habe mich dort wegen dieses
+verfluchten Fomka mit allen herumgeschimpft und -gestritten! ... Doch
+das nenne ich mir mal eine Begegnung! Aber Sie, wissen Sie, Sie müssen
+mich schon entschuldigen. Ich bin Stepan Alexeïtsch Bachtschejeff und
+erinnere mich Ihrer, als Sie noch so ’n Stöpselchen waren ... Nun, wer
+hätte das gedacht! ... Aber so woll’n wir uns doch gleich ...“
+
+Und der Dicke küßte mich ab.
+
+Nach den ersten etwas erregten Minuten der neuen Bekanntschaft benutzte
+ich die günstige Gelegenheit, um ihn auszufragen.
+
+„Aber wer ist denn dieser Foma nun eigentlich?“ fragte ich. „Wie hat er
+denn dort das ganze Haus erobern können? Warum jagt man ihn denn nicht
+mit der Peitsche hinaus? Ich muß gestehen ...“
+
+„_Wen? – ihn?_ hinausjagen? Sie sind wohl ganz ...? Jegor Iljitsch wagt
+ja doch kaum auf den Fußspitzen zu gehen, wenn Foma in der Nähe ist! Und
+einmal befahl Foma, daß es statt Donnerstag Mittwoch sein solle: und so
+haben sie denn dort alle bis auf den Letzten den Donnerstag für Mittwoch
+halten müssen. ‚Ich will nicht,‘ sagte er, ‚daß heute Donnerstag ist;
+ich will, daß heute Mittwoch ist!‘ Auf diese Weise hatten sie dann in
+einer Woche zweimal Mittwoch und keinen Donnerstag. Sie glauben
+vielleicht, daß ich aufschneide? Nicht _so viel_ habe ich
+aufgeschnitten! Es ist einfach, um Reißaus zu nehmen!“
+
+„Ich habe so manches gehört, aber ich muß gestehen ...“
+
+„Ach Gott! Gestehen und gestehen, etwas anderes hört man von Ihnen
+nicht! Was gestehen Sie denn ewig? Fragen Sie mich doch rundweg, was Sie
+fragen wollen! ... Und Jegor Iljitschs Mamachen, na ja, Sie wissen
+schon, – ist ja sonst eine ganz würdige alte Dame, obendrein auch noch
+Generalin – ich aber kann nur sagen, daß ich sie total verrückt finde:
+sie wagt ja den Fomka, den Räuber, nicht einmal anzu_hauchen_! Und
+schließlich ist sie allein an allem schuld: sie hat ihn doch ins Haus
+gebracht! Er scheint sie vollkommen behext zu haben. _Dumm_ geworden ist
+sie, wenn sie sich jetzt auch Exzellenz nennt ... Hat sie sich doch mit
+nahe fünfzig Jahren dem alten Krachotkin an den Hals geworfen! Von der
+Schwester Jegor Iljitschs, der Praskowja Iljinitschna, die schon das
+vierzigste Jahr als Mädchen dasitzt, will ich überhaupt nicht reden. Von
+der hört man nur ach und weh, wie von einer Henne, die ein Ei legen will
+– hab’s satt – na! Das einzige, was noch an ihr ist – ist, daß sie zum
+weiblichen Geschlecht gehört, das ist aber auch alles: jetzt acht’ einer
+sie dafür! – nur eben, weil sie Dame ist! Pfui! Aber was red’ ich da,
+das ist ja doch unanständig von mir: sie ist ja Ihre Tante. Nur die
+Alexandra Jegorowna, Ssaschenjka – die Tochter des Obersten, – ist ja
+noch ’n kleines Mädel, erst sechzehn Lenze, ist aber klüger als alle die
+anderen zusammengenommen: die verachtet den Fomka, wie es sich gehört!
+War sogar spaßig zu beobachten. Ein nettes, liebes Fräuleinchen, nja,
+nichts zu sagen ... Weswegen, sagen Sie doch selbst, soll man ihn denn
+achten? Er hat doch, dieser Fomka, beim verstorbenen General Krachotkin
+als Narr das Gnadenbrot gefressen! Er hat ja doch, wenn jener befahl,
+alle Tiere nachahmen müssen! Das ist ja – ‚früher hat Wanjka Erde
+gegraben, heute will Wanjka den Marschallstab haben!‘ Jetzt behandelt
+der Oberst, Ihr Onkel, diesen Narren a. D. wie seinen leiblichen Vater,
+setzt ihn unter Glas womöglich, macht noch Bücklinge vor diesem
+Schmarotzer, – oh, pfui!“
+
+„Nun ... Armut ist doch keine Schande ... und ... ich muß gestehen ...
+Erlauben Sie, daß ich frage: ist er schön, klug?“
+
+„Wer das? – Foma? ... Wie ein Bild! Wunderbar schön!“ antwortete
+Bachtschejeff mit einem ganz eigentümlichen Zittern in der Stimme, das
+deutlich seine Wut verriet. Meine Fragen reizten ihn offenbar, und er
+sah mich etwas mißtrauisch von der Seite an. „Schön? Hört doch, der hat
+jetzt einen Schönen entdeckt! Großer Gott, er ähnelt ja allen Tieren,
+wenn du nun einmal alles wissen willst! Ich würde ja nichts sagen, wenn
+er noch wenigstens geistreich wäre, wenn der Schuft es mit Geist und
+Verstand machen würde, – nun, dann würde ich’s noch hinnehmen, den
+Schmerz verbeißen, um des Geistes willen, ... Aber er hat ja überhaupt
+keinen! Ich kann nur sagen, er hat ihnen allen einen Trank zu trinken
+gegeben und ist einfach irgend so ein Schwarzkünstler. Pfui! ... Meine
+Zunge ist matt. Man kann nur einfach zur Seite speien und weggehen. Und
+schweigen. Sie haben mich mit Ihrem Gespräch nur wieder in Wut gebracht!
+He, ihr da! Seid ihr endlich fertig?“
+
+„Der Schwarze muß noch neu beschlagen werden,“ brummte Grigorij
+mürrisch.
+
+„Der Schwarze ... Ich werde dir zeigen, was ein Schwarzer ist! ... Ja,
+mein Bester, ich kann Ihnen Dinge erzählen, Dinge, sag’ ich Ihnen, daß
+Sie nur so den Mund aufsperren und bis zur Wiederkunft des Herrn mit
+offenem Munde stehen bleiben. Ich habe ihn doch anfangs gleichfalls
+geachtet! Was glauben Sie? Jetzt tue ich Buße und schwöre öffentlich:
+ich war ein Esel! Er hatte ja auch mich beschwindelt. Der Kerl wußte
+alles! Jedes letzte Tüttelchen wußte er, alle Wissenschaften hatte er im
+Kopf! Tropfen gab er mir: ich bin ja doch, Väterchen, ein kranker
+Mensch. Sie glauben es mir vielleicht nicht, aber ich bin wirklich
+krank, – wovon bin ich denn so dick? Nun, damals aber, von seinen
+Tropfen, wäre ich fast kopfüber in die Grube gefahren. Schweigen Sie nur
+und hören Sie zu: wenn Sie hinkommen, werden Sie mit eigenen Augen
+sehen. Er wird ja dem Obersten noch blutige Tränen herauspressen,
+jawohl! – blutige Tränen wird der Oberst weinen, aber dann wird es zu
+spät sein! Hat doch schon die ganze Umgegend wegen dieses vermaledeiten
+Fomka den Verkehr mit ihm abgebrochen! Beleidigt doch der Kerl
+ungestraft einen jeden, der über die Schwelle tritt! Von mir ganz zu
+schweigen: selbst die größten Potentaten würde er nicht verschonen.
+Einem jeden hält er seine Predigt; denn er hat sich jetzt auf die Moral
+gelegt, der Spitzbube! ‚Ich bin ein Weiser, ich bin der Klügste von
+allen, auf mich allein hast du zu hören!‘ Das sind so seine Worte. ‚Ich
+bin gelehrt,‘ und damit basta! Was geht das mich an, ob er gelehrt ist
+oder nicht! Also bloß weil man gelehrt ist, muß man den Ungelehrten
+unbedingt auspressen? ... Und wenn er dann einmal loslegt mit seiner
+Gelehrsamkeit, dann hat es keinen Anfang und kein Ende, nur ta-ta-ta,
+ta-ta-ta, ta-ta-ta schlägt ins Ohr. Das heißt, er hat eine solche Zunge,
+sag’ ich Ihnen, daß sie selbst dann, wenn man sie abschneiden und hinaus
+auf den Misthaufen werfen würde, – selbst dann würde sie noch endlos
+weitertattern wie eine Nähmaschine ... Jetzt nimmt er sich viel heraus,
+jetzt ist er wichtig wie eine Maus in der Grütze! Jetzt will er schon
+dorthin kriechen, wohin nicht einmal sein Kopf durchkriechen kann. Aber
+was soll man da reden! Ist es ihm doch jetzt eingefallen, das ganze
+Hofgesinde französische Vokabeln lernen zu lassen! Wenn Sie nicht
+wollen, brauchen Sie es mir ja nicht zu glauben. Das bringe ihnen, sagt
+er, großen Nutzen! Dem Landbauer also, dem Knecht! Pfui! So ein
+verfluchter Schandkerl! – mehr ist er wirklich nicht. Wozu braucht ein
+Leibeigener Französisch, was fängt er damit an? – ich bitt’ Sie! Und
+selbst wir, wozu braucht denn unsereiner Französisch, frage ich Sie
+bloß? Um jungen Damen bei der Mazurka den Kopf zu verdrehen und fremde
+Frauen zu verführen! Luxus, Luxus, und nichts weiter!! Meiner Meinung
+nach – trink eine Flasche Branntwein aus, und du sprichst von selbst
+alle Sprachen. Das ist alles, was ich an Hochachtung für die
+französische Sprache übrig habe. Na, auch Sie werden ja wohl gut
+französisch plappern, tatata, tatata, patati und patata!“ Bachtschejeff
+sah mich mit verachtendem Unwillen von der Seite an. „Sie, mein Lieber,
+sind doch auch ein Gelehrter – wie? Haben sich doch auch auf die
+Gelehrsamkeit gelegt?“
+
+„Ja ... ich ... zum Teil interessiere ich mich ...“
+
+„Da haben Sie denn vielleicht auch schon alle Wissenschaften in sich
+aufgenommen?“
+
+„Ja ... das heißt, nein ... Ich muß gestehen, daß ich jetzt mehr für das
+Beobachten bin. Ich habe so lange in Petersburg gesessen und beeile mich
+nun, zu meinem Onkel zu kommen ...“
+
+„Wer hat Sie denn darum gebeten? Wären Sie doch dort bei sich sitzen
+geblieben, wenn Sie etwas hatten, wo Sie sitzen konnten. Nein, mein
+Bester, hier, das sage ich Ihnen, werden Sie mit Gelehrsamkeit wenig
+ausrichten, und da wird Ihnen kein Onkel helfen – da haben Sie sogleich
+den Fangriemen um den Hals. Ich habe bei ihm an einem einzigen Tage
+bedeutend abgenommen. Jawohl! – Werden Sie es mir glauben, daß ich dort
+in vierundzwanzig Stunden magerer geworden bin? Nein, ich sehe schon,
+Sie glauben es mir nicht. Nun, dann, meinetwegen, Gott mit Ihnen, dann
+glauben Sie es eben nicht.“
+
+„Aber wieso, ich glaube es Ihnen durchaus! Nur ist mir einiges noch
+etwas unverständlich ...“ beeilte ich mich zu versichern, geriet aber
+wieder in Verwirrung.
+
+„Kennt man, dieses Glauben ... aber ich glaube _Ihnen_ nicht! Alle seid
+ihr Springer – soviel es nur Gelehrte gibt. Ihr würdet am liebsten jeder
+auf einem Bein hopsen und euch bewundern lassen! Nein, mein Bester,
+diese Wissenschaften sind nicht mein Fall, ich kann sie nicht verdauen.
+Hab’ mich mit euch Petersburgern genug gerieben – unnützes Volk. Alles
+Freimaurer. Verbreiten nur Unglauben. Selbst ein Gläschen Branntwein hat
+er Angst auszutrinken, so’n Gelehrter, ganz als fürchtete er, daß es ihn
+beißen könnte – pfui! Nein, mein Bester, Sie haben mich jetzt geärgert,
+will mit Ihnen gar nicht mehr weiter sprechen. Und ich bin doch auch
+wirklich nicht dazu da, um hier Geschichten zu erzählen. Meine Zunge ist
+ohnehin schon müde. Alle, Väterchen, kann man ja doch nicht
+ausschimpfen, und es wäre auch Sünde ... Nun hat er bei Ihrem Onkel den
+Diener Widopljässoff buchstäblich um den Verstand gebracht, dein großer
+Gelehrter da! Jawohl, nur dank Foma Fomitsch ist Widopljässoff
+übergeschnappt ...“
+
+„Ich aber würde den Widopljässoff,“ mischte sich plötzlich Grigorij ein,
+der bis dahin würdevoll und stumm unsere Unterhaltung verfolgt hatte,
+„ich aber würde diesen Widopljässoff unter den Ruten überhaupt nicht
+mehr aufstehen lassen! Käme er mir nur zwischen die Finger, so würde ich
+ihm diese deutschen Albernheiten ein für allemal ausbläuen! Würde ihm so
+viele aufzählen, daß er mit den Zahlen zu kurz käme!“
+
+„Schweig!“ schrie ihn sein Herr an. „Halt deine Zunge hinter den Zähnen
+fest, nicht mit dir wird gesprochen!“
+
+„Widopljässoff ...“ stotterte ich, nun ganz aus der Fassung gebracht –
+wenn ich nur gewußt hätte, was ich sagen sollte! „Widopljässoff ...
+sagen Sie doch, welch ein sonderbarer Name ...“
+
+„Weshalb denn sonderbar? Da stimmen auch Sie dasselbe Lied an! Ach, Sie!
+Gelehrt natürlich, gelehrt!“
+
+Doch jetzt riß meine Geduld.
+
+„Entschuldigen Sie,“ sagte ich, „weshalb ärgern Sie sich denn über mich?
+Was habe ich denn mit all dem zu tun? Ich höre Ihnen nun schon seit
+einer halben Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich handelt
+...“
+
+„Ja, aber weshalb ärgern Sie sich denn, mein Gutester?“ fragte der Dicke
+naiv. „Es ist doch nichts, was Sie kränken könnte! Ich habe doch in
+aller Liebe zu dir gesprochen, mein Lieber ... Beachten Sie es weiter
+nicht, daß ich ein solcher Schreihals bin und soeben noch meinen Diener
+angeschnauzt habe. Wenn er auch eine notorische Kanaille ist, mein
+Grischka, so liebe ich ihn ja doch gerade deswegen, den Schuft. Meine
+Herzensempfindsamkeit allein hat mich ins Unglück gebracht – ganz offen
+und ehrlich gesagt. Aber an dieser ganzen Geschichte ist doch nur Fomka
+schuld! Der bringt mich noch ins Grab, darauf kann ich schwören, der
+kriegt’s fertig! Dank seiner Gnaden muß ich hier die zweite Stunde in
+der Sonne braten. Wollte zuerst beim Oberpopen vorsprechen, solange wie
+diese Duselköpfe hier den Schaden wieder ausbessern. Ein guter Mensch,
+dieser Oberpope. Aber der Fomka hat mich dermaßen geärgert, daß ich auch
+den Oberpopen nicht mehr sehen wollte! Na, und überhaupt! Hier aber gibt
+es ja nicht einmal ein anständiges Frühstückslokal ... Alle sind
+Schufte, das sage ich Ihnen, alle bis auf den Letzten! ... Ich würde ja
+nichts sagen, wenn er ein großes Tier wäre,“ fuhr Herr Bachtschejeff
+fort, sich wieder dem Thema Foma Fomitsch zuwendend, von dem er sich
+offenbar nicht zu trennen vermochte, „dann würde es noch mit dem Titel,
+den er führte, halbwegs zu erklären sein; aber so! Er hat ja überhaupt
+keinen Rang, ich weiß es tödlich sicher, daß er nicht den geringsten
+Titel hat! Für Recht und Wahrheit, sagt er, soll er dort irgendwo
+‚gelitten‘ haben, vor Olims Zeiten vielleicht: und so knie jetzt dafür
+gefälligst vor ihm nieder! Der Teufel ist doch nicht unser Bruder! Ist
+ihm nur etwas nicht ganz nach der Nase, so springt er auf, schreit: ‚Man
+beleidigt mich, patati! – weil ich arm bin, patata! – man hat keine
+Ehrfurcht vor mir!‘ Ohne Foma darfst du dich nicht an den Tisch setzen,
+er aber sitzt in seinem Zimmer und kommt nicht; denn ‚man hat mich
+beleidigt, ich bin ein Gottespilger, kann mich auch von schwarzem Brote
+nähren.‘ Kaum aber hat man sich zu Tisch gesetzt, da erscheint er
+wieder, und da fängt das Lied von neuem an: ‚Weshalb hat man sich ohne
+mich zu Tisch gesetzt? Also so gering achtet man mich!‘ Kurz – dieselbe
+Tonart! Ich, wissen Sie, ich habe lange geschwiegen. Er glaubte, daß
+auch ich wie ein dressiertes Hündchen auf den Hinterbeinen apportieren
+würde. Jawohl ja! Das fehlte noch! Nein, mein Lieber, spring du mal
+selbst auf den Kutschersitz, ich werde mich in den Wagen setzen! Ich bin
+doch Jegor Iljitschs Regimentskamerad! Ich trat als Junker aus, er aber
+kam vor einem Jahr als Oberst a. D. auf mein Stammgut und stattete mir
+seinen Besuch ab. Da sagte ich ihm gleich: ‚He, mein Bester, verwöhnen
+Sie den Foma nicht so sehr, Sie wissen nicht, was Sie tun, Sie werden es
+noch bereuen!‘ Er aber sagte: ‚Nein, er ist ein überaus guter Mensch‘ –
+das sagt er von Fomka! – ‚er ist mein Freund, er unterrichtet mich jetzt
+in der Moral.‘ Na, dachte ich da bei mir, gegen die Moral ist nichts zu
+machen! Wenn er bereits bei dieser angelangt ist, dann gib die letzte
+Hoffnung auf! Was glauben Sie wohl, weshalb er es heute zu dem Skandal
+gebracht hat? Morgen, an Sankt-Elias-Tag (Herr Bachtschejeff bekreuzte
+sich) ist Iljuschas, des kleinen Iljuschas Namensfest. Ich hatte
+eigentlich die Absicht, auch diesen Tag bei ihnen zu verbringen, zum
+Essen zu bleiben, und verschrieb mir aus der Residenz ein Spielzeug: ein
+Deutscher auf Sprungfedern küßt seiner Braut die Hand, und diese wischt
+sich mit dem Schnupftuch eine Träne ab – ein großartiges Ding! Jetzt
+aber werde ich es nicht mehr schenken, prost Mahlzeit! Sehen Sie, da
+liegt das Ding in meinem Wagen, dem Deutschen ist schon die Nase
+abgeschlagen. Bring’s zurück. Jegor Iljitsch feiert bei solcher
+Gelegenheit ganz gern ein Fest, nun aber kommt der Fomka dazwischen und
+verpfuscht ihm das Vergnügen. ‚Weshalb beschäftigt man sich denn jetzt
+mit Iljuscha so sehr? Man will wohl mich von nun an überhaupt nicht mehr
+beachten?‘ Nun, was sagen Sie dazu? Wie gefällt er Ihnen? Beneidet einen
+achtjährigen Knaben wegen dessen Namenstag! ‚Aber nein,‘ sagte er, ‚ich
+habe morgen gleichfalls meinen Namenstag!‘ Aber morgen ist doch Ilja und
+nicht Foma! ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich feiere morgen gleichfalls meinen
+Namenstag!‘ Ich schweige, sage kein Wort, dulde stumm. Und was glauben
+Sie? Jetzt schleichen sie dort alle auf den Zehenspitzen umher und
+beraten sich tuschelnd, was sie nun tun sollen! Sollen sie ihm nun
+morgen, am Eliastage, zum Namensfest gratulieren oder sollen sie ihm
+nicht gratulieren? – Unterlassen sie es, so kann er sich wieder
+beleidigt fühlen – gratulieren sie ihm aber, so kann er sie alle
+verspotten. Pfui! Da setzten wir uns nun zu Tisch ... Aber du, mein
+Bester, hörst du mir denn überhaupt zu?“
+
+„Aber gewiß! – sogar mit besonderem Vergnügen; denn durch Sie erst
+erfahre ich jetzt ... und ... ich gestehe ...“
+
+„Jawohl, mit besonderem Vergnügen, das kennt man! Dieses Vergnügen ...
+Oder soll das etwa Ironie sein?“
+
+„Aber ich bitte Sie, aus welchem Grunde denn Ironie? Ganz im Gegenteil.
+Und zudem ... drücken Sie sich so originell aus, daß ich schon bei mir
+beschlossen habe, Ihre Worte niederzuschreiben.“
+
+„Was ... was heißt das, Väterchen, wieso niederzuschreiben?“ fragte Herr
+Bachtschejeff mit einem gelinden Schrecken im Gesicht und blickte mich
+mißtrauisch an.
+
+„Übrigens, ich werde sie vielleicht auch nicht niederschreiben ... ich
+sagte es nur so ...“
+
+„Du willst mich doch sicherlich irgendwie ausnutzen?“
+
+„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht,“ sagte ich verwundert.
+
+„Ja so. Ich erzähle dir jetzt alles wie ein gutmütiger Esel, und du
+schilderst mich dann plötzlich in irgendeinem Buch.“
+
+Ich beeilte mich sogleich, Herrn Bachtschejeff zu versichern, daß ich
+nicht zu jenen Schriftstellern gehöre – er aber sah mich immer noch
+mißtrauisch an.
+
+„Jawohl ja – nicht zu jenen! Wer kennt dich denn! Vielleicht bist du
+noch toller als jene. Da hat mir nun auch Fomka gedroht, mich zu
+beschreiben und das Geschriebene drucken zu lassen.“
+
+„Gestatten Sie mir eine Frage,“ unterbrach ich ihn, da ich dem Gespräch
+eine andere Wendung geben wollte. „Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß
+mein Onkel heiraten will?“
+
+„Was wäre denn dabei, wenn er’s will? Das wäre ja weiter noch nicht
+schlimm. Mag der Mensch doch heiraten, wenn es ihm so nahe geht! ...
+Schlimm aber ist das andere ...“ fügte Herr Bachtschejeff nachdenklich
+hinzu. „Hm! Aber hierüber, mein Bester, kann ich Ihnen keine bestimmte
+Auskunft geben. Es haben sich dort jetzt viel Weibsbilder versammelt,
+wie die Fliegen um den Honig; da wird kein Teufel daraus klug, wer von
+ihnen nun heiraten will, und wer nicht. Ich werde Ihnen, mein Lieber, in
+aller Freundschaft nur eines sagen: ich mag die ganze Weiberbande nicht!
+Das einzige ist noch, daß sie Menschen sind; aber sonst, auf Ehrenwort,
+ist es doch nichts als eine Schande mit den Weibern und kommt dem Heil
+unserer Seelen nicht zustatten. Daß aber Ihr Onkel verliebt ist wie ein
+sibirischer Kater, dessen kann ich Sie versichern. Aber auch darüber
+will ich jetzt schweigen, Sie werden es ja selbst sehen ... Dumm ist
+nur, daß er die Sache aufschiebt. Willst du heiraten, so heirate! Er
+aber fürchtet sich, es Fomka zu sagen, und fürchtet auch die Alte: die
+würde sofort für sieben losschreien und würde noch mit den Hinterbeinen
+ausschlagen. Die Alte steht natürlich auf Fomkas Seite; denn sieh, es
+würde Foma Fomitsch betrüben, wenn eine junge Herrin ins Haus käme,
+sintemal er dann keine Stunde mehr daselbst verweilen könnte. Die
+Hausfrau würde ihn womöglich eigenhändig am Kragen fassen und
+hinauswerfen, und wenn sie klug ist, auf eine solche Weise, daß er
+später schwerlich hier irgendwo eine Unterkunft auch nur als
+Schreiberlein finden würde. Deshalb intrigiert er ja auch jetzt zusammen
+mit der Alten, um ihn zu verkuppeln mit dieser ... Aber du, mein
+Gutester, warum hast du mich denn unterbrochen? Ich wollte dir vorhin
+gerade das Wichtigste erzählen, du aber unterbrachst mich! Ich bin älter
+als du, einen Älteren unterbrechen, das soll man nicht ...“
+
+Ich machte meine Entschuldigung.
+
+„Wozu entschuldigst du dich! Aber ich wollte dir, mein Lieber, als einem
+Gelehrten zur Entscheidung unterbreiten, wie er mich heute beleidigt
+hat. Nun, denk und sage selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Wir
+setzten uns also zu Tisch: da hat er mich, sag’ ich dir, fast
+aufgefressen, der Verfluchte, während der Mahlzeit. Ich sah es ihm von
+vornherein an, was in ihm vorging: er sitzt und ärgert sich, daß seine
+ganze Seele knirscht. Würde mich auch in einem Löffel voll Wasser mit
+Freuden ersäufen, diese Giftblase! Dieser Mensch hat eine solche
+Eigenliebe, daß er sie kaum noch in sich selbst unterbringen kann! Und
+da fiel es ihm denn ein, auch mich zu schikanieren, wollte auch mir
+Moral beibringen. Weshalb – bitte, antworten Sie ihm darauf! – weshalb
+ich so dick sei?! Und das war nun sein Steckenpferd: weshalb bin ich
+nicht dünn, sondern dick! Nun, sagen Sie doch selbst, mein Lieber, was
+ist denn das für eine Frage? Ist denn das geistreich? Ich antworte ihm
+also: ‚Das hat Gott der Herr schon so eingerichtet: der eine ist dünn,
+der andere dick; gegen die allweise Vorsehung kann ein Sterblicher sich
+nicht auflehnen.‘ Das war doch ganz vernünftig geantwortet – finden Sie
+nicht? ‚Nun,‘ sagt er, ‚du hast fünfhundert Seelen, lebst von den
+Zinsen, bringst aber dem Vaterlande keinen Nutzen: dienen muß man, du
+aber sitzt zu Hause und spielst auf dem Harmonium.‘ Das ist nun wahr,
+ich spiele gern, wenn mir mal so traurig zumute ist, auf meinem
+Harmonium. Ich also antworte ihm wieder ganz vernünftig: ‚In welchen
+Dienst soll ich denn eintreten, Foma Fomitsch? In welch eine Uniform
+soll ich mich dicken Menschen denn hineinzwängen? Ziehe ich eine an –
+mit genauer Not geht’s vielleicht –, so ist es doch nicht
+ausgeschlossen, daß ich plötzlich niese und alle Knöpfe abspringen, was
+in Gegenwart der höchsten Vorgesetzten geschehen kann, und wenn man dann
+– Gott behüte! – das Unglück nur fürs eine Farce hält, was dann?‘ Nun,
+sagen Sie doch, mein Gutester, was habe ich denn damit Lachhaftes
+gesagt? Aber nein, er muß lachen, auf meine Kosten, versteht sich, und
+das Gekicher hört gar nicht mehr auf, hahaha und hihihi ... Schamgefühl
+hat er überhaupt nicht, das sage ich Ihnen, und da fiel es ihm noch ein,
+mich auf französisch zu beschimpfen: ‚Cochon,‘ sagte er. Na, was Cochon
+heißt, weiß auch ich. Wart, du verfluchter Schwarzkünstler, denke ich,
+du glaubst wohl, daß du in mir einen dummen Jungen vor dir hast? Ich
+schwieg aber, litt wortlos und schwieg, – dann aber hielt ich es nicht
+mehr aus, stand auf und sagte ihm in Gegenwart der ganzen Versammlung
+ins Gesicht: ‚Ich habe dir unrecht getan,‘ sage ich, ‚Foma Fomitsch, du
+Wohltäter der Menschheit; denn ich glaubte von dir, daß du ein
+wohlerzogener Mensch seiest, nun aber stellt es sich heraus, daß du
+ebenso ein Schwein bist wie wir alle,‘ – sagte es, stand auf und ging
+fort, ließ den Pudding stehen, wo er stand – der Pudding wurde gerade
+herumgereicht. Daß euch mitsamt dem ganzen Pudding ...! dachte ich und
+ging.“
+
+„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte ich, nachdem ich die ganze Erzählung
+Herrn Bachtschejeffs angehört hatte, „ich bin natürlich gern bereit,
+Ihnen in allem zuzustimmen, zumal ich ja noch nichts Positives weiß ...
+Aber, wie soll ich Ihnen sagen, – es haben sich jetzt in mir gewisse
+Ideen bezüglich dieser Person gebildet ...“
+
+„Was sind denn das für Ideen, Väterchen, die sich in dir gebildet
+haben?“ fragte Herr Bachtschejeff mißtrauisch.
+
+„Sehen Sie,“ begann ich, ein wenig verwirrt, „es ist vielleicht zu etwas
+ungelegener Zeit ... aber, schließlich, ich werde Ihnen meine Gedanken
+gern mitteilen. Ich denke mir folgendes: vielleicht täuschen wir uns
+beide über Foma Fomitsch. Vielleicht verhüllen alle diese Eigenheiten
+eine besondere, vielleicht sogar sehr reiche Natur – wer kann das
+wissen? Vielleicht ist er ein verbitterter, durch Leiden vernichteter
+Mensch, der sich sozusagen an der ganzen Menschheit dafür rächt? Ich
+habe gehört, früher soll er so etwas ... so etwas wie ein Hausnarr
+gewesen sein: vielleicht hat ihn das gar zu sehr erniedrigt, beleidigt,
+vernichtet? Verstehen Sie mich recht: ein edler Mensch ... mit einem
+gewissen Selbstbewußtsein ... und der muß nun plötzlich den Narren
+spielen! ... Da ist er denn vielleicht der ganzen Menschheit gegenüber
+mißtrauisch geworden und ... und vielleicht, wenn man ihn mit der
+Menschheit aussöhnen würde ..., das heißt, mit den Menschen ... so würde
+sich in ihm vielleicht eine reichbegabte oder jedenfalls bemerkenswerte
+Natur offenbaren, und ... nein, es muß doch etwas Besonderes an ihm
+sein! Es muß doch seinen guten Grund haben, warum ihn dort alle
+anbeten!“
+
+Ich fühlte, daß ich ganz aus dem Konzept gekommen war. Bei meiner Jugend
+war das ja noch verzeihlich, aber Herr Bachtschejeff verzieh es mir
+nicht. Ernst und streng blickte er mir in die Augen, und dann wurde er
+plötzlich blaurot im Gesicht, wie ein Truthahn.
+
+„Und das alles soll dieser Fomka sein?“ stieß er kurz hervor.
+
+„Entschuldigen Sie, ich glaube ja selbst nicht an das, was ich soeben
+gesagt habe ... Ich sagte es nur so ... es wäre doch möglich ...“
+
+„Aber erlauben Sie mal, Sie eines zu fragen: haben Sie Philosophie
+studiert?“
+
+„Daß heißt, in welchem Sinne?“ fragte ich verwundert.
+
+„Nein, nicht in welchem Sinne, sondern antworten Sie mir offen und ohne
+alle Sinne auf meine Frage: haben Sie Philosophie studiert?“
+
+„Ich muß gestehen, ich habe allerdings die Absicht, aber ...“
+
+„Na ja, wußt’ ich’s doch!“ rief Herr Bachtschejeff aus, indem er seiner
+Empörung freien Lauf ließ. „Ich, wissen Sie, ich hatt’s ja schon
+erraten, noch bevor Sie den Mund aufgetan, daß Sie Philosophie studiert
+haben! Mir wird man kein X für ein U vormachen! Prost Mahlzeit! Auf drei
+Werst rieche ich den Philosophen heraus! Fahren Sie nur hin, Sie können
+Ihrem Foma in die Arme sinken und sich gegenseitig abküssen! Da hat er
+nun einen ‚besonderen‘ Menschen gefunden! Pfui!“ fauchte er wieder.
+„Ach, mag die ganze Welt versauern! Mag alles untergehen! Und ich
+glaubte schon, daß Sie ein vernünftiger Mensch seien, Sie aber ... Fahr
+vor!“ schrie er dem Kutscher zu, der inzwischen auf den Bock der
+ausgebesserten Equipage hinaufgeklettert war. „Nach Haus!“
+
+Mit genauer Not komm ich ihm noch einige beruhigende Worte sagen.
+Endlich besänftigte er sich; aber es dauerte doch noch ziemlich lange,
+bis er sich entschloß, seinen Zorn wieder in Wohlwollen zu verwandeln.
+Mit Grigorijs und Archips Hilfe stieg er in seine Kutsche.
+
+„Gestatten Sie, daß ich noch eines frage,“ sagte ich, an den Wagenschlag
+tretend, „werden Sie meinen Onkel nicht mehr besuchen?“
+
+„Ihren Onkel? Nicht mehr besuchen? Wer das glaubt, dem geben Sie ... na,
+was Sie wollen! Sie denken wohl, daß ich ein Mensch von Charakter bin,
+daß ich’s durchhalten werde? Das ist ja doch mein ganzes Herzeleid, daß
+ich ein Lappen bin, aber kein Mensch! Es wird keine Woche vergehen, da
+kraufe ich wieder hin. Und warum ich’s tue? Sehen Sie, da weiß ich ja
+selber nicht, aber ich werde wieder hinfahren und werde mich dort wieder
+mit Foma Fomitsch herumschlagen. Diesen Foma hat mir Gott der Herr
+sicherlich zur Strafe für meine Sünden auf den Hals geschickt Das ist ja
+mein Leid, Väterchen, daß ich von Charakter ein Weib bin: von
+Beständigkeit keine Spur! Ein Hasenfuß bin ich, mein Lieber, ein echter
+...“
+
+Wir schieden recht freundschaftlich, er lud mich sogar zu sich ein.
+
+„Komm mal, Väterchen, komm, besuch mich, dann wollen wir uns mal gütlich
+tun. Ich habe mir ein gewisses Wässerchen aus Kiew bestellt, das ist
+jetzt eingetroffen, und mein Koch ist in Paris gewesen, der wird dir
+solche Frikandeaus und Fischpasteten zubereiten, daß du dir nur so die
+Fingerchen ablecken und ihm, dem Schuft, noch einen Bückling machen
+wirst! Ist ein gebildeter Mann! Bloß hab’ ich ihn jetzt lange nicht mehr
+geprügelt, hab’ ihn etwas verwöhnt ... es ist gut, daß man mich wieder
+daran erinnert hat ... Also komm nur! Ich würde Sie auch heute zu mir
+auffordern, aber ich bin jetzt doch zu verstimmt, bin ganz sauer
+geworden, ganz und gar aller Hinterbeine beraubt. Ich bin ja doch ein
+kranker Mensch. Sie glauben es mir wohl nicht ... Nun, leben Sie wohl,
+mein Lieber! Es ist Zeit, daß auch mein Schiff in den Hafen einläuft. Da
+ist ja auch Ihr Vehikel repariert. Dem Fomka aber sagen Sie, daß er mir
+nicht mehr unter die Augen kommen soll, sonst wird es einen neuen Krach
+geben, daß er nur so ...“
+
+Die letzten Worte hörte ich nicht mehr. Seine Equipage, die von vier
+starken Pferden mit einem Ruck angezogen wurde, verschwand hinter
+Staubwolken. Da fuhr auch meine Postkutsche vor, ich stieg ein, und wir
+hatten in wenigen Minuten das Städtchen hinter uns.
+
+„Natürlich übertreibt der gute Mann,“ dachte ich, „er ist gar zu wütend,
+um unparteiisch zu urteilen. Aber andererseits ... was er da von meinem
+Onkel sagt, ist noch sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei
+Aussagen überein. Nun, – aber daß mein Onkel die junge Dame liebt ...
+Hm! Werde ich nun heiraten oder werde ich es nicht tun?“
+
+Und diesmal kamen mir denn doch Bedenken.
+
+
+
+
+ III.
+
+ Mein Onkel.
+
+
+Ich gestehe offen, mir war etwas bänglich zumute. Meine romantischen
+Träume erschienen mir jetzt zum mindesten sonderbar, und kaum war ich in
+Stepantschikowo angelangt, da fand ich sie sogar dumm. Das erstere
+geschah ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Die Landstraße führte nicht
+weit vom Herrenhause vorüber. Nun sah ich nach langen Jahren diesen
+großen Garten wieder, in dem ich einige glückliche Tage meiner Kindheit
+verbracht hatte, und den ich dann später so oft im Traum gesehen, wenn
+ich in den Schlafsälen der Schulen und Anstalten, die für meine Bildung
+sorgten, halbwach im Schlummer lag. Ich sprang vom Wagen und ging quer
+durch den Garten auf das Herrenhaus zu; denn ich wollte unbemerkt zuerst
+mit meinem Onkel sprechen und, wenn es ging, auch noch hier und da
+vorher ein wenig herumforschen und horchen. Meine Absicht gelang mir.
+Die Allee hundertjähriger Linden entlang schreitend, kam ich zur
+Terrasse, von der aus man durch eine Glastür unmittelbar in die
+Wohnzimmer trat. Diese Terrasse war von Blumenbeeten umgeben und mit
+Topfpflanzen geschmückt. Hier nun traf ich ganz unerwartet einen der
+„Eingeborenen“ an, den alten Gawrila, der mich einst als Kind auf dem
+Arm getragen hatte, jetzt aber der ehrwürdige Kammerdiener meines Onkels
+war. Der Alte hatte eine Brille auf der Nase und hielt ein Heft, in dem
+er mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit las, dicht vor den Augen. Ich hatte
+ihn zum letztenmal vor zwei Jahren in Petersburg gesehen, wohin er mit
+meinem Onkel gekommen war, und so erkannten wir uns sofort. Mit
+Freudentränen stürzte er die Stufen herab, um meine Hände zu küssen,
+ohne darauf zu achten, daß ihm bei der Gelegenheit seine Brille von der
+Nase flog. Diese Anhänglichkeit des Alten rührte mich tief. Doch ich
+stand noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Herrn Bachtschejeff,
+und so wandte sich meine Aufmerksamkeit unverzüglich dem verdächtigen
+Heft zu, das Gawrila in der Hand hielt.
+
+„Was ist das, Gawrila? Was, will man etwa auch dir Französisch
+beibringen?“ fragte ich den Alten.
+
+„Jawohl, das will man, Väterchen, trotz meiner alten Jahre, als wäre ich
+ein Papagei,“ antwortete Gawrila niedergeschlagen.
+
+„Und Foma selbst unterrichtet dich?“
+
+„Er allein, Väterchen. Er muß doch wohl ein kluger Mann sein.“
+
+„Ja, alle Achtung! Aber wie unterrichtet er dich denn? – Im Gespräch?“
+
+„Mit dem Heft, Väterchen.“
+
+„Du meinst dieses, das du in der Hand hast? Ah! Französische Worte mit
+russischen Buchstaben geschrieben – findig! Und von einem solchen Rüpel,
+einem solchen Dummkopf laßt ihr euch alle so behandeln – schämst du dich
+nicht, Gawrila?“ In einem Augenblick waren alle meine entschuldigenden
+Annahmen vergessen, durch die ich noch vor ein paar Stunden Herrn
+Bachtschejeff in so große Wut versetzt hatte.
+
+„Wie denn, Väterchen, wie kann er denn ein Dummkopf sein, wenn er doch
+auch unsere Herrschaft so lenkt, wie er will?“
+
+„Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila,“ brummte ich, durch seine
+Bemerkung zur Besinnung gebracht. „Führ’ mich zu meinem Onkel.“
+
+„Großer Gott! Ich darf ja dem Herrn überhaupt nicht unter die Augen
+kommen, wage mich gar nicht mehr zu zeigen! Ja, ja, so weit ist es
+gekommen, daß ich auch _ihn_ noch fürchten muß! Sitze hier in meiner
+Trübsal, und wenn Foma Fomitsch zu kommen geruhen, so gehe ich hinter
+die Blumenbeete.“
+
+„Was fürchtest du denn?“
+
+„Vorhin wußte ich die Aufgabe nicht gut: Foma Fomitsch wollten mich
+bestrafen und, wie er sagte, mich auf den Knien stehen lassen – ich aber
+kniete nicht nieder. Alt bin ich, Väterchen Ssergei Alexandrowitsch,
+viel zu alt, um noch solche Scherze mitzumachen. Der Herr aber geruhten
+darüber böse zu werden, daß ich Foma Fomitsch nicht gehorcht hatte.
+‚Siehst du denn nicht ein,‘ sagte er, ‚alter Kerl, er müht sich doch um
+deine Bildung, will dich doch in der Aussprache des Französischen
+unterweisen ...‘ Und so gehe ich denn und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch
+versprachen, am Abend noch einmal eine Prüfung vorzunehmen.“
+
+Es schien mir, daß hier einiges nicht so ganz stimmte.
+
+„Mit diesem französischen Unterricht wird es wohl eine besondere
+Bewandtnis haben,“ dachte ich, „die der Alte mir natürlich nicht
+erklären kann.“
+
+„Nur eine Frage noch, Gawrila: wie sieht er aus? Stattlich,
+imponierend?“
+
+„Wer das? Foma Fomitsch? Nein, Väterchen, das ist so ein gemausertes
+Menschlein ...“
+
+„Hm! Hab’ nur etwas Geduld, Gawrila, es wird sich vielleicht noch
+einrenken lassen, oder vielmehr: sicherlich wird es das, ich verspreche
+es dir, es wird alles wieder gut werden! Aber ... wo ist denn nun mein
+Onkel?“
+
+„Hinter dem Pferdestall reden der Herr mit den Abgesandten der Bauern.
+Aus Kapitonowka sind die Alten mit Verbeugungen und Bitten hergekommen.
+Dort hat man gesagt, daß der Herr sie Foma Fomitsch zu schenken
+beabsichtige, und daher wollen sie alle bitten, daß es nicht geschehe,
+wollen sich, wie man sagt, losbitten.“
+
+„Aber warum empfängt er sie denn hinter den Pferdeställen?“
+
+„Aus Vorsicht, Väterchen ...“
+
+In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den Pferdeställen. Dort stand er
+auf einem freien Platz vor einer ganzen Anzahl Bauern, die sich immer
+wieder vor ihm verneigten und inständig um etwas zu bitten schienen.
+Mein Onkel aber erklärte ihnen offenbar eine Sache. Ich näherte mich und
+rief ihn an. Er sah sich um und – wir lagen uns in den Armen.
+
+Er freute sich unbeschreiblich über mein Kommen, er geriet förmlich in
+Begeisterung vor Freude. Er umarmte mich, drückte meine Hände ... als
+hätte man ihm seinen leiblichen Sohn wiedergegeben, der irgendeiner
+tödlichen Gefahr entgangen war, oder als hätte ich ihn mit meiner
+Ankunft von einer tödlichen Gefahr befreit oder von schweren Zweifeln
+erlöst, und als brächte ich Glück und Freude für sein ganzes Leben ihm
+und allen, die er lieb hatte; denn mein Onkel hätte nie eingewilligt,
+allein glücklich zu sein.
+
+Nach dem ersten überschwenglichen Ausbruch wurde er so mitteilsam, daß
+er sich bald ganz verlor und wohl selbst nicht mehr wußte, wovon er
+schon gesprochen hatte. Er überschüttete mich mit Fragen, wollte mich
+sogleich seiner ganzen Familie vorstellen: wir begaben uns auch schon
+zum Hause – dann aber kehrte er doch wieder zurück ... um mich zuerst
+mit seinen Bauern aus Kapitonowka bekannt zu machen. Hierauf – dessen
+entsinne ich mich noch genau – kam er plötzlich aus unbekanntem Grunde
+auf einen Herrn Korowkin zu sprechen, einen jedenfalls außergewöhnlichen
+Menschen, den er vor drei Tagen unterwegs getroffen hatte, irgendwo auf
+der Reise, und den er mit der größten Ungeduld gerade jetzt als Gast bei
+sich erwartete. Von Korowkin sprang er auf etwas anderes über. Es war
+mir förmlich ein Genuß, ihn zu betrachten. Auf seine überstürzten Fragen
+nach meinen ferneren Absichten sagte ich, daß ich vorläufig keine
+Anstellung suchen, sondern fortfahren würde, mich mit der Wissenschaft
+zu beschäftigen. Doch kaum hatte ich das Wort „Wissenschaft“
+ausgesprochen, als mein Onkel auch schon eine ungeheuer wichtige Miene
+aufsetzte. Als er dann erfuhr, daß ich mich in der letzten Zeit mit
+Mineralogie beschäftigt hatte, warf er den Kopf in den Nacken und
+blickte sich stolz im Kreise um, als hätte er ganz allein, ohne jede
+fremde Hilfe, die ganze Mineralogie entdeckt und alles allein
+niedergeschrieben. Ich habe ja schon gesagt, daß er vor dem Wort
+„Wissenschaft“ die größte Ehrfurcht empfand, eine Ehrfurcht, die ohne
+jeden persönlichen Ehrgeiz war, dessen sie um so mehr entbehrte, als er
+selbst fast nichts von diesen Dingen verstand.
+
+„Ach, Freund, es gibt doch wirklich Menschen in der Welt, die alles
+wissen!“ sagte er mir einmal mit wahrem Entzücken in den leuchtenden
+Augen. „Da sitzt man unter ihnen, hört, und weiß doch selbst, daß man
+nichts davon versteht, aber dennoch freut sich das Herz. Und warum? Ganz
+einfach, weil hier eben Nutzen ist, hier ist Verstand, hier ist das
+Allgemeinwohl! Das begreife ich doch! Ich fahre jetzt schon mit der
+Eisenbahn, mein Iljuscha aber wird vielleicht schon durch die Luft
+fliegen ... Nun, ja, kurz und gut, und der Handel, die Industrie –
+diese, wie man sagt, Schlagadern ... das heißt, ich will nur sagen, von
+welcher Seite du es auch nimmst, es ist und bleibt doch nützlich für die
+Menschheit ... Das ist es doch, nicht wahr?“
+
+Doch ich komme zurück auf unser Wiedersehen.
+
+„Wart nur, Freund, wart,“ begann er in seiner schnellen Sprechweise,
+sich die Hände reibend, „du sollst einen Menschen kennen lernen! Es ist
+ein seltener Mensch, sag’ ich dir, gelehrt, gelehrt, ganz ein Mann der
+Wissenschaft! Der überlebt das Jahrhundert! Das ist doch gut gesagt: ‚er
+überlebt das Jahrhundert‘, nicht? Das hat mir Foma selbst erklärt ...
+Wart, ich werde dich mit ihm bekannt machen.“
+
+„Meinen Sie Foma Fomitsch, Onkel?“
+
+„Nein, nein, Freund, diesmal sprech’ ich von Korowkin. Das heißt, Foma
+ist ja gleichfalls ... er ... Aber diesmal sprach ich einfach nur von
+Korowkin,“ fügte er hinzu, während es mir auffiel, daß er, sobald die
+Rede auf Foma kam, zu erröten und sich zu verwirren schien.
+
+„Mit welcher Wissenschaft beschäftigt er sich denn?“
+
+„Mit allen Wissenschaften, Freund, oder kurz gesagt, mit der
+Wissenschaft überhaupt. Ich kann dir leider nicht so genau sagen, mit
+welcher eigentlich, ich weiß nur, daß es Wissenschaften sind. Oh, wie
+der über die Eisenbahnen redet! Und weißt du,“ – mein Onkel senkte die
+Stimme und zwinkerte mir bedeutsam mit dem linken Auge zu, – „ein wenig
+so, du weißt schon, – freie Ideen! Das habe ich sofort bemerkt,
+namentlich wenn er so von Familienglück spricht ... Schade, ich habe
+nicht alles ganz genau begriffen, was er da sprach, – hatte gerade wenig
+Zeit –, sonst könnte ich dir jetzt alles wiedergeben, ganz ausführlich.
+Und zudem ein Mensch von wirklich edlen Eigenschaften. Ich habe ihn zu
+mir zum Besuch eingeladen. Erwarte ihn stündlich.“
+
+Währenddessen starrten mich die Bauern mit offenen Mündern und großen
+Augen wie ein Wunder an.
+
+„Hören Sie, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „ich habe, glaube ich, Ihr
+Gespräch mit den Bauern unterbrochen. Es handelt sich gewiß um
+Wichtiges. Was meinen Sie? Ich will ganz offen gestehen, daß ich so
+meine Vermutungen habe – und daher würde ich gern zuhören ...“
+
+Mein Onkel wurde plötzlich sehr geschäftig und beinahe aufgeregt.
+
+„Ach, richtig! Das hatte ich ganz vergessen! Ja, sieh mal ... was soll
+man mit ihnen tun? Sie haben sich in den Kopf gesetzt – ich möchte bloß
+wissen, wer es als erster getan hat –, daß ich sie und ganz Kapitonowka
+– du erinnerst dich doch noch, wie wir mit meiner seligen Katjä abends
+immer dorthin spazieren fuhren? – Nun ja, daß ich das ganze Kapitonowka
+mit seinen rund achtundsechzig Seelen Foma Fomitsch schenken wolle! Nun
+und jetzt heißt es: ‚Wir wollen nicht von dir fort, Väterchen!‘ und
+damit Punktum! ...“
+
+„So ist es also nicht wahr, Onkel? Sie werden ihm Kapitonowka nicht
+schenken?!“ rief ich erfreut aus.
+
+„Wie werd’ ich denn! Ist mir nie in den Sinn gekommen! Aber durch wen
+hast du es denn schon erfahren? Es war mir nur mal so entschlüpft – und
+da hat man gleich Häuser auf das eine Wort gebaut. Ich verstehe bloß
+nicht, weshalb sie den Foma so wenig mögen? Aber wart nur, Ssergei, ich
+werde dich mit ihm bekannt machen,“ sagte er mit schüchternem Blick auf
+mich, als ahne er auch in mir einen Feind Foma Fomitschs. „Freund, das
+ist ein solcher Mensch ...“
+
+„Wir wollen keinen anderen Herrn, Väterchen, nur dich allein!“ riefen
+hier plötzlich im Chorus alle Bauern aus. „Ihr seid unser Vater, wir
+sind Eure Kinder!“
+
+„Hören Sie mal, Onkel,“ sagte ich, „den Foma Fomitsch habe ich zwar noch
+nicht gesehen, aber ... sehen Sie ... ich habe so einiges gehört. Ich
+will es Ihnen nur gleich sagen, daß ich heute unterwegs Herrn
+Bachtschejeff getroffen habe. Übrigens hat sich in mir jetzt eine andere
+Auffassung gebildet, wenigstens vorläufig. Jedenfalls aber entlassen Sie
+nun die Bauern, dann können wir ungestört, ganz allein und ohne Zeugen,
+miteinander reden. Ich bin ja doch eigentlich nur deswegen hergekommen
+...“
+
+„Das ist es ja! Eben, eben!“ stimmte mein Onkel sofort eifrig bei. „Die
+Bauern entlassen wir und dann reden wir, weißt du, so –
+kameradschaftlich, freundschaftlich, verständig! – Nun,“ fuhr er, sich
+an die Bauern wendend, in seiner schnellen Sprechweise fort, „geht jetzt
+wieder nach Hause, Freunde! Und hinfort kommt immer zu mir, immer zu
+mir, wenn was nötig ist, kommt ganz einfach gleich zu mir, wenn was
+nötig ist –“
+
+„Väterchen, du bist ja unser Vater! Gib uns nicht der Willkür Foma
+Fomitschs preis! Alle wir Armen bitten dich!“ riefen von neuem die
+Bauern einstimmig aus.
+
+„Ach ihr Dummköpfe! Es wird euch doch nichts geschehen, das habe ich
+euch doch schon gesagt!“
+
+„Sonst würde er uns ganz dumm machen mit dem Unterricht, Väterchen! Die
+Hiesigen, hört man, soll er ja alle schon ganz dumm gemacht haben ...“
+
+„Was, will er denn auch euch die französische Sprache beibringen?“
+fragte ich, beinahe erschrocken.
+
+„Nein, Väterchen, vorläufig hat Gott der Herr uns noch verschont!“
+antwortete einer der Bauern, ihr Sprecher und ein Schwätzer, wie es
+schien; er war rothaarig und hatte eine große Glatze, die ziemlich tief
+auf dem Hinterkopf lag, sowie ein spärliches, keilförmiges Bärtchen, das
+sich so schnell bewegte, wenn er sprach, als wäre es an sich lebendig
+gewesen. „Nein, Herr, bis jetzt noch nicht.“
+
+„Aber worin unterrichtet er euch denn?“
+
+„Ach, Euer Gnaden, in solchen Dingen, daß es nach unserem Verständnis so
+herauskommt: kauf’ einen goldenen Kasten, deine kupferne Münze gib aber
+hin.“
+
+„Wieso, was bedeutet das, kupferne Münze ...?“
+
+„Sserjosha! Du bist im Irrtum! Das ist eine Verleumdung!“ rief mein
+Onkel dazwischen, war aber dabei rot geworden und sah sehr betreten aus.
+„Diese Dummköpfe haben natürlich nicht begriffen, was er ihnen gesagt
+hat. Er hat nur so ... Was soll das mit der kupfernen Münze? ... Dir
+aber steht es nicht zu, über alles zu urteilen und das Maul
+aufzureißen,“ fuhr mein Onkel vorwurfsvoll, zu dem Bauern gewandt, fort;
+„man wollte dir doch, du Dummkopf, Gutes tun, du aber siehst das nicht
+ein – und schreist noch!“
+
+„Aber um’s Himmels willen, Onkel, Sie vergessen, daß er ihnen
+Französisch beibringen will!“
+
+„Aber doch nur wegen der Aussprache, Sserjosha, einzig wegen der
+Aussprache,“ beteuerte er mit geradezu flehender Stimme. „Er hat es mir
+selbst gesagt, daß er es einzig wegen der Schulung in der Aussprache
+tut, die dann auch ihrer Muttersprache zugute kommt ... Zudem ging der
+Sache noch ein besonderer Fall vorher, – du weißt das nicht und daher
+kannst du auch nicht urteilen. Zuerst, Freund, muß man begreifen, und
+dann erst kann man beschuldigen ... Beschuldigen ist leicht!“
+
+„Aber ich verstehe euch nicht!“ sagte ich heftig, mich von neuem an die
+Bauern wendend, „so hättet ihr es ihm doch sofort offen sagen sollen.
+Ganz einfach: so geht es nicht, Foma Fomitsch, die Sache liegt so und
+so! Ihr habt doch einen Mund!“
+
+„Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umbindet, Väterchen? ‚Ich
+bringe,‘ sagt er, ‚dir ungeschicktem Bauernkerl Sauberkeit und Ordnung
+bei. Warum ist dein Hemd nicht sauber?‘ – Weil es doch voll Schweiß ist,
+darum kann es doch auch nicht sauber sein! Wir können doch nicht jeden
+Tag das Hemd wechseln. Sauberkeit macht noch nicht auferstehen, und
+Armut ist noch nicht Tod.“
+
+„Neulich kam er in die Tenne,“ fiel ein anderer Bauer ein, ein großer,
+hagerer Mann, dessen Kleider an vielen Stellen geflickt waren, und
+dessen Füße in den ältesten Bastschuhen staken. Er gehörte offenbar zu
+jenen, die ewig mit irgend etwas unzufrieden sind und stets ein
+gehässiges, scharfes Wort in Bereitschaft haben. Bis dahin hatte er
+hinter den anderen gestanden, in mißmutiger Schweigsamkeit zugehört und
+die ganze Zeit ein gewisses zweideutiges, bitteres und verschlagenes
+Spottlächeln nicht aus seinem Gesicht gebannt. – „Er kam in die Tenne.
+‚Wißt ihr auch,‘ fragt er, ‚wieviel Werst es von hier bis zur Sonne
+sind?‘ Wer von uns kann denn so was wissen? Das steht doch nicht uns zu,
+das ist doch Herrschaftswissen. ‚Nein,‘ sagte er, ‚du bist ein Lümmel,
+wie ich sehe, begreifst nicht einmal deinen eigenen Nutzen. Ich aber,‘
+sagt er, ‚bin ein Astrolog! Ich kenne alle Planeten Gottes!‘“
+
+„Nun, hat er dir auch gesagt, wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“
+mischte sich mein Onkel ein, der plötzlich wieder wie neubelebt war und
+lustig mir zuzwinkerte, als wolle er mir sagen: „Paß nur auf, was du
+jetzt zu hören bekommen wirst!“
+
+„Er nannte da wohl eine große Zahl,“ antwortete der Bauer gewissermaßen
+wider Willen, da er eine solche Frage offenbar nicht erwartet hatte.
+
+„Nun, wieviel waren es denn doch, wieviel, was meinst du?“
+
+„Ach, das wird doch Euer Gnaden besser wissen als wir ... wir sind
+unaufgeklärte Leute, leben im Dunkeln.“
+
+„_Ich_ weiß es ja, Bruder, aber du, hast _du es auch_ behalten?“
+
+„Es werden da immer soundso viel hundert oder auch tausend Werst sein,
+wie er sagte. Es war etwas viel. Die konnte man kaum auf drei Fuhren
+fortführen, diese Zahlen, die er sagte.“
+
+„Aber das ist ja die Hauptsache, – daß man es behält nämlich! Du
+glaubtest wohl, was wird es denn viel mehr sein als eine Werst, da kann
+man ja mit der Hand hinlangen? Nein, Bruder, die Erde – das ist, siehst
+du, ein runder Ball – verstehst du?“ fuhr mein Onkel fort, indem er mit
+den Händen in der Luft einen Kreis beschrieb.
+
+Der Bauer lächelte schmerzlich.
+
+„Ja, wie ein Ball! Und so hält sie sich ganz von selbst in der Luft und
+kreist um die Sonne. Die Sonne aber steht auf einem Platz und rührt sich
+nicht; es scheint dir nur so, als bewege sie sich, in Wirklichkeit aber
+steht sie auf einem Fleck. Ja, siehst du, so ist es! Entdeckt aber hat
+das alles der Kapitän Cook, ein Weltumsegler ... Übrigens, weiß der
+Teufel, ob der es nun gerade war, oder wer es eigentlich entdeckt hat,“
+fügte er halblaut, zu mir gewandt, hinzu. „Ich habe ja selbst, Freund,
+keine Ahnung davon ... Weißt du es, wieviel Werst es bis zur Sonne
+sind?“
+
+„Gewiß, Onkel,“ antwortete ich, etwas verwundert über dieses ganze
+Gespräch, „nur denke ich folgendermaßen darüber: Unbildung ist natürlich
+Nachlässigkeit, dagegen Bauern in der Astronomie zu unterrichten ...“
+
+„Das ist es ja! Eben, eben – gerade Nachlässigkeit!“ fiel mein Onkel
+dazwischen und griff begeistert meinen Ausdruck auf, der ihm wohl
+überaus treffend erschien. „Ein großartiger Gedanke! Gerade
+Nachlässigkeit! Das habe ich ja immer gesagt ... das heißt, ich habe es
+noch nie gesagt, aber ich habe es gefühlt. Hört ihr,“ rief er dann den
+Bauern zu, „Unbildung ist dasselbe wie Nachlässigkeit, ist genau
+dasselbe wie Schmutz! Und deshalb wollte euch Foma auch belehren. Er
+wollte euch das Gute lehren. Das ist gleichfalls ein Dienst, der dem
+Vaterlande geleistet wird, und des größten Lohnes wert. Seht ihr nun,
+wie es sich verhält! Das ist die Wissenschaft! Nun, gut, gut, meine
+Lieben! Geht mit Gott, ich freue mich, es freut mich ... jedenfalls
+beruhigt euch, ich werde euch nicht verlassen.“
+
+„Beschütze du uns, Väterchen, bist doch immer wie ein leiblicher Vater
+zu uns gewesen!“
+
+„Laß uns Freude erleben, Väterchen!“
+
+Und die Bauern stürzten wie ein Mann auf die Knie nieder.
+
+„Nun, nun, was soll das, welch ein Unsinn! Vor Gott und dem Kaiser sollt
+ihr niederknien, nicht aber vor mir ... Aber so steht doch endlich auf,
+geht jetzt, führt euch gut auf, verdient euch eine gute Behandlung ...
+nun, und alles andere, was noch nötig ist ... Weißt du,“ sagte er dann
+zu mir, sich plötzlich umwendend, und sein Gesicht schien vor Freude zu
+leuchten, „so ein armer Kerl hört doch gern ein gutes Wort, und auch ein
+Geschenk schadet nicht. Ich werde ihnen etwas schenken, was? Was meinst
+du? So, weil du angekommen bist ... Soll ich es tun oder nicht?“
+
+„Onkel, Sie sind ja Ihren Bauern ein guter Herr, wie ich sehe,
+wahrscheinlich einer jener Gutsbesitzer, die immer nur Gutes tun wollen
+... –“
+
+„Aber es geht doch nicht, Freund, es geht doch nicht anders: das ist
+doch nichts. Ich wollte ihnen schon lange etwas schenken,“ sagte er wie
+zur Entschuldigung. „Aber fandest du es nicht lächerlich, daß ich den
+Bauern da einen wissenschaftlichen Vortrag hielt? Nein, Freund, das habe
+ich nur so ... nur so vor Freude, daß ich dich nun wiedersah, Sserjosha
+... Ich wollte einfach, daß auch er, der Bauer, erführe, wie weit es bis
+zur Sonne ist, und, wenn er’s hört, den Mund aufsperrt. Es ist so lustig
+zu sehen, wie er ihn aufsperrt. Man freut sich geradezu für ihn. Nur
+weißt du, Freund, sag’ das nicht dort im Salon, daß ich hier mit den
+Bauern gesprochen habe. Ich habe es absichtlich hier hinter den
+Pferdeställen getan, damit man es von dort nicht sieht; denn sieh,
+Freund, es war nicht anders zu machen ... eine kitzlige Sache! Und sie
+waren ja auch nur heimlich gekommen. Ich habe es ja eigentlich auch nur
+ihretwegen getan ...“
+
+„Ja, Onkel, jetzt bin ich also angekommen und bin hier!“ begann ich, um
+dem Gespräch eine andere Wendung zu geben und schneller auf die
+Hauptsache zu sprechen zu kommen. „Ihr Brief hat mich, offen gestanden,
+dermaßen überrascht und in Erstaunen gesetzt, daß ich ...“
+
+„Mein Freund, kein Wort mehr darüber!“ unterbrach mich mein Onkel
+geradezu erschrocken und mit gesenkter Stimme. „Später, später wird sich
+das alles aufklären! Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos vor dir,
+vielleicht sogar sehr ...“
+
+„Nicht ganz schuldlos vor _mir_, Onkel?“
+
+„Später, später, mein Freund, davon später! Das wird sich später
+erklären! Alles, alles! Was du aber für ein prächtiger Bursche geworden
+bist! Mein lieber Junge! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte dir
+alles, wollte dir mein ganzes Herz ausschütten, wie man sagt ... du bist
+gelehrt, du bist der einzige, den ich habe ... du und Korowkin. Im
+übrigen muß ich dich noch darauf aufmerksam machen, daß sich hier alle
+über dich ärgern. Nun sieh dich vor, sei vorsichtig, sei auf deiner
+Hut!“
+
+„Sich über mich ärgern?“ fragte ich und blickte meinen Onkel verwundert
+an, da ich nicht begriff, wodurch ich Menschen, die ich noch gar nicht
+kannte, hätte ärgern können. „Über mich?“
+
+„Über dich, Freund. Was ist da zu machen! Foma Fomitsch ist ein bißchen
+... nun, und Mamachen natürlich gleichfalls. Überhaupt sei vorsichtig,
+ehrerbietig, widersprich nicht, aber vor allem, sei ehrerbietig ...“
+
+„Und das etwa im Verkehr mit Foma Fomitsch, Onkel?“
+
+„Was soll man tun, mein Freund, ich verteidige ihn ja nicht ... Er hat
+vielleicht wirklich so als Mensch seine Fehler, und sogar jetzt im
+Augenblick ... Ach, Freund Sserjosha, wenn du wüßtest, wie mich alles
+das beunruhigt! Wie könnte man das nur gutmachen, damit wir wieder alle
+glücklich und zufrieden wären? ... Aber wer ist denn ohne Mängel? Auch
+wir sind doch nicht vollkommen!“
+
+„Aber, Onkel, so sehen Sie doch nur, was er tut ...“
+
+„Ach, Freund! Das sind ja nur Klatschereien und weiter nichts! Zum
+Beispiel, ich werde dir erzählen: da ärgert er sich nun über mich, aber
+was glaubst du, weswegen? ... Übrigens, vielleicht bin ich auch selbst
+daran schuld. Ich werde es dir später erzählen ...“
+
+„Wissen Sie, Onkel, in mir hat sich, was ihn anbetrifft, eine besondere
+Auffassung herausgebildet,“ unterbrach ich ihn, um ihm noch schnell
+meine Kombinationen mitzuteilen. Wir beeilten uns beide. „Erstens war er
+früher ein Hausnarr: das hat ihn erbittert, erniedrigt, ihn in seinem
+Innersten gekränkt und beleidigt, und so ist denn gehässig, unnatürlich,
+rachsüchtig geworden. Er will sich sozusagen an der ganzen Menschheit
+rächen ... Wenn man ihn aber mit dieser Menschheit wieder aussöhnen, ihn
+sich selbst wiedergeben würde ...“
+
+„Das ist es ja! Eben, eben!“ rief mein Onkel begeistert aus. „Gerade
+das! Ein herrlicher Gedanke! Und es wäre doch eine Schande, es wäre
+niedrig von uns, wollten wir ihn jetzt ohne weiteres verurteilen! Das
+ist es ja! ... Ach, Freund, ich sehe schon, du verstehst mich, du
+bringst mir Trost! Wenn es sich dort nur einrenken ließe! Weißt du, ich
+habe wirklich Angst, dort zu erscheinen. Sieh, du bist nun angekommen,
+ich aber werde dafür büßen müssen!“
+
+„Aber Onkel, wenn es so ist ...,“ begann ich, etwas verlegen durch
+dieses Geständnis.
+
+„Nei-nei-nein! Um keinen Preis, auf keinen Fall!“ rief er heftig
+dazwischen, fest meine Hände drückend. „Du bist mein Gast, und ich will
+es so!“
+
+Ich wunderte mich.
+
+„Onkel, sagen Sie mir jetzt,“ begann ich nachdrücklich, „aus welchem
+Grunde oder zu welchem Zweck Sie mich hergerufen haben? Was erwarten Sie
+von mir, und vor allen Dingen, in welcher Beziehung sind Sie ‚nicht
+schuldlos‘ vor mir?“
+
+„Weißt du, frage jetzt lieber nicht! Später, später! Alles das wird sich
+später aufklären! Ich habe vielleicht in vielem gefehlt, aber ich wollte
+wie ein ehrlicher Mensch handeln und ... und du wirst sie heiraten! Du
+wirst sie heiraten, wenn du nur einen Tropfen Edelmut besitzest!“ schloß
+er, in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung über und über errötend, und
+drückte in diesem aufwallenden Gefühl schmerzhaft meine Hand. „Aber
+jetzt genug davon, kein Wort mehr! Du wirst ja selbst alles zeitig genug
+erfahren. Von dir wird es abhängen ... Die Hauptsache ist, daß du dort
+jetzt gefällst, daß du Eindruck machst. Laß dich nur nicht verwirren.“
+
+„Aber sagen Sie doch, Onkel, wer ist denn eigentlich dort bei Ihnen? Ich
+muß gestehen, ich habe mich wenig in Gesellschaft bewegt, so daß ...“
+
+„So daß dir jetzt etwas bange ist, wie?“ fragte der Onkel lächelnd. „Das
+hat nichts zu sagen! Verlier bloß nicht den Mut! Die Hauptsache ist, daß
+du dich nicht fürchtest. Wer dort bei uns ist, fragst du? Ja, wen haben
+wir denn da? ... Erstens natürlich meine Mutter,“ begann er geschäftig –
+„du erinnerst dich doch noch ihrer, oder nicht mehr? Eine herzensgute,
+durchaus edeldenkende, alte Frau, ohne alle Prätensionen, kann man
+sagen. Etwas altmodisch, aber das ist ja um so besser. Nun, und dann,
+weißt du, zuweilen hat sie so ... gewisse Einfälle, sie sagt manches so
+... nun eben so in besonderem Ton. Augenblicklich ist sie mir böse,
+ärgert sich, aber es ist meine Schuld, und ich weiß es, daß es meine
+Schuld ist. Nun, und sie ist doch immerhin ^Grande Dame^, Generalin ...
+ihr Mann war ein prächtiger Mensch, General, sehr gebildet, reich war er
+freilich nicht, aber vom Kriege her mit Narben bedeckt, – mit einem
+Wort: er hatte sich allgemeine Achtung verdient. Dann ist da Fräulein
+Perepelizyna. Nun, die ... ich weiß nicht ... in der letzten Zeit ist
+sie so etwas ... ihr Charakter, wie gesagt ... Aber man kann doch nicht
+alle verurteilen! ... Nun, Gott mit ihr ... du brauchst nicht zu
+glauben, daß sie so eine ist, die ... die anderen auf dem Halse sitzt.
+Sie ist, weißt du, die Tochter eines Majors. Mamas Busenfreundin, vergiß
+das nicht! Und dann, nun, meine liebe Schwester Praskowja Iljinitschna.
+Na, von der ist nicht viel zu sagen: eine einfache, gute Seele; ein
+wenig zu geschäftig, aber was für ein Herz! Du sieh nur aufs Herz,
+Freund, das ist die Hauptsache ... Ein bejahrtes Mädchen, aber, denk
+doch, dieser Sonderling Bachtschejeff macht ihr gewissermaßen den Hof
+und scheint anhalten zu wollen. Nur laß dir um Gottes willen nichts
+anmerken, kein Wort! Geheimnis! Na, und wen haben wir denn da noch? Von
+den Kindern rede ich weiter nicht: wirst sie selbst sehen. Morgen ist
+Iljuschas Namenstag ... Ja, richtig! Fast hätt’ ich’s vergessen: seit
+einem Monat, sieh mal, lebt bei uns Iwan Iwanytsch Misintschikoff, – du
+wirst mit ihm, denke ich, im dritten Grade verwandt sein ... ja genau:
+ein Vetter deines Vetters. Leutnant a. D. Er hat erst vor kurzem den
+Abschied genommen – stand in einem Husarenregiment. Ein noch junger
+Mensch. Ein wirklich guter Charakter. Aber, weißt du, er hat sich durch
+seine Verschwendung dermaßen – wie sag’ ich doch gleich? – na,
+abgerupft, daß ich gar nicht weiß, wie und wo er das in einem solchen
+Maße hat fertigbringen können. Übrigens hat er auch früher nichts
+gehabt, aber immerhin ... er hat viel Schulden gemacht ... Und jetzt ist
+er bei mir zu Besuch. Bisher kannte ich ihn überhaupt nicht – als er
+ankam, stellte er sich mir vor. So ein lieber, guter, ruhiger,
+bescheidener Mensch. Es hat hier, glaube ich, kein Mensch je ein Wort
+von ihm gehört. Er schweigt ununterbrochen. Foma hat ihn – zum Spott –
+den ‚schweigsamen Fremdling‘ genannt. Aber er macht sich nichts daraus,
+ärgert sich nicht. Foma ist jedenfalls mit ihm zufrieden, nur sagt er
+von ihm, dem Iwan, daß es nicht weit her mit ihm sei. Übrigens
+widerspricht Iwan ihm nie, er stimmt ihm immer bei. Hm! So ein stiller
+Junge ... Na, Gott mit ihm! Du wirst ja selbst sehen. Dann haben wir
+noch Gäste aus der Stadt: Pawel Ssemjonytsch Obnoskin mit seiner Mutter,
+ein junger Mann, ein ungeheuer kluger Mensch; etwas so Reifes, weißt du,
+ist in ihm, etwas Festes, Unerschütterliches ... Ich verstehe mich nur
+nicht auszudrücken! Hinzu kommt noch eine ungewöhnliche Sittlichkeit:
+strenge Moral! Nun, und dann schließlich lebt noch, sieh mal, eine
+Tatjana Iwanowna bei uns, mit der wir – je nachdem, wie man’s nimmt –
+auch noch verwandt sein sollen, natürlich nur sehr entfernt verwandt –
+du kennst sie nicht – ein nicht mehr ganz junges Mädchen – das muß man
+wohl sagen, aber immerhin ... sie hat auch ihre Vorzüge. Reich ist sie,
+weißt du, kann zwei Güter wie Stepantschikowo auf einmal kaufen. Sie hat
+erst vor kurzem geerbt, bis dahin war sie bettelarm. Aber du, Freund, du
+urteile nicht voreilig über sie: sie ist etwas kränklich ... ich wollte
+sagen, sie hat etwas ... etwas Phantasmagorisches in ihrem Charakter.
+Nun, du bist ein edeldenkender Mensch, du wirst es begreifen, sie hat
+doch sozusagen viel gelitten. Mit solchen Menschen, weißt du, die im
+Unglück gewesen sind, muß man doppelt nachsichtig sein! Aber du brauchst
+nicht gleich ... nun, so ... irgend etwas zu denken! Sie hat natürlich
+auch ihre Schwächen: so kommt sie zuweilen etwas aus dem Konzept,
+spricht manches zu schnell aus, wählt nicht immer das richtige Wort, das
+nötig ist ... das heißt, – nicht etwa, daß sie lügt, denk nur das nicht
+... das kommt ja, Freund, aus edlem Herzen ... das heißt, wenn sie auch
+manches nicht ganz der Wahrheit gemäß sagen sollte, so geschieht das
+doch einzig sozusagen aus übergroßer Herzenseinfalt – du verstehst
+doch!“
+
+Mein Onkel war offenbar sehr verwirrt und wurde immer verlegener.
+
+„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „ich habe Sie sehr lieb ... verzeihen Sie
+mir die offene Frage: werden Sie eine von den Damen heiraten oder
+nicht?“
+
+„Wer ... wer hat dir das gesagt?“ fragte er, wie ein Kind errötend.
+„Sieh mal, Sserjosha, ich werde dir alles ganz genau erzählen. Erstens –
+ich heirate nicht. Meine Mutter, zum Teil auch meine Schwester und vor
+allen Dingen Foma Fomitsch, den Mama vergöttert – und mit Recht, mit
+Recht: er hat viel für sie getan – sie alle wollen, daß ich diese selbe
+Tatjana Iwanowna heirate, aus vernünftiger Überlegung, zum Wohl der
+ganzen Familie. Natürlich wollen sie ja nur mein Bestes – das begreife
+ich vollkommen. Aber ich werde um keinen Preis heiraten – ich habe mir
+schon das Wort gegeben. Nichtsdestoweniger verstand ich – ich weiß
+nicht, wie’s kam – nicht so recht zu antworten: ich habe weder ja noch
+nein gesagt. Das ist, weißt du, immer so mit mir. Und so glaubten sie
+denn, daß ich einwillige, und wollen jetzt unbedingt, daß ich mich
+morgen, zum Familienfest, erkläre ... ... Und da sitze ich nun und weiß
+nicht einmal, was ich tun soll! Hinzu kommt noch, daß Foma Fomitsch mir
+zürnt – weiß Gott aus welchem Grunde. Mama gleichfalls. Ich werde dir,
+weißt du, gestehen, daß ich nur dich erwartet habe, dich und Korowkin
+... ich wollte sozusagen ausschütten, was ...“
+
+„Aber womit kann denn Korowkin Ihnen helfen, Onkel?“
+
+„Doch, doch, er kann mir helfen, du wirst sehen, – das ist, Freund, so
+ein Mensch ... Wie gesagt, ein Mann der Wissenschaft! Ich vertraue auf
+ihn, wie auf einen Fels! Ein besiegender, bestrickender Mensch! Wie er
+über Familienglück spricht! Weißt du, auch auf dich setzte ich meine
+Hoffnung, glaubte, du wirst sie zur Vernunft bringen. Sag’ doch selbst:
+nun, nehmen wir an, ich bin an allem Unglück schuld, ich allein! Das
+begreife ich doch, ich bin ja doch kein gefühlloser Holzklotz. Aber
+trotzdem konnte man doch auch mir einmal verzeihen! Himmel, wie wir dann
+alle leben könnten! ... Wenn du wüßtest, wie groß meine kleine
+Ssaschurka ist – sie könnte schon heiraten! Und wie Iljuscha sich
+entwickelt hat! Morgen ist sein Namenstag. Aber wegen Ssaschurka mache
+ich mir Sorgen ... sie ist ein kleiner Trotzkopf ...“
+
+„Onkel! Wo ist mein Koffer? Ich werde mich umkleiden und dann sofort
+erscheinen, und dann ...“
+
+„Im Fremdenzimmer oben, mein Freund, im Giebelzimmer. Ich hatte es im
+voraus so angeordnet, daß man dich, sobald du ankommst, sofort dorthin
+nach oben führen solle, damit dich niemand sieht. Ja, ja, kleide dich
+um! Das ist gut, vorzüglich, vorzüglich! Ich aber werde inzwischen die
+anderen dort ein wenig vorbereiten. Nun, mit Gott! Weißt du, Freund, man
+muß schlau sein. Hier wird man unfreiwillig zu einem Talleyrand. Nun,
+macht nichts! Jetzt trinken sie dort Tee. Wir haben immer ziemlich früh
+Teestunde. Foma Fomitsch liebt es, Tee zu trinken, sobald er von seinem
+Nachmittagsschläfchen aufgewacht ist. Es ist auch, weißt du, besser so
+... Nun, ich gehe also, und du komme mir schnell nach, laß mich nicht
+lange allein: man ist, weißt du, wenn man allein ist, etwas befangen ...
+Ja! Wart! Was ich noch sagen wollte! Ich habe eine Bitte an dich: mach
+mir dort, bitte, keine Vorwürfe, wie du sie mir vorhin hier machtest –
+was? Wenn du was sagen willst, so tu’s später, hier unter vier Augen –
+nicht? Bis dahin aber bezwing dich und schieb es auf! Ich habe es dort,
+sieh mal, sowieso mit allen verdorben. Sie ärgern sich ...“
+
+„Hören Sie, Onkel, nach allem, was ich gehört und gesehen habe, scheint
+es mir, daß Sie ...“
+
+„Daß ich ein Lappen bin – nicht? Sprich es nur ruhig aus!“ unterbrach er
+mich ganz unvermutet. „Ja, Freund, was ist da zu machen! Ich weiß es ja
+selbst. Nun, dann kommst du also? Komm bitte, sobald wie möglich!“
+
+Oben im Giebelzimmer angelangt, kramte ich eilig die notwendigen Sachen
+aus meinem Koffer, eingedenk der Bitte meines Onkels, ihm bald zu
+folgen. Während des Ankleidens dachte ich darüber nach, daß ich, trotz
+der langen Unterhaltung mit meinem Onkel, doch noch nichts von dem in
+Erfahrung gebracht hatte, was ich hauptsächlich wissen wollte. Ich wurde
+nachdenklich. Nur eines war mir einigermaßen klar: mein Onkel wünschte
+immer noch, daß ich sie heiratete, und folglich waren alle Gerüchte, die
+dem widersprachen, wie zum Beispiel, daß er selbst in das junge Mädchen
+verliebt sei, unbegründet. Ich weiß noch, daß ich mich in großer
+Aufregung befand. Unter anderem dachte ich auch darüber nach, daß ich
+durch meine Ankunft und mein Schweigen in der Hauptsache meinem Onkel
+gleichsam meine Zustimmung ausgedrückt, ihm mein Wort gegeben, mich auf
+ewig gebunden hatte.
+
+„Es ist nicht schwer,“ dachte ich, „nicht schwer, ein Wort
+auszusprechen, das einen dann später an Händen und Füßen und auf ewig
+bindet. Und das Beste ist, daß ich die Braut noch nicht einmal gesehen
+habe!“
+
+Und andererseits: woher diese Feindschaft der ganzen Familie gegen mich?
+Warum sollten sie über meine Ankunft, wie mein Onkel sagte, ungehalten
+sein? Und was für eine sonderbare Rolle spielte denn mein Onkel hier in
+seinem eigenen Hause? Aus welchem Grunde vermeidet er es, mir auf
+gewisse Fragen zu antworten? Aus welchem Grunde fürchtet und quält er
+sich so? Offen gesagt, der ganze Sachverhalt erschien mir plötzlich
+vollkommen unsinnig, unbegreiflich. Meine romantischen und heroischen
+Träume aber waren jetzt, nach dem ersten Zusammenstoß mit der
+Wirklichkeit, endgültig verflogen. Erst jetzt, nach der Unterredung mit
+meinem Onkel, begriff ich die ganze Ungereimtheit, den ganzen Wahnsinn
+seines Vorschlages, und ich sagte mir, daß unter solchen Umständen
+wahrlich nur er allein einen solchen Plan aushecken konnte. Desgleichen
+gestand ich mir, daß ich selbst, indem ich auf sein erstes Wort hin Hals
+über Kopf hergefahren kam, fast begeistert von seinem Vorschlag, einem
+Narren und Dummkopf sogar auffallend ähnlich gewesen war.
+
+Mit diesen unangenehmen Erwägungen beschäftigt, kleidete ich mich so
+eilig an, daß ich den mir behilflichen Diener zuerst gar nicht bemerkte.
+
+„Werden der Herr die adelaidenfarbene Kravatte umlegen oder diese
+feinkarierte?“ fragte er plötzlich mit einer fast widerlich süßen
+Bescheidenheit.
+
+Jetzt erst sah ich ihn an, und es schien mir auf den ersten Blick, daß
+seine Person ein gewisses Interesse verdiente. Er war ein noch junger
+Mensch, für einen Diener viel zu gut gekleidet, vielleicht nicht
+schlechter als manch ein Geck unserer Gouvernementsstädte. Er trug einen
+braunen Frack, weiße Beinkleider, eine strohfarbene Weste, Halbstiefel
+aus Lackleder und eine rosa Krawatte. Augenscheinlich war jedes Stück
+nicht ohne eine gewisse Absicht gewählt: diese ganze Ausstattung mußte
+sofort den feinen Geschmack des jungen Mannes verraten. Die Uhrkette war
+gleichfalls nicht zufällig so angebracht, daß sie einem in die Augen
+stach. Sein Gesicht war blaß und etwas grünlich; seine Nase war groß,
+gebogen, ungewöhnlich weiß, fast als wäre sie von Porzellan gewesen. Das
+Lächeln seiner schmalen Lippen drückte eine gewisse Melancholie aus, und
+zwar eine sehr zartfühlende Melancholie. Seine großen hervorquellenden
+Augen hatten etwas Gläsernes, ihr Blick war auffallend stumpf, aber
+dennoch drückten sie eine gewisse „Zartheit“ aus. In seinen dünnen,
+weichen Ohren trug er – wohl gleichfalls aus „Zartheit“ – je ein
+Flöckchen weiße Watte. Seine langen, weißblonden, spärlichen Haare waren
+zu Locken gedreht und pomadisiert. Seine Hände – oder vielmehr Händchen
+– waren weiß, sauber, wie in Rosenwasser gebadet. Seine Nägel waren
+geckenhaft lang und rosig. Kurz, alles an ihm sprach von Verzärtelung
+und Eitelkeit. Er lispelte vor lauter Vornehmheit und sprach nach
+neuester Mode das r fast gar nicht aus, er schlug die Augen auf und
+schlug sie nieder, seufzte und schmachtete bis zur Unglaublichkeit. Ja,
+er duftete sogar nach Parfüm. Er war nicht groß, war schwächlich und
+welk, und beim Gehen knickte er sehr absonderlich in den Beinen, so daß
+es aussah, als wolle er sich bei jedem Schritt setzen, worin er
+wahrscheinlich die vornehmste Zartheit sah. Mit einem Wort, der ganze
+Mensch war förmlich durchtränkt mit Zartheit, Subtilität und
+ungewöhnlich entwickeltem Empfinden der eigenen Würde. Besonderes
+letzteres mißfiel mir im ersten Augenblick sehr, ohne daß ich hierfür
+einen besonderen Grund angeben könnte.
+
+„So ist diese Krawatte adelaidenfarben?“ fragte ich und sah den jungen
+Diener scharf an.
+
+„Jawohl, genau adelaidenfarben,“ antwortete er mit „Zartsinn“.
+
+„Und nicht agrafenenfarben?“
+
+„Nein. Eine solche Farbe kann es überhaupt nicht geben.“
+
+„So? Warum denn nicht?“
+
+„Agrafena ist ein unanständiger Name.“
+
+„Wieso unanständig? Warum?“
+
+„Das weiß doch ein jeder: Adelaida ist wenigstens ein ausländischer
+Name, ein veradelter also; Agrafena aber kann hier jedes Bauernweib
+heißen.“
+
+„Du bist wohl übergeschnappt?“
+
+„Keineswegs, ich bin bei vollem Verstande. Es steht dem Herrn allerdings
+frei, mich wie beliebt zu benennen, doch sind mit meinem Worte viele
+Generäle und Herren aus der Hauptstadt zufrieden gewesen.“
+
+„Wie heißt du denn?“
+
+„Widopljässoff.“
+
+„Ah! Also du bist Widopljässoff!“
+
+„So heiße ich.“
+
+„Na, dich werde ich wohl noch näher kennen lernen.“
+
+Bei mir aber dachte ich, als ich die Treppe hinabstieg: „Weiß Gott, das
+ist ja hier eine regelrechte Irrenanstalt!“
+
+
+
+
+ IV.
+
+ Beim Tee.
+
+
+Der Teesalon war dasselbe Zimmer, aus dem eine Glastür auf jene Terrasse
+führte, auf der ich kurz vorher den Diener Gawrila angetroffen hatte.
+Die geheimnisvollen Warnungen meines Onkels bezüglich des Empfanges, der
+mich erwartete, beunruhigten mich nicht wenig. Um so unangenehmer war es
+mir, als ich, nachdem ich kaum über die Schwelle getreten war, plötzlich
+über einen Teppich stolperte und, indem ich zum Glück gerade noch das
+Gleichgewicht bewahrte, immerhin ganz unverhofft bis in die Mitte des
+Zimmers flog. So stand ich denn, betreten, als hätte ich im Augenblick
+meine ganze Lebenslaufbahn, Ehre und guten Ruf verspielt, regungslos,
+rot wie ein Krebs und mit verständnislosem Blick rings um mich schauend,
+geraume Zeit mitten im Zimmer auf einem Fleck. Ich erwähne diesen an
+sich ganz gleichgültigen Zwischenfall einzig aus dem Grunde, weil er von
+einem gewissen Einfluß auf meine Gemütsverfassung im Verlaufe des ganzen
+Tages war und somit auch auf mein Verhalten zu einigen der handelnden
+Personen meiner Erzählung. Ich versuchte, so etwas wie eine Verbeugung
+zu machen; doch noch bevor ich sie ausgeführt hatte, stürzte ich zu
+meinem Onkel und erfaßte seine beiden Hände.
+
+„Guten Tag, Onkel,“ sagte ich atemlos, obgleich ich etwas ganz anderes,
+viel Geistreicheres hatte sagen wollen ... aber ohne es zu wollen, hatte
+ich schon dieses dumme „Guten Tag, Onkel“ gesagt!
+
+„Guten Tag, guten Tag, mein lieber, junger Freund,“ antwortete mein
+Onkel, der sichtlich mit mir litt, „wir ... wir haben uns ja schon so
+oft gesehen. Sei doch nicht so verlegen,“ fuhr er leise fort, so daß nur
+ich es hörte, „das kann ja jedem Menschen passieren! Ich verstehe ja:
+zuweilen wäre man froh, wenn man sich unter die Erde verkriechen könnte
+... Nun, jetzt aber ... erlauben Sie, Mama, daß ich Ihnen hier meinen
+Gast vorstelle ... Sie werden ihn sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe,
+Ssergei Alexandrowitsch,“ sagte er zur Erläuterung, sich diesmal an alle
+Anwesenden wendend.
+
+Doch bevor ich die folgenden Ereignisse wiedergebe, will ich diese ganze
+Gesellschaft, in die ich mich so plötzlich hineinversetzt sah, dem Leser
+etwas deutlicher vor Augen führen.
+
+Sie bestand aus mehreren Damen und nur zwei Herren – mich und meinen
+Onkel nicht mitgerechnet. Foma Fomitsch, für den ich mich so überaus
+interessierte, und der – das fühlte ich bereits – der unumschränkte
+Herrscher des ganzen Hauses war, befand sich nicht im Zimmer: er glänzte
+durch Abwesenheit und hatte, wie es schien, das Sonnenlicht gleichzeitig
+mit sich fortgenommen; denn alle waren finster, sorgenvoll und
+bekümmert, was man unmöglich nicht herausfühlen konnte. Aber wie
+verwirrt und erregt ich in diesem Augenblick auch war, ich bemerkte
+doch, daß mein Onkel fast ebenso erregt und verwirrt war wie ich, wenn
+er auch alles tat, um seinen wahren Zustand und seine Sorgen hinter
+scheinbarer Ungezwungenheit zu verbergen. Es schien so etwas wie ein
+schwerer Stein auf seinem Herzen zu liegen.
+
+Der eine der beiden anwesenden Herren, ein noch junger Mann von etwa
+fünfundzwanzig Jahren, war jener Obnoskin, dessen Verstand und strenge
+Moral mein Onkel noch kurz vorher gerühmt hatte. Leider gefiel er mir
+äußerst wenig: alles an ihm lief schließlich auf einen gewissen „Schick“
+– jedoch schlechten Tones – hinaus; sein Anzug sah bei allem „Schick“
+doch fadenscheinig und ärmlich aus, und selbst in seinem Gesicht schien
+etwas Fadenscheiniges zu sein. Sein hellblonder, spärlicher Schnurrbart
+und sein zerzaustes Bärtchen sollten an ihm offenbar einen selbständig
+denkenden Menschen und vielleicht sogar einen Freigeist kennzeichnen. Er
+schnitt die ganze Zeit Grimassen, lächelte mit einer ganz besonderen,
+gemachten Boshaftigkeit, saß keinen Augenblick ruhig auf seinem Stuhl
+und fixierte mich beständig durch ein Lorgnon – dessen er sich, wie
+jeder zeitgenössische Modenarr, bediente. Kehrte ich mich jedoch zu ihm
+um, so senkte er es mit einer neuen Grimasse sofort, ganz als wäre er zu
+feige gewesen, mich offen zu fixieren. Der andere Herr war auch noch
+jung, ungefähr so um achtundzwanzig: es war dies mein Vetter dritten
+Grades, Herr Misintschikoff. Er war allerdings auffallend schweigsam.
+Während der ganzen Teestunde sprach er kein einziges Wort, lachte er
+kein einziges Mal, auch dann nicht, wenn alle lachten; doch konnte ich
+keine Spur von jener Schüchternheit an ihm wahrnehmen, die mein Onkel an
+ihm bemerkt haben wollte; im Gegenteil, ich fand, daß der Blick seiner
+hellbraunen Augen Entschlossenheit und einen sehr bestimmten Charakter
+verriet. Er hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, fast schwarzes Haar und war
+eigentlich recht hübsch; gekleidet war er tadellos – auf Rechnung meines
+Onkels, wie ich später erfuhr. Von den Damen fiel mir ganz zuerst
+Fräulein Perepelizyna dank ihres erschreckend bösen, blutleeren Gesichts
+auf. Sie saß neben der Generalin, – auf die ich später zu sprechen
+kommen werde –, jedoch stand ihr Stuhl nicht ganz in gleicher Reihe mit
+dem der alten Dame, sondern aus Ehrerbietung etwas zurück. Sie beugte
+sich jeden Augenblick vor, um ihrer Gönnerin etwas ins Ohr zu tuscheln.
+Drei andere bejahrte Gnadenbrotesserinnen saßen vollkommen wortlos,
+starr und steif an der Fensterwand und erwarteten ehrfürchtig ihre Tasse
+Tee, alle sechs Augen andächtig auf die Generalin gerichtet. Auch
+interessierte mich eine nicht allein dicke, sondern förmlich
+ausgeflossene Dame von rund fünfzig Jahren, die sehr geschmacklos und
+auffallend gekleidet und, wenn ich mich nicht täusche, sogar geschminkt
+war. Im Munde hatte sie statt der Zähne nur noch einige dunkle,
+abgebrochene Zahnstummeln, was sie jedoch nicht hinderte, in einem fort
+den Mund aufzureißen, schreiend laut zu sprechen, sich zu zieren und zu
+kokettieren. Sie war mit vielen Ketten und Kettchen behangen und
+richtete, ganz wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihr Lorgnon auf mich.
+Es war das seine Mutter. Meine Tante, die stille Praskowja Iljinitschna,
+goß den Tee ein. Man sah es ihr an, daß sie mich nach der langen
+Trennung am liebsten hätte umarmen, küssen, und daß sie bei der
+Gelegenheit selbstverständlich auch hätte weinen wollen – aber sie wagte
+es nicht. Alles schien hier gleichsam unter einem Verbot zu stehen.
+Neben ihr saß ein allerliebstes, dunkeläugiges, fünfzehnjähriges
+Mädchen, das mich aufmerksam mit kindlicher Neugier ansah – das war mein
+Kusinchen Ssaschenjka. Endlich bemerkte ich noch eine sehr sonderbare
+Dame, die vielleicht die auffallendste von allen war: reich und sehr
+jugendlich gekleidet, obschon sie längst nicht mehr jung zu sein schien:
+ich schätzte sie auf mindestens fünfunddreißig Jahre. Ihr Gesicht war
+sehr farblos, hager und geradezu ausgetrocknet, doch nichtsdestoweniger
+von ungewöhnlich lebhaftem Ausdruck. Fast bei jeder Bewegung, jeder
+Erregung erschien flammendes Rot auf ihren bleichen Wangen. Dabei regte
+sie sich ununterbrochen auf, drehte sich auf dem Stuhl hin und her und
+schien nicht eine Minute ruhig sitzen zu können. Sie betrachtete mich
+mit geradezu gieriger Neugier, beugte sich in jedem Augenblick zur
+Seite, um Ssaschenjka oder ihrer Nachbarin zur Linken etwas ins Ohr zu
+flüstern, worauf sie dann jedesmal in ein offenherziges, kindlich
+heiteres Lachen ausbrach. Doch dieses ganze auffallende Benehmen der
+Dame wurde zu meiner nicht geringen Verwunderung von keinem einzigen der
+Anwesenden bemerkt, oder wenigstens schien man es nicht bemerken zu
+wollen, ganz als hätte man schon früher ein vollkommenes Ignorieren
+verabredet. Ich erriet, daß dieses Geschöpf jene Tatjana Iwanowna war,
+die nach dem Ausdruck meines Onkels etwas „Phantasmagorisches“ an sich
+haben sollte, und die ihm fast mit Gewalt als Braut angehängt wurde.
+Wegen ihres Reichtums sahen ihr die alten Damen alles nach und waren
+überhaupt sehr liebenswürdig zu ihr. Übrigens gefielen mir ihre blauen
+Augen, die einen gewissen sanften Ausdruck hatten, und wenn man auch an
+den Schläfen kleine Runzeln wahrnehmen konnte, so war der Blick doch so
+offenherzig, so heiter und gut, daß es ganz eigenartig angenehm war, ihm
+zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer der buchstäblichen
+„Heldinnen“ meiner Erzählung, werde ich späterhin noch ausführlicher
+sprechen – ihre Lebensgeschichte ist recht seltsam.
+
+Fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teesalon kam aus dem Garten ein
+allerliebster kleiner Junge hereingelaufen; das war mein Vetter
+Iljuscha, dessen Namenstag am nächsten Tage gefeiert werden sollte, und
+dessen Taschen jetzt schon mit Kuchen vollgestopft waren. In der einen
+Hand hielt er eine Peitsche, in der anderen einen Brummkreisel. Gleich
+nach ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein: sie war ein wenig
+bleich und anscheinend etwas müde, aber dennoch sah sie reizend aus. Sie
+warf einen prüfenden, mißtrauischen und etwas scheuen Blick auf die
+Anwesenden, sah mich einmal kurz und aufmerksam an und setzte sich dann
+neben Tatjana Iwanowna hin. Ich weiß noch, daß mein Herz unwillkürlich
+zu klopfen begann: das war sie, die Erzieherin ... Auch entsinne ich
+mich noch, daß mein Onkel bei ihrem Eintritt mir einen schnellen Blick
+zuwarf und gleich darauf errötete, sich dann plötzlich niederbeugte,
+seinen Iljuscha auf den Arm hob und ihn zu mir brachte: ich sollte ihn
+begrüßen und küssen. Bei der Gelegenheit fiel es mir auf, daß Frau
+Obnoskin meinen Onkel durchdringend musterte, um dann mit einem
+sarkastischen Lächeln ihr Lorgnon auf die Erzieherin zu richten. Mein
+Onkel wußte nicht, was er tun sollte, und so rief er denn Ssaschenjka zu
+sich, um sie mir vorzustellen, doch diese stand nur auf und machte
+schweigend und mit aller Wohlerzogenheit einen Knicks vor mir. Das
+gefiel mir übrigens sehr; denn es paßte zu ihr. Da aber konnte sich
+meine gute Tante Praskowja Iljinitschna nicht mehr bezwingen: sie ließ
+ihre Teetassen stehen und stürzte auf mich zu, um mich zu umarmen – doch
+siehe, noch hatte ich nicht Zeit gehabt, ihr zwei Worte zu sagen, als
+schon die schrille Stimme der alten Jungfer Perepelizyna ertönte, die
+vorwurfsvoll und stellenweise förmlich kreischend bemerkte, daß
+Praskowja Iljinitschna ihr Mütterchen (die Generalin) ganz und gar
+vergesse, das Mütterchen aber habe doch Tee verlangt und müsse jetzt so
+lange warten! Und so eilte denn Praskowja Iljinitschna zu ihren Tassen
+und Pflichten zurück, ohne mit mir nur ein Wort gewechselt zu haben.
+Diese Generalin nun, die Hauptperson im Kreise ihrer Freundinnen, vor
+der alle sich wie auf Draht gezogen bewegten, und die ganz in Trauer
+gehüllt dasaß, war eine hagere, böse, alte Person – böse vornehmlich vor
+Alter und infolge der Einbuße ihrer letzten, auch früher niemals sehr
+reichen geistigen Fähigkeiten. Früher war sie einfach nur launisch
+gewesen, dann aber hatte sie der Titel „Exzellenz“ noch dümmer und noch
+eingebildeter gemacht. Wenn sie sich ärgerte, machte sie das Haus zur
+Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu ärgern. Die eine Art war –
+Schweigen; dann tat die Alte ganze Tage lang kein einziges Mal den Mund
+auf und stieß alles, was man ihr vorsetzte, entweder wie aus Versehen
+um, oder warf es ganz offen und wütend auf den Fußboden. Die andere Art
+war dieser vollkommen entgegengesetzt: nämlich wortreich. Es begann
+gewöhnlich damit, daß meine verehrte Großmutter sich in ungewöhnliche
+Melancholie versenkte, das Ende der Welt und ihres Hauses erwartete,
+Armut und alles nur denkbare Elend voraussah, sich an ihren eigenen
+Vorgefühlen in Stimmung redete, die zukünftigen Leiden an den Fingern
+abzuzählen begann, während dieser Zählung in eine gewisse Begeisterung
+geriet und aus dieser Begeisterung schließlich in förmlichen Jähzorn.
+Bei der Gelegenheit stellte es sich dann natürlich immer heraus, daß sie
+alles inzwischen Eingetroffene vorausgesehen und nur aus dem einen
+Grunde geschwiegen hatte, weil sie doch mit Gewalt dazu gezwungen werde,
+„in diesem Hause“ zu schweigen. Wenn man doch „wenigstens ehrerbietig“
+zu ihr sein und ihr „im voraus gehorchen“ wollte, so ... usw. Alle
+derartigen Reden wurden sogleich von dem ganzen Stabe ihrer
+Anhängerinnen, Fräulein Perepelizyna an der Spitze, als
+unerschütterliche, ewige Wahrheit anerkannt und zum Schluß noch von Foma
+Fomitsch feierlich begutachtet und gesegnet. In jenem Augenblick, als
+ich ihr vorgestellt wurde, ärgerte sie sich gerade entsetzlich, und zwar
+nach der ersten Methode, der schweigsamen – und furchtbarsten. Alle
+sahen sie angstvoll an. Nur Tatjana Iwanowna, der unbedingt alles
+verziehen wurde, befand sich in der besten Stimmung.
+
+Da führte mich mein Onkel – fast sogar wie im Triumph – zu meiner
+Großmutter, doch diese machte nur eine äußerst saure Miene und schob
+heftig ihre Tasse zur Seite.
+
+„Ist das jener Vol-ti-geur?“ fragte sie in singendem Nasalton, sich
+dabei an Fräulein Perepelizyna wendend.
+
+Diese dumme Frage brachte mich gänzlich aus der Fassung. Ich begriff
+nicht, weshalb sie mich einen Voltigeur nannte. Doch solche Fragen waren
+noch nichts, im Vergleich zu anderen Beleidigungen, mit denen die alte
+Dame niemals kargte. Die Perepelizyna beugte sich vor und tuschelte ihr
+etwas ins Ohr, die Alte aber schlug nur einmal, unwillig abweisend, mit
+der Hand durch die Luft. Ich stand mit halb offenem Munde vor ihr und
+blickte fragend meinen Onkel an. Alle tauschten vielsagende Blicke aus,
+und Obnoskin lächelte sogar, was mir sehr wenig gefiel.
+
+„Sie, weißt du, sie verspricht sich manchmal,“ raunte mir mein Onkel
+unauffällig zu; „aber das tut ja nichts, sie sagt es nur so, es kommt
+aus gutem Herzen. Sieh immer nur aufs Herz, immer aufs Herz, das ist die
+Hauptsache!“
+
+„Ja, das Herz, das Herz!“ ertönte da plötzlich die helle Stimme Tatjana
+Iwanownas, die mich die ganze Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte
+und tatsächlich nicht ruhig auf ihrem Platz zu sitzen vermochte.
+Offenbar hatte sie die letzten mir zugeraunten Worte aufgefangen. Doch
+sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende, obgleich sie augenscheinlich
+etwas sagen wollte. Wurde sie nun verlegen, oder war es etwas anderes –
+jedenfalls verstummte sie, errötete heftig, beugte sich hastig zur
+Erzieherin, flüsterte ihr etwas ins Ohr und plötzlich warf sie sich, das
+Taschentuch an die Lippen pressend, an ihre Stuhllehne zurück und
+lachte, lachte, wie nur ein hysterischer Mensch lachen kann. Ich schaute
+mich höchst verwundert im Kreise um: und ich gewahrte zu meiner noch
+größeren Verwunderung, daß alle sehr ernst waren und so dreinschauten,
+als wäre nichts Besonderes geschehen. Da begriff ich, wer und was
+Tatjana Iwanowna war. Endlich erhielt auch ich meinen Tee und kam wieder
+ein wenig zur Besinnung. Doch weiß ich nicht, aus welchem Grunde ich
+plötzlich glaubte, ein überaus liebenswürdiges Gespräch mit den Damen
+anknüpfen zu müssen.
+
+„Sie hatten vollkommen recht, Onkel,“ begann ich, „als Sie mich vorhin
+vor dem Verlegenwerden warnten. Ich muß offen gestehen – wozu sollte ich
+es verheimlichen?“ fuhr ich fort, mich mit dem einschmeichelndsten
+Lächeln an Frau Obnoskin wendend, „daß sich mich bis heute noch nie in
+Damengesellschaft befunden habe, und als mir jetzt beim Eintritt dieses
+Malheur passierte, da ... schien es mir, daß die Pose, die ich mitten im
+Zimmer so unbeabsichtigter Weise annahm, recht lächerlich war und in
+etwas an den ‚Bettelsack‘ erinnerte – nicht wahr? Sie haben doch den
+‚Bettelsack‘ gelesen?“ Ich verstummte, denn meine Verwirrung hatte
+mit jedem Wort wieder zugenommen: ich schämte mich meines
+Einschmeichelungsversuchs und blickte wütend auf Herrn Obnoskin, der,
+die Zähne lächelnd entblößend, mich immer noch vom Kopf bis zu den Füßen
+musterte.
+
+„Stimmt! Das ist es ja! Eben, eben!“ rief plötzlich mein Onkel aus,
+ungemein belebt und aufrichtig erfreut darüber, daß es wenigstens zu
+einem Gespräch kam und ich mich soweit gefaßt hatte. „Aber das, Freund,
+das ist noch nichts, was du da sagst von Verlegenwerden. Wird man
+verlegen, dann wird man verlegen, das ist weiter nicht schlimm! Ich
+aber, Freund, ich habe bei meinem Debüt sogar gelogen – wirst du’s mir
+glauben? Ja, bei Gott, Anfissa Petrowna! Und ich kann Ihnen nur sagen,
+es ist eine interessante Geschichte. Ich war kaum Fähnrich geworden, kam
+nach Moskau und begab mich zu einer hochgestellten Dame, mit einem
+Empfehlungsbrief, versteht sich – das heißt, sie war eine recht
+hochmütige Dame, aber im Grunde doch herzensgut, was man auch dagegen
+einwenden wollte. Ich trete also ein, gebe meine Karte ab – werde
+empfangen. Im Empfangssalon wimmelt es von Gästen – lauter Größen. Ich
+machte meine pflichtschuldige Verbeugung, setzte mich. Da wendet sie
+sich schon nach fünf Minuten zu mir und fragt mich: ‚Hast du auch ein
+Gut, mein Lieber?‘ Ich besaß damals kein Huhn – aber was sollte ich
+antworten? Verwirrt war ich, wie ein Brummkreisel. Alle sehen mich an –
+na was, Junkerlein! Nun, ich hätte doch einfach sagen können: nein, habe
+nichts, – und es wäre gut und anständig gewesen; denn ich hätte doch nur
+die Wahrheit gesagt. Hielt es aber nicht aus! ‚Jawohl,‘ sagte ich,
+‚hundertundsiebzehn Seelen.‘ Weiß Gott, welch ein Teufel mich plagte,
+diese siebzehn da noch anzuhängen! Wenn du schon lügst, dann lüg doch
+eine runde Zahl – nicht wahr? Natürlich erfuhren sie gleich darauf aus
+dem Empfehlungsbrief, daß ich arm war wie eine Kirchenmaus – und zum
+Überfluß hatte ich jetzt auch noch gelogen! Na, was tun? Ich machte, daß
+ich fortkam, und ging seit der Zeit nie wieder hin! Ja, damals besaß ich
+noch nichts; denn das, was ich jetzt habe, das sind, wie ihr wißt,
+dreihundert Seelen von Onkel Afanassij Matwejitsch, und dann noch die
+zweihundert Seelen mit Kapitonowka, die ich vorher von meiner Großmutter
+Akulina Panfilowna erbte, also ^summa summarum^ fünfhundert plus
+Nachwuchs. Na ja. Nur habe ich mir damals geschworen, nie mehr zu lügen,
+und jetzt lüge ich auch tatsächlich nie mehr.“
+
+„Hm, ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht geschworen. Wer weiß, was
+alles noch geschehen kann,“ bemerkte Obnoskin mit spöttischem Lächeln.
+
+„Nun ja, das ist ja wahr; wer weiß, was alles noch geschehen kann!“
+stimmte mein Onkel gutmütig bei.
+
+Obnoskin brach in schallendes Gelächter aus und warf sich lachend an die
+Stuhllehne zurück. Fräulein Perepelizyna kicherte wieder ganz besonders
+widerlich. Auch Tatjana Iwanowna lachte auf, ohne selbst zu wissen,
+worüber, und schlug sogar in die Hände vor Vergnügen. Kurz, ich begriff,
+daß mein Onkel in seinem eigenen Hause als vollkommene Null betrachtet
+wurde. Ssaschenjka, deren dunkle Augen böse blitzten, sah unverwandt
+Obnoskin an. Die Erzieherin errötete und sah zu Boden. Mein Onkel
+wunderte sich.
+
+„Ja, was denn? Was ist denn geschehen?“ fragte er, sich verständnislos
+im Kreise umblickend.
+
+Während dieser ganzen Zeit fiel es mir auf, daß mein Vetter dritten
+Grades, Misintschikoff, der sich etwas abseits niedergelassen hatte,
+ruhig und stumm auf seinem Stuhle saß und selbst dann nicht einmal
+lächelte, als alle lachten. Er trank seinen Tee, blickte philosophisch
+auf das ganze Publikum und war mehr als einmal im Begriff – gleichsam in
+einem Anfall unerträglicher Langeweile – die Lippen zu spitzen und vor
+sich hinzupfeifen, wahrscheinlich aus alter Angewohnheit, doch besann er
+sich immer noch rechtzeitig. Gleichzeitig fiel mir auf, daß Obnoskin,
+der meinen Onkel zum besten hatte und sich auch über mich lustig machte,
+diesen Misintschikoff kaum anzusehen wagte. Auch bemerkte ich, daß
+dieser, mein schweigsamer Vetter dritten Grades, des öfteren zu mir
+herübersah und es sogar mit offenkundigem Interesse tat, als hätte er
+genau feststellen wollen, was für ein Mensch ich eigentlich sei.
+
+„Ich bin überzeugt,“ ertönte da plötzlich die Stimme Frau Obnoskins,
+„ich bin fest überzeugt, ^monsieur Serge^ – so war’s doch, wenn ich mich
+nicht irre? – daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Damenfreund
+gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele junge
+Leute, die sich vor jeder Damengesellschaft scheuen. Meiner Ansicht nach
+sind das aber nur Freigeister. Ich werde mich nie dazu verstehen, diese
+Tatsache anders aufzufassen: sie ist nichts als unverzeihliches
+Freigeistertum. Und darum will ich es Ihnen unverhohlen sagen: es
+wundert mich, es wundert mich, junger Mann, es wundert mich über alle
+Maßen! ...“
+
+„Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt,“ antwortete ich
+eifrig. „Aber das hat ... wenigstens denke ich so, nichts zu sagen ...
+Ich lebte dort, das heißt, ich hatte mir dort ein Zimmer gemietet ...
+aber das hat nichts auf sich, ich versichere Sie. Ich werde mir alle
+Mühe geben, mit Damen bekannt zu werden; bis jetzt habe ich allerdings
+nur zu Hause gesessen.“
+
+„Und hast dich mit der Wissenschaft beschäftigt,“ bemerkte mein Onkel,
+ersichtlich stolz darauf.
+
+„Ach, Onkel, – Onkel mit seiner Wissenschaft ... Stellen Sie sich nur
+vor,“ fuhr ich sehr mitteilsam und mit liebenswürdigem Lächeln fort,
+mich wieder an Frau Obnoskin wendend, „mein lieber Onkel ist von der
+Wissenschaft dermaßen eingenommen, daß er irgendwo auf der Landstraße
+einen wundertätigen, praktizierenden Philosophen, einen gewissen Herrn
+Korowkin, entdeckt hat: und sein erstes Wort, das er mir heute nach so
+langen Jahren der Trennung sagte, war, daß er diesen phänomenalen
+Zauberer mit, man kann wohl sagen, krampfhafter Ungeduld erwarte ...
+selbstverständlich nur aus Liebe zur Wissenschaft ...“
+
+Und ich lachte leise, in der Hoffnung, allgemeines Gelächter als Lob
+meiner geistreichen Mitteilung hervorzurufen.
+
+„Wen? Von wem spricht er?“ fragte schroff die Generalin, die sich wieder
+nur an die Perepelizyna wandte.
+
+„Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte, Leute, die sich auf der
+großen Landstraße umhertreiben und von ihm aufgesammelt werden,“
+berichtete schadenfroh die alte Jungfer.
+
+Mein Onkel wußte zuerst nicht recht, was er dazu sagen sollte.
+
+„Ach ja, richtig! Ich hatte es ganz vergessen!“ rief er aus – warf mir
+aber einen Blick zu, in dem doch ein gewisser Vorwurf lag. „Ich erwarte
+Herrn Korowkin. Ein Mann der Wissenschaft, einer, der unser Jahrhundert
+überleben wird ...“
+
+Er brach ab und verstummte. Die Generalin hatte wieder einmal mit der
+Hand gewinkt (das bedeutete, daß sie ihn nicht mehr anhören wollte), und
+zwar diesmal so glücklich, daß sie die Tasse traf, die auf dem Fußboden
+klirrend zerschlug. Es folgte eine allgemeine Aufregung.
+
+„Das tut sie immer, wenn sie sich ärgert,“ raunte mir mein Onkel zur
+Erklärung ins Ohr. „Aber nur wenn sie sich ärgert ... Du, Freund, sieh
+nicht hin, bemerke es nicht, sieh zur Seite ... Aber, warum hast du das
+von Korowkin gesagt? ...“
+
+Doch ich blickte ohnehin schon zur Seite: ich hatte den Blick der
+Erzieherin aufgefangen, und es schien mir, daß in ihm mehr als ein
+Vorwurf, ja sogar etwas wie Verachtung lag. Röte des Unwillens brannte
+auf ihren blassen Wangen. Ich begriff ihren Blick. Ich erriet, daß ich
+durch meinen kleinmütigen, häßlichen Versuch, meinen Onkel lächerlich zu
+machen, um auf diese Weise wenigstens etwas von der eigenen
+Lächerlichkeit abzuwälzen, nicht gerade die Sympathie dieses Mädchens
+errungen hatte. Ich vermag nicht zu sagen, wie sehr ich mich schämte!
+
+„Aber ich will mit Ihnen von Petersburg sprechen,“ begann Anfissa
+Petrowna Obnoskina von neuem, kaum daß sich die Aufregung, die von der
+zerschlagenen Tasse hervorgerufen worden war, etwas gelegt hatte. „Ich
+denke mit einem solchen Vergnügen, kann ich sagen, an unser Leben in
+dieser bezaubernden Residenz zurück ... Wir waren damals sehr nah
+bekannt mit einem Hause ... weißt du noch ^Paul^?“ (Die Dame nannte
+ihren Sohn Pawel stets französisch „Poll“ und mich statt Ssergei
+Alexandrowitsch, „^monsieur Serge^“.) „General Polowizyn ... Ach, wenn
+Sie wüßten, was für ein bezauberndes, be–zau–berndes Wesen die Generalin
+war! Und sie können sich ja denken, dieser Aristokratismus, ^beau
+monde^! ... Sagen Sie: Sie sind ihnen doch wahrscheinlich begegnet? ...
+Glauben Sie mir, ich habe Sie hier mit Ungeduld erwartet: ich hoffte,
+durch Sie hier vieles, vieles von unseren Petersburger Freunden zu
+erfahren ...“
+
+„Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Lage ... entschuldigen Sie
+... Ich habe Ihnen bereits gesagt, daß ich nur sehr selten in
+Gesellschaft gewesen bin, und ich kann nur hinzufügen, daß ich einen
+General Polowizyn überhaupt nicht kenne, ich habe nicht einmal den Namen
+gehört,“ antwortete ich nervös, da meine ganze Liebenswürdigkeit
+plötzlich in eine sehr gereizte und ärgerliche Stimmung umgeschlagen
+war.
+
+„Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!“ bemerkte wieder stolz mein
+unverbesserlicher Onkel. „Das ist doch, Freund, die Wissenschaft, die da
+so – verschiedene kleine Steinchen sammelt, nicht? Die Mineralogie?“
+
+„Ja, Onkel, Steine ...“
+
+„Hm ... Es gibt doch viele Wissenschaften, und alle sind sie nützlich!
+Ich aber, Freund, um die Wahrheit zu sagen, wußte nicht einmal, was das
+eigentlich ist, diese ganze Mineralogie! Habe nur so irgendwo die
+Glocken mal läuten gehört. Weißt du, in den anderen Dingen – da geht es
+noch zur Not; aber was die Wissenschaft anbetrifft, da bin ich dumm –
+gebe es ganz offen zu.“
+
+„Sie geben es ganz offen zu?“ fragte ironisch Obnoskin.
+
+„Papachen!“ rief Ssaschenjka dazwischen und sah vorwurfsvoll ihren Vater
+an.
+
+„Was, Liebling? Ach, mein Gott, ich unterbreche Sie immer, Anfissa
+Petrowna,“ entschuldigte er sich, da er Ssaschenjkas Ausruf
+mißverstanden hatte, „verzeihen Sie mir, um Gottes willen!“
+
+„Oh, beunruhigen Sie sich nicht!“ wehrte Anfissa Petrowna mit sauersüßem
+Lächeln ab. „Ich habe ja Ihrem Neffen auch schon alles gesagt und kann
+nur noch hinzufügen, ^monsieur Serge^ – so war’s doch, wenn ich mich
+nicht irre? –, daß Sie sich unbedingt bessern müssen. Ich bin überzeugt,
+daß die Wissenschaft, die Kunst ... die Bildhauerkunst zum Beispiel ...
+mit einem Wort, daß alle diese hohen Ideen ihre sozusagen be–rau–schende
+Seite haben, aber niemals werden sie die Damen ersetzen! ... Die Frauen,
+die Frauen, junger Mann, werden Sie bilden, und deshalb ist es ohne sie
+unmöglich, unmöglich, junger Mann, ganz un–möglich!“
+
+„Unmöglich, unmöglich!“ ertönte schon wieder die etwas schreiende Stimme
+Tatjana Iwanownas. „Hören Sie,“ begann sie darauf in kindlicher Hast
+(natürlich errötete sie wieder), „hören Sie, ich will Sie etwas fragen
+...“
+
+„Wie beliebt?“ fragte ich und sah sie aufmerksam an.
+
+„Ich wollte Sie fragen: werden Sie lange hier bleiben?“
+
+„Ich weiß es nicht, – je nach den Verhältnissen.“
+
+„Nach den Verhältnissen! Was können denn das für Verhältnisse sein? ...
+O, Sie Tor!“
+
+Und Tatjana Iwanowna verbarg ihr heiß errötendes Gesicht hinter ihrem
+Fächer, beugte sich dann zur Erzieherin und begann sofort, ihr eifrig
+etwas zuzuflüstern. Plötzlich lachte sie auf und schlug vergnügt in die
+Hände.
+
+„Warten Sie, warten Sie!“ rief sie mir zu, sich eilig von ihrer
+Vertrauten wieder abwendend, als hätte sie gefürchtet, ich könnte
+fortgehen, „hören Sie, wissen Sie, was ich Ihnen sagen werde? Sie ähneln
+auffallend, auffallend einem jungen Menschen, einem be–zau–bernden
+jungen Menschen! ... Ssaschenjka, Nastenjka, wißt ihr noch? Er gleicht
+doch auffallend jenem Toren – weißt du noch, Ssaschenjka? Wir fuhren
+spazieren und begegneten ihm ... zu Pferde, in einer weißen Weste ... er
+richtete noch sein Lorgnon auf mich, der Unverschämte! Wißt ihr noch,
+ich schlug meinen Schleier vors Gesicht, hielt es dann aber doch nicht
+aus, beugte mich aus dem Wagen und rief ihm ein ‚Sie Unverschämter!‘
+nach. Und dann warf ich mein Bukett auf die Landstraße ... Entsinnen Sie
+sich dessen noch, Nastenjka?“
+
+Und das halb geistesgestörte Mädchen, das von Männern nie gleichmütig
+sprechen konnte, bedeckte das Gesicht mit den Händen ... – Plötzlich
+sprang sie auf, lief zum Fenster, riß dort von einem Rosenstock eine
+Blüte ab, warf sie mir zu – die Blüte fiel in meiner Nähe hin – und lief
+aus dem Zimmer. Wir hatten das Nachsehen! Diesmal aber war man doch
+etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn auch die Generalin, ganz wie
+das erstemal, ihre Ruhe nicht verlor. Anfissa Petrowna war nicht
+erstaunt, aber sie sah jetzt besorgt aus und blickte kummervoll ihren
+Sohn an. Die übrigen Damen erröteten, und „^Paul^“ Obnoskin erhob sich
+von seinem Platz und trat, mit einem mir damals ganz unverständlichen
+geärgerten Ausdruck, ans Fenster. Mein Onkel versuchte, mir verstohlen
+einige Zeichen zu machen; doch in dem Augenblick trat ein fremder Mensch
+ins Zimmer und lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.
+
+„Ah! Da ist ja auch Jewgraf Larionytsch! Du kommst ja wie gerufen!“ rief
+ihm mein Onkel, unbeschreiblich erfreut, entgegen. „Nun, was, Freund,
+geradenwegs aus der Stadt?“
+
+„Na, das sind mir mal eigenartige Wesen! Es scheint fast, daß sie alle
+mit Absicht hier versammelt worden sind!“ dachte ich bei mir im stillen,
+da ich noch nicht recht begriff, was ich sah und hörte, und –
+selbstverständlich – ohne zu ahnen, daß ich die Sammlung dieser
+Sonderlinge durch mein Erscheinen unter ihnen noch um ein Exemplar
+vermehrt hatte.
+
+
+
+
+ V.
+
+ Jeshowikin.
+
+
+Ins Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drehte sich durch die Tür
+(obgleich die Tür sehr breit war) eine Figur, die bereits auf der
+Schwelle Bücklinge machte, grüßte und lächelte, während die Augen mit
+ungeheuerem Interesse alle Anwesenden eilig musterten. Es war das ein
+kleiner, alter Mann, pockennarbig, mit einer großen Glatze, mit flinken,
+klugen Äuglein und mit einem unbestimmbaren, feinen Lächeln auf den
+ziemlich dicken Lippen. Er trug einen Frack, der recht abgetragen aussah
+und wahrscheinlich für einen anderen gemacht war. Ein Knopf baumelte nur
+noch an einem Faden, zwei oder drei Knöpfe fehlten ganz. Die zerrissenen
+Stiefel und die schmierige Mütze stimmten mit dem übrigen Anzug durchaus
+überein. In der rechten Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes
+Schnupftuch, das er ersichtlich schon oft benutzt hatte, und mit dem er
+sich jetzt den Schweiß von Stirn und Schläfen wischte. Zufällig bemerkte
+ich, daß die Erzieherin ein wenig errötete und mich flüchtig ansah. Ja,
+es schien mir sogar, daß in diesem Blick gleichsam Stolz und eine
+gewisse Herausforderung lagen.
+
+„Geradenwegs aus der Stadt, mein verehrter Wohltäter! Geradenwegs von
+dort, mein Vater! Werde alles erzählen, erlauben Sie nur, daß ich zuerst
+meine Ehrerbietung bezeuge,“ sagte das eingetretene alte Männlein und
+begab sich schnurstracks zur Generalin, blieb aber dann doch auf halbem
+Wege stehen und wandte sich von neuem an meinen Onkel.
+
+„Sie geruhen ja doch meinen Hauptcharakterzug bereits zu kennen,
+verehrter Wohltäter: ein Lump bin ich, ein echter Lump! Pflege ich doch,
+sobald ich über die Schwelle trete, sofort die Hauptperson des Hauses
+aufzusuchen und zuerst meine Schritte zu ihr zu lenken, um mittels
+dieses Schrittes alsogleich Gnade und Gunst und Vorteil zu erlangen. Ein
+Lump, Väterchen, wie gesagt, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie
+gnädigst, Exzellenz, den Saum Ihres Gewandes zu küssen; denn mit meinen
+Lippen würde ich Ihr goldenes Händchen, das hochwohlgeborene, nur
+entweihen.“
+
+Die Generalin reichte ihm zu meinem Erstaunen ihre Hand – und tat es
+sogar noch ziemlich gnädig.
+
+„Und auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich meinen Diener,“ fuhr er
+fort, indem er sich vor Fräulein Perepelizyna verneigte. „Nichts zu
+wollen, mein gnädiges Fräulein: bin ein Lump! Schon im Jahre 1841 war es
+ausgemacht, daß ich ein Lump sei, als ich aus dem Dienst ausgeschlossen
+wurde, gerade damals, als Valentin Ignatjitsch Tichonzeff zum
+Hochwohlgeborenen avancierte: den Assessor erhielt. Tatsächlich, er kam
+unter die Assessoren und ich unter die Lumpen. Aber ich bin nun einmal
+so aufrichtig geboren, daß ich alles eingestehe. Was soll man machen!
+Versuchte es, ehrlich zu leben, versuchte es, jawohl – jetzt aber muß
+man es anders anstellen. Alexandra Jegorowna, unser verzuckertes
+Äpfelchen,“ fuhr er fort und ging um den Tisch herum, um sich vor
+Ssaschenjka zu verbeugen, „erlauben Sie mir, einen Zipfel Ihres
+Kleidchens zu küssen, – Sie, Fräuleinchen, duften ja wie Äpfelchen und
+sämtliche Wohlgerüche der Welt. Dem Stammhalter, der morgen seinen
+Namenstag feiert, gleichfalls meine Reverenz. Pfeil und Bogen habe ich
+mitgebracht, habe selbst den ganzen Morgen daran geschnitzt ... meine
+Kinderchen haben mir geholfen ... jawohl, später können wir schießen.
+Zuerst aber muß man hübsch groß werden, dann kann man Offizier werden
+und dem Türken den Kopf abschlagen. Tatjana Iwanowna ... ach, nicht
+anwesend, wie ich sehe! Sonst würde ich den Saum auch ihres Kleides
+küssen. Praskowja Iljinitschna, unser Hausmütterchen, kann mich bloß
+nicht zu Ihnen durchzwängen, anderenfalls würde ich Ihnen nicht nur Ihre
+Händchen, sondern auch Ihre Füßchen küssen – jawohl! Anfissa Petrowna,
+bezeuge hiermit meine verschiedentlichste Achtung. Noch heute habe ich
+für Sie zu Gott gebetet, meine Wohltäterin, sogar kniend und tränenden
+Auges, und desgleichen für Ihren Herrn Sohn, damit Gott der Herr ihm
+alle notwendigen Titel und Talente beschere – namentlich Talente, wie
+gesagt! Bei der Gelegenheit entrichte ich auch Ihnen, Iwan Iwanytsch
+Misintschikoff, meinen untertänigsten Ehrensold. Möge der Herr Ihnen
+alles zukommen lassen, was Sie sich selbst wünschen; denn es dürfte
+schwierig sein, richtig zu erraten, was Sie sich selbst wünschen:
+schweigsam wie Sie sind und – aber das schadet nichts ... Guten Tag,
+Nastjä! alle Krabben lassen dich grüßen, reden jeden Tag von dir. Und
+jetzt dem Hausherrn meine tiefste Verbeugung. Komme aus der Stadt, Euer
+Gnaden, schnurstracks aus der Stadt. Und das da ist wahrscheinlich Ihr
+Neffe, der in der Gelehrtenschule erzogen worden ist, nicht wahr? Meinen
+ergebensten Gruß, junger Herr. Ihre Hand, wenn ich bitten darf.“
+
+Man lachte. Es war klar, daß der Alte freiwillig die Rolle eines
+Spaßvogels spielte, über den ein jeder lachen durfte. Schon sein
+Erscheinen erheiterte die ganze Gesellschaft. Die meisten verstanden
+dabei seine Sarkasmen überhaupt nicht. Er aber verschonte fast keinen
+einzigen mit ihnen. Nur die Erzieherin, die er – ich wunderte mich nicht
+wenig darüber – kurzweg Nastjä nannte, errötete und blieb ernst.
+
+Ich zog unwillkürlich meine Hand etwas zurück, doch darauf hatte der
+Alte offenbar nur gewartet.
+
+„Ich will sie Ihnen ja nur drücken, mein Bester, vorausgesetzt, daß Sie
+es erlauben – nicht aber küssen. Oder glaubten Sie wirklich, daß ich sie
+küssen wollte? Nein, mein Lieber, vorläufig wollte ich sie nur drücken.
+Sie halten mich wohl für so einen herrschaftlichen Narren?“ fragte er
+mich plötzlich mit spöttischem Lächeln in den Augen.
+
+„N–ein, wieso ... wie sollte ich ...“
+
+„Doch, doch, Verehrtester! Wenn ich ein Narr bin, so ist es ein gewisser
+anderer hier auch. Sie aber können mich noch mit ruhigem Gewissen
+achten: ein solcher Lump, wie Sie glauben, bin ich denn doch noch nicht.
+Übrigens, genau genommen – warum soll ich kein Narr sein? Ich bin ein
+Sklave, meine Frau ist eine Sklavin. Schmeichle, schmeichle! Jawohl!
+Etwas gewinnt man dabei doch, und wenn’s auch nur zur Milch für die
+Kinderchen reicht. Zucker, Zucker streu nur überall aus, dann wird es
+besser gehen. Das sage ich Ihnen, Verehrtester, nur so unterm Siegel der
+Verschwiegenheit – vielleicht wird diese Methode auch Ihnen einmal
+zustatten kommen. Fortuna hat mich auf dem Gewissen, mein Bester,
+deshalb bin ich auch ein Narr.“
+
+„Ha–ha–ha! Was dieser Alte doch für ein Spaßvogel ist! Immer bringt er
+einen zum Lachen!“ meinte, gut aufgelegt, Anfissa Petrowna Obnoskina.
+
+„Meine gnädigste Wohltäterin, als Dummkopf kommt man besser durch die
+Welt! Hätte ich das früher gewußt, so hätte ich mich von Kindheit an
+unter die Dummen begeben – dann könnte ich jetzt klug sein. Da ich aber
+in der Jugend klug sein wollte, muß ich jetzt im Alter dumm sein.“
+
+„Sagen Sie doch, bitte,“ mischte sich Obnoskin ein (dem wahrscheinlich
+die Bemerkung bezüglich der „Talente“ nicht gefallen hatte), nahm
+zugleich auf seinem Lehnstuhl eine sehr selbstbewußte Pose an und
+betrachtete den Alten durch sein Einglas, als hätte er ihn wie einen
+Bazillus unter der Lupe, „sagen Sie doch, bitte, ... ich vergesse immer
+Ihren Namen ... verdammt, wie war er doch?“
+
+„Ach, mein Väterchen! Mein Familienname ist ja alles in allem
+Jeshowikin, aber was nützt das schließlich? Da bin ich nun schon das
+neunte Jahr ohne Anstellung – lebe nur noch dank dem ... Naturgesetz.
+Dabei habe ich Kinder, Kinder, mehr als nötig! Ganz nach dem Sprichwort:
+‚der Reiche hat – Kälber, der Arme – Kinder‘ ...“
+
+„Nun, ja, schön ... Kälber ... das gehört übrigens nicht hierher, davon
+später. Aber hören Sie, ich wollte Sie etwas fragen: warum sehen Sie,
+wenn Sie eintreten, immer – sozusagen – zurück? Das wirkt sehr komisch.“
+
+„Warum ich zurücksehe? Weil es mir immer scheint, daß mich jemand hinter
+mir mit der flachen Hand platt schlagen will, wie eine Fliege, jawohl,
+und deshalb sehe ich mich immer nach rückwärts um. Bin allem Anschein
+nach monomanisch geworden, mein Bester.“
+
+Wieder lachten alle. Nur die Erzieherin erhob sich und schien das Zimmer
+verlassen zu wollen, sank dann aber doch wieder auf ihren Platz zurück.
+In ihrem Gesicht war ein kranker, leidender Zug trotz der Röte, die auf
+ihren Wangen brannte.
+
+„Weißt du auch, Freund, wer das ist?“ fragte mich mein Onkel heimlich.
+„Das ist ihr Vater.“
+
+Ich sah ihn mit weit offenen Augen an. Den Namen Jeshowikin hatte ich
+ganz und gar vergessen. Ich hatte mich als Ritter gefühlt, hatte während
+der ganzen Reise nur an meine Zukünftige gedacht und großmütige Pläne
+geschmiedet, und dennoch ihren Familiennamen vergessen, oder richtiger,
+ihm von Anfang an überhaupt keine Beachtung geschenkt.
+
+„Wieso, ihr Vater?“ fragte ich gleichfalls flüsternd. „Aber sie ist
+doch, denke ich, Waise?“
+
+„Ihr Vater, Freund, ihr Vater. Und weißt du, der ehrlichste und
+anständigste Mensch der Welt – trinkt nicht mal. Nur spielt er
+freiwillig den Spaßvogel. Entsetzliche Armut, weißt du, acht Kinder!
+Leben nur von Nastenjkas Gehalt. Aus dem Dienst ist er wegen seiner
+scharfen Zunge entlassen worden. Er kommt in jeder Woche einmal her. Und
+stolz ist er, – für keinen Preis wird er etwas annehmen. Ich habe ihm
+oft geben wollen, – er nimmt aber nichts an. Ein verbitterter Mensch!“
+
+„Na also, mein alter Jewgraf Larionytsch, was gibt es denn dort bei euch
+Neues?“ fragte mein Onkel und schlug ihm kameradschaftlich mit der Hand
+auf die Schulter, da er bemerkt hatte, daß dem mißtrauischen Alten unser
+heimliches Gespräch nicht entgangen war.
+
+„Was soll es Neues geben, mein Wohltäter? Valentin Ignatjitsch hat
+gestern ein Schreiben eingereicht, in der Trischin-Affäre. Es hat sich
+herausgestellt, daß bei ihm nicht das volle Quantum Mehl zur Stelle war.
+Das ist, meine Gnädigste, jener selbe Trischin, der, wenn er einen
+ansieht, genau so aussieht, als bliese er einen Samowar an. Vielleicht
+geruhen Sie, sich seiner noch zu erinnern? Und so hat denn Valentin
+Ignatjitsch von diesem Trischin zu den Alten gegeben: ‚Wenn der oft
+genannte Trischin,‘ schreibt er, ‚nicht einmal die Ehre seiner
+leiblichen Nichte zu wahren gewußt hat – denn diese ist vor einem Jahr
+mit einem Offizier losgegangen, – wie sollte er dann,‘ schreibt er,
+‚Kronseigentum aufzubewahren wissen?‘ Das hat er tatsächlich so in
+seinem Schreiben gesagt – bei Gott, ich lüge nicht.“
+
+„Pfui, was Sie für Geschichten erzählen!“ rief Anfissa Petrowna Obnoskin
+verächtlich aus.
+
+„Ja ja, diesmal hast du dich etwas verhauen, Freund Jewgraf!“ pflichtete
+ihr mein Onkel schnell bei. „Ei, ei, du wirst noch wegen deiner Zunge
+viel Ungemach erleben. Ich weiß, du bist ein offener, ehrlicher,
+edelmütiger Mensch – das kann ich bestätigen – aber deine Zunge ist
+gefährlich! Ich wundere mich, wie es kommt, daß du mit ihnen dort nicht
+in Frieden leben kannst. Sie sind doch, glaube ich, gute, einfache
+Menschen ...“
+
+„Mein Vater und Wohltäter! Aber den einfachen Menschen – den fürchte
+ich ja gerade!“ rief der Alte mit einer ganz eigenartigen
+Leidenschaftlichkeit aus.
+
+Die Antwort gefiel mir. Ich trat schnell entschlossen auf ihn zu und
+drückte ihm fest die Hand. Um die Wahrheit zu sagen, wollte ich nur mit
+irgend etwas gegen die allgemeine Meinung protestieren, indem ich dem
+Alten offen meine Zuneigung bewies. Vielleicht aber – wer weiß! –
+vielleicht wollte ich nur in der Meinung Nastassja Jewgrafownas, der
+Erzieherin, etwas gewinnen. Doch aus meiner plötzlichen Handlungsweise
+wurde, genau genommen, nichts allzu Gescheites.
+
+„Gestatten Sie eine Frage,“ sagte ich, wie gewöhnlich errötend und mich
+überhastend, „haben Sie von den Jesuiten gehört?“
+
+„Nein, mein Bester, nichts, oder nur so ein wenig, dies und jenes ... wo
+soll unsereiner was hören! ... Aber was ist mit ihnen?“
+
+„Ich meinte nur so ... ich wollte, da das Gespräch darauf kam, nur
+erzählen ... Übrigens, erinnern Sie mich daran bei Gelegenheit. Jetzt
+aber ... seien Sie überzeugt, daß ich Sie verstehe und ... zu schätzen
+weiß ...“
+
+In meiner hilflosen Verwirrung drückte ich ihm noch einmal die Hand.
+
+„Unbedingt, mein Verehrtester, unbedingt werde ich Sie daran erinnern!
+Werde es mir mit goldenen Lettern ins Gedächtnis schreiben. Warten Sie,
+wenn Sie erlauben, werde ich mir noch schnell einen Knoten ins
+Schnupftuch binden, damit ich’s nicht vergesse.“
+
+Und in der Tat suchte er an seinem schmutzigen Taschentuch ein trockenes
+Eckchen, das er dann eifrig zum Knoten schlang.
+
+„Jewgraf Larionytsch, hier ist Ihr Tee,“ sagte Praskowja Iljinitschna.
+
+„Sofort, meine schönste Dame, sofort, ... will sagen, Prinzessin, meine
+schönste Prinzessin ... nicht nur Dame! Das wäre für den Tee. Bin
+unterwegs Herrn Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff begegnet, meine
+Gnädigste! Er war bei so guter Laune, daß Gott erbarm! Ich glaubte
+schon, daß er auf Freiersfüßen ging ... Schmeichle, schmeichle!“ sagte
+er dann halblaut zu mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorüberging,
+mir zublinzelte und sein ganzes Gesicht verzog. „Aber woran liegt es
+denn, daß man den Hauptwohltäter, unseren Foma Fomitsch, heute nicht zu
+sehen bekommt? Wird er denn nicht zum Tee erscheinen?“
+
+Mein Onkel zuckte zusammen, als wäre er gestochen worden, und warf einen
+scheuen Blick auf die Generalin.
+
+„Ich ... ich weiß wirklich nicht,“ antwortete er unentschlossen und
+eigentümlich befangen. „Er ist gerufen worden, aber er ... Ich weiß es
+wirklich nicht, vielleicht fühlt er sich nicht aufgelegt ... Ich habe
+schon Widopljässoff geschickt ... und ... oder soll ich vielleicht
+selbst gehen?“
+
+„Ich war soeben bei ihm,“ bemerkte Jeshowikin vielsagend.
+
+„Wirklich?“ fragte mein Onkel erschrocken. „Nun, und?“
+
+„Ging zuerst zu ihm, um ihm meine Ehrerbietung zu beweisen. Er sagte,
+daß er sich in der Einsamkeit am Tee laben würde, und dann fügte er noch
+hinzu, daß er sich auch von trockenen Brotrinden nähren könne, – genau
+so waren seine Worte!“
+
+Diese Worte erfüllten meinen Onkel, wie es schien, mit wahrem Entsetzen.
+
+„Aber so hättest du es ihm doch erklären sollen, Jewgraf Larionytsch!
+Hättest es ihm doch auseinandersetzen sollen!“ sagte er, indem er den
+Alten traurig und vorwurfsvoll zugleich ansah.
+
+„Ich hab’ ihm ja auch gesagt, hab’ geredet ...“
+
+„Nun?“
+
+„Lange geruhte er mir nicht zu antworten. Er saß über einer
+mathematischen Aufgabe, berechnete etwas: offenbar eine Aufgabe zum
+Kopfzerbrechen. Zeichnete vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras auf,
+sah es selbst ganz genau. Dreimal wiederholte er dasselbe, erst beim
+vierten geruhte er das Haupt zu erheben – und da war’s, als sähe er mich
+überhaupt zum erstenmal. ‚Ich werde nicht gehen,‘ sagte er, ‚dort ist ja
+jetzt ein _Gelehrter_ angekommen, wie sollen wir noch neben einer
+solchen Leuchte Platz finden!‘ Genau so geruhte er sich auszudrücken:
+‚neben einer solchen Leuchte‘.“
+
+Und der Alte blickte mich von der Seite mit feinem Spott an.
+
+„Das ahnte ich ja!“ rief mein Onkel verzweifelt aus, „das konnte ich mir
+ja denken! Das hat er von dir gesagt, Ssergei, dich hat er damit gemeint
+– mit dem ‚Gelehrten‘! Was nun?“
+
+„Ich muß gestehen, Onkel,“ sagte ich mit einem Achselzucken und
+möglichst unbekümmert, „ich finde diese Begründung seiner Absage so
+lächerlich, daß sie es wirklich nicht wert ist, beachtet zu werden, und
+daher wundere ich mich, offen gestanden, über Ihre Bestürzung.“
+
+„Aber ach, Freund, was weißt du davon, das kannst du nicht beurteilen!“
+unterbrach mich mein Onkel und wehrte mit energischer Handbewegung jeden
+weiteren Einwand ab.
+
+„Jetzt ist es zu spät, zu trauern,“ mischte sich plötzlich Fräulein
+Perepelizyna ein, „wenn alles Böse von Ihnen selbst, Jegor Iljitsch,
+ausgegangen ist. Wenn einem der Kopf abgeschlagen ist, so trauert man
+nicht mehr um die Haare. Hätten Sie Ihrem Mütterchen gehorcht, so würden
+Sie jetzt nicht weinen.“
+
+„Aber um Gottes willen, wieso bin ich denn daran schuld? Haben Sie doch
+ein wenig Angst vor Gott, Anna Nilowna!“ bat mein Onkel mit so flehender
+Stimme, als wolle er sie bitten, sein Liebesgeständnis anzuhören.
+
+„Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber es kommt doch alles nur daher,
+daß Sie egoistisch sind und Ihre leibliche Mutter nicht lieben,“
+antwortete Fräulein Perepelizyna würdevoll. „Was hatten Sie für einen
+Grund, gleich von vornherein ihren Willen zu mißachten? Sie ist doch
+Ihre Mutter. Und ich werde Ihnen nicht die Unwahrheit sagen. Ich bin
+selbst die Tochter eines Majors ... und nicht nur irgend so eine!“
+
+Es schien mir, daß die Perepelizyna sich einzig zu dem Zweck in das
+Gespräch einmischte, um uns allen, und namentlich mir, dem
+Neuangekommenen, zu wissen zu geben, daß sie selbst die Tochter eines
+Majors sei und nicht nur „irgend so eine“.
+
+„Ja, das kommt daher, daß er seine Mutter beleidigt!“ sagte endlich
+drohend die Generalin.
+
+„Aber Mama, erbarmen Sie sich! Wann beleidige ich Sie denn? Und warum?“
+
+„Weil du ein unverbesserlicher Egoist bist, Jegoruschka,“ fuhr die
+Generalin fort, die sich durch die eigenen Worte gleichsam hinreißen
+ließ.
+
+„Mama, aber Mama! Wann bin ich denn ein solcher Egoist gewesen?“ rief
+mein Onkel verzweifelt aus. „Seit fünf Tagen, seit ganzen fünf Tagen
+sind Sie mir böse und wollen kein Wort mit mir sprechen! Und weshalb
+nicht? Was habe ich verbrochen? Möge man mich doch richten, mag die
+ganze Welt mich richten! Aber man soll doch auch meine Rechtfertigung
+anhören! Ich habe lange geschwiegen, Mama. Sie wollten mich nie anhören.
+Mögen nun fremde Menschen mich anhören. Anfissa Petrowna! Pawel
+Ssemjonytsch, mein bester Pawel Ssemjonytsch! Ssergei, du mein einziger
+Freund! Du bist hier ein Unbeteiligter, bist sozusagen nur ein
+Zuschauer, du kannst unvoreingenommen urteilen ...“
+
+„Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, um Gottes willen beruhigen Sie
+sich,“ fiel Anfissa Petrowna Obnoskina energisch ein, „töten Sie nicht
+Ihre Mutter!“
+
+„Ich töte nicht meine Mutter, Anfissa Petrowna, aber hier ist meine
+Brust, – zerreißen Sie sie!“ fuhr mein Onkel fort, aufs äußerste erregt,
+wie das zuweilen mit Menschen geschieht, die einen schwachen Charakter
+haben, wenn man die Grenze überschreitet und ihre letzte Geduld endlich
+einmal „reißt“, wie man zu sagen pflegt. Doch ihre Heftigkeit vergeht
+gewöhnlich ebenso schnell, wie ein Strohfeuer verbrennt. Und so war es
+auch hier. „Ich will nur sagen,“ fuhr mein Onkel fort, „ich will nur
+sagen, Anfissa Petrowna, daß ich keinen beleidige. Ich bin der erste,
+der da sagt, daß Foma Fomitsch der edelste, ehrlichste Mensch ist und
+zum Überfluß auch noch ein Mensch von höchster Begabung; aber ... aber
+in diesem Fall hat er – unrecht an mir gehandelt.“
+
+„Hm!“ machte Pawel Obnoskin, wie um meinen Onkel noch mehr zu reizen.
+
+„Pawel Ssemjonytsch, ums Himmels willen, Pawel Ssemjonytsch! Glauben Sie
+denn wirklich, daß ich sozusagen ein gefühlloser Pfosten bin? Sehe ich
+doch, begreife ich doch – mit wehem Herzen, kann man sagen, fühle ich es
+–, daß alle diese Mißverständnisse nur _seiner übergroßen Liebe_ zu mir
+entspringen. Aber sagen Sie, was Sie wollen, diesmal ist er dennoch im
+Unrecht. Ich werde alles erzählen. Ich will jetzt, Anfissa Petrowna, den
+ganzen Sachverhalt klarlegen, ganz ausführlich, damit alle sehen, wie es
+gekommen ist, und ob meine Mutter recht tut, wenn sie mir deshalb böse
+ist, weil ich Foma Fomitschs Wunsch nicht erfüllt habe. Auch du hör mich
+an, Sserjosha,“ fügte er hinzu, sich zu mir wendend, was er übrigens
+während seiner ganzen Erzählung wiederholt tat, und zwar so, als hätte
+er die anderen Zuhörer gefürchtet oder wenigstens an ihrem Mitgefühl
+gezweifelt, – „hör auch du mich an und urteile dann, ob ich im Recht bin
+oder im Unrecht. Sieh, die Sache begann so: vor einer Woche – ja, genau
+vor einer Woche – fuhr hier durch unser Nachbarstädtchen mein früherer
+Regimentskommandeur, General Russapetoff, mit seiner Gemahlin und
+Schwägerin. Hielt sich eine Zeitlang auf. Ich war natürlich hocherfreut,
+benutzte die Gelegenheit, fuhr hin, stellte mich vor und lud sie zu mir
+zu einem Diner ein. Er sagte zu, er werde kommen, wenn es seine Zeit
+irgendwie erlaubte. Weißt du, ein durch und durch edler Charakter, das
+sage ich dir, Aristokrat, hoher Würdenträger! Und wieviel Gutes er getan
+hat! Zum Beispiel seiner Schwägerin! Außerdem hat er eine Waise mit
+einem vorzüglichen jungen Menschen verheiratet – jetzt ist derselbe Koch
+in Malinowo, ein noch junger Mensch, aber mit einer, fast könnte man
+sagen, Universitätsbildung! – Kurz, der Alte ist ein General unter den
+Generälen! Nun, bei uns, versteht sich, gab’s viel zu tun, Gepolter
+und Geklapper, Köche, Frikassees. Ich bestelle Musik. Nun,
+selbstverständlich bin ich guter Laune, freue mich und sehe aus wie ein
+Geburtstagskind. Das aber gefiel Foma Fomitsch nicht, daß ich wie ein
+Geburtstagskind aussah! Er saß bei Tisch – es wurde gerade sein
+Lieblingsgericht, eines mit Sahne, gereicht, das weiß ich noch ganz
+genau – er aber saß, schwieg, schwieg ... und plötzlich springt er auf:
+‚Man beleidigt mich, man beleidigt mich!‘ schreit er. – ‚Aber wieso,‘
+frage ich, ‚wieso beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‘ – ‚Sie,‘ sagt
+er, ‚Sie vernachlässigen mich jetzt, Sie beschäftigen sich jetzt nur mit
+Generälen, Ihnen sind Generäle wertvoller und lieber als ich!‘ Ich gebe
+die Szene jetzt selbstverständlich nur in kurzen Worten wieder,
+sozusagen nur die springenden Punkte, nur das Wesen der Sache. Aber wenn
+du zu hören wünschest, was er damals noch alles sagte, so ... nun, mit
+einem Wort, er erschütterte meinen ganzen Menschen! Was soll man tun?
+Ich bin natürlich ganz niedergeschmettert. Es hatte mich doch gar zu
+sehr getroffen. Ich versinke wie ein nasser Hahn. Der feierliche Tag
+bricht an. Da schickt der General die Nachricht, daß er leider
+verhindert sei zu kommen: muß abreisen. Entschuldigt sich vielmals, –
+also: es gibt nichts! Ich sofort zu Foma: ‚Nun, Foma,‘ sage ich,
+‚beruhige dich! Er kommt nicht!‘ Aber was glaubst du? Er verzeiht mir
+nicht. Mach, was du willst – er verzeiht nicht! ‚Man hat mich
+beleidigt!‘ sagte er und dabei bleibt er. Ich rede. So und so. ‚Nein,‘
+sagt er, ‚gehen Sie zu Ihren Generälen. Ihnen liegen die Generäle näher
+am Herzen als ich – Sie haben die Bande der Freundschaft,‘ sagt er,
+‚zerrissen!‘ Großer Gott! Ich begreife ja doch, weshalb er sich ärgert!
+Ich bin doch kein Holzklotz, kein Esel, kein Schaf! Er hat es doch nur
+aus übergroßer Liebe zu mir getan, sozusagen aus Eifersucht – er sagt es
+ja selbst, daß er auf den General eifersüchtig sei, meine Neigung zu
+verlieren fürchte, mich prüfen und wissen wolle, was ich für ihn zu
+opfern fähig und bereit wäre. ‚Nein,‘ sagt er, ‚ich bin für Sie
+gleichfalls ein General, bin gleichfalls – für Sie! – Exzellenz! Werde
+mich nicht früher mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie mir die mir
+zukommende Ehre erweisen.‘ – ‚Womit,‘ frage ich, ‚womit soll ich dir
+denn meine Hochachtung – meine Höchstachtung ausdrücken, Foma Fomitsch?‘
+– ‚Nun, nennen Sie mich,‘ sagt er, ‚einen ganzen Tag nur Ew. Exzellenz,
+damit werden Sie mir dann Ihre Hochachtung ausdrücken.‘ Ich fiel aus den
+Wolken! Man kann sich meine Verwunderung denken! ‚Ja,‘ sagt er, ‚das
+wird Ihnen als Lehre dienen, damit Sie sich hinfort nicht mehr für
+Generäle begeistern, wenn auch andere vielleicht noch würdiger sind, als
+alle Ihre Generäle zusammengenommen!‘ Na, da hielt ich es aber denn doch
+nicht mehr aus, das muß ich gestehen! Gestehe es sogar ganz offen! ‚Foma
+Fomitsch,‘ sagte ich, ‚ist denn das überhaupt möglich, was du verlangst?
+Wie kann ich denn auf so etwas eingehen? Wie kann ich denn ... und habe
+ich denn überhaupt das Recht, dich zum General, zur Exzellenz zu machen?
+Denk doch nur, in wessen Macht allein das gelegt ist! Das wäre doch
+sozusagen ein Attentat auf die Majestät des Gesetzes! Wie, wie soll ich
+dich denn Ew. Exzellenz betiteln? Ein General dient doch seinem
+Vaterlande: er gibt für dasselbe sein Leben im Kriege hin, er vergießt
+sein Blut auf dem Felde der Ehre, er kämpft mit dem Feinde seines
+Volkes! Und du verlangst nun, daß ich dir denselben Ehrentitel geben
+soll, der nur ihm mit Recht zukommt?‘ Foma aber gab nicht nach! ‚Ich
+werde dir alles zu Gefallen tun,‘ fuhr ich fort, ‚alles, was du nur
+willst. Da hast du gewünscht, daß ich meinen Backenbart abnehme, da er
+wenig patriotisch sei, – ich habe ihn abgenommen, habe zwar geseufzt,
+aber habe ihn trotzdem abgenommen. Und mehr noch: ich werde alles, alles
+tun, was du wünschst, nur verzichte auf diesen Generalstitel!‘ – ‚Nein,‘
+sagte er, ‚so werde ich mich nicht eher mit dir versöhnen, als bis man
+mich Exzellenz nennt. Das wird,‘ sagte er, ‚Ihrer Moral zugute kommen:
+es wird Ihren hoffärtigen Geist demütigen!‘ sagt er. Und nun ist es
+schon eine Woche her, eine ganze Woche spricht er nicht mit mir, und
+über jeden Besuch, wer es auch sei, ärgert er sich. Als er von dir
+hörte, daß du gelehrt seist – es war meine Schuld: ich sagte es ganz
+zufällig, als das Gespräch auf dich kam, so im Eifer, weißt du – da
+sagte er, daß er nicht länger hier im Hause bleiben werde von dem
+Augenblick an, in dem du das Haus betrittst. ‚Also bin ich jetzt in
+euren Augen nicht mehr gelehrt!‘ sagt er. Und was wird es erst geben,
+wenn er von Korowkin erfährt! Erbarm dich doch, urteile doch selbst, was
+habe ich denn nun verbrochen? Soll ich mich denn wirklich entschließen,
+ihn ‚Exzellenz‘ zu nennen? Wie soll man es denn aushalten in einer
+solchen Lage? Und weshalb hat er denn heute den armen Bachtschejeff vom
+Tisch fortgejagt? Nun schön, Bachtschejeff hat nicht die Astronomie
+erfunden, aber auch ich hab es ja nicht und auch du hast es ja nicht
+getan ... Nun also, aus welchem Grunde, weshalb, weshalb?“
+
+„Eben aus dem Grunde, weil du neidisch bist, Jegoruschka,“ stieß die
+Generalin durch die Zähne hervor.
+
+„Mutter!“ rief mein Onkel in seiner Verzweiflung aus, „Sie bringen mich
+um meinen letzten Verstand! ... Sie sprechen ja nicht ihre eigenen Worte
+– Sie sprechen ja fremde Worte nach, Mama! Ich werde zu guter Letzt nur
+noch zu einem Balken, einem Laternenpfahl werden, aber nicht mehr Ihr
+Sohn sein!“
+
+„Ich habe gehört, Onkel,“ begann ich, noch ganz benommen von dem
+Gehörten, „ich habe unterwegs von Herrn Bachtschejeff gehört – ich weiß
+allerdings nicht, ob es sich so verhält –, daß Foma Fomitsch Ihren
+Iljuscha um den bevorstehenden Namenstag beneide und nun behaupte, daß
+morgen auch sein Namenstag sei. Ich gestehe, daß dieser merkwürdige
+Charakterzug mich dermaßen in Erstaunen gesetzt hat, daß ich ...“
+
+„Sein Geburtstag, Freund, sein Geburtstag ist morgen, nicht sein
+Namenstag, nur sein Geburtstag!“ unterbrach mich mein Onkel eifrig. „Er
+hat sich nur etwas anders ausgedrückt, aber er hat vollkommen recht:
+morgen ist sein Geburtstag. Zuerst, Freund, sagte er wohl ...“
+
+„Durchaus nicht sein Geburtstag!“ rief plötzlich Ssaschenjka dazwischen.
+
+„Wie denn nicht?“ fragte mein Onkel mit gesträubtem Haar.
+
+„Gar nicht sein Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach die Unwahrheit, um
+sich selbst zu betrügen und Foma Fomitsch herauszureißen! Sein
+Geburtstag war doch schon im März. – Sie wissen doch noch, wie wir am
+Tage vorher zum Gottesdienst ins Kloster fuhren, und er keinen in der
+Equipage in Frieden sitzen ließ: er schrie die ganze Zeit, daß das
+_Kissen_ ihm die Seite _eingedrückt_ habe, und kniff dabei die anderen.
+Tantchen hat er in seiner Wut zweimal gekniffen! Und dann, als wir am
+Geburtstage zu ihm gingen, um zu gratulieren, da wurde er wieder wütend,
+weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ‚Ihr wißt, daß ich Kamelien
+liebe,‘ sagte er; ‚denn ich habe den Geschmack der vornehmen Welt, euch
+aber ist es nicht der Mühe wert gewesen, für mich in der Orangerie
+welche abzuschneiden, sie sind wohl zu schade gewesen für mich.‘ Und den
+ganzen Tag war er eigensinnig und launisch wie ein ungezogener Bengel,
+und wollte mit keinem von uns ein Wort sprechen! ...“
+
+Ich glaube, selbst wenn eine Bombe mitten im Zimmer explodiert wäre,
+hätte sie die Anwesenden doch nicht so erschreckt und aufgeregt, wie es
+diese offene Empörung tat – und die Empörung wessen? – eines kleinen
+Mädchens, dem sonst in der Anwesenheit der Großmutter nicht einmal laut
+zu sprechen gestattet wurde! Die Generalin erhob sich, stumm vor
+Verwunderung und Entrüstung zugleich, richtete sich kerzengerade auf und
+sah ihr Enkeltöchterchen an, als traue sie ihren Augen nicht. Mein Onkel
+wurde blaß.
+
+„So ein verzogenes Ding! Man will hier wohl die Großmutter mit Gewalt
+umbringen!“ stieß die Perepelizyna wutzischend hervor.
+
+„Ssaschenjka, Ssaschenjka, besinne dich! Was ist mit dir, Ssaschenjka?“
+rief mein Onkel in höchster Erregung seiner Tochter zu, wußte aber
+nicht, was er tun sollte.
+
+„Ich will nicht mehr schweigen, Papa!“ schrie Ssaschenjka, die plötzlich
+vom Stuhl aufsprang und mit den Füßen trampelte. Ihre hübschen Augen
+sprühten nur so vor Zorn. „Ich will nicht mehr schweigen! Wir haben alle
+lange genug unter diesem Foma Fomitsch gelitten, unter eurem
+schändlichem scheußlichen Foma Fomitsch! Denn Foma Fomitsch wird uns
+alle zugrunde richten. Ihm wird ja nichts anderes vorgesungen, als daß
+er brav und gut und edel und gelehrt und die Vereinigung aller Tugenden
+der Welt sei, ein wahres Potpourri von Tugenden! Foma Fomitsch aber
+glaubt wie ein Esel alles, was man ihm sagt! Es sind ihm so viel süße
+Schüsseln vorgesetzt worden, daß ein anderer sich schämen würde, Foma
+Fomitsch aber hat alles aufgegessen, was nur vor ihn hingesetzt worden
+ist, und will immer noch mehr haben! Ihr werdet sehen, er wird uns alle
+auffressen! Und schuld daran ist Papa! Schändlich, schändlich ist Foma
+Fomitsch, das sage ich dreist und fürchte nichts! Er ist dumm,
+eigensinnig, ein Schmutzfink ist er, ein niedriger, herzloser Mensch,
+ein Tyrann, eine Klatschbase, ein erbärmlicher Lügner ... Ach, ich würde
+ihn sofort, sofort hinausjagen, Papa aber vergöttert ihn, Papa ist ja
+ganz vernarrt in ihn!“
+
+Da ertönte ein „Ach!“ und die Generalin fiel in Ohnmacht – d. h.
+behutsam auf das Sofa.
+
+„Oh, mein Täubchen, Agafja Timofejewna, mein Engel!“ flötete sofort
+hilfsbereit Anfissa Petrowna Obnoskina, „nehmen Sie mein Flakon! Wasser,
+schnell Wasser!“
+
+„Wasser, Wasser!“ schrie nun auch mein Onkel. „Mama, Mamachen, beruhigen
+Sie sich! Ich flehe Sie auf den Knien an, beruhigen Sie sich! ...“
+
+„Man müßte Sie bei Brot und Wasser in ein dunkles Zimmer setzen ...
+diese Menschenmörderin!“ schrie die Perepelizyna zitternd vor Wut
+Ssaschenjka an.
+
+„Gut, ich werde nur von Brot und Wasser leben, ich fürchte mich nicht
+davor!“ rief Ssaschenjka zur Antwort zurück, in heller Begeisterung.
+„Ich verteidige nur meinen Papa! Mein Papa versteht nicht, sich selbst
+zu verteidigen! Was ist euer Foma Fomitsch gegen meinen Papa, was ist
+er? Er ißt Papas Brot und wagt es, Papa zu erniedrigen! Dieser
+Unverschämte! Ich würde ihn in Stücke zerreißen, euren ganzen Foma
+Fomitsch! Ich würde ihn zum Duell fordern und ihn auf der Stelle aus
+zwei Pistolen mausetot schießen ...“
+
+„Ssaschenjka, Ssaschenjka!“ flehte ihr Papa. „Noch ein Wort – und ich
+bin verloren, unwiderruflich verloren!“
+
+„Papachen!“ Ssaschenjka lief zu ihm hin, umarmte krampfhaft seinen Hals
+und brach in Tränen aus. „Papachen! Sie guter, lieber, lustiger, kluger
+Papa, wie können Sie sich nur so erniedrigen lassen! Wie können _Sie_,
+_Sie_ sich diesem schändlichen, undankbaren Menschen so unterordnen, wie
+können Sie sein Spielzeug sein und sich so lächerlich machen! Papachen,
+mein gutes, goldenes Papachen! ...“
+
+Da schluchzte sie auf, bedeckte das Gesicht mit den Händen und lief aus
+dem Zimmer.
+
+Die Aufregung war unbeschreiblich. Die Generalin lag in tiefer Ohnmacht.
+Ihr Sohn, der fast vierzigjährige Oberst, kniete vor dem Sofa und küßte
+ihre Hände. Fräulein Perepelizyna machte sich in der Nähe der Liegenden
+zu schaffen und warf böse, doch triumphierende Blicke auf uns. Anfissa
+Petrowna Obnoskina befeuchtete mit einem nassen Tuch die Schläfen der
+Generalin und hantierte mit ihrem Flakon. Praskowja Iljinitschna
+zitterte und weinte lautlos. Jeshowikin suchte einen Winkel, wo er sich
+hätte verstecken können, und die Erzieherin stand bleich und wie
+verloren vor ihrem Stuhl. Nur Misintschikoff, mein Vetter dritten
+Grades, blieb, wie er war: er stand bloß auf, trat schweigend ans
+Fenster und begann seelenruhig hinauszuschauen, ohne dem ganzen Vorgang
+auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
+
+Da erhob sich plötzlich die Generalin aus der Ohnmacht, sie erhob sich
+auch vom Sofa, erhob sich und richtete sich sogar auf und maß mich mit
+drohendem Blick.
+
+„Hinaus!“ rief sie plötzlich und stampfte mit dem Fuß auf.
+
+Offen gestanden: ich hatte alles eher erwartet als das.
+
+„Hinaus! Hinaus aus diesem Hause! Hinaus! Wozu ist er hergekommen? Daß
+sein Atem nicht mehr hier zu spüren sei! Hinaus!“
+
+„Aber Mama! Wie kommen Sie darauf! Das ist doch Sserjosha!“ stotterte
+mein Onkel – wenn ich mich nicht täusche, zitterte er am ganzen Körper.
+„Aber er ist doch zu uns zu Besuch gekommen, Mama!“
+
+„Was für ein Sserjosha? Unsinn! Ich will nichts hören – hinaus! Das ist
+Korowkin! Ich bin überzeugt, daß es Korowkin ist! Meine Ahnung täuscht
+mich nicht! Er ist hergekommen, um Foma Fomitsch zu verdrängen, nur zu
+diesem Zweck hat man ihn hergerufen! Mein Herz fühlt es ... Hinaus,
+Elender!“
+
+„Lieber Onkel, wenn es so ist,“ begann ich mit einer Stimme, in der
+ehrlicher Unwille bebte, „wenn es so ist, dann werde ich ...
+entschuldigen Sie mich ...“ Und ich wollte mich nach meinem Hut umsehen.
+
+„Ssergei, aber so hör doch, Ssergei, was tust du! ... Da ist nun dieser
+... Mama! das ist doch Sserjosha! ... Ssergei, besinne dich!“ Er holte
+mich mit schnellen Schritten ein, um mich zurückzuhalten. „Du bist mein
+Gast, du wirst hierbleiben, ich will es! Sie sagt es ja nur so!“ fügte
+er halblaut hinzu, „das ist ja nur, weil sie sich ärgert ... Nur jetzt,
+in der ersten Zeit, wäre es vielleicht besser, wenn du dich etwas
+unsichtbar machtest ... nur eine Zeitlang – und alles wird wieder gut
+sein! Sie wird dir bestimmt verzeihen, – ich versichere dich! Sie ist ja
+doch ein guter Mensch ... Das war ja nur so ... sie hat sich versprochen
+... Du hörst doch, sie hält dich für Korowkin, aber sie wird es
+vergessen und wird verzeihen, glaube mir! ... Was willst du?“ rief er
+plötzlich dem alten Gawrila zu, der in diesem Augenblick furchtzitternd
+ins Zimmer trat.
+
+Gawrila kam nicht allein: ihm folgte ein etwa sechzehnjähriger Knabe vom
+Gesinde, der, wie ich später erfuhr, wegen seiner Schönheit ins
+Herrenhaus genommen worden war. Er hieß Falalei. Mir fiel sofort seine
+Kleidung auf: er trug eine rotseidene russische Bluse, die um den Hals
+herum ausgenäht war, einen Gürtel aus breiten Goldtressen, schwarze,
+weite Pluderhosen und bocklederne Stiefel mit roten saffianledernen
+Stulpen. Dieses Kostüm hatte die Generalin persönlich für ihn
+ausgedacht. Der Knabe weinte bitterlich, und die Tränen rollten eine
+nach der anderen aus seinen hübschen, blauen Augen über seine roten
+Backen.
+
+„Was hat denn das zu bedeuten?“ rief mein Onkel. „Was ist geschehen? So
+sprich doch, Junge!“
+
+„Foma Fomitsch haben geruht, uns herzubefehlen,“ antwortete betrübt
+Gawrila. „Mich zum Examen und ihn ...“
+
+„Und ihn?“
+
+„Er hat getanzt!“ war Gawrilas weinerliche Antwort.
+
+„Getanzt!“ Entsetzen drückte sich auf dem Gesicht meines Onkels aus.
+
+„Ge–e–e–tanz–t!“ brüllte Falalei schluchzend und schluckend.
+
+„Die Kamarinskaja?“
+
+„Die Kama–a–arinskaja!“
+
+„Und Foma Fomitsch hat dich dabei ertappt?“
+
+„Erta–appt!“
+
+„Das hat gerade noch gefehlt!“ stöhnte mein Onkel. „Jetzt bin ich
+verloren!“ Und er faßte sich mit beiden Händen an den Kopf.
+
+Da trat der Diener Widopljässoff ins Zimmer und meldete:
+
+„Foma Fomitsch.“
+
+Die Tür ging auf, und Foma Fomitsch erschien in eigener Person vor dem
+ratlosen Publikum.
+
+
+
+
+ VI.
+
+ Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja.
+
+
+Bevor ich die Ehre haben werde, das Äußere Foma Fomitschs dem Leser, so
+gut ich dies kann, vor Augen zu führen, halte ich es für durchaus
+notwendig, in Kürze von Falalei einiges zu erzählen und namentlich zu
+erklären, inwiefern es denn so ungeheuerlich war, daß er die
+Kamarinskaja getanzt und Foma Fomitsch ihn bei dieser fröhlichen und,
+man sollte meinen, harmlosen Zerstreuung überrascht hatte.
+
+Falalei war als Sohn eines Hofbauern in Stepantschikowo zur Welt
+gekommen und hatte seine Eltern im ersten Lebensjahre verloren. Die
+verstorbene Frau meines Onkels war seine Taufmutter gewesen. Mein Onkel
+liebte ihn sehr. Dies genügte, um ihn Foma Fomitsch, als er aufs Gut
+übergesiedelt war und den Gutsherrn sich unterworfen hatte, verhaßt zu
+machen. Doch zu Fomas Pein geschah es, daß der Knabe auch der Generalin
+ganz besonders gefiel: und so blieb denn Falalei, trotz Foma Fomitschs
+ganzer Wut, nach wie vor bei der Herrschaft gut angeschrieben. Die
+Generalin bestand auf ihrer Neigung, und Foma mußte nachgeben, wenn er
+auch im Herzen die „Kränkung“ nicht vergaß – er hielt ja alles für eine
+„Kränkung“ seiner Person – und sich dafür an meinem armen Onkel, der in
+diesem Falle doch wirklich unschuldig war, bei jeder sich nur bietenden
+Gelegenheit rächte.
+
+Falalei war in seiner Art allerdings eine Schönheit. Eigentlich hatte er
+ein Mädchengesicht, das Gesicht einer Dorfschönheit. Die Generalin
+verwöhnte und beschützte ihn. Er war ihr teuer wie etwa ein nettes,
+seltenes Spielzeug, und man wußte nicht, wen sie mehr liebte: ihr
+kleines Schoßhündchen Ami oder diesen Falalei. Sein Kostüm habe ich
+bereits beschrieben. Die Damen gaben ihm obendrein noch Salben und
+Pomaden, und der Barbier und Friseur Kusjma mußte ihm zu den Feiertagen
+Locken brennen. Andererseits war dieser Knabe ein sonderbares Geschöpf:
+man konnte ihn nicht einen vollkommenen Idioten oder Geistesschwachen
+nennen; doch war er dermaßen naiv, in seiner Redeweise dermaßen
+wahrheitsgetreu und offenherzig, daß man ihn mitunter wirklich für einen
+großen Dummkopf halten konnte. Hatte er in der Nacht einmal einen Traum
+gehabt, so erzählte er ihn sofort der Herrschaft. Er mischte sich sogar
+in ihr Gespräch ein, unbekümmert darum, daß er ihnen ins Wort fiel. Er
+erzählte zuweilen Dinge, die man als Hofjunge der Gutsherrschaft ganz
+unmöglich erzählen kann. Er weinte die aufrichtigsten Tränen, wenn seine
+Herrin – die Generalin – in Ohnmacht fiel, oder wenn sein Herr gar zu
+sehr von Foma beschuldigt wurde. Er hatte für jedes Unglück ein
+mitfühlendes Herz. Zuweilen schlich er zur Generalin, küßte ihr die
+Hände und bat sie, nicht böse zu sein – und die Alte verzieh ihm gnädig
+alle Dreistigkeiten. Er hatte ein äußerst empfindsames Gemüt, war gut
+und friedfertig wie ein Lämmlein auf der Weide und heiter wie ein
+glückliches Kind. Bei Tisch wurde ihm immer etwas Süßes gegeben.
+
+Bei jeder Mahlzeit stellte er sich regelmäßig hinter dem Stuhl der
+Generalin auf und wartete, bis er sein Naschwerk erhielt. Gab man ihm
+ein Stück Zucker, so zerknabberte er es unverzüglich mit seinen
+milchweißen Zähnen. Dann leuchtete in seinen lustigen Blauaugen wie in
+seinem ganzen hübschen Gesicht unbeschreibliche Zufriedenheit auf.
+
+Lange zürnte Foma. Endlich überlegte er sich die Sache und sagte sich,
+daß er damit nichts ausrichten könne: so beschloß er dann, Falaleis
+Wohltäter zu werden. Nachdem er zuerst meinem Onkel die Leviten dafür
+gelesen hatte, daß dieser sich um die Bildung seines Hofgesindes gar
+nicht kümmere, nahm er sich vor, dem armen Knaben sofort Moral, gute
+Manieren und die französische Sprache beizubringen.
+
+„Wie!“ rief er aus, als er seinen unsinnigen Einfall verteidigte, einem
+Bauernknaben Französisch beizubringen (einen Einfall, der übrigens nicht
+nur einem Foma Fomitsch gekommen ist, was der Aufzeichner dieser
+Erinnerungen selbst bezeugen kann) – „wie! er ist beständig hier im
+Herrenhause bei seiner Herrin: wenn sie nun einmal vergißt, daß er nicht
+Französisch versteht und zum Beispiel sagt ‚^donneh mua mon muschuar^‘,
+so muß er sich doch auch in einem solchen Fall zurechtfinden und sie
+sofort bedienen können!“
+
+Leider zeigte es sich sehr bald, daß dem Falalei nicht nur die
+französische Sprache nicht beizubringen war, sondern daß auch der Koch
+Andron, sein Onkel, der sich, vollkommen uneigennützig, lange genug
+gemüht hatte, ihm das russische Alphabet beizubringen, schon längst die
+Hoffnung aufgegeben und die Fibel auf das Regal zurückgelegt hatte.
+Falalei war für geistige Belehrung so unzugänglich, daß nichts, aber
+auch nichts in seinem Gedächtnis haften blieb. Ja, dieser
+Belehrungsversuch sollte noch ein Nachspiel haben: das Hofgesinde begann
+alsbald, Falalei als „Franzosen“ zu necken – der alte Gawrila aber, der
+verdienstvolle Kammerdiener meines Onkels, unterstand sich, der
+Erlernung dieser fremden Sprache offen jeden Nutzen abzusprechen. Dieses
+Urteil des alten Dieners kam auch Foma Fomitsch zu Ohren, und da befahl
+dieser in seinem Zorn, daß der Opponent Gawrila von nun an selbst die
+französische Sprache erlernen müsse. Und das war der Anfang dieser
+ganzen „Französischen Marotte“, die Herrn Bachtschejeff in solche Wut
+versetzt hatte.
+
+Mit den guten Manieren, die Foma dem Knaben beibringen wollte, machte er
+noch schlechtere Erfahrungen: es wollte ihm in keiner Beziehung
+gelingen, Falalei nach seinem Geschmack umzumodeln. Falalei kam trotz
+des Verbots jeden Morgen zur Generalin, um seine Träume zu erzählen, was
+Foma höchst unanständig, weil allzu „familiär“, fand. Falalei aber war
+und blieb Falalei. Es versteht sich wohl von selbst, daß für dieses
+ganze Mißgeschick am meisten und vor allen anderen wieder mein Onkel
+büßen mußte.
+
+„Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute getan hat?“ schrie eines
+Tages Foma, wozu er um der größeren Wirkung willen die Zeit wählte, in
+der alle versammelt waren ... „Wissen Sie auch, Oberst, wie weit Sie es
+mit Ihrer systematischen Vernachlässigung bringen? Heute verschlang er
+ein Stück Fischpastete, das man ihm bei Tisch gegeben hatte, und wissen
+Sie, was er nachher sagte? Komm her, komm her, armselige Kreatur, komm
+her, du Idiot, du rote Fratze! ...“
+
+Falalei näherte sich weinend und wischte sich mit beiden Fäusten die
+Tränen ab.
+
+„Was hast du gesagt, als du die Pastete verschlungen hattest? Wiederhole
+es noch einmal!“
+
+Falalei brach, statt zu antworten, in bittere Tränen aus.
+
+„Dann werde ich es für dich tun. Du sagtest, indem du auf deinen
+vollgestopften Bauch klopftest: ‚Habe mich mit Pasteten vollgeschlagen
+wie Martyn mit Seife!‘ – Bedenken Sie, Oberst, – kann man denn so etwas
+in einer gebildeten Gesellschaft sagen, und dazu noch in der höheren
+Gesellschaft? Hast du das gesagt? Sprich!“
+
+„Ha–ab gesa–agt! ...“ bestätigte Falalei schluckend, und erneute
+Tränenströme rannen herab.
+
+„So. Dann sag mir jetzt: ißt denn Martyn Seife? Wo hast du einen solchen
+Martyn gesehen, der Seife ißt? Sag doch, gib mir eine Vorstellung von
+diesem phänomenalen Martyn!“
+
+Schweigen.
+
+„Ich frage dich, wer war dieser Martyn?“ bestand Foma auf seiner Frage.
+„Ich will ihn sehen, will seine Bekanntschaft machen. Nun, wer ist er?
+Ein Registrator, ein Astronom, ein Erfinder, ein Dichter, ein ^Captaine
+d’armes^, ein Leibeigener – irgend jemand muß er doch sein! Antworte!“
+
+„Ein Lei–eibeigener!“ antwortete schließlich Falalei und weinte.
+
+„Wessen? Wessen Leibeigener?“
+
+Hierauf wußte Falalei nichts zu antworten. Natürlich endete die Sache
+schließlich damit, daß Foma wutentbrannt aus dem Zimmer stürzte und
+schrie und klagte, daß man ihn beleidigt habe. Die Generalin fiel
+daraufhin in Ohnmacht, mein Onkel verwünschte die Stunde seiner Geburt,
+bat alle um Verzeihung und ging während des ganzen übrigen Tages in
+seinem eigenen Hause nur noch auf den Fußspitzen umher.
+
+Nun aber sollte es auch noch geschehen, daß am nächsten Tage – nach dem
+Seifenvorfall – Falalei, als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte,
+und sein ganzes gestriges Leid schon längst vergessen hatte, vollkommen
+unschuldig und harmlos erzählte, daß ihm in der Nacht von einem weißen
+Ochsen geträumt habe. Ja – wahrlich – das hatte gerade noch gefehlt!
+Foma Fomitsch geriet in einen wahren Wutanfall, ließ sofort den Oberst
+rufen und begann dann unverzüglich, diesem für den Traum eine
+Strafpredigt zu halten, den _sein_, des Obersten, Falalei gehabt hatte.
+Diesmal griff man denn auch zu den strengsten Maßregeln: Falalei wurde
+bestraft – er mußte im Winkel knien. Außerdem wurde ihm noch einmal
+strengstens und nachdrücklich untersagt, so „rohe“, so „bäuerische“
+Träume zu haben.
+
+„Begreifen Sie auch, _weshalb_ ich darüber so ungehalten bin?“ fragte
+Foma Fomitsch. „Ganz abgesehen davon, daß er es sich nicht einfallen
+lassen, daß er es überhaupt nicht wagen dürfte, mir mit seinen Träumen
+zu kommen, und noch dazu solchen weißen Ochsenträumen ... ganz abgesehen
+davon, sage ich – und Sie müssen es doch selbst zugeben, Oberst – was
+ist denn dieser weiße Ochse anderes als ein Beweis der Roheit,
+Unwissenheit und bäuerischen Empfindungsart Ihres unbehauenen Falalei?
+Wie die Gedanken, so die Träume. Habe ich nicht gleich gesagt, daß aus
+dem Burschen nichts werden wird und man ihn folglich nicht im
+Herrenhause behalten sollte? Niemals, niemals werden Sie diesen
+sinnlosen, einfachen Volksgeist zu etwas Höherem, Poetischem entwickeln!
+Kannst du denn nicht,“ fuhr er zu Falalei fort, „kannst du denn nicht
+etwas anderes im Traum sehen, etwas Vornehmes, Zartes, Veredeltes, eine
+Szene aus der guten Gesellschaft, sagen wir zum Beispiel Herren bei
+einer Kartenpartie oder Damen, die in einem schönen Garten lustwandeln?“
+
+Als Falalei an jenem Tage zu Bett ging, bat er den lieben Gott unter
+Tränen um einen schönen Traum und dachte lange darüber nach, wie er es
+anstellen sollte, daß er nicht mehr diesen verwünschten weißen Ochsen
+sähe. Doch die Hoffnungen der Menschen pflegen trügerisch zu sein. Als
+er am nächsten Morgen erwachte, da ward er sich mit Schrecken bewußt,
+daß ihm die ganze liebe Nacht wieder nur von dem verhaßten weißen Ochsen
+geträumt hatte – und von keiner einzigen im Garten lustwandelnden
+schönen Dame. Diesmal aber waren die Folgen besonderer Art. Foma
+Fomitsch erklärte unerschütterlich, daß er an die Möglichkeit einer
+ähnlichen Wiederholung nicht glaube, daß Falalei vielmehr lüge und
+womöglich von einem der Bewohner des Herrenhauses, vielleicht sogar vom
+Obersten selbst, absichtlich dazu verleitet worden sei, um ihn, Foma
+Fomitsch, zu ärgern. Es kam wiederum zu viel Geschrei, Vorwürfen und
+Tränen. Am Abend erkrankte die Generalin. Die ganze Einwohnerschaft von
+Stepantschikowo ließ die Köpfe hängen. Und es blieb nur noch die eine
+schwache Hoffnung, daß Falalei in der nächsten Nacht, in der dritten,
+etwas aus der höheren Gesellschaft träumen werde. Wie groß aber war der
+allgemeine Unwille, als Falalei eine ganze Woche in jeder Herrgottsnacht
+regelmäßig den weißen Ochsen sah, einzig und allein immer nur den weißen
+Ochsen! An die höhere Gesellschaft war gar nicht zu denken!!
+
+Das merkwürdigste war aber, daß Falalei kein einziges Mal darauf kam, zu
+lügen: einfach zu sagen, er habe im Traum nicht einen weißen Ochsen,
+sondern, zum Beispiel, eine Equipage gesehen, in der schöne Damen und
+Foma Fomitsch vorübergefahren wären, – um so mehr, als in einem solchen
+Notfall das Lügen doch keine gar so große Sünde hätte sein können. Aber
+Falalei war dermaßen wahrheitsliebend, daß er zu lügen entschieden nicht
+verstand, – selbst wenn er es gewollt hätte. So kam es, daß man ihn
+nicht einmal auf diesen Gedanken zu bringen suchte; denn alle wußten,
+daß Falalei sich sofort verraten und Foma Fomitsch ihn auf der Lüge
+ertappen werde. Was sollte man also tun? Die Lage, in der sich mein
+armer Onkel befand, wurde nahezu verzweifelt. Falalei war
+unverbesserlich. Der arme Junge wurde sogar merklich magerer. Die
+Haushälterin Malanja behauptete, daß er behext worden sei, und
+besprengte ihn, nach altem Aberglauben, von einem Winkel aus mit kaltem
+Wasser. An dieser zweckmäßigen Behandlung beteiligte sich auch die
+mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das sonst so wohltätige
+kalte Wasser verweigerte diesmal seine Wirkung. Es half alles nicht!
+
+„Daß ihn doch! ... den verfluchten Ochsen!“ sagte Falalei seinerseits,
+„in jeder Nacht träumt mir von ihm! Jeden Abend bete ich: ‚Traum, komm’
+mir nicht mit dem weißen Ochsen, Traum, komm’ mir nicht mit dem weißen
+Ochsen!‘ – Er aber ist da, der verfluchte, steht vor mir, so groß, mit
+Hörnern, mit so ’ner stumpfen Schnauze, hu–u–u!“
+
+Mein Onkel geriet schließlich wirklich in Verzweiflung. Doch siehe, zum
+Glück vergaß Foma Fomitsch, wie es schien, plötzlich den weißen Ochsen.
+Natürlich glaubte niemand, daß Foma Fomitsch im Ernst etwas so Wichtiges
+vergessen könnte, und so sagten sich alle mit angstvollem Herzen, daß er
+diese unerledigte Geschichte mit dem weißen Ochsen gleichsam für den
+Bedarfsfall aufheben wolle, um sie dann bei der ersten sich bietenden
+Gelegenheit wieder vorzuführen. In der Folge stellte es sich aber
+heraus, daß es Foma Fomitsch in dieser Zwischenzeit tatsächlich nicht um
+den weißen Ochsen zu tun gewesen war: er hatte andere Sorgen, andere
+Pläne waren in seinem emsigen und vieldenkenden Kopfe entstanden. Nur
+darauf war es zurückzuführen, daß er Falalei endlich aufatmen ließ.
+Gleichzeitig mit Falalei atmeten auch die anderen auf. Ja, der Junge
+vergaß sogar bald das Vorgefallene, und selbst der weiße Ochse erschien
+ihm immer seltener im Traum, obschon er ihn hin und wieder doch noch an
+seine phantastische Existenz erinnerte. Kurz, es wäre alles gut gewesen,
+wenn es in der Welt nicht einen Tanz gegeben hätte, der die Kamarinskaja
+heißt.
+
+Ich muß hier vorausschicken, daß Falalei vorzüglich tanzte. Die
+Tanzkunst war seine größte Begabung, sie war ihm gewissermaßen als
+innerer Trieb angeboren. Er tanzte mit Energie und unermüdlicher Lust,
+und von allen Tänzen liebte er am meisten den „Kamarinskij-Mushick“ zu
+tanzen. Nicht, daß ihm etwa die leichtsinnigen und jedenfalls
+unverständlichen Handlungen dieses flatterhaften Bauern gar so sehr
+gefallen hätten – nein, er liebte diesen Tanz einzig deshalb, weil es
+für ihn, wenn er die Kamarinskaja spielen hörte, vollkommen unmöglich
+war, nicht zu tanzen. Es kam vor, daß zuweilen abends zwei oder drei
+Diener, die Kutscher, der Gärtner und einige Hofmädchen sich
+versammelten, natürlich irgendwo auf einem möglichst entfernten
+Wiesenplan hinter den Ställen des Herrenhofes, möglichst weit von Foma
+Fomitsch. Dann ertönte alsbald Musik, und das Tanzen begann, bis
+schließlich auch die Kamarinskaja in ihr Recht trat. Die Musikkapelle
+bestand aus zwei Balalaiken, einer Gitarre, einer Geige und einer
+Handtrommel, die der Vorreiter Mitjuschka vorzüglich zu bearbeiten
+verstand. Dann hätte man sehen sollen, was schon beim ersten Takt mit
+Falalei geschah: er sprang in den Kreis und tanzte, tanzte bis zu
+völliger Bewußtlosigkeit, bis zur Erschöpfung seiner letzten Kräfte,
+angefeuert noch durch die Zurufe und das Lachen seiner Zuschauer; er
+jauchzte, lachte, schlug in die Hände und tanzte, als risse ihn eine
+fremde, unerfaßliche Kraft, gegen die er nicht anzukämpfen vermochte,
+mit sich fort, und tat sich Gewalt an, um das immer schneller werdende
+Tempo des temperamentvollen Motivs einzuhalten, während er im Rhythmus
+mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Das waren Augenblicke seiner
+höchsten Begeisterung. Und es wäre auch hier alles gut gewesen, wenn das
+Gerücht von seiner Kamarinskaja nicht auch Foma Fomitsch zu Ohren
+gekommen wäre.
+
+Foma Fomitsch – erstarrte, und als er zu sich kam, schickte er sofort
+nach dem Oberst.
+
+„Ich wollte mich von Ihnen nur über eines aufklären lassen, Oberst,“
+begann Foma. „Haben Sie sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten
+vollständig zu verderben, oder nicht? Ist das erstere der Fall, so ziehe
+ich mich selbstverständlich sofort zurück; falls aber nicht, so werde
+ich ...“
+
+„Ja, was ist denn los? Was ist geschehen?“ fragte der Oberst, der aus
+den Wolken fiel.
+
+„Wie? Sie fragen, was geschehen ist? Wissen Sie denn nicht, daß er die
+Kamarinskaja tanzt?“
+
+„Nun, – nun, und?“
+
+„Wie – nun, und?!“ schrie Foma auf. „Und das sagen Sie – Sie, sein Herr
+und in gewissem Sinne sein Vater! Ja, haben Sie denn nach alledem
+überhaupt eine annähernd richtige Vorstellung davon, was dieser Tanz
+überhaupt ist? Wissen Sie denn nicht, daß dieses Lied einen verkommenen
+Kerl besingt, der es in der Trunkenheit auf das allerunsittlichste
+Vergehen abgesehen hat? Wissen Sie denn nicht, was dieser verderbte
+Knecht im Schilde führt? Er hat die wertvollsten, die heiligsten Bande
+zerrissen und unter die Füße getreten, hat sie mit seinen klobigen
+Bauernstiefeln, die sonst nur den Fußboden der Schenke zu stampfen
+pflegen, – _zertreten_! Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit dieser
+Antwort meine edelsten Gefühle beleidigt haben? Begreifen Sie denn
+nicht, daß Ihre Antwort eine persönliche Beleidigung meiner Person ist?
+Begreifen Sie das, oder begreifen Sie das nicht?“
+
+„Aber, Foma ... es ist doch nur ein Lied, Foma ...“
+
+„Was, nur ein Lied? Und Sie schämen sich nicht, mir zu gestehen, daß
+Sie, Sie selbst dieses Lied kennen, – Sie, der Sie zur Gesellschaft
+gehören, Sie, der Sie der Vater vornehmer und unschuldiger Kinder und,
+zum Überfluß, noch Oberst sind! Nur ein Lied! Ich bin aber überzeugt,
+daß dieses Lied nach einer wirklichen Begebenheit entstanden ist! Nur
+ein Lied! Aber welcher anständige Mensch kann denn zugeben, ohne vor
+Scham zu vergehen, daß er dieses Lied kenne, daß er es jemals auch nur
+gehört habe? Welch ein Mensch, frage ich Sie, welch einer?“
+
+„Nun, aber du, Foma, du kennst es doch offenbar, wenn du so fragst,“
+antwortete in seiner Herzenseinfalt und völlig harmlos mein verwirrter
+Onkel.
+
+„Was! Ich kenne es? ... Ich ... ich ... das heißt! ... Man hat mich
+beleidigt!“ schrie plötzlich Foma, sprang vom Stuhl auf und brüllte vor
+Wut.
+
+Alles hatte er eher erwartet, als eine solche geradezu vernichtende
+Antwort.
+
+Doch wozu Foma Fomitschs Zorn beschreiben! Der Oberst wurde mit Schmach
+und Schande wegen der „Unschicklichkeit“ und „Ungeschicktheit“ seiner
+Antwort aus dem Gesichtskreise dieses „Wahrers der Sittlichkeit“
+verbannt. Foma Fomitsch selbst aber hatte sich seit diesem Tage
+geschworen, Falalei einmal ^in flagranti^ zu ertappen – wenn dieser
+wieder das Verbrechen begehen sollte, die Kamarinskaja zu tanzen, und so
+schlich er sich abends, wenn alle ihn mit irgend etwas Literarischem
+beschäftigt glaubten, heimlich in den Park, ging im Bogen um den
+Gemüsegarten herum und schlug sich dann in ein Gebüsch, von wo aus man
+deutlich jene kleine Wiese sehen konnte, auf der gewöhnlich getanzt
+wurde. So stellte er dem Falalei nach, wie der Jäger dem armen Wild, und
+malte sich inzwischen mit Wonne aus, was für einen Skandal er im Fall
+eines Erfolges seiner Bemühungen machen könne, und wie alle, und
+namentlich der Oberst ihm dafür würden „büßen müssen“! Der Lohn für
+seine Mühe blieb denn auch nicht aus. Der Augenblick kam, in dem er „ihn
+hatte“. Endlich, endlich! Und das geschah – gerade heute!!
+
+Nun wird es verständlich sein, weshalb mein Onkel sich das Haar raufte,
+als er den weinenden Falalei sah und vernehmen mußte, was geschehen war,
+und als dann noch Widopljässoff eintrat, um Foma Fomitschs Erscheinen
+anzumelden, und Foma Fomitsch so plötzlich und in einem so peinlichen
+Augenblick in eigener Person vor unseren sündigen Augen erschien.
+
+
+
+
+ VII.
+
+ Foma Fomitsch.
+
+
+Mit unendlicher Neugier sah ich diesem Herrn entgegen. Gawrila hatte
+recht, wenn er ihn ein gemausertes Menschlein nannte. Foma war klein von
+Wuchs, mit weißblondem, kaum merklich grau untermischtem Haar, weißen
+Augenbrauen und Wimpern, mit einer gebogenen Nase und vielen kleinen
+Runzeln im ganzen Gesicht. Am Kinn hatte er eine große Warze. Er war
+ungefähr fünfzig Jahre alt. Leise trat er ein, mit gleichmäßigen
+Schritten, die Augen zu Boden gesenkt. Aber das unverschämteste
+Selbstbewußtsein drückte sich in seinem Gesicht und in seiner ganzen,
+überaus pedantischen Erscheinung aus. Zu meiner Verwunderung erschien er
+im Schlafrock – freilich von ausländischem Schnitt, aber es war immerhin
+ein Schlafrock – und obendrein in Hausschuhen. Eine Krawatte trug er
+nicht. Der Kragen seines Hemdes war ^à l’enfant^ zurückgeschlagen, was
+der ganzen Erscheinung Fomas etwas überaus Dummes verlieh. Er schritt zu
+einem Lehnstuhl, rückte ihn ein wenig näher zum Tisch und setzte sich,
+ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben. Im Augenblick war alles still
+geworden, von der Aufregung und dem Spektakel, die noch vor einer Minute
+hier geherrscht hatten, war nichts mehr zu sehen und zu hören. Es war so
+still, daß man das Summen der kleinsten Fliege hätte hören können. Die
+Generalin saß sanft und fromm wie ein Lamm auf dem Sofa. Die ganze
+sklavische Ergebenheit dieser Törin ihrem Idol Foma gegenüber trat jetzt
+so recht klar zutage. Sie schien sich an ihrem Liebling gar nicht satt
+sehen zu können, sie hing unverwandt mit den Blicken an ihm, sie
+verschlang ihn förmlich mit den Augen.
+
+Fräulein Perepelizyna entblößte lächelnd ihre alten Zähne und rieb sich
+die Hände, die arme Praskowja Iljinitschna aber zitterte merklich vor
+Furcht. Mein Onkel fand als erster die Sprache wieder.
+
+„Tee, Schwesterchen, bitte, Tee! Nur etwas süßer, Schwesterchen. Foma
+Fomitsch trinkt ihn nach dem Schläfchen gern etwas süßer. Nicht wahr,
+Foma, du liebst den Tee nachmittags doch etwas süßer?“
+
+„Mir ist es jetzt nicht um Tee zu tun!“ begann Foma langsam und
+würdevoll, und mit bekümmerter Miene machte er eine wegwerfende
+Handbewegung. „Sie dagegen scheinen sich ja nur darum zu sorgen, daß
+alles süßer sei!“
+
+Diese ersten Worte und der in seiner pedantischen Wichtigkeit
+unbeschreiblich lächerliche Eintritt Fomas interessierten mich natürlich
+außerordentlich. Es interessierte mich vor allem, bis zu welch einer
+Gewissenlosigkeit die Unverschämtheit dieses von sich so eingenommenen
+Menschen gehen konnte.
+
+„Foma!“ begann mein Onkel von neuem. „Hier stelle ich dir jemand vor:
+meinen Neffen Ssergei Alexandrowitsch! Er ist erst vor kurzem
+angekommen.“
+
+Foma Fomitsch maß meinen Onkel vom Kopf bis zu den Füßen.
+
+„Es wundert mich, daß Sie mich mit Vorliebe immer so systematisch
+unterbrechen, Oberst,“ sagte er endlich nach bedeutsamem Schweigen und
+ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. „Man redet mit Ihnen über
+eine ernste Sache, Sie aber ... schwatzen ... weiß Gott was ... Haben
+Sie Falalei gesehen?“
+
+„Ja, Foma ...“
+
+„Ah, also Sie haben ihn gesehen! Nun, dann werde ich Ihnen denselben
+noch einmal zeigen, wenn Sie ihn schon gesehen haben. Dann können Sie
+sich ergötzen an Ihrem Produkt ... ich meine, in sittlicher Beziehung.
+Komm her, Bursche! Komm her, du holländische Fratze! Nun, hörst du
+nicht? – komm her! Fürchte dich nicht!“
+
+Falalei näherte sich ihm, schluchzend, mit halboffenem Munde, und
+schluckte seine Tränen. Foma Fomitsch betrachtete ihn mit
+augenscheinlichem Vergnügen.
+
+„Ich habe ihn mit Absicht ‚holländische Fratze‘ genannt, Pawel
+Ssemjonytsch,“ bemerkte er, indem er es sich ungeniert in seinem
+Lehnstuhl bequem machte, mit einer leichten Wendung seines Kopfes zu
+Obnoskin, der als Nächster links von ihm saß. „Und überhaupt, wissen
+Sie, halte ich es nicht für nötig, daß man seine Ausdrücke mildert,
+gleichviel in welchem Fall. Die Wahrheit muß immer Wahrheit bleiben. Und
+andererseits: womit man auch Schmutz bedecken wollte, es bleibt immer
+Schmutz. Wozu also die Mühe, eine Sache noch zu beschönigen? Um sich und
+die Menschen zu betrügen! Nur in dem dummen Kopf eines Menschen aus der
+sogenannten höheren Gesellschaft konnte das Verlangen nach so sinnlosen
+Anstandsregeln entstehen. Sagen Sie doch – ich bitte um Ihr Urteil –
+können Sie in dieser Fratze etwas Schönes finden? Ich meine: etwas
+Höheres, Erhabenes, Wunderbares – und nicht, wie gesagt, nur eine schöne
+Fratze?“
+
+Foma Fomitsch sprach ziemlich leise, ruhig, jedes Wort abmessend und mit
+einem fast erhabenen Gleichmut.
+
+„Schönes?“ fragte Obnoskin mit einer geradezu frechen Nachlässigkeit.
+„Mir scheint, es ist nur ein gutes Stück Roastbeef und nichts weiter
+...“
+
+„Trat heute zum Spiegel und besah mich in ihm,“ fuhr Foma ruhig fort,
+würdevoll das Wörtlein „ich“ auslassend. „Halte mich längst nicht für
+eine Musterschönheit, kam aber unwillkürlich zu der Überzeugung, daß
+doch etwas in diesem grauen Auge liegt, das mich von einem Falalei
+unterscheidet. Das ist der Gedanke, das ist das Leben, das ist der
+Verstand in diesem Auge! Will mich nicht damit loben. Rede nur so im
+allgemeinen von meinem Ich. Jetzt, was meinen Sie? Kann es überhaupt
+auch nur ein Stückchen, auch nur ein Atom von einer Seele in diesem
+lebenden Beefsteak geben? Nein, in der Tat, beobachten Sie es doch,
+Pawel Ssemjonytsch, wie diese _Menschen_, die jedes Gedankens, jedes
+Ideals vollkommen bar sind, und die nur Rindfleisch essen, wie bei
+diesen Menschen die Gesichtsfarbe immer so widerlich frisch ist, von
+einer so rohen und dummen Frische! Wünschen Sie, den Grad seiner
+Denkfähigkeit zu erkennen? He, du, Kasus! Komm mal näher, gönn uns, daß
+wir uns an deinem Anblick berauschen! Warum sperrst du den Mund auf?
+Willst du etwa einen Walfisch verschlingen? Bist du schön? Antworte:
+bist du schön?“
+
+„Ich ... bin ... schön!“ antwortete Falalei mit ersticktem Schluchzen.
+
+Obnoskin wälzte sich vor Lachen. Ich fühlte, wie ich vor Wut zu zittern
+begann.
+
+„Haben Sie gehört?“ fuhr Foma fort, mit einem gewissen Triumph sich
+wieder an Obnoskin wendend. „Aber Sie werden noch ganz andere Dinge von
+ihm hören! Ich kam nur, um ihn zu examinieren. Sehen Sie, Pawel
+Ssemjonytsch, es gibt Menschen, deren Wunsch es zu sein scheint, diesen
+armseligen Idioten endgültig zu verderben. Vielleicht urteile ich zu
+streng, kann mich ja täuschen, aber ich rede und tue alles nur aus Liebe
+zur Menschheit. Er hat den unanständigsten aller Tänze getanzt. Hier
+scheint das keinen Menschen etwas anzugehen. Aber ... nun, Sie können es
+hier mit eigenen Ohren hören ... Antworte: was hast du vorhin getan?
+Antworte, antworte sofort! – hörst du?“
+
+„I ... ich ... habe ... getanzt ...“ sagte Falalei, der nur mit Mühe das
+Schluchzen unterdrückte.
+
+„Was hast du denn getanzt? Welch einen Tanz? So sprich doch!“
+
+„Die Kamarinskaja ...“
+
+„Die Kamarinskaja! Aber wer ist diese Kamarinskaja? Was ist das für ein
+Name? Wie soll ich denn deine Antwort verstehen? Nun, so gib mir doch
+wenigstens eine Vorstellung davon: wer ist denn diese deine
+Kamarinskaja?“
+
+„Ein ... Bauer ...“
+
+„Ein Bauer! Nur ein Bauer? Ich wundere mich! Das muß doch ein ganz
+hervorragender Bauer sein! Dann ist er wohl irgendein berühmter Mann,
+wenn man ihn in Liedern besingt und in Tänzen verherrlicht? Nun, so
+antworte doch!“
+
+Es schien Foma ein Bedürfnis zu sein, Menschen zu foltern. Er spielte
+mit seinem Opfer wie die Katze mit der Maus. Doch Falalei schwieg,
+schluchzte und begriff die Frage nicht.
+
+„So antworte doch! Du wirst gefragt, was das für ein Bauer ist. So
+sprich doch ...! Ein Gutsbauer oder ein Kronsbauer, ein freier oder ein
+leibeigener oder vielleicht ein Ökonomiebauer[1]? Es gibt viele Bauern
+...“
+
+„E–e–ein ... Ö–ko–nomiebauer ...“
+
+„Ah, also ein Ökonomiebauer! Haben Sie gehört, Pawel Ssemjonytsch? Ein
+neues historisches Faktum: die Kamarinskaja ist ein – Ökonomiebauer. Hm!
+Nun, aber was hat denn dieser Ökonomiebauer getan? Für welche Taten wird
+er denn besungen und ... wird ihm zu Ehren getanzt?“
+
+Die Frage war nicht wenig kitzlig, und da er sie an Falalei richtete,
+auch sehr gefährlich.
+
+„Nun – aber Sie ... einstweilen ...“ versuchte Obnoskin einzulenken,
+nach einem flüchtigen Blick auf seine Mutter, die sich so eigentümlich
+auf ihrem Sofa hin und her zu bewegen begann.
+
+Was sollte man tun? Die Launen Foma Fomitschs wurden als Gesetz
+betrachtet.
+
+„Aber, lieber Onkel, wenn Sie diesen Esel nicht ablenken, so kann er ja
+... Sie begreifen doch, auf was er es abgesehen hat – Falalei wird
+vielleicht irgendeine Dummheit sagen, sogar bestimmt, ich versichere Sie
+...“ flüsterte ich unbemerkt meinem Onkel zu, der selbst nicht wußte,
+wozu er sich entschließen oder was er sagen sollte.
+
+„Wenn du, Foma ...“ begann er etwas unsicher. „Hier stelle ich dir
+meinen Neffen vor, Foma: mein junger Freund, der sich mit Mineralogie
+beschäftigt ...“
+
+„Ich bitte Sie inständig, Oberst, unterbrechen Sie mich nicht mit Ihrer
+Mineralogie, von der Sie, soviel mir bekannt ist, keine Ahnung haben,
+und _andere_ vielleicht ebensowenig. Ich bin kein Kind. Er wird mir
+antworten, daß dieser Bauer, anstatt für das Wohlergehen seiner Familie
+zu arbeiten, in der Schenke seinen Halbpelz vertrunken hat und betrunken
+auf die Straße hinausgelaufen ist. Das ist bekanntlich der Inhalt dieses
+Liedes, das die Trunkenheit verherrlicht. Beunruhigen Sie sich nicht,
+_jetzt_ weiß er, was er zu antworten hat. – Nun, so antworte doch: was
+hat dieser Bauer denn getan? Ich habe es dir doch schon vorgesagt, habe
+es dir in den Mund gelegt. Ich will nur von dir, von dir selbst hören,
+was er getan hat, wodurch er berühmt geworden ist, wodurch er einen so
+unsterblichen Ruhm verdient hat, daß er sogar besungen wird? Nun?“
+
+Der arme Falalei blickte sich hilflos im Kreise um, und da er nicht
+wußte, was er sagen sollte, machte er nur den Mund auf und ratlos wieder
+zu, wie eine Karausche, die aus dem Wasser auf den Sand gezogen ist.
+
+„Ich schäm’ mich, es zu sagen!“ brachte er schließlich in seiner
+Hilflosigkeit mit langen Lippen ziemlich undeutlich hervor.
+
+„Ah! du schämst dich, es zu sagen!“ Foma triumphierte. „Nur diese
+Antwort erwartete ich, Oberst! Man schämt sich, es zu sagen; aber es zu
+tun, schämt man sich nicht! Das ist die Sittlichkeit, die Sie hier gesät
+haben, die jetzt aufgegangen ist, und die Sie noch ... begießen! Doch
+wozu so viel Worte verlieren! Geh in die Küche, Falalei. Im Augenblick
+sage ich dir nichts – aus Achtung vor den Anwesenden; aber heute noch,
+_heute noch_ wirst du unbarmherzig und schmerzhaft bestraft werden.
+Geschieht es aber nicht, zieht man auch diesmal _dich_ – _mir_ – vor, so
+bleibe du hier und tröste deine Herren mit der Kamarinskaja, ich aber
+werde dann heute noch dieses Haus verlassen! Genug! Ich habe gesprochen.
+Geh!“
+
+„Nun, das war, glaube ich, denn doch etwas ... streng ...“ brummte
+Obnoskin.
+
+„Eben, eben ...!“ griff sofort mein Onkel auf und wollte ihm
+beipflichten, brach aber ab und verstummte. Foma warf ihm einen
+finsteren Blick zu.
+
+„Ich wundere mich, Pawel Ssemjonytsch,“ fuhr er fort, „ich wundere mich
+nur über eines: was tun denn eigentlich unsere zeitgenössischen
+Literaten, die Dichter, die Gelehrten, die Denker? Wie kommt es, daß sie
+gar nicht darüber nachdenken, welche Lieder das russische Volk singt,
+und zu welchen Liedern das russische Volk tanzt? Was haben denn bis
+jetzt alle unsere Puschkin, Lermontoff, Borosdin getan? Ich wundere
+mich. Das Volk tanzt die Kamarinskaja, diese Apotheose der Trunkenheit
+und der Ausschweifung; sie aber besingen da irgendwelche
+Vergißmeinnicht! Warum schreiben sie nicht einige sittliche Lieder für
+den Volksgebrauch? Was nützen diese Gedichte an die Vergißmeinnicht und
+Gänseblümchen? Hier handelt es sich doch um eine soziale Frage! Mögen
+sie mir meinetwegen einen Bauern schildern, aber einen veredelten
+Bauern, einen Landmann, der eigentlich nichts mehr mit dem rohen Bauern
+gemein hat. Mögen sie doch einen solchen Dorfweisen womöglich in seiner
+ganzen Einfachheit uns zeigen, meinetwegen sogar in Bastschuhen – ich
+bin auch damit noch einverstanden –, aber es muß ein Mann sein, der alle
+Tugenden besitzt, Tugenden, um die ihn – das sage ich kühn – selbst
+irgend so ein berühmter Alexander von Mazedonien beneiden müßte. Ich
+kenne Rußland und Rußland kennt mich: darum rede ich so. Mögen sie uns
+diesen Mann darstellen, der, sagen wir, bei grauem Haar noch eine große
+Familie zu ernähren hat, meinetwegen sogar in einer stickigen Hütte
+lebt, vielleicht sogar hungern muß, der aber dennoch zufrieden ist und
+nicht murrt, sondern seine Armut preist, und den alles Gold des Reichen
+gleichgültig läßt. Mag ihm der Reiche schließlich gerührt sein ganzes
+Gold bringen ... bei dieser Gelegenheit kann sogar eine Vereinigung der
+Tugend des Bauern mit der Tugend des Reichen, seines Herrn und, sagen
+wir, geborenen Aristokraten sich vollziehen. Der Landmann und der
+Reiche, die auf den Stufen der Gesellschaft so weit voneinander getrennt
+sind, – mögen sie dann in der Tugend sich vereinigen, – das wäre ein
+edler Grundgedanke! Aber sonst – was haben wir jetzt in unserer
+Literatur? Einerseits Vergißmeinnicht und andererseits – einen Bauern,
+der aus der Schenke herausstürzt und in betrunkenem Zustande durch die
+Straßen läuft! Nun, was ist denn hier, sagen Sie doch selbst: Was ist
+denn hier Poetisches? Woran soll man sich erbauen? Wo ist hier Verstand?
+Wo Grazie? Wo Moral? ... Ich wundere mich!“
+
+„Hundert Rubel schulde ich Ihnen, Foma Fomitsch, für solche Worte!“
+sagte Jeshowikin anscheinend begeistert. – „Würde ihm keinen grindigen
+Deubel jemals geben!“ rannte er mir dabei leise zu, fast ohne die Lippen
+zu bewegen. „Schmeichle, schmeichle!“
+
+„Nun ja ... das haben Sie gut gesagt,“ brummte Obnoskin.
+
+„Eben, eben! Vortrefflich!“ rief mein Onkel aus, der die ganze Zeit mit
+angestrengter Aufmerksamkeit zugehört hatte und mich jetzt triumphierend
+ansah. – „Was für ein Thema!“ flüsterte er mir unbemerkt ins Ohr und
+rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Vielseitig, weiß der Teufel! – Foma
+Fomitsch, hier ist mein Neffe,“ fuhr er laut im Überschwang seiner
+Gefühle fort. „Er hat sich gleichfalls mit der Literatur beschäftigt –
+hier stelle ich ihn dir vor.“
+
+Foma Fomitsch schenkte wiederum nicht die geringste Beachtung weder mir,
+noch meinem Onkel.
+
+„Um Gottes willen, stellen Sie mich doch nicht nochmals vor! Ich bitte
+Sie darum!“ flüsterte ich in sehr bestimmtem Ton meinem Onkel zu.
+
+„Iwan Iwanytsch!“ hub plötzlich Foma Fomitsch an, sich mit aufmerksam
+betrachtendem Blick an Misintschikoff wendend, „da haben wir nun
+gesprochen – welcher Meinung aber sind Sie?“
+
+„Ich? Sie fragen mich?“ erkundigte sich verwundert Misintschikoff, mit
+einem Gesichtsausdruck, als hätte man ihn soeben erst aus dem Schlaf
+geweckt.
+
+„Ja, gerade Sie. Ich frage Sie aus dem Grunde, weil mir die Meinung
+wirklich kluger Menschen immer wertvoll ist, nicht aber diejenige – weiß
+Gott was für welcher – problematischer kluger Köpfe, die nur deshalb
+klug sind, weil sie einem _beständig als klug vorgestellt werden_, als
+sogenannte _Gelehrte_, und die man sich mitunter sogar absichtlich
+verschreibt, um sie in einer Jahrmarktsbude auszustellen oder an einem
+ähnlichen Ort.“
+
+Dieser Stein war natürlich in meinen Garten geworfen. Es konnte
+überhaupt kein Zweifel darüber bestehen, daß Foma Fomitsch, der mich
+scheinbar gar nicht beachtete, dieses ganze Gespräch über die Literatur
+einzig und allein meinetwegen begonnen hatte, um mich, den „Klugen“, den
+„Petersburger Gelehrten“, von vornherein zu besiegen, zu vernichten. Ich
+wenigstens zweifelte nicht daran.
+
+„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ... bin ich ... so bin ich
+ganz Ihrer Meinung,“ antwortete Misintschikoff träge und gleichsam wider
+Willen.
+
+„Sie sind stets ganz meiner Meinung! Es könnte einem sogar übel davon
+werden,“ bemerkte Foma. „Werde Ihnen ganz aufrichtig sagen, Pawel
+Ssemjonytsch,“ wandte er sich nach kurzem Schweigen wieder an Obnoskin,
+„wenn ich unseren unsterblichen Karamsin für etwas hochachte, so tue ich
+es nicht wegen seiner ‚Statthalterin Marfa‘, nicht wegen seiner
+‚Russischen Geschichte‘, auch nicht wegen seines Werkes über das ‚Alte
+und neue Rußland‘, sondern einzig deshalb, weil er ‚Froll Ssilin‘
+geschrieben hat: Das ist ein großes Epos! Es ist ein rein volkliches
+Werk und wird alle Ewigkeiten überleben! Ein großes Epos!“
+
+„Eben, das ist es! Stimmt! Ein großes _Epos_! Froll Ssilin ist ein
+tugendhafter Mensch! Ich weiß, habe ihn gelesen; er kaufte _noch_ zwei
+Mädchen aus, und dann sah er zum Himmel empor und weinte. Ein erhabener
+Zug!“ bestätigte mein Onkel, strahlend vor Zufriedenheit.
+
+Mein armer Onkel! Er konnte es doch auf keine Weise unterlassen, sich in
+„gelehrte“ Gespräche einzumischen! Foma lächelte boshaft, schwieg aber.
+
+„Es wird auch jetzt Interessantes geschrieben,“ mischte sich vorsichtig
+Anfissa Petrowna Obnoskina ein. „Zum Beispiel: die ‚Geheimnisse von
+Brüssel‘!“
+
+„Ich enthalte mich eines Urteils,“ sagte Foma, gleichsam mitleidig. „Ich
+habe vor nicht langer Zeit einen von den neueren Dichtern gelesen ...
+Was soll man sagen? ‚Vergißmeinnicht‘! Aber wenn ich Ihnen die Wahrheit
+sagen soll, so gefällt mir von den Modernsten am besten der ‚Kopist‘, –
+wie er sich unterzeichnet – eine leichte Feder!“
+
+„Der Kopist!“ schrie förmlich Anfissa Petrowna auf, „das ist doch
+dieser, der an die Zeitung Briefe schreibt? Ach, wie ist er doch
+entzückend! Welch ein Spiel mit Worten!“
+
+„Ganz recht, ein Spiel mit Worten. Er spielt, wie man sagt, mit der
+Feder. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit im Satzbau!“
+
+„Ja, aber er ist ein Pedant,“ bemerkte Obnoskin nachlässig.
+
+„Pedant! gewiß ein Pedant – das bestreite ich nicht. Aber er ist ein
+sympathischer Pedant, ein graziöser Pedant! Natürlich, keine einzige
+seiner Ideen hält einer ernsten Kritik stand, aber man läßt sich
+unwillkürlich von seiner Leichtigkeit fortreißen! Schön, es sind leere
+Worte – ich will es gern zugeben; aber es sind sympathische, es sind
+graziöse Worte! Entsinnen Sie sich vielleicht, wie er in einem
+literarischen Artikel erklärte, daß er seine eigenen Güter habe?“
+
+„Güter?“ griff sofort mein Onkel auf. „Das ist nicht übel. In welchem
+Gouvernement?“
+
+Foma blieb stumm, richtete nur einen aufmerksamen Blick auf den
+Hausherrn und fuhr dann im selben Ton fort:
+
+„Nun sagen Sie mir doch um der gesunden Vernunft willen: wozu brauche
+ich, der Leser, zu wissen, daß er Güter hat? Hat er sie – dann
+gratuliere ich! Aber wie lieblich, wie spaßhaft ist es beschrieben! Er
+sprüht von Geist, er wirft ihn verschwenderisch um sich! Er ist ein
+unerschöpflicher Quell von sprudelndem Geist! Ja, _so_ muß man
+schreiben! Ich glaube, daß ich gerade in dieser Art schreiben würde,
+wenn ich mich entschließen wollte, für Zeitschriften zu schreiben ...“
+
+„Sicherlich sogar noch besser!“ bemerkte ehrerbietig Jeshowikin.
+
+„Es ist sogar etwas Melodisches im Stil!“ bestätigte mein Onkel.
+
+Nun aber hielt es Foma nicht mehr aus.
+
+„Oberst,“ hub er an, „dürfte man Sie vielleicht bitten – natürlich mit
+aller nur möglichen Rücksicht – sich nicht einzumischen und uns in Ruhe
+unser Gespräch beenden zu lassen? Sie können über unsere Gespräche nicht
+urteilen, die Themata sind nicht für Sie geschaffen! So haben Sie doch
+die Güte, unsere angenehme literarische Unterhaltung nicht zu
+unterbrechen. Beschäftigen Sie sich mit Ihrer Landwirtschaft, trinken
+Sie Tee, aber ... kümmern Sie sich nicht um die Literatur ... sie wird
+dadurch nicht verlieren, dessen kann ich Sie versichern!“
+
+Das war denn doch der Gipfel aller Frechheit! Ich wußte nicht, wie ich
+mich beherrschen sollte.
+
+„Aber du hast doch selbst gesagt, Foma, daß sogar etwas Melodisches im
+Stil sei,“ versuchte sich mein Onkel, peinlich berührt, zu verteidigen.
+
+„Gewiß. _Ich_ aber habe es mit Kenntnis der Sache gesagt, als es
+angebracht war – und Sie?“
+
+„Jawohl, wir haben es mit Verständnis und Verstand gesagt,“ griff
+Jeshowikin auf, der Foma Fomitsch auffällig umschmeichelte. „Verstand
+haben wir nur so ein wenig, man muß ihn sich zuweilen leihen; denn zur
+Not reicht er noch zu zwei Ministerien, und wenn’s darauf ankommt, dann
+werden wir auch noch mit dem dritten fertig, – jawohl, so steht’s mit
+uns!“
+
+„Nun, dann habe ich also wieder etwas Unrichtiges gesagt!“ sagte mein
+Onkel und lächelte sein gutmütiges Lächeln.
+
+„Zum Glück sehen Sie es wenigstens ein,“ bemerkte Foma.
+
+„Tut nichts, Foma, ich ärgere mich nicht. Ich weiß, daß du mich wie ein
+Freund lenken und leiten willst, wie ein Verwandter, ein Bruder ... Das
+habe ich dir selbst erlaubt, ich habe dich sogar darum gebeten ... Das
+ist ganz recht, ganz recht von dir. Du tust es ja nur zu meinem Besten!
+Also hab Dank, ich werde es mir merken.“
+
+Meine Geduld war zu Ende. Alles, was ich von Foma Fomitsch gehört hatte,
+war mir übertrieben erschienen. Als ich nun aber selbst alles sah und
+hörte, fand meine Verwunderung keine Grenzen. Ich glaubte mir selbst
+nicht mehr; eine solche Frechheit, eine so unverschämte Anmaßung
+einerseits, und eine so freiwillige Knechtschaft und so arglose
+Gutmütigkeit andererseits begriff ich einfach nicht. Übrigens war mein
+Onkel durch diese Dreistigkeit doch auch verwirrt. Das sah man ihm an,
+obschon er es zu verbergen suchte. Ich brannte vor Begier, mit Foma
+irgendwie aneinander zu geraten, mit ihm einen Zweikampf auszufechten,
+ihm hageldicht die Wahrheit zu sagen – aber mit Überlegenheit und
+Temperament, so daß sie ihren Ohren nicht trauen sollten – und dann möge
+kommen, was da kommen wolle! Dieser Gedanke begeisterte mich. Ich
+wartete krampfhaft auf eine Gelegenheit, und in der Erwartung verbog ich
+gänzlich den Rand meines Hutes, den ich in der Hand behalten hatte. Die
+Gelegenheit aber bot sich nicht: Foma geruhte überhaupt nicht, mich zu
+bemerken.
+
+„Es ist wahr, es ist wahr, was du sagst, Foma,“ fuhr mein Onkel fort,
+aus allen Kräften bemüht, das Unangenehme des vorhergegangenen
+Gespräches wenigstens durch irgend etwas ein wenig gutzumachen. „Du
+trittst damit für die Wahrheit ein, Foma. Ich danke dir. Zuerst muß man
+eine Sache kennen, und nur dann kann man urteilen. Ich bereue es. Aber
+ich bin ja schon mehr als einmal in eine solche Patsche geraten. Stell
+dir vor, Ssergei, ich habe einmal sogar examiniert. Ihr lacht! Nun ja!
+Bei Gott, ich habe faktisch examiniert! Das war so: man forderte mich
+einmal auf, in irgendeiner Lehranstalt einem Examen beizuwohnen, und man
+setzte mich zusammen mit den Examinatoren an den großen Tisch, nur so,
+als Ehrenbezeugung, es war dort ein überflüssiger Platz. Aber weißt du,
+ich sage dir, ich bekam ordentlich Angst, – nein wirklich: regelrechte
+Angst erfaßte mich. Wie sollte ich nicht – denk doch nur: habe doch von
+keiner einzigen Wissenschaft auch nur einen Schimmer! Was tun also? Gott
+im Himmel, denke ich, jetzt wirst du selbst auch noch an die Tafel
+gerufen werden! Nun, dann aber – ging alles gut vonstatten: ich stellte
+sogar selbst noch Fragen, fragte: Wer war Noah? Überhaupt, es wurde
+vorzüglich geantwortet. Nachher frühstückten wir noch und tranken auf
+das Gedeihen der Anstalt Champagner. Eine vortreffliche Lehranstalt
+war’s!“
+
+Foma Fomitsch und Obnoskin brachen in schallendes Gelächter aus.
+
+„Aber ich habe ja später auch gelacht!“ rief mein Onkel dazwischen,
+lachte selbst mit in seiner Gutmütigkeit und freute sich, daß er andere
+erheitert hatte. „Nein, Foma, wart, ich werde euch alle noch mehr zum
+Lachen bringen – ich werde euch erzählen, wie ich einmal hereingefallen
+bin ... Stell dir vor, Ssergei, wir standen damals in Krasnogorsk ...“
+
+„Gestatten Sie eine Frage, Oberst: Wird Ihre Geschichte lang werden?“
+unterbrach ihn Foma.
+
+„Ach, Foma! Aber das ist doch eine wundervolle Geschichte, einfach zum
+Kranklachen! Hör doch nur zu! Sie ist gut, bei Gott, sie ist gut!“
+
+„Ich höre Ihre Geschichten, wenn sie von dieser Art sind, stets mit
+Vergnügen an,“ sagte Obnoskin, indem er sich absichtlich kaum die Mühe
+gab, ein Gähnen zu verbergen.
+
+„Tja, man wird also wohl zuhören müssen,“ meinte Foma resigniert.
+
+„Aber es lohnt sich, bei Gott, Foma! Ich werde Ihnen erzählen, wie ich
+einmal hereinfiel, Anfissa Petrowna. Hör auch du zu, Ssergei: es ist
+zugleich lehrreich. Unser Regiment stand damals in Krasnogorsk,“ begann
+mein Onkel, strahlend vor Freude, schnell und eilig, mit unzähligen
+einleitenden Sätzen, wie es nun einmal seine Art war, wenn er etwas zur
+Unterhaltung seiner Gäste erzählte. „Kaum waren wir angekommen, da
+ging’s auch schon am selben Abend ins Theater. Die Primadonna, Fräulein
+Kuropatkina, war berückend schön. Später entfloh sie mit dem Rittmeister
+Swerkoff, noch bevor sie das Stück zu Ende gespielt hatte. Der Vorhang
+mußte fallen ... Das heißt, dieser Swerkoff war eine Bestie, trank und
+spielte; aber eigentlich war er doch kein Trunkenbold, sondern nur so, –
+immer bereit, mit den Kameraden gemütlich zu sein. Wenn er dann aber
+einmal ins Trinken kam, dann vergaß er alles: wo er lebte, in welchem
+Reich, wie er hieß – kurz: alles! Im Grunde aber war er ein prächtiger
+Junge ... Nun, ich sitze also im Theater. In der Pause gehe ich
+hinaus ins Foyer, und da treffe ich zufällig meinen früheren
+Regimentskameraden, Kornuchoff ... Ein prachtvoller Mensch! Wir hatten
+uns seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Nun, er war im Feuer gewesen,
+mit Kreuzen behängt – jetzt ist er, wie ich vor kurzem hörte, schon
+Wirklicher Staatsrat: er ist nämlich in den Staatsdienst übergetreten
+und wird es noch zu hohem Ansehen bringen ... Nun, versteht sich, wir
+freuten uns. Reden dies und das. Neben uns aber in der Loge sitzen drei
+Damen: die eine, die links sitzt, hat ein Gesicht, wie die Welt kein
+fürchterlicheres hervorbringen kann ... Später erfuhr ich, daß sie eine
+treffliche Dame war, Familienmutter – was will man mehr – hat den Mann
+glücklich gemacht ... Nun, und ich Dummkopf frage Kornuchoff: ‚Sag mal,
+Freund, weißt du nicht, was ist denn das da für eine Vogelscheuche?‘ –
+‚Wer?‘ – ‚Na, diese dort links!‘ – ‚Ja so ... das ist meine Cousine.‘ –
+Pfui Teufel! Man denke sich meine Situation! Ich will’s natürlich sofort
+gutmachen: – ‚Nein doch, nicht diese,‘ sage ich, ‚was du doch für Augen
+hast! Diese, die rechts sitzt: wer ist das?‘ – ‚Das ist meine
+Schwester.‘ – Verdammte Zucht! denke ich. Seine Schwester aber war, wie
+zum Trotz, eine wahre Rosenknospe, ganz allerliebst, und dazu
+angekleidet: Kettchen und Armbänder und Spitzen, – mit einem Wort, wie
+so’n Engelchen. Späterhin heiratete sie einen prächtigen jungen
+Menschen, einen gewissen Pychtin; sie war zuerst mit ihm losgezogen und
+hatte sich ungefragt trauen lassen; jetzt aber ist alles, wie es sich
+gehört, leben gut, die Eltern haben ihre Freude an ihnen ... Na also –:
+‚Nein doch!‘ sage ich unwillig, weiß aber selbst nicht, wo ich mich
+verkriechen soll, ‚nicht diese! Ich meine jene, die in der Mitte sitzt,
+– wer ist das?‘ – ‚Tja, in der Mitte – nun, Freund, das ist meine Frau
+...‘ Unter uns: ein wahrer Leckerbissen, aber kein Mensch: ihr Anblick
+allein war schon ein solches Vergnügen, daß man sie am liebsten heil
+verschluckt hätte ... – ‚Nun,‘ sage ich, ‚hast du jemals einen Dummkopf
+gesehen? Dann sieh ihn dir jetzt an; hier ist er, und sein Kopf steht
+dir gleichfalls zur Verfügung: köpfe nur zu, brauchst nichts zu
+bedauern!‘ Er lachte. Nach der Aufführung machte er mich mit seinen
+Damen bekannt, und wahrscheinlich hatte der Schlingel ihnen schon alles
+erzählt. Es wurde etwas viel gelacht! Aber ich muß sagen, ich habe noch
+nie so lustig die Zeit verbracht. Nun siehst du, Foma, wie man zuweilen
+hereinfallen kann! Ha–ha–ha–ha!“
+
+Doch vergeblich lachte mein armer Onkel, vergeblich blickten seine
+heiteren treuen Augen im Kreise umher: Schweigen war die Antwort auf
+seine „lustige“ Geschichte. Foma Fomitsch saß in finsterer Stummheit da,
+und seinem Beispiel folgten pflichtschuldig alle anderen – nur Obnoskin
+lächelte kaum merklich, da er die Philippika voraussah, die meinem armen
+Onkel bevorstand. Dieser wurde etwas verlegen und errötete. Das war es,
+was Foma gewünscht hatte.
+
+„Sind Sie nun fertig?“ fragte er endlich feierlich.
+
+„Ja, ich bin fertig, Foma.“
+
+„Und Sie freuen sich?“
+
+„Das heißt ... wieso, Foma? – wie meinst du das?“ fragte gleichsam
+schmerzlich mein Onkel.
+
+„Ist Ihnen jetzt leichter? Sind Sie jetzt zufrieden, da es Ihnen doch
+gelungen ist, die angenehme literarische Unterhaltung der Freunde zu
+stören, indem Sie sie unterbrachen und so Ihrem kleinlichen Ehrgeiz
+Genüge tun konnten?“
+
+„Aber hör doch auf, Foma! Ich wollte euch alle ja nur erheitern, du aber
+...“
+
+„Erheitern!“ schrie Foma auf, plötzlich sehr belebt. „Sie sind ja nur
+fähig, einen schwermütig zu machen, aber nicht zu erheitern! Zu
+erheitern! Begreifen Sie denn nicht, daß Ihre Erzählung fast unsittlich
+war? Ich sage nicht einmal: unanständig – das versteht sich von selbst
+... Sie erklärten soeben mit seltener Gefühlsroheit, daß Sie über eine
+Unschuldige gelacht haben, über eine geborene Aristokratin, und zwar nur
+deshalb, weil diese nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen! Und uns,
+uns wollen Sie veranlassen zu lachen, mit anderen Worten: uns wollten
+Sie verleiten, einer rohen und unanständigen Tat Beifall zu spenden, und
+das alles nur deshalb, weil Sie hier der Hausherr sind! Tun Sie, was Sie
+wollen, Oberst, Sie können sich Schmarotzer, Speichellecker und Partner
+jeder Art zusammensuchen, Sie können sie sogar aus fernen Landen
+verschreiben und auf diese Weise Ihre Suite vergrößern, zum Nachteil der
+Gesinnungstüchtigkeit und des Edelsinnes aller noch reinen Herzen.
+Niemals aber wird Foma Opiskin weder ein Schmeichler, noch ein
+Speichellecker, noch Ihr Gnadenbrotesser sein! Wenn auch sonst nichts,
+dieses aber können Sie mir glauben: dessen versichere ich Sie ...!“
+
+„Ach, Foma, du hast mich ja gar nicht verstanden, Foma!“
+
+„Nein, Oberst, ich bin schon lange hinter Ihr wahres Wesen gekommen, ich
+durchschaue Sie vollkommen. An Ihnen nagt grenzenlose Eigenliebe: Sie
+machen Ansprüche auf unübertrefflichen Witz, und Sie vergessen, daß
+Ansprüche den Geist stumpf machen – Sie ...“
+
+„Um Gottes willen, Foma, laß es doch gut sein! Schäm dich doch
+wenigstens vor den anderen ...!“
+
+„Aber es ist doch traurig, so etwas mit ansehen zu müssen, Oberst, und
+wenn man es sieht, kann man nicht schweigen. Ich bin arm, ich lebe bei
+Ihrer Frau Mutter. Da könnte man ja glauben, daß ich durch mein
+Schweigen mich bei Ihnen einschmeicheln wollte. Ich aber will nicht, daß
+mich der erste beste _Grünschnabel_ für Ihren Gnadenbrotesser hält!
+Vielleicht habe ich vorhin, als ich hier eintrat, absichtlich meine
+wahrheitsliebende Offenheit betont und unterstrichen, ich war
+_gezwungen_, sie bis zur Grobheit zu treiben, eben weil Sie selbst
+belieben, mich in eine solche Lage zu bringen. Sie gehen gar zu anmaßend
+mit mir um, Oberst. So kann man mich ja für Ihren Sklaven, Ihren
+Schmarotzer, Ihren Speichellecker halten! Es scheint Ihnen Vergnügen zu
+bereiten, mich vor _Unbekannten_ zu erniedrigen, während ich Ihnen
+gleichstehe – hören Sie? – in jeder Beziehung gleichstehe! Vielleicht
+bin sogar _ich_ es, der Ihnen damit einen Dienst erweist, daß ich bei
+Ihnen lebe ... und es ist nicht so, daß _Sie_ mir einen erweisen. Man
+erniedrigt mich, folglich muß ich mich vor Ihnen loben – das ist nur
+natürlich! Ich darf nicht schweigen, ich muß sprechen, ich muß
+unverzüglich protestieren; denn ich erkläre Ihnen offen und einfach, daß
+Sie phänomenal neidisch sind! Sie sehen, zum Beispiel, daß ein Mensch in
+einem einfachen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich sein Wissen,
+seine Belesenheit, seinen guten Geschmack bewiesen hat: und schon ärgern
+Sie sich, Sie ertragen es nicht: ‚Wart, jetzt werde auch ich schnell
+meine Kenntnisse, meinen guten Geschmack zeigen!‘ denken Sie sogleich.
+Aber was haben Sie denn für einen Geschmack, mit Erlaubnis zu fragen?
+Vom Geschmack verstehen Sie ebensoviel wie – verzeihen Sie, Oberst – wie
+zum Beispiel, sagen wir, ein Ochs von Rindfleisch! Das ist schroff und
+grob ausgedrückt – ich gebe es selbst zu ... aber es ist wenigstens
+offenherzig und gerecht. So etwas würden Sie von Ihren Schmeichlern
+nicht hören, Oberst.“
+
+„Ach, Foma ...!“
+
+„Das ist’s ja: ‚Ach, Foma!‘ Man sieht, die Wahrheit ist kein
+Daunenkissen. Nun gut. Wir werden darauf noch später zu sprechen kommen,
+jetzt aber erlauben Sie auch mir einmal, das Publikum zu erheitern. Sie
+können sich doch nicht immer nur allein auszeichnen. Pawel Ssemjonytsch!
+Haben Sie dieses Meerungeheuer in Menschengestalt schon gesehen? Ich
+beobachte ihn schon geraume Zeit. Sehen Sie ihn sich nur aufmerksam an:
+er würde mich mit Vergnügen verschlingen, lebendig, mit Haut und
+Haaren!“
+
+Er sprach von Gawrila. Der alte Diener stand an der Tür und hörte
+allerdings mit tiefem Herzeleid zu, wie seinem Herrn „der Kopf
+gewaschen“ wurde.
+
+„Auch ich will Sie mit einem Schaustück belustigen, Pawel Ssemjonytsch.
+– He, du, Krähe, komm her! Aber so geruhen Sie doch, sich
+hierherzubemühen, Gawrila Ignatjitsch! Das ist, wie Sie sehen, Gawrila,
+der zur Strafe für seine Grobheit Französisch lernt. Ich mildere wie
+Orpheus die hiesigen Sitten, nur tue ich es nicht mit Liedern, sondern
+mittels der französischen Sprache. Nun, mein Franzose, mßjö Schematon –
+er kann es nicht leiden, wenn man mßö Schematon zu ihm sagt – hast du
+deine Aufgabe gelernt?“
+
+„Habe sie gelernt,“ antwortete Gawrila mit gesenktem Kopf.
+
+„Nun, parleh-wu-franßeh?“
+
+„Wui mßö, shö-lö-parl-ön-pö ...“
+
+Ich weiß nicht, war die traurige Miene Gawrilas beim Aussprechen der
+französischen Phrase die Ursache, oder hatten alle den Wunsch Fomas
+erraten – jedenfalls ertönte eine schallende Lachsalve, kaum daß Gawrila
+den Mund aufgetan hatte. Sogar die Generalin geruhte zu lachen. Anfissa
+Petrowna Obnoskina warf sich an die Sofalehne zurück und wieherte
+geradezu, das Gesicht mit dem Fächer bedeckt. Gawrila aber, als er sah,
+welche Wendung das Examen nahm, riß die Geduld, er spie plötzlich aus
+und sagte:
+
+„Daß ich in meinen alten Jahren eine solche Schande erleben muß!“
+
+Foma Fomitsch fuhr auf:
+
+„Was? Was hast du gesagt? Du läßt es dir einfallen, frech zu werden?“
+
+„Nein, Foma Fomitsch,“ antwortete Gawrila ernst, „meine Worte sind keine
+Frechheit, und mir, dem Leibeigenen, steht es nicht zu, gegen Euch, der
+Ihr als Freier geboren seid, unehrerbietig zu sein. Aber jeder Mensch
+trägt Gottes Geist in sich und ist sein Ebenbild. Ich stehe im
+dreiundsechzigsten Lebensjahr. Mein Vater erinnert sich noch
+Pugatschoffs[2], und mein Großvater ist mit Matwei Nikititsch – Gott hab
+ihn selig! – also zusammen mit seinem gnädigen Herrn von Pugatschoff an
+ein und demselben Galgen erhängt worden, wofür mein Vater vom seligen
+Herrn Afanassij Matwejitsch mehr als alle anderen ausgezeichnet wurde:
+er diente als Kammerdiener und starb als freier Hofbauer. Ich aber,
+Herr, bin wohl nur ein herrschaftlicher Leibeigener, aber eine solche
+Schande, wie jetzt, habe ich bis heute noch nicht erlebt!“
+
+Bei den letzten Worten führte Gawrila seine herabhängenden Hände
+auseinander und senkte den Kopf. Mein Onkel sah ihn unruhig an.
+
+„Schon gut, schon gut, Gawrila!“ rief er ihm zu, „wozu so viel reden!
+Schon gut!“
+
+„Tut nichts, tut nichts,“ sagte Foma, der ein wenig erbleicht war und
+sich zu einem Lächeln zwang. „Mag er nur reden: das sind ja doch nur
+Ihre Früchte ...“
+
+„Ich werde jetzt einmal alles sagen,“ fuhr Gawrila fort, in den
+plötzlich irgendein Geist gefahren zu sein schien, – „alles sagen und
+nichts beschönigen! Und wenn man mir auch die Hände binden wird – meine
+Zunge kann man mir doch nicht binden. Ich weiß, Foma Fomitsch, daß ich
+vor Euch nur ein niedriger Mensch bin, ein Knecht, aber auch ich hab
+mein Ehrgefühl! Zu Dienstbarkeit bin ich Euch für alle Zeit
+verpflichtet, da ich als Unfreier geboren bin und jede Pflicht in Furcht
+gewissenhaft erfüllen muß. Wenn Ihr Euch einschließt, um ein Buch zu
+schreiben, so ist es meine Pflicht, daß ich Wache stehe und keinen zu
+Euch lasse, weil Ihr mir das so angesagt und befohlen habt. Und wenn Ihr
+Bedienung verlangt – ich tue alles gern. Nicht aber, daß ich in meinen
+alten Tagen noch wie ein Ausländer bellen und vor den Menschen mir
+solche Schmach und Schande antun lassen muß! Wage ich es doch jetzt
+nicht mehr, in die Gesindestube zu gehen: ein Franzose bist du, sagen
+sie mir alle, guten Tag, Herr Franzose! Nein, Foma Fomitsch, nicht ich
+Dummkopf allein, sondern alle guten Leute sagen dasselbe: daß Ihr jetzt
+wahrhaftig ein böser Mensch geworden seid, und daß unser Herr so gut wie
+ein kleines Kind zu Euch sind, und daß Ihr, wenn Ihr auch von Geburt so
+viel wie ein Generalssohn seid und es vielleicht selbst nicht viel
+weniger weit als bis zum General gebracht habt, so doch ebendasselbe
+seid, was man eine Furie nennt.“
+
+Gawrila hatte zu Ende geredet. Ich war außer mir vor Entzücken. Foma
+Fomitsch saß bleich und vor Wut regungslos da, inmitten der allgemeinen
+Bestürzung, und schien nach diesem unerwarteten Angriff noch nicht zur
+Besinnung kommen zu können. Es war, als überlegte er, in welchem Maße er
+sich ärgern sollte, bis zu welchem Grade es richtig wäre, sich zu
+ärgern. Endlich erfolgte der erste Aufschrei.
+
+„Wie!“ kreischte er auf. „Er hat es gewagt, mich zu beschimpfen! – mich!
+Aber das ist doch Rebellion!“ schrie Foma, vom Stuhl emporschnellend,
+mit der Stimme eines alten Weibes.
+
+Seinem Beispiel folgte sogleich die Generalin: sie schlug sogar die
+Hände zusammen. Mein Onkel bemühte sich, den verbrecherischen Gawrila
+aus dem Gesichtskreise zu schaffen.
+
+„Fesselt ihn, fesselt ihn! Legt ihn in Ketten!“ schrie die Generalin.
+„Laß ihn sofort in die Stadt bringen und gib ihn unter die Soldaten,
+Jegoruschka! Sonst versage ich dir meinen Muttersegen! Laß ihm sofort
+Fußfesseln anlegen – und dann unter die Soldaten!“
+
+„Wie!“ schrie Foma, „dieser Knecht! dieser Chaldäer! dieser Hamlet! Er
+hat sich unterstanden, mich zu beschimpfen! Er, er, mein
+Schuhputzlappen! Er hat es gewagt, mich eine Furie zu nennen!“
+
+Da trat ich plötzlich entschlossen vor.
+
+„Ich muß gestehen, in diesem Fall bin ich vollkommen derselben Meinung
+wie Gawrila,“ sagte ich, zitternd vor Aufregung, und blickte Foma offen
+in die Augen.
+
+Dieses Auftreten meinerseits machte ihn so bestürzt, daß er im ersten
+Augenblick, glaube ich, seinen Ohren nicht traute.
+
+„Was soll denn das bedeuten!“ brachte er endlich hervor, stürzte wie
+rasend ein paar Schritte vor und durchbohrte mich gerader mit seinen
+kleinen, blutunterlaufenen Augen. „Was bist du denn für einer?!“
+
+„Foma Fomitsch ...“ wollte mein Onkel, der selbst nicht wußte, wo sein
+Kopf stand, einlenken, „Foma Fomitsch, das ist Sserjosha, mein Neffe
+...“
+
+„Der Gelehrte!“ brüllte Foma auf, „das ist also jener _Gelehrte_!
+Liberté – Egalité – Fraternité! Journal des Débats! Nein, du lügst! Hier
+ist nicht Petersburg, hier kannst du nicht betrügen! Hol der Teufel
+deine Débats! Bei dir heißt es Débats, bei uns aber Kabbala! Gelehrter!
+Ich habe siebenmal mehr vergessen, als du überhaupt weißt! Was weißt du
+denn überhaupt?“ ...
+
+Wenn man ihn nicht gehalten hätte, so würde er sich wahrscheinlich mit
+den Fäusten auf mich gestürzt haben.
+
+„Aber er ist ja betrunken!“ sagte ich, mich im Kreise umblickend.
+
+„Wer? _Ich?!_“ schrie Foma mit einer noch nie gehörten Stimme.
+
+„Ja, Sie!“
+
+„Betrunken?“
+
+„Gewiß: betrunken!“
+
+Das war zu viel für ihn. Er stieß einen Schrei aus, als wenn er
+aufgespießt worden wäre, und stürzte aus dem Zimmer. Die Generalin
+wollte, wie es schien, in Ohnmacht fallen, sagte sich aber, daß es
+besser wäre, Foma Fomitsch nachzueilen. Ihr folgten alle anderen, – und
+allen anderen folgte auch mein Onkel. Als ich wieder zu mir kam und mich
+umsah, fand ich im Zimmer außer mir nur noch Jeshowikin. Er lächelte und
+rieb sich die Hände.
+
+„Von den Jesuiten versprachen Sie mir zu erzählen,“ sagte er mit
+einschmeichelnder Stimme.
+
+„Was?“ fragte ich, da ich nicht begriff, wovon er sprach.
+
+„Von den Jesuiten versprachen Sie vorhin zu erzählen ... eine Anekdote
+...“
+
+Ich ließ ihn stehen und eilte hinaus auf die Terrasse und von dort in
+den Garten. In meinem Kopf drehte sich alles durcheinander ...
+
+
+
+
+ VIII.
+
+ Die Liebeserklärung.
+
+
+Wohl über eine Viertelstunde irrte ich, aufgebracht und äußerst
+unzufrieden mit mir, im Garten umher. Was sollte ich tun? Die Sonne
+stand schon tief im Westen ... Ich bog in eine dunkle Allee ein – und
+plötzlich stand Nastenjka vor mir. In ihren Augen blitzten Tränen. In
+der Hand zusammengeballt hielt sie ein Taschentuch.
+
+„Ich habe Sie gesucht,“ sagte sie.
+
+„Und ich Sie,“ antwortete ich. „Sagen Sie, ich bitte Sie: bin ich hier
+in einer Irrenanstalt?“
+
+„Durchaus nicht!“ war die Antwort. Sie schien gekränkt zu sein und sah
+mich streng an.
+
+„Aber wenn es nicht der Fall ist, warum geschieht dann das alles? Geben
+Sie mir doch um Gottes willen eine Erklärung, einen Rat! Wohin ist mein
+Onkel jetzt gegangen? Kann ich nicht zu ihm gehen? Es freut mich sehr,
+daß ich Sie getroffen habe, vielleicht werden Sie mich wenigstens über
+einiges aufklären.“
+
+„Nein, gehen Sie jetzt nicht hin. Ich bin selbst fortgegangen ...“
+
+„Aber wo sind sie denn jetzt alle?“
+
+„Weiß ich es!? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten gelaufen,“
+sagte sie gereizt.
+
+„In welch einen Gemüsegarten?“
+
+„In der vergangenen Woche schrie Foma Fomitsch, daß er nicht mehr in
+diesem Hause bleiben wolle, und plötzlich lief er in den Gemüsegarten,
+fand im Schuppen glücklich einen Spaten und begann Beete zu graben. Wir
+wunderten uns alle und glaubten schon, daß er verrückt geworden sei.
+‚Ich werde Erde schaufeln,‘ sagte er, ‚damit man mir später nicht
+vorwerfen kann, daß ich umsonst hier gelebt und gegessen habe. Wenn ich
+aber das gegessene Brot mit meiner Hände Arbeit bezahlt haben werde,
+dann werde ich mich aufmachen und fortgehen. So weit hat man mich
+gebracht!‘ Da aber weinten alle, und viel fehlte nicht, so wären sie vor
+ihm niedergekniet. Den Spaten wollten sie ihm mit Gewalt fortnehmen. Er
+aber grub und grub drauflos. Alle Rüben hat er umgegraben. Ist man ihm
+damals so begegnet, so wird er, denke ich, jetzt vielleicht dasselbe
+tun. Von ihm ist alles zu erwarten.“
+
+„Und Sie ... Sie erzählen das so kaltblütig!“ rief ich in heftigem
+Unwillen aus.
+
+Da sah sie mich mit aufblitzenden Augen von der Seite an.
+
+„Verzeihen Sie mir: ich weiß eigentlich gar nicht mehr, was ich rede!
+... Wissen Sie, weshalb ich hergekommen bin?“
+
+„N–ein,“ antwortete sie errötend, und ein gewisses peinliches Gefühl
+spiegelte sich auf ihrem lieblichen Gesicht wider.
+
+„Verzeihen Sie mir;“ fuhr ich fort, „ich bin jetzt ganz aus dem Konzept
+gebracht, und ich fühle, daß ich nicht in dieser Weise hätte anfangen
+sollen, davon zu sprechen ... namentlich mit Ihnen nicht ... Aber,
+gleichviel! Ich glaube, Offenheit ist in solchen Dingen immer das beste.
+Ich gestehe ... das heißt, ich wollte sagen ... Sie kennen doch die
+Absicht meines Onkels? Er wünscht, daß ich um Ihre Hand anhalte ...“
+
+„Ach, welch ein Unsinn! Sprechen Sie nicht davon, ich bitte Sie!“
+unterbrach sie mich heftig, während sie heiß errötete.
+
+Ich war baff.
+
+„Wieso: – Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!“
+
+„Hat er es Ihnen wirklich so ohne weiteres geschrieben?“ fragte sie
+lebhaft. „Ach, er ist doch! ... Wie hat er mir dann versprechen können,
+daß er es _nicht_ schreiben werde! ... Welch ein Unsinn! Gott, welch ein
+Unsinn!“
+
+„Verzeihen Sie,“ stotterte ich, da ich nicht wußte, was ich sagen
+sollte. „Vielleicht war es unvorsichtig von mir, vielleicht sogar roh
+... Aber wer kann denn hier, nach diesen Erlebnissen ... Denken Sie doch
+nur, von ... weiß Gott was für Menschen und Plänen wir umringt sind ...“
+
+„Ach, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich doch nicht! Glauben Sie
+mir, daß es mir ohnehin schwer ist, davon reden zu hören; aber ich habe
+Sie gesucht, um von Ihnen etwas zu erfahren ... Ach, wie ärgerlich! So
+hat er es Ihnen also wirklich geschrieben? Das fürchtete ich ja am
+meisten! Mein Gott, was ist denn das für ein Mann! ... Und Sie glaubten
+natürlich sofort alles und kamen stehenden Fußes hergefahren? Das war
+gerade noch nötig!“
+
+Sie verbarg ihren Ärger nicht im geringsten. Meine Lage war nichts
+weniger als beneidenswert.
+
+„Offen gestanden, ich hatte nicht erwartet ...“ brachte ich in größter
+Verwirrung hervor. „Eine solche Wendung ... ich glaubte, im Gegenteil
+...“
+
+„Ah, also Sie glaubten?“ fragte sie mit leichter Ironie und biß sich die
+Lippe. „Wissen Sie – zeigen Sie mir den Brief, den er an Sie geschrieben
+hat?“
+
+„Wie Sie wünschen.“
+
+„Aber bitte seien Sie mir nicht böse, nehmen Sie es mir nicht übel! Es
+gibt ja auch ohnehin schon Leid genug!“ fuhr sie mit bittender Stimme
+fort, doch erschien schon wieder ein spöttisches Lächeln flüchtig auf
+ihren reizenden Lippen.
+
+„Ach, halten Sie mich bitte nicht für so dumm!“ rief ich
+leidenschaftlich aus. „Sie sind vielleicht voreingenommen gegen mich?
+Vielleicht hat Ihnen jemand Schlechtes von mir erzählt? – Oder
+vielleicht – weil ich dort heute so schlecht abgeschnitten habe? Aber
+das ist ja nichts, – ich versichere Sie! Ich begreife sehr gut, für wie
+dumm Sie mich jetzt halten müssen. Aber lachen Sie, bitte, nicht über
+mich! Ich weiß nicht, was ich rede ... Aber das kommt ja alles nur
+daher, daß ich in diesem verwünschten Alter von zweiundzwanzig Jahren
+stehe!“
+
+„Oh, mein Gott, was hat das damit zu tun?“
+
+„Wie, was das damit zu tun hat? Aber wer zweiundzwanzig Jahre alt ist,
+dem steht ja die Jugend noch auf der Stirn geschrieben! Zum Beispiel wie
+mir, als ich vorhin so wider Willen in die Mitte des Zimmers flog, oder
+wie jetzt ... hier vor Ihnen ... Oh, dieses verwünschte Alter!“
+
+„Oh, nein, nein!“ beteuerte Nastenjka, die sich kaum das Lachen
+verbeißen konnte. „Ich bin überzeugt, daß Sie ein guter, lieber und
+kluger Mensch sind. – Sie können mir glauben, daß ich es aufrichtig
+meine! Aber ... Sie sind nur sehr ... ehrgeizig, sehr ... eigenliebig.
+Doch das kann man sich ja noch abgewöhnen.“
+
+„Ich glaube, daß ich nicht ehrgeiziger als nötig bin!“
+
+„N ... das doch wohl nicht. Was war es denn vorhin, als Sie so verlegen
+wurden – und weshalb? Weil Sie beim Eintritt gestolpert waren! ...
+Welches Recht hatten Sie da, Ihren guten Onkel, der so viel für Sie
+getan hat, lächerlich zu machen? Warum wollten Sie das Lächerliche auf
+ihn abwälzen, während Sie selbst lächerlich waren? Das war schlecht, das
+war häßlich von Ihnen! Das machte Ihnen wahrlich keine Ehre und – ich
+sage es Ihnen ganz offen – Sie waren mir in jenem Augenblick sehr
+unsympathisch – jawohl, damit Sie’s wissen!“
+
+„Sie haben recht! Ich war ein großer Esel! Sogar mehr als das: ich
+beging einfach eine Gemeinheit! Meine Strafe dafür ist – daß Sie es
+bemerkt haben! Schelten Sie mich, lachen Sie über mich, aber hören Sie
+mich an: vielleicht werden Sie Ihre Meinung von mir doch einmal ändern,“
+fuhr ich fort, beherrscht von einem ganz eigenartigen Gefühl; „Sie
+kennen mich noch so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich näher kennen
+gelernt haben werden, vielleicht ...“
+
+„Um Gottes willen, lassen wir dieses Gespräch!“ unterbrach mich
+Nastenjka mit sichtlicher Ungeduld.
+
+„Gut, gut, lassen wir es! Aber ... wo kann ich Sie wiedersehen?“
+
+„Wie das – wo wiedersehen?“
+
+„Aber es kann doch nicht sein, daß wir jetzt hier das letzte Wort
+miteinander gesprochen haben sollen, Nastassja Jewgrafowna! Ich flehe
+Sie an, mir zu sagen, wo und wann ich Sie wiedersehen kann, wenn möglich
+heute noch! Übrigens nein, es dunkelt ja schon. Nun, dann also, wenn es
+irgend geht, morgen früh, so früh wie möglich ... Ich werde mich früher
+wecken lassen. Wissen Sie, dort am Weiher ist eine Laube. Ich entsinne
+mich ihrer noch sehr gut und ich werde auch schon den Weg dorthin
+finden. Ich habe ja als kleiner Junge hier gelebt.“
+
+„Aber wozu dieses Rendezvous? Wir sprechen doch schon miteinander!“
+
+„Aber ich weiß ja vorläufig noch nichts, Nastassja Jewgrafowna! Ich muß
+vorher noch mit meinem Onkel reden. Er muß mir doch endlich alles
+erzählen, und dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges sagen
+...“
+
+„Nein, nein! Das ist nicht nötig, gar nicht nötig!“ rief Nastenjka aus.
+„Lassen Sie es uns jetzt zu einem Ende bringen, aber so, daß wir später
+kein Wort mehr darüber zu verlieren brauchen. In jene Laube aber bemühen
+Sie sich nicht. Ich versichere Sie, daß ich nicht kommen werde. Bitte,
+schlagen Sie sich doch diesen ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie
+allen Ernstes darum ...“
+
+„Dann ist ja mein Onkel verrückt gewesen, als er jenen Brief schrieb!“
+rief ich in unerträglichem Ärger aus. „Warum hat er mich denn
+hergerufen? Doch – Hören Sie? – Was ist das für ein Geschrei?“
+
+Wir waren nicht weit vom Hause stehen geblieben. Aus den offenen
+Fenstern drangen Gekreisch und ganz absonderliche Schreie in den Garten.
+
+„Mein Gott!“ sagte sie erbleichend, „schon wieder! Ich ahnte es ja!“
+
+„Sie ahnten es? Gestatten Sie mir noch eine Frage, Nastassja
+Jewgrafowna? Ich habe allerdings nicht das geringste Recht, sie zu
+stellen, aber des allgemeinen Wohles wegen entschließe ich mich dazu.
+Sagen Sie – es soll in mir begraben sein – sagen Sie mir ganz offen: ist
+mein Onkel in Sie verliebt?“
+
+„Ach glauben Sie doch, bitte, nicht an solchen Unsinn!“ rief sie heftig
+aus und errötete vor Unwillen. „Nun fangen auch Sie damit an! Wenn er
+mich lieben würde, so hätte er mich doch nicht Ihnen angeboten,“ fügte
+sie mit bitterem Lächeln hinzu. „Und wie kommen Sie überhaupt darauf?
+Begreifen Sie denn wirklich nicht, um was es sich hier handelt? Hören
+Sie dieses Geschrei?“
+
+„Aber ... das ist ja Foma Fomitsch ...“
+
+„Natürlich Foma Fomitsch! Jetzt streiten sie sich dort um meinetwillen;
+denn sie sagen ja dasselbe, was Sie soeben sagten, denselben Unsinn: sie
+argwöhnen, daß er in mich verliebt sei! Und da ich arm und gering bin,
+und es folglich nichts kostet, mich mit Schmutz zu bewerfen, so wollen
+sie ihn mit einer anderen verheiraten – und daher verlangen sie, daß er
+mich zur Sicherheit nach Haus, zu meinem Vater schicke. Wenn man ihm
+aber damit kommt, so gerät er sofort außer sich – ich glaube, er wäre
+sogar fähig, Foma Fomitsch zu zerreißen. Und nun streiten sie sich
+wieder darum! Ich fühle es, daß es sich wieder um mich handelt.“
+
+„So ist also alles wahr? Dann wird er diese Tatjana heiraten?“
+
+„Was für eine Tatjana?“
+
+„Nun, dieses verrückte Frauenzimmer.“
+
+„Ich bitte Sie, Tatjana Iwanowna ist durchaus nicht verrückt! Sie ist
+ein sehr guter Mensch. Und Sie haben kein Recht, so von ihr zu sprechen!
+Sie hat ein edles Herz, ein edleres, als es manch einer hat. Sie ist
+nicht schuld daran, daß sie unglücklich ist.“
+
+„Verzeihen Sie. Nehmen wir an, daß Sie hierin vollkommen recht haben;
+aber täuschen Sie sich dann nicht in der Hauptsache? Wie kommt es denn,
+sagen Sie doch, – daß zum Beispiel Ihr Herr Vater, wie ich bemerkt habe,
+so freundlich von ihnen empfangen wird! Denn – wenn sie sich wirklich
+dermaßen über Sie ärgerten, wie Sie versichern, und wenn man Sie sogar
+aus dem Hause schicken wollte, dann würde man sich doch auch über ihn
+ärgern und ihn schlecht empfangen.“
+
+„Aber haben Sie denn nicht gesehen, was mein Vater für mich tut? Er
+erniedrigt sich doch bis zum Narren vor ihnen! Er wird nur deshalb
+empfangen, weil er Foma Fomitsch schmeichelt; da dieser Foma Fomitsch
+selbst eine Narrenrolle gespielt hat, so freut es ihn, wenn nun auch er
+seine Narren hat. Was glauben Sie denn, warum mein Vater es tut? – Nur
+um meinetwillen, einzig und allein für mich tut er es! Er hat es nicht
+nötig, seinetwegen wird er keinem einen unnützen Bückling machen.
+Vielleicht erscheint er manchem sehr lächerlich; ich weiß aber, daß er
+der ehrenhafteste und edelste Mensch ist. Er glaubt, weiß Gott aus
+welchem Grunde – jedenfalls aber nicht deshalb, weil ich hier ein gutes
+Gehalt bekomme – das schwöre ich Ihnen ...! er glaubt, daß es für mich
+besser sei, wenn ich in diesem Hause bleibe. Aber jetzt habe ich ihn vom
+Gegenteil überzeugt. Ich hatte ihm in sehr bestimmtem Ton geschrieben;
+und deshalb ist er heute hergekommen, um mich mitzunehmen. Und wenn es
+darauf ankommt, so fahre ich morgen fort. Ich bin ja doch schon zum
+Äußersten getrieben. Die da – die würden froh sein, wenn sie mich
+verschlingen könnten. Ich weiß, daß ich die Ursache ihres Streites bin.
+Sie zermalmen _ihn_ nur deswegen, und nur weil ich hier bin, werden sie
+_ihn_ unglücklich machen! _Er_ aber ist mir ein zweiter Vater, hören
+Sie! – sogar mehr als mein leiblicher Vater! Ich will es nicht so weit
+kommen lassen. Ich sehe weiter voraus als andere; denn ich weiß mehr.
+Nein, morgen, morgen noch werde ich fortfahren! Vielleicht werden sie
+dann wenigstens seine Hochzeit mit Tatjana Iwanowna auf einige Zeit noch
+hinausschieben ... Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt. Und nun sagen Sie
+ihm das wieder; denn ich kann jetzt nicht mehr mit ihm sprechen: wir
+werden beobachtet ... von der Perepelizyna. Sagen Sie _ihm_, daß er sich
+nicht beunruhigen soll, daß ich lieber schwarzes Brot essen und in der
+Hütte meines Vaters leben, als die Ursache _seiner_ Folter sein will.
+Ich bin arm und folglich muß ich auch so leben wie Arme. Aber, Gott,
+welch ein Geschrei! Was mag dort wieder vor sich gehen? ... Nein, was
+daraus auch entstehen mag, ich gehe hin! Ich werde ihnen alles offen ins
+Gesicht sagen, gleichviel, was dann geschieht! Ich muß es tun! Leben Sie
+wohl.“
+
+Sie lief fort. Ich stand immer noch auf demselben Fleck, war mir
+vollkommen der Lächerlichkeit der Rolle, die ich soeben gespielt hatte,
+bewußt und konnte mir nicht denken, wie sich der Knoten lösen sollte.
+Das arme Mädchen tat mir aufrichtig leid, und ich fürchtete für meinen
+Onkel. Da bemerkte ich plötzlich, daß Gawrila vor mir stand. Er hielt
+immer noch sein Vokabelheft in der Hand.
+
+„Jegor Iljitsch lassen bitten,“ sagte er mit wehmütiger Stimme.
+
+Da kam ich wieder zur Besinnung.
+
+„Wie – ich soll zu meinem Onkel? Wo ist er jetzt? Was ist mit ihm
+geschehen? Wo ist er?“
+
+„Im Teezimmer.“
+
+„Und wer ist bei ihm?“
+
+„Sie sind allein und warten.“
+
+„Auf wen? Auf mich?“
+
+„Sie haben nach Foma Fomitsch geschickt ... Ach ja! unsere guten Tage
+sind jetzt gewesen!“ fügte er tief aufseufzend hinzu.
+
+„Nach Foma Fomitsch? Hm! Aber wo sind die anderen? Wo ist die Gnädige?“
+
+„Sie sind in ihrer Hälfte. Sie geruhten, in Ohnmacht zu fallen, und
+jetzt liegen sie bewußtlos da und weinen.“
+
+Inzwischen hatten wir die Terrasse erreicht. Es war fast schon ganz
+dunkel. Mein Onkel war tatsächlich ganz allein im Teesalon und ging in
+ihm mit großen Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten Lichter. Als
+er mich erblickte, eilte er mir entgegen und erfaßte meine Hände. Er war
+bleich und atmete schwer. Seine Hände bebten. Von Zeit zu Zeit lief ein
+nervöses Zucken über seinen ganzen Körper.
+
+
+
+
+ IX.
+
+ „Ew. Exzellenz.“
+
+
+„Mein Freund! Alles ist zu Ende, alles ist zu Ende!“ sagte mein Onkel
+halblaut mit einer fast tragischen Stimme.
+
+„Onkel ... ich hörte vorhin eigentümliche Schreie.“
+
+„Gewiß, Freund, eigentümliche Schreie, – hier hat es alle möglichen
+Schreie gegeben! Mama ist in Ohnmacht gefallen, und dort steht jetzt
+alles auf dem Kopf. Aber ich habe mich entschlossen und bestehe auf dem
+meinen. Jetzt fürchte ich nichts mehr, Ssergei. Ich will ihnen beweisen,
+daß auch ich Charakter habe, und ich werde es beweisen! Darum habe ich
+absichtlich nach dir geschickt, damit du mir hilfst, es ihnen zu
+beweisen ... Mein Herz ist wund, mein junger Freund ... aber ich muß! Es
+ist geradezu meine Pflicht, mit aller Strenge vorzugehen! Gerechtigkeit
+ist unerbittlich!“
+
+„Aber was ist denn vorgefallen, Onkel?“
+
+„Ich trenne mich von Foma,“ antwortete mein Onkel mit entschlossener
+Stimme.
+
+„Onkel!“ rief ich begeistert aus, „auf etwas Besseres hätten Sie ja
+überhaupt nicht verfallen können! Und wenn ich nur irgendwie zur
+Ausführung Ihres Entschlusses beitragen kann, so ... verfügen Sie ewig
+über mich!“
+
+„Ich danke dir, Freund, ich danke dir! Aber jetzt ist alles beschlossen.
+Ich erwarte Foma. Ich habe schon nach ihm geschickt. Entweder er oder
+ich! Wir müssen auseinandergehen. Entweder verläßt Foma morgen das Haus,
+oder – ich schwöre es – ich verlasse hier alles und trete wieder in mein
+Husarenregiment ein! Mich wird man schon nehmen. Man wird mir schon
+einen Platz geben! Zum Teufel mit diesem ganzen System! Jetzt geht es
+nach neuen Grundsätzen! ... Wozu hältst du da noch immer dein
+französisches Heft in der Hand?“ schrie er plötzlich heftig den alten
+Gawrila an. „Fort damit! Verbrenn es, zerstampf es, zerreiß es! _Ich_
+bin dein Herr, und _ich_ befehle dir, französisch nicht zu lernen! _Mir_
+mußt du gehorchen; denn _ich_ bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!“
+
+„Gott sei gelobt und gedankt!“ murmelte Gawrila vor sich hin.
+
+Die Sache schien wirklich ernst zu werden.
+
+„Mein Freund!“ fuhr mein Onkel mit tiefem Gefühl fort, „sie verlangen
+Unmögliches von mir! Du sollst mich richten, du sollst jetzt zwischen
+ihnen und mir wie ein unparteiischer Richter stehen ... Du weißt nicht,
+du weißt nicht, was sie von mir wollten, und was sie schließlich ganz
+ausdrücklich bereits von mir verlangten! Jetzt haben sie alles offen
+ausgesprochen! Aber das ist wider die Nächstenliebe, wider Anstand und
+Ehre ... Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst ...“
+
+„Ich weiß bereits alles, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „oder ich errate es
+wenigstens ... Ich habe soeben mit Nastassja Jewgrafowna gesprochen.“
+
+„Freund, kein Wort, jetzt kein Wort davon!“ unterbrach er mich eilig,
+als hätte ich ihn erschreckt. „Ich werde dir später alles selbst
+erzählen, aber vorläufig ... Nun was?“ rief er den eingetretenen
+Widopljässoff an, „wo ist Foma Fomitsch?“
+
+Widopljässoff meldete, daß Foma Fomitsch „nicht zu kommen wünschten und
+die Forderung, zu erscheinen, unerhört beleidigend fänden, so daß sie,
+Foma Fomitsch, sich sehr gekränkt zu fühlen geruhten“.
+
+„Bring ihn her! Schlepp ihn an! Her mit ihm! Mit Gewalt schleif ihn
+her!“ schrie mein Onkel, und er stampfte mit dem Fuß auf.
+
+Widopljässoff, der seinen Herrn noch nie in einem solchen Zorn gesehen
+hatte, zog sich erschreckt zurück. Ich wunderte mich.
+
+„Dann muß es sich doch um etwas sehr Wichtiges handeln,“ dachte ich,
+„wenn ein Mensch mit einem so weichen Charakter in eine solche Wut
+geraten kann und so energisch seinen Entschluß durchsetzen will.“
+
+Schweigend ging mein Onkel eine Weile auf und ab, als kämpfe er
+innerlich mit sich selbst.
+
+„Du, zerreiß übrigens nicht das Heft,“ sagte er schließlich zu Gawrila.
+„Wart noch etwas und bleibe auch hier: du wirst vielleicht nötig sein.
+Freund!“ fuhr er fort, sich wieder an mich wendend, „ich bin, glaube
+ich, doch etwas zu laut gewesen. Jede Sache muß man würdig und männlich
+tun, und ohne zu schreien, ohne Beleidigungen. Ja, so muß man’s tun.
+Weißt du, Ssergei: würde es nicht besser sein, wenn du so lange
+fortgingst? Dir kann es doch gleichgültig sein, nicht? – denn ich werde
+dir später ja doch alles erzählen – was? Was meinst du? tu es mir
+zuliebe, bitte!“
+
+„Sie fürchten sich, Onkel? Sie bereuen es?“ fragte ich und sah ihn
+aufmerksam an.
+
+„Nein, nein, mein Freund, ich bereue nichts!“ rief er mit doppelter
+Lebhaftigkeit aus. „Jetzt fürchte ich nichts mehr. Ich habe
+entscheidende Maßregeln getroffen, die entscheidendsten! Du weißt nicht,
+du kannst es dir nicht vorstellen, was sie von mir verlangt haben! Hätte
+ich denn wirklich einwilligen sollen? Nein, ich werde es beweisen! Ich
+habe mich frei gemacht und werde es beweisen! Irgendeinmal hätte ich es
+doch beweisen müssen! Aber, weißt du, Freund, ich bereue es, daß ich
+dich habe rufen lassen: es könnte Foma sehr schwer werden ... wenn auch
+du zugegen bist ... sozusagen als Zeuge seiner Erniedrigung. Sieh mal,
+ich will ihm in einer anständigen Form meine Gastfreundschaft kündigen,
+aber ohne jede Beleidigung oder Erniedrigung. Aber, sieh, das kann ich
+doch nur so sagen, bloß sagen, daß ich es ohne Beleidigung tun will;
+denn die Sache an sich, Freund, ist und bleibt doch derart, daß sie,
+auch wenn du sie mit noch so honigsüßen Worten ausschmückst, immerhin
+kränkt. Und dazu bin ich noch ein roher, ungebildeter Mensch; da kann es
+denn geschehen, daß ich aus Dummheit irgend etwas sage, worüber ich mein
+Lebtag nicht wieder froh sein werde. Er hat doch immerhin viel für mich
+getan ... Geh, Freund, bitte! ... Da kommt er schon, da bringt man ihn
+schon! Ssergei, ich bitte dich, geh fort! Ich werde dir später alles
+erzählen. Geh, um Christi willen, geh!“
+
+Und mein Onkel schob mich auf die Terrasse hinaus – fast im selben
+Augenblick, als Foma ins Zimmer trat.
+
+Doch nun muß ich eines gestehen: Ich ging nicht fort: ich beschloß, auf
+der Terrasse zu bleiben, wo man mich in der Dunkelheit, vom Zimmer aus,
+kaum sehen konnte: ich nahm mir vor, zu lauschen!
+
+Ich will meine Handlungsweise nicht weiter zu rechtfertigen suchen; aber
+ich darf wohl sagen, daß ich, indem ich diese halbe Stunde dort auf der
+Terrasse aushielt, ohne die Geduld zu verlieren und ins Zimmer zu
+stürzen – die Heldentat eines Märtyrers vollbrachte. Von meinem Versteck
+aus konnte ich nicht nur gut hören, ich konnte auch das ganze Zimmer
+übersehen: ich war ja nur durch eine Glastür von ihnen getrennt.
+
+Jetzt bitte ich nur, sich einen Foma Fomitsch vorzustellen, dem
+_befohlen_ worden war, zu erscheinen – und das noch mit der Androhung
+sofortiger Gewaltanwendung, falls er nicht freiwillig kommen wollte.
+
+„War es für meine Ohren bestimmt, diese Drohung zu vernehmen, Oberst?“
+brüllte Foma, als er ins Zimmer trat. „Habe ich recht gehört?“
+
+„Für deine, für deine Ohren, Foma, beruhige dich,“ antwortete mein Onkel
+mutig. „Setz dich, laß uns einmal ernst, freundschaftlich, brüderlich
+miteinander reden. Setz dich doch, Foma.“
+
+Foma Fomitsch ließ sich feierlich auf einen Lehnstuhl nieder. Mein Onkel
+ging mit schnellen, ungleichen Schritten im Zimmer auf und ab, offenbar
+wußte er nicht, wie er anfangen sollte.
+
+„Eben brüderlich,“ wiederholte er. „Du wirst mich verstehen, Foma, du
+bist kein Kind. Ich bin auch kein Kind – mit einem Wort, wir sind beide
+in den Jahren ... Hm! Sieh, Foma, wir stimmen in manchen Punkten nicht
+ganz überein ... ja, eben in manchen Punkten, und darum, Foma – sollte
+es da nicht besser sein, Freund, wenn wir auseinandergingen? Ich bin
+überzeugt, daß du edelmütig bist, daß du mein Bestes willst, und darum
+... Aber wozu soviel Worte! Foma, ich werde ewig dein Freund sein, ich
+schwöre es dir bei allem, was mir heilig ist! Hier sind fünfzehntausend
+Rubel, das ist alles, Freund, was ich habe flüssig machen können, habe
+das Letzte zusammengescharrt und noch den Meinen abgenommen. Nimm es
+ruhig! Ich muß, ich bin verpflichtet, dich sicherzustellen! Hier ist der
+Betrag, fast nur in Kassenscheinen. Nimm es ruhig! Du wirst mir deshalb
+nichts schulden; denn ich werde dir ja sowieso niemals all das entgelten
+können, was du für mich getan hast. Ja, ja, eben, ich fühle es, wenn wir
+auch jetzt im Hauptpunkte auseinandergehen. Morgen oder übermorgen ...
+oder wann es dir recht ist ... gehen wir auseinander. Fahr in unser
+Städtchen, Foma, es ist ja nicht weit von hier, einige zehn Werst nur.
+Dort ist ein Häuschen neben der Kirche, gleich in der ersten Querstraße,
+mit grünen Läden und weißen Fensterrahmen, ein allerliebstes Häuschen.
+Es gehört der Witwe des früheren Geistlichen, es ist für dich wie
+geschaffen. Sie will es verkaufen. Ich werde es für dich erstehen,
+natürlich nicht von diesem Gelde. Richte dich dort gemütlich ein, nicht
+weit von uns. Beschäftige dich mit der Literatur, mit der Wissenschaft:
+du wirst berühmt werden ... Die Beamten sind dort im Städtchen ohne
+Ausnahme ehrenwerte, freundliche, uneigennützige Leute. Der Geistliche
+ist ein gelehrter Mann. Zu den Feiertagen kommst du zu uns gefahren, zum
+Besuch – und wir leben wie im Paradiese! Bist du einverstanden?“
+
+„Also unter solchen Zugeständnissen wird Foma aus dem Hause geschafft!“
+dachte ich. „Vom Gelde hat er mir nichts gesagt.“
+
+Lange Zeit herrschte tiefe Stille. Foma saß wie betäubt im Lehnstuhl und
+blickte unverwandt meinen Onkel an, der sich unter diesem Schweigen und
+diesem Blick augenscheinlich sehr unbehaglich fühlte.
+
+„Geld!“ hauchte schließlich Foma mit einer gemacht schwachen Stimme. „Wo
+ist es denn, wo ist denn dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es nur
+schneller her!“
+
+„Hier ist es, Foma: alles, was ich in bar habe, rund fünfzehntausend,
+alles, was ich habe auftreiben können. In Banknoten und Wertpapieren –
+du wirst schon selbst sehen ... hier!“
+
+„Gawrila! Nimm dieses Geld,“ sagte Foma demütig, „es kann dir, Alter,
+einmal zustatten kommen. – Doch nein!“ rief er plötzlich mit einer
+Stimme aus, in der noch ein ganz besonderer kreischender Ton mitklang,
+und er sprang auf – „nein! Gib es mir zurück, Gawrila! Gib es mir,
+dieses Geld! Gib es mir! Gib mir diese Millionen, damit ich sie mit
+meinen Füßen in den Staub trete, gib sie mir, damit ich sie zerreiße,
+bespeie, in alle Winde zerstreue, beschmutze, schände! ... Mir, mir
+bietet man Geld an! Man will mich – bestechen, damit ich dieses Haus
+verlasse! Habe ich recht gehört? Darf ich meinen Ohren trauen? Warum
+mußte ich noch diese Schmach erleben! Hier, hier sind sie, Ihre
+Millionen! Sehen Sie: hier, hier, hier und hier! Sehen Sie: so handelt
+Foma Opiskin, wenn Sie es bis jetzt noch nicht gewußt haben, Oberst!“
+
+Und Foma streute das ganze Geld auf dem Fußboden aus. Bemerkenswert war
+nur, daß er keine einzige Banknote weder zerriß noch bespie, wie er es
+zuerst angekündigt hatte, er verknitterte sie nur ein wenig, und auch
+das tat er ersichtlich ziemlich vorsichtig. Gawrila stürzte sofort
+hinzu, um das Geld aufzusammeln, das er dann später, nach Fomas
+Fortgang, seinem Herrn wieder einhändigte.
+
+Diese Handlungsweise Fomas machte meinem Onkel buchstäblich starr vor
+Verwunderung. Er stand unbeweglich, verständnislos, mit halboffenem
+Munde vor Foma. Dieser hatte sich inzwischen wieder auf seinen Lehnstuhl
+niedergelassen und atmete keuchend, ganz als befände er sich in
+unbeschreiblicher Aufregung.
+
+„Du bist ein erhabener Mensch, Foma!“ rief endlich mein Onkel aus, wie
+aus einem Traum erwachend. „Du bist der edelste Mensch der Welt!“
+
+„Das weiß ich,“ antwortete Foma mit ergebener Stimme, doch mit
+unendlicher Würde.
+
+„Foma, vergib mir! Ich bin ein Schuft vor dir, Foma!“
+
+„Ja, vor mir,“ bestätigte Foma.
+
+„Hör, Foma, nicht über deinen Edelmut wundere ich mich,“ fuhr mein Onkel
+begeistert fort, „sondern darüber, daß ich dermaßen roh, blind und
+niedrig sein konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten.
+Aber, Foma, nur in einem täuschst du dich: ich habe dich nicht bestechen
+wollen, nicht dir dafür _zahlen_ wollen, wenn du das Haus verließest,
+sondern ich wollte nur, daß du Geld hättest, daß du nicht Not zu leiden
+brauchtest, wenn du von mir fortgingst. Das schwöre ich dir! Auf den
+Knien, auf den Knien bin ich bereit, dich um Verzeihung zu bitten, Foma,
+und wenn du willst, werde ich sogleich vor dir niederknien ... wenn du
+nur willst ...“
+
+„Ich brauche Ihr Knien nicht, Oberst! ...“
+
+„Aber, mein Gott! ... Foma, du mußt doch verstehen: ich war doch
+aufgebracht, war von Sinnen, war außer mir ... Aber so sage mir, womit
+ich diese Kränkung wieder gutmachen könnte? Belehre mich, sag es doch
+...“
+
+„Mit nichts, mit nichts Oberst! Und seien Sie überzeugt, daß ich morgen
+noch, auf der Schwelle dieses Hauses, den Staub von meinen Füßen
+schütteln werde.“
+
+Und Foma begann sich langsam aus dem tiefen Lehnstuhl zu erheben. Als
+mein Onkel das sah, stürzte er entsetzt zu ihm und versuchte ihn wieder
+zum Sitzen zu bringen.
+
+„Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, ich flehe dich an! Was redest du
+da von Staub und Füßen, Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich folge
+dir bis ans Ende der Welt und werde dir so lange folgen, bis du mir
+endlich verzeihst ... Ich schwör dir, Foma, daß es so sein wird!“
+
+„Ihnen verzeihen?“ fragte Foma, „aber begreifen Sie denn noch immer
+nicht Ihre ganze Schuld vor mir? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit
+jedem Stück Brot, daß Sie mir hier gegeben haben, schuldig vor mir
+geworden sind? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie in dieser einen Minute
+alle jene Brotstücke, die ich früher hier in diesem Hause gegessen habe,
+nachträglich mit Gift vergiftet haben? Sie haben mir soeben einen
+Vorwurf wegen dieser Brotstücke gemacht, wegen jedes Bissens, den ich
+hier zu mir genommen! Sie haben mir soeben gezeigt, daß ich hier in
+Ihrem Hause wie ein Knecht, wie ein Diener, wie ein Putzlappen Ihrer
+Lackstiefel gelebt habe! Währenddessen habe ich in meiner
+Herzensreinheit bis jetzt geglaubt, daß ich in Ihrem Hause als Freund,
+als Bruder lebte! Haben Sie mich nicht selbst, nicht selbst mit Ihren
+Schlangenreden tausendmal dieser Brüderschaft versichert? Warum haben
+Sie denn heimlich hinter meinem Rücken diese Netze gestrickt, in denen
+ich nun wie ein Tölpel gefangen bin? Warum haben Sie mir in der
+Dunkelheit diese Wolfsgruben gegraben, in die Sie mich jetzt noch
+eigenhändig hineinstoßen? Warum haben Sie mich nicht mit einem einzigen,
+kurzen Schlage niedergestreckt, mit einem Schlage dieser Keule? Warum
+haben Sie mir nicht gleich zu Anfang den Kopf umgedreht, wie einem Hahn,
+zur Strafe dafür, daß er ... nun, sagen wir, keine Eier legt? Ja, gerade
+so verhält es sich! Ich bestehe auf diesem Vergleich, Oberst, wenn er
+auch dem Provinzleben entnommen ist und durch seinen trivialen Ton an
+die zeitgenössische Literatur erinnert: ich bestehe deshalb auf ihm,
+weil er so anschaulich die ganze Sinnlosigkeit Ihrer Beschuldigungen
+zeigt; denn ich bin vor Ihnen genau so wenig schuldig wie dieser Hahn,
+der durch seine Unfähigkeit zum Eierlegen den Unwillen seines
+leichtsinnigen Besitzers erregt. Ich bitte Sie, Oberst! – zahlt man denn
+einem Freunde, einem Bruder Geld – und wofür noch? Die Hauptsache ist
+doch dieses: wofür! ‚Hier, nimm, mein geliebter Bruder, ich schulde dir
+viel: du hast sogar mein Leben gerettet; hier hast du ein paar
+Judassilberlinge, aber pack dich jetzt aus meinem Hause!‘ Wie naiv! Wie
+roh Sie mich behandelt haben! Sie glaubten, daß ich nach Ihrem Golde
+trachtete, während ich nur paradiesische Gefühle nährte und mich um Ihr
+Wohlergehen sorgte. Oh, wenn Sie wüßten, wie Sie mein Herz verwundet
+haben! Mit meinen edelsten Gefühlen haben Sie gespielt wie ein Knabe mit
+einem Käfer, den er durchbohrt! Schon lange, schon lange, Oberst, habe
+ich das jetzt Eingetroffene vorausgesehen. Das war auch der Grund, warum
+ich schon lange an Ihrem Brot zu ersticken meinte, warum dieses Brot mir
+innere Pein verursachte! Das ist auch der Grund, warum Ihre Daunenkissen
+mich drückten, ja, mich drückten, statt mir ein weiches Lager zu sein!
+Das war der Grund, weshalb Ihr Zucker, Ihre Konfitüren mir wie Pfeffer
+schmeckten, nicht aber wie Süßigkeiten! Nein, Oberst! Leben Sie hinfort
+allein, seien Sie allein selig und lassen Sie Foma einsam seinen
+traurigen Weg gehen, mit einem kleinen Kleiderbündel auf dem Rücken. So
+wird es sein, Oberst!“
+
+„Nein, Foma, nein! So wird es nicht sein, so kann es nicht sein!“
+stöhnte mein unglücklicher Onkel.
+
+„Doch, Oberst, doch! Gerade so wird es sein; denn so _muß_ es sein.
+Morgen noch werde ich Sie verlassen. Breiten Sie alle Ihre Millionen
+aus, bedecken Sie die ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich
+werde stolz und verachtend über Ihr Geld dahinschreiten! Hier, dieser
+selbe Fuß, Oberst, wird diese Banknoten zertreten, in den Schmutz
+treten, und Foma Opiskin wird einzig von seinem Seelenadel satt sein!
+Ich habe es gesagt und – bewiesen! Leben Sie wohl, Oberst! Le–ben – Sie
+wohl, Oberst!“
+
+Und Foma begann von neuem sich zu erheben.
+
+„Verzeih mir, Foma, vergib mir! Vergiß, was ich getan!“ bat mein Onkel
+mit flehender Stimme.
+
+„‚Vergib!‘ Was liegt Ihnen an meiner Vergebung? Nun gut, nehmen wir an,
+ich vergebe Ihnen: ich bin Christ, ich kann Ihnen schlechterdings meine
+Vergebung nicht vorenthalten, – ich habe Ihnen ja auch jetzt schon fast
+verziehen. Aber urteilen Sie selbst: wäre es denn auch nur irgendwie mit
+der gesunden Vernunft und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich jetzt noch
+eine Minute in Ihrem Hause bliebe? Sie haben mich doch aus dem Hause
+_fortgetrieben_!“
+
+„Ach, gewiß ist es vereinbar, Foma, gewiß ist es vereinbar! Ich
+versichere dir, daß es vereinbar ist!“
+
+„Vereinbar? Aber sind wir denn jetzt noch Gleichstehende? Begreifen Sie
+denn wirklich nicht, daß ich Sie mit meinem Edelmut sozusagen vernichtet
+habe – und daß Sie sich selbst durch Ihre niedrige Handlung erniedrigt
+haben? Sie sind in den Staub geworfen und ich bin erhoben worden. Wo
+kann hier jetzt noch von Gleichheit die Rede sein? Wie aber kann es ohne
+diese Gleichheit eine Freundschaft geben? Ich frage es mit einem
+Schmerzensschrei, nicht aber triumphierend, wie Sie vielleicht wähnen.“
+
+„Aber ich stoße ja selbst einen Schmerzensschrei aus, Foma, ich
+versichere dich! ...“
+
+„Und das ist derselbe Mensch,“ fuhr Foma fort, den strengen Ton in einen
+andächtig-frommen verwandelnd, „derselbe Mensch, um dessentwillen ich so
+viele Nächte nicht geschlafen habe! Wie oft, wie oft habe ich mich in
+meinen schlaflosen Nächten von meinem Lager erhoben, das Nachtlicht
+angezündet und zu mir gesagt: ‚Jetzt schläft er ruhig und verläßt sich
+auf dich. So schlafe denn nicht, Foma, und wache du für ihn, vielleicht
+wirst du noch etwas zu seinem Wohle ersinnen.‘ So dachte Foma Opiskin in
+seinen schlaflosen Nächten, Oberst! Und so wird er dafür von diesem
+selben Obersten belohnt! Doch genug, genug! ...“
+
+„Aber ich werde, Foma, ich werde mir deine Freundschaft wieder
+verdienen, das schwör’ ich dir!“
+
+„Verdienen? Sie wollen sie wieder verdienen? Welche Gewähr können Sie
+mir geben? Als Christ, der ich bin, verzeihe ich Ihnen und werde Sie
+sogar lieben – als Mensch aber, und als edler Mensch, werde ich Sie
+unwillkürlich verachten. Ich muß es, es ist meine Pflicht, um der
+Sittlichkeit willen; denn – ich wiederhole es – Sie haben sich selbst in
+den Schmutz getreten, und ich habe die edelste _Tat_ vollbracht. Wer von
+den _Ihrigen_ würde eine ähnliche _Tat_ je vollbringen können? Wer von
+ihnen würde auf eine so ungeheure Summe Geldes freiwillig verzichten,
+auf eine Summe, auf die der bettelarme, von allen verachtete Foma
+Opiskin aus Liebe zu seiner Seelengröße indessen verzichtet hat? Nein,
+Oberst, um sich als Gleichstehender mit mir messen zu können, müßten Sie
+jetzt _eine ganze Reihe_ von großen _Taten_, von _Heldentaten_
+vollbringen. Zu welch einer Heldentat aber sind Sie fähig, wenn Sie
+nicht einmal in der Anrede ‚Sie‘ zu mir sagen können, wie zu einem
+Gleichstehenden, sondern stets ‚du‘ zu mir sagen, wie zu einem Diener?“
+
+„Aber Foma, ich habe doch nur aus Freundschaft _du_ zu dir gesagt!“ rief
+mein Onkel aus. „Ich ahnte es nicht, daß es dir unangenehm sein könnte
+... Mein Gott! Wenn ich es nur geahnt hätte ...“
+
+„Sie,“ fuhr Foma unerschütterlich fort, „Sie, der Sie nicht einmal die
+geringste, die geringfügigste Bitte erfüllen konnten oder richtiger –
+nicht erfüllen _wollten_, als ich Sie bat, mich wie einen General ‚Eure
+Exzellenz‘ zu nennen ...“
+
+„Aber, Foma, das wäre doch sozusagen schon ein höherer Eingriff ...“
+
+„Ein höherer Eingriff! Da haben Sie nun irgendeine Bücherphrase
+auswendig gelernt und behalten: und die wiederholen Sie jetzt wie ein
+Papagei! Wissen Sie denn nicht, daß Sie mich beschimpft, entehrt haben
+mit Ihrer Weigerung, mich ‚Exzellenz‘ zu nennen, jawohl: entehrt! Denn
+indem Sie meine Gründe nicht begriffen, stellten Sie mich als launischen
+Dummkopf bloß, der es verdient hat, in die Irrenanstalt zu kommen!
+Glauben Sie denn, ich begriffe nicht, daß ich lächerlich wäre, wenn ich
+mich Exzellenz betiteln ließe, ich, der ich alle diese Titel und
+irdischen Auszeichnungen verachte, alle diese Ehrungen, die an sich
+vollkommen wertlos und nichtig sind, wenn sie nicht durch die Tugend
+geheiligt werden? Für keine Million würde ich den Adel eines Generals
+_ohne diese Tugend_ annehmen! Und _Sie_, _Sie_ hielten mich für einen
+Wahnsinnigen! Nur zu Ihrem Vorteil opferte ich meine Eigenliebe und ließ
+es zu, daß _Sie_, _Sie_ mich für einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie
+und Ihre _Gelehrten_! Einzig zu dem Zweck, um Ihren Verstand zu
+erleuchten, Ihre Sittlichkeit zu entwickeln und Sie mit dem
+Strahlenlicht neuer Ideen zu überschütten, entschloß ich mich, von Ihnen
+die Anrede ‚Exzellenz‘ zu fordern. Ich wollte nur, daß Sie hinfort nicht
+mehr die Generäle für die höchsten Koryphäen oder Gestirne unseres
+Erdballes hielten; ich wollte Ihnen beweisen, daß der Titel ohne Größe –
+nichts ist, und daß kein Grund vorhanden war, sich dermaßen über den
+Besuch Ihres Generals zu freuen, wenn neben Ihnen Menschen leben, die im
+Glanze der Tugend leuchten! Aber Sie haben sich ja stets so gebrüstet
+vor mir mit Ihrem Oberstentitel, daß es Ihnen gar zu schwer fiel, ‚Ew.
+Exzellenz‘ zu mir zu sagen. Das war der Grund Ihrer Weigerung! Hierin
+muß man den wahren Grund suchen, nicht aber in irgendwelchen Eingriffen
+in das heilige Reglement! Der ganze Grund war der, daß Sie Oberst sind,
+ich aber nur Foma Opiskin bin ...“
+
+„Nein, Foma, nein! Ich versichere dich, daß es sich nicht so verhielt.
+Du bist ein Gelehrter, du bist nicht ein gewöhnlicher Foma ... ich achte
+dich ...“
+
+„Achten, mich? Nun gut! Dann sagen Sie mir doch, wenn Sie mich so
+achten, Ihre volle Meinung: bin ich des Generalstitel wert, bin ich
+seiner würdig oder unwürdig? Antworten Sie mir bestimmt und ohne zu
+zögern: ja oder nein? Ich will bei der Gelegenheit Ihren Verstand, Ihre
+geistige Entwicklung prüfen.“
+
+„Für deine Ehrlichkeit, deine Uneigennützigkeit, deinen Verstand, deinen
+unvergleichlichen Edelmut – gewiß!“ antwortete mein Onkel stolz.
+
+„Und wenn ich ihn verdient habe, weshalb sagen Sie dann nicht ‚Ew.
+Exzellenz‘ zu mir?“
+
+„Foma, wenn du willst ... werde ich alles sagen ...“
+
+„Ich verlange es! Jetzt verlange ich es, Oberst, ich bestehe darauf und
+fordere es von Ihnen! Ich sehe, daß es Ihnen schwerfällt, und deshalb
+verlange ich es. Dieses Opfer Ihrerseits wird der erste Schritt zu einer
+großen Tat sein; denn – vergessen Sie das nicht! – Sie werden eine ganze
+Reihe von großen Taten vollbringen müssen, um sich mit mir messen zu
+können. Sie müssen sich selbst überwinden, dann erst werde ich an Ihre
+Aufrichtigkeit glauben ...“
+
+„Morgen, Foma, werde ich ‚Exzellenz‘ zu dir sagen!“
+
+„Nein, nicht morgen, Oberst, morgen versteht es sich von selbst. Ich
+fordere von Ihnen, daß Sie hier, jetzt gleich, hier auf der Stelle, ‚Ew.
+Exzellenz‘ zu mir sagen.“
+
+„Wie du willst, Foma, ich bin bereit ... Nur ... wie soll ich denn das,
+Foma? So ... ohne weiteres ... jetzt gleich?“
+
+„Weshalb denn nicht jetzt? Oder schämen Sie sich etwa? In dem Falle ist
+es eine neue Kränkung, wenn Sie sich schämen.“
+
+„Nun, dann ... gut, Foma, ich bin bereit ... ich bin sogar stolz darauf
+... Nur ... wie soll ich denn, Foma, so ohne weiteres? Ich kann doch
+nicht sagen: ‚Guten Tag, Exzellenz‘, – das geht doch nicht ...“
+
+„Nein, nicht ‚guten Tag, Exzellenz‘, das ist wieder ein beleidigender
+Ton. Das erinnert an einen Scherz, an eine Farce. Ich erlaube aber
+nicht, daß man mit mir scherzt. Besinnen Sie sich, Oberst, besinnen Sie
+sich sofort! Ändern Sie Ihren Ton!“
+
+„Du willst doch nicht, Foma –?“
+
+„Erstens bitte ich, mich nicht zu duzen, Jegor Iljitsch, – Sie haben
+mich mit ‚Sie‘ anzureden, vergessen Sie das nicht. Und nicht Foma,
+sondern Foma Fomitsch.“
+
+„Aber, bei Gott, ich freue mich, Foma Fomitsch! Ich freue mich ... aus
+allen Kräften ... Nur – was soll ich denn sagen?“
+
+„Es macht Ihnen offenbar große Schwierigkeiten, Ihren Worten ‚Exzellenz‘
+hinzuzufügen – das sehe ich. Das ist einerseits sogar verzeihlich,
+namentlich wenn der Mensch ... _kein Schriftsteller_ ist – höflich
+ausgedrückt. Nun, ich werde Ihnen helfen, weil Sie _kein_ Schriftsteller
+sind. Sprechen Sie mir jetzt nach: ‚Eure Exzellenz‘ ...“
+
+„Nun, ‚Eure Exzellenz‘.“
+
+„Nein, nicht: ‚_nun_, Eure Exzellenz‘, sondern einfach: ‚Eure
+Exzellenz!‘ Ich sage Ihnen nochmals, Oberst, ändern Sie Ihren Ton! Auch
+hoffe ich, daß Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Sie
+auffordere, sich bei dieser Gelegenheit leicht zu verbeugen und
+gleichzeitig den Körper ein wenig nach vorn zu neigen, um auf diese
+Weise Ihre Ehrerbietung auszudrücken und sozusagen Ihre Bereitschaft,
+auf den leisesten Wink hin, gleichsam zu fliegen, um meinen Befehl
+auszuführen. Ich habe selbst in Generalskreisen verkehrt und kenne das
+... Nun also: ‚Eure Exzellenz‘.“
+
+„Eure Exzellenz.“
+
+„‚Wie unsäglich freut es mich, endlich Gelegenheit zu haben und um
+Entschuldigung dafür bitten zu können, daß ich nicht sogleich den wahren
+Seelenrang Eurer Exzellenz erkannt habe. Ich erlaube mir, zu versichern,
+daß ich hinfort meine schwachen Kräfte zum allgemeinen Nutzen nicht
+schonen werde ...‘ So, das mag vorläufig genügen!“
+
+Mein armer Onkel! Er mußte tatsächlich und wortwörtlich diese ganze
+Tirade Satz für Satz, Wort für Wort nachsprechen! Ich stand und errötete
+wie ein Schuldiger. Die Wut schnürte mir die Kehle zu.
+
+„Nun, fühlen Sie jetzt nicht,“ fuhr der Henker fort, „daß es Ihnen
+plötzlich leichter ums Herz geworden ist, als ob in Ihrer Seele ein
+Engel sich niedergelassen hätte? ... Fühlen Sie diese Gegenwart eines
+Engels? Antworten Sie mir!“
+
+„Ja, Foma, es scheint mir jetzt wirklich leichter zumute zu sein,“
+antwortete mein Onkel.
+
+„Als wäre Ihr Herz, nachdem Sie sich selbst überwunden haben, gleichsam
+in Öl untergetaucht!“
+
+„Ja, Foma, es ist wirklich wie mit Butter bestrichen.“
+
+„Wie mit Butter? Hm! ... Ich habe Ihnen von Butter nichts gesagt,
+sondern von Öl ... Nun, gleichviel! Sehen Sie jetzt, was das bedeutet,
+Oberst – erfüllte Pflicht! Überwinden, besiegen Sie sich nur! Sie sind
+eigenliebig, unendlich eigenliebig!“
+
+„Ich weiß es, Foma, ich sehe es vollkommen ein,“ sagte mein Onkel
+aufseufzend.
+
+„Sie sind ein Egoist und sogar ein großer, ein grausamer Egoist ...“
+
+„Ich weiß es, Foma, auch das sehe ich ein; seitdem ich dich kenne, habe
+ich auch das eingesehen.“
+
+„Und jetzt sage ich Ihnen, wie ein Vater, wie eine zärtliche Mutter ...
+Sie scheuchen alle von sich und vergessen, daß ein liebenswürdiges Kalb
+an zwei Kühen saugt.“
+
+„Auch das ist wahr, Foma.“
+
+„Sie sind roh. Sie drängen sich so roh in das Herz anderer Menschen, Sie
+drängen sich so eigenliebig der Aufmerksamkeit anderer auf, daß ein
+anständiger Mensch am liebsten auf dreißig Meilen von Ihnen fortlaufen
+würde.“
+
+Mein Onkel seufzte noch einmal tief auf.
+
+„Seien Sie also zärtlicher, aufmerksamer, liebenswürdiger gegen andere.
+Vergessen Sie sich für andere – sehen Sie, das ist meine Regel! Duldend
+mühe dich, bete und hoffe – das sind Wahrheiten, die ich gerne der
+ganzen Menschheit einprägen möchte! Eifern Sie ihnen nach, und dann
+werde ich Ihnen als erster mein Herz öffnen, werde an Ihrer Brust weinen
+... falls es nötig sein sollte ... Denn sonst heißt es bei Ihnen nur
+‚ich‘ und ‚ich‘ und ‚meine Gnade‘! Aber diese Ihre Gnade bekommt man
+doch schließlich satt, mit Erlaubnis zu sagen!“
+
+„Welch ein Mensch!“ murmelte Gawrila, der an der Tür stand, voll
+Andacht.
+
+„Das ist wahr, Foma, ich fühle es selbst,“ bestätigte mein Onkel
+gerührt. „Aber schließlich ist doch nicht alles nur meine Schuld! Ich
+bin so erzogen worden, habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre dir,
+Foma, auch ich verstand zu fühlen und zu empfinden. Als ich aus meinem
+Regiment trat und von der Truppe Abschied nahm, da hatten alle meine
+braven Husaren Tränen in den Augen, mein ganzes Regiment weinte fast,
+und sie sagten, einen solchen Vorgesetzten würden sie wohl nie wieder
+bekommen! ... Und so dachte ich damals, daß auch ich vielleicht dennoch
+kein ganz verlorener Mensch sei.“
+
+„Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich Sie auf einem Beweise
+Ihrer Eigenliebe, Sie brüsten sich, und bei der Gelegenheit machen Sie
+mir noch wegen der Tränen Ihrer Husaren einen Vorwurf. Wie kommt es, daß
+ich mich niemals mit Tränen anderer brüste? Und doch, und doch – ich
+hätte so manchen guten Grund dazu.“
+
+„Weißt du, das ist mir nur so entschlüpft, Foma, ich erinnerte mich der
+alten, guten Zeit – da hielt ich’s denn nicht aus und erzählte es dir
+jetzt.“
+
+„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern wir selbst schaffen sie
+uns: sie ist in unserem Herzen enthalten, Jegor Iljitsch. Weshalb bin
+ich denn immer glücklich und trotz meiner Leiden zufrieden? Weshalb bin
+ich ruhig und werde niemandes überdrüssig, ausgenommen vielleicht der
+Dummköpfe und der sogenannten _Gelehrten_, die ich nicht schone und nie
+schonen werde. Ich liebe die Dummköpfe nicht. Und was sind denn diese
+Gelehrten? ‚Ein Mann der Wissenschaft!‘ Seine ganze ‚Wissenschaft‘
+besteht ja nur in seiner ‚Gewissenshaft‘! Nun, was hat _er_ denn vorhin
+gesprochen? Laßt ihn herkommen! Ihn und alle Gelehrten! Ich kann alles
+widerlegen! Ich werde alle ihre aufgestellten Gesetze widerlegen! Und
+vom Seelenadel, von allem Edlen – rede ich schon gar nicht!“
+
+„Natürlich, Foma, ich glaube es dir! Wer zweifelt denn überhaupt daran?“
+
+„Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Begabung, große Belesenheit,
+Kenntnisse des Menschenherzens, Kenntnis der zeitgenössischen Literatur,
+ich zeigte und bewies glänzend, wie ein talentvoller Mensch sogar aus
+irgendeiner Kamarinskaja ein hohes und interessantes Gespräch entwickeln
+kann. Und nun frage ich: Hat auch nur einer von ihnen allen das Ganze
+würdig zu schätzen verstanden? Nein, und nicht genug damit – sie wandten
+sich obendrein ab! Ich bin ja überzeugt, daß sie Ihnen schon gesagt
+haben, ich ‚wüßte nichts‘. Dabei hat aber in Wirklichkeit ein zweiter
+Machiavelli vor ihnen gesessen und ist nur deshalb von ihnen nicht als
+solcher erkannt worden, weil er noch arm und unbekannt war ... Nein, das
+soll ihnen nicht durchgehen! ... Ferner habe ich da noch von einem
+Korowkin gehört. – Was ist das nun wieder für ein Gänserich?“
+
+„O, das ist, weißt du, ein kluger Mensch, ein Mann der Wissenschaft ...
+Ich erwarte ihn. Der wird dir aber sicherlich gefallen, Foma!“
+
+„Hm! das bezweifle ich. Wahrscheinlich irgend so ein moderner Esel, der
+mit Bücherweisheit vollgepfropft ist. Die haben keine Seele, Oberst, die
+haben auch kein Herz! Was aber ist selbst Gelehrtheit, wenn sie keine
+Tugend hat?“
+
+„Nein, Foma, nein! Wie er über Familienglück redet! – ich sage dir, das
+Herz begreift es ganz von selbst, Foma!“
+
+„Hm! Warten wir ab; wir können ja auch den Korowkin noch examinieren.
+Doch jetzt genug,“ schloß Foma, sich erhebend. „Noch kann ich Ihnen
+nicht ganz verzeihen, Oberst; Sie haben mich bis aufs Blut gekränkt.
+Aber ich werde beten, vielleicht wird Gott dann meinem gekränkten Herzen
+Frieden senden. Wir werden morgen noch darüber reden, jetzt aber
+erlauben Sie, daß ich mich zurückziehe. Ich bin ermüdet und entkräftet
+...“
+
+„Ach, Foma!“ rief mein Onkel erschrocken aus, „nun habe ich dich auch
+noch ermüdet! Weißt du was, – willst du dich nicht etwas stärken, einen
+kleinen Imbiß nehmen? Ich werde ihn sofort bestellen.“
+
+„Einen Imbiß nehmen! Hahaha! Einen Imbiß nehmen!“ war Fomas Antwort mit
+verächtlichem Lachen. „Zuerst wird man mit Gift getränkt, und dann wird
+man gefragt, ob man nicht einen Imbiß nehmen wolle! Die Wunden, die dem
+Herzen geschlagen sind, wollen Sie mit irgendwelchen gedämpften Pilzen
+oder eingemachten Früchten heilen! Was für ein armseliger Materialist
+Sie doch sind, Oberst!“
+
+„Ach, Foma, ich wollte es doch, bei Gott, nur aus gutem Herzen ...“
+
+„Schon gut. Genug davon. Ich gehe. Sie aber, gehen Sie unverzüglich zu
+Ihrer Mutter, knien Sie vor ihr nieder, schluchzen Sie, weinen Sie,
+erflehen Sie ihre Verzeihung, – das ist Ihre Pflicht, das müssen Sie!“
+
+„Ach, Foma, ich habe ja die ganze Zeit nur daran gedacht. Sogar jetzt,
+als ich mit dir sprach, dachte ich die ganze Zeit daran. Ich bin bereit,
+bis zum Morgen vor ihr auf den Knien zu liegen. Aber bedenk doch auch,
+Foma, was man von mir verlangt! Das ist doch ungerecht, das ist doch
+grausam, Foma! Sei doch großmütig, mach mich vollkommen glücklich, denk
+doch nur nach, erlöse mich, und dann ... dann ... ich schwöre dir ...“
+
+„Jegor Iljitsch, das ist nicht meine Sache,“ antwortete Foma. „Sie
+wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit überhaupt nicht
+hineinmische. Das heißt, Sie sind ja, sagen wir, überzeugt, daß ich die
+Ursache sei; aber ich versichere Ihnen, daß ich mich von Anfang an
+vollkommen davon zurückgezogen und nichts damit zu tun habe und haben
+will. Hier handelt es sich einzig und allein um den Willen Ihrer Frau
+Mutter, sie aber will natürlich nur Ihr Bestes ... So gehen Sie denn
+hin, eilen Sie, und machen Sie Ihre Schuld durch vollkommenen Gehorsam
+wenigstens teilweise wieder gut ... Lasset nicht die Sonne über eurem
+Zorne untergehen! Ich aber ... ich werde die ganze Nacht für Sie beten.
+Schon seit langem weiß ich nicht mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch.
+Leben Sie wohl! Auch dir verzeihe ich, Alter,“ sagte er, zu Gawrila
+gewandt. „Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antriebe Böses getan hast.
+Vergib also auch du mir, wenn ich dir etwas zuleide getan haben sollte
+... Lebt wohl, lebt alle wohl, und der Herr segne euch! ...“
+
+Foma entfernte sich. Ich trat ins Zimmer.
+
+„Du hast gelauscht!“ rief mein Onkel aus.
+
+„Ja, Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie konnten ‚Exzellenz‘ zu ihm
+sagen! ...“
+
+„Was sollte ich tun, Freund! Ich bin sogar stolz darauf, daß ich es
+getan habe ... Das ist ja noch nichts im Vergleich zu seiner großen
+Heldentat! Welch ein edler, uneigennütziger, erhabener Mensch! Ssergei –
+du hast ja zugehört – so sag du mir doch, wie konnte ich da nur mit dem
+Gelde kommen! Ich begreife mich selbst nicht! Aber ich war nicht bei
+klarer Vernunft, ich war aufgebracht, ich verstand ihn nicht, ich
+beargwöhnte ihn, beschuldigte ihn ... Doch nein! – er konnte nicht mein
+Gegner sein – das begreife ich jetzt vollkommen ... Aber weißt du, hast
+du gesehen, welch einen edlen Ausdruck sein Gesicht hatte, als er das
+Geld zurückwies?“
+
+„Gut, Onkel, seien Sie so stolz, wie Sie nur wollen, ich aber reise
+morgen: meine Geduld ist zu Ende! Zum letzten Male frage ich Sie: was
+verlangen Sie von mir? Wozu haben Sie mich hergerufen, und was erwarten
+Sie von mir? Und wenn nun alles zu Ende und besiegelt ist und ich Ihnen
+zu nichts mehr nütze bin – dann fahre ich eben. Ich ertrage solche
+Schaustücke nicht! Heute noch reise ich ab!“
+
+„Freund,“ sagte mein Onkel eifrig, wie es so seine Art war, „wart nur
+noch zwei Minuten: ich werde jetzt zu meiner Mutter gehen ... ich muß
+dort zuerst ins reine kommen ... es ist eine wichtige, große, eine
+entscheidende Sache! ... Du aber geh in dein Zimmer und erwarte mich
+dort. Hier, Gawrila wird dich ins Sommerhaus führen. Du erinnerst dich
+doch noch? Es liegt dort mitten im Garten. Ich habe schon alles
+angeordnet, auch dein Koffer ist hingeschafft worden. Ich werde jetzt
+schnell zu meiner Mutter gehen, nur ihre Verzeihung erwirken, mich rasch
+entschließen – jetzt weiß ich, wie ich es anfassen muß –, und dann komme
+ich sofort zu dir und erzähle dir alles, alles, alles bis aufs Letzte,
+werde meine ganze Seele vor dir ausschütten! Und ... und auch wir werden
+noch einmal glückliche Tage erleben! ... Zwei Minuten, nur zwei Minuten,
+Ssergei!“
+
+Er drückte meine Hand und verließ eilig das Zimmer. Mir blieb nichts
+anderes übrig, als mich von Gawrila ins Sommerhaus führen zu lassen.
+
+
+
+
+ X.
+
+ Misintschikoff.
+
+
+Das Sommerhaus, in dem man für mich ein Zimmer eingeräumt hatte, wurde
+aus alter Gewohnheit noch immer „das neue Haus“ genannt, obgleich es
+schon vor langen Jahren, noch von den früheren Besitzern des Gutes
+Stepantschikowo erbaut worden war. Es war dies ein nettes, einstöckiges
+Holzgebäude, das nicht weit vom Herrenhause im Garten lag. Von drei
+Seiten umstanden das Sommerhäuschen alte, hohe Lindenbäume, deren Äste
+das Dach überragten. Alle vier Zimmer dieses Sommerhauses waren gut
+möbliert und ausschließlich für etwaigen Besuch bestimmt. Als ich mich
+in dem mir zugewiesenen Gemach umsah, bemerkte ich zuerst meinen Koffer
+und dann auf dem Nachttisch neben dem Bett einen Bogen Postpapier, das
+von einem wahren Meister in der Schönschreibekunst beschrieben und mit
+Girlanden und Schnörkeln überreich verziert war. Die Anfangsbuchstaben
+und die Blumengewinde leuchteten sogar in bunten Farben. Alles in allem
+war es eine bewundernswerte kalligraphische Arbeit. Schon aus den ersten
+Zeilen ersah ich, daß es ein an mich gerichteter Bittbrief war, in dem
+ich ein „aufgeklärter Wohltäter“ genannt wurde. Als Überschrift stand:
+„Widopljässoffs Wehklagen.“ Wie sehr ich aber auch meine Aufmerksamkeit
+anstrengte, um wenigstens etwas von dem ganzen Schreiben zu begreifen,
+so waren doch alle meine Bemühungen umsonst: es war der reinste Blödsinn
+in hochtrabendem Dienerstil. Ich erriet nur ungefähr, daß Widopljässoff
+sich in einer bedauernswerten Lage befand, meine Hilfe erbat und in
+irgendwelchen Dingen große Hoffnungen auf mich setzte – „von wegen Eurer
+Bildung ...“ Zum Schluß bat er mich dann noch, zu seinen Gunsten auf
+meinen Onkel einzuwirken, und zwar – „kraft Eurer Maschine“, wie es
+buchstäblich in der letzten Zeile dieses Handschreibens geschrieben
+stand. Ich war noch in die Lektüre vertieft, als die Tür aufging und
+Iwan Iwanytsch Misintschikoff, mein Vetter dritten Grades, in das Zimmer
+trat.
+
+„Ich hoffe, Sie werden mir gestatten, Ihre Bekanntschaft zu machen,“
+sagte er ungezwungen, doch äußerst höflich, und er reichte mir die Hand.
+„Vorhin habe ich Ihnen keine zwei Worte sagen können, und doch empfand
+ich schon im ersten Augenblick den Wunsch, Sie näher kennen zu lernen.“
+
+Ich antwortete ihm sogleich, daß auch ich mich freue usw., obschon ich
+mich in der miserabelsten Laune befand.
+
+Wir setzten uns.
+
+„Was haben Sie denn da?“ fragte er, nach einem Blick auf das Blatt, das
+ich noch in der Hand hielt. „Etwa ‚Widopljässoffs Wehklagen‘? Na,
+natürlich! Ich war ja überzeugt, daß Widopljässoff unfehlbar auch Sie
+attackieren würde. Mir hat er gleichfalls so ein wunderbar bemaltes
+Blatt mit denselben ‚Wehklagen‘ überreicht. Sie sind von ihm wohl schon
+lange sehnsüchtig erwartet worden, so daß er Zeit genug gehabt hat,
+inzwischen dieses Gemälde herzustellen. Doch können Sie sich die Mühe
+sparen, sich darüber zu wundern: hier gibt es viel Sonderbares, und wenn
+man Lust zum Lachen hat, fände sich eine Unmenge Stoff dazu.“
+
+„Nur zum Lachen?“
+
+„Na, doch nicht etwa zum Weinen? Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen
+Widopljässoffs Leben erzählen, und ich wette, daß Sie lachen werden.“
+
+„Offen gestanden, es ist mir jetzt nicht um Widopljässoff zu tun,“
+antwortete ich etwas ungehalten.
+
+Es war mir vollkommen klar, daß der Besuch Herrn Misintschikoffs und
+sein liebenswürdiges Gespräch – einen besonderen Zweck verfolgten und
+mein Herr Vetter dritten Grades sehr einfach meiner bedurfte. Im
+Teesalon hatte er finster und ernst ausgesehen, und nun war er plötzlich
+so aufgeräumt und sogar bereit, lange Geschichten zu erzählen. Man sah
+es ihm sofort an, daß er sich vorzüglich zu beherrschen verstand und,
+wie mir schien, ein Menschenkenner war.
+
+„Dieser verdammte Foma!“ knirschte ich wütend und schlug mit der Faust
+auf den Tisch. „Ich bin überzeugt, daß nur er allein die Quelle alles
+Übels hier ist, und daß jede Verrücktheit sich auf ihn zurückführen
+läßt! Dieser verfluchte Spitzbube!“
+
+„Sie haben sich ja, wie es scheint, sehr über ihn geärgert,“ bemerkte
+Misintschikoff.
+
+„Sehr über ihn geärgert!“ Ich geriet plötzlich in Wut. „Ich weiß, ich
+habe mich heute nachmittag hinreißen lassen und somit jedem das Recht
+gegeben, mich abfällig zu beurteilen. Ich sehe es jetzt sehr wohl ein,
+daß ich unnützerweise aus mir herausgegangen bin und in jeder Beziehung
+schlecht abgeschnitten habe; aber ich denke, es ist zum mindesten
+überflüssig, mir das obendrein noch zu verstehen zu geben! ... Auch
+begreife ich vollkommen, daß man so etwas in guter Gesellschaft nicht
+tut; aber, sagen Sie doch selbst, war es denn überhaupt möglich, nicht
+aus der Haut zu fahren? Das ist ja hier eine Irrenanstalt, genau
+genommen! und ... und ... schließlich ... Ach was! Ich fahre einfach
+fort und damit basta!“
+
+„Rauchen Sie?“ fragte Misintschikoff ruhig.
+
+„Ja.“
+
+„Dann werden Sie hoffentlich nichts dagegen haben, wenn auch ich rauche.
+Dort wird es nicht gestattet. Ich bin schon auf dem besten Wege, darüber
+melancholisch zu werden. Ich gebe gern zu,“ fuhr er fort, nachdem er
+sich eine Zigarette angesteckt hatte, „daß hier manches stark an eine
+Irrenanstalt erinnert; doch seien Sie versichert, daß ich mir nicht
+erlauben werde, Sie oder Ihr Auftreten zu verurteilen, und zwar deshalb
+nicht, weil ich an Ihrer Stelle vielleicht noch dreimal mehr in Wut
+geraten oder aus der Haut gefahren wäre als Sie vorhin.“
+
+„Aber warum taten Sie es dann nicht, wenn Sie wirklich so ungehalten
+waren? Ich entsinne mich, im Gegenteil, noch ganz genau, daß Sie sehr
+kaltblütig waren. Ich will Ihnen sogar ganz offen sagen – es wunderte
+mich, daß Sie für meinen armen Onkel nicht eintraten, ihn nicht
+verteidigten, da er doch soviel Gutes ... allen und jedem erweist!“
+
+„Sie haben recht: er hat vielen Gutes getan. Doch für ihn einzutreten,
+das halte ich in diesem Fall für vollkommen nutzlos: erstens würde es
+ihm nichts helfen und hätte gewissermaßen sogar etwas Erniedrigendes für
+ihn – und zweitens würde man mich dann am nächsten Tage vor die Tür
+setzen. Und nun will auch ich Ihnen etwas ganz offen gestehen: nämlich,
+daß meine Verhältnisse augenblicklich derart sind, daß ich die
+Gastfreundschaft, die ich hier genieße, sehr hoch einschätzen muß.“
+
+„Ich verlange von Ihnen durchaus keine Aufschlüsse über Ihre
+Verhältnisse ... Aber übrigens, ich würde Sie gern etwas fragen wollen,
+da Sie ja doch schon einen ganzen Monat hier leben ...“
+
+„Haben Sie die Güte, fragen Sie nur: ich stehe Ihnen jederzeit zu
+Diensten,“ antwortete Misintschikoff bereitwillig und rückte seinen
+Stuhl näher zu mir.
+
+„Erklären Sie mir, bitte, eines: soeben hat Foma Fomitsch
+fünfzehntausend Rubel, die er bereits in der Hand hielt, verschmäht –
+ich habe es mit eigenen Augen gesehen.“
+
+„Wie das? Ist’s möglich!“ Misintschikoff war erstaunt. „Erzählen Sie
+doch, bitte!“
+
+Ich erzählte, was ich gesehen und gehört hatte, verschwieg aber alles,
+was sich auf „Eure Exzellenz“ bezog. Misintschikoff hörte mir mit
+lebhafter Neugier zu; sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, als
+ich auf die Einhändigung der fünfzehn Tausend zu sprechen kam.
+
+„Raffiniert!“ sagte er, als ich meine Erzählung beendet hatte. „Das
+hätte ich eigentlich von Foma gar nicht erwartet.“
+
+„Jedenfalls – er hat das Geld zurückgewiesen! Wie soll man sich das
+erklären? Doch nicht mit seinem Seelenadel?“
+
+„Er hat fünfzehn Tausend zurückgewiesen, um später dreißig Tausend zu
+nehmen. Übrigens – wissen Sie!“ fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu,
+„ich bezweifle es, daß Foma eine bestimmte Berechnung gehabt habe. Er
+ist doch ein unpraktischer Mensch – er ist in seiner Art gleichfalls so
+etwas wie ein Dichter. Fünfzehn Tausend ... hm! Sehen Sie: er hätte das
+Geld sicherlich genommen und behalten, nur: er widerstand nicht der
+Versuchung, Theater zu spielen, sich zu verstellen, sich in schönem
+Lichte zu zeigen. Ich sage Ihnen, er ist nichts als ein unendlich
+saurer, tränenreicher Schwamm bei unbegrenzter Eigenliebe!“
+
+Misintschikoff geriet beinahe in Wut. Man sah es ihm an, daß er sich
+aufrichtig ärgerte; ja, es schien mir sogar, als beneide er Foma wegen
+der angebotenen fünfzehn Tausend. Ich beobachtete ihn genau.
+
+„Hm! Dann muß man großer Veränderungen gewärtig sein,“ meinte er
+nachdenklich. „Jegor Iljitsch ist ja bereit, Foma anzubeten. Was kann
+man wissen ... vielleicht wird er sie noch heiraten – einfach aus
+Herzensrührung,“ sprach er durch die Zähne vor sich hin.
+
+„So glauben Sie, daß diese schändliche, diese widernatürliche Ehe mit
+diesem übergeschnappten, verdrehten Frauenzimmer wirklich zustande
+kommen wird?“
+
+Misintschikoff warf mir einen forschenden Blick zu.
+
+„Diese Schurken!“ rief ich heftig aus. Er schwieg.
+
+„Übrigens haben sie es verstanden, ihre Idee recht gut zu begründen,“
+bemerkte Misintschikoff. „Sie behaupten nämlich, daß er doch irgend
+etwas für die Familie tun müsse.“
+
+„Als ob er noch zu wenig für sie getan hätte!“ Ich war empört. „Und auch
+Sie, auch Sie wagen noch zu sagen, daß es eine vernünftige Idee sei –
+eine dumme Gans zu heiraten!“
+
+„O, ich stimme mit Ihnen darin vollkommen überein, daß sie eine dumme
+Gans ist ... Hm! Es freut mich, daß Sie Ihren Onkel so lieben ... auch
+ich kann es nachfühlen ... obschon man mit ihrem Gelde das Gut prächtig
+vergrößern könnte. Aber sie haben außerdem noch andere Gründe: sie
+fürchten, daß Jegor Iljitsch die Erzieherin seiner Kinder heiraten
+könnte – Sie entsinnen sich doch noch des interessanten jungen Mädchens,
+das nach Iljuscha eintrat?“
+
+„Aber ... aber ist denn das möglich? Ist denn das anzunehmen?“ fragte
+ich erregt. „Es scheint mir vielmehr eine Verleumdung zu sein. Sagen Sie
+doch, um Gottes willen, es interessiert mich über alle Maßen ...“
+
+„O, er ist bis über die Ohren verliebt! Nur verbirgt er es
+selbstredend.“
+
+„Verbirgt es! Sie glauben, er will es verbergen? Nun, aber sie? Liebt
+auch sie ihn?“
+
+„Sehr leicht möglich, daß auch sie ihn liebt. Und zudem sind ja alle
+Vorteile auf ihrer Seite: sie ist sehr arm.“
+
+„Aber welche Anhaltspunkte haben Sie, um hier eine gegenseitige Liebe zu
+vermuten?“
+
+„Da müßte man ja blind sein, wenn man das nicht sehen wollte. Hinzu
+kommt, daß sie, glaube ich, sich heimlich treffen. Es ist sogar
+behauptet worden, daß sie unerlaubte Beziehungen unterhielten. Aber
+erzählen Sie das, ich bitte Sie, nicht weiter. Ich sage es Ihnen nur
+unterm Siegel der strengsten Verschwiegenheit.“
+
+„Wie kann man nur an so etwas glauben!“ rief ich unwillig aus. „Und Sie
+geben zu, daß Sie diesem Märchen Glauben schenken?“
+
+„Selbstverständlich glaube ich es nicht ganz, ich bin nicht dabei
+gewesen. Aber es kann sehr leicht möglich sein.“
+
+„Was! es kann möglich sein! Denken Sie doch nur an die Ehrenhaftigkeit,
+an die Ehre meines Onkels!“
+
+„Einverstanden. Aber man kann sich doch vergessen – kann sich damit
+beruhigen, daß man später mit der Heirat unfehlbar alles wieder
+gutmachen wird. Das kommt ja häufig vor ... so läßt man sich denn
+hinreißen. Doch ich sage nochmals, daß ich durchaus nicht für die
+vollkommene Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte einstehe, um so weniger, als
+man das Mädchen hier schon zur Genüge in den Schmutz zu ziehen versucht
+hat. So wurde zum Beispiel auch erzählt, daß sie mit Widopljässoff ein
+Verhältnis habe.“
+
+„Mit Widopljässoff! – Da sehen Sie es ja! Ist das überhaupt denkbar? Ist
+es denn nicht ekelhaft, so etwas auch nur zu hören? Und Sie glauben es?“
+
+„Ich sage Ihnen doch, daß ich es nicht glaube,“ antwortete
+Misintschikoff ruhig, „aber schließlich – hätte es ja auch vorkommen
+können. In der Welt kann alles vorkommen. Ich aber bin nicht zugegen
+gewesen, und überdies finde ich, daß es mich nichts angeht. Da Sie aber,
+wie ich sehe, an allen Dingen, die mit Ihrem Onkel zu schaffen haben, so
+lebhaften Anteil nehmen, so halte ich es für meine Pflicht, ausdrücklich
+hinzuzufügen, daß dieses Verhältnis mit Widopljässoff allerdings sehr
+wenig Wahrscheinliches für sich hat. Das ganze Gerücht scheint vielmehr
+nur ein Machwerk Anna Nilownas zu sein – der Perepelizyna. Sie hat
+natürlich nur aus Neid diesen ganzen Klatsch verbreitet, da sie früher
+selbst davon geträumt hat, Jegor Iljitsch zu heiraten – bei Gott! – und
+zwar, wie ich glaube, hauptsächlich deshalb, weil sie selbst die Tochter
+eines Majors ist. Jetzt hat sie ihre Hoffnung aufgeben müssen, und so
+ist auch ihre Wut danach. Doch, ich glaube – ich habe Ihnen bereits
+alles erzählt und dieses Thema erschöpft, und – offen gestanden – ich
+bin nichts weniger als ein Freund von solchen Klatschgeschichten.
+Außerdem verlieren wir über diesem Geschwätz die kostbare Zeit. Ich bin,
+sehen Sie mal, ich bin mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.“
+
+„Mit einer Bitte? O, ich bin gern zu allem bereit, was ich für Sie tun
+kann ...“
+
+„Besten Dank; ich hoffe sogar, Sie gewissermaßen mit meinem Anliegen zu
+interessieren; denn wie ich sehe, lieben Sie Ihren Onkel und nehmen
+großen Anteil an seinem Schicksal, namentlich bezüglich seiner
+zukünftigen Ehe. Doch, vor _dieser_ Bitte habe ich noch eine andere
+Bitte an Sie.“
+
+„Und das wäre?“
+
+„Folgendes. Vielleicht werden Sie einwilligen, meine Hauptbitte zu
+erfüllen, vielleicht aber auch nicht. Daher würden Sie mir einen großen
+Gefallen erweisen, wenn Sie die Güte hätten, mir vorher Ihr Ehrenwort
+als Edelmann und Ehrenmann zu geben, daß alles, was Sie von mir hören
+werden, zwischen uns bleibt, als größtes Geheimnis, und daß Sie in
+keinem Fall und mit Ausnahme keiner einzigen Person dieses Geheimnis
+verraten werden, sowie ferner, daß Sie die betreffende Idee nicht für
+sich benutzen werden, diese Idee, die ich jetzt notwendigerweise Ihnen
+mitteilen muß. Sind Sie damit einverstanden?“
+
+Die Einleitung war recht feierlich. Ich erklärte mich mit seinen
+Bedingungen einverstanden.
+
+„Nun, und?“ fragte ich dann.
+
+„Die Sache ist im Grunde sehr einfach,“ begann Misintschikoff. „Ich
+will, sehen Sie mal ... ich will Tatjana Iwanowna entführen und sie dann
+heiraten. Kurz, es soll etwas in der Art eines spanischen Romans werden
+– Sie verstehen mich doch?“
+
+Ich blickte Herrn Misintschikoff unverwandt in die Augen, und es dauerte
+etwas, bis ich die ersten Worte fand.
+
+„Ich ... ich begreife nicht ...“ sagte ich endlich; „und außerdem,“ fuhr
+ich fort, „außerdem, da ich es mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu
+haben glaubte ... habe ich keineswegs erwartet ...“
+
+„Erwartet oder nicht erwartet,“ unterbrach mich Misintschikoff, „ins
+Unverblümte übersetzt, heißt das ungefähr soviel wie: daß sowohl ich wie
+mein Vorhaben dumm ist, nicht wahr?“
+
+„Aber durchaus nicht ... nur ...“
+
+„O, bitte sehr, tun Sie sich in Ihren Ausdrücken keinen Zwang an.
+Beunruhigen Sie sich nicht. Sie erweisen mir damit sogar ein großes
+Entgegenkommen; denn so gelangen wir schneller zum Ziel. Ich gebe
+übrigens gern zu, daß mein ganzer Plan so auf den ersten Blick etwas
+sonderbar erscheinen muß. Doch ganz abgesehen davon, versichere ich Sie,
+daß meine Absicht nicht nur keineswegs dumm, sondern sogar höchst
+vernünftig ist. Und wenn Sie so freundlich sein wollen, zuerst die
+Klarlegung der Verhältnisse anzuhören, so ...“
+
+„O, bitte – ich bin sehr gespannt.“
+
+„Übrigens ist hier fast nichts zu erzählen. Sehen Sie mal: ich habe
+augenblicklich nur Schulden und dementsprechend keine Kopeke in der
+Tasche. Außerdem habe ich noch eine Schwester, ein Mädchen von ungefähr
+neunzehn Jahren. Sie ist Waise, wissen Sie, gänzlich mittellos und
+verdient sich selbst ihr Brot. Das ist zum Teil auch meine Schuld. Wir
+erbten vierzig Seelen. Da mußte ich wie verhext gerade damals zum
+Fähnrich avancieren! Nun, zuerst natürlich verpfändete ich die vierzig
+Seelen, dann brachte ich sie durch. Ich führte ein törichtes Leben, gab
+den Ton an, spielte den Lebemann, spielte auch am grünen Tisch, trank –
+mit einem Wort: töricht war’s, man schämt sich geradezu, daran zu
+denken. Jetzt bin ich zur Besinnung gekommen, habe mich anders bedacht:
+ich will nun ein ganz neues Leben beginnen. Zu diesem Zweck aber brauche
+ich unumgänglich eine Summe von hunderttausend Rubeln in bar. Da ich
+jedoch mit dem Offiziersdienst nichts verdienen würde, zu irgendeinem
+Beruf nicht begabt bin und fast gar keine wissenschaftliche Bildung
+habe, so bleiben mir nur zwei Möglichkeiten: entweder zu stehlen oder
+eine reiche Dame zu heiraten. Hergekommen bin ich so gut wie ohne
+Stiefel, und, wohl verstanden: ich bin zu Fuß gekommen, nicht mit
+Postpferden. Meine Schwester gab mir ihre letzten drei Rubel, als ich
+mich aus Moskau fortbegab. Hier lernte ich diese Tatjana Iwanowna
+kennen, und mir kam sofort ein Gedanke. Ich beschloß, mich zu opfern und
+sie zu heiraten. Sie müssen mir doch zugeben, daß das nichts anderes ist
+als – Vernünftigkeit. Zudem tue ich es ja mehr für meine Schwester ...
+das heißt, in erster Linie selbstredend für mich ...“
+
+„Aber erlauben Sie, Sie wollen doch formell bei Tatjana Iwanowna
+anhalten?“
+
+„Gott soll mich davor bewahren! Dann wäre ich ja am längsten hier
+gewesen, und auch sie würde nicht wollen. Schlage ich ihr dagegen eine
+Entführung vor, eine Flucht, so wird sie sofort einwilligen. Das ist die
+Hauptsache: es muß etwas Romantisches, etwas Effektvolles sein. Versteht
+sich, wir werden dann in kürzester Zeit gesetzmäßig getraut werden. Wenn
+man sie nur erst einmal herausgelockt hätte!“
+
+„Aber wie können Sie so fest überzeugt sein, daß sie mit Ihnen
+entfliehen wird?“
+
+„O, machen Sie sich deshalb keine Sorgen! Davon bin ich vollkommen
+überzeugt. Das ist ja gerade mein Grundgedanke, wenn ich so sagen darf,
+daß Tatjana Iwanowna tatsächlich fähig ist, mit jedem ersten besten eine
+Liebesgeschichte anzufangen, buchstäblich mit jedem, dem es nur
+einfällt, darauf einzugehen. Deswegen habe ich auch Ihnen zuerst das
+Ehrenwort abgenommen, diese Idee nicht zu Ihren eigenen Gunsten
+auszunutzen. Jetzt werden Sie, denke ich, begreifen, daß es von mir
+einfach Sünde wäre, wenn ich diese Gelegenheit nicht benutzen wollte,
+und noch dazu bei meinen Verhältnissen.“
+
+„So ist sie denn also ganz und gar verrückt ... Ach! verzeihen Sie,“
+unterbrach ich mich, plötzlich mich besinnend, „da Sie jetzt diese
+Absicht haben, so ...“
+
+„Bitte, genieren Sie sich nicht, ich habe Sie darum schon einmal
+gebeten. Sie fragen, ob Tatjana Iwanowna total verrückt sei? Was soll
+ich Ihnen darauf antworten? Natürlich ist sie _nicht_ verrückt; denn
+noch sitzt sie nicht in einer Irrenanstalt. Zudem vermag ich in dieser
+Manie für Liebesdinge eigentlich keinen besonderen Irrsinn zu sehen. Sie
+aber ist trotz allem ein ehrenhaftes Mädchen. Sehen Sie mal: vor einem
+Jahre war sie noch entsetzlich arm, hatte seit ihrer Geburt bei ihren
+Wohltäterinnen wie im Joch gelebt. Sie hat ein sehr gefühlvolles Herz,
+um ihre Hand hat niemand sie jemals gebeten ... Nun, Sie verstehen:
+Träume, Wünsche, Hoffnungen, die Leidenschaften, die sie beständig hat
+unterdrücken müssen, die ewigen Schikanen der sogenannten Wohltäterinnen
+– alles das zusammen konnte seinen empfindsamen Menschen sehr wohl
+aufreiben. Und dann plötzlich dieser Reichtum! Sie werden doch zugeben,
+daß so etwas nicht nur eine Tatjana Iwanowna aus dem Gleichgewicht
+bringen kann. Nun, und jetzt sind natürlich alle hinter ihr her, alle
+machen ihr den Hof, umschwärmen sie – und alle ihre Hoffnungen sind
+auferstanden. Was sie zum Beispiel beim Tee von dem Geck in der weißen
+Weste erzählte, – Tatsache, es ist wirklich buchstäblich alles so
+geschehen, wie Sie es gehört haben. Nach dieser Begebenheit können Sie
+sich auch das übrige denken. Mit Seufzern, Billets-doux, Gedichten
+können Sie sie sofort erobern, und wenn Sie dann noch heimliche
+Zusammenkünfte, spanische Serenaden und diesen ganzen Humbug hinzufügen,
+so können Sie sie zu allem bewegen. Ich habe auch schon einmal einen
+Versuch gemacht und sogleich ein nächtliches Stelldichein erreicht.
+Vorläufig habe ich mich aber bis zu günstigerer Zeit auf neutralen Boden
+zurückgezogen. Doch spätestens binnen vier Tagen wird man sie entführen
+müssen. Am Tage vor der Entführung fange ich mit dem Mumpitz an:
+Augendrehen, Seufzer und so weiter ... ich spiele nicht schlecht Gitarre
+und singe sogar. In der Nacht ein Stelldichein in der Laube und – beim
+Morgengrauen ist der Wagen bereit: ich locke sie hinaus, wir steigen ein
+und fahren los. Wie Sie sehen, ist hierbei nichts zu riskieren: sie ist
+mündig – und ganz abgesehen davon, wird es doch ihr freier Wille sein.
+Und wenn sie erst einmal mit mir entflohen ist, so heißt das natürlich,
+daß ... wir uns gegenseitig verpflichtet haben. Ich werde sie in eine
+gute, aber arme Familie bringen – ich kenne hier eine, vierzig Werst von
+hier – wo man sie bis zur Hochzeit auf den Händen tragen, doch keinen
+Menschen zu ihr lassen wird. Und ich werde inzwischen auch nicht unnütz
+die Zeit verlieren: nach spätestens drei Tagen müssen wir getraut sein –
+das läßt sich machen. Natürlich gehört dazu vor allen Dingen Geld. Aber
+ich habe schon berechnet: ich brauche nicht mehr als fünfhundert Rubel
+für das ganze Intermezzo, und zwar hoffe ich in der Beziehung auf Jegor
+Iljitsch: er wird sie mir geben, natürlich ohne zu wissen, um was es
+sich handelt. Haben Sie mich jetzt vollkommen verstanden?“
+
+„Ja,“ sagte ich, da ich ihn allerdings nur zu gut verstanden hatte.
+„Aber sagen Sie doch, bitte, inwiefern ich Ihnen hierbei behilflich sein
+könnte?“
+
+„O, in sehr vielem, ich bitte Sie! Sonst hätte ich Sie doch wahrlich
+nicht eingeweiht. Ich habe Ihnen schon gesagt, daß ich sie in eine arme,
+aber sehr ehrenwerte Familie zu bringen beabsichtige. Sie nun können mir
+sowohl hier wie dort aushelfen, außerdem mein Trauzeuge sein. Ohne Ihren
+Beistand stehe ich gleichsam mit gebundenen Händen da.“
+
+„Noch eine Frage: Warum haben Sie gerade mich Ihres Vertrauens
+gewürdigt? Sie kennen mich doch gar nicht, ich bin doch erst vor ein
+paar Stunden hier eingetroffen.“
+
+„Ihre Frage,“ antwortete Misintschikoff mit dem liebenswürdigsten
+Lächeln, „Ihre Frage bereitet mir, offen gestanden, ein großes
+Vergnügen; denn sie bietet mir Gelegenheit, Sie meiner ganz besonderen
+Hochachtung zu versichern.“
+
+„O, zuviel Ehre!“
+
+„Nein, sehen Sie mal, ich habe Sie vorhin, beim Tee, ein wenig studiert.
+Sie sind, nun ja, Sie sind heftig und ... und ... nun ja, und noch jung.
+Aber von einem bin ich durchaus überzeugt: Wenn Sie mir einmal Ihr Wort
+gegeben haben, keinem Menschen etwas davon zu erzählen, so werden Sie es
+auch halten. Sie sind kein Obnoskin – dies wäre Punkt eins. Punkt zwei:
+Sie sind ehrlich und werden mir meine Idee nicht stehlen, nicht wahr –
+natürlich ausgenommen den Fall, daß Sie etwa mit mir in aller
+Freundschaft einen entsprechenden Vergleich abschließen wollten. In dem
+Fall wäre ich vielleicht einverstanden, Ihnen meine Idee abzutreten,
+oder vielmehr: Tatjana Iwanowna. Und ich würde sogar bereit sein, Ihnen
+bei der Entführung eifrig beizustehen, nur mit der Bedingung, daß Sie
+mir einen Monat nach der Trauung eine Summe von fünfzigtausend Rubel bar
+zahlen, selbstredend nach einer vorhergehenden Sicherstellung durch eine
+Schuldverschreibung ... doch ohne Prozente.“
+
+„Wie! Sie bieten die Dame jetzt bereits mir an?“
+
+„Selbstverständlich kann ich sie abtreten ... wenn Sie es sich überlegen
+sollten und zulangen wollen. Freilich verliere ich dabei, aber ... Doch
+die Idee gehört nun einmal mir, und für Ideen nimmt man doch Geld. Und
+schließlich, drittens, habe ich Sie gewählt, weil mir keine andere Wahl
+übrigbleibt. Lange zu zögern aber erscheint mir, nachdem ich mir über
+die hier herrschenden Zustände klar geworden bin, mehr als gefährlich.
+Hinzu kommt, daß bald die Fastenzeit vor Mariä Himmelfahrt beginnt und
+dann nicht getraut wird. So, jetzt haben Sie mich hoffentlich ganz
+verstanden?“
+
+„Vollkommen, und ich verspreche Ihnen nochmals, Ihr Geheimnis heilig zu
+halten. Ihr Helfershelfer kann ich aber in dieser Angelegenheit nicht
+sein, was Ihnen unverzüglich mitzuteilen ich für meine Pflicht halte.“
+
+„Wieso, weshalb nicht?“
+
+„Sie fragen noch?“ rief ich heftig aus, endlich den Gefühlen, die sich
+in mir angesammelt hatten, freien Lauf lassend. „Sehen Sie denn nicht
+ein, daß eine solche Handlung schuftig, unehrenhaft ist? Gut, nehmen wir
+an, Sie rechneten ganz richtig, wenn Sie sich auf die Unklugheit und die
+unglückliche Manie dieses Mädchens stützen, aber – ebendies müßte Sie
+doch als Ehrenmann davon abhalten! Sie sagen ja selbst, daß Tatjana
+Iwanowna ein ehrenwertes Mädchen sei, wenn sie auch lächerlich ist. Und
+nun plötzlich wollen Sie ihr Unglück benutzen, um ihr hunderttausend
+Rubel abzuzapfen! Sie werden doch gewiß nicht ihr wirklicher Mann sein,
+der seine Pflicht in jeder Beziehung erfüllt. Sie werden sie unfehlbar
+verlassen ... Das ist aber so wenig ehrenhaft, daß ich, verzeihen Sie,
+eigentlich nicht begreife, wie Sie sich haben entschließen können mir
+die Rolle eines Helfershelfers zuzumuten!“
+
+„Donnerwetter, das ist mir mal eine Romantik!“ rief Misintschikoff aus,
+während er mich mit ehrlicher Verwunderung ansah. „Übrigens handelt es
+sich hier wohl nicht so sehr um Romantik, sondern – Sie scheinen einfach
+nicht zu begreifen, um was es sich handelt. Sie sagen, es sei
+unehrenhaft, vergessen aber, daß alle Vorteile nicht auf meiner, sondern
+auf ihrer Seite sind ... Bedenken Sie doch nur ...“
+
+„Ja, natürlich, wenn man von Ihrem Standpunkt aus urteilt, dann ergibt
+sich womöglich noch, daß Sie die großmütigste Tat begehen, wenn Sie
+Tatjana Iwanowna heiraten,“ antwortete ich mit sarkastischem Lächeln.
+
+„Ja, wie denn nicht? Aber das _ist_ es doch! Es ist doch tatsächlich
+eine großmütige Tat!“ rief Misintschikoff aus, der nun seinerseits in
+Hitze geriet. „Überlegen Sie es sich doch nur: erstens opfere ich mich
+und willige ein, ihr Mann zu sein – das kostet doch wohl etwas?
+Zweitens: ungeachtet dessen, daß sie blank und bar mehrere
+hunderttausend Rubel besitzt, werde ich nur einhunderttausend Rubel von
+ihr nehmen. Ich habe mir bereits mein Wort gegeben, daß ich, solange ich
+lebe, keine Kopeke mehr von ihr nehmen werde, obgleich ich es doch
+könnte: das aber kostet doch wiederum etwas – denken Sie nur nach: kann
+sie denn so ihr Leben ruhig verbringen? Damit sie ruhig leben kann, muß
+man ihr unbedingt das Geld abnehmen und ... müßte sie eigentlich in eine
+Irrenanstalt einsperren; denn sonst kann man sich darauf gefaßt machen,
+daß in jeder Minute irgendein Tagedieb, ein Schwindler oder Spekulant
+auftaucht, irgend so einer mit einem Spitzbart und Schnurrbart, mit
+einer Gitarre und mit Serenaden – wie etwa Obnoskin – der sie verführt,
+sie heiratet, ihr alles abnimmt und sie dann auf der Landstraße sitzen
+läßt. Hier, zum Beispiel, befinden wir uns in einem ehrenwertesten Hause
+– und dennoch hat man sie auch hier nur deshalb aufgenommen, weil man
+auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen zweifelhaften Chancen muß man sie
+bewahren, beschützen, retten. Nun aber, begreifen Sie doch, sobald sie
+mich geheiratet hat, hört diese Berechnung sofort auf. Ich werde schon
+dafür Sorge tragen, daß kein Unglück sie wird treffen können. Nach der
+Trauung bringe ich sie zuerst nach Moskau in eine ehrenwerte, doch
+mittellose Familie – ich meine jetzt nicht jene, von der ich vorhin
+sprach –, nein, in eine andere Familie. Meine Schwester wird beständig
+bei ihr sein. Man wird sie nicht aus den Augen lassen. An Geld behält
+sie etwa zweihundertfünfzigtausend Rubel, vielleicht sogar
+dreihunderttausend: damit kann man, wissen Sie, doch leben! Alle
+Vergnügungen sollen ihr geboten werden, alle Zerstreuungen, Bälle,
+Maskeraden, Konzerte. Sie kann sogar von Liebesabenteuern träumen – wenn
+ich mich auch in der Beziehung natürlich sicherstellen werde: träume
+soviel du willst, in Wirklichkeit aber – nie und nimmer! Jetzt kann ein
+jeder sie beleidigen, dann aber kann das keiner mehr tun: sie ist meine
+Frau, Madame Misintschikoff, und meinen Namen gebe ich nicht zum Gespött
+hin! Denken Sie doch nur, was das allein wert ist – das kostet doch
+etwas! Selbstredend werde ich nicht mit ihr zusammen leben: sie in
+Moskau und ich irgendwo in Petersburg. Diese meine Absicht teile ich
+Ihnen gleichfalls im voraus mit; denn Ihnen gegenüber will ich ehrlich
+sein. Aber was hat denn das auf sich, daß wir getrennt leben? Überlegen
+Sie es sich doch nur, denken Sie an ihren Charakter und sagen Sie
+selbst: Ist sie denn überhaupt fähig, Frau zu sein und mit ihrem Mann
+zusammen zu leben? Kann man denn auch nur irgendeine Beständigkeit von
+ihr erwarten? Sie ist doch das leichtsinnigste Geschöpf der Welt! Sie
+bedarf ewig der Veränderung. Sie ist fähig, am nächsten Tage zu
+vergessen, daß sie vor vierundzwanzig Stunden mir angetraut worden ist.
+Ja, ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn ich mit ihr
+zusammen leben und strenge Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten verlangen
+wollte! Natürlich werde ich sie von Zeit zu Zeit besuchen, etwa einmal
+im Jahr oder auch öfter, aber nicht, um dann Geld von ihr zu verlangen –
+ich versichere Sie, daß ich nichts von ihr verlangen werde. Ich habe
+Ihnen doch gesagt, daß ich mehr als hunderttausend Rubel nicht nehmen
+werde, bestimmt nicht! Im Geldpunkt werde ich mehr als verständig sein.
+Wenn ich auf zwei, drei Tage zum Besuch komme, werde ich ihr sogar
+Vergnügen und nicht etwa Langeweile bereiten: ich werde mit ihr
+scherzen, werde ihr Geschichten erzählen, werde mit ihr Bälle besuchen,
+flirten, ihr Andenken schenken, Romanzen singen und einen
+Liebesbriefwechsel mit ihr eingehen. Sie wird doch einfach entzückt sein
+– von einem so romantischen, verliebten und liebenswürdigen Ehemann!
+Meiner Meinung nach ist es sogar sehr rationell: alle Männer sollten so
+verfahren. Den Frauen sind sie ja nur dann wertvoll, wenn sie abwesend
+sind, und wenn ich mein System durchhalte, werde ich gewiß in der
+süßesten Weise Tatjana Iwanownas Herz für ihr ganzes Leben einnehmen.
+Was könnte man ihr noch Besseres wünschen? Sagen Sie doch! Das ist ja
+ein Paradies, aber keine Erdenwirklichkeit!“
+
+Ich hörte schweigend und mit wachsender Verwunderung zu. Ich sagte mir,
+daß man Herrn Misintschikoff nicht gut widerlegen konnte. Er war von der
+Rechtlichkeit und Genialität seines Projektes fanatisch überzeugt und
+sprach von ihm mit der ganzen Begeisterung eines Erfinders. Es blieb nur
+noch ein peinlicher Punkt übrig, über den man sich unbedingt aussprechen
+mußte.
+
+„Aber denken Sie denn gar nicht daran,“ fragte ich, „daß sie schon so
+gut wie die Braut meines Onkels ist? Wenn Sie sie nun entführen, dann
+nehmen Sie ihm die Braut fast am Tage vor der öffentlichen Verlobung
+fort und tun es außerdem noch mit seinem Gelde, das Sie von ihm zur
+Ausführung der gewagten Tat borgen wollen und werden.“
+
+„Warten Sie, damit fange ich Sie gerade!“ rief Misintschikoff eifrig
+aus. „Ich habe diese Ihre Einwendung vorausgesehen. Aber erstens – und
+das ist die Hauptsache: Ihr Onkel hat ja noch nicht bei ihr angehalten,
+folglich brauche ich doch gar nicht zu wissen, daß man ihn mit ihr
+verkuppeln will. Zudem bitte ich, nicht zu vergessen, daß ich bereits
+vor drei Wochen meinen Entschluß gefaßt habe, also zu einer Zeit, als
+ich von allen Absichten der Generalin und Foma Fomitschs nichts ahnte.
+Folglich bin ich in moralischer Hinsicht durchaus im Recht, und genau
+genommen, mache nicht ich ihm, sondern macht er mir die Braut
+abspenstig, mit der ich – nicht zu vergessen! – inzwischen schon ein
+nächtliches Stelldichein in der Laube gehabt habe. Und dann erlauben Sie
+mal: Waren Sie nicht selbst außer sich darüber, daß man Ihren lieben
+Onkel mit dieser Tatjana Iwanowna verheiraten will? Und nun treten Sie
+plötzlich für diese Ehe ein, reden von Familienbeleidigung und Ehre! Im
+Gegenteil: ich verpflichte mir Ihren Onkel ganz außerordentlich, ich
+rette ihn gewissermaßen – das müssen Sie doch einsehen! Er denkt mit
+Ekel an diese Heirat – und hinzu kommt noch, daß er ein anderes Mädchen
+liebt. Und was wäre denn Tatjana Iwanowna für eine Frau für ihn? Und
+auch sie würde doch mit ihm nur unglücklich werden; denn – sagen Sie,
+was Sie wollen – man wird sie dann doch zum mindesten im Zaume halten
+müssen, damit sie wenigstens jungen Herren keine Rosen zuwirft! Und wenn
+ich sie in der Nacht entführe, so kann doch weder die Generalin noch ein
+Foma Fomitsch als Hindernis in den Weg treten. Ein einmal entführtes
+Mädchen aber zu heiraten, das ist auch gerade keine Ehre. Also –
+verpflichte ich mir Jegor Iljitsch nicht zu ewigem Dank? Wende ich nicht
+ein großes Unglück von ihm ab?“
+
+Dieses letzte Argument machte allerdings einen sehr starken Eindruck auf
+mich.
+
+„Aber wenn er morgen bei ihr anhält?“ fragte ich. „Dann würde es doch zu
+spät sein – wenn sie seine offizielle Braut ist.“
+
+„Selbstverständlich wäre es dann zu spät. Deshalb muß man auch schnell
+handeln, um dies zu verhüten. Weshalb und wozu habe ich Sie denn um
+Ihren Beistand gebeten? Allein würde es mir schwerfallen, vereint aber
+könnten wir alles gut einleiten und durchführen, können wir vor allem
+verhindern, daß Jegor Iljitsch bei ihr anhält. Man muß alles
+daransetzen, um das, wie gesagt, zu verhindern, muß im äußersten Fall –
+wenn’s nicht anders geht – Foma Fomitsch verprügeln und damit die
+allgemeine Aufmerksamkeit so ablenken, daß dann niemand mehr an
+Hochzeiten denkt. Selbstredend käme dieses Mittel nur für den äußersten
+Fall in Frage; wie gesagt, ich nahm es nur als Beispiel. Nun sehen Sie:
+In all diesen Beziehungen hoffe ich auf Sie.“
+
+„Noch eine Frage, die letzte: Haben Sie außer mir niemandem etwas von
+Ihrem Plan gesagt?“
+
+Misintschikoff kratzte sich ein wenig hinterm Ohr und schnitt eine
+überaus saure Grimasse.
+
+„Ich will Ihnen gestehen,“ antwortete er, „daß diese Frage für mich
+schlimmer ist als die bitterste Pille. Das ist ja der Haken, daß ich
+meinen Plan schon einem anderen mitgeteilt habe ... Ich habe ... ich
+habe ... ich habe mir da einen verteufelten Brei eingebrockt! Und was
+glauben Sie wohl, wem ich ihn mitgeteilt habe? – _Obnoskin!_ Ich
+begreife es selbst nicht, ich kann es mir selber gar nicht glauben! ...
+Ja, ich weiß nicht einmal, wie es eigentlich kam! Er scharwenzelte hier
+herum ... ich kannte ihn noch nicht näher, und als die Eingebung mich
+beglückte, da war ich natürlich wie im Fieber – ... und da ich mir
+gleichzeitig sagte, daß ich ohne einen Helfershelfer nicht auskommen
+würde, so wandte ich mich eben an Obnoskin. ... Unverzeihlich von mir,
+unverzeihlich!“
+
+„Nun, und Obnoskin?“
+
+„O, er war mit Begeisterung zu allem bereit, aber am nächsten Morgen
+verschwand er. Nach drei Tagen erschien er wieder – diesmal aber mit
+seiner Frau Mutter. Mit mir spricht er seitdem kein Wort und er meidet
+mich sogar auffallend: er scheint mich geradezu zu fürchten. Ich begriff
+natürlich sofort, um was es sich handelte. Seine Mutter ist ein so
+abgefeimtes, durchtriebenes Frauenzimmer, wie man ein zweites schwerlich
+finden könnte. Ich habe sie schon früher gekannt. Er hat ihr natürlich
+alles erzählt. Ich schweige vorläufig und warte ab. Sie spionieren hier
+jetzt eifrig herum, und die Situation ist sehr gespannt ... Deshalb
+beeile ich mich auch.“
+
+„Was befürchten Sie denn von ihnen?“
+
+„Großes werden sie freilich nicht ausrichten; daß sie aber Unfug
+anstiften werden, davon bin ich überzeugt. Wahrscheinlich werden sie
+fürs Schweigen und vielleicht auch für ihren Beistand Geld fordern –
+darauf bin ich schon gefaßt. Aber mehr als dreitausend bar – kann ich
+unmöglich. Urteilen Sie selbst: Dreitausend den Obnoskins, fünfhundert
+blank und bar für die Trauung und Entführung; denn dem Onkel muß
+unverzüglich die ganze Summe zurückgegeben werden. Dann noch alte
+Schulden. Nun, meiner Schwester noch eine kleine Summe, nicht viel, aber
+immerhin etwas. Was bleibt dann von hunderttausend noch übrig? Das ist
+doch der reine Bankrott! ... Die Obnoskins sind übrigens heute
+fortgefahren.“
+
+„Fortgefahren?“ fragte ich interessiert.
+
+„Sogleich nach dem Tee. Ach, zum Teufel mit ihnen! Morgen aber, das
+werden sie sehen, werden Mutter und Sohn wieder erscheinen. Nun, wie
+ist’s denn, sind Sie einverstanden?“
+
+„Ich ... verzeihen Sie,“ begann ich zögernd in dieser etwas peinlichen
+Lage, „ich weiß nicht recht, was ich sagen soll. Die Sache ist etwas
+kitzlig ... Ich werde das Geheimnis natürlich heilig halten – ich bin
+nicht Obnoskin ... aber, ich glaube ... Sie können sich nicht auf meinen
+Beistand verlassen.“
+
+„Ich sehe,“ sagte Misintschikoff ruhig und erhob sich vom Stuhl, „ich
+sehe, daß Foma Fomitsch und die Großmama Ihre Geduld noch nicht
+erschöpft haben, und daß Sie, wenn Sie Ihren guten, durch und durch
+edlen Onkel auch lieben mögen, dennoch nicht genügend begriffen haben,
+wie sehr er gequält wird. Sie sind hier noch Neuling ... Aber nur ein
+wenig Geduld! Wenn Sie nur den morgigen Tag noch miterleben, werden Sie
+schon am Abend einwilligen; denn sonst ist doch Ihr Onkel rettungslos
+verloren – Sie verstehen mich? Man wird ihn unfehlbar zwingen, Tatjana
+Iwanowna zu heiraten. Und vergessen Sie nicht, daß er vielleicht morgen
+schon anhalten wird. Dann werden wir zu spät kommen – man müßte sich
+also eigentlich schon heute entschließen.“
+
+„Glauben Sie mir, ich wünsche Ihnen den besten Erfolg, aber helfen ...
+ich weiß nicht recht ...“
+
+„Schon gut. Warten wir bis morgen,“ entschied Misintschikoff mit etwas
+spöttischem Lächeln. „^La nuit porte conseil.^ Auf Wiedersehen! Ich
+werde morgen etwas früher zu Ihnen kommen, und Sie überlegen es sich
+inzwischen ...“
+
+Er ging, irgend etwas vor sich hinpfeifend.
+
+Ich trat fast unmittelbar nach ihm hinaus in den Garten, um mich zu
+erfrischen. Der Mond war noch nicht aufgegangen. Die Nacht war dunkel,
+die Luft warm und schwül. Die Blätter der Bäume regten sich nicht.
+Ungeachtet meiner entsetzlichen Müdigkeit wollte ich etwas gehen, mich
+zerstreuen und doch wieder meine Gedanken sammeln. Ich war aber noch
+keine zehn Schritte gegangen, als ich die Stimme meines Onkels vernahm.
+Er stieg mit einem anderen die Treppenstufen zum Sommerhaus hinan und
+sprach lebhaft. Ich kehrte sofort zurück und rief ihn. Der andere war
+Widopljässoff.
+
+
+
+
+ XI.
+
+ Äußerste Verwunderungen.
+
+
+„Onkel!“ rief ich, „da sind Sie ja endlich!“
+
+„Freund, ich wollte mich die ganze Zeit losmachen, um zu dir zu kommen.
+Laß mich jetzt noch den Widopljässoff abfertigen, dann können wir uns
+ruhig aussprechen. Ich habe dir viel zu erzählen.“
+
+„Wie, Sie wollen sich noch mit Widopljässoff abgeben! Schicken Sie ihn
+doch zum Teufel, Onkel!“
+
+„Nur noch fünf, höchstens zehn Minuten, und ich gehöre dir allein,
+Ssergei. Sieh: es handelt sich um eine wichtige Angelegenheit.“
+
+„Ach, der Kerl kommt doch sicherlich nur mit Dummheiten!“ meinte ich
+ärgerlich.
+
+„Ja, was soll ich dir nun sagen, mein Bester? Hättest du dir nicht eine
+andere Zeit wählen können, um mir mit diesen Kleinigkeiten zu kommen!
+Hast du denn wirklich keine andere Zeit, um deine Klagen vorzubringen,
+Grigorij? Nun, was kann ich denn für dich tun? Hab doch _du_ wenigstens
+Mitleid mit mir! Ich werde ja doch von euch sozusagen wie eine Zitrone
+ausgepreßt, werde lebendig verzehrt, gierig verschlungen! Meine Kraft
+ist erschöpft, Ssergei!“
+
+Und mein Onkel streckte die Arme auseinander, wie in aussichtsloser
+Verzweiflung.
+
+„Was ist denn das für eine so wichtige Sache, daß sie sich nicht bis
+morgen früh aufschieben läßt? Ich hätte es dagegen so dringend nötig,
+mit Ihnen, Onkel, über Wichtiges zu reden ...“
+
+„Ach Freund, es wird ja ohnehin schon laut genug geklagt und geschrien,
+daß ich mich um die Sittlichkeit meiner Leute nicht kümmere! Da könnte
+er sich ja morgen über mich beschweren, daß ich ihn nicht angehört
+hätte, und dann ...“
+
+Und mein Onkel machte wieder seine bezeichnende Armbewegung.
+
+„Na, dann fertigen Sie ihn schnell ab! Kann ich Ihnen nicht helfen?
+Gehen wir hinein. Was will er denn eigentlich?“ fragte ich, als wir ins
+Zimmer traten.
+
+„Ja, sieh mal, Freund, sein Familienname gefällt ihm nicht, er bittet
+mich, ihm einen anderen zu verschaffen. Was sagst du dazu?“
+
+„Sein Familienname gefällt ihm nicht? Wie das? ... Wissen Sie, Onkel,
+bevor ich ihn selbst anhöre, erlauben Sie, Ihnen zu sagen, daß nur in
+Ihrem Hause solche Wunderlichkeiten vorkommen können!“ Und vor lauter
+Nichtverstehenkönnen breitete ich kopfschüttelnd die Arme aus.
+
+„Ach, Freund! Glaub mir, auch ich verstehe es, so die Arme auszubreiten,
+aber damit ist keinem geholfen!“ sagte mein Onkel etwas ärgerlich.
+„Versuch es doch, mit ihm zu reden, versuch’s nur. Schon ganze zwei
+Monate quält er mich damit ...“
+
+„Es ist ein unbegründeter Familienname,“ bemerkte Widopljässoff von der
+Tür her.
+
+„Warum denn ein unbegründeter?“ fragte ich ihn erstaunt.
+
+„So. Ich meine, er stellt jede Abscheulichkeit dar, die man sich nur
+ausdenken kann.“
+
+„Wieso – jede Abscheulichkeit? Und wie soll man ihn denn ändern? Wer tut
+denn so etwas überhaupt?“
+
+„Ich bitte Euch, welcher Mensch hat denn einen solchen Familiennamen?“
+
+„Ich gebe ja zu, daß dein Familienname zum Teil etwas eigenartig ist,“
+fuhr ich in wachsender Verwunderung fort, „aber was läßt sich denn jetzt
+noch daran ändern? Dein Vater hat doch denselben Namen geführt?“
+
+„Das ist durchaus wahr: daß ich durch meinen Vater dieserhalb zu ewigem
+Leiden verurteilt bin, da es mir beschieden ist, dank meinem Namen viel
+Spott und Schimpf ertragen zu müssen,“ antwortete Widopljässoff.
+
+„Ich könnte wetten, Onkel, daß hinter dieser Idee Foma Fomitsch steckt!“
+rief ich geärgert aus.
+
+„Nein, nein, Freund, nein, da täuschst du dich! Es ist allerdings wahr,
+Foma tut ihm viel Gutes. Er hat ihn zu seinem Sekretär ernannt. In
+Sekretärobliegenheiten besteht jetzt seine ganze Beschäftigung. Nun und
+außerdem hat Foma selbstverständlich für seine geistige Entwicklung
+gesorgt, hat ihn zu wahrem Seelenadel erhoben, so daß ihm in gewisser
+Beziehung sogar ein Licht aufgegangen ist ... Hör, ich werde dir alles
+erzählen ...“
+
+„Das stimmt genau,“ unterbrach Widopljässoff, „daß Foma Fomitsch mein
+wahrhaftiger Wohltäter sind, und da sie mein wahrhaftiger Wohltäter
+sind, haben sie mir auch meine ganze irdische Nichtigkeit mehrfach
+bewiesen, wie ich beispielsweise hier auf Erden nur ein Wurm bin, so daß
+ich nur dank ihrer Unterweisungen zum erstenmal mein Schicksal erkannt
+und vorausgesehen habe.“
+
+„Hör mich an, Sserjosha, ich werde dir erzählen, um was es sich hier
+handelt,“ wandte sich mein Onkel eilig, wie es seine Art war, an mich
+wie an einen Schiedsrichter. „Er lebte zuerst, fast seit seiner
+Kindheit, in Moskau bei einem Schönschreiblehrer als – nun, so als
+dienstbarer Geist. Du müßtest sehen, wie er bei ihm die
+Schönschreibekunst erlernt hat: mit Farben und Gold ... und ... rund
+herum, weißt du, malt er dir noch Kupidos – mit einem Wort, ein
+Künstler! Iljuscha lernt jetzt bei ihm Schönschreiben. Zahle ihm
+anderthalb Rubel für die Stunde. Foma hat selbst den Preis bestimmt,
+anderthalb Rubel, wie gesagt. Er fährt außerdem zu drei benachbarten
+Gutsbesitzern ins Haus – die zahlen gleichfalls. Und sieh, wie er sich
+kleidet! Außerdem schreibt er Gedichte.“
+
+„Gedichte! Das fehlte gerade noch!“
+
+„Jawohl, Gedichte, Freund, glaub mir, Gedichte! Und denke nicht, daß ich
+scherze: wirkliche Gedichte, sag ich dir, Versifikationen, oder wie man
+es nennt, mit Reimen am Ende. Er behandelt alle Gegenstände, nimmt
+irgendein x-beliebiges Ding und beschreibt’s dir sofort in Versen. Ein
+richtiges Talent, sozusagen. Zum Namenstage meiner Mutter hatte er eine
+Epistel verfaßt, daß wir nur so die Münder aufsperrten: sogar aus der
+Mythologie hatte er was genommen, und die Musen schwebten in der Luft,
+so daß sogar, weißt du, diese ... wie heißt das Ding doch gleich? – na
+ja, diese Vollendung der Form zu sehen war, – mit einem Wort, jede Zeile
+klappte und reimte sich immer mit einer vorhergehenden. Foma hatte es
+korrigiert ... Nun, ich, natürlich – was sollte ich sagen? freute mich
+auch meinerseits. Mag er doch dichten, wenn er es nur nicht zu bunt
+treibt! Ich, weißt du, Grigorij,“ wandte er sich an Widopljässoff, „ich
+sage dir das ja nur wie ein Vater. Foma hörte davon, ließ sich das
+Gedicht bringen, munterte ihn noch auf und ernannte ihn sogleich zu
+seinem Vorleser und Schreiber, – mit einem Wort, er sorgte für seine
+Bildung. Das ist also durchaus wahr, was er da sagte: daß Foma sein
+Wohltäter sei. Nun und so, weißt du, hat sich so ein bißchen edle
+Romantik in seinem Kopf entwickelt und so ein Gefühl der Unabhängigkeit
+– das hat mir alles Foma erklärt; leider habe ich die Einzelheiten, Hand
+aufs Herz, wieder vergessen. Nun wollte ich – Ehrenwort! – ich wollte
+ihn ohnehin befreien, noch bevor Foma davon zu reden anfing. Es ist,
+weißt du, doch immer irgendwie ... man schämt sich gewissermaßen ... Ja,
+aber Foma war dagegen, er braucht ihn, er hat ihn liebgewonnen. Und dann
+sagt er: mir, seinem Herrn, gereiche es zur größeren Ehre, wenn ich
+unter meinen Leibeigenen Dichter habe, – es habe irgendwo mal solche
+Barone gegeben oder Ritter, na, kurz und gut – das sei ^en grand^. Nun,
+soll’s einmal ^en grand^ sein, dann meinetwegen ^en grand^! Ich habe
+ihn, den Grigorij, schon achten gelernt – verstehst du das? ... Aber
+Gott weiß, wie er sich aufführt. Am schlimmsten ist, daß er, nachdem er
+sein Gedicht verfaßt hat, vor dem ganzen übrigen Gesinde die Nase in die
+Höhe zieht und mit den anderen nicht einmal mehr sprechen will. Doch
+fühl dich nicht gekränkt, Grigorij, ich sage es nur wie ein Vater von
+dir. Im letzten Winter wollte er heiraten: es ist hier ein junges
+Mädchen, vom Hofgesinde, Matrjona, und, weißt du, so ein nettes,
+ehrliches, arbeitsames, lustiges Mädel. Na, und nun will er sie
+plötzlich nicht, sagt ab. Ist er jetzt so hoher Meinung von sich oder
+beabsichtigt er, zuerst berühmt zu werden und dann bei einer anderen
+anzuhalten ...“
+
+„Mehr auf den Rat Foma Fomitschs hin,“ bemerkte Widopljässoff, „da Sie
+mein wahrhaftiger Wohltäter sind ...“
+
+„Aber natürlich! Wie wäre denn hier etwas ohne Foma Fomitsch möglich!“
+rief ich unwillkürlich aus.
+
+„Ach, Freund, nicht darum handelt es sich!“ unterbrach mich mein Onkel
+eilig, „sieh mal: jetzt lassen sie ihm keine Seelenruh. Jenes Mädchen,
+ein gewandtes und gescheites Ding, hat jetzt alle gegen ihn aufgehetzt:
+sie necken und foppen ihn beständig – und sogar die kleinen Hofjungen
+behandeln ihn wie einen Narren ...“
+
+„Was mehr auf Matrjona zurückzuführen ist,“ bemerkte wieder
+Widopljässoff; „denn sie ist eine echte dumme Gans, und da sie eine
+echte dumme Gans ist, ist sie, was ihren Charakter angeht, ein
+unbeflügeltes Weibsbild. Auf diese Weise bin ich zu ewigem Leiden in
+meinem Leben verdammt.“
+
+„Ach, Grigorij, ich habe es dir doch gesagt,“ fuhr mein Onkel fort, nach
+einem vorwurfsvollen Blick auf Widopljässoff. „Sieh mal, Ssergei, die
+Hofleute haben nun glücklich ein schmutziges Wort gefunden, das sich auf
+seinen Namen reimt. Und jetzt kommt er zu mir, beklagt sich und bittet,
+ihm einen anderen Familiennamen zu geben, sagt, daß er schon lange unter
+dem Mißklang desselben gelitten habe ...“
+
+„Es ist kein veredelter Name,“ bemerkte wieder Widopljässoff.
+
+„Na, du schweige mal jetzt, wenn ich rede, Grigorij! Foma hat ihn darin
+natürlich bestärkt ... das heißt ... nicht gerade, daß er den Einfall
+gutgeheißen hätte; aber sieh, es handelt sich um folgende Erwägung: wenn
+nun, nehmen wir an, seine Gedichte gedruckt werden, was Foma
+projektiert, so kann ein solcher Familienname ihm doch geradezu schaden
+– nicht wahr?“
+
+„So will er seine Gedichte drucken lassen, Onkel?“
+
+„Drucken, drucken, Freund. Das ist schon beschlossene Sache – auf meine
+Rechnung, – und auf dem Titelblatt wird stehen, daß sie von einem
+Leibeigenen Soundso verfaßt sind, und im Vorwort, das Foma schreiben
+wird, soll der Dank des Autors für die ihm gebotene Bildung
+ausgesprochen werden. Das Ganze ist Foma gewidmet. Foma wird, wie
+gesagt, selbst eine Einleitung schreiben. Und nun denke dir, wenn auf
+dem Titelblatt steht: ‚Widopljässoffs Gedichte‘ ...“
+
+„‚Widopljässoffs Wehklagen‘,“ korrigierte Widopljässoff.
+
+„Nun, sieh – dazu noch Wehklagen! Was ist denn Widopljässoff für ein
+Name? Er verletzt ja geradezu unser Zartgefühl. Das sagt auch Foma. Die
+Kritiker aber sollen, wie es heißt, alle sehr unangenehme Spötter sein.
+Zum Beispiel unser großer Kritiker der ‚Moskauer Nachrichten‘ ... Die
+nehmen auf nichts Rücksicht. Sie können ihn ja einzig wegen seines
+Familiennamens unmöglich machen – nicht wahr? Nun, ich meine: mag er
+doch gleichviel welch einen Namen auf seinen Buchdeckel schreiben – wie
+nennt man das doch gleich ... Pseudonym, glaube ich, oder so ungefähr,
+jedenfalls etwas mit ‚nym‘. Aber nein, damit ist er nicht einverstanden;
+er will, daß ich dem ganzen Hofgesinde anbefehle, ihn sein Leben lang
+nur bei einem ganz neuen Namen zu nennen, damit er, seinem Talent
+entsprechend, wie gesagt, einen ‚veredelten Namen‘ habe ...“
+
+„Ich könnte wetten, daß Sie es ihm auch versprochen haben, Onkel.“
+
+„Ich ... weißt du, Freund Sserjosha, nur um mit ihnen nicht wieder in
+Streit zu geraten ... Laß gut sein! Es war damals zwischen uns, Foma und
+mir, hm! ... so ein Mißverständnis – du verstehst schon. Nun, und seit
+der Zeit gibt es in jeder Woche einen anderen Familiennamen, und immer
+wählt er sich so zarte Bedeutungen aus: Oleandroff, Tulpenoff ... Sag
+doch selbst, Grigorij, denk doch nach: Zuerst batest du, daß man dich
+Wernyj[3] nenne, ‚Grogorij Wernyj‘. Dann aber gefiel dir der Name nicht
+mehr, weil irgendein Hofbengel einen Reim gefunden hatte und dich
+‚Skwernyj‘[4] nannte. Du beklagtest dich: der Bengel wurde bestraft.
+Zwei Wochen lang dachtest du dir einen anderen Namen aus. Endlich
+hattest du dich entschlossen: Kamst, batest, man solle dich ‚Ulanoff‘
+nennen. Aber sag doch selbst, kann es denn einen dümmeren Namen als
+‚Ulanoff‘ überhaupt geben? Doch ich war auch damit einverstanden: befahl
+von neuem, dich nur noch ‚Ulanoff‘ zu nennen. Ich tat es nur, Freund“ –
+mein Onkel wandte sich wieder an mich – „um die Sache vom Halse zu
+haben. Drei Tage lang hießest du ‚Ulanoff‘. Du hast alle Wände, alle
+Fensterbretter im Pavillon verdorben; denn, weißt du, Sserjosha, er hat
+überall seinen Namenszug angebracht: ‚Grogorij Ulanoff‘. Später mußte
+dann alles mit weißer Farbe übergestrichen werden. Du hast ein ganzes
+Buch holländisches Papier zur Übung deiner Unterschrift verbraucht:
+‚Ulanoff – Schriftprobe – Ulanoff – Schriftprobe‘. Na, dann war ihm auch
+Ulanoff nicht recht: auf Ulanoff reimt sich zum Unglück ‚Bolwanoff‘[5].
+‚Ich will vom Gesinde nicht Bolwanoff genannt werden,‘ sagte er – und
+wieder mußte der Name geändert werden! Wie hießest du dann noch, ich
+habe es vergessen.“
+
+„‚Tanzeff‘,“ antwortete Widopljässoff. „Wenn es mir durch meinen Namen
+Widopljässoff auferlegt ist, einen Hampelmann darzustellen, dann möge es
+doch wenigstens eine veredelte, eine ausländische Benennung sein:
+Tanzeff.“
+
+„Richtig: ‚Tanzeff‘. Nun, Freund, weißt du, ich war auch damit
+einverstanden. Aber die Hofbengel sind dann auf einen solchen Reim
+verfallen, daß man ihn überhaupt nicht aussprechen darf. Heute kommt er
+wieder, will wieder einen neuen Namen haben. Ich wette, daß du ihn schon
+in Bereitschaft hast. Nun, hab’ ich nicht recht, Grigorij, heraus mit
+der Sprache!“
+
+„Ich habe dieserhalb schon seit langem die Absicht, Euch meinen neuen
+Namen zu Füßen zu breiten: einen neuen veredelten.“
+
+„Und wie lautet er denn?“
+
+„Esbuketoff.“
+
+„Was? Und du schämst dich nicht, Grigorij? Ein Name, von der
+Pomadenbüchse genommen! Du willst doch ein vernünftiger Mensch sein! Und
+wie lange du darüber gebrütet haben wirst! Nicht wahr, den hast du auf
+der Parfümflasche gelesen?“
+
+„Erbarmen Sie sich, Onkel,“ sagte ich halblaut zu ihm, „der Kerl ist
+doch ein Esel, ein ausgesprochener Narr!“
+
+„Was soll ich denn tun, Freund?“ fragte mein Onkel gleichfalls halblaut
+zurück. „Rund herum versichern alle, daß er klug und so begabt sei, und
+daß dies nur die edlen Gefühle seien, die sich in ihm regten ...“
+
+„So schicken Sie ihn doch um Christi willen zum Teufel, machen Sie sich
+doch endlich von ihm los!“
+
+„Hör mal, Grigorij! Sieh, mein Lieber, ich habe doch bei Gott keine
+Zeit!“ begann mein Onkel mit einer geradezu bittenden Stimme, als
+fürchte er sogar seinen eigenen Diener. „Nun, sag doch selbst, wie kann
+ich mich denn jetzt mit deinen Klagen befassen! Du sagst, man hätte dich
+wieder gekränkt? Nun gut, also höre: ich gebe dir hiermit mein
+Ehrenwort, daß ich morgen die ganze Angelegenheit erledigen werde, jetzt
+aber geh mit Gott ... Wart! Was macht Foma Fomitsch?“
+
+„Haben sich zur Ruhe begeben. Geruhten nur zu befehlen, falls jemand
+nach ihnen fragen sollte, dann zu sagen, daß sie diese Nacht im Gebet
+kniend zu verbringen gedächten.“
+
+„Hm! Nun, geh mal, geh! – Sieh, Sserjosha, er ist beständig bei Foma, so
+daß ich ihn ordentlich fürchte. Und das Hofgesinde liebt ihn ja auch nur
+deshalb nicht, weil er Foma alles hinterbringt. Jetzt ist er gegangen,
+aber wer weiß, ob er nicht morgen irgend etwas klatschen wird. Aber
+jetzt habe ich alles gut gemacht, Freund. Ich bin jetzt ganz ruhig ...
+Es drängte mich nur zu dir ... Gott sei Dank, jetzt habe ich dich
+endlich wieder!“ sagte er mit innigem Gefühl, und er drückte fest meine
+Hand. „Weißt du, ich glaubte und fürchtete schon, daß du ernstlich böse
+seist und mir entschlüpfen würdest. Ich habe sogar auf dich aufpassen
+lassen, damit du mir nicht entwischst! Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist’s
+überstanden! Aber vorhin – was? – der alte Gawrila? – was er ihm da
+sagte! Und auch Falalei, und du! – eins zum anderen! Nun, Gott sei Dank,
+Gott sei Dank! Endlich kann ich mich mit dir aussprechen. Werde dir mein
+ganzes Herz ausschütten. Du, Ssergei, fahre mir nur nicht fort: du bist
+der einzige, den ich habe, du und Korowkin ...“
+
+„Aber, erlauben Sie, Onkel, was haben Sie denn dort ‚gut gemacht‘, und
+worauf soll ich denn hier noch warten, nach dem, was vorgefallen ist?
+Offen gestanden, mir dreht sich der Kopf im Kreise!“
+
+„Ach – steht mein Kopf etwa still? Der tanzt schon seit einem halben
+Jahre Walzer! Aber Gott sei Dank! jetzt ist alles wieder gut. Man hat
+mir vor allen Dingen verziehen, vollkommen verziehen, unter
+verschiedenen Bedingungen natürlich: aber dafür bin ich jetzt ganz ruhig
+und brauche nichts mehr zu fürchten. Meiner Ssaschenjka haben sie
+gleichfalls alles verziehen. Aber die war doch vorhin, die war doch! –
+was? ... heißes Herzchen! Ließ sich bißchen hinreißen ... Aber hat doch
+ein goldenes Herzchen! Weißt du, ich bin sehr stolz auf mein kleines
+Mädchen, Sserjosha. Möge Gott sie immer behüten. Dir wurde gleichfalls
+verziehen, und weißt du, sogar _wie_! – Du kannst alles tun, was du
+willst, kannst durch alle Zimmer gehen und auch im Garten spazieren, und
+sogar dann, wenn Gäste da sind – mit einem Wort, alles, was du willst;
+aber nur unter einer Bedingung, daß du morgen in Foma Fomitschs oder
+meiner Mutter Gegenwart nicht sprichst, nur unter der Bedingung! Also
+buchstäblich keine Silbe – ich habe es auch schon in deinem Namen
+feierlich versprochen, – und du wirst nur zuhören, was die Älteren ...
+Das heißt, ich wollte sagen, was die anderen sprechen. Sie sagten, du
+seist noch zu jung. Du, Ssergei, nimm es nicht übel; denn schließlich
+bist du ja auch wirklich noch jung ... Auch Anna Nilowna sagt es ...“
+
+Allerdings war ich damals noch sehr jung, was ich sofort dadurch bewies,
+daß ich ob solcher beleidigenden Bedingungen in helle Empörung geriet.
+
+„Hören Sie, Onkel!“ rief ich heftig aus, „sagen Sie mir bitte nur eines,
+und beruhigen Sie mich wenigstens in dieser Hinsicht: Befinde ich mich
+hier tatsächlich in einer Irrenanstalt, oder –?“
+
+„Da haben wir’s, Freund, du willst gleich Kritik üben! Konntest du denn
+das auf keine Weise unterdrücken?“ sagte er betrübt. „Durchaus nicht in
+einer Irrenanstalt! Wir sind nur so von beiden Seiten ein wenig in Eifer
+geraten. Aber du mußt doch zugeben, Freund, daß auch du dich nicht ganz
+^comme il faut^ benommen hast. Du entsinnst dich doch noch dessen, was
+du ihm an den Kopf warfst, – einem Manne, der doch immerhin in
+ehrwürdigem Alter steht!“
+
+„Solche Leute wie er haben kein ehrwürdiges Alter, Onkel.“
+
+„Na, Freund, das ist denn doch etwas über die Schnur gehauen! Das ist
+mehr als Freidenkertum. Ich habe ja selbst nichts gegen ein vernünftiges
+Freidenkertum, aber das ist denn doch etwas zu stark – das heißt ... ich
+meine ... ich – du hast mich eigentlich überrascht, Ssergei.“
+
+„Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich sehe meine Schuld vollkommen ein,
+meine Schuld vor Ihnen. Was aber Ihren Foma Fomitsch betrifft ...“
+
+„Da haben wir’s! Nun auch noch ‚_Ihren_‘ Foma Fomitsch! Ach, Freund,
+beurteile ihn nicht gar zu streng: er ist etwas misanthropisch veranlagt
+– und das ist alles ... und ein bißchen kränklich. Man darf ihn nicht so
+streng beurteilen. Dafür aber ist er ein edler Mensch, der edelste, kann
+man sagen, von allen! Du warst ja doch vorhin selbst Zeuge – er
+leuchtete förmlich! Und daß er zuweilen so seine kleinen Eigenheiten hat
+und uns ein Stückchen spielt – lohnt es sich denn, das zu beachten? Bei
+wem kommt denn so etwas nicht vor?“
+
+„Im Gegenteil, Onkel, bei wem kommt denn so etwas überhaupt vor?“
+
+„Ach, da kommst du wieder damit! Gutmütig bist du gerade nicht,
+Sserjosha; zu verzeihen verstehst du nicht! ...“
+
+„Nun gut, Onkel, gut, lassen wir das. Sagen Sie, haben Sie Nastassja
+Jewgrafowna gesehen?“
+
+„Ach, Freund, um sie allein handelte sich ja alles. Sieh, Sserjosha,
+erstens – und das ist das wichtigste –: wir haben beschlossen, ihn
+morgen alle zum Geburtstage zu beglückwünschen, – Foma, meine ich – weil
+nämlich morgen wirklich sein Geburtstag ist. Ssaschenjka ist ein gutes
+Kind, aber hierin täuschte sie sich. Wir werden also alle, die ganze
+Karawane, zu ihm gehen, noch vor dem Frühgottesdienst. Iljuschka wird
+ein Gedicht vortragen, so daß er sich sehr geschmeichelt fühlen wird.
+Wenn doch auch du ihn, Sserjosha, zusammen mit uns beglückwünschen
+würdest! Er würde dir dann vielleicht alles verzeihen. Und wie gut das
+doch wäre, wenn ihr euch aussöhnen würdet! Vergiß, Freund, die Kränkung,
+du hast ihn ja doch auch gekränkt, Sserjosha ... Er ist ein so
+ehrenwerter Mensch ...“
+
+„Onkel, um’s Himmels willen, ich habe von so wichtigen Dingen mit Ihnen
+zu reden, Sie aber ... Wissen Sie denn,“ fragte ich nochmals, „wissen
+Sie denn, was mit Nastassja Jewgrafowna geschehen ist?“
+
+„Was, Freund, wie? Was fehlt dir? Weshalb bist du so heftig? Aber
+ihretwegen hat doch die ganze Geschichte vorhin angefangen! Übrigens hat
+sie nicht erst vorhin, sondern schon vor langer Zeit angefangen. Ich
+wollte dir davon nur jetzt noch nichts sagen, um dich nicht zu
+erschrecken ... Man wollte sie einfach hinausjagen, nun, und von mir
+verlangt man, daß ich sie nach Hause schicke. Du kannst dir meine Lage
+vorstellen ... Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist alles wieder gut. Sie
+dachten nämlich, sieh mal, – ich werde dir lieber schon alles sagen –
+sie glaubten, daß ich selbst in sie verliebt sei und sie heiraten
+wollte, kurz und gut, daß ich sie in mein eigenes Unglück hineinzureißen
+beabsichtigte – denn das wäre es wirklich. So haben sie mir auch alles
+erklärt ... und daher, um mich zu retten, hatten sie beschlossen, sie
+hinauszujagen. Vor allem meine Mutter, aber hauptsächlich Anna Nilowna.
+Foma schweigt vorläufig noch. Aber jetzt habe ich sie alle beruhigt, und
+ich will dir sogleich gestehen: Ich habe dort gesagt, du seist bereits
+mit Nastenjka verlobt – und nur deshalb hergekommen. Nun, das beruhigte
+sie zum Teil, und sie kann jetzt hierbleiben. Und auch du bist jetzt in
+ihrer Meinung sehr gestiegen, nachdem ich erklärt habe, daß du als
+Freier hier auftrittst. Wenigstens hat sich meine Mutter allem Anschein
+nach beruhigt. Nur Anna Nilowna Perepelizyna hat immer noch etwas
+auszusetzen. Ich weiß wirklich nicht, was ich noch tun soll, um es ihr
+recht zu machen. Ja, was die nur wollen mag, wirklich, diese Anna
+Nilowna?“
+
+„Onkel, lieber Onkel, Sie sind ja auf ganz falschem Wege, Sie täuschen
+sich vollkommen! So hören Sie denn, daß Nastassja Jewgrafowna morgen von
+hier fortfahren wird, wenn sie inzwischen nicht schon fortgefahren sein
+sollte! Wissen Sie denn nicht, daß ihr Vater heute nur deshalb
+hergekommen ist, um sie mitzunehmen? – daß schon alles beschlossen ist,
+daß sie es mir heute selbst gesagt und mir zum Schluß aufgetragen hat,
+Sie zu grüßen – wissen Sie das oder wissen Sie das nicht?“
+
+Mein Onkel blieb so, wie er vor mir stand, wie erstarrt stehen und
+vergaß sogar, den Mund zu schließen. Es schien mir, daß sich alles
+zusammenkrampfte in ihm, und ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust.
+
+Ohne jetzt noch zu zögern, erzählte ich ihm mein ganzes Gespräch mit
+Nastenjka, meinen Antrag, ihre entschiedene Absage, ihren Ärger über
+ihn, meinen Onkel, weil er mich brieflich hergerufen hatte. Ich sagte,
+daß sie mit ihrer Abreise ihn vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna bewahren
+wolle – kurz, ich verschwieg nichts; ja, ich übertrieb noch, was es an
+Unangenehmem in diesen Nachrichten gab. Ich wollte ihn schmerzhaft
+treffen, wollte ihn endlich zu entschlossenem Eingreifen zwingen – und
+es gelang mir wirklich, ihn wenigstens zu erschrecken. Er schrie
+plötzlich auf und griff sich an den Kopf.
+
+„Wo ist sie jetzt, weißt du das? Wo ist sie jetzt?“ fragte er endlich,
+bleich vor Angst. „Und ich, ich war bereits ruhig, glaubte, alles sei
+jetzt wieder gut!“ rief er verzweifelt aus.
+
+„Ich weiß nicht, wo sie augenblicklich ist; nur ging sie vorhin, als
+sich dort im Zimmer das Geschrei erhob, zu Ihnen: sie wollte alles, was
+ich Ihnen soeben erzählt habe, denen da selbst sagen. Wahrscheinlich ist
+sie nicht zugelassen worden.“
+
+„Das fehlte noch, daß man sie zugelassen hätte! Gott, was hätte sie dann
+angerichtet! Ach Gott, was sie sich da wieder in ihr stolzes Köpfchen
+gesetzt haben mag! Und wohin will sie denn gehen, wohin? Wohin? Aber du,
+du bist auch gut! Warum hat sie dir denn abgesagt? Unsinn! Du mußt ihr
+gefallen! Weshalb hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte doch, um
+Gottes willen, was stehst du denn da und schweigst!“
+
+„Aber – Onkel! Wie kann man nur solche Fragen stellen?“
+
+„Es ist doch unmöglich! Du mußt, du mußt sie heiraten! Wozu habe ich
+dich denn aus Petersburg hergebeten? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt
+will man sie von hier fortschicken, wenn sie aber deine Frau und meine
+Nichte ist – dann wird man sie nicht mehr fortjagen können. Und wohin
+will sie denn gehen? Was soll aus ihr werden? Eine Gouvernantenstelle?
+Aber das ist doch Unsinn – Gouvernante! Und bis sie eine Stelle findet –
+wovon sollen die Ihrigen so lange leben? Der Vater hat ja ganze neun zu
+ernähren! Die haben selbst nichts zu beißen! Sie wird ja doch keine
+Kopeke von mir annehmen, wenn sie wegen dieser schmutzigen Verleumdungen
+fortgeht, weder sie noch ihr Vater. Und wie soll sie dann in dieser
+Weise mein Haus verlassen? Entsetzlich! Und ohne Skandal ist es ganz
+undenkbar – das weiß ich. Und ihr Gehalt ist schon vorausbezahlt, sie
+hatten es für den Lebensunterhalt nötig ... sie allein ernährt sie doch.
+Nun, sagen wir, ich empfehle sie, finde für sie eine ehrliche und
+ehrenwerte Familie ... aber Teufel noch eins! – woher nimmst du sie
+denn, diese ehrenwerten, wirklich ehrlichen Menschen? Na, gut, sagen
+wir, es gibt sogar sehr viele solcher, – wozu Gott erzürnen! – aber es
+ist doch, Freund, immerhin gefährlich: kann man sich denn auf die
+Menschen verlassen? Zudem ist doch ein armer Mensch immer mißtrauisch:
+es scheint ihm unwillkürlich, daß man ihn das Brot und die
+Freundlichkeit mit seiner Erniedrigung bezahlen läßt! Man wird sie
+sicherlich kränken, sie aber ist stolz, und dann ... ja, und was dann?
+Und was dann, wenn schließlich noch so ein elender Verführer hinzukommt?
+... Sie wird ihn ohrfeigen, – ich weiß, daß sie ihn ohrfeigen wird –
+aber er wird sie doch beleidigen, der Schurke! Und sie kann dann doch
+immer in üblen Leumund geraten, ein Schatten, ein Verdacht kann auf sie
+fallen – was dann? ... Mein Kopf, mein Kopf droht mir zu zerspringen!
+Großer Gott!“
+
+„Onkel! Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Frage an Sie richte,“ sagte ich
+plötzlich feierlich. „Seien Sie mir nicht böse und vergessen Sie nicht,
+daß Ihre Antwort auf diese Frage vieles entscheiden kann. Ich habe zum
+Teil sogar das Recht, von Ihnen eine Antwort zu verlangen, Onkel.“
+
+„Was, was meinst du? Was für eine Frage?“
+
+„Sagen Sie mir wie vor Gott, offen und ohne Umschweife: Empfinden Sie
+nicht, daß Sie selbst in Nastassja Jewgrafowna ein wenig verliebt sind
+und sie gern selbst heiraten würden? Bedenken Sie doch nur: einzig wegen
+dieser Befürchtung will man sie doch aus dem Hause entfernen.“
+
+Mein Onkel machte eine energische Geste wie in heftigster Ungeduld.
+
+„Ich? Verliebt? In sie? Ihr seid wohl alle nicht recht bei Troste oder
+habt euch gegen mich verschworen! Wozu habe ich denn dich herbestellt,
+wenn nicht, um ihnen allen endlich zu beweisen, daß sie nicht recht
+gescheit sind? Weshalb will ich denn dich mit ihr verheiraten? Ich? In
+sie? Ver... Verliebt? Ihr seid wohl wirklich alle ...!“
+
+„Wenn es sich so verhält, Onkel, dann erlauben Sie mir, alles
+auszusprechen. Ich erkläre Ihnen hiermit feierlich, daß ich in dieser
+Annahme entschieden nichts Schlechtes finden kann. Im Gegenteil, Sie
+würden sie überaus glücklich machen, wenn Sie sie nun einmal so lieben,
+und – und Gott gebe es! Möge Gott Ihnen Liebe und Rat schenken!“
+
+„Aber, um’s Himmels willen, was redest du da!“ rief mein Onkel fast
+entsetzt aus. „Ich wundere mich nur, wie du das so kaltblütig
+aussprechen kannst ... und ... überhaupt, Freund, eilst du immer
+irgendwohin – diesen Zug habe ich schon an dir bemerkt! Ist denn das
+nicht einfach sinnlos, was du da sagst? Wie, sag doch selbst, wie soll
+ich sie denn heiraten, wenn ich sie gewissermaßen als meine Tochter
+betrachte? Ja, eben nur wie ein Vater seine Tochter und nicht anders! Es
+wäre sogar eine Schande und eine Sünde, wenn ich anders auf sie blicken
+würde! Ich – ein Greis, und sie – ein kleines Mädchen! Sogar Foma hat es
+mir genau so in diesen Ausdrücken erklärt. Ich empfinde nur väterliche
+Liebe für sie in meinem Herzen, und da kommst du nun mit Eheschließung!
+Sie würde ja vielleicht aus Dankbarkeit nicht absagen, aber dann müßte
+sie mich doch ewig verachten, wenn ich ihre Dankbarkeit in dieser Weise
+ausnutzte. Ich würde sie nur unglücklich machen und ... und würde ihre
+Anhänglichkeit verlieren! Ach, ich würde ihr ja meine ganze Seele
+hingeben, mein kleines Mädchen, das heißt ... Sie ... sie ... Ich liebe
+sie ebenso wie Ssaschenjka, sogar mehr, aber das will ich nur dir allein
+gestehen; denn Ssaschenjka ist, siehst du, sowieso meine Tochter, nach
+dem Gesetz und mit Recht, diese aber habe ich durch meine Liebe zu
+meiner Tochter gemacht. Ich habe sie aus armen Verhältnissen zu mir
+genommen. Auch Katjä, mein toter Liebling, hat die Kleine geliebt und
+hat sie mir als Tochter hinterlassen. Ich habe sie gut erziehen lassen:
+französische Stunden und Klavierstunden und Literaturstunden – kurz und
+gut, alles was dazu gehört. Was für ein Lächeln sie hat! Hast du es
+nicht bemerkt, Sserjosha? Man glaubt, sie lache über einen, indessen
+lacht sie gar nicht, sondern, im Gegenteil, liebt dich ... Ich ... sieh,
+ich glaubte, du würdest kommen, bei ihr anhalten – dann würden sie sich
+alle überzeugen, daß ich keine ... Absichten auf sie habe, und würden
+dann endlich aufhören, alle diese dummen, schmutzigen Geschichten über
+sie zu verbreiten. Sie würde dann hier bei uns in Ruhe und Frieden
+leben: und wie würden wir alle glücklich sein! Ihr seid ja beide meine
+Kinder, beide gewissermaßen Waisen, beide seid ihr unter meiner
+Vormundschaft aufgewachsen ... ich würde euch beide so lieben, so
+lieben! Ich würde euch mein ganzes Leben hingeben, niemals mich von euch
+trennen, überall würde ich bei euch sein! Ach, wie glücklich wir doch
+sein könnten! Und warum nur ärgern sich die Menschen, warum sind sie
+alle so böse, warum hassen sie einander? Ich ... ich würde sie alle
+einmal so fest in meine Arme nehmen und es ihnen so recht von
+Herzensgrund erklären wollen! Würde ihnen so die ganze Herzenswahrheit
+zeigen! Ach, du, Grundgütiger!“
+
+„Onkel, Sie haben in allem vollkommen recht, nur ändert das an der
+Tatsache nichts, daß sie mir einen Korb gegeben hat.“
+
+„Einen Korb! ...? ... Hm! ... Aber weißt du, es ist mir doch, als hätte
+ich es vorausgefühlt, daß sie dir absagen würde,“ sagte er nachdenklich.
+„Aber nein!“ rief er aus, „ich glaube es nicht! Das ist unmöglich. In
+dem Falle würde ja nichts zustande kommen! Sicherlich hast du es
+irgendwie ungeschickt angefangen, hast sie vielleicht sogar gekränkt
+oder ihr womöglich Komplimente zu machen versucht ... Erzähle mir noch
+einmal, wie es war, Ssergei!“
+
+Ich wiederholte alles noch einmal ganz ausführlich. Als ich sagte, daß
+Nastenjka mit ihrer Entfernung ihn, meinen Onkel, vor der Ehe mit
+Tatjana Iwanowna bewahren wolle, lächelte er bitter.
+
+„Bewahren!“ sagte er. „Bewahren bis morgen!“
+
+„Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie Tatjana Iwanowna heiraten
+werden?“ rief ich erschrocken aus.
+
+„Womit habe ich es denn erkauft, daß Nastjä morgen nicht hinausgeworfen
+wird? Morgen noch werde ich anhalten – ich habe es versprochen.“
+
+„Wie, Sie haben sich dazu entschließen können, Onkel?“
+
+„Was sollte ich tun, Freund, es war nichts zu wollen! Es zerreißt mir ja
+das Herz, aber ich habe mich entschlossen. Morgen halte ich um sie an
+... die Hochzeit soll still gefeiert werden, nur im Familienkreise. Es
+ist auch besser so, Freund. Du wirst natürlich mein Ehrenmarschall sein
+... bei der Trauung. Das habe ich auch drüben schon angedeutet, so daß
+sie dich bis dahin bestimmt nicht vor die Tür setzen werden. Was soll
+man denn tun, Freund? Sie sagen: ‚Du machst deine Kinder steinreich!‘
+Natürlich, was ist man für seine Kinder nicht zu tun bereit! Selbst auf
+den Kopf stellt man sich ... um so mehr, als es ja auch im Grunde ganz
+richtig so ist. Und ich muß doch etwas für meine Familie tun! Ich kann
+doch nicht immer dieser Egoist bleiben!“
+
+„Aber, Onkel, sie ist doch verrückt!“ rief ich aus, ohne im Augenblick
+daran zu denken, daß sie ja doch schon so gut wie seine Braut war. Mein
+Herz krampfte sich zusammen vor Schmerz.
+
+„Na, jetzt erklärst du sie sogar schon für verrückt! Sie ist durchaus
+nicht verrückt, Freund, sondern ... nur so, weißt du, sie hat viel
+Schweres durchgemacht ... Was soll man denn tun, Freund, ich wäre ja
+auch froh, eine mit vollem Verstande ... Aber übrigens, was für welche
+gibt es nicht auch unter denen, die geistig normal sind! Und wenn du
+wüßtest, wie gut sie ist, wie edelmütig ...“
+
+„Großer Gott! Er söhnt sich mit dem Gedanken bereits aus!“ Ich war im
+Begriff, zu verzweifeln.
+
+„Aber was soll ich denn tun, wenn ich mich nicht aussöhne? Und sie
+wollen das alles doch nur zu meinem Besten, und ... und schließlich sah
+ich ein, daß ich früher oder später doch daran werde glauben müssen,
+davor wird mich keiner retten: sie werden mich zu zwingen verstehen, sie
+zu heiraten. Deshalb ist es doch besser, sich sogleich zu entschließen,
+als erst noch lange herumzustreiten. Ich werde dir, Freund, alles ganz
+offen sagen: weißt du, ich bin zum Teil sogar ganz froh darüber. Hat man
+sich entschlossen, so hat man sich entschlossen – dann ist es wenigstens
+erledigt, und man hat es hinter sich. Man fühlt sich auch ruhiger, weißt
+du. Ich, siehst du, ich kam ja auch schon ganz ruhig hierher. Aber so
+will es wahrscheinlich mein Stern! Und die Hauptsache, unser Gewinn
+sozusagen, ist doch, daß Nastjä bei uns bleibt. Ich habe doch nur unter
+dieser Bedingung eingewilligt. Und nun will _sie selbst_ fortgehen! Das
+darf nicht sein!“ Mein Onkel stampfte mit dem Fuß auf. „Hör, Ssergei,“
+fuhr er plötzlich entschlossen fort, „erwarte mich hier, bleibe hier im
+Zimmer, ich werde im Augenblick wieder hier sein.“
+
+„Wohin, wohin gehen Sie, Onkel?“
+
+„Vielleicht treffe ich sie, Ssergei. Dann wird sich alles aufklären,
+glaube mir, alles wird sich aufklären und ... und ... du wirst sie
+heiraten – ich gebe dir mein Ehrenwort!“
+
+Mein Onkel verließ das Zimmer, schlug aber, wie ich sah, nicht den Weg
+zum Hause ein, sondern ging noch tiefer in den Garten, in der Richtung
+auf den Weiher. Ich blickte ihm durch das Fenster nach.
+
+
+
+
+ XII.
+
+ Die Katastrophe.
+
+
+Ich war allein. Die Lage, in der ich mich befand, war unerträglich: Ich
+hatte einen Korb erhalten, und mein Onkel wollte mich ungeachtet dessen
+mit Gewalt verheiraten. Meine Gedanken schweiften unruhig umher, doch
+ich konnte keinen ruhig zu Ende denken. Misintschikoff und sein
+Vorschlag wollten mir nicht aus dem Sinn. Es galt, was es auch koste,
+meinen Onkel zu retten. Ich dachte sogar daran, Misintschikoff
+unverzüglich aufzusuchen und ihm alles zu erzählen ... Aber wohin war
+mein Onkel gegangen? Er hatte gesagt, daß er Nastenjka sprechen wolle,
+und hatte doch den Weg in den Garten eingeschlagen. Einen Augenblick
+dachte ich an heimliche Zusammenkünfte, und ein unangenehmes Gefühl
+regte sich in meinem Herzen. Mir fielen Misintschikoffs Worte ein: daß
+sie heimliche Beziehungen zueinander hätten ... Ich sann nach – wies
+dann aber jeden Verdacht unwillig von mir. Nein, mein Onkel konnte nicht
+betrügen, das lag ja auf der Hand. Doch meine Unruhe wuchs mit jeder
+Minute. Fast unbewußt trat ich hinaus auf die Treppe und ging dann in
+Gedanken versunken dieselbe Allee entlang, die mein Onkel verfolgt
+hatte. Der große Sommermond stand rot und noch niedrig über dem
+Horizont. Ich kannte den Garten gut und brauchte nicht zu fürchten,
+irrezugehen. Als ich mich der alten Laube näherte, die einsam am Ufer
+des schlammigen, schilfbewachsenen Weihers stand, blieb ich plötzlich
+wie angewurzelt stehen: ich vernahm deutlich Stimmengeflüster, das aus
+der Laube kam. Ich kann nicht sagen, welch ein eigenartig ärgerliches
+Gefühl mich erfaßte! Ich war überzeugt, daß mein Onkel und Nastenjka
+dort saßen, und ich ging geradeaus weiter, indem ich auf alle Fälle mein
+Gewissen wenigstens damit beruhigte, daß ich denselben Schritt
+beibehielt und mich nicht etwa unbemerkt heranzuschleichen suchte. Da
+vernahm ich plötzlich, daß zwei sich küßten, und darauf folgte eine
+Menge begeisterter Worte und dann – ein durchdringender weiblicher
+Schrei! Fast im selben Augenblick aber lief oder flog auch schon eine
+weißgekleidete Dame wie eine Schwalbe an mir vorüber. Es schien mir, daß
+sie das Gesicht mit den Händen bedeckt hatte, um nicht erkannt zu
+werden. Man hatte mich also aus der Laube bemerkt. Wie groß aber war
+meine Verwunderung, als ich in dem Herrn, der nach der aufgescheuchten
+Dame aus der Laube trat, – Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach
+Misintschikoffs Behauptung Stepantschikowo bereits verlassen hatte! Auch
+Obnoskin war nicht wenig verwirrt: seine sonst so anmaßende Haltung war
+völlig verschwunden.
+
+„Entschuldigen Sie, aber ... ich hatte nicht erwartet, mit Ihnen hier
+zusammenzutreffen,“ brachte er stotternd und mit verlegenem Lächeln
+hervor.
+
+„Dasselbe kann ich auch von mir sagen,“ entgegnete ich spöttisch, „um so
+mehr, als ich gehört habe, daß Sie bereits fortgefahren seien.“
+
+„Nein ... das war nur so ... ich begleitete nur meine Mutter ... eine
+Strecke ... Aber darf ich mich an Sie mit einer Bitte wenden; denn ich
+weiß, daß Sie ein ehrenwerter Mensch sind ...“
+
+„Und diese Bitte wäre?“
+
+„Es gibt Fälle – und Sie werden mir darin zustimmen – in denen ein
+wirklich edler Mensch gezwungen ist, an den ganzen Edelmut eines
+anderen, gleichfalls edlen Menschen zu appellieren ... Ich hoffe, Sie
+verstehen mich ...“
+
+„Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe Sie tatsächlich nicht.“
+
+„Sie haben doch die Dame gesehen, die hier mit mir in der Laube war?“
+
+„Gesehen – ja, aber nicht erkannt.“
+
+„Ah, nicht erkannt ... Diese Dame werde ich alsbald meine Frau nennen.“
+
+„Gratuliere. Aber womit kann ich Ihnen dienen?“
+
+„Nur mit einem: es als tiefstes Geheimnis zu bewahren, daß Sie mich mit
+dieser Dame hier gesehen haben ...“
+
+„Wer mag das gewesen sein?“ dachte ich, „doch nicht ...?“
+
+„Wirklich, ich weiß nicht ...“ sagte ich. „Sie werden entschuldigen, daß
+ich Ihnen mein Wort nicht geben kann ...“
+
+„Um’s Himmels willen, ich _bitte_ Sie doch darum!“ flehte Obnoskin.
+„Begreifen Sie doch meine Situation! Es ist noch ein Geheimnis. Sie
+können gleichfalls einmal Bräutigam sein: dann werde auch ich
+meinerseits ...“
+
+„Pst! Jemand kommt!“
+
+„Wo?“
+
+In der Tat bemerkten wir kaum dreißig Schritt von uns den Schatten eines
+Menschen vorübergleiten.
+
+„Das ... das war Foma Fomitsch!“ flüsterte Obnoskin, am ganzen Leibe
+zitternd. „Ich erkannte ihn am Gang. Mein Gott! da kommen wieder
+Schritte! Von der anderen Seite! Hören Sie ... Leben Sie wohl! Ich danke
+Ihnen und ... flehe Sie an ...“
+
+Obnoskin verschwand. Nach einer Minute stand mein Onkel vor mir, wie aus
+der Erde gewachsen.
+
+„Bist du es?“ fragte er hastig. „Alles ist verloren, Ssergei, jetzt ist
+alles verloren!“
+
+Ich bemerkte, daß auch er am ganzen Körper zitterte.
+
+„Was ist verloren, Onkel?“
+
+„Gehen wir!“ Er erfaßte krampfhaft meine Hand und zog mich nach sich.
+Während des ganzen Weges bis zum Sommerhaus sprach er kein Wort und ließ
+auch mich nicht sprechen. Ich erwartete etwas Außergewöhnliches und kann
+sagen, daß ich in meiner Erwartung auch nicht enttäuscht wurde. Als wir
+mein Zimmer betraten, schwindelte ihm und er wankte. Er war bleich wie
+ein Toter. Ich spritzte ihm sofort Wasser ins Gesicht. „Es muß etwas
+Furchtbares geschehen sein,“ dachte ich, „wenn ein Mann wie er – in
+dieser Weise ... fast ohnmächtig wird.“
+
+„Onkel, was haben Sie nur?“ fragte ich schließlich.
+
+„Alles ist verloren, Ssergei! Foma überraschte mich und Nastenjka im
+Garten ... gerade in dem Augenblick, als ich sie küßte ...“
+
+„Als Sie sie küßten? Im Garten?“ Ich sah ihn verständnislos an.
+
+„Im Garten, Freund, Gott wollte es so! Ich ging, um sie unverzüglich zu
+sprechen ... Ich wollte ihr alles sagen, wollte ihr zureden, sie zur
+Vernunft bringen ... in bezug auf dich, weißt du. Sie aber hatte schon
+seit einer ganzen Stunde auf mich gewartet, dort, bei der zerbrochenen
+Bank ... hinter dem Weiher ... Sie kommt oft dorthin, wenn ich mit ihr
+sprechen muß.“
+
+„Oft?“
+
+„Oft, oft, Freund! In der letzten Zeit haben wir uns dort fast in jeder
+Nacht getroffen. Nun haben sie uns wahrscheinlich aufgelauert – ich weiß
+es genau, daß sie spioniert haben, und ich weiß auch, daß Anna Nilowna
+die Hauptbeteiligte ist. So stellten wir denn unsere Zusammenkünfte ein:
+seit vier Tagen hatten wir uns nicht gesehen ... aber heute ging es doch
+nicht anders ... Du weißt doch selbst, wie notwendig es war ... Und wie
+und wo hätte ich sonst ein Wort mit ihr reden können? Ich ging also in
+der Hoffnung hin, sie dort anzutreffen ... Und sie saß auch schon seit
+einer Stunde da ... und hatte auf mich gewartet: sie hatte mir
+gleichfalls Wichtiges zu sagen ...“
+
+„Wie kann man nur so unvorsichtig sein! Sie wußten doch, daß man Sie
+beide beobachtet!“
+
+„Aber es war doch ein kritischer Augenblick, Ssergei! Wir mußten uns
+doch über so vieles aussprechen! Am Tage wage ich ja nicht einmal, sie
+anzusehen: sie sieht in den einen Winkel und ich absichtlich in den
+anderen, als wenn ich überhaupt nicht bemerkte, daß sie auf der Welt
+ist. In der Nacht aber treffen wir uns und können uns dann aussprechen
+...“
+
+„Und was geschah nun heute, Onkel?“
+
+„Oh! Kaum hatte ich ihr zwei Worte gesagt, weißt du – da fing mein Herz
+zu hämmern an, und die Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte sie
+bereden, dich doch zu heiraten – sie aber sagte mir ohne weiteres: ‚Dann
+lieben Sie mich offenbar überhaupt nicht, dann sehen Sie ja gar nichts!‘
+Und plötzlich wirft sie sich an meine Brust, umarmt mich krampfhaft,
+weint und schluchzt: ‚Ich liebe nur Sie allein,‘ sagte sie, ‚ich werde
+keinen anderen heiraten! Ich liebe Sie schon lange, nur werde ich auch
+Sie nicht heiraten, sondern morgen noch fortfahren und ins Kloster
+gehen.‘“
+
+„Donnerwetter! Hat sie das wirklich so gesagt? Und was geschah dann
+weiter – weiter, Onkel?“
+
+„Da – ich blickte auf: vor uns steht Foma! Woher er nur gekommen sein
+mag? Er kann doch unmöglich hinter dem Gebüsch gehockt haben, um nur auf
+diesen Sündenaugenblick zu warten?“
+
+„Der Schuft!“
+
+„Ich erstarrte, Nastenjka lief fort, und Foma Fomitsch ging schweigend
+an uns vorüber und drohte mir nur einmal so mit dem Finger. – Begreifst
+du jetzt, Ssergei, was es morgen geben wird?“
+
+„Wie sollte ich nicht!“
+
+„Begreifst du?“ rief er verzweifelt aus und sprang vom Stuhl auf.
+„Begreifst du, daß sie sie verderben, verleumden, entehren wollen? Sie
+suchen einen Vorwand, um ihr eine Schande anhängen und sie dann aus dem
+Hause treiben zu können! Und jetzt haben sie ihn glücklich gefunden!
+Haben sie doch schon gesagt, sie hätte ein ehrloses Verhältnis mit mir!
+Ja, diese Schurken haben sogar gesagt, sie hätte auch eins mit
+Widopljässoff gehabt! Und das hat alles diese Anna Nilowna verbreitet!
+Was wird jetzt werden? Was wird morgen sein? Sollte Foma es wirklich
+erzählen?“
+
+„Unbedingt wird er es erzählen, Onkel.“
+
+„Wenn er es aber erzählt, wenn er es wagt ...“ Mein Onkel biß sich die
+Lippen und ballte die Fäuste. „Nein, nein! Ich glaube es nicht! Er wird
+es nicht sagen, er wird begreifen ... er ist ein Mensch mit edler
+Gesinnung! Er wird sie schonen ...“
+
+„Schonen oder nicht schonen,“ unterbrach ich ihn entschlossen;
+„jedenfalls aber ist es jetzt Ihre Pflicht, morgen um Nastassja
+Jewgrafownas Hand anzuhalten.“
+
+Mein Onkel blickte mich unbeweglich an.
+
+„Sehen Sie denn nicht ein, Onkel, daß Sie dem Mädchen die Ehre nehmen,
+wenn Sie die Sache an die große Glocke hängen lassen? Sehen Sie denn
+nicht ein, daß Sie allem Gerede so schnell wie möglich die Spitze
+abbrechen müssen? Sie müssen jedem furchtlos und stolz in die Augen
+blicken können, Ihre Verlobung sofort veröffentlichen, alle Ihre
+Vernunftgründe zum Teufel schicken und Foma, wenn er dagegen auch nur zu
+mucken wagt, einfach zu Pulver zerstäuben! ...“
+
+„Ssergei, Freund, ich dachte daran, als wir herkamen!“
+
+„Und zu was haben Sie sich entschlossen?“
+
+„Mein Entschluß steht fest! Ich hatte mich bereits entschlossen, noch
+bevor ich dir zu erzählen begann!“
+
+„Bravo, Onkel!“
+
+Ich fiel ihm um den Hals vor Freude.
+
+Lange noch sprachen wir. Ich hielt ihm alle die unerbittlichen Gründe
+vor, die ihn zwangen, Nastenjka zu heiraten, und die er übrigens selbst
+noch viel besser begriff als ich. Aber ich kam nun einmal ins Reden. Ich
+freute mich unsäglich für ihn. Jetzt zwang ihn die Pflicht, anderenfalls
+hätte er sich wohl nie entschlossen. Vor der Pflicht aber, und noch dazu
+einer Ehrenpflicht, war er machtlos.
+
+Doch ungeachtet alles dessen wußte ich entschieden nicht, wie das
+Vorhaben ausgeführt werden sollte. Ich wußte und glaubte ohne den
+geringsten Zweifel, daß mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen
+werde, was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte. Aber im Grunde
+fürchtete ich doch, daß er nicht rücksichtslos genug sein könne, um sich
+gegen die Herrscher in seinem Hause aufzulehnen. Nur deshalb bemühte ich
+mich so hartnäckig, ihn anzutreiben und in dieser Richtung
+vorwärtszustoßen: und so legte ich mich denn mit dem ganzen Eifer der
+Jugend ins Zeug.
+
+„... Um so mehr, um so mehr müssen Sie es,“ wiederholte ich, „als jetzt
+bereits alles beschlossen ist und Ihre letzten Zweifel aufgehoben sind!
+Es ist etwas geschehen, was _Sie_ nicht erwartet haben, obgleich es alle
+seit langer Zeit wissen: Nastassja Jewgrafowna liebt Sie! Wollen Sie es
+denn wirklich zulassen!“ rief ich heftig aus, „daß diese reine Liebe
+sich für sie in Schmach und Schande verwandle?“
+
+„Niemals will ich das! Aber, Freund, ist es denn überhaupt möglich, daß
+ich so glücklich werden könnte? Und wie kann sie mich nur lieben, und
+wofür eigentlich? wofür? Ich glaube, es ist doch so gar nichts an mir
+... Ich bin ein Greis im Vergleich zu ihr. Nein, das hätte ich nie
+erwartet! Liebling, mein Liebling! ... Höre, Sserjosha, vorhin fragtest
+du mich, ob ich nicht in sie verliebt sei: hattest du irgendeine ...
+Idee vielleicht?“
+
+„Ich sah nur, Onkel, daß Sie sie so liebten, wie man noch mehr einen
+Menschen überhaupt nicht lieben kann; und daß Sie sie liebten, ohne es
+selbst zu wissen. Denken Sie doch einmal nach: Sie rufen mich aus
+Petersburg her und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig damit sie
+Ihre Nichte werde und Sie, Onkel, uns dann ewig bei sich haben können
+...“
+
+„Und du ... du verzeihst mir, Ssergei?“
+
+„Ach, Onkel ...“
+
+Er preßte mich an sein Herz.
+
+„Aber jetzt seien Sie auf der Hut; denn es haben sich ja dort alle gegen
+Sie verschworen. Sie müssen sich erheben und gegen alle kämpfen, und
+zwar gleich morgen!“
+
+„Ja ... ja, morgen!“ wiederholte er etwas nachdenklich, „und weißt du,
+wir wollen die Sache männlich und vollkommen überzeugt von unserem Recht
+anfassen, mit wirklicher Charakterstärke ... ja eben mit
+Charakterstärke!“
+
+„Lassen Sie den Mut nicht sinken, Onkel!“
+
+„Nein, ich werde den Mut nicht sinken lassen, Ssergei! Nur eines: ich
+weiß nicht, welch einen Schlachtplan ich wählen soll!“
+
+„Denken Sie jetzt nicht daran, Onkel. Morgen wird alles seine Lösung
+finden. Für heute beruhigen Sie sich. Je mehr man jetzt grübelt, um so
+schlimmer ist es. Und falls Foma den Mund auftut – dann entweder: ihn
+unverzüglich vor die Tür setzen, oder: ihn zu Staub zermalmen!“
+
+„Geht es denn nicht auch ohne das? Freund, ich habe so beschlossen:
+morgen gehe ich in aller Frühe zu ihm und erzähle ihm den ganzen
+Sachverhalt, so wie ich ihn dir erzählt habe. Er kann mich doch
+unmöglich nicht verstehen wollen! Er ist doch ein edler Mensch, der
+edelste von allen! Aber sieh, was mich beunruhigt: was dann, wenn er
+meine Mutter und Tatjana Iwanowna heute schon von der bevorstehenden
+Werbung benachrichtigt hat? Das wäre doch furchtbar?“
+
+„Tatjana Iwanownas wegen brauchen Sie sich nicht zu beunruhigen, Onkel.“
+Und ich erzählte ihm meine Begegnung mit Obnoskin vor der Laube. Mein
+Onkel war maßlos erstaunt. Misintschikoff erwähnte ich mit keinem Wort.
+
+„Eine phantasmagorische Person, in der Tat! Wirklich, eine
+phantasmagorische Person!“ rief er aus. „Die Arme! Man will ihre
+Naivität ausnutzen! Und war es wirklich Obnoskin? Aber er fuhr doch nach
+dem Tee fort? Sonderbar, höchst sonderbar! Ich bin wirklich betroffen,
+Sserjosha ... Das muß man morgen noch untersuchen, um gegebenenfalls
+Maßregeln ergreifen zu können ... Aber bist du auch überzeugt, daß es
+Tatjana Iwanowna war?“
+
+Ich sagte, daß ich ihr Gesicht zwar nicht gesehen hätte, aber aus
+gewissen Gründen fest überzeugt sei, daß es Tatjana Iwanowna gewesen
+war.
+
+„Hm! Oder sollte es nicht doch ein kleines Techtelmechtel mit einem der
+Hofmädchen gewesen sein, und dir hat es vielleicht nur so geschienen,
+daß es Tatjana Iwanowna war? War es nicht Dascha, die Gärtnerstochter?
+Das ist ein durchtriebenes Mädchen! Man hat sie bereits öfter bemerkt
+... Nur deshalb sage ich es ja, weil man sie wirklich schon gesehen hat.
+Anna Nilowna hat sie ertappt! ... Aber nein, das ist auch
+unwahrscheinlich! Und er hat dir gesagt, daß er sie heiraten wolle?
+Sonderbar, sehr sonderbar ...“
+
+Endlich trennten wir uns. Ich umarmte ihn zum Abschied.
+
+„Morgen, morgen wird sich alles entscheiden,“ sagte er lebhaft, „noch
+bevor du aufstehst! Ich werde zu Foma gehen und ihm ritterlich alles
+aufdecken, wie meinem leiblichen Bruder, alles, was ich auf meinem
+Herzen habe, meine ganze Seele. Leb wohl, Sserjosha. Leg dich jetzt hin,
+du wirst müde sein. Na, und ich – ich werde in der ganzen Nacht wohl
+kein Auge schließen.“
+
+Er ging. Ich legte mich unverzüglich schlafen; denn ich war in der Tat
+todmüde. Das war ein schwerer Tag gewesen! Meine Nerven waren überreizt,
+und bevor ich endlich einschlief, zuckte ich noch mehrmals zusammen und
+wachte immer wieder aus dem Halbschlaf auf.
+
+Aber wie seltsam meine Eindrücke auch während des Einschlafens waren, so
+war ihre Seltsamkeit doch noch nichts im Vergleich mit der Seltsamkeit
+meines Erwachens am nächsten Morgen.
+
+
+
+
+ XIII.
+
+ Die Verfolgung.
+
+
+Ich schlief traumlos und ungewöhnlich fest. Plötzlich fühlte ich, wie
+ein Gewicht von etwa vierhundert Pfund sich auf meine Beine legte: ich
+schrie auf und erwachte.
+
+Es war schon hell: durch die Fenster flutete gelbes Sommermorgenlicht
+ins Zimmer. Auf meinem Bett, oder richtiger, auf meinen Beinen saß –
+Herr Bachtschejeff.
+
+Ein Zweifel war ausgeschlossen: er war es. Nachdem ich meine Füße mit
+genauer Not von dieser Last befreit hatte, setzte ich mich im Bett auf
+und sah ihn mit der stumpfen Verständnislosigkeit eines kaum erwachten
+Menschen an.
+
+„Er glotzt noch!“ rief der Dicke empört aus. „Was staunst du mich denn
+an? Steh auf, Alter, steh auf! Wecke dich hier schon seit einer halben
+Stunde. Reib dir endlich den Schlaf aus den Augen!“
+
+„Was ist geschehen? Wieviel ist die Uhr?“
+
+„Die Uhr ist noch nicht viel, aber unsere Fewronja hat nicht einmal den
+Tag erwartet, um loszuziehen. Steh mal auf, fix, wir setzen ihr nach!“
+
+„Was für eine Fewronja?“
+
+„Na, die unserige doch, die Holde, wer denn sonst! Ist schon über alle
+Berge! Bereits vor Sonnenaufgang ausgekniffen! Ich aber bin ja, mein
+Bester, nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, bloß um Sie auf die
+Beine zu bringen – und da vertrödele ich nun mit ihm geschlagene zwei
+Stunden! Stehen Sie auf, mein Lieber, Ihr Onkel erwartet Sie schon ...
+Da hat man nun die Bescherung!“ knurrte er zum Schluß, mit einer
+gewissen schadenfrohen Gereiztheit in der Stimme.
+
+„Aber von wem ... wovon reden Sie?“ fragte ich erregt; denn ich begann
+bereits zu ahnen, „... doch nicht ... Tatjana Iwanowna?“
+
+„Von wem denn sonst? Natürlich von ihr! Habe ich nicht gesagt, gewarnt –
+keiner wollte auf mich hören! Da habt ihr jetzt die Bescherung ... zum
+Feiertage! Kupido hat ihr den Kopf verdreht, nur deswegen ist sie
+verrückt! Pfui! Aber jener, jener – was? Da habt ihr jetzt den
+Spitzbart!“
+
+„Doch nicht mit Misintschikoff?“
+
+„Hör nur einer _so_ was! Nun reib dir aber den Schlaf aus den Augen und
+werde wenigstens dem großen Feiertage zu Ehren nüchtern! Bist wohl
+gestern bis untern Tisch gekommen, wenn dir der Schädel jetzt noch
+brummt! Was: Misintschikoff! – Mit Obnoskin, aber nicht mit
+Misintschikoff! Iwan Iwanowitsch Misintschikoff ist ein anständiger
+Mensch und macht sich mit uns auf die Verfolgung.“
+
+„Was Sie sagen!“ rief ich erschrocken aus und machte, noch halb sitzend,
+einen Sprung aus dem Bett, „tatsächlich mit Obnoskin?“
+
+„Pfui, du langweiliger Mensch!“ Der Dicke erhob sich fauchend von meinem
+Bett. „Ich komme zu ihm wie zu einem gebildeten Menschen, um ihm das
+Unglück mitzuteilen, er aber zweifelt noch! Du, mein Lieber, wenn du mit
+willst, so erheb dich schleunigst und zieh dir deine Höschen an; ich
+aber hab’s satt, hier mit meiner Lunge für dich zu arbeiten: habe
+sowieso schon meine Zeit an dich verschwendet!“
+
+Und er verließ äußerst ungehalten mein Zimmer.
+
+Noch ganz bestürzt von der Nachricht, sprang ich aus dem Bett, kleidete
+mich schnell an und eilte ins Herrenhaus.
+
+Dort schien noch alles zu schlafen: und so trat ich denn vorsichtig
+durch die Paradetür ein, um unbemerkt zu meinem Onkel zu kommen. Kaum
+war ich eingetreten, als plötzlich Nastenjka vor mir stand: sie mußte
+soeben erst aufgestanden sein und sich in aller Eile angezogen haben.
+Ihr Haar war in Unordnung, und sie trug eine Art Morgenkleid oder
+Umwurf. Wahrscheinlich hatte sie im Flur auf jemanden gewartet.
+
+„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin
+fortgefahren ist?“ fragte sie mich erregt mit zitternder Stimme, bleich
+und sichtlich erschrocken.
+
+„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel ... Wir wollen ihr nachfahren
+...“
+
+„Oh, bringen Sie sie, bringen Sie sie schnell zurück! Wenn Sie es nicht
+tun, ist sie verloren!“
+
+„Aber wo ist denn mein Onkel?“
+
+„Wahrscheinlich bei den Pferdeställen. Die Pferde werden schon
+angeschirrt. Ich habe hier auf ihn gewartet. Hören Sie, sagen Sie ihm
+von mir, daß ich unbedingt heute noch fortfahren will: ich bin fest
+entschlossen. Mein Vater nimmt mich zu sich. Am liebsten würde ich
+sofort fahren, wenn es sich nur machen ließe! Jetzt ist alles verloren!
+Jetzt ist alles zu Ende!“
+
+Während sie das sagte sah sie mich selbst wie eine Verlorene an – und
+plötzlich brach sie in Tränen aus. Es schien ein nervöser Anfall zu
+sein.
+
+„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!“ bat ich sie. „Das ist doch nur
+eine günstige Wendung – Sie werden sehen ... Was haben Sie nur,
+Nastassja Jewgrafowna?“
+
+„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist,“ sagte sie erregt und
+preßte unbewußt meine Hände krampfhaft zusammen. „Sagen Sie ihm ...“
+
+Da hörten wir hinter der nächsten Tür ein Geräusch.
+
+Sie zog erschrocken ihre Hände zurück und eilte die Treppe hinauf.
+
+Ich fand sie alle – d. h. meinen Onkel, Herrn Bachtschejeff und
+Misintschikoff – auf dem hinteren Hof bei den Ställen. Vor Herrn
+Bachtschejeffs Wagen wurden frische Pferde angeschirrt. Alles war zur
+Abfahrt bereit: man hatte nur noch auf mich gewartet.
+
+„Da ist er!“ rief mein Onkel aus, als er mich erblickte. „Hast du es
+schon gehört, Freund?“ fragte er leiser mit einem eigentümlichen
+Gesichtsausdruck. Schreck, Zerstreutheit und doch so etwas wie eine neue
+Hoffnung lagen in seinem Blick, in seiner Stimme und selbst in seinen
+Bewegungen. Offenbar fühlte er, daß in seinem Schicksal eine Wendung
+eingetreten war.
+
+Ich wurde sogleich in die Einzelheiten eingeweiht.
+
+Herr Bachtschejeff war nach einer qualvollen Nacht beim ersten
+Morgengrauen von Hause aufgebrochen, um rechtzeitig zum Frühgottesdienst
+im Kloster einzutreffen, das einige fünf Werst von seinem Gut entfernt
+lag. Als er gerade von der Landstraße in den Nebenweg zur Einsiedelei
+einbiegen wollte, hatte er mit einemmal einen offenen Wagen in rasender
+Schnelligkeit daherkommen sehen und in den Insassen Tatjana Iwanowna und
+Obnoskin erkannt. Tatjana Iwanowna sei verweint gewesen und habe, als
+sie Herrn Bachtschejeff erblickt, vor Schreck aufgeschrien und ihm dann
+die Hände wie hilfesuchend entgegengestreckt – so wenigstens ging es aus
+seiner Erzählung hervor. „Jener aber, der Schuft mit dem Spitzbart,
+wollte sich vor mir verstecken, jawohl, ja! – vor mir aber versteckst du
+dich nicht!“
+
+Ohne lange zu zögern, hatte Stepan Alexejewitsch (Herr Bachtschejeff)
+dem Kutscher wieder auf die Landstraße zurückzukehren befohlen und war
+schnurstracks nach Stepantschikowo gefahren, hatte hier ohne weiteres
+meinen Onkel geweckt, ferner Misintschikoff und schließlich auch mich.
+Es war beschlossen worden, ihnen sogleich nachzufahren.
+
+„Aber Obnoskin, was sagst du zu Obnoskin?“ fragte mein Onkel und sah
+mich unverwandt an, als wolle er mir gleichzeitig noch sagen: „Wer hätte
+das gedacht!“
+
+„Von diesem niedrigen Menschen war jede Gemeinheit zu erwarten!“
+bemerkte Misintschikoff in sehr scharfem Ton, wandte sich aber im selben
+Augenblick ab, um meinen Blick zu vermeiden.
+
+„Na, was nun: fahren wir oder fahren wir nicht? Oder werden wir bis zum
+Abend hier stehen und uns Märchen erzählen?“ erinnerte Herr
+Bachtschejeff an unser Vorhaben und schob sich als erster in den Wagen.
+
+„Fahren wir, fahren wir!“ rief sogleich eilig mein Onkel.
+
+„Es wendet sich alles zum guten, Onkel,“ raunte ich ihm noch schnell zu.
+„Dieser Punkt ist jetzt besser erledigt, als wir es uns hätten träumen
+können!“
+
+„Schon gut, Freund, lästere nicht ... Aber jetzt wird man _sie_ ja
+einfach hinauswerfen, zur Strafe dafür, daß das andere mißglückt ist,
+aus Rache – du verstehst doch? Entsetzlich, Freund, was ich jetzt kommen
+sehe!“
+
+„Zum Donner, Jegor Iljitsch, wollen Sie Geheimnisse tuscheln – oder
+wollen Sie fahren?“ schrie Herr Bachtschejeff zum zweitenmal. „Sollte
+man nicht lieber die Pferdchen vorläufig wieder ausschirren lassen und
+erst noch einen Imbiß einnehmen – was meinen Sie? – und womöglich noch
+ein paar Gläschen sich hinter die Binde gießen?“
+
+Diese Worte waren mit einem so grimmigen Sarkasmus gesagt, daß es ganz
+ausgeschlossen war, Herrn Bachtschejeff nicht unverzüglich zu
+befriedigen. Wir stiegen eilig ein, und die Pferde zogen an.
+
+Eine Zeitlang schwiegen alle. Mein Onkel streifte mich ab und zu mit
+einem bedeutungsvollen Blick, schien aber in Gegenwart der anderen nicht
+sprechen zu wollen. Mitunter versank er in Gedanken, um dann nach einer
+Weile zusammenzuzucken, plötzlich gleichsam zur Besinnung zu kommen und
+sich erregt umzublicken. Misintschikoff war scheinbar ruhig, rauchte
+seine Zigarette und schaute mit dem Selbstbewußtsein eines
+ungerechterweise gekränkten Menschen drein. Dafür ereiferte sich Herr
+Bachtschejeff für drei. Er brummte die ganze Zeit vor sich hin, blickte
+auf alle und alles mit entschiedener Mißbilligung, wurde rot, fauchte,
+spie fortwährend seitwärts auf die Landstraße und konnte sich auf keine
+Art und Weise beruhigen.
+
+„Bist du denn auch wirklich überzeugt, Stepan, daß die beiden nach
+Mischino gefahren sind?“ erkundigte sich plötzlich mein Onkel. „Das ist,
+mußt du wissen, zwanzig Werst von hier,“ fügte er, zu mir gewandt,
+erklärend hinzu, „ein kleines Gut mit dreißig Seelen. Es ist vor kurzem
+von einem ehemaligen Gouvernementsbeamten den früheren Besitzern
+abgekauft worden. Ein Schikaneur, sagt man, wie die Welt keinen zweiten
+aufzuweisen hat! Wenigstens wird es ihm nachgesagt. Stepan Alexejewitsch
+behauptet, Obnoskin sei dorthin gefahren, und dieser Beamte helfe ihm.“
+
+„Du zweifelst wohl noch?“ fuhr Herr Bachtschejeff sofort auf. „Ich sage
+es und bleibe dabei: sie sind nach Mischino gefahren. Nur hat man ihn in
+Mischino wahrscheinlich schon längst wieder vergessen, den Obnoskin.
+Warum auch nicht! Haben doch drei Stunden auf dem Hof verschwatzt!“
+
+„Beunruhigen Sie sich nicht,“ bemerkte Misintschikoff, „wir werden sie
+dort noch antreffen.“
+
+„Jawohl, ja! Antreffen! Der will gerade dort noch Wiedersehen mit dir
+feiern! Er hat doch die Schatulle in den Fingern, worauf soll er jetzt
+noch warten?“
+
+„Beruhige dich, Stepan, beruhige dich nur,“ redete ihm mein Onkel gütig
+zu. „Sie haben ja noch zu nichts Zeit gehabt – du wirst sehen, daß es so
+ist.“
+
+„Zu nichts Zeit gehabt!“ wiederholte Herr Bachtschejeff boshaft. „Zu was
+hat diese nicht Zeit, wenn sie auch noch so bescheiden ist! ‚Ach ja, sie
+ist so bescheiden, ein so bescheidenes Kind!‘“ flötete er plötzlich aus
+der Fistel, als wolle er jemand nachäffen. „‚Sie hat so viel Unglück
+erfahren!‘ – Jawohl, ja! Da hat sie uns jetzt ihre Absätze gezeigt, die
+bescheidene Unglückliche! Da rast man ihr nun auf der großen Landstraße
+nach, mit der Zunge aus dem Halse womöglich, und sucht sie von
+Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang! Läßt einen nicht einmal an Gottes
+heiligem Feiertage beten, wie es sich gehört! Pfui!“
+
+„Aber sie ist doch mündig,“ bemerkte ich, „sie steht doch nicht unter
+Vormundschaft. Wir können sie doch nicht zwingen, zurückzukehren, wenn
+sie es nicht selbst will. Was werden wir dann tun?“
+
+„Sie wird gewiß zurückkehren wollen, ich versichere dich,“ sagte mein
+Onkel. „Das hat sie jetzt nur so ... Sobald sie uns nur erblickt, wird
+sie zurück wollen – dafür garantiere ich. Und außerdem – es geht doch
+nicht anders, Freund, man kann sie doch nicht so dem Zufall überlassen,
+dem Schicksal als Opfer ... es ist doch gewissermaßen eine Pflicht ...“
+
+„Steht nicht unter Vormundschaft!“ rief Herr Bachtschejeff aufgebracht
+aus und sah mich mit bösen Augen an. „‚Ist mündig!‘ – Eine Gans ist sie,
+mein Lieber, eine echte Gans! – _So_ muß man es nennen, aber nicht, daß
+sie _mündig_ ist! Gestern wollte ich mit dir überhaupt nicht von ihr
+sprechen; denn ein paar Stunden vorher hatte ich aus Versehen die Tür zu
+ihrem Zimmer aufgemacht – und was sehe ich: sie ist allein im Zimmer vor
+dem Spiegel, die Hände in die Seiten gestemmt und tanzt so was wie ’ne
+Ecossaise! Und wie aufgeputzt! Ein Journal, sag ich, einfach ein
+Modejournal! Ich spie nur aus und ging. Und damals schon sah ich voraus,
+sah ich alles so kommen, wie es jetzt gekommen ist – buchstäblich, genau
+so!“
+
+„Wozu soll man sie so hart beurteilen,“ wagte ich etwas eingeschüchtert
+einzuwenden, „wir wissen doch, daß Tatjana Iwanowna ... sich nicht ihrer
+vollen Gesundheit erfreut ... oder richtiger, daß sie eine gewisse Manie
+... Ich glaube, daß man nur Obnoskin beschuldigen darf und nicht sie.“
+
+„Sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut! Da werde einer mit ihm
+fertig!“ griff der Dicke wieder meinen Ausdruck auf, das Gesicht rot vor
+Zorn. „Er hat sich ja wahrhaftig geschworen, einen aus der Haut zu
+bringen! Schon gestern hat er den Schwur abgelegt! _Eine Gans ist sie_,
+hörst du mich, Väterchen, ich sage es dir nochmals: eine _kapitale_
+Gans! _So_ heißt’s, nicht aber, daß sie sich ‚nicht ihrer vollen
+Gesundheit erfreut‘! Sie ist von Kindesbeinen ^in puncto^ Liebe
+übergeschnappt, das laß dir gesagt sein! Und jetzt hat der Kupido sie
+glücklich bis zum Letzten gebracht! Von jenem aber mit dem Spitzbart –
+von dem lohnt es sich gar nicht zu reden! Der wird jetzt für dreie
+leben, da sei du unbesorgt, und das Geld springen lassen und sich ins
+Fäustchen lachen.“
+
+„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie verlassen wird?“
+
+„Was denn sonst? Soll er denn einen solchen Schatz noch mit sich
+herumschleppen? Was soll er mit ihr anfangen? Er wird ihr das Geld
+abrupfen und sie dann an der Landstraße unter einen Busch setzen – und
+Lebewohl sagen –, sie aber kann dann dort unterm Busch sitzen und
+Blümchen riechen, wenn sie will.“
+
+„Nein, Stepan, da hast du dich denn doch etwas fortreißen lassen, so
+wird es nicht sein!“ sagte mein Onkel. „Und weshalb ärgerst du dich so?
+Wirklich, ich wundere mich über dich, Stepan! Was hast du davon?“
+
+„Soo? Bin ich denn kein Mensch? Da kann man doch auch wütend werden!
+Ganz unwillkürlich! Und vielleicht rede ich nur aus mitleidigem Herzen
+... Ach, mag die ganze Welt versauern! Sagt mir doch, wozu bin ich
+eigentlich hergefahren? Weshalb bin ich nicht ruhig weitergefahren? Was
+geht denn das mich an? Was schert das mich, Schockschwerenot!“
+
+So haderte Herr Bachtschejeff mit dem Schicksal, doch ich hörte ihm
+nicht lange zu und beschäftigte mich in Gedanken mit derjenigen, der wir
+nachfuhren – mit Tatjana Iwanowna. Ihre Lebensgeschichte, über die ich
+mich in der Folge habe unterrichten lassen, und die als Erklärung ihres
+Abenteuers interessieren dürfte, ist kurz folgende:
+
+Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Hause
+aufgewachsen war, dann als armes, junges Mädchen und mit der Zeit als
+armes, altes Mädchen hatte Tatjana Iwanowna in ihrem ganzen kärglichen
+Leben alles Leid, das Verwaistheit, Erniedrigung, Vorwürfe und ungern
+gegebenes Gnadenbrot verursachen, zur Genüge ausgekostet. Von Natur mit
+einem heiteren, sehr empfänglichen und wohl auch leichtsinnigen
+Charakter begabt, hatte sie ihr bitteres Los anfangs noch leicht
+genommen und mitunter sogar fröhlich und sorglos wie ein Kind lachen
+können. Mit den Jahren tat aber die Zeit das Ihre: Tatjana Iwanowna
+wurde gelb und mager, wurde reizbar, krankhaft empfänglich und
+überschwenglich und träumte immer phantastischer von allem Schönen der
+Erde, träumte einen Traum, der nur von hysterischen Tränen oder
+plötzlichem, krampfartigem Schluchzen unterbrochen wurde. Je weniger
+irdische Güter die Wirklichkeit ihr verlieh, um so mehr tröstete sie
+sich mit ihrer Phantasie: je unwiederbringlicher und unaufhaltsamer ihre
+letzten Berechtigungen zu irgendwelchen Hoffnungen dahinschwanden, um so
+berauschender wurden ihre Illusionen, die sich doch niemals
+verwirklichen konnten. Unermeßliche Reichtümer, unverwelkbare Schönheit,
+elegante, reiche, vornehme Kavaliere, wenn nicht gar Großfürsten, die
+ihr den Hof machten, die für sie allein ihr Herz in jungfräulicher
+Reinheit erhalten hatten, und zu ihren Füßen vor lauter Liebe starben,
+und schließlich _er_ – _er_, das Schönheitsideal, ein Mann, der alle
+Vollkommenheiten in sich vereinigte, sie leidenschaftlich liebte, dazu
+Künstler, Dichter, General war – alles zusammen oder abwechselnd – alles
+das sah und erlebte sie bald nicht nur in ihrer Phantasie, sondern fast
+wie in Wirklichkeit. Ihre Vernunft widerstand nicht lange dem Gift
+dieser heimlichen, ununterbrochenen Träume ... Und nun plötzlich – griff
+das Schicksal in ihr Leben ein und hatte sie zum besten. In der letzten
+Erniedrigung, inmitten der traurigsten, das Herz bedrückenden
+Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, launischen
+Dame – die sie beständig beschuldigte, die ihr wegen jedes Brotstücks
+und jedes Kleides Vorwürfe machte –, fast als Dienstmagd, die ein jeder
+kränken durfte, und die von niemand beschützt wurde, die durch ihr
+armseliges Leben um ihre Vernunft gebracht war und im geheimen nur im
+Zauber der sinnlosesten und glühendsten Phantasiegebilde lebte – erhielt
+sie eines Tages die Nachricht vom Tode eines ihrer entfernten
+Verwandten, dessen Angehörige alle vor ihm gestorben waren, wovon sie in
+ihrem Leichtsinn keine Ahnung gehabt hatte. Dieser entfernte Verwandte
+war ein Sonderling gewesen, hatte wie ein Einsiedler gelebt, irgendwo
+weit in einem Provinznest, mürrisch, einsam und mit der Welt zerfallen,
+sich nur mit Kraniologie beschäftigt und sein Geld auf Wucherzinsen
+geliehen. Und so war denn plötzlich wie durch ein Wunder dieser Tatjana
+Iwanowna ein ganzes großes Vermögen in den Schoß gefallen: sie war die
+einzige noch lebende Verwandte und folglich die einzige gesetzmäßige
+Erbin des Alten. Hunderttausend Rubel erhielt sie sofort blank und bar
+ausgezahlt. Dieser Hohn des Lebens aber brachte sie alsbald um den Rest
+ihres Verstandes. Wie sollte nun ihre ohnehin schon geschwächte Vernunft
+nicht an die Erfüllung aller ihrer Träume glauben, wenn solche Wunder
+geschehen konnten? Und so kam es, daß sie, fast betäubt vom Glück,
+unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und
+verführerischer Illusionen versank. Verschwunden waren alle Zweifel,
+alle Grenzen der Wirklichkeit und deren Gesetze. Fünfunddreißig Jahre
+und blendende Schönheit, traurig stimmende Herbstkälte und die ganze
+Wonne unendlicher Liebesseligkeit lebten in ihrem Wesen nebeneinander,
+ohne miteinander auch nur einmal in Konflikt zu geraten. War doch _ein_
+Traum Wirklichkeit geworden – weshalb sollten es nicht auch die anderen
+werden? Weshalb sollte nicht auch _er_ erscheinen? Tatjana Iwanowna
+dachte nicht – sie glaubte. Und während sie _ihn_ noch erwartete, das
+Ideal – sah sie jetzt Tag und Nacht nur noch Werbende vor sich,
+Offiziere und Zivilpersonen, Infanteristen und Gardekavalleristen,
+Millionäre und Dichter, die in Paris gewesen waren, und auch solche, die
+nur Moskau gesehen hatten, solche mit spanischen Spitzbärten und solche
+ohne Spitzbärte, Spanier und Nichtspanier (größtenteils aber doch
+Spanier) – jedenfalls sah sie dieselben in erschreckend großer Anzahl,
+so daß sie in ihrer Umgebung ernstliche Befürchtungen erregte. Es fehlte
+nicht viel, und man hätte sie in eine Irrenanstalt schaffen müssen. Alle
+ihre schönen Illusionen umgaben sie wie eine glänzende Kette, und im
+wirklichen Leben sah sie alles im selben phantastischen Licht: wen sie
+nur sah, der schien ihr in sie verliebt zu sein; wer nur an ihr
+vorüberging, der war in ihren Augen ein Spanier, wer starb – der starb
+unfehlbar aus Liebe zu ihr. Und in diesen Einbildungen wurde sie noch
+dadurch bestärkt, daß ihr jetzt tatsächlich viele Herren, wie zum
+Beispiel ein Obnoskin, mit demselben Ziel, das auch Misintschikoff
+verfolgte, den Hof machten. Plötzlich wurde sie von allen umschmeichelt,
+verwöhnt und „geliebt“. Die Arme konnte und wollte nicht einmal
+argwöhnen, daß es nur um ihres Geldes willen geschah. Sie war vollkommen
+überzeugt, daß alle Menschen, von denen sie früher so schlecht behandelt
+worden war, sich plötzlich wie auf irgend jemandes Befehl gebessert
+hatten, heiter, lieb, freundlich und gut geworden seien. _Er_ erschien
+zwar vorläufig noch nicht, und wenn es auch nicht dem geringsten Zweifel
+unterlag, daß _er_ einmal kommen werde, so war doch das Leben auch so
+nicht schlecht, es war sogar sehr angenehm, so voll Zerstreuungen und
+netter Erlebnisse, daß man sehr gut noch warten konnte! Tatjana Iwanowna
+naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane.
+Diese Romane regten ihre Phantasie noch mehr an; doch las sie keinen
+einzigen zu Ende, sondern legte das Buch gewöhnlich schon nach den
+ersten Seiten aus der Hand. Sie hielt die Lektüre nicht länger aus, da
+schon die gleichgültigste Andeutung einer Liebe oder auch nur die
+Beschreibung des Ortes, eines Zimmers etwa, ihre Gedanken gänzlich
+gefangen nahm. Fortwährend wurden ihr neue Kleider, Spitzen, Hüte,
+Bänder, Musterbogen und Schnittmuster, Stickereien, Konfekt, Blumen und
+Schoßhündchen zugesandt. In der Mädchenstube waren drei Mädchen ganze
+Tage lang nur mit dem Nähen ihrer Kleider beschäftigt, sie aber drehte
+sich fast vom Morgen bis zum Abend und sogar in der Nacht vor dem
+Spiegel und hatte eine Anprobe nach der anderen. Sie schien dabei nach
+der Erbschaft jünger und hübscher geworden zu sein. Ich habe bis jetzt
+leider noch nicht in Erfahrung bringen können, wie sie mit dem
+verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Im Grunde war ich von
+Anfang an überzeugt, daß diese ganze Verwandtschaft nur eine Erfindung
+der Generalin sein konnte, die sich Tatjana Iwanownas bemächtigen
+wollte, um sie dann, was es auch koste, mit meinem Onkel zu verheiraten.
+Herr Bachtschejeff hatte recht, wenn er sagte, Kupido hätte sie um die
+letzte Vernunft gebracht. Andererseits war der Entschluß meines Onkels,
+als er von ihrer Flucht mit Obnoskin erfahren hatte, ihr sogleich
+nachzufahren und sie zurückzubringen, das Vernünftigste, was er tun
+konnte. Die Arme war gar nicht fähig, ohne Bevormundung zu leben, und
+sie würde unfehlbar ihrem Verderben entgegengegangen sein, wenn sie
+unter schlechte Menschen geraten wäre.
+
+Es war über neun, als wir in Mischino anlangten. Das Gut lag drei Werst
+abseits von der großen Landstraße. Es war dort nur ein kleines Gutshaus
+mit ein paar ärmlichen Nebengebäuden, die alle gleichsam in einer Grube
+lagen. Sechs oder sieben Bauernhütten, die schief und verräuchert, nur
+spärlich mit schwarz gewordenem Stroh bedeckt am Wege standen, machten
+einen traurigen Eindruck auf den Vorüberfahrenden. Kein Garten, kein
+Strauch war rings im Umkreise von einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein
+alter Weidenbaum stand einsam an einem grünen Tümpel, der „Teich“
+genannt wurde. Ein solcher Ort konnte auf Tatjana Iwanowna unmöglich
+einen freundlichen Eindruck machen. Das Wohngebäude des Besitzers war
+ein langgestreckter, schmaler Neubau mit sechs Fenstern in einer Reihe
+und einem vorderhand nur mit Stroh gedeckten Dach. Der Besitzer – ein
+ehemaliger Beamter – hatte das Gut erst kürzlich übernommen. Selbst der
+Hof war noch nicht einmal mit einem Zaun umgeben: nur an einer Seite war
+ein Stück von einem neuen Flechtzaun zu sehen, von dem die trockenen
+Nußbaumblätter noch nicht abgefallen waren. Dort am Zaun stand auch
+Obnoskins offener Wagen. Aus einem geöffneten Fenster hörten wir
+Geschrei und Weinen.
+
+Im Flur trafen wir nur einen barfüßigen Knaben an, der Hals über Kopf
+davonlief. Im ersten Zimmer, das wir betraten, saß auf einem langen,
+kattunüberzogenen „türkischen“ Diwan ohne Lehne – Tatjana Iwanowna, die
+ganz verweint war. Als sie uns erblickte, schrie sie auf und verbarg das
+Gesicht in den Händen. Neben ihr stand Obnoskin – mitleiderregend
+verwirrt und erschrocken. Er verlor dermaßen den Kopf, daß er uns
+entgegenstürzte, um uns die Hände zu drücken, ganz als hätte ihn unsere
+Ankunft unsäglich gefreut. Durch die halboffene Tür sah man den Zipfel
+eines Frauenkleides: jemand schien dort durch einen Spalt zu lauern und
+zu lauschen. Weder war der Hausherr noch war die Hausfrau zu sehen: sie
+schienen überhaupt nicht im Hause zu sein – oder sie hatten sich
+irgendwo versteckt.
+
+„Da ist sie ja, unsere Ausflüglerin! Will sich jetzt noch hinter den
+Händen verstecken!“ rief Herr Bachtschejeff aus, der hinter uns als
+letzter in das Zimmer gerollt kam.
+
+„Mäßigen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch! Das ist hier durchaus
+nicht angebracht. Das Recht zu sprechen hat jetzt nur Jegor Iljitsch,
+wir aber sind hier vollkommen Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikoff
+scharf.
+
+Mein Onkel, der dem Dicken nur einen strengen Blick zugeworfen hatte,
+ging, ohne Obnoskin und seine ausgestreckten Hände auch nur zu beachten,
+auf Tatjana Iwanowna zu, die ihr Gesicht immer noch verbarg, und sagte
+mit ungeheuchelter Teilnahme in seiner sympathischen Stimme:
+
+„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten Sie so, daß wir selbst
+hergekommen sind, um Ihre Absichten zu erfahren. Wollen Sie nicht mit
+uns nach Stepantschikowo zurückkehren? Heute ist doch Iljuschas
+Namenstag. Meine Mutter erwartet Sie ungeduldig, und Ssaschenjka und
+Nastenjka werden sicherlich den ganzen Morgen vor Sehnsucht nach Ihnen
+geweint haben ...“
+
+Tatjana Iwanowna erhob schüchtern den Kopf, sah, ohne die Hände vom
+Gesicht zu nehmen, vorsichtig durch die Finger zu ihm auf, und plötzlich
+warf sie sich aufschluchzend an seinen Hals.
+
+„Ach, bringen Sie mich, bringen Sie mich schnell von hier fort!“ flehte
+sie unter Tränen, „schnell, schnell, so schnell wie möglich!“
+
+„Hat das Durchbrennen schon satt!“ tuschelte mir Bachtschejeff mit einem
+gleichzeitigen Rippenstoß zu.
+
+„Dann wäre also die Angelegenheit erledigt,“ sagte mein Onkel trocken,
+sich an Obnoskin wendend; doch vermied er es, ihn anzusehen. „Tatjana
+Iwanowna, Ihren Arm, wenn ich bitten darf. Fahren wir!“
+
+Im Nebenzimmer hinter der Tür hörte man Kleiderrascheln. Die Tür
+kreischte ein wenig und der Spalt wurde größer.
+
+„Einstweilen aber ... wenn man von einem anderen Standpunkt aus urteilt
+...“ bemerkte Obnoskin mit unruhigem Blick nach der offenen Tür, „so
+müßten Sie sich doch selbst sagen, Jegor Iljitsch ... Ihre
+Handlungsweise in meinem Hause ... und schließlich – ich begrüße Sie,
+und Sie erwidern nicht einmal meinen Gruß, Jegor Iljitsch ...“
+
+„Ihre Handlungsweise in _meinem_ Hause, mein Herr, war ehrlos,“ sagte
+mein Onkel und sah Obnoskin mit strengem Blick offen an, „– und das hier
+ist nicht Ihr Haus. Sie haben es soeben selbst gehört: Tatjana Iwanowna
+will keinen Augenblick mehr hier verweilen. Was wollen Sie denn noch?
+Kein Wort – hören Sie, kein Wort mehr, ich bitte Sie darum! Ich würde
+gern weitere Erklärungen vermeiden, und das – wäre wohl auch
+vorteilhafter für Sie.“
+
+Obnoskin verlor so sehr den Kopf, daß er den größten Unsinn
+zusammenschwatzte.
+
+„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch,“ begann er halblaut, vor
+Beschämung, wie es schien, den Tränen nahe, wobei er sich fortwährend
+nach der Tür umsah – wahrscheinlich in der Furcht, daß man ihn dort
+hören könnte. „Ich habe ja eigentlich nichts getan, das war doch nur
+Mama ... Ich habe es nicht in meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ...
+ich habe es nur so getan ... natürlich habe ich es zum Teil auch in
+meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe es mit einem
+edlen Ziel vor Augen getan, Jegor Iljitsch ... Ich hätte das Kapital
+nutzbringend angewandt ... ich hätte den Armen geholfen. Ich wollte
+ferner zum Fortschritt der gegenwärtigen Aufklärung etwas beitragen ...
+ich beabsichtigte sogar, ein Stipendium an der Universität zu stiften
+... Sehen Sie, in welcher Weise und zu welchen Zwecken ich meinen
+Reichtum angewandt hätte, Jegor Iljitsch ... und nicht, daß ich sonst
+etwas, Jegor Iljitsch ...“
+
+Wir alle schämten uns mit einem Male ganz entsetzlich. Misintschikoff
+wurde rot und wandte sich ab, mein Onkel aber wurde so verlegen, daß er
+nicht wußte, was er sagen sollte.
+
+„Schon gut, schon gut!“ sagte er endlich. „Beruhigen Sie sich nur, Pawel
+Ssemjonytsch. Was soll man hier viel sagen ... Es kann jedem passieren
+... Wenn Sie wollen, besuchen Sie uns ... ich aber freue mich ... es
+freut mich, daß ...“
+
+Doch nicht ganz so zartfühlend verfuhr Herr Bachtschejeff.
+
+„Stipendium stiften!“ schrie er plötzlich jähzornig. „Der ist mir der
+Rechte zum Stiften! Du würdest gern selbst einem jeden das Letzte
+abrupfen! ... Hat sich im Leben noch kein Paar Hosen verdient, kräht
+aber schon wie die anderen von Stipendienstiften! So ein Lumpenkerl! Und
+hat jetzt noch ein zärtliches Herz besiegt! Aber wo ist denn die
+Hauptperson, die verehrte Frau Mutter? Oder hat sie sich versteckt? Ich
+will nicht Bachtschejeff heißen, wenn sie nicht dort irgendwo sitzt,
+sich hinter einem Bettschirm verborgen hält oder vor Schreck sich unters
+Bett verkrochen hat ...“
+
+„Stepan, Stepan!“ unterbrach ihn mein Onkel geärgert.
+
+Obnoskin wurde feuerrot und schien protestieren zu wollen. Doch noch
+bevor er den Mund aufmachen konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und
+Anfissa Petrowna Obnoskina stürzte mit blitzenden Augen empört und
+zornbebend ins Zimmer.
+
+„Was soll das bedeuten?“ kreischte sie laut. „Was geht hier vor? Sie,
+Jegor Iljitsch, dringen mit einer ganzen Kohorte in ein ehrenwertes
+Haus, erschrecken Damen, treffen eigenmächtig Anordnungen! ... Das ist
+doch unerhört! Ich bin zum Glück noch meiner Sinne mächtig, Jegor
+Iljitsch! ... Du Tölpel!“ fuhr sie in ihrem Redeschwall fort, sich auf
+ihren Sohn stürzend, „du scheinst ja hier vor ihnen noch weinen zu
+wollen! Deiner Mutter wird in ihrem Hause eine Beleidigung zugefügt, und
+du stehst da und schweigst! Was bist du? ein ehrenwerter junger Mann und
+Sohn? Ein Lappen bist du, aber kein Mann!“
+
+Vergessen waren alle Ziererei und die ganze lächerliche Koketterie, die
+mir am Tage zuvor an ihr aufgefallen waren – auch keine Spur war mehr
+davon sichtbar: man sah nur noch eine Furie vor sich, eine Furie, der
+man die Maske vom Gesicht gerissen hatte.
+
+Kaum hatte sie ihren ersten Redeschwall beendet, als mein Onkel auch
+schon Tatjana Iwanowna seinen Arm bot und sie zur Tür hinausgeleiten
+wollte. Anfissa Petrowna jedoch versperrte ihm sogleich den Weg.
+
+„Sie werden so nicht fortgehen, Jegor Iljitsch!“ begann sie von neuem
+ihr Geschrei. „Mit welchem Recht wollen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam
+entführen? Es macht Ihnen einen Strich durch die Rechnung, daß der
+Goldfisch den erbärmlichen Netzen entschlüpft ist, mit denen Sie sie in
+Gemeinschaft mit Ihrer Mutter und dem Esel Foma Fomitsch einzufangen
+gedachten! Sie würden sie gern selbst aus niedriger Geldgier heiraten.
+Verzeihen Sie, aber hier ist man edler gesinnt! Da Tatjana Iwanowna sah,
+was man dort gegen sie plante, vertraute sie sich meinem Sohn Pawluscha
+an. Sie hat ihn selbst gebeten, sie vor Ihnen zu retten und sie zu
+beschützen: Sie war gezwungen, in der Nacht aus Stepantschikowo zu
+fliehen – sehen Sie, so verhält sich die Sache! So weit haben Sie sie
+gebracht! Nicht wahr, so ist es doch, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich
+aber so verhält, wie können Sie es dann wagen, mit einer solchen Bande,
+wie dieser, in ein angesehenes Haus einzudringen und mit Gewalt ein
+ehrenwertes Mädchen zu entführen, trotz der Tränen desselben? Das
+erlaube ich nicht! Das erlaube ich nicht! Ich bin ein vernünftiger
+Mensch, kein verrückter! ... Tatjana Iwanowna wird hierbleiben; denn das
+ist ihr Wunsch und ihr Wille! Gehen wir, Tatjana Iwanowna, es lohnt sich
+nicht, diese Menschen anzuhören: das sind unsere Feinde und nicht unsere
+Freunde! Ich werde sie schon hinausbringen, die – ...“
+
+„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken aus, „ich will nicht,
+ich will nicht! Was ist er für ein Mann? Ich will Ihren Sohn nicht
+heiraten! Was ist er denn für ein Mann?“
+
+„Sie wollen nicht!“ schrie Anfissa Petrowna wutschnaubend, „Sie wollen
+nicht? Erst sind Sie hergekommen und jetzt wollen Sie nicht? Wie haben
+Sie uns denn so betrügen können? Wie haben Sie ihm dann Ihre Zusage
+geben können? Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen, haben sich ihm
+selbst an den Hals geworfen, haben uns in Ausgaben gestürzt! Mein Sohn
+hat Ihretwegen vielleicht eine gute Partie verloren, die er hätte machen
+können ... Er hat vielleicht zehntausend Rubel Mitgift verloren durch
+Sie! ... Nein! Sie werden es bezahlen, Sie müssen es bezahlen! Wir haben
+Beweise in der Hand ... Sie sind in der Nacht mit ihm entflohen ...“
+
+Doch wir hatten genug von ihrem Geschrei: wie auf Kommando scharten wir
+uns alle dicht um meinen Onkel und drängten zur Tür hinaus,
+rücksichtslos auf Anfissa Petrowna zu, die uns den Weg versperren
+wollte, und gelangten auch glücklich ins Freie. Unser Wagen fuhr vor.
+
+„So etwas tun nur Schufte, nur Schurken!“ schrie uns in rasender Wut
+Anfissa Petrowna von der Treppe noch nach.
+
+„Ich werde die Rechnung schicken! Sie werden sie bezahlen! Sie fahren in
+ein ehrloses Haus, Tatjana Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht
+heiraten, er hält sich ja vor Ihrer Nase seine Gouvernante als Mätresse
+im Hause! ...“
+
+Mein Onkel fuhr zusammen, erbebte, erbleichte, biß sich auf die Lippe
+und half eifrig Tatjana Iwanowna beim Einsteigen. Ich ging um den Wagen
+herum und wartete, bis an mich die Reihe kam, einzusteigen, als
+plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand erfaßte.
+
+„Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Sie um Ihre Freundschaft zu
+bitten!“ flüsterte er mir mit einem ganz verzweifelten Ausdruck zu und
+drückte krampfhaft meine Hand.
+
+„Wie das – Freundschaft?“ fragte ich verwundert und setzte schnell den
+Fuß auf das Trittbrett.
+
+„Ja! Ich habe gestern in Ihnen einen überaus gebildeten Menschen
+erkannt. Verurteilen Sie mich nicht ... Mich hat eigentlich nur meine
+Mutter verleitet, ich aber bin in dieser Angelegenheit ganz ^à part^.
+Ich neige mehr zur Literatur – versichere Sie! Dies hier aber hat alles
+nur meine Mutter ...“
+
+„Ich glaube es, glaube es,“ sagte ich, „leben Sie wohl!“
+
+Wir setzten uns und fuhren fort. Das Geschrei und die Verwünschungen
+Anfissa Petrownas schallten uns noch lange nach. Und nun tauchten auch
+in allen Fenstern des Hauses unbekannte Gesichter auf, die uns mit
+unbeschreiblicher Neugier nachstarrten.
+
+Wir saßen jetzt zu fünfen im Wagen. Misintschikoff hatte sich neben den
+Kutscher gesetzt und seinen Platz auf dem Rücksitz Herrn Bachtschejeff
+abgetreten, der nun Tatjana Iwanowna gegenübersaß. Tatjana Iwanowna war
+sehr zufrieden damit, daß wir sie wieder zurückbrachten, weinte aber
+immer noch. Mein Onkel tröstete sie, so gut er es konnte. Er selbst war
+dabei niedergedrückt und nachdenklich: man sah es ihm an, daß die
+schändlichen Worte über Nastenjka, die Anfissa Petrowna in ihrer Wut uns
+nachgeschrien hatte, schmerzlich in seinem Herzen widerhallten. Übrigens
+– unsere Rückfahrt wäre ohne jeden Zwischenfall sehr glücklich
+verlaufen, wenn Herr Bachtschejeff nicht mit uns gewesen wäre.
+
+Kaum hatte er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz genommen, als er
+plötzlich ein ganz anderer wurde: er konnte nicht mehr gleichmütig
+dreinblicken und noch weniger ruhig auf seinem Platz sitzen, er drehte
+sich vielmehr hin und her, wurde rot wie ein gekochter Krebs und rollte
+beängstigend die Augen. Namentlich als mein Onkel Tatjana Iwanowna zu
+trösten suchte, schien der Dicke förmlich aus der Haut fahren zu wollen
+und brummte und knurrte wie eine aufs äußerste gereizte Bulldogge, die
+man zum Überfluß noch neckt. Mein Onkel blickte ihn mehrmals etwas
+ängstlich an und schien einige Befürchtungen zu hegen. Schließlich fiel
+auch Tatjana Iwanowna die eigentümliche Gemütsstimmung ihres Gegenübers
+auf, und sie begann ihn aufmerksam zu betrachten. Dann blickte sie uns
+an, lächelte, und plötzlich nahm sie ihren kleinen Sonnenschirm und
+schlug mit einer graziösen Bewegung Herrn Bachtschejeff leicht auf die
+Schulter.
+
+„Sie Tor!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie und verbarg ihr
+Gesicht hinter ihrem Fächer.
+
+Das war der Tropfen, der den Becher überlaufen machte.
+
+„Wa–a–as!“ brüllte der Dicke, „wa–as sagten Sie, Madame? Also jetzt hast
+du’s schon auf mich abgesehen!“
+
+„Sie Tor! Sie Tor!“ rief Tatjana Iwanowna und brach in heiteres Lachen
+aus, wozu sie in die Hände klatschte.
+
+„Halt an!“ schrie Bachtschejeff dem Kutscher zu, „halt an!“
+
+Die Pferde blieben stehen. Bachtschejeff öffnete den Wagenschlag und
+machte sich eilig daran, auszusteigen.
+
+„Was fällt dir ein, Stepan? Wohin willst du?“ fragte mein Onkel
+verwundert und erschrocken.
+
+„Nein, das ist mir zu stark!“ antwortete der Dicke zitternd vor
+Unwillen, „mag die ganze Welt verderben! Ich bin zu alt, Madame, um mich
+noch auf Amouren einlassen zu können. Ich, meine Beste, ich sterbe
+lieber allein! Adieu, Madame, kommang wu porteh-wu!“
+
+Und er begann in der Tat zu Fuß zu marschieren. Der Wagen fuhr im
+Schritt hinter ihm her.
+
+„Stepan!“ rief ihm mein Onkel ärgerlich zu, da er endlich die Geduld
+verlor. „Mach doch keine Dummheiten, steig ein! Es ist doch die höchste
+Zeit, nach Haus zu kommen!“
+
+„Fällt mir ein!“ rief Herr Bachtschejeff zwar empört, aber es klang doch
+schon etwas atemlos vom Gehen; denn infolge seiner Dicke hatte er das
+Gehen fast ganz verlernt.
+
+„Fahr zu, so schnell die Pferde können!“ befahl plötzlich Misintschikoff
+ganz unerwartet dem Kutscher.
+
+„Was tust du, was tust du?“ rief zwar mein Onkel gerade noch erschrocken
+aus, aber der Wagen flog schon dahin. Misintschikoff hatte sich nicht
+getäuscht: die gewünschten Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
+
+„Halt an! Halt an!“ ertönte alsbald hinter uns ein verzweifeltes Gegröl,
+„halt an, du Räuber! Halt an, du Seelenverführer, der du bist! ...“
+
+Der Dicke kam schließlich müde und halberstickt, mit Schweißtropfen auf
+der Stirn, mit aufgebundener Krawatte und in Hemdsärmeln wieder bei uns
+an. Stumm und finster kletterte er mühsam in den Wagen, doch diesmal
+mußte ich ihm meinen Platz abtreten. So brauchte er wenigstens nicht
+Tatjana Iwanowna gegenüberzusitzen, die unaufhörlich lachte, vor
+Vergnügen in die Hände schlug und während der ganzen Fahrt nicht mehr
+gleichmütig den Dicken ansehen konnte. Er aber sprach bis zur Ankunft
+kein einziges Wort und schien sich die ganze Zeit grundsätzlich nur noch
+dafür zu interessieren, wie sich das eine Hinterrad das Wagens drehte.
+
+Die Sonne stand im Zenith, als wir in Stepantschikowo ankamen. Ich begab
+mich sogleich in das Sommerhaus, wohin mir der alte Gawrila mit dem Tee
+folgte. Als ich mich, kaum dort angelangt, zu ihm wandte, um ihn einiges
+zu fragen, trat mein Onkel ein und schickte ihn fort.
+
+
+
+
+ XIV.
+
+ Neuigkeiten.
+
+
+„Mein Freund, ich bin nur auf einen Augenblick zu dir gekommen,“ sagte
+er eilig. „Ich wollte dir nur mitteilen ... Ich habe mich nach allem
+erkundigt. Es ist niemand von ihnen zum Gottesdienst gefahren, außer
+Iljuschka, Ssaschenjka und Nastenjka. Meine Mutter soll in Krämpfen
+gelegen haben. Man hat sie nur mit Mühe wieder zu sich gebracht. Jetzt
+hat man beschlossen, daß alle sich bei Foma versammeln sollen, und auch
+mich hat man hingebeten. Nur weiß ich nicht, ob ich Foma zum Geburtstag
+gratulieren soll oder nicht – das ist die Frage! Und dann – wie werden
+sie überhaupt diesen ganzen Zwischenfall auffassen? Entsetzlich,
+Ssergei, wenn ich daran denke, was ich jetzt alles kommen sehe ...“
+
+„Im Gegenteil, Onkel,“ beeilte ich mich, ihn zu beruhigen, „es wird
+jetzt alles vorzüglich werden. Jetzt können Sie doch unmöglich Tatjana
+Iwanowna heiraten – bedenken Sie doch nur, was das allein wert ist! Ich
+wollte Ihnen das schon unterwegs sagen ...“
+
+„Ich weiß, ich weiß, Freund. Aber das ist es ja nicht! Das ist natürlich
+ein Fingerzeig Gottes, wie du sagst, aber nicht davon wollte ich
+sprechen ... Die arme Tatjana Iwanowna! Was sie für Anfälle hat! ... Ein
+Schuft, ein Schuft ist dieser Obnoskin! Doch – was sage ich ‚Schuft‘!
+Hätte ich nicht dasselbe getan, wenn ich sie geheiratet hätte? ... Aber
+ich wollte doch nicht davon reden ... Hast du gehört, was vorhin diese
+schändliche Anfissa von Nastjä uns nachrief?“ fragte er leise.
+
+„Ich habe es gehört, Onkel. Sehen Sie jetzt ein, daß Sie sich beeilen
+müssen?“
+
+„Unbedingt! Und was es auch koste, um jeden Preis!“ antwortete mein
+Onkel. „Der Augenblick ist gekommen. Nur haben wir beide, Freund,
+gestern an eines nicht gedacht; später aber habe ich mir die ganze Nacht
+den Kopf darüber zerbrochen: wird sie mich denn auch nehmen – sieh, das
+ist die Frage!“
+
+„Aber hören Sie ...! Wenn sie Ihnen doch selbst gesagt hat, daß sie Sie
+liebt ...“
+
+„Aber, mein Freund, sie hat doch gleich darauf hinzugefügt, daß sie mich
+niemals heiraten werde!“
+
+„Ach, Onkel! Das wird doch nur so gesagt worden sein, und zudem liegen
+ja auch die Verhältnisse heute ganz anders.“
+
+„Glaubst du? Nein, Freund Ssergei, das ist eine delikate Sache, hier muß
+man unendlich zartfühlend sein! Hm! ... Aber weißt du, ich war ja wohl
+traurig darüber, aber im Herzen verspürte ich doch die ganze Nacht so
+etwas wie – ein großes Glück ... Nun, leb wohl, ich eile. Sie erwarten
+mich, ich komme sowieso zu spät. Ich wollte überhaupt nur einen
+Augenblick bei dir vorsprechen, bloß um zwei Worte mit dir zu wechseln.
+Ach, mein Gott!“ rief er plötzlich aus und kehrte von der Tür zurück,
+„und die Hauptsache habe ich doch noch vergessen! Weißt du: ich habe ihm
+ja doch geschrieben, dem Foma!“
+
+„Wann?“
+
+„In der Nacht. Am Morgen aber, als es kaum dämmerte, schickte ich ihm
+den Brief durch Widopljässoff zu. Ich habe, weißt du, ihm alles
+klargelegt, zwei ganze Briefbogen lang, habe ihm alles wahrheitsgetreu
+und aufrichtig geschrieben – kurz, daß es, wie gesagt, meine Pflicht
+ist, das heißt, unbedingt meine Pflicht – du verstehst doch? – um
+Nastenjkas Hand in aller Form anzuhalten. Ich habe ihn gebeten, von
+unserer Begegnung im Garten nichts verlauten zu lassen, und ich habe
+mich an den ganzen Edelmut seiner Seele gewandt, mit der Bitte, mir bei
+meiner Mutter zu helfen. Ich habe mich natürlich – ich weiß es, mein
+Freund – schlecht ausgedrückt, aber ich habe jedes Wort von ganzem
+Herzen geschrieben, mit Tränen geschrieben, kann ich wohl sagen ...“
+
+„Und? Er hat nichts geantwortet?“
+
+„Vorläufig noch nicht. Nur am Morgen, als wir zur Fahrt aufbrachen,
+begegnete ich ihm im Flur – er war noch im Nachtkostüm, in Pantoffeln
+und Zipfelmütze – er schläft immer mit einer Zipfelmütze – er ging
+gerade irgendwohin. Er sagte kein Wort, sah mich nicht einmal an. Ich
+sah ihm, weißt du, ins Gesicht, aber das verriet nichts!“
+
+„Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn: er wird Ihnen noch was Schönes
+einbrocken!“
+
+„Nein, nein, Freund, sprich nicht so!“ unterbrach mich mein Onkel eilig,
+„ich bin überzeugt! Und dann – es ist dies ja auch meine letzte
+Hoffnung. Er wird einsehen, er wird es verstehen ... Er ist launisch,
+eigensinnig – ich gebe es zu. Wenn es sich aber um etwas Großes handelt,
+um, sozusagen, um höheren Edelmut, dann steht Foma in seinem vollen
+Glanze da – ja, in seinem vollen Glanze ... Das sagst du nur deshalb,
+Ssergei, weil du ihn noch nicht in einem solchen Augenblick gesehen hast
+... Aber, Herrgott! Wenn er ... wenn er wirklich das Geheimnis nicht als
+solches wahrt, so ... ich weiß nicht, Ssergei, was dann geschehen wird!
+An was in der Welt kann man dann noch glauben? Doch nein, er kann nicht
+so schlecht sein. Ich bin ja nicht einmal seinen kleinen Finger wert! Du
+brauchst nicht den Kopf zu schütteln, Freund: es ist wahr – ich bin ihn
+nicht wert.“
+
+„Jegor Iljitsch! Ihre Exzellenz beunruhigen sich um Sie!“ ertönte da
+plötzlich die Stimme der Perepelizyna unter dem offenen Fenster.
+Wahrscheinlich hatte die alte Jungfer unser ganzes Gespräch belauscht.
+„Sie werden im ganzen Hause gesucht, und niemand kann Sie finden.“
+
+„Herrgott, ich habe mich verspätet!“ rief mein Onkel entsetzt aus.
+„Freund, um Christi willen, zieh dich schnell an und komm hin! Ich bin
+ja eigentlich auch nur deshalb hergekommen, um dich abzuholen ... Ich
+komme, Anna Nilowna, ich komme ...“
+
+Ich blieb allein zurück. Ich dachte an meine Begegnung mit Nastenjka und
+war froh darüber, daß ich meinem Onkel nichts davon gesagt hatte: ich
+hätte ihn nur noch unentschlossener gemacht. Ich sah voraus, daß ein
+großer Sturm bevorstand, und konnte eigentlich nicht begreifen, wie mein
+Onkel die Sache zu Ende bringen und um Nastenjkas Hand anhalten würde.
+Ich wiederhole und gestehe es: trotz meines ganzen Glaubens an seine
+Ritterlichkeit, zweifelte ich doch unwillkürlich am Erfolge.
+
+Einstweilen hieß es jedoch: sich schnellstens ankleiden! Ich hielt es
+für meine Pflicht, ihm zu helfen, und beeilte mich mit dem Umziehen.
+Aber wie sehr ich mich auch beeilte, es dauerte doch länger – wie es
+gewöhnlich geschieht, wenn man sich etwas sorgfältiger ankleiden und
+dabei beeilen will. Und während ich mich noch ankleidete, trat
+Misintschikoff ein.
+
+„Ich bin gekommen, um Sie abzuholen,“ sagte er. „Jegor Iljitsch läßt Sie
+bitten, schnell zu kommen.“
+
+„Gehen wir!“
+
+Ich war jetzt fertig. Wir gingen.
+
+„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn unterwegs.
+
+„Alle sind bei Foma versammelt,“ antwortete Misintschikoff, „Foma ist
+diesmal nicht launenhaft, scheint nachdenklich zu sein und spricht
+wenig, knurrt nur durch die Zähne. Er hat sogar Iljuscha geküßt, was
+Jegor Iljitsch selbstredend in wahre Begeisterung versetzte. Er hat kurz
+vorher durch die Perepelizyna der Generalin sagen lassen, daß man ihn
+nicht zum Namensfest beglückwünschen solle, er habe ‚nur prüfen wollen‘
+... Die Alte riecht zwar den Braten, hat sich aber beruhigt; denn auch
+Foma ist ruhig. Von der Flucht wird mit keiner Silbe gesprochen – als
+wäre überhaupt nichts vorgefallen. Man schweigt; denn auch Foma geruht
+zu schweigen. Er hat den ganzen Morgen keinen Menschen zu sich gelassen,
+die Alte aber hat ihn bei allen Heiligen angefleht, zu einer Beratung zu
+ihr zu kommen. Sie hat sogar selbst und eigenhändig an seiner Tür
+gerüttelt. Er aber hatte sich eingeschlossen und soll gesagt haben, er
+bete ‚für die Menschheit‘ – oder Ähnliches. Er scheint irgend etwas im
+Schilde zu führen: das sieht man seinem Gesicht sofort an. Da aber Jegor
+Iljitsch nicht fähig ist, aus einem Gesicht etwas zu erraten, so ist er
+jetzt durch Fomas Frömmigkeit, wie gesagt, völlig bezaubert: ein
+richtiges Kind! Iljuscha hat ein Gedicht gelernt, das er jetzt vortragen
+soll. Deshalb hat man mich auch nach Ihnen geschickt.“
+
+„Und Tatjana Iwanowna?“
+
+„Was?“
+
+„Wo ist sie? Dort bei den anderen?“
+
+„Nein, sie ist in ihrem Zimmer,“ antwortete Misintschikoff trocken. „Sie
+erholt sich und weint. Vielleicht schämt sie sich auch. Bei ihr befindet
+sich, glaube ich, diese ... Erzieherin. Aber was ist denn das? Ein
+Gewitter zieht auf, wie es scheint. Sehen Sie doch, dort – den Himmel!“
+
+„Ja, wahrscheinlich ein Gewitter,“ sagte ich nach einem Blick auf die
+dunklen Wolken am Horizont.
+
+In dem Augenblick stiegen wir zur Terrasse hinauf.
+
+„Doch – Obnoskin? – was sagen Sie zu dem?“ fragte ich, da ich es nicht
+verbeißen konnte, Misintschikoff ein bißchen auf den Zahn zu fühlen.
+
+„Sprechen Sie nicht von ihm! Erinnern Sie mich überhaupt nicht an diesen
+Schurken!“ rief er aus und blieb plötzlich stehen. Er wurde rot und
+stampfte mit dem Fuß auf. „Dieser Esel! Dieser Esel! einen so sicheren
+Plan, einen so glänzenden Gedanken zu verpfuschen! Hören Sie, ich bin
+natürlich auch ein Esel, da ich seine Schliche nicht bemerkt und nicht
+erraten habe – das gestehe ich vollkommen ehrlich und feierlich selbst
+ein, und vielleicht wünschten Sie nur diese Selbstbeschuldigung zu
+hören. Aber ich schwöre Ihnen: Hätte der Kerl die Sache nach allen
+Regeln der Kunst durchgeführt, so würde ich ihm vielleicht noch
+verzeihen. Der Esel, o, der Esel! Wie kann man nur solche Leute in der
+Gesellschaft überhaupt dulden? Weshalb verschickt man sie nicht nach
+Sibirien, in die Zwangsarbeit, als Kolonisten! Aber was da! Die sollen
+mich nicht überlisten! Jetzt habe ich wenigstens Erfahrungen gesammelt,
+ich habe ein Beispiel vor Augen – und wir werden uns noch einmal messen!
+Ich überlege jetzt – einen neuen Plan ... Sie werden mir zugeben: soll
+man denn die Früchte seiner Ideen wirklich nur deshalb verlieren, weil
+irgendein Esel die Idee gestohlen, doch die Sache nicht richtig
+auszuführen verstanden hat? Das wäre doch töricht! Und schließlich –
+diese Tatjana muß unbedingt heiraten: das ist nun einmal ihre
+Bestimmung. Und wenn bis jetzt noch niemand sie in eine Irrenanstalt
+gesteckt hat, so ist das doch nur deshalb nicht geschehen, weil man sie
+immer noch heiraten konnte. Ich werde Ihnen meinen neuen Plan
+auseinandersetzen ...“
+
+„Aber doch wohl später,“ unterbrach ich ihn, „denn jetzt sind wir ja
+angelangt.“
+
+„Gut, gut, später!“ sagte Misintschikoff – sein Mund verzog sich zu
+einem kurzen Lächeln. „Jetzt aber ... Wohin gehen Sie denn? Ich sagte
+Ihnen doch: direkt zu Foma Fomitsch! Folgen Sie mir. Sie sind noch nie
+dort gewesen. Jetzt werden Sie eine neue Komödie erleben ... Da nun
+einmal die Komödien hier Mode sind ...“
+
+
+
+
+ XV.
+
+ Iljuschas Namenstag.
+
+
+Foma bewohnte zwei große, prachtvolle Räume: sie waren besser möbliert
+als alle anderen in Stepantschikowo. Der größte Komfort umgab den großen
+Mann. Neue, teure Tapeten an den Wänden, seidene, gemusterte Vorhänge an
+den Fenstern, Teppiche, Trumeaus, ein Kamin und weiche, elegante
+Polstersessel – alles sprach von der zarten, liebevollen Aufmerksamkeit
+des gastfreundlichen Hausherrn, der es Foma Fomitsch nicht gut genug
+machen konnte. Vor den Fenstern standen auf runden Marmortischen schöne
+Blumen. Mitten im „Arbeitskabinett“ stand ein großer Tisch, der mit
+einer schweren roten Tuchdecke bedeckt war, und auf dem viele Bücher und
+Manuskriptbogen lagen; ferner stand auf ihm ein kostbares, in Bronze
+gearbeitetes Tintenfaß – daneben ein ganzer Stoß von Gänsefedern, für
+die Widopljässoff zu sorgen hatte. Alles das sollte ersichtlich von der
+schweren geistigen Arbeit Foma Fomitschs zeugen. Nebenbei bemerkt: Foma,
+der runde acht Jahre hier lebte, hat eigentlich überhaupt nichts
+verfaßt. Späterhin, als er das Zeitliche gesegnet hatte, durchsuchten
+wir seine hinterlassenen Manuskripte, die, wie es sich dann zeigte, in
+nichts als bekritzeltem Papier bestanden. Das von ihm Geschriebne war
+barer Unsinn, einfach Blödsinn. So fanden wir zum Beispiel den Anfang
+eines historischen Romans, der in Nowgorod spielte, und zwar im
+siebenten Jahrhundert! – als Nowgorod überhaupt noch nicht vorhanden
+war. Dann noch ein ungeheuerliches Gedicht: „Anachoret auf dem
+Friedhof“, das er in reimlosen Versen geschrieben hatte; ferner eine
+sinnlose Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften des
+russischen Bauern, sowie darüber, wie man mit ihm umgehen müsse; und
+schließlich noch eine Novelle: „Gräfin Wlonskaja“, aus der eleganten
+Welt, gleichfalls sinnlos und unbeendet. Das war alles, was wir fanden.
+Indes hatte Foma Fomitsch meinen Onkel jährlich große Summen für Bücher
+und Zeitschriften zahlen lassen. Die meisten von ihnen blieben jedoch
+unaufgeschnitten liegen. Dagegen habe ich Foma später nicht selten bei
+der Lektüre eines Romans von Paul de Kock überrascht, den er vor anderen
+Sterblichen natürlich möglichst verbarg.
+
+An der einen Seite des Zimmers war eine Glastür, durch die man über ein
+paar Stufen auf den Hof gelangte.
+
+Wir wurden erwartet. Foma Fomitsch saß in seinem Philosophenstuhl und
+trug einen eigentümlich langen Rock, der fast bis zu den Fersen
+herabreichte, doch hatte er sich keine Krawatte umgebunden. Er war
+auffallend wortkarg und nachdenklich. Als wir eintraten, hob er nur ein
+wenig die Brauen in die Höhe und richtete einen prüfenden Blick auf
+mich. Ich machte ihm meine Verbeugung, und er dankte mir mit einem nur
+leichten Kopfnicken, das aber doch ziemlich höflich ausfiel. Als die
+Generalin sah, daß Foma Fomitsch mir gnädig gesinnt war, nickte auch sie
+mir lächelnd zu. Die Arme! – sie hatte am Morgen alles eher erwartet,
+als daß ihr Liebling die Nachricht von dem „Zwischenfall“ ruhig
+aufnehmen werde! Daher war sie jetzt sehr gut aufgelegt, – ungeachtet
+dessen, daß sie noch vor wenigen Stunden in Krämpfen und
+Ohnmachtsanfällen gelegen hatte. Hinter ihrem Stuhl stand wie gewöhnlich
+Fräulein Perepelizyna, die ihre Lippen zu einem schmalen Streifen
+zusammenpreßte, bitter und boshaft lächelte und ihre mageren Hände, an
+denen alle Gelenke hervorstanden, unaufhörlich rieb. Neben der Generalin
+hatten sich ihre zwei Freundinnen niedergelassen, zwei alte adlige
+Damen, die beständig bei ihr lebten und fast nie ein Wort sprachen. Dann
+saßen dort noch eine am Morgen angekommene Nonne und eine Gutsbesitzerin
+aus der Nachbarschaft, die zum Morgengottesdienst ins Kloster gefahren
+und auf dem Rückwege in Stepantschikowo ausgestiegen war, um die alte
+Generalin zum Fest zu beglückwünschen. Meine Tante Praskowja
+Iljinitschna zog sich ängstlich in einen Winkel zurück und blickte
+unruhig bald auf Foma Fomitsch, bald auf ihre Mutter, die Generalin.
+Mein Onkel saß in einem Lehnstuhl, und ungetrübte Freude leuchtete aus
+seinen Augen. Vor ihm stand Iljuscha, festlich angezogen – in einem
+rotgestickten russischen Kittelchen – und war mit seinem Lockenkopf
+reizend wie ein kleiner Engel anzusehen. Ssaschenjka und Nastenjka
+hatten ihm heimlich ein Gedicht beigebracht, damit er den Vater an
+diesem Tage durch seine Fortschritte erfreue. Mein Onkel war vor lauter
+Freude fast den Tränen nahe: die unerwartete Sanftmut Fomas, die
+freundliche Stimmung seiner Mutter, dazu Iljuschas Namenstag, und dazu
+das Gedicht – kurz, alles zusammen wirkte geradezu begeisternd auf ihn,
+und er hatte feierlich Misintschikoff gebeten, mich zu rufen, damit auch
+ich schneller des allgemeinen Glücks teilhaftig würde und das Gedicht
+mit anhören könne.
+
+Ssaschenjka und Nastenjka, die kurz vor uns eingetreten waren, standen
+nicht weit von Iljuscha. Ssaschenjka brach immer wieder in helles Lachen
+aus und war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind. Nastenjka mußte
+beim Anblick meines fröhlichen Kusinchens gleichfalls lächeln, doch
+eingetreten war sie bleich und ernst. Sie allein hatte Tatjana Iwanowna
+empfangen und getröstet und war die ganze Zeit bei ihr gewesen. Der
+kleine Schlingel Iljuscha konnte auch nicht ernst bleiben, wenn er seine
+Lehrerinnen ansah. Wie es schien, hatten die drei einen Scherz
+vorbereitet, der sehr zum Lachen anregte ...
+
+Herrn Bachtschejeff habe ich noch vergessen. Er saß etwas abseits auf
+einem kleinen Stuhl, war immer noch wütend und rot, schwieg, maulte,
+schnaubte sich und spielte überhaupt eine recht finstere Rolle auf dem
+Familienfest. Neben ihm scharwenzelte Jeshowikin umher, übrigens nicht
+nur bei ihm allein, sondern so ziemlich überall: bald küßte er der
+Generalin die Hand, bald der fremden Gutsbesitzerin, bald flüsterte er
+Fräulein Perepelizyna etwas ins Ohr, oder er machte Foma Fomitsch den
+Hof. Er erwartete gleichfalls mit großem Mitgefühl Iljuschas Vortrag.
+Bei meinem Eintritt erschien er mit seinen üblichen Bücklingen sofort an
+meiner Seite, um mir seine große Hochachtung und Ergebenheit zu
+bezeugen. Es war ihm durchaus nicht anzusehen, daß er hergekommen war,
+um seine Tochter zu verteidigen und sie wieder zu sich nach Haus zu
+bringen.
+
+„Da ist er!“ rief mein Onkel freudig aus, als er mich erblickte.
+„Freund, Iljuscha hat ein Gedicht auswendig gelernt – auswendig – das
+ist doch eine Überraschung – nicht? Ich fiel aus den Wolken! Ich ließ
+dich rufen, damit du es mit anhören kannst ... Also setz dich her! Hören
+wir zu! Aber, Foma, gesteh es nur, du hast sie sicherlich auf die Idee
+gebracht, um mir eine Freude zu bereiten? Ich wette meinen Kopf darauf!“
+
+Wenn mein Onkel in Fomas Gemach in diesem Ton und mit einer solchen
+Stimme zu sprechen wagte, so hätte man glauben dürfen, daß alles sich in
+der größten Ordnung befände. Aber das war ja das Unglück, daß mein Onkel
+nichts aus einem Gesicht zu erraten verstand, wie Misintschikoff sich
+ausgedrückt hatte. Als ich jetzt Fomas Miene sah, mußte ich zugeben, daß
+allerdings etwas Besonderes bevorstand ...
+
+„Beunruhigen Sie sich nicht um mich,“ antwortete Foma mit schwacher
+Stimme – mit der Stimme eines Menschen, der seinen Feinden vergibt. „Die
+Überraschung lobe ich natürlich: sie spricht von der Anhänglichkeit und
+Wohlerzogenheit Ihrer Kinder. Gedichte sind gleichfalls nützlich, schon
+wegen der Aussprache, die sie bilden ... Doch ich war an diesem Morgen
+nicht mit Gedichten beschäftigt, Jegor Iljitsch: ich habe gebetet ...
+Sie wissen es ... Aber ich bin schließlich bereit, auch Gedichte
+anzuhören.“
+
+Inzwischen hatte ich Iljuscha gratuliert und auf beide Bäckchen geküßt.
+
+„Ich weiß, Foma, verzeih! Ich hatte es vergessen ... wenn ich auch von
+deiner Freundschaft überzeugt bin, Foma!“ fügte er unvermittelt hinzu.
+„Küß ihn noch einmal, Ssergei! Sieh mal, was für ein Bengel! Nun, fang
+an, Iljuscha! Wovon handelt es denn? Wohl eine feierliche Ode ... von
+Lomonossoff gar? Hm?“
+
+Und mein Onkel nahm eine wichtige Miene an. Er konnte dabei kaum ruhig
+bleiben vor Freude und Ungeduld.
+
+„Nein, Papachen, nicht von Lomonossoff,“ mischte sich Ssaschenjka ein,
+die nur mit Mühe ihr Lachen unterdrückte, „da Sie Soldat waren und sogar
+im Kriege gewesen sind, so hat Iljuscha etwas Kriegerisches gelernt ...
+‚Die Belagerung von Pamba‘ heißt es, Papachen.“
+
+„‚Die Belagerung von Pamba‘? ah! Entsinne mich bloß nicht ... Was ist
+das für ein Pamba, weißt du es nicht, Ssergei? ... Sicherlich etwas
+Historisches.“
+
+Und mein Onkel setzte von neuem eine wichtige Miene auf.
+
+„Fang an, Iljuscha!“ kommandierte Ssaschenjka.
+
+ „Seit neun Jahren liegt Don Pedro“
+
+begann Iljuscha mit seinem kleinen, hellen, gleichmäßigen Stimmchen,
+ohne Kommata und Punkte zu beachten, wie kleine Kinder gewöhnlich
+auswendig gelernte Gedichte aufsagen –
+
+ „Vor der stolzen Festung Pamba;
+ Seit neun Jahren hat er selber,
+ Ganz wie alle seine Krieger,
+ Nie was anderes genossen
+ Als nur reine Kuhmilch.
+ Denn es haben die neuntausend
+ Kämpfenden Kastilier
+ Hoch und heilig sich geschworen:
+ Bis zur Einnahme der Festung
+ Nichts als Kuhmilch zu genießen.“
+
+„Wie! Was? Was ist das für eine Milch!“ unterbrach ihn mein Onkel und
+sah mich verwundert an.
+
+„Weiter, Iljuscha!“ kommandierte wieder Ssaschenjka.
+
+ „Täglich trauert Pedro Gomez,
+ Denn es schwinden seine Kräfte,
+ Und das zehnte Jahr bricht an.
+ Doch die Mauren triumphieren:
+ Denn vom stolzen Heer Don Pedros
+ Sind im ganzen ihm geblieben
+ Nicht mehr als nur neunzehn Mann.“
+
+„Aber das ist ja Unsinn!“ unterbrach hier mein Onkel wieder. „Das ist ja
+doch unmöglich! Neunzehn Mann bleiben von einem Heer übrig, das zu
+Anfang der Belagerung so groß und mächtig gewesen ist! Was soll denn das
+heißen?“
+
+Hier aber konnte Ssaschenjka ihr Lachen nicht mehr zurückhalten: sie
+lachte schallend auf, wie nur Kinder lachen können. Und wenn auch gerade
+kein besonderer Grund zum Lachen vorhanden war, so war es doch
+unmöglich, bei ihrem Anblick ernst zu bleiben.
+
+„Ach, Papachen, das ist doch nur ein Scherzgedicht!“ rief sie aus,
+königlich erfreut über ihren Einfall. „Das ist doch mit Absicht so
+gemacht, vom Verfasser, damit es um so spaßiger ist, Papachen.“
+
+„Ah so! Ein Scherzgedicht also!“ Meines Onkels Gesicht hellte sich auf.
+„Das heißt, ein satirisches! ... Deshalb, ich höre ... Eben, eben, ein
+Scherzgedicht, wie du sagst! Und es ist ja auch zum Lachen: Mit Milch
+will er ein ganzes Heer ernähren! – nach irgend so einem Gelübde! Als ob
+das zu geloben gerade nötig gewesen wäre! Sehr geistreich – nicht wahr,
+Foma? Sehen Sie, Mama, das ist so ein Scherzgedicht, wie es die Dichter
+zuweilen schreiben – nicht wahr, Ssergei, Sie schreiben doch mitunter
+auch so etwas? Vorzüglich! Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?“
+
+ „Nicht mehr als nur neunzehn Mann!
+ Sie nun rief Don Pedro zu sich.
+ Und er sprach hierauf wie folgt:
+ ‚Freunde!‘ sagt er, ‚laßt uns heute
+ Unsre Fahnen hoch erheben,
+ In die Felddrommete stoßen
+ Und von Pamba uns zurückzieh’n.
+ Wenn wir diese stolze Festung
+ Auch nicht eingenommen haben –
+ Können wir doch allenthalben
+ Dreist auf Ehre und Gewissen
+ Jedem schwören, daß wir niemals
+ Das Gelübde übertreten,
+ Wie wir’s einst geschworen haben:
+ Nichts zu trinken als nur Milch!‘“
+
+„Dieser Dummkopf! Womit er sich tröstet!“ unterbrach ihn wieder mein
+Onkel. „Daß er neun Jahre nichts als Milch genossen hat! ... Was ist
+denn das für eine besondere Tugend? Hätt’ er doch lieber täglich einen
+ganzen Ochsen gegessen und seine Leute nicht umkommen lassen! Aber das
+Gedicht – vorzüglich, ganz vorzüglich ist das Gedicht! Ich sehe jetzt:
+das ist so eine Satire oder ... wie nennt man das doch – eine Allegorie,
+nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen ausländischen General
+gemünzt – Wie?“ fragte mein Onkel plötzlich, erhob bedeutsam die Brauen
+und blinzelte mir zu – „was? Was meinst du dazu? Aber nur, versteht
+sich, eine ganz unschuldige Satire, ohne Spitze, so daß sie keinen
+verletzen kann. Vorzüglich, ganz vorzüglich! Und – die Hauptsache –
+belehrend! Nun, Iljuscha, fahre fort! Ach ihr unartigen Mädel!“ fügte er
+hinzu, mit dem Finger drohend, und sah dabei lächelnd Ssaschenjka an,
+während er Nastenjka nur verstohlen mit einem flüchtigen Blick zu
+streifen wagte – was jedoch genügte, sie erröten zu machen. Sie lächelte
+gleichfalls.
+
+ „Neue Kraft gab diese Rede
+ Seinen neunzehn tapfren Kriegern,
+ Die, in ihren Sätteln wankend,
+ Mit erschöpfter Stimme riefen:
+ ‚Sancto Jago Compostello!
+ Ehr’ und Ruhm Don Pedro Gomez,
+ Unsrem Löwen von Kastilien!‘
+ Sein Kaplan jedoch, Diego,
+ Brummte unwirsch vor sich hin:
+ ‚Wäre ich der Feldherr hier,
+ Hätt’ ich nur noch Fleisch zu essen
+ Und nur edlen Wein zu trinken
+ Als Gelübde abgelegt!‘“
+
+„Da hört ihr’s! Sagt’ ich nicht dasselbe?“ rief mein Onkel höchst
+erfreut dazwischen. „In dem ganzen Heer gibt es nur einen einzigen
+vernünftigen Menschen, und sogar der ist noch weiß Gott was für ein –
+Kaplan! Was ist das eigentlich, ein Kaplan, Ssergei? Ein Hauptmann?“
+
+„Ein Mönch, Onkel, ein Geistlicher.“
+
+„Ach, ja ja, richtig! Kaplan, Kapellan? Ich weiß schon, jetzt entsinne
+ich mich! Habe es schon in einem Roman gelesen, im Radcliff war’s,
+glaube ich. Dort im Auslande gibt es doch verschiedene Orden ... wart
+mal – Benediktiner heißen auch welche ... Nicht wahr, es gibt noch immer
+solch einen Orden?“
+
+„Ja, Onkel.“
+
+„Hm! ... Das meinte ich eben auch. Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?
+Vorzüglich, ganz vorzüglich!“
+
+ „Da sprach hell mit lautem Lachen
+ Pedro Gomez zu den neunzehn:
+ ‚Gebt ihm schnell doch einen Ochsen!
+ Denn, fürwahr, der Mann hat recht!‘“
+
+„Das war wohl die richtige Zeit zum Lachen!? Ist das aber ein Dummkopf!
+Zu guter Letzt ist es also auch ihm lächerlich vorgekommen, was er sich
+da selbst zusammengelübdet hat! Außerdem: Ochsen hat es doch gegeben –
+weshalb hat er denn da seine Soldaten nicht Rindfleisch essen lassen?
+und selbst auch welches gegessen? Nun, Iljuscha, weiter! Es ist wirklich
+ganz vorzüglich! Ungemein geistreich!“
+
+„Aber es ist ja schon zu Ende, Papachen!“
+
+„Ach? Schon zu Ende? Ja, in der Tat, was blieb ihm denn auch anderes
+übrig – nicht wahr, Ssergei? Vortrefflich, Iljuscha! ganz wundervoll
+hast du es vorgetragen! Küsse mich, mein Liebling! Ach, du, mein kleiner
+Junge! Aber wer hat es ihm denn beigebracht: du, Ssaschenjka?“
+
+„Nein, das hat Nastenjka getan. Vor einigen Tagen lasen wir beide das
+Gedicht. Sie las es und sagte: ‚Was für ein komisches Gedicht! Bald ist
+Iljuschas Namenstag – wollen wir es ihn lernen lassen, dann kann er es
+vortragen. Es paßt wie geschaffen!‘“
+
+„Dann also Nastenjka? Ich danke, herzlichen Dank!“ brachte mein Onkel
+nicht gerade sehr sicher hervor, während er zugleich wie ein Kind über
+und über errötete. „Küß mich noch einmal, Iljuscha! Küß auch du mich,
+Unart du!“ sagte er scherzend zu Ssaschenjka, indem er sie zu sich zog
+und ihr zärtlich in die Augen sah.
+
+„Wart nur, Ssaschurka, auch du wirst bald deinen Namenstag feiern!“
+fügte er hinzu, als wüßte er nicht, was er vor lauter Freude sagen
+sollte.
+
+Ich wandte mich an Nastenjka und fragte sie, von wem das Gedicht sei.
+
+„Ja, richtig, wer hat es denn gedichtet?“ fragte sogleich auch mein
+Onkel. „Es muß sicherlich ein kluger Dichter gewesen sein – was meinst
+du, Foma?“
+
+„Hm!“ brummte Foma vor sich hin.
+
+Während des ganzen Vortrags war ein beißend spöttisches Lächeln nicht
+von seinen Lippen gewichen.
+
+„Ich ... habe es im Augenblick vergessen,“ antwortete Nastenjka mit
+scheuem Blick auf Foma.
+
+„Das hat Kusjma Prutkoff gedichtet, Papachen, und im ‚Zeitgenossen‘ ist
+es erschienen,“ sagte Ssaschenjka eifrig.
+
+„Kusjma Prutkoff? Kenne ich nicht,“ sagte mein Onkel. „Nur Puschkin, den
+kenne ich! ... Doch man sieht sofort, das es ein talentvoller Dichter
+ist. Habe ich nicht recht, Ssergei? Und außerdem ein Mensch mit wirklich
+edlen Eigenschaften – das ist klar! Vielleicht ist er sogar ein Offizier
+... Ja, das lobe ich mir! Wirklich ein gutes Blatt, der ‚Zeitgenosse‘!
+Wir müssen unbedingt darauf abonnieren, wenn solche Dichter in ihm
+schreiben ... Ich liebe die Dichter! Prächtige Jungen! Alles sagen sie
+in Versen! Weißt du noch, Ssergei, ich habe ja bei dir in Petersburg
+auch einen Literaten kennen gelernt. Er hatte noch so eine ganz
+besondere Nase ... in der Tat! ... Was sagtest du, Foma?“
+
+Foma Fomitsch, dessen Ärger inzwischen bedeutend gewachsen war, kicherte
+vor sich hin. Dieses Kichern war eine nur ihm eigentümliche Art zu
+lachen.
+
+„Nichts, ich lache nur so ... es hat nichts auf sich ...“ sagte er mit
+einer Miene, als unterdrücke er nur mit Mühe ein ganz gewaltiges Lachen.
+„Fahren Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie nur fort! Ich werde später
+mein Wort sagen ... Auch Stepan Alexejewitsch hört Sie mit großem
+Interesse von Ihren Petersburger Literatenbekanntschaften erzählen ...“
+
+Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der die ganze Zeit etwas weiter ab
+in Gedanken verloren auf einem Stuhl gesessen hatte, wurde plötzlich
+rot, erhob den Kopf und sagte ziemlich scharf mit halber Wendung zu
+Foma:
+
+„Du, Foma, fang gefälligst nicht wieder an, sondern laß mich in Ruh!“
+Seine kleinen, sogleich rot anlaufenden Augen sahen den Gegner zornig
+an. „Was schiert mich deine Literatur? Wenn Gott mir nur Gesundheit
+gibt,“ brummte er halblaut, „das übrige kann mir ... Und diese
+Schriftsteller ... lauter Voltairianer und nichts weiter!“
+
+„Die Schriftsteller – lauter Voltairianer?“ fragte Jeshowikin, der im
+Augenblick neben Bachtschejeff auftauchte. „Da haben Sie die reinste
+Wahrheit gesagt. Genau so hat sich kürzlich auch Valentin Ignatjitsch
+auszudrücken geruht, und zwar hat er mich selbst einen Voltairianer
+genannt – bei Gott! Ich aber habe doch bekanntlich nichts geschrieben.
+Man redet bloß manchmal so ein wenig literarischer. Aber auch daran soll
+nun wieder Voltaire schuld sein. So ist es immer bei uns!“
+
+„Nein, so doch nicht!“ meinte mein Onkel gewichtig, „das ist doch wohl
+ein Irrtum! Voltaire war nur ein mokanter Schriftsteller, er machte sich
+über die Vorurteile lustig. Ein ‚Voltairianer‘ aber ist er selber nie
+gewesen! Seine Feinde haben ihn verleumdet. Aber weshalb hacken sie
+jetzt immer so auf den Armen los? Das begreife ich wirklich nicht!“
+
+Wieder ertönte das häßliche Kichern Foma Fomitschs. Mein Onkel blickte
+sofort beunruhigt zu ihm hinüber und wurde augenscheinlich verlegen.
+
+„Nein, sieh, Foma, ich rede ja nur von unseren Zeitschriften,“ sagte er
+verwirrt, um das Gesagte wieder gutzumachen. „Du hattest vollkommen
+recht, Foma, als du sagtest, daß wir das Blatt halten müßten. Ich bin
+jetzt auch der Meinung, daß wir es müssen! ... Denn ... warum auch
+nicht, es verbreitet doch Aufklärung! Und schließlich, was wäre man
+sonst für ein Sohn des Vaterlandes, wenn man eine solche Zeitschrift
+nicht hält? Habe ich nicht recht, Ssergei? Hm! ... Ja! ... Da haben wir
+nun diesen ‚Zeitgenossen‘ ... Aber weißt du, Ssergei, die größten
+Wissenschaften sind meiner Meinung nach doch in der dicken Revue – wie
+heißt sie doch gleich? Im gelben Umschlag ...“
+
+„‚Vaterländische Aufzeichnungen‘, Papachen.“
+
+„Ja, richtig – ‚Vaterländische Aufzeichnungen‘ – ein vorzüglicher Titel
+– nicht wahr, Ssergei? Das ganze Vaterland sitzt sozusagen und zeichnet
+auf ... Und dabei verfolgen sie ein edles Ziel! Ein äußerst nützliches
+Blatt! Und wie dick! Geh mal, versuch du, eine solche Diligence
+herauszugeben! Und Wissenschaften, sag’ ich dir, daß einem fast die
+Augen übergehn! ... Vor ein paar Tagen ging ich dort durch das Zimmer,
+sehe – das Heft liegt auf dem Tisch ... nahm es aus Neugier in die Hand,
+schlug es auf und las in einem Strich ganze drei Seiten. Glaub mir,
+Freund, ich vergaß den Mund zu schließen! Weißt du, es gibt dort über
+alles Abhandlungen, so zum Beispiel, was bedeutet das Wort Besen,
+Spaten, Kochlöffel, Henkel? Ich glaubte, ein Besen sei nichts als ein
+Besen, ein Henkel eben ein Henkel. Aber nein, Freund, wart! Ein Besen
+ist nach der Wissenschaft nicht nur ein Besen, sondern ein Sinnbild, ein
+Emblem, oder gar etwas aus der Mythologie, ich weiß nicht mehr, was er
+da eigentlich war; aber jedenfalls kam schließlich etwas Ähnliches
+heraus ... Ja, sieh mal, so verhält es sich, Freund! Man kommt eben
+hinter alles!“
+
+Ich weiß nicht, was Foma nach diesem neuen Erguß meines Onkels zu tun
+oder zu sagen beabsichtigte; denn das Gespräch wurde durch Gawrila
+unterbrochen, der plötzlich eintrat und mit gesenktem Haupt auf der
+Schwelle stehenblieb.
+
+Foma Fomitsch blickte ihn bedeutsam an.
+
+„Ist alles bereit, Gawrila?“ fragte er mit schwacher, jedoch
+entschlossener Stimme.
+
+„Alles ist bereit,“ antwortete Gawrila traurig und seufzte.
+
+„Und auch mein Reisebündel hast du im Wagen untergebracht?“
+
+„Jawohl.“
+
+„Nun, dann bin auch ich bereit!“ sagte Foma und begann, sich langsam zu
+erheben. Mein Onkel blickte ihn verwundert an. Die Generalin erhob sich
+plötzlich gleichfalls und blickte sich unruhig im Kreise um.
+
+„Erlauben Sie mir jetzt, Oberst,“ hub Foma würdevoll an, „Sie zu bitten,
+das interessante Gespräch über die literarischen Besen für eine kurze
+Zeit zu unterbrechen. Sie können es ohne mich fortsetzen. Ich aber will,
+_indem ich mich auf ewig von Ihnen verabschiede_, gerade Ihnen noch ein
+paar letzte Worte sagen ...“
+
+Schreck und Verwunderung lähmten alle Anwesenden.
+
+„Foma! ... Foma! Was fällt dir ein? Wohin willst du?“ rief endlich mein
+Onkel aus.
+
+„Ich will Ihr Haus verlassen, Oberst,“ fuhr Foma mit der ruhigsten
+Stimme fort. „Ich habe beschlossen, zu gehen, wohin der Weg mich führt,
+und deshalb habe ich mir für mein Geld einen einfachen, ganz
+gewöhnlichen Bauernwagen gemietet. In ihm liegt bereits mein
+Reisebündel. Es ist nicht groß: ein paar Bücher, die mir lieb sind,
+Wäsche, um zu wechseln: das ist alles! Ich bin arm, Jegor Iljitsch,
+werde aber um keinen Preis Ihr Geld annehmen, das ich ja auch gestern
+schon verschmäht habe!“
+
+„Aber um Gottes willen, Foma! Was bedeutet das?“ rief mein Onkel
+bestürzt aus, bleich wie ein Tuch.
+
+Die Generalin stieß einen Schrei aus und streckte mit verzweifeltem
+Blick Foma Fomitsch beide Hände entgegen. Fräulein Perepelizyna stürzte
+zu ihr, um sie nötigenfalls aufzufangen. Die übrigen Schmarotzerinnen
+erstarrten auf ihren Plätzen. Nur Herr Bachtschejeff erhob sich
+schwerfällig.
+
+„Jetzt geht es los!“ raunte mir Misintschikoff zu, der neben mir stand.
+
+Und im selben Augenblick hörte man fern den ersten Donner grollen.
+
+
+
+
+ XVI.
+
+ Die Vertreibung.
+
+
+„Sie fragten, glaube ich, was das zu bedeuten habe, Oberst?“ hub Foma
+feierlich an, indem er die allgemeine Bestürzung förmlich zu genießen
+schien. „Die Frage wundert mich! Erklären Sie mir doch Ihrerseits, wie
+_Sie_ es fertigbringen, mir jetzt noch offen in die Augen zu sehen?
+Erklären Sie mir dieses größte Beispiel menschlicher Unverschämtheit,
+und ich werde von dannen ziehen, wenigstens um eine neue Erkenntnis der
+Verderbtheit des Menschengeschlechts bereichert.“
+
+Mein Onkel war nicht fähig zu einer Antwort. Erschrocken und ratlos, wie
+er war, blickte er nur starr Foma Fomitsch an.
+
+„Jesus Christ! Welche Leidenschaften!“ stöhnte Fräulein Perepelizyna.
+
+„Begreifen Sie denn nicht, Oberst,“ fuhr Foma fort, „daß Sie mich jetzt
+einwandlos und ohne Fragen meines Weges ziehen lassen _müssen_? In Ihrem
+Hause muß selbst ich, der ich doch ein denkender Mensch und schon in
+reifen Jahren bin, ernstlich für meine Sittlichkeit fürchten und auf der
+Hut sein. Glauben Sie mir, daß Ihre Fragen zu nichts anderem führen
+würden, als nur zur Aufdeckung Ihrer Schmach ...“
+
+„Foma! Aber Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, auf dessen Stirn kalter
+Schweiß hervortrat.
+
+„So erlauben Sie mir denn, Ihnen ohne weitere Erklärungen zum Abschied
+nur noch einige Geleitworte zu sagen: meine letzten Worte in Ihrem
+Hause. Es ist geschehen, und das Geschehene kann man nicht mehr
+ungeschehen machen! Ich hoffe, Sie verstehen, was ich meine. Aber ich
+flehe Sie auf den Knien an: Wenn in Ihrem Herzen noch ein Funken von
+Sittlichkeit übriggeblieben ist, so zügeln Sie den Lauf Ihrer
+Leidenschaften! Und wenn das Gift der Verwesung noch nicht das ganze
+Gebäude Ihrer Seele erfaßt hat, so löschen Sie nach Möglichkeit die
+Feuersbrunst!“
+
+„Foma! Glaube mir, du bist im Irrtum!“ rief mein Onkel aus, der
+allmählich zur Besinnung kam und mit Entsetzen begriff, worauf es
+hinauslief.
+
+„Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften,“ fuhr Foma mit derselben Feierlichkeit
+fort – als hätte er den Ausruf meines Onkels gar nicht gehört, „besiegen
+Sie sich! ‚Willst du die ganze Welt erobern – besiege dich selbst!‘ Das
+ist meine Lebensregel. Sie sind Gutsherr. Sie müßten wie ein Brillant in
+höchster Tugend strahlen, statt dessen – was für ein schmachvolles
+Beispiel der Zügellosigkeit geben Sie hier allen Ihren Gästen sowie
+allen Ihren Untergebenen! Ich habe ganze Nächte für Sie gebetet und um
+Sie gezittert, habe gerungen um Ihr Glück. Ich habe es nicht gefunden;
+denn Glück ist nur in der Tugend enthalten ...“
+
+„Aber das ist doch unmöglich, Foma!“ unterbrach ihn wieder mein Onkel,
+„du hast es falsch verstanden, du hast es ganz anders aufgefaßt! ...“
+
+„Und so vergessen Sie denn nicht, daß Sie Gutsherr sind,“ fuhr Foma,
+wieder ohne die Worte des anderen zu beachten, in seiner Rede fort.
+„Geben Sie sich nicht dem verderblichen Glauben hin, daß Nichtstun und
+seiner Wollust frönen die Bestimmung des Gutsherrenstandes seien. Dieser
+Glaube bringt Sie ins Verderben! Nicht das Nichtstun ist es, sondern die
+Verantwortung vor Gott, vor dem Zaren und dem Vaterlande! Arbeiten,
+arbeiten muß der Gutsherr, und zwar arbeiten wie der Letzte seiner
+Bauern!“
+
+„Was, ich soll also hinfort für meine Leibeigenen arbeiten?“ brummte
+Herr Bachtschejeff, „ich bin doch _auch_ Gutsbesitzer ...“
+
+„Jetzt wende ich mich an euch, Dienstboten,“ fuhr Foma fort, sich an
+Gawrila und Falalei, der in der Tür erschien, wendend. „Liebet eure
+Herrschaft und erfüllet deren Gebote in Ehrfurcht und Bescheidenheit.
+Dafür werdet ihr von euren Herren wiedergeliebet werden. Sie aber,
+Oberst, seien Sie gerecht und barmherzig zu ihnen. Der Dienstbote ist
+derselbe Mensch – das Ebenbild Gottes, wie es in der Heiligen Schrift
+geschrieben steht, der minderjährig vom Zaren und vom Vaterlande Ihrer
+Obhut anvertraut ist. Groß ist die Pflicht, aber groß wird auch Ihr
+Verdienst sein!“
+
+„Foma Fomitsch! Täubchen! Was hast du vor?“ rief in ihrer Verzweiflung
+die Generalin aus, bereit, jeden Augenblick wieder in Ohnmacht zu
+fallen.
+
+„Doch ... das dürfte genügen, denke ich?“ schloß Foma, der Generalin
+weiter gar keine Beachtung schenkend. „Jetzt noch einige Einzelheiten,
+die freilich nur geringfügig, aber doch notwendig sind, Jegor Iljitsch.
+Auf der Waldwiese bei Harinskoje ist Ihr Heu noch nicht gemäht. Lassen
+Sie es nicht zu spät werden, Oberst, lassen Sie es mähen, möglichst bald
+mähen. Dies wäre mein Rat ...“
+
+„Aber, Foma ...“
+
+„Sie hatten die Absicht, ich weiß es, einen Teil des Syrjänower Waldes
+fällen zu lassen: lassen Sie ihn nicht fällen – dies wäre mein zweiter
+Rat. Erhalten Sie Ihre Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit
+auf der Erdoberfläche ... Schade, daß Sie so spät das Sommerkorn gesät
+haben, – wirklich erstaunlich, wie spät Sie es gesät haben! ...“
+
+„Aber, Foma ...“
+
+„Doch genug! Alles kann man ja doch nicht sagen, und es ist auch nicht
+die Zeit dazu! Ich werde Sie schriftlich vom Nötigen unterrichten ...
+ich werde Ihnen ein ganzes Heft schicken. Jetzt aber – leben Sie wohl!
+Lebt alle wohl! Gott sei mit euch, mag der Herr euch segnen! Ich segne
+auch dich, mein Kind,“ sagte er zu Iljuscha, „der Herr beschütze dich
+vor dem Verwesungsgifte deiner zukünftigen Leidenschaften! Auch dich,
+Falalei, segne ich. Vergiß die Kamarinskaja! Und euch, euch alle! ...
+Denkt an Foma! ... Aber gehen wir, Gawrila! Hilf mir in den Wagen, guter
+Alter!“
+
+Und Foma schritt langsam zur Tür. Die Generalin schrie auf und stürzte
+ihm nach.
+
+„Nein, Foma! So lasse ich dich nicht fort!“ rief mein Onkel aus, holte
+ihn mit drei Schritten ein und erfaßte seine Hand.
+
+„Heißt das, daß Sie Gewalt anwenden wollen?“ fragte Foma hochmütig.
+
+„Ja, Foma ... auch Gewalt, wenn es darauf ankommt.“ Mein Onkel zitterte
+vor Erregung. „Du hast zuviel gesagt, du mußt deine Worte erklären! Du
+hast meinen Brief falsch verstanden, Foma! ...“
+
+„Ihren Brief!“ kreischte Foma plötzlich wie rasend, im Augenblick
+lichterloh, als hätte er nur auf dieses Wort gewartet, um zu
+explodieren. „Ihren Brief! Hier ist er, Ihr Brief! Hier ist er! Ich
+zerreiße diesen Brief, ich speie ihn an! Ich zerstampfe Ihren Brief mit
+meinen Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht der Menschheit!
+Sehen Sie, was ich tue, wenn Sie mich mit Gewalt zu Erklärungen zwingen!
+Sehen Sie! Sehen Sie! Sehen Sie! ...“
+
+Und die Papierfetzen flogen auf den Fußboden.
+
+„Ich wiederhole es, Foma, du hast ihn falsch verstanden!“ beteuerte mein
+Onkel, der immer bleicher wurde, „ich halte um ihre Hand an, Foma, ich
+suche mein Glück ...“
+
+„Um ihre Hand! Sie haben dieses Mädchen verführt, und jetzt wollen Sie
+mich mit einem Heiratsantrag betrügen; denn ich habe Sie gestern nacht
+mit ihr im Garten unter den Büschen gesehen!“
+
+Die Generalin stieß einen Schrei aus und sank kraftlos auf ihren
+Lehnstuhl. Ihre ganze Suite verlor den Kopf. Die arme Nastenjka saß
+bleich wie eine Tote und rührte sich nicht. Ssaschenjka umklammerte vor
+Schreck Iljuscha und zitterte am ganzen Körper.
+
+„Foma!“ rief mein Onkel außer sich. „Wenn du dieses Geheimnis verrätst,
+so tust du die schändlichste Tat der Welt!“
+
+„Ja, ich will dieses Geheimnis verraten,“ kreischte Foma, „und damit die
+edelste aller Taten vollbringen! Dazu bin ich von Gott selbst gesandt,
+um die ganze Welt in ihrem Schmutz zu entlarven! Ich bin bereit, auf
+eines armen Bauern elendes Strohdach zu steigen und von dort aus allen
+Gutsbesitzern in der Runde und jedem Vorüberfahrenden die Kunde von
+Ihrer Schandtat zuzuschreien! ... Ja, hört es alle, wißt, daß ich
+gestern, mitten in der Nacht ihn mit diesem Mädchen, das die Maske der
+Unschuld zur Schau trägt, im Garten unter dichtem Gebüsch überrascht
+habe!“
+
+„Ach, Jesus, welche Schande!“ kam es fast zischend über die schmalen
+Lippen der Perepelizyna.
+
+„Foma! Setz nicht dein Leben aufs Spiel!“ schrie ihm mein Onkel mit
+blitzenden Augen zu und ballte die Fäuste.
+
+„... Er aber,“ kreischte Foma, „er aber hat es gewagt, – nach dem ersten
+Schreck darüber, daß ich ihn sah – hat es gewagt, mich mit einem Brief
+betrügen und bestechen zu wollen, mich, mich, den Ehrlichen, Ehrenhaften
+und Offenherzigen, um mich zu überzeugen, daß er kein Verbrechen
+begangen habe – ja, Verbrechen, sage ich! ... denn aus dem bis jetzt
+unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie ...“
+
+„Noch ein einziges Wort, das sie beleidigt, – und ich schlage dich tot,
+Foma, das schwöre ich dir!! ...“
+
+„Und ich spreche dieses Wort aus; denn aus dem bis jetzt unschuldigsten
+Mädchen der Welt haben Sie _eines der verderbtesten gemacht_!“
+
+Kaum jedoch war das letzte Wort über Fomas Lippen gekommen, als mein
+Onkel ihn auch schon gepackt hatte, ihn wie einen Strohhalm
+zusammenknickte und gegen die Glastür schleuderte, die auf den Hof
+führte. Der Anprall war so stark, daß die Tür krachend aufflog und Foma
+wie ein Brummkreisel über die sieben Stufen der steinernen Treppe
+kollerte und sich unten in seiner ganzen Länge auf dem Hof ausstreckte.
+Klirrend flogen die Glasscherben der zerschlagenen Scheiben auf die
+weißen Steine der Treppe.
+
+„Gawrila, heb ihn auf!“ schrie mein Onkel totenbleich dem Diener zu,
+„setz ihn in den Wagen! und daß mir nach zwei Minuten sein Fuß nicht
+mehr in Stepantschikowo ist!“
+
+Was Foma Fomitsch nun auch beabsichtigt haben mochte – diese Lösung wird
+er in seiner Berechnung jedenfalls nicht vorausgesehen haben.
+
+Ich will es lieber gar nicht versuchen, die ersten hierauf folgenden
+Minuten zu schildern: Das kreischende Geschrei der Generalin, die sich
+in ihrem Lehnstuhl wand; den Starrkrampf der Perepelizyna infolge der
+unerwarteten Handlungsweise meines sonst stets so sanften und gehorsamen
+Onkels; das Ach und Weh der übrigen „Freundinnen“; die vor Schreck fast
+ohnmächtige Nastenjka, neben der Jeshowikin, ihr Vater, auftauchte; die
+vor Angst zähneklappernde Ssaschenjka; meinen Onkel, der in
+unbeschreiblicher Erregung im Zimmer auf und ab ging und wartete, bis
+die Mutter wieder zu sich käme; schließlich das laute Geheul Falaleis,
+der seine Herrschaft beklagte und bejammerte – alles das stellte ein
+lebendes Bild dar, wie man es mit Worten nicht zu beschreiben vermag.
+Hierzu denke man sich noch, daß sich gerade jetzt, im selben Augenblick,
+ein starkes Gewitter entlud. Die Donnerschläge wurden immer lauter und
+unheimlicher, und plötzlich peitschte der Regen in Strömen an die
+Fensterscheiben.
+
+„Da habt ihr jetzt ’nen Feiertag!“ brummte Herr Bachtschejeff grollend,
+senkte den Kopf und schlug sich auf den Schenkel.
+
+„Die Sache ist gefährlich!“ flüsterte ich ihm zu – gleichfalls zitternd
+vor Aufregung. „Aber wenigstens ist Foma hinausgeworfen und wird wohl
+nicht mehr zurückgebracht werden!“
+
+„Mama! Sind Sie zu sich gekommen? Fühlen Sie sich etwas besser? Könnten
+Sie mich jetzt anhören?“ fragte mein Onkel, der vor seiner Mutter
+stehengeblieben war.
+
+Diese erhob den Kopf, faltete die Hände und blickte flehend zu ihrem
+Sohn empor, den sie in ihrem ganzen Leben noch nie in solchem Zorn
+gesehen hatte.
+
+„Mama!“ begann der Oberst, „das Maß ist voll – Sie haben es selbst
+gesehen. Nicht in dieser Weise wollte ich mein Vorhaben ausführen, aber
+die Stunde hat geschlagen, und jetzt duldet es keinen Aufschub. Sie
+haben die Verleumdung gehört, so hören Sie denn jetzt auch die
+Rechtfertigung. Mama, ich liebe dieses edle und ehrenwerte Mädchen, ich
+liebe sie schon lange und werde nie, niemals aufhören, sie zu lieben.
+Sie wird meine Kinder glücklich machen und wird Ihnen eine ehrerbietige
+Tochter sein, und deshalb spreche ich jetzt hier in Ihrer, meiner
+Verwandten und Freunde Gegenwart meine innige Bitte aus, Nastassja
+Jewgrafowna, mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen,
+meine Frau zu werden.“
+
+Nastenjka zuckte zusammen, errötete heiß und erhob sich erschrocken. Die
+Generalin starrte ihren Sohn eine Zeitlang an, als begreife sie nicht,
+wovon er sprach, und plötzlich stürzte sie mit einem gellenden Schrei
+vor ihm auf die Knie nieder.
+
+„Jegoruschka, du mein Täubchen, bring Foma Fomitsch zurück!“ schrie sie,
+„bring ihn sofort zurück! Ohne ihn sterbe ich noch vor dem Abend!“
+
+Mein Onkel erstarrte, als er seine alte Mutter, die stets launische und
+eigensinnige Frau, vor sich auf den Knien sah. Ein schmerzliches Gefühl
+spiegelte sich auf seinem Antlitz wider. Endlich besann er sich, beugte
+sich nieder, hob sie auf und setzte sie wieder in ihren Lehnstuhl.
+
+„Bring Foma Fomitsch zurück, Jegoruschka!“ fuhr die Alte in ihrem Geheul
+fort, „bring ihn mir zurück, Täubchen! Ohne ihn kann ich nicht leben!“
+
+„Mama!“ rief mein Onkel bekümmert aus, „– dann haben Sie ja überhaupt
+nicht verstanden, was ich Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma Fomitsch
+nicht zurückrufen – begreifen Sie das doch! Ich kann es nicht, und ich
+habe auch kein Recht dazu nach seiner niedrigen, schändlichen,
+schmutzigen Verleumdung dieses Mädchens, das mir heilig ist! Sehen Sie
+denn nicht ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre es mir
+befiehlt, für ihren guten Ruf, für ihre Ehre einzustehen! Sie haben es
+doch gehört: ich halte um die Hand dieses Mädchens an und bitte Sie, wie
+ein Sohn seine Mutter bittet, unseren Bund zu segnen.“
+
+Doch die Generalin erhob sich, ehe er sich dessen versah, wieder von
+ihrem Platz und stürzte vor Nastenjka auf die Knie nieder.
+
+„Ich flehe dich an! Sei ein Engel!“ schrie die Alte in ihrer
+Verzweiflung, „heirate ihn nicht! Heirate ihn nicht, sondern bitte ihn,
+daß er Foma Fomitsch zurückbringt! Sei mein Täubchen, Nastassja
+Jewgrafowna! Ich gebe dir alles hin, ich opfere dir alles, wenn du ihn
+nicht heiratest! Ich habe noch nicht alles aufgezehrt, ich habe noch
+einen Sparpfennig von meinem Seligen. Alles ist dein, mein Engel, werde
+dich mit allem beschenken, und auch Jegoruschka wird dich beschenken,
+nur bringe mich nicht lebendig ins Grab; bitte ihn, daß er mir Foma
+Fomitsch zurückbringt! ...“
+
+Lange noch hätte die Alte geschrien und gefleht, wenn nicht alle ihre
+Busenfreundinnen, voran die Perepelizyna, mit Gekreisch und
+Klagegeschrei zu ihr gestürzt wären und sie mit vereinten Kräften
+emporgehoben hätten – empört darüber, daß sie vor der „Gouvernante“
+ihrer Enkelkinder auf den Knien lag. Nastenjka konnte sich kaum noch auf
+den Füßen halten vor Schreck. Die Perepelizyna aber weinte fast vor Wut.
+
+„Töten wollen Sie Ihre Mutter!“ schrie sie meinen Onkel an, „umbringen
+wollen Sie sie! Sie aber, Nastassja Jewgrafowna, hätten nicht die Mutter
+mit ihrem leiblichen Sohne entzweien sollen! So etwas wird auch Gott der
+Herr nicht verzeihen ...“
+
+„Anna Nilowna, nehmen Sie sich mit Ihrer Zunge in acht!“ rief ihr mein
+Onkel zornig zu. „Ich habe genug ertragen! ...“
+
+„Und auch ich habe genug von Ihnen ertragen! Was werfen Sie mir meine
+Verwaistheit vor? Werden Sie mich noch lange – mich Waise – beleidigen?
+Ich bin doch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst die Tochter eines
+Majors! Mein Fuß soll nicht mehr hier in diesem Hause weilen! ... Heute
+noch – ...“
+
+Doch mein Onkel hörte sie nicht an: er trat zu Nastenjka und ergriff
+schüchtern ihre Hand.
+
+„Nastassja Jewgrafowna ... haben Sie gehört, um was ich Sie gebeten
+habe?“ fragte er langsam, während sein Blick kummervoll auf ihrem lieben
+Gesicht ruhte.
+
+„Nein, Jegor Iljitsch, nein! Lassen wir es lieber,“ antwortete
+Nastenjka, die allen Mut verloren hatte. „Das ist es ja nicht,“ fuhr sie
+fort und preßte unbewußt wie im Krampf seine Hand, während Tränen ihr in
+die Augen traten. „Das sagen Sie jetzt, nach dem – Gestrigen ... Aber es
+kann ja nichts daraus werden, Sie sehen es doch selbst ... Wir haben uns
+getäuscht, Jegor Iljitsch ... Ich aber werde ewig an Sie als an meinen
+Wohltäter denken und ... und werde ewig, ewig für Sie beten! ...“
+
+Tränen erstickten ihre Stimme. Mein armer Onkel hatte offenbar keine
+andere Antwort erwartet; er verfiel nicht einmal darauf, etwas
+einzuwenden, sie zu bitten ... Er hörte, den Kopf zu ihr hinabgeneigt,
+ohne ihre Hand freizugeben, stumm und wie geschlagen an, was sie sagte.
+Seine Augen schimmerten feucht.
+
+„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt,“ fuhr Nastenjka fort, „daß ich
+nicht Ihre Frau werden kann. Sie sehen doch: man will mich hier nicht
+... und das habe ich schon lange vorausgefühlt. Ihre Mutter wird Ihnen
+nicht ihren Segen geben ... _andere_ auch nicht. Und Sie selbst, wenn
+Sie es auch nicht bereuen werden – denn Sie sind der großmütigste Mensch
+– so würden Sie doch um meinetwillen unglücklich sein ... bei Ihrem
+Charakter, bei Ihrer Güte ...“
+
+„Ganz recht – _bei Ihrer Güte_! – bei Ihrem _Charakter_! Du hast recht,
+Nastenjka!“ griff ihr alter Vater auf, der an der anderen Seite neben
+ihrem Stuhl stand. „Gerade dieses eine Wort sagt alles.“
+
+„Ich will nicht Unfrieden in Ihr Haus bringen,“ fuhr Nastenjka fort. „Um
+mich aber machen Sie sich keine Sorgen, Jegor Iljitsch: mich rührt
+niemand an, niemand wird mich beleidigen ... ich gehe zu meinem Vater
+... heute noch ... Es ist besser, wir nehmen Abschied voneinander, Jegor
+Iljitsch ...“
+
+Tränen rollten ihr über die Wangen.
+
+„Nastassja Jewgrafowna, – ist das wirklich Ihr letztes Wort?“ fragte
+mein Onkel, Verzweiflung im Blick. „Sagen Sie nur ein Wort, nur ein
+Wort, und ich opfere Ihnen alles! ...“
+
+„Es war das letzte, das letzte, Jegor Iljitsch,“ sagte Jeshowikin, „und
+sie hat es Ihnen so gut erklärt, wie ich es nicht einmal erwartet hätte.
+Sie sind der gütigste Mensch, Jegor Iljitsch, gerade der gütigste, und
+Sie haben uns eine große Ehre erwiesen! Große Ehre, große Ehre! ... Aber
+immerhin passen wir nicht zu Ihnen, Jegor Iljitsch. Sie müssen sich eine
+andere Braut aussuchen, eine, die sowohl reich, als vornehm und schön
+und auch mit einer lauten Stimme begabt ist, und die nur in Brillanten
+und Straußenfedern durch Ihre Säle rauscht ... Dann wird vielleicht auch
+Foma Fomitsch etwas nachgiebiger sein ... und den Ehebund segnen! Den
+Foma Fomitsch aber bringen Sie nur wieder zurück! Umsonst, ganz umsonst
+haben Sie ihn so beleidigt! Er hat ja nur aus Tugendeifer, aus
+übermäßiger Moralität so gesprochen ... Sie werden es selbst später
+zugeben, daß er es nur deshalb getan hat – Sie selbst werden es selbst
+sagen! Er ist der ehrwürdigste Mensch der Welt. Jetzt aber wird er in
+dem Regen ganz naß werden. Wäre es daher nicht besser, ihn sogleich
+zurückzurufen? ... denn einmal wird man es doch tun müssen ...“
+
+„Bring ihn! Bring ihn zurück!“ schrie wieder die Generalin. „Täubchen,
+er sagt dir ja nur die Wahrheit ...“
+
+„Jawohl,“ fuhr Jeshowikin fort, „da sehen Sie, daß auch Ihre Frau Mutter
+sich tot zu ängstigen geruht – und zwar ganz umsonst ... Bringen Sie ihn
+nur zurück! Wir aber, Nastenjka und ich, wir werden uns mittlerweile
+aufmachen ...“
+
+„Wart, Jewgraf Larionytsch!“ unterbrach ihn mein Onkel, „ich bitte dich!
+Noch ein Wort, Jewgraf, nur ein Wort habe ich noch zu sagen!“
+
+Er ging mit schnellen Schritten in eine Ecke, setzte sich in einen
+Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände, mit denen er seine Augen
+bedeckte, – es war, als wolle er für einen Augenblick seine Gedanken
+sammeln.
+
+Da ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag fast gerade über dem Hause.
+Das ganze Gebäude erzitterte. Die Generalin schrie auf, die Perepelizyna
+gleichfalls, die „Freundinnen“, dumm geworden vor Angst, bekreuzten
+sich, was übrigens gleichzeitig mit ihnen auch Herr Bachtschejeff tat.
+
+„Heiliger Vater, steh uns bei!“ flüsterten fünf oder sechs Stimmen wie
+auf ein Kommando.
+
+Unmittelbar nach dem Donnerschlage folgte ein Platzregen, als wenn ein
+ganzer See auf Stepantschikowo herabstürzen wollte.
+
+„Und Foma Fomitsch, was wird jetzt mit ihm dort auf dem freien Felde?“
+kreischte die Perepelizyna.
+
+„Jegoruschka, bring ihn zurück!“ schrie die Generalin mit Verzweiflung
+in der Stimme, und sie stürzte wie eine Wahnsinnige zur Tür. Doch sie
+wurde von ihrer Suite zurückgehalten: die ganze Weiberbande umringte
+sie, weinte, tröstete, kreischte und schrie. Sodom war einst sicherlich
+nichts dagegen!
+
+„Nur im leichten Rock ist er gegangen! Wenn er doch wenigstens sein
+Mäntelchen mitgenommen hätte!“ jammerte die Perepelizyna. „Und einen
+Regenschirm hat er auch nicht! Der Blitz wird ihn erschlagen! ...“
+
+„Unbedingt!“ stimmte Herr Bachtschejeff bei. „Und der Regen wird ihn
+dann auch noch durchnässen!“
+
+„Schweigen Sie doch!“ flüsterte ich ihm ungehalten zu.
+
+„Ja, aber ist er denn kein Mensch?“ fragte mich der Dicke aufgebracht.
+„Er ist doch kein Hund. Du würdest jetzt auch nicht hinausgehen. Oder
+geh, versuch’s doch, nimm ein Bad, bloß zum Vergnügen!“
+
+Da ich die drohende Gefahr erkannte, ging ich zu meinem Onkel, der wie
+erstarrt in seinem Lehnstuhl saß.
+
+„Onkel,“ sagte ich, mich zu seinem Ohr beugend, „werden Sie denn
+wirklich einwilligen, Foma Fomitsch zurückzurufen? Begreifen Sie denn
+nicht, daß es die größte Charakterlosigkeit wäre und eine Schändlichkeit
+von Ihrer Seite, wenigstens so lange wie Nastassja Jewgrafowna hier ist
+...“
+
+„Freund,“ sagte mein Onkel, indem er den Kopf erhob und mir mit
+entschlossenem Blick in die Augen sah, „ich habe hier über mich selbst
+Gericht gehalten, und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Beunruhige dich
+nicht, ihr soll keine Kränkung widerfahren – ich werde es so einrichten
+...“
+
+Er erhob sich und trat zur Mutter.
+
+„Mama!“ sagte er, „beruhigen Sie sich: ich werde Foma Fomitsch
+zurückbringen, ich werde ihm nachfahren, ihn einholen; er kann noch
+nicht weit sein. Aber eines schwöre ich: nur unter der Bedingung wird er
+zurückkehren, daß er hier im Kreise aller Zeugen der Beleidigung seine
+Schuld eingesteht und dieses ehrenwerteste Mädchen feierlich um
+Verzeihung bittet. Das werde ich durchsetzen! Ich werde ihn dazu
+zwingen! Anderenfalls wird er nie die Schwelle meines Hauses
+überschreiten! Auch schwöre ich Ihnen feierlich, Mutter: wenn er es
+freiwillig tut, so bin ich bereit, ihn auch meinerseits um
+Entschuldigung zu bitten, und ich werde ihm alles hingeben, alles, was
+ich nur geben kann, ohne meine Kinder zu berauben! Ich selbst aber werde
+mich von allem zurückziehen. Der Stern meines Glückes ist untergegangen
+... Ich verlasse Stepantschikowo. Dann könnt ihr hier alle ruhig und
+glücklich leben. Ich werde wieder in mein Regiment eintreten und auf dem
+Schlachtfelde, im Kaukasus oder in Asien mein Leben beschließen ... Doch
+wozu soviel Worte! Ich fahre!“
+
+Da tat sich die Tür auf, und Gawrila erschien, triefend und bis zur
+Unkenntlichkeit beschmutzt, vor der sprachlosen Versammlung.
+
+„Was fehlt dir? Woher kommst du? Wo ist Foma?“ fragte erschrocken mein
+Onkel, der ihn als erster erblickte.
+
+Aller Augen wandten sich zur Tür, alle stürzten zu Gawrila und umringten
+mit geradezu gieriger Neugier den alten Diener, von dessen Kleidern das
+schmutzige Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Ausrufe, Schreie,
+Gekreisch begleiteten jedes Wort Gawrilas.
+
+„Foma Fomitsch sind beim Birkenwäldchen geblieben, anderthalb Werst von
+hier,“ begann er mit weinerlicher Stimme. „Das Pferd erschrak vor einem
+Blitz und lief in den Graben ...“
+
+„Und? ...“ rief mein Onkel aus.
+
+„Der Wagen fiel um ...“
+
+„Und ... und Foma?“
+
+„Geruhten, in den Graben zu fallen ...“
+
+„Aber so erzähl doch, Mensch!“
+
+„Sie geruhten sich die Seite zu beschädigen und hierauf begannen sie zu
+weinen. Da schirrte ich das Pferd aus und kam reitend her, um zu melden
+...“
+
+„Und Foma blieb dort liegen?“
+
+„Sie erhoben sich und gingen mit dem Stöckchen weiter,“ schloß Gawrila,
+seufzte hierauf und senkte den Kopf.
+
+Das Weinen und Schluchzen der Damen war unbeschreiblich.
+
+„Sofort den Polkan!“ befahl der Oberst und stürzte aus dem Zimmer. Das
+Pferd wurde im Augenblick vorgeführt. Mein Onkel schwang sich, wie es
+nur ein Husar fertigbringt, auf das ungesattelte Pferd und sprengte
+davon – ohne Mütze, so wie er war. Der verhallende Hufschlag zeigte uns
+die Richtung an, in der er ritt.
+
+Die Damen eilten zu den Fenstern. Zwischen Gestöhn und Wehklagen wurden
+weise Ratschläge erteilt. Es wurde von den Vorzügen eines heißen Bades
+gesprochen und von denen einer Einreibung mit Spiritus. Ferner sprach
+man von mildem Brusttee und davon, daß Foma seit dem frühen Morgen noch
+keinen Bissen zu sich genommen habe und folglich noch nüchtern sei. Die
+Perepelizyna fand seine vergessene Brille im Futteral, und dieser Fund
+machte einen ungewöhnlichen Eindruck: die Generalin stieß einen Schrei
+aus, entriß der Finderin das Andenken, um dann nach neuen Tränenströmen
+und ohne das Ding aus der Hand zu legen, wieder ans Fenster zu eilen und
+hinauszuspähen, ob der Entschwundene nicht schon zurückkehrte. Die
+Erwartung erreichte schließlich den höchsten Grad der Spannung ... In
+einer anderen Ecke versuchte Ssaschenjka Nastjä zu trösten: beide hatten
+sich eng umschlungen und weinten still. Nastenjka hielt Iljuschas
+Händchen umklammert und küßte zum Abschied immer wieder ihren kleinen
+Schüler. Iljuscha weinte mit offenem Mäulchen, ohne zu wissen, weshalb.
+Jeshowikin und Misintschikoff redeten etwas abseits sehr eifrig
+miteinander. Mir schien, daß Bachtschejeff beim Anblick der weinenden
+Damen gleichfalls den Tränen beängstigend nahe war. Ich trat an ihn
+heran.
+
+„Nein, mein Lieber,“ sagte er, „Foma Fomitsch hätte sich vielleicht auch
+ohnedem von hier fortgemacht, nur war der rechte Augenblick offenbar
+noch nicht gekommen: noch hatte man ihm keine Ochsen mit goldenen
+Hörnern vor seine Equipage geschirrt! Keine Sorge, mein Lieber, der wird
+noch die Besitzer aus dem Hause jagen und selber hier bleiben!“
+
+Das Gewitter war nämlich schon weitergezogen, weshalb Herr Bachtschejeff
+seine Meinung inzwischen geändert hatte.
+
+Plötzlich erhob sich ein Geschrei: „Sie kommen, sie kommen! Sie bringen
+ihn!“ Und die Damen eilten mit Gekreisch zur Tür. Es waren kaum zehn
+Minuten nach dem Aufbruch meines Onkels vergangen. Aber wie war es denn
+möglich gewesen, Foma Fomitsch so schnell einzuholen? Das Rätsel sollte
+später sehr einfach gelöst werden: Foma war allerdings, nachdem er
+Gawrila zurückgeschickt hatte, mit seinem „Stöckchen“ weitergegangen.
+Als er sich dann aber so verlassen in der Einsamkeit bei Sturm, Donner,
+Blitz und Regen gesehen hatte, da hatte ihn der Mut gar schmählich im
+Stich gelassen, und er war unverzüglich Gawrila nachgelaufen. Jedenfalls
+hatte mein Onkel ihn schon in nächster Nähe des Gutshofes angetroffen.
+Sofort war ein Mann, der gerade vorüberfuhr, angerufen worden, und mit
+Hilfe von ein paar Bauern hatte man den ganz zahm gewordenen Foma in den
+Wagen gehoben. Und so wurde er denn glücklich in die offenen Arme der
+Generalin zurückgeführt, die fast den Verstand – ihren letzten – verlor,
+als sie sah, in welchem Zustande ihr Abgott sich befand. Er war nämlich
+noch bedeutend nasser und schmutziger als Gawrila. Ein entsetzliches
+Durcheinander war die erste Folge: die einen wollten ihn sogleich ins
+Schlafzimmer schaffen, damit er die Wäsche wechsele, die anderen
+sprachen von Holundertee und ähnlichen Stärkungsmitteln. Alles lief hin
+und her. Die Kopflosigkeit war allgemein. Alle sprachen zu gleicher
+Zeit, so daß man kein Wort verstehen konnte ... Doch Foma schien nichts
+zu sehen und nichts zu hören. Er wurde unter den Armen gestützt und
+langsam zu seinem Philosophenstuhl geführt, in den er sich erschöpft
+niedersinken ließ, um sogleich die Augen zu schließen. Jemand schrie,
+daß Foma Fomitsch sterbe. Darauf erhob sich ein entsetzliches Geheul. Am
+lautesten aber von allen heulte Falalei, der sich krampfhaft bemühte,
+durch die Mauer der Damen zu Foma vorzudringen, um ihm, wie er sagte,
+„die Händchen zu küssen“.
+
+
+
+
+ XVII.
+
+ Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks.
+
+
+„Wohin hat man mich gebracht?“ fragte Foma endlich mit der Stimme eines
+Sterbenden – eines für die Wahrheit den Märtyrertod Sterbenden.
+
+„Verd...!“ fluchte Misintschikoff halblaut neben mir, „als ob er nicht
+sähe, wo er ist! Jetzt wird er uns wieder Theater vorspielen!“
+
+„Du bist bei uns, Foma, du bist im Kreise deiner Freunde!“ rief ihm mein
+Onkel zu. „Faß dich, beruhige dich! Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn
+du jetzt deine Kleider wechseln wolltest, Foma, so kannst du dich noch
+erkälten ... Und willst du dich nicht etwas stärken – was meinst du? So,
+weißt du ... ein Gläschen, um dich zu erwärmen.“
+
+„Malaga ... würde ich vielleicht trinken,“ stöhnte Foma und schloß
+wieder die Augen.
+
+„Malaga? Ich weiß nicht, ob wir den gerade vorrätig haben ...“ sagte
+mein Onkel, mit unruhigem Blick sich nach Praskowja Iljinitschna
+umsehend.
+
+„Aber natürlich doch!“ Praskowja Iljinitschna schien ordentlich gekränkt
+zu sein. „Ganze vier Flaschen haben wir noch!“ Und schlüsselklirrend
+eilte sie nach dem Wein, begleitet vom Geschrei aller Damen, die ihren
+Foma, ungefähr wie Fliegen einen Honigteller, belagerten. Dafür geriet
+freilich Herr Bachtschejeff so ziemlich in das letzte Stadium des
+Unwillens.
+
+„Malaga! Malaga will er!“ fauchte er. „Na natürlich! Es muß doch
+unbedingt ein Wein sein, den sonst kein Mensch trinkt! Wer trinkt denn
+jetzt noch Malaga, außer vielleicht so ’m Schuft wie er! Pfui! ... Pfui!
+... Aber was stehe _ich_ denn hier? Was habe _ich_ denn hier zu suchen?
+Worauf warte _ich_ denn noch?“
+
+„Foma,“ hub mein Onkel an, verwirrte sich aber bei jedem Satz, „jetzt
+wäre es ... wenn du dich erholt hast und wieder mit uns zusammen ... Ich
+meine, ich will nur sagen, Foma, wie du vorhin, nachdem du das
+unschuldige Mädchen beleidigt hattest ...“
+
+„Wo, wo ist sie, meine Unschuld?“ griff Foma sofort das Wort auf, als
+phantasiere er im Fieber. „Wo sind die goldenen Tage meiner Unschuld? Wo
+bist du, meine goldene Kindheit, als ich noch schuldlos und schön über
+die Wiesen dem ersten Frühlingsschmetterling nachlief? Wo, wo ist diese
+Zeit? Gebt mir meine Unschuld wieder, gebt sie mir wieder zurück ...“
+
+Und Foma wandte sich mit ausgestreckten Armen der Reihe nach an alle
+Anwesenden, als hätte jemand von uns seine Unschuld in der Tasche
+gehabt. Bachtschejeff schien platzen zu wollen vor Wut.
+
+„Hört doch, was der Mensch will!“ fauchte er empört. „Gebt ihm seine
+Unschuld wieder! Will er sie etwa abküssen? Vielleicht war er auch als
+Knabe schon so ein Räuber, wie jetzt! Könnte schwören, daß er’s war!“
+
+„Foma!“ ... hub mein Onkel wieder an.
+
+„Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die Liebe glaubte und den
+Menschen liebte?“ phantasierte Foma, „als ich den Nächsten umarmte und
+an seiner Brust Tränen vergoß? Jetzt aber – wo bin ich? Wo bin ich?“
+
+„Du bist bei uns, Foma, beruhige dich!“ rief ihm mein Onkel zu. „Ich
+aber will dir jetzt folgendes sagen, Foma ...“
+
+„Wenn Sie doch jetzt wenigstens schweigen wollten!“ keuchte haßerfüllt
+die Perepelizyna, deren kleine Schlangenaugen meinen Onkel böse
+anblitzten.
+
+„Wo bin ich?“ fuhr Foma fort, „wer umgibt mich hier? Das sind ja Büffel
+und Stiere, die ihre Hörner gegen mich senken! Leben, was bist du? Ach,
+lebe, lebe, sei entehrt, geschmäht, gegeißelt, geschlagen, und wenn dann
+dein Grab zugeschüttet ist, dann erst kommen die Menschen zur Besinnung,
+und deine armen Knochen werden von einem Monument zerdrückt!“
+
+„Himmlischer Vater, jetzt kommt er noch auf sein Monument zu sprechen!“
+flüsterte Jeshowikin und schlug die Hände zusammen.
+
+„Oh, errichtet mir kein Monument!“ phantasierte Foma ohne Unterlaß
+weiter, „errichtet mir keines! Ich brauche keine Monumente! Errichtet
+mir in Eurem Herzen Monumente ... das ist alles ... sonst aber verlange
+ich nichts, nichts, nichts!“
+
+„Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, „so hör doch jetzt auf! Beruhige
+dich! Es ist kein Grund vorhanden, von Monumenten zu reden. Hör mich
+jetzt an ... Sieh, Foma, ich begreife, daß du vielleicht ... sagen wir,
+in edlem Feuer branntest, als du mir vorhin ... diese Vorwürfe machtest;
+aber du ließest dich zu weit fortreißen, Foma, du überschrittest jede
+Grenze – ich versichere dich, du hast dich geirrt, Foma ...“
+
+„Werden Sie denn nicht endlich aufhören!“ schrie wieder die
+Perepelizyna, „wollen Sie denn den Unglücklichen ganz und gar töten,
+bloß weil er jetzt in Ihren Händen ist? ...“
+
+Nach dem Beispiel der Perepelizyna fuhr auch die Generalin sofort auf,
+und mit ihr das ganze Gefolge: alle winkten sie meinem Onkel wie
+besessen mit den Händen zu, damit er nur endlich schweige.
+
+„Anna Nilowna, halten Sie gefälligst selbst den Mund; ich weiß, was ich
+sage!“ fuhr mein Onkel mit entschlossener Stimme fort. „Es handelt sich
+um eine heilige Sache der Ehre und Gerechtigkeit ... Foma, ich weiß, du
+bist vernünftig. Du mußt unverzüglich das edelste Mädchen, das du
+beleidigt hast, um Verzeihung bitten.“
+
+„Welches Mädchen? Welches Mädchen habe ich beleidigt?“ fragte Foma und
+sah sich mit verständnislosem Blick im Kreise um, als hätte er alles
+vergessen, was geschehen war, und als begreife er nicht, wovon man
+sprach.
+
+„Ja, Foma, und wenn du jetzt freiwillig deine Schuld eingestehst, so
+werde ich, das schwöre ich, dir hier meinetwegen zu Füßen fallen und
+...“
+
+„Aber wen habe ich denn beleidigt?“ rief Foma leidenschaftlich. „Welches
+Mädchen? Wo ist sie? Wo ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Erinnert mich
+doch, helft mir, sagt mir doch nur mit einem Wort, wer dieses Mädchen
+ist! ...“
+
+Da trat Nastenjka verwirrt und geängstigt zu meinem Onkel und berührte
+ihn zaghaft am Ärmel.
+
+„Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn, es ist nicht nötig, daß er sich
+entschuldigt! Wozu das alles?“ sagte sie mit bittender, gequälter
+Stimme. „Lassen Sie doch!“
+
+„Ah! Jetzt besinne ich mich!“ rief plötzlich Foma aus. „Gott! Ich
+besinne mich! Oh, helft mir, helft mir, mich zu erinnern!“ flehte er,
+scheinbar in unbeschreiblicher Aufregung. „Sagt mir, ist es wahr, daß
+man mich von hier wie den räudigsten aller Hunde hinausgejagt hat? Ist
+es wahr, daß ich vom Blitz getroffen wurde? Ist es wahr, daß ich von
+hier auf die Treppe hinausgeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das
+alles wahr?“
+
+Das Weinen und Gejammer der Damen war eine beredte Antwort auf seine
+Frage.
+
+„Richtig, richtig!“ fuhr er fort, „ich entsinne mich jetzt, daß ich nach
+dem Blitz und nach meinem Sturz hergelaufen kam, verfolgt vom Donner, um
+hier meine Pflicht zu erfüllen und um dann auf ewig zu verschwinden!
+Erhebt mich! Wie erschöpft ich jetzt auch bin, ich muß sie erfüllen –
+meine letzte Pflicht!“
+
+Man faßte ihn stützend unter die Arme und hob ihn aus dem Ruhestuhl. Er
+selbst nahm hierauf die Pose eines klassischen Redners an und streckte
+beschwörend seine Hand aus.
+
+„Oberst!“ begann er, „jetzt bin ich wieder erwacht! Der Donner hat meine
+geistigen Kräfte nicht gänzlich vernichtet: es ist zwar noch eine
+gewisse Taubheit in meinem rechten Ohr vorhanden, aber die ist
+vielleicht nicht so sehr auf den Donner als auf den Sturz von der Treppe
+zurückzuführen ... Doch was hat das zu sagen! Und wen geht hier das
+rechte Ohr Foma Opiskins etwas an!“
+
+Den letzten Worten verlieh Foma so viel traurige Ironie und begleitete
+sie mit einem so wehmütigen Lächeln, daß das Gestöhn der gerührten Damen
+unwillkürlich von neuem ertönte. Alle sahen sie mit bitterem Vorwurf,
+einige aber mit wahrem Haß auf meinen armen Onkel, der sich allmählich,
+beim Anblick eines so einmütigen Urteils, wie vernichtet zu fühlen
+begann. Misintschikoff spie heimlich aus vor Wut und trat ans Fenster.
+Bachtschejeff versetzte mir immer stärker werdende Rippenstöße: er
+konnte sich wirklich nicht mehr ruhig verhalten, der arme Dicke!
+
+„Jetzt hören Sie alle meine Beichte!“ hub Foma mit erhöhter Stimme an
+und ließ stolz und entschlossen seinen Blick über die ganze Versammlung
+schweifen, „und gleichzeitig entscheiden Sie, Jegor Iljitsch, über das
+Schicksal des unglücklichen Foma Opiskin! Schon lange habe ich Sie
+beobachtet, habe ich Sie bangen Herzens beobachtet und alles bemerkt,
+alles, während Sie noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete.
+Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt, aber ich kannte Ihren Egoismus,
+Ihre unbegrenzte Eigenliebe, Ihre schreckliche Wollüstigkeit, und – wer
+wird mich deshalb verdammen können, daß ich unwillkürlich für die Ehre
+des unschuldigsten Wesens erzitterte?“
+
+„Foma! ... Foma! ...“ fiel ihm mein Onkel ins Wort, da er mit Unruhe den
+gequälten Ausdruck in Nastenjkas Gesicht gewahrte.
+
+„Nicht so sehr die Unschuld und die Vertrauenswürdigkeit dieses Mädchens
+ängstigten mich als gerade ihre Unerfahrenheit,“ fuhr Foma fort, als
+hätte er die Warnung meines Onkels überhaupt nicht gehört. „Ich sah, wie
+ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen erwachte und erblühte, gleich der
+Frühlingsrose, und ich dachte unwillkürlich an Petrarca, der da sagt:
+‚Die Unschuld ist so oft nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt.‘
+Ich seufzte und litt, und wenn ich auch für dieses Mädchen, das rein wie
+eine Perle, wie ein kostbarer Edelstein ist, mein ganzes Blut als
+Bürgschaft hingegeben hätte – wer aber hätte mir für Sie gebürgt, Jegor
+Iljitsch? Da ich das zügellose Streben Ihrer Leidenschaften kannte, da
+ich wußte, daß Sie für deren kurze Befriedigung alles zu opfern bereit
+sind, – so versenkte ich mich plötzlich in einen Abgrund des Entsetzens
+und der Befürchtungen bezüglich des Schicksals dieses edelsten aller
+Mädchen ...“
+
+„Foma! Wie hast du das nur denken können!“ rief mein Onkel erregt aus.
+
+„Mit schmerzendem Herzen habe ich Sie beobachtet. Wenn Sie wissen
+wollen, wie ich gelitten habe, fragen Sie Shakespeare: er wird Ihnen in
+seinem ‚Hamlet‘ von meinem Seelenzustande erzählen. Ich wurde
+argwöhnisch und unerträglich. In meiner Unruhe, in meinem Unwillen sah
+ich alles schwarz, aber, das war nicht dieses ‚Schwarz‘, von dem in der
+bekannten Romanze die Rede ist, das können Sie mir glauben. Deshalb
+hegte ich auch den Wunsch, _sie_ aus diesem Hause zu entfernen: ich
+wollte sie retten. Dies war der eigentliche Grund, weshalb Sie mich in
+der letzten Zeit so gereizt und mit der ganzen Menschheit zerfallen
+gesehen haben. Oh! wer wird mich jetzt mit dieser Menschheit wieder
+aussöhnen? Ich fühle, daß ich vielleicht anmaßend und ungerecht zu Ihren
+Gästen, zu Ihrem Neffen, zu Herrn Bachtschejeff gewesen bin, indem ich
+von ihm Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer kann mich wegen
+meines damaligen Seelenzustandes tadeln? Ich berufe mich nochmals auf
+Shakespeare und sage, daß die Zukunft mir wie ein finsterer Abgrund von
+unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grunde ein Krokodil lag. Ich
+fühlte, daß es meine Pflicht war, das Unglück zu verhüten, daß ich dazu
+berufen, daß ich dazu gesandt war, – doch was geschah? Sie begriffen die
+edelsten Beweggründe meiner Seele nicht und zahlten mir in dieser ganzen
+Zeit mit Bosheit, Undankbarkeit, Spott, Erniedrigungen ...“
+
+„Foma! Wenn es so ist ... ich fühle ...“ unterbrach ihn mein Onkel in
+unsäglicher Erregung.
+
+„Wenn Sie tatsächlich etwas fühlen, Oberst, so seien Sie so gut und
+lassen Sie mich zu Ende sprechen, ohne mich zu unterbrechen. Ich fahre
+fort: meine ganze Schuld bestand folglich darin, daß ich mich gar zu
+sehr um das Schicksal und das Glück dieses Kindes sorgte, – denn sie ist
+ja noch ein Kind im Vergleich zu Ihnen. Die höchste Liebe zur Menschheit
+machte mich in dieser Zeit fast zu einem Dämon des Argwohns und Zornes.
+Ich wäre fähig gewesen, mich auf die Menschen zu stürzen und sie zu
+zerreißen. Und wissen Sie auch, Jegor Iljitsch, daß ein jeder Ihrer
+Schritte meinen Argwohn noch bestärkte und mich von der Richtigkeit
+aller meiner Befürchtungen überzeugte? Wissen Sie auch, daß ich gestern,
+als Sie mich mit Ihrem Golde überschütteten, um mich auf diese Weise los
+zu werden, bei mir im stillen dachte: ‚Er will in mir, in meiner Person
+sein eigenes Gewissen entfernen, um dann bequemer das Verbrechen begehen
+zu können ...‘“
+
+„Foma! Aber Foma ... Hast du das wirklich gestern gedacht?“ rief mein
+Onkel entsetzt aus. „Gott, und ich habe nichts geahnt!“
+
+„Der Himmel selber flößte mir diesen Argwohn ein,“ fuhr Foma fort. „Und
+sagen Sie doch: was mußte ich denken, als der blinde Zufall mich noch am
+selben Abend zu jener Bank im Garten führte, was mußte ich fühlen, – o
+Gott! – als ich endlich mit eigenen Augen sah, daß alle meine
+Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiteten und mir in der glänzendsten
+Weise recht gaben? Mir blieb nur noch eine Hoffnung, eine schwache,
+allerdings, aber es war doch immerhin eine Hoffnung! Und was mußte ich
+erleben?! Heute morgen zerstörten Sie sie selbst zu Schutt und Trümmer!
+Sie sandten mir Ihren Brief. Sie sprachen von der Absicht, sie zu
+heiraten, und Sie flehten mich an, von dem Gesehenen nichts verlauten zu
+lassen ... ‚Aber weshalb,‘ dachte ich, ‚weshalb hat er mir denn gerade
+jetzt geschrieben, nachdem ich ihn bereits überrascht habe, warum nicht
+früher? Weshalb ist er nicht früher eilends zu mir gekommen, glücklich
+und schön – denn die Liebe verschönt das Gesicht –, weshalb hat er sich
+nicht in meine Arme geworfen, warum ist er nicht an meiner Brust in
+Tränen grenzenlosen Glücks ausgebrochen, und weshalb hat er mir nicht
+alles, alles gestanden?‘ Oder bin ich ein Krokodil, das Sie nur
+verschlungen, nicht aber Ihnen einen klugen Rat gegeben haben würde?
+Oder bin ich irgendein widerliches Insekt, das Sie nur gebissen, nicht
+aber Ihnen zu Ihrem Glück verholfen haben würde? ‚Bin ich sein Freund,
+oder bin ich ein ekelhaftes Gewürm?‘ Das war die Frage, die ich heute
+morgen an mich stellte! ‚Und wozu schließlich,‘ dachte ich, ‚wozu hat er
+aus der Hauptstadt einen Neffen hergerufen und mit diesem Mädchen
+verlobt, wenn nicht, um sowohl uns wie den leichtsinnigen Neffen zu
+betrügen und inzwischen heimlich die verbrecherischste aller Absichten
+auszuführen?‘ Nein, Oberst, wenn jemand mich in dem Gedanken bestärkt
+hat, daß Ihre Liebe verbrecherisch ist, so sind Sie es selbst, und nur
+Sie allein! Ja, Sie sind auch vor diesem Mädchen ein Verbrecher; denn
+durch Ihre Ungeschicklichkeit und Ihr eigensüchtiges Mißtrauen haben Sie
+sie der Verleumdung und häßlichem Argwohn preisgegeben!“
+
+Mein Onkel schwieg, den Kopf gesenkt. Die Beredsamkeit Fomas behielt
+offenbar die Oberhand; denn mein Onkel wagte nichts mehr zu entgegnen
+und gab damit eigentlich schon zu, daß er der „große Verbrecher“ sei.
+Die Generalin und ihre Freundinnen hatten stumm und andächtig Fomas Rede
+angehört; die Perepelizyna blickte mit schadenfrohem Triumph auf die
+arme Nastenjka.
+
+„Bestürzt, erregt, halbtot,“ fuhr Foma fort, „schloß ich mich heute ein
+und betete, daß Gott mich erleuchte! Endlich beschloß ich, Sie zum
+letzten Male und öffentlich zu prüfen. Vielleicht habe ich mich mit gar
+zu großem Eifer darangemacht, vielleicht habe ich mich gar zu sehr
+meinem Unwillen hingegeben! Doch für meine edelsten Absichten warfen Sie
+mich zur Tür hinaus! Noch als ich aus der Türe flog, dachte ich bei mir:
+‚Sieh, so wird in der Welt die Tugend belohnt!‘ Hieran schlug ich auf
+die Erde, und was weiter mit mir geschah – dessen entsinne ich mich kaum
+noch.“
+
+Gestöhn und Wehklagen unterbrachen Foma bei dieser tragischen
+Erinnerung. Die Generalin stürzte mit der Flasche Malaga, die sie vor
+einer Minute der zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand
+gerissen hatte, zu Foma; dieser jedoch wies mit majestätischer
+Handbewegung die Flasche samt der Generalin zurück.
+
+„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß beenden. – Was nach meinem Sturz
+geschah – ich weiß es nicht. Ich weiß nur eines, daß ich jetzt,
+durchnäßt und der Gefahr einer Influenza ausgesetzt, hier stehe, um Ihr
+beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen Anzeichen, die ich
+jetzt nicht weiter erklären will, habe ich schließlich die Überzeugung
+gewonnen, daß Ihre Liebe rein und sogar erhaben ist. Und wenn auch
+gleichzeitig von einem geradezu verbrecherischen Mißtrauen gemartert,
+erniedrigt, der Beleidigung eines ehrenhaften Mädchens verdächtigt,
+desselben Mädchens, für das ich wie ein mittelalterlicher Ritter mein
+Blut bis auf den letzten Tropfen hingegeben hätte, entschließe ich mich
+nunmehr, Ihnen zu zeigen, wie Foma Opiskin sich für ihm zugefügte
+Beleidigungen rächt. Geben Sie mir Ihre Hand, Oberst!“
+
+„Mit Vergnügen, Foma!“ rief mein Onkel aus. „Und da du dich jetzt
+deutlich über die Ehre des ehrenwertesten Mädchens ausgesprochen hast,
+so ... hier ist meine Hand, Foma, und gleichzeitig gestehe ich dir meine
+aufrichtige Reue ...“
+
+Und mein Onkel reichte ihm von ganzem Herzen die Hand, ohne zu ahnen,
+was daraus entstehen sollte.
+
+„Geben Sie mir auch Ihre Hand,“ fuhr Foma mit milder Stimme fort, indem
+er sich durch den Kreis der ihn umgebenden Damen an Nastenjka wandte.
+
+Nastenjka erschrak, verwirrte sich und blickte schüchtern zu Foma
+hinüber.
+
+„Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Kind! Das ist unbedingt notwendig
+zu Ihrem Glück,“ fuhr Foma freundlich fort, während er immer noch die
+Hand meines Onkels in der seinen hielt.
+
+„Was mag er wollen?“ fragte Misintschikoff leise.
+
+Nastjä näherte sich schließlich, noch immer erschrocken und ängstlich,
+Foma Fomitsch und reichte ihm zaghaft ihr Händchen.
+
+Foma nahm dieses Händchen und legte es in die Hand meines Onkels.
+
+„_Ich vereinige und segne euch!_“ sagte er mit der feierlichsten Stimme.
+„Und wenn der Segen eines vom Leid erdrückten Märtyrers euch Nutzen
+bringen kann, so seid glücklich! Nun seht ihr, wie sich Foma Opiskin
+rächt! Hurra!“
+
+Wir waren sprachlos. Diese Lösung kam so unerwartet, daß niemand sie
+verstand. Die Generalin glich einer Salzsäule mit einer Flasche Malaga
+in der Hand. Die Perepelizyna erbleichte und erzitterte vor Wut. Das
+übrige Gefolge schlug die Hände über dem Kopf zusammen und erstarrte in
+dieser Stellung. Mein Onkel fuhr zusammen und wollte etwas sagen,
+brachte aber kein Wort hervor. Nastjä war blaß wie eine Tote und
+stammelte zwar ein „aber das geht doch nicht ...“ – aber jetzt war es zu
+spät. Bachtschejeff war der erste – man muß ihm Gerechtigkeit
+widerfahren lassen –, der in Fomas Hurra einstimmte, nach ihm ich, nach
+mir Ssaschenjka mit allem Jubel ihrer hellen Kinderstimme. Zugleich
+eilte sie zum Vater und umarmte und küßte ihn –, dann Iljuscha, dann
+Jeshowikin, und zum Schluß auch Misintschikoff.
+
+„Hurra!“ schrie noch einmal Foma, „hurra! Und jetzt auf die Knie, meine
+Herzenskinder, auf die Knie vor der zärtlichsten der Mütter! Bittet um
+ihren Segen, und wenn es nötig ist, werde ich selbst mit euch vor ihr
+niederknien ...“
+
+Mein Onkel und Nastjä, die einander noch nicht angesehen hatten und im
+ersten Schreck wahrscheinlich noch gar nicht begriffen, was mit ihnen
+geschah, knieten sogleich vor der Generalin nieder: die übrigen
+gruppierten sich um sie herum. Die Generalin stand wie betäubt, rührte
+sich nicht und schien nicht begreifen zu können, was sie tun sollte.
+Doch da half Foma: er kniete in eigener Person vor seiner Gönnerin
+nieder, was diese im Augenblick zur Besinnung brachte. Sie brach in
+Tränen aus und sagte, daß sie einverstanden sei. Der Oberst sprang auf
+und preßte Foma an seine Brust.
+
+„Foma! ... Foma!“ rief er aus, doch seine Stimme versagte.
+
+„Champagner!“ rief Herr Bachtschejeff. „Hurra!“
+
+„Nein, nicht Champagner,“ unterbrach ihn die Perepelizyna, die
+inzwischen schon Zeit gehabt hatte, sich zu besinnen, sich die Sachlage
+zu überlegen und gleichzeitig auch die Folgen zu berechnen, – „jetzt muß
+man Gott ein Licht anzünden, vor dem Heiligenbilde beten und mit dem
+Heiligenbilde das Brautpaar segnen, wie alle Gottesfürchtigen es tun
+...“
+
+Sofort beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zu befolgen. Alles lief
+kreuz und quer. Zuerst mußte das Licht angezündet werden. Herr
+Bachtschejeff zog einen Stuhl herbei, stellte ihn vor das Heiligenbild
+und kletterte höchst eigen hinauf, um das Licht einzusetzen. Der Stuhl
+jedoch war nicht für eine solche Last gedacht: er krachte in allen
+Fugen, und Herr Bachtschejeff rettete nur mit Mühe und Not sein
+Gleichgewicht. Doch ohne sich im geringsten über seinen Mißerfolg zu
+ärgern, trat er den Platz sofort höflich der Perepelizyna ab. Die dünne
+Jungfer erledigte die Sache denn auch im Augenblick: das Licht brannte.
+Und wie die Perepelizyna, so bekreuzte sich und verneigte sich das ganze
+Gefolge bis zur Erde. Hierauf wurde das Heiligenbild der Generalin
+gereicht. Der Oberst und Nastenjka knieten nochmals vor ihr nieder, und
+die Zeremonie vollzog sich unter gottesfürchtigen Vorhaltungen der
+Perepelizyna, die zu jedem ihrer Worte Unterweisungen hinzufügte: „Knien
+Sie jetzt nieder, küssen Sie jetzt das Heiligenbild, küssen Sie der
+Mutter die Hand!“ Nach den Verlobten hielt es auch Herr Bachtschejeff
+für seine Pflicht, das Heiligenbild zu küssen, worauf er die Hand der
+Generalin an die Lippen führte. Er befand sich mit einem Male in
+unbeschreiblicher Begeisterung.
+
+„Hurra!“ schrie er immer von neuem. „Aber jetzt Champagner!“
+
+Übrigens waren alle begeistert. Die Generalin weinte, doch waren es
+diesmal Tränen der Freude: die Verbindung, die Foma gesegnet hatte,
+wurde in ihren Augen ohne weiteres sowohl heilig wie auch möglich, und
+vor allen Dingen fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich ausgezeichnet hatte
+und jetzt ganz sicher wieder bei ihr bleiben werde. Auch ihr Gefolge
+teilte – wenigstens äußerlich – die allgemeine Begeisterung. Mein Onkel
+ging bald zu seiner Mutter, um ihre Hände zu küssen; bald umarmte er
+mich, Bachtschejeff, Misintschikoff und Jeshowikin. Seinen Iljuscha
+hätte er um ein Haar erdrückt in seinen Armen. Ssaschenjka hing sich an
+Nastenjka und küßte sie unaufhörlich. Praskowja Iljinitschna weinte
+still. Als Herr Bachtschejeff das bemerkte, ging er zu ihr hin und küßte
+ihr die Hand. Der alte Jeshowikin wischte sich, in die entfernteste Ecke
+zurückgezogen, mit einem Zipfel seines karierten Schnupftuches
+gleichfalls Tränen aus den Augen. In der anderen Ecke schluchzte Gawrila
+und sah andächtig zu Foma Fomitsch auf. Falalei aber brüllte
+herzbrechend vor lauter Rührung, trat zu jedem Anwesenden und küßte ihm
+die Hand. Alle flossen über vor lauter Gefühl. Niemand vermochte zu
+sprechen. Niemand dachte an Erklärungen. Es schien alles schon gesagt zu
+sein. Nur freudige Ausrufe wurden laut. Im Grunde begriff zwar noch
+keiner so recht, was und wie es eigentlich geschehen war. Man wußte nur
+das eine: daß Foma Fomitsch alles getan und geordnet hatte, und daß eine
+unwiderrufliche Tatsache vor einem stand.
+
+Noch waren keine fünf Minuten des allgemeinen Glücks vergangen, als
+plötzlich auch Tatjana Iwanowna erschien. Durch wen, durch welchen
+Spürsinn mochte sie oben in ihrem Zimmer Kunde von der Verlobung
+erhalten haben? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen in den Augen
+und in bezaubernd eleganter Toilette – sie hatte inzwischen doch Zeit
+und Lust dazu gehabt, sich umzukleiden – erschien sie in der Tür und
+flatterte wie eine Schwalbe zu Nastenjka, die sie krampfhaft in ihre
+Arme schloß.
+
+„Nastenjka, Nastenjka! Du hast ihn geliebt, ich aber habe es nicht
+einmal gewußt!“ rief sie aus. „O Gott! Sie haben sich geliebt, sie haben
+heimlich gelitten, ohne daß jemand es gewußt hätte! Man hat sie
+verfolgt! Welch ein Roman! Nastjä, mein Täubchen, sag mir die ganze
+Wahrheit: liebst du denn wirklich diesen – Toren?“
+
+Statt einer Antwort umarmte Nastjä sie und küßte sie auf den Mund.
+
+„O Gott, welch ein entzückender Roman!“ Tatjana Iwanowna klatschte in
+die Hände vor Freude. Hör, Nastjä, hör, mein Engel: alle diese Männer,
+alle bis auf den letzten sind sie undankbare Unmenschen, Ungeheuer und
+unserer Liebe nicht wert. Er aber ist vielleicht noch der beste von
+ihnen. „Komm her zu mir, du Tor!“ rief sie plötzlich meinem Onkel zu,
+sich an ihn wendend, und sie erfaßte seine Hand, um ihn zu sich zu
+ziehen. „Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu lieben?
+Sieh mich an: ich will dir in die Augen sehen, ich will sehen, ob diese
+Augen lügen ... Nein, nein, sie lügen nicht – in ihnen leuchtet wahre
+Liebe. Oh, wie glücklich ich bin! Nastenjka, meine Freundin, hör mich
+an: du bist nicht reich – ich schenke dir dreißig Tausend. Nimm sie, um
+Christi willen! – ich bitte dich! Ich brauche sie nicht, ich habe sie
+nicht nötig! Es bleibt mir ja noch genug! Nein, nein, nein!“ wehrte sie
+heftig, als sie sah, daß Nastjä das Geschenk nicht annehmen wollte.
+„Schweigen Sie, Jegor Iljitsch, das geht Sie nichts an. Nein, Nastjä,
+ich habe es so beschlossen – sie dir zu schenken. Ich wollte dir immer
+schon ein Geschenk machen, aber ich wartete auf deine erste Liebe ...
+Und nun werde ich euer Glück sehen und mich mitfreuen. Du wirst mich
+kränken, wenn du es nicht annimmst, ich werde weinen, Nastjä ... Nein,
+nein, nein und nein, du darfst mir die Bitte nicht abschlagen!“
+
+Tatjana Iwanowna war so glücklich, daß man ihr – wenigstens in diesem
+Augenblick – unmöglich ihre Bitte und ihr Geschenk abschlagen konnte:
+sie hätte einem zu leid getan. So tat man es denn auch vorläufig nicht
+... man schob es auf. Darauf fiel sie der alten Generalin um den Hals,
+küßte sie, küßte die Perepelizyna – küßte alle. Bachtschejeff drängte
+sich in der höflichsten Weise zu ihr durch und bat sie, ihr die Hand
+küssen zu dürfen.
+
+„Du mein Mütterchen, mein Täubchen! Verzeih mir altem Dummkopf, was auf
+der Rückfahrt geschah – ich kannte doch dein goldenes Herz noch nicht!“
+
+„Ach, Sie Tor! Ich aber kenne Sie schon lange!“ sagte Tatjana Iwanowna
+mit schelmischer Koketterie, schlug Stepan Alexejewitsch mit dem
+Batisttüchelchen auf die Nase und flatterte wie eine Nixe davon, während
+ihr prächtiges Kleid ihn streifte.
+
+Der Dicke trat ehrerbietig zurück.
+
+„Ein vortreffliches Mädchen!“ sagte er gerührt. „Aber dem Deutschen ist
+ja die Nase wieder angeklebt worden!“ flüsterte er mir vertrauensvoll zu
+und sah mir froh in die Augen.
+
+„Was für eine Nase? Welch einem Deutschen?“ fragte ich verständnislos.
+
+„Na, dem verschriebenen doch, der seiner Dame das Händchen küßt, während
+diese sich eine Träne mit dem Schnupftuch aus dem Auge wischt. Mein
+Jewdokim hat sie ihm noch gestern zu Haus angeleimt. Als wir aber vorhin
+von der Jagd zurückkamen, schickte ich einen reitenden Boten ... Bald
+wird er hier sein. Ein großartiges Ding, sag’ ich Ihnen!“
+
+„Foma!“ rief mein Onkel in fassungsloser Begeisterung aus, „du bist der
+Urheber meines Glücks! Womit kann ich es dir vergelten?“
+
+„Mit nichts, Oberst,“ sagte Foma mit einer Asketenmiene. „_Fahren Sie
+fort, mir keine Beachtung zu schenken_, und seien Sie glücklich ohne
+Foma.“
+
+Er fühlte sich offenbar verletzt – während des großen
+Gefühlsüberschwanges schien man ihn, und wenn auch nur einen Augenblick,
+beinahe vergessen zu haben.
+
+„Das war ja nur die übergroße Seligkeit, Foma!“ rief mein Onkel aus.
+„Ich ... weiß kaum noch, wo ich bin, Freund! Höre, Foma: ich habe dich
+beleidigt. Mein ganzes Leben, all mein Blut würde nicht ausreichen, um
+diese Beleidigung wieder gutzumachen, und deshalb schweige ich lieber
+und versuche gar nicht, meine Tat zu entschuldigen. Wenn du aber jemals
+meines Kopfes, meines Lebens bedarfst, wenn jemand sich für dich in
+einen Abgrund stürzen muß, so befiehl nur, und du wirst sehen ... Ich
+sage nichts weiter, Foma!“
+
+Und mein Onkel machte nur eine Handbewegung, da er die Unmöglichkeiten,
+in Worten noch etwas hinzuzufügen, das seinen Gedanken stärker
+ausdrücken könnte, vollkommen einsah. Dann blickte er Foma mit
+dankbaren, feucht schimmernden Augen an.
+
+„Jetzt sieht man erst, was für ein Engel er ist!“ flötete honigsüß die
+Perepelizyna – bereit, Foma anzubeten.
+
+„Ja, ja!“ stimmte ihr Ssaschenjka bei. „Ich wußte gar nicht, daß Sie ein
+so guter Mensch sind, Foma Fomitsch – und ich war so ungezogen zu Ihnen.
+Verzeihen Sie mir, Foma Fomitsch, und glauben Sie mir, daß ich Sie von
+ganzem Herzen lieben werde. Wenn Sie wüßten, wie ich Sie jetzt achte!“
+
+„Foma!“ sagte Herr Bachtschejeff, „verzeih auch mir. Ich war dumm. Ich
+kannte dich nicht, ich kannte dich wahrhaftig nicht! Du, Foma Fomitsch,
+du bist nicht nur ein Gelehrter, sondern einfach – ein Held! Mein ganzes
+Haus steht dir zur Verfügung. Komm nur. Am besten aber, weißt du, komm
+gleich übermorgen zu mir; aber selbstverständlich lade ich auch die
+Braut und den Bräutigam ein ... Jawohl! – das ganze Haus zu mir! Dann
+wollen wir mal speisen – ich will nichts vorher loben, nur eines schicke
+ich voraus: bloß Vogelmilch kann ich euch nicht vorsetzen! Darauf gebe
+ich mein Wort!“
+
+Währenddessen war Nastenjka zu Foma Fomitsch getreten und hatte ihn,
+ohne viel zu reden, umarmt und herzlich geküßt.
+
+„Foma Fomitsch,“ sagte sie, „Sie sind unser Wohltäter, Sie haben so viel
+für uns getan, daß ich nicht weiß, wie ich es Ihnen entgelten soll ...
+Ich weiß nur, daß ich Ihnen die liebevollste und ehrerbietigste
+Schwester sein will ...“
+
+Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf die Stirn und war sehr
+gerührt.
+
+„Meine Kinder, Kinder meines Herzens!“ sagte er. „Lebt, blüht, und in
+den Stunden des Glücks gedenkt bisweilen auch des armen Ausgestoßenen!
+Von mir aber sage ich, daß Unglück vielleicht die Mutter der Tugend ist.
+Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein sonst leichtfertiger
+Schriftsteller, der aber mitunter gute Gedanken hat. Ausgestoßen werden
+– ist Unglück! Als unsteter Wanderer werde ich jetzt mit meinem
+Wanderstabe des Weges ziehen und – wer weiß? – durch mein Unglück
+vielleicht immer noch tugendreicher werden! Dieser Gedanke ist der
+einzige mir noch verbliebene Trost!“
+
+„Aber ... wohin willst du denn gehen, Foma?“ fragte mein Onkel
+erschrocken.
+
+Alle zuckten zusammen und richteten ihre Blicke auf Foma.
+
+„Kann ich denn nach der mir zugefügten Kränkung noch in diesem Hause
+bleiben, Oberst?“ fragte Foma mit ungeheurer Würde.
+
+Man ließ ihn nicht weitersprechen: ein wahrer Tumult erhob sich und
+verschlang jedes gesprochene Wort. Er wurde wieder in seinen Sessel
+gesetzt, wurde angefleht und beweint, und ich weiß nicht, was noch alles
+mit ihm getan wurde. Natürlich hatte er diesmal ebensowenig die Absicht,
+„dieses Haus“ zu verlassen, wie vor seinem Flug durch die Glastür oder
+wie am Abend vorher oder wie damals, als er im Gemüsegarten alle Rüben
+umgrub. Er wußte genau, daß man sich jetzt erst recht an ihn klammern
+werde, – gerade jetzt, nachdem er alle glücklich gemacht hatte, alle von
+neuem an ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu tragen und
+sich das noch zur Ehre anzurechnen. Wahrscheinlich war es seine feige
+Rückkehr – die sehr aus eigenem Antriebe geschehen war, als das Gewitter
+ihn erschreckt hatte – die nun seinen Ehrgeiz anstachelte und ihn trieb,
+den Helden zu spielen. In der Hauptsache aber war es natürlich die
+Versuchung, einen erhabenen Menschen darzustellen, – die war denn doch
+zu groß! Man konnte so schön reden, das eigene Unglück ausmalen, sich
+selbst erheben und loben – wie sollte man da der Versuchung widerstehen?
+Und so widerstand er ihr denn auch nicht: er wollte sich aus den Armen
+der ihn Zurückhaltenden reißen, verlangte einen Wanderstab, bat sogar,
+ihm seine Freiheit wiederzugeben, ihn seines Weges ziehen zu lassen: in
+„diesem Hause“ sei er entehrt und geschlagen worden, er sei nur aus dem
+Grunde zurückgekehrt, um erst noch das Glück der Zurückgebliebenen zu
+schaffen – wie könne er „im Hause der Undankbarkeit“ bleiben? Wie könne
+er „am selben Tische mit ihnen Kohl – wenn auch fettgekochten – zu essen
+fortfahren“? Kohl, der „mit Schlägen gewürzt“ war? Endlich ließ er sich
+besänftigen. Er wurde wieder in seinen Ruhestuhl gesetzt – doch seine
+Beredsamkeit hatte, wie sich zeigte, auch jetzt noch nicht ihr Ende
+erreicht.
+
+„Hat man mich denn hier nicht beleidigt?“ rief er aus. „Hat man mir hier
+nicht die Zunge gezeigt? Haben denn nicht Sie, Sie selbst, Oberst, wie
+die ungezogenen Kinder in den Vorstadtstraßen mir täglich, stündlich die
+Faust gezeigt? Ja, Oberst! Ich bestehe auf diesem Vergleich, weil Sie
+mir diese Faust, wenn auch nicht physisch, so doch moralisch gezeigt
+haben. Eine moralische Faust ist aber in manchen Fällen sogar kränkender
+als eine physische. Von den Schlägen ganz zu schweigen ...“
+
+„Foma! ... Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Martere mich nicht mit
+dieser Erinnerung! Ich habe dir gesagt, daß all mein Blut nicht genügen
+würde, um die Tat vergessen zu machen. Sei doch großmütig! Vergiß,
+vergib, bleibe hier und freue dich an unserem Glück! Es ist dein Werk,
+Foma ...“
+
+„... Ich will lieben, ich will den Menschen lieben,“ redete Foma
+unaufhaltsam weiter; „man gibt ihn mir aber nicht, man verbietet mir,
+ihn zu lieben, man nimmt ihn mir fort, den Menschen! Gebt mir, gebt mir
+den Menschen, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser Mensch? Wo hat er
+sich versteckt dieser Mensch? Wie Diogenes suche ich ihn mit der
+Laterne, suche ihn mein ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden ...
+und kann doch keinen anderen lieben, bevor ich nicht diesen Menschen
+gefunden habe. Wehe dem, der mich zum Menschenhasser gemacht hat! Da
+rufe ich nun: Gebt mir den Menschen, auf daß ich ihn lieben kann, und
+man schiebt mir Falalei zu! Werde ich denn einen Falalei jemals lieben
+können? Will ich denn Falalei lieben? Kann ich denn Falalei überhaupt
+lieben, selbst wenn ich es _wollte_? Nein!! Und warum nicht? Weil er
+Falalei ist. Warum liebe ich nicht die ganze Menschheit? Weil alles, was
+es auf der Welt gibt – Falalei ist oder Falalei ähnlich ist. Ich will
+keinen Falalei, ich hasse Falalei, ich speie auf Falalei, ich werde
+Falalei erwürgen, und wenn ich wählen soll, so werde ich eher Asmodei
+lieben als Falalei! Komm, komm her, du mein ewiger Peiniger, komm her!“
+rief er plötzlich dem armen Falalei zu, der sich mit dem unschuldigsten
+Gesicht der Welt hinter der Foma umgebenden Schar auf die Fußspitzen
+erhob und mit langgerecktem Hals über die Schultern der anderen lauerte.
+„Komm her! Ich werde Ihnen beweisen, Oberst,“ eiferte Foma und zog den
+vor Schreck fast bewußtlosen Falalei an der Hand zu sich heran, „ich
+werde Ihnen die Wahrheit meiner Worte über den ewigen Spott und die
+Beleidigungen beweisen! Sprich, Falalei, und sage die Wahrheit: wovon
+hat dir heute nacht geträumt? Sie werden sehen, Oberst, Sie werden Ihre
+Früchte sehen! Nun, Falalei, sprich!“
+
+Der arme Knabe blickte sich zitternd vor Angst im Kreise um und suchte
+einen Retter in einem von uns, doch alle zitterten nur gleich ihm und
+harrten mit Bangen der Antwort.
+
+„Sprich, Falalei, ich warte!“
+
+Statt einer Antwort zog Falalei das Gesicht kraus, sperrte langsam den
+Mund auf und brüllte dann los wie ein junges Kalb.
+
+„Oberst! Sehen Sie diesen Eigensinn? Halten Sie ihn wirklich für
+natürlich? Zum letztenmal wende ich mich an dich, Falalei, – antworte:
+wovon hat dir heute nacht geträumt?“
+
+„Von ...“
+
+„Sag von mir!“ raunte ihm Bachtschejeff ins eine Ohr.
+
+„Von Euren Tugenden!“ raunte ihm Jeshowikin ins andere Ohr.
+
+Falalei sah sich bloß um.
+
+„Von ... von einer Ku– ... von einer weißen K ... u ... h“ brüllte er
+schließlich, und ein Strom von Tränen ergoß sich über seine roten
+Backen.
+
+Alles stöhnte auf.
+
+Foma Fomitsch jedoch war diesmal von ganz ungewöhnlicher Großmut.
+
+„Wenigstens sehe ich deine Aufrichtigkeit, Falalei,“ sagte er, „eine
+Aufrichtigkeit, die ich bei den anderen nicht wahrzunehmen vermag. Gott
+mit dir! Wenn du mich absichtlich mit diesem Traum verspottest, auf
+Grund der Einflüsterung anderer, so wird Gott sowohl dich wie diese
+anderen dafür heimsuchen. Wenn du mich jedoch nicht verspotten willst,
+dann achte ich wenigstens deine Aufrichtigkeit; denn selbst in der
+niedrigsten aller Kreaturen, selbst in dir bin ich Gottes Ebenbild zu
+sehen gewohnt ... Ich verzeihe dir, Falalei! Meine Kinder, umarmt mich!
+Ich bleibe! ...“
+
+„Er bleibt!“ rief alles begeistert aus.
+
+„Ich bleibe und verzeihe! Oberst, belohnen Sie Falalei mit Zucker. Mag
+auch er an einem solchen Freudentage nicht traurig sein!“
+
+Eine solche Großmut erschien geradezu wunderbar! _So_ sich zu sorgen und
+das noch dazu in einer _solchen_ Stunde, und um wen? – um Falalei!
+
+Mein Onkel beeilte sich, dem Befehl sofort nachzukommen. Und schon
+erschien eine Zuckerdose in Praskowja Iljinitschnas Händen. Mein Onkel
+nahm zuerst zwei Stücke, dann drei, ließ sie in der Aufregung fallen,
+und da er schließlich einsah, daß er mit seinen zitternden Händen nichts
+machen konnte, so nahm er einfach die Dose und schüttete den ganzen
+Inhalt Falalei in die Bluse.
+
+„Ach! Zur Feier eines solchen Tages! Halt fest, Falalei ... Das ist für
+deine Aufrichtigkeit,“ fügte er noch als „Moral“ hinzu.
+
+Da erschien plötzlich Widopljässoff in der Tür und meldete: „Herr
+Korowkin!“
+
+Alle waren überrascht. Der Besuch Korowkins kam gerade in diesem
+Augenblick äußerst ungelegen. Alle sahen fragend meinen Onkel an.
+
+„Korowkin!“ rief er etwas bestürzt aus. „Natürlich, es freut mich ...“
+fügte er mit scheuem Blick auf Foma hinzu; „nur weiß ich nicht, soll ich
+ihn jetzt, in diesem Augenblick herbitten lassen ...? Was meinst du,
+Foma?“
+
+„Oh, nichts!“ sagte Foma gnädig, „fordern Sie den Korowkin nur auf,
+einzutreten, mag er an dem allgemeinen Glück teilnehmen.“
+
+Kurz, Foma Fomitsch war die Güte selbst.
+
+„Wage untertänigst zu melden,“ bemerkte Widopljässoff, „daß Herr
+Korowkin sich nicht in Ihrem gewöhnlichen Zustande zu befinden geruhen.“
+
+„Was? Was faselst du da?“ fuhr mein Onkel erschrocken auf.
+
+„Zu Befehl: der Herr befinden sich nicht in nüchternem Zustande ...“
+
+Doch noch bevor mein Onkel den Mund auftun, erröten, erschrecken und
+sich besinnen konnte, fand das Rätsel schon seine Lösung: in der Tür
+erschien Herr Korowkin in höchsteigener Person, schob den Diener mit der
+Hand zur Seite und trat vor das verwunderte Publikum.
+
+Es war ein mittelgroßer, dicker Herr von vierzig Jahren, mit dunklem,
+über den Kamm geschnittenem, grau untermischtem Haar, mit kleinen,
+geröteten Augen, einem roten, runden Gesicht, einer billigen Krawatte,
+die hinten mit einer Gummistrippe schloß, und in einem ungewöhnlich
+abgetragenen Frack, mit dem er im Heu und auf der Erde gelegen zu haben
+schien, und der unter den Armen bereits Risse hatte. Dazu denke man sich
+ein unmögliches Beinkleid und eine Mütze, die bis zur Unglaublichkeit
+fettig glänzte, und die er noch obendrein wie einen ^Chapeau claque^ mit
+gebogenem Arm weit von sich hielt. Dieser Herr nun war tatsächlich
+vollkommen betrunken. Er trat bis in die Mitte des Zimmers vor, blieb
+dann stehen und schwankte, die Nase gesenkt, wie in tiefem Nachdenken.
+Schließlich weiteten sich langsam seine Mundwinkel, und er lächelte
+übers ganze Gesicht.
+
+„Verzeihen Sie, meine Verehrtesten,“ sagte er, „ich ... habe ... etwas
+(er knipste sich an den Kragen) hier hinabgegossen!“
+
+Die Generalin setzte sofort die Miene beleidigter Würde auf. Foma, der
+in seinem Ruhestuhl lehnte, maß den exzentrischen Gast mit ironischem
+Blick. Bachtschejeff sah ihn verständnislos an, doch blickte durch diese
+Verständnislosigkeit ein gewisses Mitgefühl. Die Verwirrung meines
+Onkels war unbeschreiblich: er litt mit ganzer Seele für Korowkin.
+
+„Korowkin!“ begann er zwar, „hören Sie! ...“
+
+„^Attendez^ gefälligst!“ unterbrach ihn Korowkin. „Habe die Ehre, mich
+vorzustellen: ein Kind der Natur ... Aber was sehe ich? Hier sind ja
+Damen ... Aber warum hast du mir nicht gesagt, du Schuft, daß du hier
+Damen hast?“ fragte er, sich mit verschlagenem Lächeln an meinen Onkel
+wendend. „Tut nichts! Habe keine Angst! ... Stellen wir uns also auch
+dem schönen Geschlechte vor ... Vereh...ehrungswürdige Damen!“ begann
+er, während er nur mit Mühe die Zunge bewegte und bei jeder Silbe
+stecken blieb, „Sie sehen einen Unglücklichen vor sich, der ... nun ja,
+und dann so weiter ... Das übrige wird nicht ausgesprochen ...
+Musikkapelle! Eine Polka!“
+
+„Wäre es Ihnen nicht recht, zunächst ein wenig zu schlafen?“ fragte
+Misintschikoff, der ruhig zu ihm trat.
+
+„Schlafen? Fragen Sie das in beleidigendem Sinne?“
+
+„Durchaus nicht. Wissen Sie, es ist manchmal gut nach der Reise ...“
+
+„Niemals!“ antwortete Korowkin voll Unwillen. „Du glaubst, ich sei
+betrunken? – nicht im geringsten! ... Aber übrigens, wo schläft man denn
+hier bei euch?“
+
+„Gehen wir, ich werde Sie hinführen.“
+
+„Wohin? In den Schuppen? Nein, Freund, mich betrügst du nicht! Dort habe
+ich schon übernachtet ... Aber übrigens, führ mich mal zu ... Warum soll
+man nicht gehen – mit einem guten Menschen? ... Ein Kissen ist nicht
+nötig ... ein Soldat braucht kein Kissen. Du könntest mir aber, Freund,
+einen Diwan, einen Diwan, weißt du, einen Diwan zusammenstellen ... Aber
+hör (er blieb stehen), du bist, wie ich sehe, ein witziger Bruder ...
+Komponier mir mal so etwas ... verstehst du? Etwas, um eine Fliege
+hinabzuspülen ... einzig, um eine Fliege hinabzuspülen, ein ... das
+heißt, ein Gläschen!“
+
+„Schön, schön!“ sagte Misintschikoff.
+
+„Schön ... Aber du, wart doch, man muß sich erst verabschieden ... Also:
+Adieu, ^mesdames^ und ^mesdemoiselles^! ... Sie haben mich, wie man
+sagt, durchbohrt ... Aber was! Werden uns später aussprechen ... nur
+wecken Sie mich, wenn es anfängt ... oder sogar fünf Minuten vor dem
+Beginn ... ohne mich aber bitte – nicht zu beginnen! Hören Sie? Nicht zu
+beginnen!“
+
+Und der lustige Herr verschwand hinter Misintschikoff.
+
+Alles schwieg. Niemand begriff, was geschehen war. Da begann plötzlich
+Foma leise, zunächst kaum hörbar zu kichern. Dann wurde dieses Kichern
+immer lauter, bis es schließlich in helles Lachen überging. Als die
+Generalin das sah, wurde sie sanftmütiger, wenn auch der Ausdruck
+gekränkter Würde immer noch in ihrem Gesicht verblieb. Allmählich erhob
+sich auf allen Seiten unwillkürlich Lachen und Fröhlichkeit. Mein Onkel
+stand wie betäubt auf einem Fleck, errötete fast bis zu Tränen und war
+eine Zeitlang zu keinem Wort fähig.
+
+„Großer Gott!“ stieß er endlich hervor, „wer hätte das ahnen können!
+Aber ... aber das kann ja doch einem jeden passieren, Foma, glaube mir,
+er ist der ehrlichste, der edelste Mensch und außerordentlich belesen,
+Foma ... du wirst es selbst sehen! ...“
+
+„Sehe schon, sehe schon,“ antwortete Foma, atemlos vor Lachen,
+„ungewöhnlich belesen ... belesen!“
+
+„Und wie er spricht!“ bemerkte Jeshowikin halblaut.
+
+„Foma! ...“ rief mein Onkel aus, doch das allgemeine Lachen verschlang
+seine Worte. Foma Fomitsch wälzte sich geradezu. Als mein Onkel diese
+Heiterkeit sah, stimmte auch er ein.
+
+„Weiß Gott, ihr habt recht!“ sagte er lachend. „Du bist großmütig, Foma,
+du hast ein gutes Herz: du hast mich glücklich gemacht ... du wirst auch
+Korowkin verzeihen!“
+
+Nur Nastenjka lachte nicht. Sie sah nur mit liebeleuchtenden Blicken zu
+ihrem Verlobten auf, als hätte sie ihm sagen wollen:
+
+„Wie lieb du bist, wie gut, und wie lieb ich dich habe!“
+
+
+
+
+ XVIII.
+
+ Schluß.
+
+
+Fomas Sieg war unwiderruflich – war größer noch, als man sich denken
+kann. Es ist ja wahr: ohne ihn wäre es nie zu dieser Verlobung gekommen
+– die Tatsache, vor der man mit einem Male stand, hob jeden Einwand auf.
+Die Dankbarkeit der Glücklichen war denn auch grenzenlos. Als ich eine
+kleine Anspielung zu machen versuchte, auf welche Weise man Fomas
+Einwilligung erlangt hatte, winkten mir Nastenjka und mein Onkel nur
+flehend mit den Händen ab: nichts davon! nichts davon! Ssaschenjka war
+gleichfalls begeistert für den Ehebundstifter: „Der gute, gute Foma
+Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen dafür sticken!“ sagte sie und tadelte
+mich ernstlich, weil ich „so hartherzig“ sein konnte. Stepan
+Alexejewitsch Bachtschejeff war geradezu verwandelt und hätte mich
+wahrscheinlich erwürgt, wenn es mir nur eingefallen wäre, in seiner
+Gegenwart etwas Schlechtes über Foma zu sagen. Er hing jetzt wie ein
+Schoßhündchen an ihm und sagte zu allem, was dieser sprach: „Ein edler
+Mensch bist du, Foma, der Gelehrteste von allen!“ Was Jeshowikin
+anbetrifft, nun – so hatte seine Freude einfach die letzte Grenze
+erreicht. Der Alte hatte es schon lange geahnt, daß Jegor Iljitsch in
+seine Tochter verliebt war, und seit der Zeit hatte er Tag und Nacht nur
+daran gedacht, wie er die beiden zusammenbringen und glücklich machen
+könnte. Er hatte die Sache so lange hingezogen, wie es nur noch irgend
+ging, und erst dann abgesagt, als ihm nichts anderes mehr übrigblieb. Da
+hatte – Foma ganz unerwarteterweise eingegriffen! Natürlich durchschaute
+der Alte trotz seiner ehrlichen Freude den Schmarotzer Foma nur zu gut.
+Nun war es klar, daß Foma Fomitsch sich für sein ganzes Leben in diesem
+Hause festgesetzt hatte und seine Tyrannei hinfort keine Schranken mehr
+kennen werde. Bekanntlich sagt man sogar von den unangenehmsten, den
+launischsten Menschen, daß sie sich wenigstens für einige Zeit
+besänftigen, wenn man alle ihre Wünsche erfüllt. Foma Fomitsch aber –
+das konnte man schon damals voraussehen – wurde im Gegenteil nur noch
+hochmütiger, nur noch anspruchsvoller und hob die Nase immer noch höher.
+Kurz vor dem Essen, nachdem er sich vollkommen umgekleidet hatte, setzte
+er sich wieder in seinen Ruhestuhl, rief meinen Onkel zu sich und begann
+hierauf in Gegenwart der ganzen Versammlung ihm eine neue Predigt zu
+halten.
+
+„Oberst!“ hub er an, „Sie wollen eine rechtmäßige Ehe schließen. Sind
+Sie sich auch klar ... Sind Sie sich auch jener Pflichten bewußt, die
+...“ usw.
+
+Man denke sich zehn Seiten im Format des „Journal des Débats“, ganze
+zehn Seiten, in denen so gut wie überhaupt nicht von Pflichten die Rede
+ist, sondern nur von dem Verstande, der Frömmigkeit, der Großmut, dem
+männlichen Charakter und der allgemein menschlichen Uneigennützigkeit –
+Foma Fomitschs. Alle waren hungrig, alle wollten essen.
+Nichtsdestoweniger wagte niemand, ihn zu unterbrechen. Alle hörten
+andächtig den ganzen Blödsinn bis zu Ende an. Sogar Bachtschejeff saß
+mit seinem ganzen quälenden Hunger da, ohne sich zu rühren, saß mit der
+größten Ehrfurcht auf einem kleinen Stuhl. Nachdem sich dann Foma
+Fomitsch endlich, endlich genügend an seiner Redekunst erfreut hatte,
+ward auch er sehr guter Laune und trank bei Tisch sogar ziemlich viel zu
+seinen unvermeidlichen Toasten. Darauf machte er verschiedene Witzchen
+über die Verlobten, und alle lachten und spendeten Beifall. Schließlich
+wurden die Witzchen aber dermaßen schlüpfrig und unzweideutig, daß
+selbst Herr Bachtschejeff nicht wußte, wohin er blicken sollte – und daß
+Nastenjka es schließlich nicht mehr aushielt und fortlief. Das war für
+Foma denn ein unbeschreibliches Gaudium. Übrigens wußte er sich sogleich
+zu fassen: in kurzen, beredten Worten schilderte er alle ihre Tugenden
+und brachte zum Schluß ein Hoch auf die Abwesenden aus. Mein Onkel, der
+noch vor einer Minute Höllenqualen ausgestanden hatte, war jetzt sofort
+wieder bereit, Foma Fomitsch zu umarmen. Es war mir überhaupt
+aufgefallen, daß die beiden Verlobten sich ihres Glücks gewissermaßen zu
+schämen schienen; ich hatte bemerkt, daß sie seit dem Augenblick ihrer
+Verlobung noch so gut wie kein Wort untereinander gewechselt hatten. Als
+die Tafel aufgehoben wurde, verschwand mein Onkel plötzlich – niemand
+wußte, wohin. Auf der Suche nach ihm war es dann, daß ich zufällig auch
+auf die Terrasse kam. Dort redete Foma im Triumphstuhl und bei einer
+Tasse Kaffee, ersichtlich stark „ermutigt“. Bei ihm saßen Jeshowikin,
+Bachtschejeff und Misintschikoff. Ich gesellte mich zu ihnen, um ein
+wenig zuzuhören.
+
+„Warum,“ rief Foma aus, „warum bin ich sofort bereit, für meine
+Überzeugungen auf den Scheiterhaufen zu gehen? Und warum ist von euch
+kein einziger fähig, den Scheiterhaufen zu besteigen? Warum, warum?“
+
+„Aber das würde ja doch ganz überflüssig sein, Foma Fomitsch, sich einen
+Scheiterhaufen zu leisten!“ meinte Jeshowikin, der sich natürlich über
+Foma lustig machte. „Was hätte denn das für einen Sinn? Erstens ist es
+doch schmerzhaft und zweitens: verbrennt man dich – was bleibt dann noch
+von dir übrig?“
+
+„Was von mir übrigbleibt? Edelste Asche bleibt übrig! Aber wie solltest
+du das verstehen! – wie solltest du mich richtig zu schätzen verstehen!
+Für euch gibt es keine großen Menschen, außer irgendeinem Cäsar oder
+Alexander von Mazedonien. Doch was hat denn dein Cäsar Großes
+vollbracht? Wen hat er glücklich gemacht? Was hat dein gerühmter
+Alexander der Große getan? Die ganze Welt erobert? Aber gib mir nur ein
+solches Heer, wie er es hatte, und ich werde gleichfalls erobern, und
+auch du wirst erobern, und auch jeder Dritte, Vierte wird erobern ...
+Dafür aber hat er den tugendhaften Kleitos erstochen, ich aber habe den
+tugendhaften Kleitos _nicht_ erstochen! ... Dieser Schuft! Dieser
+Prahlhans! Ruten müßte man ihm geben, aber nicht ihn in der
+Weltgeschichte unsterblich machen ... Und ebenso Cäsar!“
+
+„Aber den Cäsar verschonen Sie doch wenigstens, Foma Fomitsch!“
+
+„Fällt mir nicht ein, den Rüpel! ...“ schrie Foma.
+
+„Und ’s ist recht so: schone ihn auch nicht!“ griff mit Eifer Herr
+Bachtschejeff auf, der gleichfalls mehr als nötig getrunken hatte. „Wozu
+soll man ihn schonen? Alle sind sie Hampelmänner, alle würden sie sich
+am liebsten nur auf einem Fuß um sich selber drehen! Diese Wurstmacher!
+Da wollte vorhin einer von ihnen noch ein Stipendium stiften. Was ist
+denn so ein Stipendium? Der Teufel weiß, was es eigentlich bedeutet!
+Könnte wetten, daß es wieder irgend so ’ne neue Schweinerei ist. Und
+jener andere, dort, vorhin, schwankt auf den Beinen, schwatzt allen
+Unsinn zusammen, will aber noch Rum trinken! Ich aber denke so: Warum
+soll der Mensch nicht trinken? Trink doch, trink, aber dann mußt du auch
+zu stoppen verstehen ... und dann, nach einem Weilchen trink
+meinethalben wieder ... Wozu soll man sie schonen? Alle sind Spitzbuben!
+Nur du allein bist gelehrt und groß, Foma!“
+
+Wenn Herr Bachtschejeff sich jemandem hingab, so gab er sich ihm restlos
+hin, einwandlos und ohne jede Kritik.
+
+Endlich fand ich meinen Onkel im Garten – im entlegensten Teil: hinter
+dem Weiher. Er war nicht allein, sondern mit Nastenjka. Als sie mich
+erblickte, verschwand sie im Augenblick hinter dem Gebüsch, als hätte
+ich sie bei etwas Unrechtem ertappt. Mein Onkel kam mir mit strahlendem
+Gesicht entgegen. In seinen Augen standen, glaube ich, Tränen. Er nahm
+meine beiden Hände und drückte sie krampfhaft.
+
+„Mein Freund!“ sagte er, „ich vermag noch immer nicht, an mein Glück zu
+glauben ... Nastjä kann es auch noch nicht fassen. Wir wundern uns nur
+und danken dem Höchsten ... Sie weinte soeben ... Wirst du mir glauben –
+ich bin noch nicht zur Besinnung gekommen: ich glaube es und glaube es
+auch wieder nicht! Und womit habe ich das nur verdient? Wofür dieses
+Glück? Was habe ich getan? Womit habe ich es verdient?“
+
+„Wenn jemand Glück verdient hat, so sind Sie es, Onkel,“ sagte ich
+herzlich. „Ich habe noch niemals einen so ehrlichen, so guten, so
+prächtigen Menschen gesehen, wie Sie ...“
+
+„Nein, Ssergei, nein, das ist zuviel,“ antwortete er gleichsam betrübt.
+„Das ist ja das schlimmste, daß wir nur dann gut sind – ich rede
+natürlich nur von mir allein – wenn wir es selbst gut haben; wenn wir es
+aber schlecht haben, dann kommt uns nicht zu nahe! Darüber sprachen wir
+soeben noch, Nastjä und ich. Wie erhaben Foma sich auch zeigte, ich habe
+vielleicht doch – wirst du es mir glauben? – bis auf den heutigen Tag
+nicht ganz an ihn geglaubt, wenn ich mir auch immer wieder seine
+Vollkommenheit vorhielt! Selbst gestern glaubte ich nicht, nachdem er
+doch ein solches Geschenk zurückgewiesen hatte! Ich muß es zu meiner
+Schande gestehen! Mein Herz zittert, wenn ich daran denke, was ich
+vorhin getan habe! Aber ich war meiner nicht mehr mächtig ... Als er das
+von Nastjä sagte, da war es mir, als hätte mich etwas bis ins Herz
+verwundet. Ich verstand ihn nicht und handelte wie ein Tiger ...“
+
+„Ach, Onkel! – das war sogar sehr richtig –“
+
+Mein Onkel winkte wieder nur ab.
+
+„Nein, nein, Freund, sprich nicht so! – das kommt alles ganz einfach nur
+von der Verderbtheit meiner Natur, weil ich ein grausamer und
+wollüstiger Egoist bin und mich rücksichtslos meinen Leidenschaften
+hingebe. Das sagt auch Foma.“ (Was sollte ich darauf erwidern?) „Du
+weißt nicht, Ssergei,“ fuhr er mit tiefem Gefühl fort, „wie oft ich
+gereizt, unnachsichtig, ungerecht, anmaßend gewesen bin – und nicht nur
+Foma gegenüber. Und jetzt habe ich mich alles dessen wieder erinnert, es
+ist mir zum Bewußtsein gekommen, und ich schäme mich, daß ich bis jetzt
+noch nichts getan habe, um dieses Glückes würdig zu sein. Nastjä sagte
+soeben Ähnliches von sich, wenn ich auch nicht weiß, was sie für Sünden
+haben könnte; denn sie ist doch ein Engel – kein Mensch! Sie sagte mir,
+daß wir Gott unendlich viel schuldig sind, und daß wir uns jetzt bemühen
+müssen, besser zu sein und Gutes zu tun ... Wenn du gehört hättest, wie
+begeistert, wie schön sie sprach! Himmlischer Vater, was das für ein
+Mädchen ist!“
+
+Er verstummte erregt. Nach einer Weile fuhr er fort:
+
+„Wir haben beschlossen, Freund, vor allem zu Foma gut zu sein, zu meiner
+Mutter und zu Tatjana Iwanowna. Aber Tatjana Iwanowna! Was sagst du
+dazu! Was für ein guter Mensch sie ist! Oh, wieviel ich allen abzubitten
+habe! Auch dir, mein Freund ... Aber wenn jetzt jemand wagen sollte,
+Tatjana Iwanowna zu beleidigen, oh! dann ... Ach, was rede ich da viel!
+... Für Misintschikoff muß man auch etwas tun.“
+
+„Ja, Onkel, ich habe jetzt meine Meinung über Tatjana Iwanowna geändert.
+Man muß sie hochachten und Mitleid mit ihr haben.“
+
+„Eben, eben!“ bestätigte mein Onkel eifrig. „Man _muß_ sie achten! Und
+da, zum Beispiel, Korowkin ... Du wirst im stillen gewiß über ihn
+gelacht haben,“ meinte er mit zaghaftem Seitenblick auf mich, „und wir
+alle haben ja über ihn gelacht ... Aber das war doch vielleicht
+unverzeihlich von uns ... Er kann doch der beste, der prächtigste Mensch
+sein ... Im übrigen aber – das Schicksal ... Er hat vielleicht viel
+Unglück gehabt ... Du glaubst es nicht, aber es kann doch wirklich so
+sein.“
+
+„Wieso, Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?“
+
+Und ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß selbst in dem gesunkensten
+Geschöpf sich noch die höchsten menschlichen Gefühle erhalten können,
+daß die Tiefe der Menschenseele unergründlich sei, daß man die
+Gefallenen nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil versuchen müsse,
+sie wieder aufzurichten – daß das allgemein angenommene Maß des Guten
+und Bösen und des sittlichen Wertes nicht richtig sei, usw. Mit einem
+Wort, ich geriet in Begeisterung und erzählte meinem Onkel sogar von der
+Schule der Materialisten und Skeptiker. Zum Schluß zitierte ich noch ein
+Gedicht von Puschkin – „Wenn aus dem Dunkel der Verirrung“ ... – kurz,
+mein Onkel war schließlich auch in vollständiger Begeisterung.
+
+„Mein Freund, mein Freund!“ sagte er, bis ins Herz gerührt, „du
+verstehst mich vollkommen, du hast alles, was ich selbst sagen wollte,
+viel besser ausgedrückt, als ich es verstanden hätte. So, so ist es,
+genau so! Herrgott! Weshalb ist der Mensch böse? Weshalb bin ich so oft
+böse, wenn es doch so wunderschön ist, gut zu sein? Dasselbe hat auch
+Nastjä soeben gesagt ... Aber sieh doch nur, wie schön es hier am Weiher
+ist,“ sagte er plötzlich, sich umschauend, „sieh doch diese ganze Natur!
+Welch ein Bild! Sieh mal dort diesen Baum. Den Stamm kann kein Mann
+umfassen! Welche Kraft, welch ein Saft, was für Blätter! Und sieh nur
+die Sonne! Wie sauber jetzt alles nach dem Regen ist, wie frisch! ...
+Man könnte ja glauben, daß auch die Bäume etwas begreifen, fühlen und
+das Leben genießen ... Oder sollten sie es wirklich nicht tun – was? Was
+meinst du?“
+
+„Warum nicht, Onkel, das ist sehr leicht möglich. Auf ihre Art
+natürlich.“
+
+„Eben, natürlich auf ihre Art ... Wunderbarer, wundervoller Schöpfer!
+... Aber du mußt dich doch noch gut dieses Gartens entsinnen, Sserjosha?
+– Wie du hier spieltest und umherliefst, als du klein warst! Ich
+erinnere mich noch so gut, wie du klein warst,“ sagte er plötzlich und
+blickte mich mit einem Ausdruck von so grenzenloser Liebe und so
+unfaßlichem Glück an. „Nur hierher zum Weiher durftest du nicht allein
+gehen. Und weißt du noch, wie einmal am Abend die selige Katjä dich zu
+sich rief und dich streichelte ... Du warst im Garten umhergelaufen,
+vorher, und deine Bäckchen waren ganz rot; dein Haar war noch ganz
+hellblond und ringelte sich zu Löckchen ... Sie spielte mit deinen
+Locken und dann sagte sie: ‚Es ist gut, daß du das Waisenkind zu uns
+genommen hast.‘ Entsinnst du dich dessen noch, oder nicht mehr?“
+
+„Kaum, kaum, lieber Onkel.“
+
+„Es war damals Abend, und die Sonne schien auf euch beide, und ich saß
+in der Ecke, rauchte meine Pfeife und sah zu euch hinüber ... Ich ...
+weißt du, Sserjosha, ich fahre in jedem Monat einmal zu ihr, zu ihrem
+Grabe, in die Stadt,“ fügte er mit gesenkter Stimme hinzu, deren leises
+Beben aufsteigende, unterdrückte Tränen verriet. „Ich habe auch mit
+Nastjä vorhin davon gesprochen; sie sagte, daß wir jetzt beide zusammen
+zu ihr fahren werden ...“
+
+Mein Onkel verstummte, um seine Erregung niederzuringen.
+
+In dem Augenblick näherte sich uns Widopljässoff.
+
+„Widopljässoff!“ rief mein Onkel erschrocken aus, als er ihn erblickte.
+„Schickt dich Foma Fomitsch?“
+
+„Nein, Herr, ich bin mehr in eigener Angelegenheit gekommen.“
+
+„Ah! nun gut! Dann können wir gleich Näheres über Korowkin erfahren ...
+Ich wollte schon vorhin nachfragen ... Ich hatte ihm, weißt du,
+anbefohlen, Korowkin zu bewachen. Nun, was ist es, Widopljässoff?“
+
+„Erlaube mir, zu erinnern,“ sagte der Diener, „daß der Herr gestern
+hinsichtlich meiner Bitte Hilfe zu versprechen geruhten, sowie Schutz
+vor den mir alltäglich zugefügten Beleidigungen ...“
+
+„Du kommst wieder mit deinem Familiennamen?“ fragte mein Onkel wahrhaft
+entsetzt.
+
+„... Die alltäglich und allstündlich mir zugefügten Beleidigungen ...“
+
+„Ach, Widopljässoff, Widopljässoff! Was soll ich nur mit dir tun?“
+fragte mein Onkel ratlos. „Was können denn das für Beleidigungen sein?
+Wenn das so weitergeht, wirst du ja einfach wahnsinnig werden und in der
+Irrenanstalt dein Leben beschließen!“
+
+„Ich glaube, daß ich mit meinem Verstande ...“ begann Widopljässoff.
+
+„Ach, das ist es doch nicht!“ unterbrach ihn mein Onkel. „Ich sage es
+nur so, nicht um dich zu kränken, sondern um dir Vernunft zuzureden.
+Nun, was können denn das für Beleidigungen sein? Es ist doch
+wahrscheinlich nur ein dummer Scherz!“
+
+„Sie lassen mich nicht ruhig vorübergehen.“
+
+„Wer das?“
+
+„Sowohl alle wie vornehmlich diese Matrjona. Durch sie muß ich fortan
+mein ganzes Leben lang leiden. Wie bekannt, haben alle vornehmen
+Menschen, welche mich von Kindesbeinen an gesehen haben, gesagt, daß ich
+ganz wie ein Ausländer aussehe, vornehmlich in meinem Gesicht. Und
+deswegen muß ich jetzt dulden! Sobald ich nur vorübergehe, schreien mir
+alle häßliche Worte nach – sogar kleine Kinder, die man zu allererst
+durchprügeln müßte, selbst die schreien mir nach ... Auch jetzt, als ich
+herkam, schrien sie wieder ... Und das ist zuviel! Wenn der Herr mich zu
+verteidigen geruhen wollten, mit Ihrem Schirm und Schutz – denn ich –
+... kann ... nicht mehr!“
+
+„Ach, Widopljässoff! ... Was schreien sie dir denn nach? Es wird doch
+bestimmt nur irgendeine Dummheit sein, die man überhaupt nicht beachten
+sollte!“
+
+„Es läßt sich nicht sagen.“
+
+„Weshalb nicht?“
+
+„Es ist ekelhaft auszusprechen.“
+
+„Ach was, sag es nur!“
+
+„Sie rufen: Grischka der Franzose – hat eine rote Hose.“
+
+„Nun? Und? Ach, Gott, und ich dachte, daß es weiß der Himmel was sei! So
+spei doch einfach aus und geh deines Weges!“
+
+„Habe gespien: sie schreien dann noch mehr.“
+
+„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „er beklagt sich darüber, daß er hier
+kein Leben habe. So schicken Sie ihn doch nach Moskau zu jenem
+Schönschreiber. Sie sagten doch, daß er dort einmal bei einem solchen
+gewesen sei.“
+
+„Ach, Freund, der hat gleichfalls tragisch geendet!“
+
+„Wieso?“
+
+„Sie hatten das Unglück,“ sagte Widopljässoff, „sich fremdes Eigentum
+anzueignen, wofür sie, ungeachtet ihres ganzen Talents, ins Gefängnis
+gebracht wurden, woselbst sie jetzt unrettbar verloren sind.“
+
+„Gut, gut, Widopljässoff: beruhige dich nur. Ich werde alles das
+untersuchen und erledigen,“ sagte mein Onkel, „ich verspreche es dir!
+Nun, aber was macht Korowkin? Schläft er?“
+
+„Mit nichten. Sie haben geruht fortzufahren. Ich bin aus diesem Grunde
+auch gekommen, um seine Abreise zu melden.“
+
+„Wie das – fortgefahren? Was sprichst du? Wie hast du ihn denn
+fortgelassen?“
+
+„Aus reinem Mitleid. Es war traurig anzusehen. Als sie erwachten und
+sich des Vorgefallenen erinnerten, da schlugen sie sich vor den Kopf und
+schrien herzzerreißend ...“
+
+„Herzzerreißend? ...“
+
+„Ehrerbietiger gesagt: sie gaben verschiedene Schreie von sich. Sie
+schrien: wie könnten sie sich jetzt noch dem schönen Geschlecht zeigen?
+Und dann sagten sie: ‚Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‘ Und so
+sprachen sie die ganze Zeit mitleiderregend und nur in gewählten
+Worten.“
+
+„Habe ich dir nicht gesagt, Ssergei, daß er ein überaus zartfühlender
+Mensch ist? ... Aber wie konntest du ihn denn fortfahren lassen,
+Widopljässoff, wenn ich dir doch anbefohlen hatte, ihn zu bewachen? Ach
+Gott, ach Gott!“
+
+„Mehr infolge meines Mitleids. Sie baten mich himmelhoch, nichts zu
+erzählen. Der Postknecht, mit dem sie gekommen waren, hatte die Pferde
+inzwischen gefüttert und schirrte sie dann wieder an. Und für die vor
+drei Tagen eingehändigte Summe befahlen sie, ihren höflichsten Dank zu
+übermitteln und zu sagen, daß sie die Schuld mit der ersten Post
+zurücksenden würden.“
+
+„Was ist das für eine Summe, Onkel?“
+
+„Sie nannten fünfundzwanzig Rubel,“ sagte Widopljässoff.
+
+„Ach, das habe ich ihm, weißt du, auf der Station geliehen: sein Geld
+reichte nicht ganz. Er wird es mir selbstverständlich mit der nächsten
+Post zurücksenden, wie er gesagt hat ... Ach, mein Gott, wie schade, daß
+er fortgefahren ist! Soll ich ihm nicht nachschicken? Was meinst du,
+Ssergei?“
+
+„Nein, Onkel, schicken Sie ihm lieber nicht nach.“
+
+„Das denke ich auch. Sieh, Ssergei, ich bin natürlich kein Philosoph,
+aber ich glaube, daß in jedem Menschen doch viel mehr Gutes ist, als es
+äußerlich scheint. So ist es auch mit Korowkin: er hat die Schande nicht
+ertragen ... Aber gehen wir jetzt zu Foma! Wir haben uns sowieso zu
+lange hier aufgehalten. Er kann sich gekränkt fühlen, er kann es als
+Undankbarkeit, als Unaufmerksamkeit auffassen ... Gehen wir also! Nein,
+dieser Korowkin, dieser Korowkin!“
+
+
+
+
+ Nachbemerkungen.
+
+
+Der Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint, und der Genius der
+Güte hat sich in der Person Foma Fomitschs endgültig im Herrenhause von
+Stepantschikowo niedergelassen. Zwar könnte man noch eine Menge
+Erklärungen, Erläuterungen usw. hinzufügen, doch im Grunde sind diese
+jetzt ganz überflüssig. Wenigstens meiner Meinung nach. An Stelle aller
+Ergänzungen und Zusätze werde ich nur ein paar Worte über das fernere
+Schicksal meiner Helden sagen. Ohne das geht es ja bekanntlich nicht!
+Die Kunst selbst will es so! Also –
+
+Die Trauung des glücklichen Brautpaares fand in der sechsten Woche nach
+ihrer Verlobung statt. Die Hochzeit wurde sehr still gefeiert, nur im
+Familienkreise, ohne jeden Pomp und vor allem ohne überflüssige Gäste.
+Misintschikoff und ich waren die Brautführer: ich geleitete Nastenjka,
+er meinen Onkel. Übrigens waren doch einige Gäste zugegen. Die erste und
+wichtigste Person war natürlich Foma Fomitsch. Ihm wurde alles zu Willen
+getan – wie auf den Händen wurde er getragen. Leider aber sollte es
+geschehen, daß man einmal vergaß, ihm Champagner zu reichen, und sofort
+– hub das alte Lied von neuem an: Foma sprang auf, weinte, grölte, lief
+in sein Zimmer, schloß die Tür zu, schrie, daß man ihn jetzt nicht mehr
+achte, daß jetzt „neue Menschen“ in die Familie kämen und folglich er,
+Foma, nichts mehr sei oder nur soviel wie ein Holzspan, den man zum
+Fenster hinauswerfen könne. Mein Onkel war verzweifelt, Nastenjka weinte
+und die Generalin fiel nach alter Gewohnheit in Ohnmacht ... Das
+Hochzeitsmahl glich alsbald einem Totenschmaus. Und ein solches
+Zusammenleben mit dem Wohltäter Foma Fomitsch stand meinem armen Onkel
+und der armen Nastenjka noch ganze sieben Jahre bevor! Bis zu seinem
+Tode (Foma Fomitsch ist vor einem Jahr gestorben) war er eigensinnig,
+launisch, ärgerte sich täglich und hielt allen Moralpredigten. Doch die
+Ehrfurcht vor ihm verminderte sich bei den von ihm Beglückten nicht
+etwa, sondern wuchs noch täglich, stündlich, in genauem Verhältnis zur
+Zunahme seiner Launenhaftigkeit. Jegor Iljitsch und Nastenjka waren
+nämlich so glücklich miteinander, daß sie für ihr Glück fürchteten: sie
+glaubten, es sei zu groß, sei von ihnen nicht verdient, Gott gäbe ihnen
+zuviel Glück, und späterhin würden sie es vielleicht mit Leid und Kummer
+bezahlen müssen. So konnte Foma Fomitsch in diesem friedlichen Hause
+buchstäblich alles tun, was er nur wollte. Und was tat er nicht alles in
+diesen sieben Jahren! Es ist schwer, ja, es ist unmöglich, sich
+vorzustellen, bis zu welchen zügellosen Phantasien sich seine
+übersättigte, müßige Seele in der Erfindung der raffiniertesten Launen
+einer wahrhaft lukullischen Moralität verstieg. Im dritten Jahre nach
+der Heirat meines Onkels starb meine Großtante, die Generalin. Der
+verwaiste Foma war die Verzweiflung selbst. Sogar jetzt wird in
+Stepantschikowo mit wahrem Entsetzen von seinem Zustande in diesen Tagen
+gesprochen. Als die Gruft zugeschüttet wurde, wollte er sich mit aller
+Gewalt von den anderen, die ihn krampfhaft festhielten, losreißen: in
+einem fort schrie er, daß man ihn zusammen mit ihr beerdigen solle!
+Einen ganzen Monat gab man ihm weder eine Gabel noch ein Messer in die
+Hand, und einmal hatten ganze vier Menschen ihm mit Gewalt den Mund
+öffnen müssen, um eine Stecknadel, die er hatte verschlucken wollen,
+wieder herauszunehmen. Jemand von den gleichgültigeren Zeugen des
+Kampfes hat zwar gemeint, daß Foma Fomitsch, wenn ihm im Ernst darum zu
+tun gewesen wäre, diese Stecknadel während des Kampfes schon tausendmal
+hätte verschlucken können. Doch diese Behauptung war von allen mit
+entschiedenem Unwillen zurückgewiesen worden, und man hatte dem
+Betreffenden sogleich Herzensroheit vorgeworfen. Nur Nastenjka schwieg
+darüber und lächelte kaum merklich, während mein Onkel stets ein wenig
+unruhig wurde, wenn er dieses Lächeln sah. Ich muß hier bemerken, daß
+Foma zwar wie ehedem im Hause meines Onkels sich vieles herausnehmen und
+nach Herzenslust launisch sein konnte; doch die anmaßenden, die geradezu
+unverschämten Moralpredigten, die er früher meinem Onkel hielt, die gab
+es jetzt nicht mehr. Foma beklagte sich, weinte, machte Vorwürfe,
+tadelte; aber er durfte nicht mehr frech werden, – solche Szenen, wie z.
+B. die wegen des Titels Exzellenz, waren jetzt nicht mehr denkbar. Es
+war das, glaube ich, auf Nastenjkas Einfluß zurückzuführen. Fast
+unmerklich zwang sie Foma, in manchem nachzugeben und sich in manches zu
+fügen. Sie duldete es nicht, daß ihr Mann beleidigt wurde, und sie
+setzte ihren Willen auch durch. Foma erkannte bald, daß sie ihn fast
+_durchschaute_. Ich sage: _fast_; denn andererseits verwöhnte Nastenjka
+ihn gleichfalls und stimmte ihrem Mann jedesmal bei, wenn dieser
+begeistert seinen Weisen in den Himmel hob. Sie wollte offenbar die
+Zuhörer zwingen, alles an ihrem Mann zu achten, und so suchte sie auch
+seine Anhänglichkeit an Foma Fomitsch vor anderen stets gutzuheißen. Ich
+bin überzeugt, daß ihr gutes Herz alles Leid, das ihr früher von ihm
+zugefügt worden war, verziehen und vergessen hatte, wahrscheinlich schon
+in demselben Augenblick, als er sie mit meinem Onkel vereinigte.
+Außerdem hatte sie sich, glaube ich, im Ernst und mit ganzem Herzen dem
+Gedanken hingegeben, daß man von einem „Märtyrer“, einem ehemaligen
+Narren, nicht viel verlangen dürfe, sondern ihn pflegen und ihn die
+„Wunden“ vergessen machen müsse. Die arme Nastenjka hatte selbst zu den
+Erniedrigten gehört, sie hatte selbst gelitten und daher wußte sie, wie
+Erniedrigtsein ist. Schon nach einem Monat wurde Foma kleinlauter, wurde
+sogar freundlich und bescheiden; dafür aber kamen jetzt neue, überaus
+unerwartete Anfälle: er verfiel nämlich bisweilen in einen sogenannten
+magnetischen Schlaf, der alle zuerst heftig erschreckte. Der Arme sprach
+zum Beispiel etwas ganz Gleichgültiges, oder er lachte – und plötzlich
+war er dann erstarrt, und zwar genau in der Stellung, in der er sich im
+letzten Augenblick vor dem Anfall befunden hatte: wenn er zum Beispiel
+gelacht hatte, so erstarrte er mit einem lachenden Gesicht; hatte er
+etwas in der Hand gehalten, eine Gabel vielleicht, einen Löffel, so
+blieb die Gabel in der erhobenen Hand. Später sank die Hand natürlich
+nieder, doch Foma Fomitsch fühlte nichts und entsann sich auch später
+nicht, daß sie niedergesunken sei. Er saß, sah, blinzelte sogar, sprach
+jedoch nichts, hörte nichts und begriff nichts. Und das dauerte mitunter
+eine ganze Stunde an. Natürlich verging dann das ganze Haus fast vor
+Angst; alle hielten den Atem an, schlichen nur auf den Fußspitzen,
+weinten ... bis Foma endlich zu erwachen geruhte. Dann fühlte er sich
+unsäglich erschöpft und versicherte, während der ganzen Zeit seines
+Starrkrampfes nichts gesehen und nichts gehört zu haben. Das hatte
+nämlich wirklich noch gefehlt, daß dieser Mensch ganze Stunden lang sich
+freiwillig Qualen auferlegte, einzig zu dem Zweck, um dann sagen zu
+können: „Seht auf mich, seht, um wieviel ich mehr empfinde als ihr!“
+Einmal geschah es auch, daß Foma Fomitsch ganz unvermittelt meinen Onkel
+wegen dessen „Unehrerbietung und fortwährender Beleidigungen“ anzeterte
+und zu Herrn Bachtschejeff fuhr, bei dem er fortan leben wollte. Stepan
+Alexejewitsch Bachtschejeff, der nach meines Onkel Verlobung und
+Hochzeit sich noch oft mit Foma gestritten, ihn jedoch zu guter Letzt
+jedesmal wieder um Verzeihung gebeten hatte, entschloß sich diesmal mit
+ungewöhnlichem Eifer, energisch in die Sache einzugreifen: er empfing
+Foma mit wahrem Enthusiasmus, fütterte ihn bis zum Platzen und beschloß
+hierauf, sich formell von der Freundschaft meines Onkels loszusagen und
+sogar gerichtlich eine Klage gegen ihn einzureichen. Es gab dort
+irgendwo ein strittiges Stück Land, um das sie aber eigentlich nie
+gestritten hatten, da es ihm von meinem Onkel ohne jeden Streit
+freiwillig abgetreten worden war. Ohne Foma ein Wort davon zu sagen,
+ließ Herr Bachtschejeff die Pferde anschirren und fuhr in die Stadt,
+setzte dort die Klage auf und reichte sie ein, mit dem Ersuchen, ihm
+formell das Stück Land zuzusprechen, mit Vergütung der Zinsen und
+Erstattung der Gerichtskosten, um auf diese Weise die „Räuberei und das
+eigenmächtige Verfahren“ zu bestrafen. Inzwischen aber war es Foma
+langweilig geworden, und so hatte er schon am nächsten Tage meinem Onkel
+– der ihm nachgefahren war und um Verzeihung gebeten hatte –, wieder
+verziehen und war dann mit ihm nach Stepantschikowo zurückgekehrt. Der
+Zorn des Herrn Bachtschejeff, der, als er zu Hause ankam, Foma nicht
+mehr vorfand, soll fürchterlich gewesen sein. Nach drei Tagen aber
+erschien auch er mit dem Eingeständnis seiner Schuld in Stepantschikowo,
+bat meinen Onkel unter Tränen um Verzeihung und zog seine Klage zurück.
+Mein Onkel versöhnte ihn noch am selben Tage auch mit Foma Fomitsch,
+worauf Stepan Alexejewitsch diesem wieder wie ein Hündchen ergeben war
+und zu jedem Wort hinzufügte: „Du bist ein kluger und großer Mensch,
+Foma, du bist wirklich mit einem Wort ein Genie!“
+
+Foma Fomitsch ruht jetzt neben der Generalin. Über seinem Grabe erhebt
+sich ein kostbares Monument aus weißem Marmor, das mit Trauerzitaten und
+Lobpreisungen seiner Person von oben bis unten bedeckt ist. Zuweilen
+gehen Jegor Iljitsch und Nastenjka, wenn sie einen Spaziergang machen,
+auch auf den Friedhof, um an Fomas Grab zu beten. Auch jetzt noch können
+sie nicht gleichgültig von ihm sprechen, sie erinnern sich jedes Wortes,
+das er gesprochen, aller Speisen, die er gern gegessen, und alles
+dessen, was er geliebt hat. Seine Sachen werden wie Kostbarkeiten
+aufbewahrt. Mein Onkel und Nastjä, die sich nach seinem Tode zuerst ganz
+verwaist fühlten, haben sich jetzt noch mehr aneinandergeschlossen.
+Kinder hat Gott ihnen nicht geschenkt – sie sind sehr traurig darüber,
+wagen aber nie zu klagen. Ssaschenjka hat schon vor langer Zeit einen
+prächtigen jungen Mann geheiratet. Iljuscha studiert in Moskau. So leben
+denn mein Onkel und Nastjä ganz allein in Stepantschikowo und sind immer
+noch genau so verliebt ineinander. Die Sorge des einen um den anderen
+ist geradezu rührend. Wenn einer von ihnen früher sterben sollte, was
+doch wohl einmal geschehen wird, so wird ihn der andere, denke ich, kaum
+eine Woche überleben. Doch gebe ihnen Gott noch ein langes Leben! Sie
+empfangen jeden Gast mit unendlicher Herzlichkeit und sind bereit, mit
+einem Unglücklichen alles zu teilen, was sie nur haben. Nastenjka liest
+oft die Lebensgeschichten der Heiligen und sagt gerührt, daß bloß „bei
+Gelegenheit Gutes tun“ zu wenig sei, man müsse alles, was man hat, den
+Armen hingeben und in freiwilliger Armut glücklich sein. Hätten sie
+nicht Iljuscha und Ssaschenjka, so würde mein Onkel wohl schon längst
+alles unter die Armen verteilt haben; denn er ist in allem vollkommen
+einverstanden mit seiner Frau. Praskowja Iljinitschna lebt bei ihnen und
+tut ihnen mit Freuden alles zu Willen. Sie führt vor allem die
+Wirtschaft. Herr Bachtschejeff hat ihr zwar bald nach der Hochzeit
+meines Onkels einen Heiratsantrag gemacht, sie aber hat ihn rund
+abgeschlagen. Daraus schloß man zunächst, daß sie wohl ins Kloster gehen
+wolle und werde, aber auch das geschah nicht. Sie hat von Natur die
+bemerkenswerte Eigenschaft, sich vollkommen denen zu opfern, die sie
+liebhat, sich zu jeder Zeit ihnen unterzuordnen, ihnen die Wünsche von
+den Augen abzulesen, allen ihren Launen nachzugehen, sie zu warten und
+zu pflegen und zu bedienen. Jetzt, nach dem Tode ihrer Mutter, der
+Generalin, hält sie es für ihre Pflicht, bei ihrem Bruder und Nastenjka
+zu bleiben und sich diesen unterzuordnen. Der alte Jeshowikin lebt noch,
+und in der letzten Zeit besucht er seine Tochter immer häufiger. Anfangs
+brachte er meinen Onkel zur Verzweiflung damit, daß er sich und seine
+Krabben (so nennt er seine Kinder) mit erklärter Absichtlichkeit von
+Stepantschikowo fernhielt. Alle Aufforderungen seines Schwiegersohnes
+waren fruchtlos: Das geschah jedoch von ihm nicht so sehr aus Stolz als
+aus Empfindlichkeit und Argwohn. Der Gedanke, daß man ihn, den Armen,
+aus Barmherzigkeit im reichen Hause empfangen, daß man ihn im Herzen
+aufdringlich und lästig finden könnte – dieser Gedanke lastete schwer
+auf ihm. Er wies sogar Nastenjkas Hilfe zurück und nahm nur im äußersten
+Notfall etwas an. Von meinem Onkel wollte er unter keiner Bedingung
+etwas annehmen. Nastenjka hatte sich sehr geirrt, als sie mir seinerzeit
+sagte, ihr Vater spiele nur deshalb den Narren, weil er damit ihr,
+seiner Tochter, Nutzen zu bringen hoffe. Freilich wollte er sie damals
+gerne mit dem Oberst verheiraten, aber den Narren spielte er doch wohl
+mehr aus innerem Bedürfnis: um der in ihm angesammelten Wut einen
+Ausgang zu verschaffen. Das Bedürfnis, zu spotten und seine scharfe
+Zunge zu üben, war ihm angeboren. So machte er aus sich den niedrigsten
+Schmeichler, um gleichzeitig mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit
+zeigen zu können, daß er es nur zum Schein tat. Und je mehr er
+schmeichelte, um so beißender und unverhohlener schaute dann aus der
+Schmeichelei sein Spott hervor. Das lag ihm nun einmal im Blut.
+Schließlich gelang es doch, seine „Krabben“ in den besten Lehranstalten
+Moskaus und Petersburgs unterzubringen, aber erst dann, als Nastenjka
+ihm schwarz auf weiß bewiesen hatte, daß sie es nicht mit dem Gelde
+ihres Gatten tue, vielmehr mit den Dreißigtausend, die Tatjana Iwanowna
+ihr zur Verlobung geschenkt hatte. Diese dreißigtausend Rubel waren in
+Wirklichkeit natürlich niemals von Tatjana Iwanowna angenommen worden;
+damit diese sich nicht gekränkt fühlte, hatte man ihr einfach gesagt,
+daß man sich sogleich an sie wenden werde, sobald man einmal in
+Verlegenheit geraten sollte. Und so tat man denn schließlich auch und
+lieh von ihr „scheinbar“ größere Summen. Doch Tatjana Iwanowna starb vor
+drei Jahren, und da fielen Nastjä ihre Dreißigtausend von selbst zu. Der
+Tod Tatjana Iwanownas kam ganz unerwartet. Die ganze Familie war von
+einem benachbarten Gutsbesitzer zum Ball eingeladen worden, Tatjana
+Iwanowna hatte sich bereits ihr Ballkleid angezogen und einen
+wundervollen Kranz weißer Rosen ins Haar gesteckt, als ihr plötzlich
+schlecht wurde: sie setzte sich auf den nächsten Stuhl und – starb. Mit
+diesem Kranz weißer Rosen wurde sie auch begraben. Nastjä war
+untröstlich. Tatjana Iwanowna war von allen wie ein Kind geliebt und
+verwöhnt worden. Nach ihrem Tode setzte sie noch alle durch ihr
+vernünftiges Testament in Erstaunen: außer Nastjäs Dreißigtausend hatte
+sie alles übrige, an dreihunderttausend Rubel, zur Erziehung armer
+Waisenmädchen vermacht, denen bei Verlassen der Erziehungsanstalt auch
+noch eine gewisse Summe ausgezahlt werden sollte. Noch vor Tatjana
+Iwanownas Hinscheiden heiratete Fräulein Perepelizyna, die nach dem Tode
+der Generalin ruhig in Stepantschikowo verblieben war, wahrscheinlich in
+der Absicht, sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Inzwischen war
+aber der Besitzer von Mischino, jenem selben kleinen Gut, wohin Obnoskin
+mit seiner Mutter und später mit Tatjana Iwanowna gefahren war, Witwer
+geworden. Dieser ehemalige Beamte war ein entsetzlicher Schikaneur. Er
+hatte von der ersten Frau sechs Kinder. Da er bei der Perepelizyna Geld
+vermutete, so machte er gelegentlich einige Andeutungen, die auf eine
+Heirat anspielten. Sie aber warf sich ihm sofort an den Hals. Leider war
+die Perepelizyna arm wie eine Kirchenmaus: alles, was sie in die Ehe
+brachte, waren dreihundert Rubel, die Nastenjka ihr zur Hochzeit
+geschenkt hatte. Jetzt führt das Ehepaar vom Morgen bis zum Abend Krieg
+miteinander: sie zieht seine Kinder an den Haaren und verabreicht ihnen
+Ohrfeigen; ihm zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens erzählt man es in
+der ganzen Umgegend) und hält ihm beständig vor, daß sie die Tochter
+eines Majors sei. – Misintschikoff hat sein Leben gleichfalls
+einzurichten gewußt. Er gab vernünftigerweise alle seine Hoffnungen auf
+Tatjana Iwanowna auf und machte sich allmählich daran, die
+Landwirtschaft zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem reichen Grafen,
+einem Gutsbesitzer, der etwa achtzig Werst von Stepantschikowo
+dreitausend Seelen besaß, doch nur sehr selten sein Gut besuchte. Da der
+Graf in Misintschikoff einige Fähigkeiten entdeckt zu haben glaubte und
+sich im übrigen auf die Empfehlung meines Onkels verließ, bot er ihm die
+Stelle eines Verwalters seiner Güter an, nachdem er seinen früheren
+Verwalter fortgejagt hatte – einen Deutschen, der aber trotz der
+berühmten deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen gründlich bestohlen hatte.
+Nach fünf Jahren war das Gut nicht wiederzuerkennen: die Bauern lebten
+im Wohlstande; Misintschikoff hatte Verwaltungsbücher eingeführt und
+führte sie fehlerlos – was niemand von ihm erwartet hätte; die Einnahmen
+hatten sich verdoppelt – mit einem Wort: Der neue Verwalter hatte sich
+trefflich eingeführt, und sein Ruhm ertönte bereits durch das ganze
+Gouvernement. Wie groß aber war die Überraschung und der Kummer des
+Grafen, als Misintschikoff nach fünf Jahren, ungeachtet aller Bitten und
+Gehaltserhöhungen, sein Amt niederlegte! Der Graf glaubte, daß ihn die
+Nachbargutsbesitzer fortgelockt hätten oder vielleicht sogar jemand aus
+einem anderen Gouvernement. Um wieviel größer war aber das Erstaunen
+aller, als plötzlich, im zweiten Monat nach seinem Austritt, Iwan
+Iwanytsch Misintschikoff ein schönes Gut von hundert Seelen besaß, das
+nur vierzig Werst von dem des Grafen entfernt war, und das er von einem
+verschuldeten Husarenoffizier, seinem früheren Regimentskameraden,
+gekauft hatte! Diese hundert Seelen verpfändete er sogleich, und nach
+einem Jahr war er im Besitz von noch weiteren sechzig Seelen! Jetzt ist
+er selbst Gutsherr, und seine Wirtschaft ist mustergültig. Alle wundern
+sich und fragen, woher er wohl das Geld dazu erhalten haben mag. Einige
+aber schütteln nur das Haupt und schweigen. Iwan Iwanytsch jedoch ist
+vollkommen ruhig und fühlt sich durchaus in seinem Recht. Jetzt hat er
+aus Moskau seine Schwester zu sich gerufen, dieselbe, die ihm einst ihre
+letzten drei Rubel zur Wanderung nach Stepantschikowo gegeben hatte –
+ein sehr nettes Mädchen, nicht mehr ganz jung, bescheiden, zärtlich,
+gebildet, nur etwas eingeschüchtert. Vorher hatte sie in Moskau als
+Gesellschafterin bei einer „Wohltäterin“ gelebt; jetzt hängt sie mit
+aller Liebe am Bruder, führt in seinem Hause die Wirtschaft, hält jeden
+seiner Wünsche für ein Gesetz und sich selbst für vollkommen glücklich.
+Ihr Bruder verwöhnt sie nicht gerade und hält sie, wie man zu sagen
+pflegt, etwas „unter dem Daumen“, was sie aber gar nicht zu merken
+scheint. In Stepantschikowo hat man sie sehr liebgewonnen, und es heißt,
+Herr Bachtschejeff sei nicht abgeneigt – ... und er würde wohl auch bei
+ihr anhalten, fürchte aber eine Absage. Doch von Herrn Bachtschejeff
+hoffe ich noch ein anderes Mal zu erzählen, in einer neuen Erzählung,
+und dann ausführlicher.
+
+Das waren, denke ich, alle ... Ja! richtig! fast hätte ich vergessen:
+Gawrila ist sehr gealtert und hat sein Französisch ganz und gar
+verlernt. Aus Falalei ist ein guter Kutscher geworden. Der arme
+Widopljässoff aber mußte tatsächlich schon sehr bald in einer
+Irrenanstalt untergebracht werden: er ist dort, wenn ich mich nicht
+täusche, auch schon gestorben ... In den nächsten Tagen muß ich nach
+Stepantschikowo fahren – dann werde ich mich bei meinem Onkel nach ihm
+erkundigen.
+
+
+
+
+ Fußnoten
+
+
+[1] Bauern, die zur Zelt der Leibeigenschaft den Kirchen und Klöstern
+gehörten. E. K. R.
+
+[2] Führer des Kosakenaufstandes von 1773, gab sich für den ermordeten
+Peter III. aus, wurde 1775 hingerichtet. E. K. R.
+
+[3] Treu. E. K. R.
+
+[4] Schändlich. E. K. R.
+
+[5] Von „Bolwann“ – Schafskopf. E. K. R.
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
+Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
+Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
+nach:
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
+ Zweite Abteilung: Sechzehnter Band
+ R. Piper & Co. Verlag, München, 1920.
+ 6. bis 10. Tausend
+
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
+Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
+ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
+Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
+nach der Titelseite eingefügt.
+
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+
+Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
+Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
+
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
+(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
+Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
+Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
+„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen wurde vereinheitlicht
+(nicht verwendete Varianten in Klammern):
+
+ Matwejitsch (Matvejitsch)
+ Widopljässoff (Widapljässoff)
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 24]:
+ ... an des glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...
+ ... an das glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...
+
+ [S. 176]:
+ ... sehr, daß ich Sie getroffen haben, vielleicht werden Sie ...
+ ... sehr, daß ich Sie getroffen habe, vielleicht werden Sie ...
+
+ [S. 276]:
+ ... plötzlich mein Onkel. „Das ist, mußte du wissen, ...
+ ... plötzlich mein Onkel. „Das ist, mußt du wissen, ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 ***
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+<title>Sämtliche Werke 16: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner | Project Gutenberg</title>
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+ <!-- TITLE="Sämtliche Werke 16: Das Gut Stepantschikowo und seine Bewohner" -->
+ <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" -->
+ <!-- TRANSLATOR="E. K. Rahsin" -->
+ <!-- LANGUAGE="de" -->
+ <!-- PUBLISHER="Piper, München" -->
+ <!-- DATE="1920" -->
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 ***</div>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="ser">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+</p>
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+<p class="ed">
+<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski</span><br>
+<span class="line2">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span>
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+Übertragen von E. K. Rahsin
+</p>
+
+<p class="division">
+Zweite Abteilung: Sechzehnter Band
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+F. M. Dostojewski
+</p>
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+<h1 class="title">
+Das Gut Stepantschikowo<br>
+und seine Bewohner
+</h1>
+
+<p class="subt">
+(Aufzeichnungen eines Unbekannten)
+</p>
+
+<p class="subt">
+Humoristischer Roman
+</p>
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+<div class="centerpic logo">
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+<p class="pub">
+<span class="line1">R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920</span>
+</p>
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+</div>
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+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="impr">
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920<br>
+6. bis 10. Tausend
+</p>
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+<p class="cop">
+Copyright 1920 by R. Piper &amp; Co., G. m. b. H.,<br>
+Verlag in München
+</p>
+
+<p class="printer">
+Bayer. Hofbuchdruckerei Gebrüder Reichel, Augsburg.
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="toc" id="part-1">
+Inhalt.
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="table">
+<table class="toc">
+<tbody>
+ <tr>
+ <td class="col1">&nbsp;</td>
+ <td class="col2">&nbsp;</td>
+ <td class="col3">&nbsp;</td>
+ <td class="col_page">Seite</td>
+ </tr>
+ <tr class="l">
+ <td class="col1" colspan="3">Humor in Rußland. Von Moeller van den Bruck</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-V">V</a></td>
+ </tr>
+ <tr class="l">
+ <td class="col1" colspan="3">Vorbemerkung. Von E. K. R.</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-XVI">XVI</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">1.</td>
+ <td class="col2">Kapitel.</td>
+ <td class="col3">Stepantschikowo</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">2.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Herr Bachtschejeff</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-37">37</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">3.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Mein Onkel</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-65">65</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">4.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Beim Tee</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-92">92</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">5.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Jeshowikin</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-111">111</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">6.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-135">135</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">7.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Foma Fomitsch</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-148">148</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">8.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Die Liebeserklärung</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-176">176</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">9.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">„Ew. Exzellenz“</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-186">186</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">10.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Misintschikoff</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-211">211</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">11.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Äußerste Verwunderungen</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-236">236</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">12.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Die Katastrophe</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-259">259</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">13.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Die Verfolgung</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-270">270</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">14.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Neuigkeiten</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-296">296</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">15.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Iljuschas Namenstag</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-303">303</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">16.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Die Vertreibung</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-319">319</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">17.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-338">338</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">18.</td>
+ <td class="col2">„</td>
+ <td class="col3">Schluß</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-367">367</a></td>
+ </tr>
+ <tr class="l">
+ <td class="col1" colspan="3">Nachbemerkungen</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-380">380</a></td>
+ </tr>
+</tbody>
+</table>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-2">
+<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a>
+<span class="firstline">Zur Einführung.</span><br>
+Bemerkungen über russischen Humor.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Humor ist früher als die Dichtung. Das Humoristische
+umgibt ein Volk mit einer zweiten Hautlichkeit,
+die schon lange an ihm bemerkt wird, bevor das
+Volk selbst sie bemerkt. Der Don Quichotte im Spanier
+war früher als die Figur, die Cervantes bildete. Das
+Figaronaturell der Franzosen saß ihnen schon vor der
+Revolution im Beaumarchaistemperament. Mit Eulenspiegeleien
+und Münchhausiaden, mit Streichen und
+Abenteuern in Sagen und Anekdoten, entschädigten
+die Deutschen sich für ihre verlorene Wirklichkeit, ehe
+ihnen Jean Paul mit der Laterne des gravitätischen
+Kleinstädters den Nachthimmel einer kosmischen Komik
+entzündete, in der Endlichkeit und Unendlichkeit durcheinanderrannen.
+Ebenso fand der Humor in der russischen
+Dichtung seine Probleme bereits im russischen
+Leben vor: in jener grotesken Unvereinbarkeit eines
+asiatischen und eines europäischen Daseins, die durch
+die petrinische Kultur von Staats wegen überwunden
+werden sollte, während sie gerade von dieser Kultur
+geschaffen wurde, und die nun aus dem einzelnen
+Massen, der von Hause aus ganz Natur war, durch
+Dressur eine Karikatur machte, deren Widersprüche sich
+nicht auf das Kostüm beschränkten, sondern in der
+Seele fortsetzten.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein Humor, der zunächst in der Wirkung auf
+uns liegt. Peter der Große selbst ist als Gestalt der
+Geschichte von dieser Wirkung nicht frei. Schon seine
+große Reise ins Ausland, die Rußland in Europa berüchtigt
+machte, hatte die bekannten komischen schahhaften
+<a id="page-VI" class="pagenum" title="VI"></a>
+Züge. Und wenn er dann später seinen Russen
+die Bärte scheren ließ, wenn er nur rasierten Adel an
+seinem europäisierten Hofe duldete, andererseits aber
+sich als russischer Selbstherrscher nicht scheute, nach
+gewonnener Schlacht aus Freude über den Sieg seinen
+Soldaten im Lager höchsteigenbeinig einen Kasatschak
+vorzutanzen, dann waren dies Gegensätze, deren Humor
+in ihrer Naivität lag. Aber schon ein Menschenalter
+nach Peter wurde dieser Humor zum Symbol in einem
+Manne, der nicht mehr den Ernst Peters besaß, der die
+Pioniertradition, die Peter für Rußland hatte schaffen
+wollen, durch eine Scharlatantradition unterbrach und
+den Russen das Beispiel eines Schwindels hinterließ,
+der sich in öffentlichen Angelegenheiten an alles
+Russische heftete und bei dem Rußland sich immer am
+wohlsten fühlte. Der Mann war Potemkin.
+</p>
+
+<p>
+Auch Potemkin hat eine Reise berühmt gemacht.
+Aber schon dadurch unterschied sich die Reise der Katharina
+von derjenigen Peters, daß Peter nach Europa
+ging, um zu lernen, Nützliches zu sehen, Erfahrungen
+heimzubringen, Katharina dagegen nach dem Neurußland
+ihres Potemkin nur gefahren zu sein scheint, um
+dem Günstling und Liebhaber die Gelegenheit zu dem
+großen Betruge zu geben, der seinen Namen mit allem
+russischen und menschlichen Scheinwesen dauernd verbinden
+sollte. Die Kulissen, mit denen Potemkin damals
+seiner Kaiserin ein reichbesiedeltes wohlhabendes
+glückliches Land vortäuschte, sind in Rußland nie gefallen.
+Ganze Gouvernemente wurden zu den Blendzwecken
+dieser Reise entvölkert. Bauern, Herden,
+Mensch und Vieh wurden an die Fahrstraße getrieben,
+<a id="page-VII" class="pagenum" title="VII"></a>
+über die der Reisezug kommen sollte. Höchste
+Zufriedenheit der Kaiserin war der Lohn für Potemkin.
+Tiefstes Elend der Bevölkerung war die Folge für
+seine Provinz. Doch dies war immer gleichgültig in
+Rußland. Am wohlsten fühlte Potemkin sich später als
+Satrap der Krim, in fanariotischen Launen und bei
+echtrussischer Unmäßigkeit, im Kreise von Mätressen und
+Musikanten, Schauspielern und Ballettänzern, und bei
+Gelagen, wo man ihn, den ordengeschmückten Mann,
+wie ein französischer Bericht der Zeit über ihn erzählt,
+nacheinander einen Schinken, eine gesulzte Gans und
+drei Hühner, dazu durcheinander Met, Kwas und allerlei
+Wein vertilgen sehen konnte. Und doch war auch
+dieser slawische Gargantua nicht ohne die grübelnden
+und unberechenbaren Anwandlungen des echten Russen,
+war bei aller fetten Gewöhnlichkeit ein sehr zusammengesetzter
+Mensch. Wie ein orientalischer Großkönig
+konnte er fragen: Wer ist glücklicher als ich? Aber wie
+ein dekadenter Bojar erhob er sich gleich darauf, nahm
+ein köstliches Porzellan in die Hand, sah es hamletisch
+an und – warf es in Scherben, um eilends davonzugehen
+und für Stunden sich einzuschließen. Sein Hirn
+war unzufrieden vor Plänen, die sich nicht verwirklichen
+ließen. Er selbst war, ewig genießend zwar, aber
+auch ewig unternehmend. Als dann die politische Not
+herandrängte, wurde er freilich sehr klein. Im Türkenkriege
+wollte er die eben eroberte Krim gleich wieder
+herausgeben. Und während der Schlacht sah man ihn
+zagend und jammernd auf dem Erdboden hocken. König
+von Dakien ist er nie geworden. Er starb banal, an
+einem Schlagflusse.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-VIII" class="pagenum" title="VIII"></a>
+Potemkins Seele jedoch flog über dieses ganze
+russische Volk, und als Gogols Held auf einer dritten
+russischen Reise, die in der Welt berühmt geworden ist,
+durch das weite Land fuhr, um tote Seelen zu kaufen,
+da stieß er überall auf Potemkin. Käufer und Verkäufer,
+Schwindler und Beschwindelte, Ausbeuter und
+Ausgebeutete: sie alle waren Potemkin. „Es gibt Menschen,“
+sagt Gogol einmal, „die auf der Welt nicht
+als eigene Wesen vorhanden zu sein scheinen, sondern
+als Pünktchen oder Fleckchen auf anderen Wesen.“ Alle
+Russen, denen Gogol auf seiner Reise begegnete, alle
+die Büttel und Beamte der Autokratie und Bürokratie,
+alle die Verdorbenen durch Korruption, durch
+Betrügen und Betrogenwerden, schienen aus dem einen
+großen Kadaver Potemkins hervorgekrochen zu sein und
+sich wie Pünktchen und Fleckchen, die in jedes russische
+Dorf, in jede russische Kreisstadt getupft waren, über
+Rußland zu verstreuen. Ganz Rußland bekam Potemkincharakter.
+Und auch die russische Dichtung, der Humor,
+mit dem in ihr Rußland sich selbst erkannte, bekam
+diesen Potemkincharakter.
+</p>
+
+<p>
+Puschkin besang freilich den Helden, den ritterlichen
+Jüngling. Doch Gogol meinte, daß es ein Gelächter
+gebe, welches sich würdig mit den höheren, den lyrischen
+Regungen des Menschen vergleichen lasse und weit entfernt
+von den Sprüngen eines gewöhnlichen Lustigmachers
+sei. Er fand es billig, Freskocharaktere und
+Romanzeronaturelle zu skizzieren, Heroen mit flammenden
+Augen, hängenden Brauen, einer gefurchten
+Stirn und einem über die Schulter geworfenen Mantel.
+Deshalb wählte er das Alltägliche, an dem ein gleichgültiger
+<a id="page-IX" class="pagenum" title="IX"></a>
+Blick vorüberzuschauen pflegt, und suchte es
+mit seinen feinen und verborgenen, fast unsichtbaren und
+doch so eigentümlichen Zügen zu erfassen. Er tat es
+gleichwohl mit Drastik, mit einer Bildkraft, die so sicher
+wie neu war, mit einer Handschrift, die das russische
+Land, in dem alles in größerem Maßstabe erscheint, die
+Wälder und Steppen wie die Gesichter, Lippen und
+Füße, in einem breiten und weiträumigen und doch
+wieder dichten und menschenerfüllten Bilderbogen zusammenfaßte,
+volklich, holzschnitthaft und handbemalt.
+Er sagte einmal: „Es gibt bekanntlich Gesichter, deren
+Verfertigung der Natur nicht viel Kopfzerbrechen gekostet
+und zu denen sie gar keine feineren Instrumente,
+als da sind Feilen, Bohrer und Zangen, gebraucht zu
+haben scheint, Gesichter vielmehr, die wie mit der Axt
+gehauen sind, so daß auf einen Schlag vielleicht die Nase
+entstand, auf einen anderen das Auge, der Mund usw.;
+ohne Hobel anzulegen, schickte die Natur sie dann in die
+Welt, indem sie ausrief: Gehet hin und lebt!“ Gogol
+tat wie die Natur, solange es den Umriß galt, aber er
+gebrauchte gar viele Feilen, Bohrer und Zangen, sobald
+er das Allzumenschliche hineinkerbte. Er hatte wohl die
+Mitleidlosigkeit, russische Bauern wie Klötze hinzustellen,
+mit Köpfen wie Brote, mit Bärten wie Holzkeile, oder
+auch die Liebenswürdigkeit, einmal ein slawisches
+Mädchenoval mit einem frischen Ei zu vergleichen, dessen
+durchsichtige Weiße die sorgfältige Wirtschafterin durch
+das Sonnenlicht betrachtet. Aber sein größerer Vorwurf
+war die russische Provinzgesellschaft potemkinischer
+Herkunft mit ihren zweifelhaften Zwischengestalten, die
+in unzähligen Exemplaren vorkommen und von denen
+<a id="page-X" class="pagenum" title="X"></a>
+eine jede ein Original ist. Hier verband sich im Leben
+die Einfalt mit der Geriebenheit. Und hier gehörte
+in der Dichtung zur Kontur die Nuance.
+</p>
+
+<p>
+Um die russische Erbsünde am russischen Menschen
+zu strafen, wählte Gogol keinen Tugendhelden, sondern
+einen Spitzbuben. Er umgab ihn mit seinesgleichen
+und belebte den patriarchalischen Hintergrund
+Rußlands mit den fatalen Gestalten seines Realismus.
+Gogols Kenntnis des russischen Menschen wurde zur
+Erkenntnis des russischen Schicksals. Er sprach von den
+Eigenschaften der Rasse, sprach von seinen Landsleuten,
+die nie etwas erreichen, weil sie schon gleich, wenn sie
+anfangen, völlig befriedigt sind und daher alles getan
+glauben und sich fürder gehen lassen. Er sprach auch
+davon, daß der russische Erfindungsgeist, mochte innerlich
+jeder Russe noch so „nach Fortschritt lechzen“, immer
+nur durch Druck zur Tätigkeit angetrieben werden
+könne. Er machte sich lustig über die Reformer aller
+Art, zeigte in dem Versuch jeder Ordnung das Verhängnis
+ewiger Unordnung auf und gab an einer grimmigen
+Stelle in den „Toten Seelen“, an der er ein russisches
+Landgut schilderte, das nur aus Büros und Ressorts,
+Zentralen und Filialen, Plakaten und Avisen bestand,
+die Karikatur aller Organisationsversuche in Rußland.
+Den Grund dieser Leidigkeit aber fand er dort, wo der
+Russe die Ordnung und die Organisation, die das
+Gegenteil des Chaos sind, das er in sich trägt, in der
+Vollendung suchen zu können glaubt: in den Einflüssen
+des Westlertums, Europas. Er fragte, ob es nicht ärgerlich
+sei, so sehen zu müssen, wie der Charakter des
+Russen durch Bildung verstümmelt werde: „denn die
+<a id="page-XI" class="pagenum" title="XI"></a>
+sogenannte Humanität erzeugt, wenn sie zur Manie
+wird, doch nur Don Quichotte“. Organisiert erschien
+in Rußland lediglich die Korruption: sie ist die Gesamtfunktion
+des Staates, wie sie das Lebensmotiv des
+Einzelnen ist. Gogols letzter menschlicher Rat für Rußland
+war ein Lob des Landlebens, als der letzten Stätte
+russischer und menschlicher Reinheit: dort, auf dem Lande
+„gibt es im Leben des Menschen keinen leeren Raum,
+dort geht der Mensch eins und einig mit der Natur,
+mit den Jahreszeiten, und nimmt Anteil an allem, was
+sich in der Schöpfung vollzieht“. Sein letztes geistiges
+Wort an Rußland aber war ein Gebet zu Gott: „ergreift
+irgendeine Beschäftigung, ergreift sie so, als ob
+ihr das, was ihr tut, für Ihn und nicht für die Menschen
+tätet!“
+</p>
+
+<p>
+Dostojewskis erstes und letztes Wort war dagegen
+der Mensch, war Gott um des Menschen willen, Gott
+und Mensch in Verbundenheit. Das unterscheidet ihn
+von Gogol, mit dem er als Russe den Konservativismus,
+das Leben aus der Urzelle teilte, und als Dichter das
+Problem Rußlands, die Korruption im Russentume, die
+Korrumpierung des russischen Menschen durch Bildung,
+durch Westlertum, durch das petrinische Phantom. Von
+der tragischen Schuld, die der Russe damit für Rußland
+auf sich geladen hatte, befreite er ihn in seinen
+großen Romanen, in der apokalyptischen Epik, die sich
+in den „Brüdern Karamasoff“ zum Berg der Läuterung
+türmte. Ein Inferno, eine Messe des schwarzen
+Terror, machte er daraus in den „Dämonen“, in denen
+der Politiker Dostojewski, der immer gegen das Zeitliche
+das Ewige setzte, die revolutionäre Ideologie in
+<a id="page-XII" class="pagenum" title="XII"></a>
+ihrer ethischen Untiefe und metaphysischen Verworrenheit
+bloßstellte. Und eine Groteske machte er daraus
+in einer so bizarren Erzählung wie dem „Gut Stepantschikowo“,
+in dem der Ironiker Dostojewski die russische
+Bildung, Unbildung, Halbbildung gleich einem
+Teufel austrieb.
+</p>
+
+<p>
+Gogol blieb unversöhnt und unversöhnlich. Sein
+Lachen war wohl voll Verliebtheit in den Gegenstand,
+aber blieb voll Bitterkeit zum Leben, blieb, wie es
+boshaft war, böse zu den Menschen. Dostojewski dagegen
+legte in seinen Humor seine Liebe zu den
+Menschen, zu den Russen und Rußland. Der Humor
+war für ihn ein Mittler, um diese russischen Menschen,
+die im Leben vielleicht hassenswert genug erschienen,
+wieder liebenswert in der Dichtung zu machen. Die
+Komik hängte er ihnen nicht an, gleich einer Schelle,
+die immer und überall den Narren verrät, wie Gogol
+tat. Die Komik legte er in die Menschen nur hinein,
+als eine Versöhnung mit ihnen in jeder Lage, in die
+das Leben sie bringt. Gogol war mitleidlos, der unbarmherzige
+Charakterologe, der die Menschen in Typen
+hinstellt, und einem jeden, wie mit einem Zettel, einer
+Marke, einer Nummer, die er ihnen anheftet, seinen
+Steckbrief mitgibt. Der Psychologe Dostojewski dagegen
+löste noch eine Hülle mehr von den Menschen
+und legte ihre Seele bloß, die den Körper belebt, und
+selbst den Kadaver belebte, auch wenn er sie verdeckte.
+</p>
+
+<p>
+Sogar der ewige Potemkin im russischen Leben
+war für ihn nicht nur Figur, sondern Mensch. Er
+kannte diesen Menschen mit allen seinen Schwachheiten,
+seinen sprunghaften europäischen Anstrengungen,
+<a id="page-XIII" class="pagenum" title="XIII"></a>
+seinen ewigen russischen Unzulänglichkeiten. Er sagte
+einmal: „Für mich ist die höchste Komik – eine Tätigkeit,
+die niemandem nützt.“ Das war russisch, das
+war in Rußland beobachtet, wo die einzige bemerkenswerte
+Tätigkeit seit langem die bürokratische des
+Staates und die dilettantische einer Bildung waren,
+die beide diesen russischen Menschen nur verdarben,
+der vor allem auf sich selbst beruhen will. Aber die
+Gestalt, die Dostojewski dann aus diesen verdorbenen
+russischen Menschen machte, aus den schuldigen und
+den unschuldigen, war die Gestalt der Güte, die er
+zu ihnen empfand. Er hetzte dazu die Menschen durch
+alle ihre Menschlichkeiten, aber er hetzte sie nur so
+lange, bis er sie dort hatte, wo er sie haben wollte,
+wo er ihre Komik herausbekam, und er sie durch ihre
+Menschlichkeit rechtfertigen konnte. Dostojewski kannte
+diesen Weg zum Humor, der auch noch immer schmerzlich
+ist, und dennoch erlösend für den, der den Humor
+besitzt, wie für den, den er betrifft: „Humor,“ sagte
+er ein anderes Mal, „ist die Spitzfindigkeit eines tiefen
+Gefühls.“
+</p>
+
+<p>
+Hinter diesem Gefühl lag bei ihm der Glaube an
+Rußland, an die Kraft, Jugend und Urgesundheit des
+russischen Volkes, das unzerstörbar ist und alle Potemkinaden
+der Aufklärung, der bürokratischen wie der
+literarisch-westlerischen, in innerer Unversehrtheit überdauert.
+Auch sein Humor war eine Form seiner russischen
+Religiosität. Im Humor der Völker mischen
+sich immer ein Menschliches und ein Seeliges, ein
+Empirisches und ein Transzendentes. Humor ist von
+jener Welt und äußert sich doch in dieser. Eine Liebe
+<a id="page-XIV" class="pagenum" title="XIV"></a>
+fällt aus dem Himmel auf die Erde, ein Lachen auf das
+Leid. Ja, so tief im Seelischen, in der Herzlichkeit der
+Dinge, die sind, und des Menschen, der sie anschaut, ist
+der Humor der Russen verwurzelt, daß er selbst dort, wo
+er zur Satire wird, sich zu entschuldigen und mit allem,
+was Anlaß zur Satire gibt, zu versöhnen sucht. Was
+dieser Humor gibt, mittelbar bei Gogol, unmittelbar bei
+Dostojewski, das ist in der Form einer großen Versöhnung
+mit Rußland eine große Entschuldigung Rußlands.
+Auch Dostojewski, der große Leidende für den
+russischen Menschen in jedwedem Menschen, nahm nur
+die Überlieferung auf, die sich fast von den Reformen
+Peters an durch die Literatur Rußlands gezogen hatte.
+Damals war zum ersten Male die Schicksalsfrage des
+Russentums gestellt worden: Europäertum oder Asiatentum?
+Fremdkultur oder Eigenkultur? oder, wie sie später
+formuliert wurde, Anschluß an die Partei der Westler?
+oder an die der Slawophilen? Und nicht müde war
+man von da an geworden, von Kantemir bis Vonwisin
+und Gribojedoff, den Konflikt in dieser Frage in Satiren
+auszutragen. Dann wurde die Korruption das
+tragikomische Thema Gogols, des „Revisors“ und der
+„toten Seelen“. Die Korruption war das moralische
+Nebenproblem des geistigen Grundproblems: wie kommt
+Rußland wieder zu sich selbst, auf daß es von sich selbst
+erlöst werde? Diese Frage wurde das zentrale Lebensproblem,
+das Dostojewski in Rußland vorfand und
+das über die russische Gesellschaft hinaus den russischen
+Menschen anging. Um dieses Problemes willen zog
+Dostojewski aus, um lebende Seelen zu kaufen.
+Und niemals wurde es ihm klarer als damals,
+<a id="page-XV" class="pagenum" title="XV"></a>
+da er aus Sibirien heimkehrte, aus der Einsamkeit
+in die Gesellschaft zurücktrat. Da sah er seines
+Volkes große und kleine Laster, sah seine Häßlichkeiten,
+und in den Häßlichkeiten seine geheime Schönheit, aber
+auch seine offenbare Lächerlichkeit. Er, der ein Dichter
+war, weil er ein Dulder war, durchschaute mit einem
+Male die Halben und Leeren, die wandelnden Karikaturen
+der Literatur und der Politik, die Poeten und
+Nihilisten, die Emanzipierten und Bildungsphilister.
+Er wurde nicht wahnsinnig über dieser verrückten Welt,
+wie Gogol über seiner verdorbenen geworden war. Er
+fand in der Tragik die Schuld, und im Humor immer
+noch die Entschuldigung der Menschen: Rußlands.
+</p>
+
+<p class="sign">
+M. v. d. B.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-3">
+<a id="page-XVI" class="pagenum" title="XVI"></a>
+<span class="firstline">Vorbemerkung.</span>
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> satirisch-humoristischen Dichtungen Dostojewskis:
+„Das Gut Stepantschikowo“ und „Onkelchens
+Traum“, sind die ersten, die er nach seiner Rückkehr aus
+Sibirien in den Jahren 1858 und 1859 geschrieben,
+bzw. vollendet hat.
+</p>
+
+<p class="sign">
+E. K. R.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-4">
+<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
+<span class="firstline">I.</span><br>
+Stepantschikowo.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Onkel, der Oberst Jegor Iljitsch Rostaneff,
+war, nachdem er seinen Abschied genommen, auf das
+ihm durch Erbschaft zugefallene Gut Stepantschikowo
+übergesiedelt und hatte sich daselbst alsbald in einer
+Weise eingelebt, daß man ihn für einen eingefleischten,
+einen geborenen Gutsherrn hätte halten und von ihm
+denken können, er sei in seinem ganzen Leben noch nie
+über die Grenze seines Besitztums hinausgekommen.
+</p>
+
+<p>
+Es gibt Naturen, die tatsächlich mit allem zufrieden
+sind und sich an alles gewöhnen können. Von dieser
+Art war entschieden auch die Natur meines Onkels,
+des Obersten a. D. Es ist schwer, sich einen Menschen
+vorzustellen, der sanftmütiger und widerspruchsloser
+zu allem und jedem bereit gewesen wäre als er. Hätte
+jemand den Einfall gehabt, ihn etwa mit ernstestem
+Gesicht zu bitten, irgendeinen ihm ganz fremden
+Menschen zwei Werst weit auf seinen Schultern zu
+tragen, so würde er es wahrscheinlich auch getan haben.
+Er war dermaßen gut, daß er am liebsten gleich alles,
+was er besaß, auf die erste Bitte hin fortgegeben hätte
+– sein letztes Hemd dem ersten besten Bettler. Sein
+Äußeres war reckenhaft: er hatte eine hohe, straffe
+Gestalt, ein frisches Gesicht, wie Elfenbein weiße
+Zähne, einen langen, dunkelblonden Schnurrbart, eine
+klangvolle, laute Stimme und ein offenherziges, tiefklingendes
+Lachen. Er sprach schnell und in abgerissenen
+Sätzen. Damals, als er nach Stepantschikowo
+zog, war er noch nicht vierzig Jahre alt. Von
+<a id="page-2" class="pagenum" title="2"></a>
+seiner Geburt oder vielmehr von seinem sechzehnten
+Lebensjahre an war er Husar gewesen. Geheiratet
+hatte er sehr früh, hatte seine Frau abgöttisch geliebt,
+sie aber schon bald verloren. Eine unauslöschliche,
+tief zärtliche Erinnerung an sie bewahrte er in seinem
+Herzen. Als ihm dann eines Tages das Gut Stepantschikowo,
+das seinen Besitz um sechshundert Seelen
+vergrößerte, durch Erbschaft zugefallen war, da hatte
+er den Abschied genommen und sich, wie gesagt, auf
+dem Lande niedergelassen, zusammen mit seinen beiden
+Kindern: dem achtjährigen Iljuscha – dessen Geburt
+der Mutter das Leben gekostet hatte – und der älteren,
+etwa fünfzehnjährigen Tochter Alexandra, genannt
+Ssaschenjka oder auch Ssaschúrka, die nach dem Tode
+der Mutter in einer vornehmen Moskauer Pension
+erzogen worden war.
+</p>
+
+<p>
+Leider nahm das Haus meines Onkels alsbald das
+Aussehen einer Arche Noah an, und das ging auf folgende
+Weise vor sich.
+</p>
+
+<p>
+Zur selben Zeit, als mein Onkel das Gut erbte und
+seinen Abschied nahm, geschah es, daß seine Mutter,
+die Generalin Krachotkina, ihren zweiten Mann verlor.
+Sie hatte nämlich zum zweitenmal geheiratet –
+vor etwa sechzehn, siebzehn Jahren, als mein Onkel
+noch als Fähnrich in seinem Regiment stand, sich aber
+nichtsdestoweniger auch seinerseits bereits mit Heiratsgedanken
+trug. Seine „Mama“ hatte ihm damals
+lange ihren Segen zur Heirat vorenthalten, dafür aber
+mit bitteren Tränen nicht gekargt, ihm Eigennutz vorgeworfen,
+Undankbarkeit, Unehrerbietung ... Sie
+hatte ihm nachgewiesen, daß heißt, mehrfach auseinandergesetzt,
+<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
+daß seine Einkünfte – er besaß zweihundertundfünfzig
+Seelen – nicht einmal zum Unterhalt
+seiner „Familie“ ausreichten (zum Unterhalt
+seiner „Mama“ nämlich, mit deren ganzem Stabe von
+guten Freundinnen, die unentgeltlich bei ihr lebten,
+ihren Möpsen, Spitzen, chinesischen Katzen und ähnlichem
+Gezeug in Mengen), bis sie dann plötzlich, inmitten
+dieser Vorwürfe, Auseinandersetzungen und
+Tränen, ganz unerwartet, noch bevor der Sohn dazu
+gekommen war, selbst heiratete, – obgleich sie nicht
+weniger als zweiundvierzig Jahre zählte. Übrigens
+fand sie auch hierfür eine Erklärung, die selbstredend
+die Schuld meinem armen Onkel in die Schuhe schob:
+sie versicherte unter Tränen, daß sie einzig aus dem
+Grunde heirate, um in ihren alten Tagen eine Unterkunft
+zu haben; denn ihr unehrerbietiger, selbstsüchtiger
+Herr Sohn wolle sie ja für künftighin ihres Obdaches
+berauben, jetzt, da er die unverzeihliche „Eigenmächtigkeit“
+habe, sich einen „eigenen Hausstand“ zu
+gründen.
+</p>
+
+<p>
+Leider habe ich nie in Erfahrung bringen können,
+welcher entscheidende Grund einen anscheinend so vernünftigen
+Menschen wie den General Krachotkin zu
+dieser Heirat mit der zweiundvierzigjährigen Witwe
+bewogen hatte. So muß ich denn als einzige Wahrscheinlichkeit
+annehmen, daß er sie wohl für reich gehalten
+haben wird. Manche Leute meinten zwar, er
+hätte einfach einer Wärterin bedurft, da er schon damals
+jenen Schwarm von Krankheiten vorausgeahnt
+habe, der sich dann im Alter auch richtig auf ihn
+niederließ. Sicher ist nur eines: daß der General
+<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
+seine Frau während der ganzen Zeit seines Zusammenlebens
+mit ihr nichts weniger als geachtet oder gar
+geliebt, sondern sich bei jeder Gelegenheit mit beißendem
+Spott über sie lustig gemacht hat.
+</p>
+
+<p>
+Er war ein eigentümlicher Mensch: war halbgebildet
+und durchaus nicht dumm, aber er verachtete
+entschieden alle und jeden, befolgte keinerlei Regeln,
+spottete über sämtliche Lebenserscheinungen, angefangen
+beim Menschen und so weiter bis ins Endlose, und
+wurde in seinen alten Tagen unter dem Einfluß all
+seiner Krankheiten – die eine gerechte Folge seines
+nicht ganz gerechten oder rechtschaffenen Lebens waren
+– böse, boshaft, reizbar und unbarmherzig. Im
+Dienst hatte er Glück gehabt; aber zu guter Letzt war
+er doch gezwungen gewesen, wegen irgendeiner „unangenehmen
+Geschichte“ etwas plötzlich seinen Abschied
+zu nehmen, wobei er nur mit genauer Not dem entging,
+daß man ihn vor ein Kriegsgericht stellte und
+um seine Pension brachte. Dieser Abschied erbitterte
+ihn endgültig. Und so legte er denn, fast mittellos,
+nur im Besitze eines Hunderts im Elend lebender Leibeigener,
+die Hände in den Schoß und erkundigte sich
+hinfort bis an das Ende seiner Tage, das noch zwölf
+Jahre auf sich warten ließ, kein einziges Mal weder
+nach den Kosten seines Unterhalts, noch danach, wer
+sie für ihn bestritt. Indessen schränkte er sich nicht
+im mindesten ein, hielt eine Equipage, Pferde und
+einen Kutscher und verlangte nach wie vor alle Lebensbequemlichkeiten.
+Bald darauf ward er noch des Gebrauches
+seiner Beine beraubt und saß zehn Jahre lang
+in einem triumphstuhlartigen Fauteuil, der, sobald er
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+es nur wünschte, von zwei dazu bestimmten Dienern
+geschaukelt wurde, wofür diese ausschließlich die verschiedenartigsten
+Schimpfwörter von ihm zu hören bekamen.
+Die Equipage, die Pferde und den kostspieligen
+Fauteuil bezahlte sämtlich der unehrerbietige Herr
+Stiefsohn, der seiner Mutter das Letzte schickte, sein
+Gut doppelt und dreifach belastete, sich selbst das Notwendigste
+versagte und Schulden über Schulden auf
+sein armes Haupt lud, die er bei seinem damaligen
+Besitzstand nie zu tilgen vermocht hätte. Nichtsdestoweniger
+verblieb ihm unwandelbar die Bezeichnung
+des „Egoisten“ und „undankbaren Sohnes“. Mein
+Onkel war aber von Natur so veranlagt, daß er schließlich
+selbst glaubte, ein „Egoist“ zu sein, und so schickte
+er, erstens um sich dafür zu strafen, und zweitens, um
+sich den „Egoismus“ abzugewöhnen, immer noch mehr
+Geld. Die Generalin dagegen war vor ihrem zweiten
+Gatten die Andacht selbst. Wahrscheinlich gefiel ihr
+an ihm vor allem dies, daß der General und sie folglich
+Generalin war.
+</p>
+
+<p>
+Im Hause bewohnte er die eine, sie die andere
+Hälfte. Und in dieser anderen Hälfte gedieh sie
+während der ganzen Zeit des halblebendigen Lebens
+ihres Mannes im Kreise von ihren daselbst wohnenden
+Freundinnen, Möpsen und den zum Kaffee sich einfindenden
+Stadthistorikerinnen. Sie war eine wichtige
+Persönlichkeit in ihrem Städtchen. Der Klatsch, die
+ergebensten Bitten, Kinder aus der Taufe zu heben,
+sowie die geliebte Kopekenpatience entschädigten sie
+vollauf für ihre häuslichen Unannehmlichkeiten. Alle
+Stadtelstern erschienen bei ihr mit ausgearbeiteten
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+Berichten, ihr wurde überall der erste Platz eingeräumt,
+– mit einem Wort, sie wußte aus ihrem Generalstitel
+alles herauszuschlagen, was daraus nur herauszuschlagen
+war. Der General kümmerte sich um so
+etwas nicht. Dafür aber verspottete er seine Frau,
+und zwar mit Vorliebe in Gegenwart Fremder, fragte
+zum Beispiel ungeniert, weshalb er eigentlich „ein
+solches Weibsbild“ geheiratet habe – und niemand
+durfte dagegen Einspruch erheben. Mit der Zeit zogen
+sich alle Bekannten von ihm zurück, während gerade
+er ohne Gesellschaft nicht auskommen konnte: denn er
+wollte erzählen, schwatzen, streiten; kurz, er wollte, daß
+beständig ein Zuhörer vor ihm saß. Er war ein Freigeist
+und Atheist vom alten Schlage, und daher philosophierte
+er gern über höhere Dinge. Zum Unglück
+waren aber die Zuhörer des Städtchens nicht sehr begeistert
+für höhere Dinge, und so kamen sie immer seltener
+zu ihm. Dann versuchte man es mit einem Whist- oder
+Préférenceabend, aber auch daraus wurde nichts: das
+Spiel endete für den General gewöhnlich mit solchen
+Wutanfällen, daß die Generalin und ihr ganzer Stab
+von Freundinnen vor lauter Entsetzen vor den Heiligen
+Wachskerzen anzündeten, Messen lesen ließen, sich mit
+weißen Bohnen und französischen Karten im Wahrsagen
+übten, barmherzige Semmeln im Gefängnis
+austeilten und mit Hangen und Bangen der Stunde
+entgegensahen, in der sie wieder eine Partie Whist oder
+Préférence zustande bringen mußten, um für das geringste
+Versehen abermals Geschrei, Geschimpfe und
+fast sogar Prügel zum Dank zu erhalten. Wenn dem
+General etwas mißfiel, so tat er sich vor keinem einzigen
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Menschen Zwang an: er kreischte dann wie ein
+altes Weib, schimpfte wie ein Droschkenkutscher; zuweilen
+aber, wenn er alle seine Partner zum Teufel
+gejagt, die Karten zerrissen und ihnen an den Kopf
+geworfen hatte, weinte er vor Verdruß und Wut, was
+alles nur wegen eines armen Buben geschah, den man
+statt einer Neun ausgespielt hatte. Schließlich, als
+seine Sehkraft immer mehr abnahm, bedurfte er eines
+Vorlesers. Und da erschien denn Foma Fomitsch
+Opiskin!
+</p>
+
+<p>
+Ich muß gestehen, daß ich mich mit einer gewissen
+Feierlichkeit anschicke, von dieser neuen Persönlichkeit
+zu berichten – einer der wichtigsten meiner Erzählung.
+Inwieweit er ein Recht auf die Aufmerksamkeit des
+Lesers hat, will ich nicht im voraus zu erklären versuchen;
+darüber zu entscheiden steht vielmehr weiterhin
+dem Leser selbst zu.
+</p>
+
+<p>
+Als Foma Fomitsch sein Amt beim General Krachotkin
+antrat, erhielt er lediglich freie Kost – nichts
+mehr und nichts weniger. Woher er kam – ist unbekannt.
+Ich habe mich vergeblich bemüht, etwas Genaueres
+über das früheres Leben dieses merkwürdigen
+Menschen in Erfahrung zu bringen. Es hieß, daß er
+irgendeinmal irgendwo Beamter gewesen sei, daß man
+ihm dann ein „Unrecht“ getan und er – selbstverständlich!
+– „um der Wahrheit willen“ zum Märtyrer
+geworden sei. Auch verlautete von anderer Seite, daß
+er sich einmal in Moskau mit Literatur abgegeben
+habe, was ja weiter nicht erstaunlich gewesen wäre;
+die geradezu schmutzige Unwissenheit Foma Fomitschs
+konnte für seine literarische Laufbahn gewiß nicht als
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+Hindernis in Frage kommen. Glaubwürdig ist jedoch
+fraglos nur das eine: daß er es in keinem Fach sehr
+weit gebracht hatte und schließlich gezwungen gewesen
+war, als Vorleser in den Dienst des Generals zu treten.
+</p>
+
+<p>
+Es gibt keine Erniedrigung, die Foma nicht für
+einen satten Magen in den Kauf genommen hätte.
+Freilich versicherte er uns nach dem Tode seines
+Peinigers, als er plötzlich und ganz unerwartet zu
+einer wichtigen, überaus einflußreichen Person wurde,
+daß er sich mit seiner Bereitwilligkeit, den Narren zu
+spielen, nur großmütig dem Freunde, der Freundschaft
+geopfert habe, daß der General sein Wohltäter und
+ein großer, doch leider unverstandener Mann gewesen
+sei und nur ihm, Foma, die tiefsten Tiefen seiner Seele
+vertrauensvoll erschlossen habe, und wenn er, Foma,
+auf den Wunsch des Generals die verschiedensten Tiere
+nachgeahmt und lebende Bilder gestellt, so sei dieses
+von ihm aus einzig und allein zur Zerstreuung und
+Erheiterung des von Krankheiten aller Art heimgesuchten
+Dulders und Freundes geschehen. Nichtsdestoweniger
+sind die Versicherungen und nachträglichen
+Erklärungen Foma Fomitschs bezüglich jenes
+Sachverhaltes unbedingtem Zweifel unterworfen. Doch
+wie dem auch sei, jedenfalls spielte Foma Fomitsch
+bereits während seines Narrendienstes eine durchaus
+andere Rolle in der Damenabteilung des Hauses der
+Generalin. Wie er das fertiggebracht hat, kann sich
+jemand, der in solchen Dingen nicht Spezialist ist,
+schwer vorstellen. Die Generalin hegte für ihn eine
+gerader mystische Hochachtung, – aus welchem
+Grunde sie sie hegte, vermag ich nicht zu sagen. Mit
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+der Zeit gewann er über alles Weibliche im Hause
+eine erstaunliche Macht, die in etwas an die Macht
+gewisser Iwan Jakowlewitschs erinnerte, oder ähnlich
+benannter Weisen und Propheten, die in Irrenhäusern
+von Damen, die für dergleichen empfänglich sind, besucht
+zu werden pflegen. Er las ihnen aus seelenrettenden
+Büchern vor, erklärte ihnen mit beredten
+Tränen den tieferen Sinn verschiedener christlicher
+Tugenden, schilderte auch sein eigenes Leben und seine
+Heldentaten, ging zum Gottesdienst (und sogar zum
+Frühgottesdienst), sagte außerdem die Zukunft voraus,
+verstand mit ganz besonderem Talent Träume zu
+deuten und meisterhaft den Nächsten zu verdammen.
+Der General ahnte bald, was in der anderen Hälfte
+seines Hauses geschah, und tyrannisierte seinen
+Krippenreiter noch erbarmungsloser. Doch siehe, das
+Martyrium Foma Fomitschs verlieh diesem in den
+Augen der Generalin und ihrer ganzen Suite eine um
+so glänzendere Aureole, an die sich natürlich entsprechend
+gesteigerte Hochachtung knüpfte.
+</p>
+
+<p>
+Da starb der General, und die Situation änderte
+sich. Seine Sterbestunde soll übrigens ziemlich originell
+gewesen sein. Dem ehemaligen Freigeist und
+Atheisten war bis zur Unglaublichkeit bange geworden.
+Er weinte, bereute, küßte Heiligenbilder, rief Geistliche
+herbei, ließ Messen lesen und alle für sich beten; dazwischen
+schrie der arme Teufel, daß er nicht sterben
+wolle, und bat Foma Fomitsch unter Tränen um Verzeihung,
+was diesem in der Folge sehr zustatten kam.
+Doch kurz bevor sich die Seele des Generals von seinem
+Körper trennte, geschah noch folgendes: Die Tochter
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+der Generalin, meine Tante Praskowja Iljinitschna,
+die unverheiratet im Hause ihrer Mutter lebte – eines
+der liebsten Opfer des Generals, da sie ihm während
+seiner zehnjährigen Beinlosigkeit zur beständigen Bedienung
+unentbehrlich war und ihm wegen ihrer Einfachheit
+und stummen Güte gefiel, – trat nun an sein
+Lager, bittere Tränen vergießend, um das Kopfkissen
+des armen Sterbenden zu rücken. Da aber packte sie
+der „arme Sterbende“ an den Haaren, und es gelang
+ihm noch, sie ungefähr dreimal, fast knirschend vor
+Wut, mit aller und letzter Kraft hin und her zu reißen.
+Nach zehn Minuten war er tot. Der Oberst, mein
+Onkel, wurde sofort von seinem Hinscheiden benachrichtigt,
+obgleich die Generalin hundertmal gesagt
+hatte, daß sie eher gleichfalls sterben werde, als daß
+der Sohn ihr in einer solchen Stunde vor die Augen
+kommen sollte. Die Beerdigung war großartig –
+selbstverständlich auf Kosten des unehrerbietigen
+Sohnes, der, nebenbei bemerkt, auch dann sich nicht
+unterstehen durfte, das Haus seiner Mutter zu betreten.
+</p>
+
+<p>
+Auf dem verschuldeten Gut Knjäsewka, das mehreren
+Herren gemeinsam gehörte, und auf dem auch die
+hundert Leibeigenen des Generals lebten, steht jetzt ein
+Mausoleum aus weißem Marmor, besät mit Inschriften,
+die alle dem hohen Verstande, den mannigfachen
+Talenten, der Herzensgüte, dem Seelenadel und
+den trefflichen militärischen Eigenschaften des Entschlafenen
+das höchste Lob spenden. Bei der Zusammenstellung
+dieser Inschriften hat Foma Fomitsch
+stark mitgewirkt. Es dauerte lange, bis die Generalin
+ihrem unehrerbietigen Sohne Verzeihung gewährte.
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+Schluchzend beteuerte sie, umringt von ihrem ganzen
+Gefolge, einschließlich der Möpse und Katzen, daß sie
+lieber trockenes Brot essen – welches sie natürlich mit
+ihren Tränen anfeuchten würde – oder mit einem
+Krückstock betteln gehen wolle, als daß sie der Bitte
+ihres „ungehorsamen“ Sohnes nachgäbe und zu ihm
+nach Stepantschikowo übersiedelte.
+</p>
+
+<p>
+„Niemals, niemals werde ich meinen <em>Fuß</em> über
+seine Schwelle setzen!“ rief sie erregt aus, wobei das
+Wort „mein <em>Fuß</em>“, in dieser Verbindung gebraucht,
+ungewöhnlich effektvoll herausgebracht wurde. Sie
+sprach es wirklich meisterhaft, geradezu künstlerisch
+aus. Kurz, Reden wurden von ihr in unglaublichem
+Überfluß vergeudet. Nur muß ich hier bemerken, daß
+gleichzeitig mit diesen Versicherungen bereits die Koffer
+zur Übersiedelung nach Stepantschikowo gepackt wurden
+– allerdings heimlich.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen jagte der Oberst alle seine Pferde zuschanden,
+da er täglich von seinem Gute in die vierzig
+Werst entfernte Stadt gefahren kam, bis er dann endlich,
+vierzehn Tage nach der Beerdigung des Generals,
+die Erlaubnis erhielt, bei seiner tiefgekränkten Frau
+Mutter zu erscheinen. Foma Fomitsch war in dieser
+Zeit als Unterhändler benutzt worden. Zwei Wochen
+lang warf er dem Ungehorsamen sein „unmenschliches“
+Verhalten zur Mutter vor, brachte den Armen zu aufrichtigen
+Tränen und fast zur Verzweiflung. Von
+diesen Tagen an datiert der unbegreifliche, unmenschlich
+despotische Einfluß Foma Fomitschs auf meinen armen
+Onkel. Foma erriet sofort, was für einen Menschen
+er vor sich hatte und – daß seine Narrenrolle zu
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+seinem Glück zu Ende gespielt war, folglich aber auch
+er, Foma, so etwas wie „Herr“ sein konnte. Und so
+entschädigte er sich denn.
+</p>
+
+<p>
+„Wie würde Ihnen zumute sein,“ fragte Foma,
+„wenn Ihre leibliche Mutter, sozusagen die Urheberin
+Ihrer Tage, einen Krückstock nähme und, mit ihren
+zitternden, von Hunger abgemagerten Händen sich auf
+ihn stützend, tatsächlich betteln ginge? Wäre das nicht
+ungeheuerlich, erstens bei ihrem Rang als Generalin,
+und zweitens bei ihren Tugenden? Was würden Sie
+empfinden, wenn sie eines Tages unter den Fenstern
+Ihres Hauses erschiene (was natürlich nur aus Versehen
+geschehen könnte, aber es wäre doch immerhin
+möglich), und wenn sie ihre Hand um ein Almosen
+bittend ausstreckte, während Sie, ihr Sohn, gerade
+irgendwo in einem Daunenbett versinken und ... nun,
+in Luxus, kurz gesagt, schwelgen? ... So etwas wäre
+doch entsetzlich, ganz entsetzlich! Am entsetzlichsten ist
+aber – gestatten Sie, Oberst, daß ich Ihnen das ganz
+offen sage – ja, am entsetzlichsten hierbei ist, daß Sie
+jetzt wie ein gänzlich gefühlloser Pfosten vor mir stehen,
+den Mund halb aufsperren und nur die Augenlider
+von Zeit zu Zeit zusammenklappen, was gewissermaßen
+sogar unhöflich ist, während Sie bei dem bloßen Gedanken
+an eine solche Möglichkeit sich die Haare Ihres
+Hauptes mit der Wurzel ausraufen und Ihren Augen
+Ströme ... was sage ich! – Flüsse, Seen, Meere,
+Ozeane von Tränen entfließen müßten!“
+</p>
+
+<p>
+Der übliche Ausgang seiner Reden war, daß er
+vor lauter Hingerissensein sich fortreißen ließ und die
+Übersicht über die Tragweite der eigenen Worte verlor.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+So kam es denn, daß die Generalin samt ihrem
+ganzen Stabe – alles Vierbeinige inbegriffen –
+samt Foma Fomitsch und Fräulein Perepelizyna, ihrer
+größten Busenfreundin, endlich das Herrenhaus von
+Stepantschikowo mit ihrer Ankunft beglückte. Sie erklärte,
+daß sie vorläufig nur <em>versuchen</em> wolle, bei
+ihrem Sohn zu leben, und gleichzeitig käme sie, um
+seinen Gehorsam zu prüfen. Man kann sich wohl die
+Lage des Obersten in dieser Zeit der „Prüfung seines
+Gehorsams“ ungefähr vorstellen! Anfangs hielt es die
+Generalin, als jüngst verwitwete Frau, für ihre Pflicht,
+etwa zwei- oder dreimal wöchentlich in der Erinnerung
+an ihren unwiederbringlich verlorenen Gatten, in Verzweiflung
+zu geraten; und diese Verzweiflung hatte
+die Eigentümlichkeit, sich alsbald aus unbekannten
+Gründen in einem Gewitter über dem Haupte des
+armen Obersten zu entladen. Zuweilen, vornehmlich
+wenn Besuch zugegen war, rief sie ihre beiden Enkelkinder
+zu sich, den kleinen Iljuscha und die fünfzehnjährige
+Ssaschenjka, hieß sie sich ihr gegenüber hinsetzen,
+sah sie lange, lange, mit traurigem, kummervollem
+Blick an, eben wie Kinder, die bei einem
+„<em>solchen Vater</em>“ dem Untergang geweiht sind,
+seufzte tief und schwer und brach in wortlose, geheimnisvolle,
+weil unerklärliche Tränen aus, die dann
+mindestens eine geschlagene Stunde unaufhaltsam
+flossen. Wehe dem Obersten, wenn er diese Tränen
+nicht zu begreifen <em>verstand</em>! Er aber, der Arme,
+verstand nie, sie zu begreifen, geriet vielmehr in seiner
+Naivität wie mit Absicht gerade zu diesen gefährlichen
+Stunden in ihren Gesichtskreis und mußte daher, ob
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+er wollte oder nicht, eine neue Prüfung bestehen.
+Nichtsdestoweniger verringerte sich seine Ehrerbietung
+nicht – im Gegenteil, sie wuchs noch ... bis sie
+schließlich die äußersten Grenzen erreichte. Die Generalin
+und Foma Fomitsch fühlten nun beide, daß das
+Gewitter, welches so lange Jahre in der Gestalt des
+Generals Krachotkin in unwandelbarer Beständigkeit
+über ihren Häuptern geschwebt hatte, endlich vorübergezogen
+war und nie mehr wiederkehren werde. Zuweilen
+kam es auch vor, daß die Generalin mir nichts
+dir nichts auf das Sofa sank und – „in Ohnmacht
+fiel“: alles lief dann und schrie, der Oberst war aufs
+äußerste erschrocken und zitterte wie ein Espenblatt.
+</p>
+
+<p>
+„Du grausamer Sohn!“ kreischte dann die Generalin
+los, kaum daß sie das Bewußtsein wiedererlangt
+hatte, „du hast mich zerrissen, – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">oui, moi, ta mère,
+ta mère</span>!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja aber – wann habe ich Sie denn zerrissen,
+Mama?“
+</p>
+
+<p>
+„Das hast du, das hast du! Mich zerrissen hast
+du! Jetzt will er sich noch rechtfertigen! Er wird noch
+unehrerbietig! O du grausamer, unbarmherziger
+Sohn! Oh, ich sterbe!“
+</p>
+
+<p>
+Der Oberst aber war zerknirscht.
+</p>
+
+<p>
+Nur weiß ich nicht, wie es kam, daß die Generalin
+es mit dem Sterben nie wörtlich nahm.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer halben Stunde erklärte der Oberst wohl
+einem seiner „Hausgäste“, ihn am Rockknopf festhaltend,
+die Sache auf folgende Weise:
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ja, sie ist doch, Freund, Grandedame, Generalin!
+– das mußt du nicht vergessen. Sonst ist sie
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+ja eine herzensgute, alte Frau, nur ist sie, weißt du, an
+diesen höheren Ton gewöhnt ... nun, und ich Tölpel
+verstehe eben so etwas nicht. Jetzt ärgert sie sich über
+mich. Es ist ja wahr, ich bin schuldig ... obschon mir,
+offen gestanden, immer noch nicht so recht klar ist, was
+ich denn eigentlich verschuldet habe, aber es wird wohl
+so sein, selbstverständlich! ...“
+</p>
+
+<p>
+Mitunter glaubte sich in solchen Fällen wohl auch
+Fräulein Perepelizyna verpflichtet, ihm deswegen eine
+Moralpredigt zu halten. Sie war ein etwas überreifes
+Fräulein, ohne Augenbrauen, mit falschem Haar,
+kleinen, stechenden Äuglein, mit Lippen, die wie Bindfaden
+so schmal waren, und mit Händen, die sie in
+gesalzenem Gurkenwasser wusch.
+</p>
+
+<p>
+„Das kommt daher, daß Sie unehrerbietig sind,
+und weil Sie egoistisch sind, weil Sie Ihre Frau
+Mutter kränken, Ihre Frau Mutter aber an eine solche
+Behandlung nicht gewöhnt ist ... denn sie ist doch
+Generalin ... Sie aber sind nur erst Oberst.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, weißt du, Freund,“ sagte dann wohl der
+Oberst zu seinem Zuhörer, „Fräulein Perepelizyna ist
+doch im Grunde ein vorzügliches Mädchen, sie steht
+wie ein Mann für meine Mutter ein! Wirklich ein
+seltenes Mädchen! Glaub’ nur nicht, daß sie irgend
+so eine aus Gnade und Barmherzigkeit ernährte
+Klatschbase sei! Bewahre! Sie ist selbst die Tochter
+eines Majors. Tatsache!“
+</p>
+
+<p>
+Doch das sind vorläufig nur so einige Beispiele.
+Dieselbe Generalin aber, die so verschiedenartige Anfälle
+bekam, zitterte ihrerseits wie eine Maus vor dem
+ehemaligen Narren ihres Gatten. Foma Fomitsch
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+besaß förmlich Zaubermacht über diese Dame. Sie
+wagte nicht zu mucken, wenn er etwas befahl; sie hörte
+nur mit seinen Ohren, sah nur mit seinen Augen. Einer
+meiner Vettern zweiten Grades, gleichfalls ein Husarenoffizier
+a. D., ein noch junger Mensch, der aber nichtsdestoweniger
+sein ganzes Vermögen bereits doppelt
+durchgebracht hatte und sich seit einiger Zeit bei meinem
+Onkel aufhielt, erklärte mir kurz und bündig, ohne den
+geringsten Zweifel aufkommen zu lassen, daß die Generalin
+nach seiner felsenfesten Überzeugung in „unerlaubten
+Beziehungen“ zu Foma Fomitsch stünde. Ich
+ließ jedoch diese Deutung selbstverständlich nicht gelten.
+Nein, hier handelte es sich um etwas ganz anderes,
+viel Feineres – doch bleibt mir zur Erklärung dieses
+anderen nur eines übrig: den Charakter Foma Fomitschs
+so zu erklären, wie ich ihn mit der Zeit selbst
+beurteilen lernte.
+</p>
+
+<p>
+Man denke sich einen der niedrigsten, kleinmütigsten
+Menschen, einen Auswurf der Gesellschaft, für
+den niemand eine Verwendung hat, einen vollkommen
+nutzlosen, erbärmlichen Wicht, der aber grenzenlos eitel,
+selbstgefällig und eigennützig ist und zum Überfluß von
+der Natur entschieden nichts erhalten hat, wodurch er
+auch nur annähernd eine solche krankhaft überspannte
+Eigenliebe und Eigensucht rechtfertigen könnte. Ich
+will hier eines gleich vorausschicken: Foma Fomitsch
+ist die Verkörperung jener ganz besonderen schrankenlosen
+Eigenliebe, die sich nur bei der größten Nichtigkeit
+entwickelt. Wie gewöhnlich in solchen Fällen, scheint
+diese Eigenliebe ständig beleidigt und durch frühere
+schwere Mißerfolge gezüchtet zu sein. Sie gärt seit
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+vielen, vielen Jahren, Jahrzehnten, und zeugt nur noch
+Neid, Gift und Galle, gleichviel, ob es sich um einen
+fremden Erfolg handelt oder bloß um eine neue Bekanntschaft.
+Es ist vielleicht überflüssig, noch hinzuzufügen,
+daß dieser ganze Charakter von einer nahezu
+schändlichen unverschämten Empfindlichkeit, dem verrücktesten
+Argwohn und Mißtrauen beherrscht wird.
+Vielleicht wird man fragen: Woraus ist denn diese
+Eigenliebe entstanden? Wie kann sie bei einer so offenkundigen
+Wertlosigkeit des ganzen Menschen entstehen,
+bei einem so nichtigen Menschen, der doch allein seiner
+sozialen Stellung nach den ihm in Wirklichkeit zukommenden
+Platz kennen müßte? – Was soll man
+auf solche Fragen antworten? Vielleicht gibt es Ausnahmen,
+zu denen dann auch mein Held gehört; denn daß
+er eine Ausnahme von der Regel war, unterliegt keinem
+Zweifel, was sich bei näherer Bekanntschaft sonnenklar
+zeigen wird. Einstweilen erlaube man mir eine Gegenfrage:
+Sind Sie denn wirklich überzeugt, daß diese
+Menschen, die sich ganz und gar ergeben haben, die
+darin ihr Glück sehen und es sich zur Ehre anrechnen,
+daß sie jemandes Hausnarr und Gnadenbrotschlucker
+sein können – sind Sie wirklich überzeugt, daß diese
+Kreaturen sich von jedem Selbstgefühl, von jeder
+Eigenliebe losgesagt haben? Aber der Neid, der
+Klatsch, die Verleumdungen, die Ohrenbläserei und
+das geheimnisvolle Gezischel in den Winkeln Ihres
+eigenen Hauses, hinter Ihrem Rücken, oder die Seitenstiche
+an Ihrem eigenen Tisch?? Wer weiß, ob in
+einigen dieser vom Schicksal erniedrigten Gnadenbrotessern,
+Ihren Narren und Speichelleckern, die natürliche
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+Eigenliebe durch die Erniedrigung nicht etwa vermindert
+oder erstickt, sondern gerade durch diese Erniedrigung,
+durch die Narrenrolle und die ewig erzwungene
+Unterwürfigkeit und Persönlichkeitslosigkeit
+noch zu einer weit größeren Eigenliebe aufgeschraubt
+wird? Wer weiß, vielleicht ist diese ins Ungeheuerliche
+entwickelte Eigenliebe nur ein falsches, entstelltes
+Empfinden der eigenen Menschenwürde, die zum erstenmal
+vielleicht schon in der Kindheit durch fremdes
+Joch, Armut, Schmutz oder Verachtung mit Füßen getreten
+worden ist. Oder vielleicht hat der Betreffende
+als kleines Kind seine Eltern so behandelt gesehen?
+Doch ich habe gesagt, daß Foma Fomitsch außerdem
+noch eine Ausnahme darstellte – er war in der Tat
+ein ganz besonderer Fall. Er hatte sich einmal für
+einen Literaten gehalten, war aber von den anderen
+nicht anerkannt und folglich zurückgesetzt, gekränkt, beleidigt
+worden. Die Literatur aber – d. h. jene,
+die er natürlich nicht anerkannte – kann sich wegen
+eines Foma Fomitsch nicht selbst aufgeben! Ich weiß
+es zwar nicht genau, aber es ist doch anzunehmen, daß
+Foma Fomitsch auch <em>vor</em> seinen literarischen Versuchen
+nicht gerade vom Erfolg verwöhnt worden war;
+vielleicht hatte er auch in jeder anderen von ihm versuchten
+Tätigkeit nur Nasenstüber anstatt einer Belohnung
+erhalten – oder vielleicht noch Schlimmeres.
+Doch darüber läßt sich nichts Genaues feststellen; erfahren
+habe ich nur nach vielfachen Erkundigungen,
+daß Foma Fomitsch in Moskau tatsächlich einmal einen
+kleinen Roman geschrieben hat, äußerst ähnlich jenen
+Werken der dreißiger Jahre, von denen jährlich ein
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+Dutzend erschienen, in der Art der „Befreiungen
+Moskaus“ oder der „Söhne der Liebe oder der Russen
+im Jahre 1104“. Das war allerdings vor langer
+Zeit, aber der Schlangenbiß des literarischen Ehrgeizes
+verwundet oft tief und unheilbar, was namentlich von
+nichtigen und dummen Leuten gilt. Foma Fomitsch
+war sogleich nach seinem ersten literarischen Versuch,
+wie wir annehmen müssen, in seinem Ehrgeiz getroffen,
+und so schloß er sich ohne weiteres endgültig jener unzählbaren
+Schar der Zurückgesetzten an, aus der dann
+später alle diese Sonderlinge, Hampelmänner und
+gesellschaftlichen Vagabunden hervorgehen. Zu derselben
+Zeit begann, wie ich glaube, auch diese unglaubliche
+Prahlsucht sich in ihm zu entwickeln, dieses gierige
+Bedürfnis nach Lob und Auszeichnungen, Verehrung
+und Bewunderung. Selbst als Narr hatte er sich
+einen Kreis ihn andächtig anstaunender Idioten zu
+schaffen gewußt. Sein einziges Verlangen war: stets
+den Vorrang zu haben, sich zeigen zu können, gelobt zu
+werden. Lobten ihn die anderen nicht, so lobte er sich
+selbst. Ich habe seine Reden im Hause meines Onkels
+in Stepantschikowo, nachdem er dort unumschränkter
+Herrscher geworden war, selbst gehört. „Ich gehöre
+nicht in Ihren Kreis,“ pflegte er oft genug mit einer
+gewissen geheimnisvollen Feierlichkeit zu sagen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich gehöre nicht hierher in Ihren Kreis! Ich
+werde wirken, werde Sie hier zuerst alle unterbringen
+und Ihr Leben einrichten, Sie zu leben lehren, dann
+aber – lebt wohl! Dann geht’s nach Moskau, und
+dort werde ich eine Zeitschrift herausgeben. Dreißigtausend
+Menschen werden sich monatlich zu ihrer
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+Lektüre zusammenfinden. Ja, dann wird mein Name
+klingen ... und dann – wehe meinen Feinden!“
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen aber forderte das Genie die Belohnung
+im voraus. Es ist ja im allgemeinen sehr angenehm,
+im voraus belohnt zu werden, um wieviel mehr aber
+ist es das in einem solchen Fall. Wie ich genau weiß,
+hat er meinem Onkel in allem Ernst versichert, daß ihm
+eine große Tat bevorstehe, eine Tat, zu der er allein
+berufen und geboren sei, und zu deren Vollbringung
+ihn ein geflügeltes Wesen von Menschenart, das in
+der Nacht bei ihm erscheine, zwinge. Und diese Tat
+sei: ein tiefsinniges, die Seelen der Menschen errettendes
+Werk zu schreiben, von dem „ein allgemeines
+Erdbeben ausgehen“ und das „ganz Rußland erzittern
+machen“ werde. Doch wenn dann sein Name in aller
+Mund sei, dann werde er, Foma, den Ruhm und die
+Ehre verachtend, sich ins Kijewsche Höhlenkloster zurückziehen,
+um dort unter der Erde Tag und Nacht für
+das Glück des Vaterlandes zu beten ... So etwas aber
+rührte meinen Onkel.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt stelle man sich vor, zu was sich dieser Foma
+entwickeln konnte, dieser selbe Foma, der sein ganzes
+Leben lang geknechtet und vielleicht sogar tatsächlich
+geprügelt worden war, dieser selbe Foma, der im geheimen
+so genußgierig und so eigenliebig war wie kein
+zweiter, Foma, der enttäuschte, erbitterte Literat, Foma,
+der für das tägliche Brot den Narren gespielt, Foma,
+der im Grunde seiner Seele der größte Despot war,
+ungeachtet seiner ganzen vorhergehenden Niedrigkeit
+und Bedeutungslosigkeit, Foma, der Prahlhans und
+unverschämte Frechling (sobald er nur Gelegenheit
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+hatte, es zu sein), dieser selbe Foma, der dann plötzlich
+zu Ruhm und Ehre gelangte, verhätschelt und gelobt
+und in den Himmel gehoben wurde, dank einer
+törichten, kindisch-dummen Beschützerin und einem
+ahnungslosen, von vornherein mit allem einverstandenen
+Beschützer, in dessen Hause er sich endlich nach langen
+Irrfahrten zur Ruhe setzen konnte! Freilich muß ich
+auch den Charakter meines Onkels eingehender erklären;
+denn sonst würde der Erfolg Foma Fomitschs
+immerhin nicht ganz verständlich sein. Auf Foma
+paßte vorzüglich das Sprichwort: läßt du den Ziegenbock
+in die Kirche hinein, so steigt er sofort auf die
+Kanzel. Ja, Foma verstand es wahrlich, sich für das
+Vergangene zu entschädigen! Ein niedriger Charakter
+wird, sobald er von seinem Bedrücker befreit ist, sofort
+andere bedrücken. Foma nun war tyrannisiert worden
+– und er empfand sofort das Bedürfnis, jetzt selbst
+zu tyrannisieren; man hatte ihn zum besten gehabt, –
+folglich wollte auch er jetzt andere zum besten haben;
+er war Narr gewesen, nun mußte auch er unbedingt
+Narren haben. Er prahlte bis zur Verrücktheit, war
+herrschsüchtig bis zur Unmenschlichkeit, war anspruchsvoll
+ohne jedes Maß, verlangte womöglich Vogelmilch
+– so daß Leute, die von ihm nur erzählen hörten, ihn
+aber nicht persönlich kannten, diese Geschichten aus
+Stepantschikowo für Märchen hielten oder für des
+Teufels Machwerk, sich bekreuzten und ausspien.
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte vorhin, daß ohne eine Erklärung des
+bemerkenswerten Charakters meines Onkels diese freche
+Herrschaft Foma Fomitschs in einem fremden Hause
+unbegreiflich erscheinen müsse, unbegreiflich diese Metamorphose
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+aus einem Narren in eine große Persönlichkeit.
+Mein Onkel war nicht nur unsäglich gut, sondern
+trotz seiner ganzen militärischen Erscheinung auch ein
+selten zartfühlender Mensch, ein überaus edler, männlicher
+Charakter. Ich sage mit Absicht „männlich“ und
+betone dieses Wort. Wenn es für ihn hieß, eine Pflicht
+zu erfüllen, dann kannte er nie ein Hindernis, dann
+schrak er vor nichts zurück. Seine Seele war rein wie die
+eines Kindes. Man konnte ihn wirklich ein fast vierzigjähriges
+Kind nennen. Er war äußerst mitteilsam,
+stets heiter gestimmt, sah in jedem Menschen einen
+Engel, hielt alle fremden Mängel nur für Folgen seiner
+eigenen Fehler, vergrößerte die guten Eigenschaften der
+anderen unendlich und sah solche sogar dort, wo sie
+überhaupt nicht vorhanden sein konnten. Er war
+einer jener durch und durch edlen Menschen, die so
+keuschen Herzens sind, daß sie sich geradezu schämen,
+in einem anderen Menschen etwas Schlechtes zu vermuten,
+ja, daß sie sich beeilen, ihre Nächsten mit allen
+Tugenden auszuschmücken; einer jener Menschen, die
+sich über jeden Erfolg anderer freuen, auf diese Weise
+beständig in einer idealen Welt leben und bei einem
+Unglück immer sich zuerst, sich ganz allein beschuldigen.
+Sich selbst den Interessen anderer zu opfern, scheint
+ihre Lebensaufgabe zu sein. Manch einer hätte meinen
+Onkel vielleicht sogar kleinmütig, charakterlos, schwach
+genannt. Allerdings war er schwach bei seinem gar
+zu weichen Herzen; nur war er es nicht aus Mangel
+an Charakterfestigkeit, sondern aus Furcht, zu kränken,
+grausam zu sein, oder aus gar zu großer Hochachtung
+vor anderen – vor dem Menschen überhaupt. Und
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+übrigens war er nur dann schwach und kleinmütig,
+wenn es sich um seine eigenen Interessen handelte, die
+er immer hintansetzte, wofür er sich sein Leben lang
+dem Gespött der Menschen aussetzte, und nicht selten
+dem Gespött gerade derjenigen, für die er sich opferte.
+Niemals hätte er geglaubt, daß er Feinde haben könnte,
+und dennoch hatte er sie – nur bemerkte er sie nicht.
+Zwist und Geschrei im Hause fürchtete er mehr als
+Feuer, und so gab er allen in allem sofort nach und
+ergab und beschied sich stets. Er tat es aus einer gewissen
+schüchternen Gutmütigkeit heraus, aus einem
+fast zärtlichen Zartgefühl, – „damit, weißt du,“ sagte
+er schnell, gewissermaßen, um sich gegen etwaige Vorwürfe
+zu verteidigen, – „damit, weißt du ... nun,
+damit alle zufrieden und glücklich sind!“ Es versteht
+sich von selbst, daß er jedem edlen Einfluß zugänglich
+war; ja, ein gewandter Spitzbube hätte sich seiner vollkommen
+bemächtigen und ihn sogar zu einer schlechten
+Tat verleiten können, d. h. wenn er diese schlechte Tat
+als edel hingestellt hätte. Mein Onkel ließ sich leicht
+von anderen lenken, besonders wenn er dem Betreffenden
+einmal sein ganzes Vertrauen geschenkt hatte; in
+dieser Beziehung war er also durchaus nicht fehlerfrei.
+Wenn er sich aber dann nach lange gezahltem schmerzlichen
+Lehrgeld endlich entschloß, daran zu glauben,
+daß der ihn Betrügende ein unehrlicher Mensch war,
+so beschuldigte er vor allen anderen sich selbst, und
+nicht selten nur sich allein. Nun denke man sich in
+seinem stillen Hause diese plötzlich die Herrschaft an
+sich reißende, launenhafte, verschrobene Idiotin von
+Mutter, zusammen mit einem anderen Idioten –
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+ihrem Abgott –, eine Idiotin, die bis dahin nur ihren
+General gefürchtet hatte, jetzt aber nichts mehr fürchtete
+und sogar das Bedürfnis empfand, sich für die schlechten
+Lebensjahre zu entschädigen – eine Idiotin, der
+der Oberst frommen Gehorsam schuldig zu sein glaubte,
+und zwar einzig aus dem Grunde, weil sie seine
+Mutter war.
+</p>
+
+<p>
+Man begann damit, daß man dem Oberst bewies,
+daß er ein roher Mensch sei, unduldsam, unwissend und
+vor allen Dingen ein „Egoist ersten Ranges“. Bemerkenswert
+war dabei, daß die blödsinnige Alte selbst vollkommen
+an <a id="corr-1"></a>das glaubte, was sie predigte. Ja, ich
+vermute sogar, auch Foma Fomitsch tat das, oder
+wenigstens zum Teil. Man überzeugte den Oberst,
+daß Foma von Gott selbst zur Rettung seiner, des
+Obersten, Seele vom Himmel herabgesandt sei, desgleichen
+zur Besänftigung seiner zügellosen Leidenschaften;
+daß er stolz sei, mit seinem Reichtum prahle
+und fähig wäre, Foma Fomitsch wegen des täglichen
+Brotes, das er von ihm empfing, Vorwürfe zu machen.
+Mein armer Onkel glaubte bald selbst an die Tiefe
+seiner sittlichen Gesunkenheit und war bereit, sich die
+Haare vor Reue auszuraufen und Foma um Verzeihung
+zu bitten ...
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, Freund, ich bin selbst daran schuld,“
+sagte er zuweilen einem seiner Hausgäste, mit dem er
+sich gerade unterhielt, „und zwar an allem! Man muß
+doppelt zartfühlend sein im Umgang mit einem Menschen,
+dem man Gutes tut ... Das heißt ... was
+sage ich! Was Gutes tut! Was schwatze ich da wieder!
+Durchaus nicht Gutes tut, sondern im Gegenteil –
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+er ist es, der mir Gutes tut, indem er bei mir wohnt,
+aber nicht umgekehrt! ... Das heißt, ich habe ihm
+meines Wissens noch nie auch nur das Geringste vorgeworfen,
+aber ich muß es doch wohl getan haben ...
+wahrscheinlich ist mir wieder einmal so etwas entschlüpft,
+– mir entschlüpft oft etwas Unüberlegtes ...
+Nun, und schließlich – der Mensch hat gelitten, hat
+Großes vollbracht, hat zehn Jahre lang, ohne auf die
+Kränkungen zu achten, seinen kranken Freund gepflegt:
+so etwas muß belohnt werden! Ja, und dann die
+Wissenschaft ... Er ist doch Schriftsteller! Ungemein
+gebildet! Ein überaus edler Mensch, mit einem
+Wort! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ja, Foma, der Gebildete und Unglückliche, der bei
+einem launischen und grausamen Freunde den Narren
+hatte spielen müssen, erweckte in dem edlen Herzen
+meines Onkels das tiefste Mitleid. Alle Seltsamkeiten
+Fomas, sowie alle seine schändlichen Ausfälle dem
+Hausherrn gegenüber, wurden von diesem ohne weiteres
+mit seinen früheren Leiden, seiner Erniedrigung und
+Verbitterung entschuldigt. Er sagte sich in seiner gutmütigen,
+stets nachsichtigen Seele, daß man von einem
+Gemarterten nicht dasselbe verlangen könne wie von
+einem gewöhnlichen Menschen, daß man ihm nicht nur
+alles verzeihen, sondern mit Demut seine Wunden
+heilen, ihn aufrichten und mit der Menschheit wieder
+aussöhnen müsse. Nachdem er sich dieses einmal zum
+Ziel gesetzt hatte, begeisterte er sich geradezu für seine
+Aufgabe und verlor gänzlich die Fähigkeit, auch nur
+entfernt zu erraten, daß sein neuer Freund ein gieriger,
+eigennütziger Lump war, ein Egoist, Faulpelz und Aussauger
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+– und weiter nichts. An das Wissen und die
+Genialität Fomas glaubte er einwandlos. Ich habe
+noch vergessen zu sagen, daß mein Onkel vor Worten
+wie „Wissenschaft“ oder „Literatur“ eine Hochachtung
+empfand, die von der größten Naivität war, um so
+mehr, als er selbst niemals etwas gelernt hatte. Das
+war nun einmal eine seiner wirklichen und unschuldigsten
+Schwächen.
+</p>
+
+<p>
+„Pst! Er schreibt an seinem Werk!“ sagte er zuweilen
+zur Erklärung, wenn er schon in einem Zimmer,
+das noch ganz fern von Foma Fomitschs „Arbeitskabinett“
+lag, nur auf den Fußspitzen zu gehen wagte.
+„Ich weiß nicht, was er da eigentlich schreibt,“ fügte
+er mit halbwegs stolzer und geheimnisvoller Miene
+hinzu; „aber sicherlich wird es, Freund, ein solches
+Durcheinander sein ... Das heißt selbstverständlich,
+was sage ich! – nur im guten Sinne ein Durcheinander!
+Für manch einen wird es ja klar wie Tinte
+sein, für unsereinen aber, Bruder, sind das solche Gedankenpurzelbäume,
+daß ... Ich glaube, er schreibt
+da von gewissen erzeugenden Kräften – so sagt er
+wenigstens selbst. Es ist wahrscheinlich etwas Politisches.
+Ja, ja, einmal wird sein Name einen großen
+Klang haben! Dann werden auch wir beide durch ihn
+berühmt werden! Das hat er mir, weißt du, selbst
+gesagt ...“
+</p>
+
+<p>
+Wie ich aus sicherer Quelle weiß, hat sich mein
+Onkel auf Fomas Befehl seinen prächtigen dunkelblonden
+Backenbart abrasieren müssen, da jener gefunden
+hatte, daß er mit dem Backenbart wie ein Engländer
+aussehe und folglich „wenig Vaterlandsliebe“
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+habe. Mit der Zeit begann Foma sich auch in die
+Verwaltung des Gutes einzumischen und weise Ratschläge
+zu erteilen, die, nebenbei bemerkt, fürchterlich
+waren. Die Bauern errieten denn auch bald, wie es
+sich damit verhielt, und wer der wahre Herr auf dem
+Gute war – und sie kratzten sich bedenklich hinterm
+Ohr. Ich habe späterhin selbst Gelegenheit gehabt,
+einem Gespräch Foma Fomitschs mit den Bauern zuzuhören.
+Ich will gleich gestehen, daß ich heimlich gelauscht
+habe. Foma hatte oft genug gesagt, daß er
+gern mit einem klugen russischen Bauern rede. Eines
+Tages ging er zur Tenne. Er sprach mit den Bauern
+über die Feldarbeit, die Landwirtschaft – obgleich er
+selbst nicht Hafer von Weizen zu unterscheiden verstand,
+– sprach von den heiligen Pflichten des Bauern
+seinem Herrn gegenüber, berührte darauf Themen wie
+Industrialismus, Elektrizität und die Erleichterung der
+Arbeit – wovon er selbst natürlich kein Wort begriff,
+– erklärte seinen Zuhörern, in welcher Weise die Erde
+sich um die Sonne drehe, um dann schließlich, ganz
+gerührt von seinen eigenen Kenntnissen, auf die Minister
+zu sprechen zu kommen. Ich verstand ihn. Erzählt
+doch Puschkin von einem Vater, der seinem vierjährigen
+Söhnchen sagt, er, sein „Papachen“, sei so
+„brav und tapfer, daß der Kaiser ihn ganz besonders
+liebe“. Auch dieser Vater bedurfte eines Zuhörers,
+und wenn der Zuhörer auch erst vier Jahre zählte ...
+Die Bauern aber hörten Foma stets voll Ehrerbietung
+zu.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was, Väterchen, bekommst du auch viel
+kaiserliches Gehalt?“ fragte ihn plötzlich ein kleiner
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+Alter, Archip Korotkij genannt, aus der Schar der vor
+ihm stehenden Bauern, mit der unverhohlenen Absicht,
+etwas Angenehmes zu fragen. Foma Fomitsch fand
+jedoch diese Frage zu „familiär“. „Familiarität“ aber
+konnte er nicht ertragen.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das dich an, du Lümmel?“ antwortete
+er mit verächtlichem Blick auf das arme Bäuerlein.
+„Was steckst du hier deine Schnauze vor – soll ich sie
+etwa anspeien?“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch sprach nie in einem anderen Tone
+mit dem „verständigen russischen Bauern“.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Väterchen, wir sind doch unwissende Leute,“
+sagte ein anderes Bäuerlein. „Was wissen wir viel,
+vielleicht bist du Major, vielleicht Oberst, vielleicht sogar
+ganzer General – wir wissen ja nicht einmal, wie
+man dich betiteln muß.“
+</p>
+
+<p>
+„Lümmel!“ wiederholte bloß Foma Fomitsch, war
+aber doch sogleich nachsichtiger gestimmt. „Zwischen
+Gehalt und Gehalt ist ein Unterschied, Dummkopf!
+Manch einer ist General und erhält überhaupt nichts;
+denn es ist kein Grund vorhanden, ihm etwas zu geben,
+weil er dem Kaiser keinen Nutzen bringt. Ich dagegen
+erhielt zwanzigtausend Rubel jährlich, als ich beim
+Minister angestellt war, und selbst dieses Geld nahm
+ich nicht; denn ich diente um der Ehre willen und hatte
+außerdem eigenes genug. Mein Gehalt aber stiftete
+ich für staatlichen Unterricht und für die niedergebrannten
+Einwohner der Stadt Kasanj.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann hast du ja halb Kasanj von neuem aufgebaut?“
+fragte verwundert derselbe Bauer.
+</p>
+
+<p>
+Überhaupt kann man sagen, daß alle Bauern
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+sich nicht wenig über Foma Fomitsch wunderten
+...
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ja, versteht sich, auch mein Teil ist dabei ...“
+sagte Foma, gleichsam ungehalten über sich, daß er
+einen <em>solchen</em> Menschen eines <em>solchen</em> Gesprächs
+gewürdigt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Mit meinem Onkel dagegen waren seine Gespräche
+anderer Art.
+</p>
+
+<p>
+„Was waren Sie früher für ein Mensch?“ fragte
+zum Beispiel Foma, sich nach dem opulenten Mittagsmahl
+im Lehnstuhl streckend – hinter dem ein Diener
+stehen und mit einem frischen Lindenzweig die Fliegen
+sanft fortwedeln mußte.
+</p>
+
+<p>
+„Wem glichen Sie früher, bevor ich kam? Jetzt
+habe ich in Ihnen einen Funken jenes himmlischen
+Feuers entzündet, das seitdem in Ihrer Seele brennt.
+Habe ich das himmlische Feuer in Sie hineingelegt oder
+nicht? Antworten Sie: ja oder nein?“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch wußte, genau genommen, selbst
+nicht, weshalb er diese Frage stellte. Aber das
+Schweigen und die gewisse Betretenheit in der Miene
+meines Onkels reizten ihn sogleich. Er, der früher
+geduldig alles ertragen hatte, war jetzt zu wahrem
+Schießpulver geworden, das bei jedem, auch dem geringsten
+Widerspruch aufflammte. Da er das Schweigen
+des Obersten als Beleidigung auffaßte, bestand er
+mit doppeltem Eigensinn auf der Antwort.
+</p>
+
+<p>
+„Antworten Sie: brennt in Ihnen dieses Feuer
+oder nicht?“
+</p>
+
+<p>
+Der arme Oberst wand sich innerlich in seiner Ratlosigkeit:
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+er wußte wirklich nicht, was er tun oder
+sagen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Gestatten Sie, Sie daran zu erinnern, daß ich
+warte,“ bemerkte Foma mit gekränkter Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais répondez donc</span>, Jegóruschka!“ mischte sich
+auch die Generalin mit einem Achselzucken ein.
+</p>
+
+<p>
+„Ich frage Sie: Glimmt in Ihnen noch dieser Funke
+oder nicht?“ wiederholte Foma mit nachsichtiger Herablassung
+und nahm einen Bonbon aus der Bonbonnière,
+die immer und überall vor ihn hingesetzt wurde. Das
+geschah auf Anordnung der Generalin.
+</p>
+
+<p>
+„Bei Gott, ich weiß es nicht, Foma,“ antwortete
+der Oberst schließlich, Verzweiflung im Blick – „es
+muß doch wahrscheinlich etwas von der Art ... Nein
+wirklich, frag’ mich lieber nicht, sonst lüge ich noch
+irgend etwas zusammen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gut! So bin ich denn Ihrer Meinung nach so
+wertlos, daß ich nicht einmal einer Antwort wert bin
+– das ist es doch, was Sie damit sagen wollten?
+Nun, mag es denn so sein; mag ich also nichts bedeuten!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber nein doch, Foma, um Gottes willen! Wann
+habe ich denn so etwas sagen wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben gerade dieses und nichts anderes damit
+sagen wollen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich schwöre dir, – <em>nein</em>!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut! Mag ich also ein Lügner sein! Mag ich
+also, nach Ihrer Anschuldigung, absichtlich einen Vorwand
+zum Streit suchen! Mag also zu allen anderen
+Beleidigungen auch diese noch hinzukommen – ich
+trage alles ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais mon fils!</span>“ rief erschrocken die Generalin
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Foma Fomitsch! Mama!“ beschwor der
+Oberst verzweifelt. „Bei Gott, ich bin doch nicht daran
+schuld! Es ist mir vielleicht nur wieder etwas, ohne
+zu wollen, entschlüpft! ... Sieh mich doch nicht so an,
+Foma: ich bin ja ein ungebildeter Mensch – ich fühle
+ja selbst, daß ich dumm bin, ich fühle ja selbst, daß
+etwas nicht stimmt ... Ich weiß es, Foma, glaub’
+mir, ich weiß alles! Du brauchst es mir ja gar nicht
+erst zu sagen!“ wehrte er sich, immer verzweifelter.
+„Ich habe vierzig Jahre verlebt und die ganze Zeit,
+bis zu dem Augenblick, da ich dich kennen lernte, immer
+von mir geglaubt, daß ich ein Mensch sei ... Nun,
+und alles, was daraus folgt, mit einem Wort: eben
+ein Mensch! ... Und ich habe ja wirklich bis jetzt
+nicht gewußt, daß ich sündig bin wie nur einer, ein
+Egoist erster Sorte – und so viel Schlechtes in meinem
+Leben getan habe, daß man sich nur wundern kann,
+wie die Erde mich noch trägt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Sie sind allerdings ein beispielloser Egoist,
+das muß ich sagen!“ bemerkte überzeugt Foma Fomitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich begreife es ja jetzt selbst, daß ich ein
+Egoist bin! Nein, Kreuzmillionen, ich muß mich
+bessern, und ich werde es!“
+</p>
+
+<p>
+„Gott geb’s!“ schloß Foma Fomitsch mit einem
+frommen Aufseufzen und erhob sich aus seinem Lehnstuhl,
+um sich zu seinem Nachmittagsschläfchen zurückzuziehen.
+Foma Fomitsch pflegte jedesmal nach dem
+Essen zu schlafen.
+</p>
+
+<p>
+Zum Schlusse dieses Kapitels muß ich noch einiges
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+von meinen persönlichen Beziehungen zu meinem Onkel
+sagen und vor allem erklären, wie es kam, daß ich
+plötzlich Auge in Auge Foma Fomitsch gegenüberstand
+und ungewollt und unverhofft in den Strudel der
+größten Ereignisse hineingeriet, die sich jemals in dem
+gesegneten Herrenhause von Stepantschikowo zugetragen
+haben. Damit beabsichtige ich diese Einleitung zu
+schließen, um alsdann zur eigentlichen Erzählung
+überzugehen.
+</p>
+
+<p>
+In meiner Kindheit, als ich verwaist und ohne Geld
+in der Welt zurückblieb, nahm sich mein Onkel meiner
+an, erzog mich auf seine Kosten und tat für mich, kurz
+gesagt, manches, was oft selbst ein leiblicher Vater
+nicht getan hätte. Schon am ersten Tage, an dem er
+mich zu sich nahm, hing ich mich mit ganzer Seele an
+ihn. Damals war ich zehn Jahre alt, und ich weiß
+noch, daß wir bald die besten Freunde waren und einander
+vorzüglich verstanden. Wir drehten beide
+Brummkreisel, stibitzten beide die Nachthaube einer
+alten, giftigen Jungfer, mit der wir entfernt verwandt
+waren. Die Nachthaube band ich übrigens an den
+Schweif meines Papierdrachens und ließ sie mit diesem
+in die Lüfte steigen. Darauf vergingen viele Jahre,
+und ich sah meinen Onkel erst in Petersburg wieder,
+wohin er auf ein paar Tage gekommen war, als ich –
+immer auf seine Kosten – das Gymnasium absolvierte.
+Während dieses Besuches hing ich mich wieder mit der
+ganzen Leidenschaft der Jugend an ihn: es war etwas
+Edles, Vornehmes, Aufrichtiges in seinem Charakter,
+und es war vor allem seine Heiterkeit und seine unglaubliche
+Naivität, die mich und jeden anderen anzogen.
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+Nachdem ich dann mein Studium auf der Universität
+beendet hatte, lebte ich eine Zeitlang in Petersburg,
+ohne mit etwas beschäftigt zu sein, und war, wie
+so mancher Milchbart, fest überzeugt, daß ich in allernächster
+Zeit ungeheuer viel Bemerkenswertes und sogar
+Großes vollbringen werde. Petersburg verlassen
+wollte ich noch nicht. Meinem Onkel schrieb ich nicht
+allzuoft, eigentlich nur dann, wenn ich Geld brauchte,
+das er mir nie verweigerte. Da geschah es, daß ich
+von einem Hofbauern meines Onkels, der zufällig in
+Geschäften nach Petersburg gekommen war, hörte, daß
+bei ihnen in Stepantschikowo wunderliche Dinge vor
+sich gingen. Die betreffenden Mitteilungen setzten
+mich in Erstaunen und erweckten sogleich mein Interesse.
+Ich begann meinem Onkel öfter zu schreiben.
+Er antwortete mir immer etwas undeutlich und eigentümlich,
+und schien sich offenbar beim Schreiben eines
+jeden Briefes krampfhaft zu bemühen, nur von der
+Wissenschaft zu reden, da er von mir in Zukunft große
+Dinge erwartete, und auf meine etwaigen Erfolge bereits
+im voraus nicht wenig stolz war. Dann aber
+erhielt ich eines schönen Tages, nach längerem Schweigen,
+einen Brief von ihm, der allen vorhergehenden
+Briefen durchaus unähnlich war. Er setzte sich aus so
+seltsamen Andeutungen zusammen, aus so wunderlichen
+Widersprüchen, daß ich ihn anfangs überhaupt nicht
+verstand. Ich fühlte nur heraus, daß der Schreiber
+des Briefes sich in großer Aufregung befunden haben
+mußte. Nichtsdestoweniger ging aus dem ganzen
+Schreiben die Hauptsache ziemlich klar hervor: der
+Onkel bat mich in allem Ernst, ja, fast flehte er mich
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+an, sobald wie möglich die Erzieherin seiner Kinder,
+die Tochter eines armen Provinzialbeamten Jeshowikin,
+die in Moskau, gleichfalls auf Kosten meines Onkels,
+in einer vorzüglichen Anstalt erzogen worden war, –
+zu heiraten. Er schrieb, sie sei unglücklich, ich aber
+könnte sie glücklich machen, ganz abgesehen davon, daß
+es eine großmütige Handlung meinerseits wäre. Er
+rief noch den Edelmut meines Herzens an und versprach
+gleichzeitig, dem jungen Mädchen eine gute Mitgift
+zu geben. Von der Mitgift schrieb er übrigens
+sehr ängstlich, wie von einer dummen Nebensache –
+wahrscheinlich in der Furcht, mich zu kränken – und
+schloß den Brief mit der flehenden Bitte, tiefstes
+Schweigen in dieser ganzen Angelegenheit zu wahren.
+</p>
+
+<p>
+Dieser Brief stieß mich dermaßen vor den Kopf,
+daß mir förmlich schwindlig wurde. Aber auf welchen
+jungen Menschen, der wie ich kaum erst von der
+Schule und Universität kam, würde ein solches Anerbieten
+keinen tiefen Eindruck machen, und wär’s
+auch nur, sagen wir, von der romanhaften Seite?
+Zudem hatte ich schon gehört, daß diese junge Gouvernante
+– eine ganz reizende junge Dame sei. Indessen
+wußte ich wirklich nicht, was ich tun sollte, wenn
+ich auch meinem Onkel umgehend schrieb, daß ich
+mich unverzüglich nach Stepantschikowo begeben
+werde. Mein Onkel hatte mir gleichzeitig mit dem
+Brief auch das Reisegeld übersandt. Doch trotz alledem
+konnte ich mich nicht so schnell entschließen und
+zögerte noch ganze drei Wochen in Petersburg. Da
+traf ich plötzlich einen Freund meines Onkels, der mit
+ihm früher im selben Regiment gestanden und nun auf
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+der Rückreise aus dem Kaukasus nach Petersburg ihn
+unterwegs in Stepantschikowo besucht hatte. Es war
+dies ein schon älterer, sonst vernünftig denkender
+Mensch, doch ein eingefleischter Junggeselle. Ganz
+empört erzählte er mir von Foma Fomitsch, und dann
+teilte er mir noch etwas mit, wovon ich bis dahin keine
+Ahnung gehabt hatte: daß Foma und die Generalin
+beschlossen hätten, den Obersten mit einem äußerst seltsamen
+alten Mädchen, das mindestens halbverrückt sei,
+eine außergewöhnliche Lebensgeschichte und wenigstens
+eine halbe Million Mitgift habe, zu verkuppeln. Die
+Generalin habe ihre zukünftige Schwiegertochter zu
+überzeugen gewußt, daß sie verwandt seien und sie folglich
+bei ihnen leben müsse; der Oberst sei natürlich verzweifelt,
+doch werde es aller Voraussicht nach damit
+enden, daß er die halbe Million heirate; und zum
+Schluß fügte der Betreffende noch hinzu, daß die beiden
+Diplomaten, Foma wie die Generalin, die arme, schutzlose
+Erzieherin der Kinder meines Onkels entsetzlich
+behandelten und sie mit aller Gewalt zum Hause hinaustreiben
+wollten, wahrscheinlich in der Angst, der Oberst
+könnte sich in sie verlieben, oder weil er sich vielleicht
+schon in sie verliebt hatte. Diese letzte Mitteilung machte
+mich stutzig. Doch auf alle meine Fragen, ob der Oberst
+sich inzwischen nicht tatsächlich in sie verliebt habe,
+konnte oder wollte er mir keine bestimmte Antwort geben
+– und überhaupt sprach er ziemlich einsilbig und ersichtlich
+ungern von der ganzen Angelegenheit, ja, er umging
+einfach alle näheren Erklärungen. Ich wurde nachdenklich:
+diese neuen Aufschlüsse widersprachen so auffallend
+dem Briefe meines Onkels und seinem Vorschlag!
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+... Aber wozu Zeit verlieren, dachte ich. Ich
+beschloß, sofort nach Stepantschikowo zu fahren, nicht
+nur, um meinen Onkel zu beruhigen und zur Vernunft
+zu bringen, sondern auch, um ihn zu retten, nämlich
+Foma vor die Tür zu setzen, zu verhindern, daß er mit
+der alten Jungfer verkuppelt wurde, und dann – da
+mir nach reiflicher Überlegung die Liebe meines Onkels
+zu der jungen Erzieherin als entschiedenes Hirngespinst
+Foma Fomitschs erschien – die Unglückliche zu beglücken,
+mit anderen Worten, um die Hand des interessanten
+jungen Mädchens anzuhalten usw. Allmählich
+begeisterte ich mich immer mehr für mein Vorhaben, so
+daß ich – wie das so in der Jugend zu geschehen pflegt
+– aus den stärksten Bedenken alsbald in das entgegengesetzte
+Extrem geriet. Mich verzehrte förmlich das Verlangen,
+möglichst schnell die größten Wunder und
+Heldentaten zu vollbringen. Es schien mir sogar, daß
+ich ungewöhnliche Großmut bekunde, mich edelmütig
+opfere, um ein unschuldiges, prachtvolles Geschöpf zu
+beglücken, – kurz, ich war während der ganzen Fahrt
+überaus zufrieden mit mir. Es war Juli; die Sonne
+schien strahlend hell; ringsum sah ich, soweit nur das
+Auge schweifen konnte, die unermeßliche Weite reifender
+Erntefelder. Ich aber hatte so lange in Petersburg eingeschlossen
+gelebt, daß ich, wie mir schien, zum erstenmal
+Gottes freie Welt erblickte.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-5">
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+<span class="firstline">II.</span><br>
+Herr Bachtschejeff.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> näherte mich bereits dem Ziele meiner Reise, als
+ich in dem kleinen Städtchen B., kaum zehn Werst von
+Stepantschikowo entfernt, an der Schmiede in der nächsten
+Nähe des Schlagbaums aussteigen mußte, um den
+gesprungenen Reifen des einen Vorderrades meiner
+kleinen Postkutsche ausbessern zu lassen. Für die Strecke
+von zehn Werst, die mir noch bevorstanden, ließ sich die
+Reparatur leicht machen; daher beschloß ich, so lange daselbst
+bei der Schmiede zu warten und mich nicht erst in
+das Städtchen zu begeben. Als ich ausstieg, bemerkte
+ich einen dicken Herrn, der gleichfalls eine Ausbesserung
+an seinem Gefährt, einer Landequipage, vornehmen ließ.
+Er stand, wie ich später erfuhr, schon seit einer Stunde
+im unerträglichen Sonnenbrand, schrie, schimpfte und
+trieb mit der ganzen Ungeduld eines Eigensinnigen und
+ewig Unzufriedenen die Schmiedegesellen, die an seinem
+prächtigen Wagen arbeiteten, zur Eile an. Ein Blick
+in das Gesicht dieses Herrn genügte, um in ihm den Typ
+eines Brummbären zu erkennen. Er war etwa fünfundvierzig
+Jahre alt, mittelgroß, sehr dick und pockennarbig.
+Sein Schmerbauch, das Doppelkinn, die aufgeblasenen,
+hängenden Wangen zeigten anschaulich, daß er ein bequemes
+Gutsherrnleben führte. Es war etwas Weibisches
+an ihm, das sofort ins Auge fiel. Seine Kleider
+waren sehr breit zugeschnitten, jedenfalls beengten sie
+ihn nicht, waren sauber und nicht billig, doch nicht gerade
+allzu modisch.
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß nicht, weshalb er sich sogleich über mich
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+ärgerte, wozu er doch um so weniger Veranlassung hatte,
+als er mich zum erstenmal im Leben sah und noch kein
+Wort mit mir gesprochen hatte. Seinen Ärger aber bemerkte
+ich sofort an seinem unglaublich wütenden Blick,
+den er auf mich richtete, als ich kaum meinen Fuß auf
+die Landstraße gesetzt hatte. Gleichwohl wollte ich ihn
+ungeheuer gern näher kennen lernen. Aus dem Gespräch
+seiner Leute erriet ich, daß er aus Stepantschikowo kam,
+wahrscheinlich also von einem Besuch bei meinem Onkel
+nach Hause fuhr – so war’s denn doppelt begreiflich,
+daß ich ihn gern ein wenig ausgefragt hätte, um mir
+von dem, was mich erwartete, ein Bild machen zu
+können. Ich lüftete also den Hut und bemühte mich,
+möglichst liebenswürdig zu bemerken, wie unangenehm
+doch solch unfreiwilliger Aufenthalt unterwegs zu sein
+pflege – aber der dicke Herr maß mich nur mit einem
+unzufriedenen, mürrischen Blick vom Hut bis zu den
+Stiefeln, brummte darauf etwas Unverständliches in
+seinen Schnurrbart und drehte mir dann behäbig seine
+Rückseite zu. Wenn nun auch dieser Teil seiner Person
+für einen Beobachter ein sehr bemerkenswertes Objekt
+abgegeben hätte – eine angenehme Unterhaltung war
+von ihm nicht zu erwarten.
+</p>
+
+<p>
+„Grischka! Was brummst du da wieder! Durchbleuen
+werde ich dich!“ schrie er plötzlich seinen Diener
+an, als hätte er meine Äußerung über die Unterbrechungen
+einer Reise überhaupt nicht gehört.
+</p>
+
+<p>
+Dieser „Grischka“ war ein alter Kammerdiener mit
+langem, grauem Backenbart und in einem langschößigen
+Dienerrock. Nach einigen Anzeichen zu urteilen, war er
+gleichfalls sehr schlechter Laune. Er knurrte beständig
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+etwas vor sich hin. So kam es denn zwischen dem Herrn
+und dem Diener alsbald zu einer Auseinandersetzung.
+</p>
+
+<p>
+„Durchbleuen! Schrei nur noch mehr!“ brummte
+Grischka, anscheinend nur vor sich hin – tat es aber doch
+so laut, daß alle es hörten – und wandte sich unwillig
+weg, um sich am Wagen zu schaffen zu machen.
+</p>
+
+<p>
+„Was? Was sagst du? ‚Schrei nur noch mehr?‘
+Willst du grob werden!“ schrie der Dicke, puterrot im
+Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb belieben der Herr über einen herzufallen?
+Man darf wohl kein Wort mehr sagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso herzufallen? Hört ihr, Leute? Selbst knurrst
+du die ganze Zeit, und dann soll ich nicht einmal über dich
+herfallen!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb soll ich denn knurren, möcht’ ich wissen!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb! ... Als ob! ... Ich weiß ja ganz
+genau, weshalb du knurrst: weil ich vom Mittagsmahl
+weggefahren bin, – deshalb!“
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das mich an! Meinethalben brauchten
+der Herr überhaupt nicht zu essen! Ich knurre nicht des
+Essens wegen, ich habe hier nur den Schmiedegesellen
+ein Wort gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+„Den Schmiedegesellen ... Was hast du denn für
+einen Grund, die Schmiedegesellen anzuknurren?“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, wenn nicht sie, dann knurre ich eben die Equipage
+an.“
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du denn die Equipage anzuknurren?“
+</p>
+
+<p>
+„So! – warum ist sie denn entzweigegangen? Hinfort
+hat sie zu gehorchen und heil zu bleiben!“
+</p>
+
+<p>
+„Die Equipage ... Nein, du hast mich angeknurrt,
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+nicht aber die Equipage! Selbst ist er der Schuldige,
+und dabei schimpft er noch auf mich!“
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen denn der Herr heute von mir? Kann
+man mich denn nicht in Ruhe lassen!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb hast du denn während der ganzen Fahrt
+wie ein Talglicht dagesessen und kein Wort mit mir gesprochen?
+Sonst bist du doch nicht stumm!“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Fliege war mir in den Mund geflogen, deshalb
+schwieg ich und saß wie ein Talglicht, wie der Herr
+sagen. Soll ich denn Märchen zu erzählen anfangen?
+So mögen der Herr doch die alte Malanja auf Reisen
+mitnehmen, wenn der Herr Märchen zu hören liebt.“
+</p>
+
+<p>
+Der Dicke tat wohl den Mund auf, um heftig etwas
+zu erwidern, fand sich aber nicht zurecht und klappte den
+Mund wieder zu. Er schwieg. Der Diener aber wandte
+sich, zufrieden mit seiner Dialektik und seinem vor Zeugen
+bewiesenen Einfluß auf den Herrn, mit doppelter
+Wichtigkeit an die Schmiedegesellen, um ihnen etwas
+Besonderes zu erklären.
+</p>
+
+<p>
+Mein Annäherungsversuch war also vergeblich gewesen
+– vielleicht nur wegen meiner Ungeschicklichkeit
+– doch plötzlich half mir ein unvorhergesehener Zufall.
+</p>
+
+<p>
+Aus einer geschlossenen Kutsche, die offenbar seit undenklichen
+Zeiten ohne Räder vor der Schmiede stand
+und täglich, doch vergeblich ihre Ausbesserung erwartete,
+blickte plötzlich durch das Türfenster ein verschlafenes,
+ungewaschenes Mannsgesicht heraus, über dem die
+Haare verwühlt zu Berge standen. Kaum war diese
+Physiognomie im Fenster der Kutschentür erschienen, als
+plötzlich alle Schmiedegesellen in lautes Gelächter ausbrachen.
+Die Sache war nämlich die, daß der Betreffende
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+in betrunkenem Zustande von den Schmiedegesellen
+in diese Kutsche eingeschlossen worden war und
+nun als Gefangener in ihr saß. Da er inzwischen seinen
+Rausch ausgeschlafen hatte, bat er nun flehentlich,
+man möge ihn doch wieder in Freiheit setzen, was natürlich
+niemand tat. Endlich verlangte er sein Werkzeug,
+das ihm jemand aus der Schmiede bringen sollte, doch
+dieses anmaßende Verlangen erheiterte die Zuschauer
+nur noch mehr.
+</p>
+
+<p>
+Es gibt Naturen, denen Gott weiß was alles zur
+größten Erheiterung dient. Die Grimassen eines Betrunkenen,
+ein auf der Straße stolpernder oder hinfallender
+Mensch, ein paar streitende Weiber oder Ähnliches
+können bei manchen Menschen aus ganz unerklärlichen
+Gründen das größte Entzücken hervorrufen. Zu diesen
+Naturen gehörte nun offenbar auch der dicke Gutsbesitzer.
+Sein Gesicht, das noch vor wenigen Minuten
+wütend gewesen war, wurde jetzt immer freundlicher,
+bis schließlich das letzte Wölkchen seines Ärgers daraus
+verschwand.
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist ja doch Wassiljeff?“ fragte er plötzlich
+sehr interessiert. „Wie ist er denn dorthin geraten?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, Wassiljeff, Herr! Wassiljeff!“ rief man
+lachend von allen Seiten.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat wieder blauen Montag gemacht,“ sagte
+einer der Schmiedegesellen, ein älterer, langer, hagerer
+Mann mit pedantischem Gesichtsausdruck und dem offenbaren
+Bestreben, der erste unter seinen Genossen zu sein.
+„Er ist vor drei Tagen von seinem Herrn fortgegangen, ist
+uns auf den Hals gekommen und versteckt sich nun hier.
+Jetzt will er sein Stemmeisen haben. – Was willst du
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+denn jetzt mit dem Stemmeisen anfangen, du Dummkopf!
+Willst wahrscheinlich noch dein letztes Werkzeug
+versetzen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, du, Archipuschka! Geld ist – wie Tauben:
+es kommt angeflogen und fliegt wieder weg! Laß mich
+doch um des himmlischen Vaters willen wieder heraus!“
+bat Wassiljeff mit hohler, unsicherer Stimme, den Kopf
+zum Kutschenfenster hinaussteckend.
+</p>
+
+<p>
+„Sitz jetzt, hast es verdient, wenn du hineingekommen
+bist!“ sagte Archip unerbittlich. „Seit drei Tagen
+bist du ja überhaupt kein Mensch mehr! Heute morgen
+hat man dich noch in aller Herrgottsfrühe von der Straße
+aufgelesen und hergeschleppt. Dank dem Schöpfer, daß
+wir dich versteckt haben. Und deinem Matwei Iljitsch
+sagten wir, du seist erkrankt: man habe bei dir Anzeichen
+von schleichendem Faulfieber entdeckt ...“
+</p>
+
+<p>
+Alles lachte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wo ist denn mein Stemmeisen?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei unserem Handlanger, – wo soll es denn sein!
+... Das ist ein echter Saufbruder, Herr, dieser Wassiljeff.“
+</p>
+
+<p>
+„He–he–he! So ein Schuft! Also das ist deine
+Arbeit in der Stadt: dein Werkzeug versetzen!“ rief der
+Dicke vollkommen zufrieden, in der angenehmsten Gemütsverfassung
+aus, und sein Schmerbauch schaukelte zu
+seinem gemächlichen Lachen.
+</p>
+
+<p>
+„Und dabei ist der Kerl ein Tischler, wie man in
+ganz Moskau keinen findet! Aber da sieh nun einer, wie
+der Schuft sich aufführt!“ Mit diesen Worten wandte
+sich der Dicke plötzlich und ganz unerwarteterweise an
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+mich. „Laß ihn heraus, Archip, vielleicht hat er irgend
+etwas nötig.“
+</p>
+
+<p>
+Da der Herr es gesagt hatte, gehorchte man. Der
+Nagel, mit dem sie die Kutschentür unten zugenagelt
+hatten, – eigentlich nur um über Wassiljeff lachen zu
+können, wenn er wieder aufwachte – wurde herausgezogen,
+und Wassiljeff erschien zerlumpt, beschmutzt
+und nur halb ausgeschlafen im freien Sonnenlicht.
+</p>
+
+<p>
+Er blinzelte, nieste und wankte auf den Beinen;
+dann legte er die Hand als Schirm über die Augen und
+sah sich die Umgebung an.
+</p>
+
+<p>
+„Wieviel Volk ... wieviel Volk!“ sagte er kopfschüttelnd.
+„Und alle ... wie man sieht ...
+nü–üchtern,“ sagte er langsam, wie in traurigen Gedanken,
+geradezu vorwurfsvoll zu sich selbst. „Nun,
+guten Morgen, Freunde, zum anbrechenden Tage.“
+</p>
+
+<p>
+Wieder lachten alle.
+</p>
+
+<p>
+„Zum anbrechenden Tage! Mach doch die Augen
+auf und sieh, wieviel vom anbrechenden Tage noch übrig
+ist, du dummer Mensch!“
+</p>
+
+<p>
+„Lüg nur, Jemelja, – jetzt ist’s deine Woche.“
+</p>
+
+<p>
+„He–he–he! Der Junge ist wirklich nicht übel!“
+meinte der Dicke lachend, wieder mit einem freundlichen
+Blick auf mich. „Aber schämst du dich denn nicht, Wassiljeff?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Herr, es ist doch nur aus Kummer!“ sagte
+Wassiljeff, schlug abwinkend mit der Hand zur Seite
+und war offenbar froh darüber, noch einmal von seinem
+Kummer reden zu können.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn das für ein Kummer, Esel?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+„Das ist nun so einer, wie man ihn bisher noch nie
+gesehen hat: man überschreibt uns auf Foma Fomitsch.“
+</p>
+
+<p>
+„Auf – wen? Was? Wann?“ schrie der Dicke, im
+Augenblick außer sich geratend.
+</p>
+
+<p>
+Ich trat gleichfalls einen Schritt vor: die Sache
+ging plötzlich auch mich etwas an.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, ganz Kapitonowka. Unser Herr, der
+Oberst – Gott erhalte ihn! – will ganz Kapitonowka,
+sein väterliches Erbgut, dem Foma Fomitsch opfern,
+ganze siebzig Seelen. ‚Da hast du es,‘ sagte er, ‚Foma!
+Sieh, jetzt gehört dir ja so gut wie nichts; du bist kein
+großer Gutsbesitzer: im ganzen arbeiten für dich zwei
+Stinten im Ladogasee – das ist alles, was dir dein Verstorbener
+Vater an Besitz hinterlassen hat; denn dein
+Vater war,‘“ fuhr Wassiljeff mit einem gewissen boshaften
+Vergnügen fort, als wolle er auf jedes Wort,
+das sich auf Foma Fomitsch bezog, gewissermaßen noch
+Pfeffer streuen; „‚denn dein Vater war ein Mann von
+altem Adel, unbekannt woher, unbekannt wer; und ebenso
+wie du hat er bei Herren das Gnadenbrot gegessen
+und hat sich dank ihrer Barmherzigkeit in den Küchen
+aufhalten dürfen. Nun aber, wenn ich dir Kapitonowka
+schenke, wirst auch du ein Gutsbesitzer sein, ein alter
+Adliger, und du wirst deine eigenen Leute haben, kannst
+selbst auf dem Ofen liegen, ein adliges Leben führen‘ ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch der Dicke hörte nicht mehr zu. Der Eindruck,
+den diese Erzählung des halbbetrunkenen Wassiljeff auf
+ihn machte, war unbeschreiblich: er war dermaßen empört
+und aufgeregt, daß sein Gesicht blaurot wurde.
+Sein Doppelkinn zitterte, seine Augen waren blutunterlaufen.
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+Ich fürchtete schon, daß ihn der Schlag rühren
+werde.
+</p>
+
+<p>
+„Das fehlte noch!!“ stieß er atemlos hervor. „Dieser
+Foma als Gutsbesitzer!! Pfui! Hol euch der Satan!
+He, ihr da! Schneller! Macht, daß ihr fertig werdet!
+Nach Haus!“
+</p>
+
+<p>
+„Gestatten Sie mir eine Frage,“ begann ich und
+trat etwas unsicher einen Schritt vor, „Sie nannten
+soeben den Namen Foma Fomitsch; ich glaube, sein
+Familienname ist, wenn ich mich nicht täusche – Opiskin.
+Ich würde gern ... mit einem Wort, ich habe besondere
+Gründe, mich für diese Persönlichkeit zu interessieren,
+und würde daher gern wissen wollen, inwieweit
+man den Worten dieses Menschen da“ – ich wies auf
+Wassiljeff – „trauen kann, daß sein Gutsherr Jegor
+Iljitsch Rostaneff eines seiner kleineren Güter Foma
+Fomitsch schenken will. Das interessiert mich sehr, und
+ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber gestatten Sie zuerst, daß ich Sie frage,“
+unterbrach mich der Dicke, „von welcher Seite Sie sich
+für diese Persönlichkeit, wie Sie sagen, interessieren;
+denn meiner Ansicht nach müßte man ihn einen gottverfluchten
+Schurken nennen, aber nicht Persönlichkeit!
+Was kann denn dieser Grindkopf überhaupt für eine
+‚Persönlichkeit‘ sein! Nichts als Schmach und Schande
+ist der ganze Kerl, aber nicht eine ‚Persönlichkeit‘!“
+</p>
+
+<p>
+Ich erklärte ihm hierauf, daß ich mich bezüglich
+seiner Person vorläufig noch in völliger Ungewißheit
+befände, daß aber Jegor Iljitsch Rostaneff mein Onkel
+sei und ich – Ssergei Alexandrowitsch soundso heiße
+und sei.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+„Was! Dann sind Sie also dieser Gelehrte aus
+Petersburg? Gott im Himmel, man erwartet Sie ja
+dort sehnsüchtig!“ rief der Dicke in unbegreiflicher
+Freude aus. „Ich komme ja doch soeben selbst aus Stepantschikowo,
+stand vom Mittagstisch auf und fuhr weg,
+gleich vom Pudding weg! Konnte nicht länger mit
+Foma an einem Tisch sitzen! Habe mich dort wegen
+dieses verfluchten Fomka mit allen herumgeschimpft und
+-gestritten! ... Doch das nenne ich mir mal eine Begegnung!
+Aber Sie, wissen Sie, Sie müssen mich schon
+entschuldigen. Ich bin Stepan Alexeïtsch Bachtschejeff
+und erinnere mich Ihrer, als Sie noch so ’n Stöpselchen
+waren ... Nun, wer hätte das gedacht! ... Aber so
+woll’n wir uns doch gleich ...“
+</p>
+
+<p>
+Und der Dicke küßte mich ab.
+</p>
+
+<p>
+Nach den ersten etwas erregten Minuten der neuen
+Bekanntschaft benutzte ich die günstige Gelegenheit, um
+ihn auszufragen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wer ist denn dieser Foma nun eigentlich?“
+fragte ich. „Wie hat er denn dort das ganze Haus erobern
+können? Warum jagt man ihn denn nicht mit
+der Peitsche hinaus? Ich muß gestehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„<em>Wen? – ihn?</em> hinausjagen? Sie sind wohl
+ganz ...? Jegor Iljitsch wagt ja doch kaum auf
+den Fußspitzen zu gehen, wenn Foma in der Nähe
+ist! Und einmal befahl Foma, daß es statt Donnerstag
+Mittwoch sein solle: und so haben sie denn dort alle bis
+auf den Letzten den Donnerstag für Mittwoch halten
+müssen. ‚Ich will nicht,‘ sagte er, ‚daß heute Donnerstag
+ist; ich will, daß heute Mittwoch ist!‘ Auf diese Weise
+hatten sie dann in einer Woche zweimal Mittwoch und
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+keinen Donnerstag. Sie glauben vielleicht, daß ich aufschneide?
+Nicht <em>so viel</em> habe ich aufgeschnitten! Es
+ist einfach, um Reißaus zu nehmen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe so manches gehört, aber ich muß gestehen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott! Gestehen und gestehen, etwas anderes
+hört man von Ihnen nicht! Was gestehen Sie denn ewig?
+Fragen Sie mich doch rundweg, was Sie fragen wollen!
+... Und Jegor Iljitschs Mamachen, na ja, Sie
+wissen schon, – ist ja sonst eine ganz würdige alte
+Dame, obendrein auch noch Generalin – ich aber kann
+nur sagen, daß ich sie total verrückt finde: sie wagt ja den
+Fomka, den Räuber, nicht einmal anzu<em>hauchen</em>! Und
+schließlich ist sie allein an allem schuld: sie hat ihn doch
+ins Haus gebracht! Er scheint sie vollkommen behext
+zu haben. <em>Dumm</em> geworden ist sie, wenn sie sich jetzt
+auch Exzellenz nennt ... Hat sie sich doch mit nahe
+fünfzig Jahren dem alten Krachotkin an den Hals geworfen!
+Von der Schwester Jegor Iljitschs, der Praskowja
+Iljinitschna, die schon das vierzigste Jahr als
+Mädchen dasitzt, will ich überhaupt nicht reden. Von
+der hört man nur ach und weh, wie von einer Henne,
+die ein Ei legen will – hab’s satt – na! Das einzige,
+was noch an ihr ist – ist, daß sie zum weiblichen Geschlecht
+gehört, das ist aber auch alles: jetzt acht’ einer
+sie dafür! – nur eben, weil sie Dame ist! Pfui! Aber
+was red’ ich da, das ist ja doch unanständig von mir:
+sie ist ja Ihre Tante. Nur die Alexandra Jegorowna,
+Ssaschenjka – die Tochter des Obersten, – ist ja noch
+’n kleines Mädel, erst sechzehn Lenze, ist aber klüger als
+alle die anderen zusammengenommen: die verachtet den
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+Fomka, wie es sich gehört! War sogar spaßig zu beobachten.
+Ein nettes, liebes Fräuleinchen, nja, nichts zu
+sagen ... Weswegen, sagen Sie doch selbst, soll man
+ihn denn achten? Er hat doch, dieser Fomka, beim verstorbenen
+General Krachotkin als Narr das Gnadenbrot
+gefressen! Er hat ja doch, wenn jener befahl, alle
+Tiere nachahmen müssen! Das ist ja – ‚früher hat Wanjka
+Erde gegraben, heute will Wanjka den Marschallstab
+haben!‘ Jetzt behandelt der Oberst, Ihr Onkel, diesen
+Narren a. D. wie seinen leiblichen Vater, setzt ihn unter
+Glas womöglich, macht noch Bücklinge vor diesem
+Schmarotzer, – oh, pfui!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ... Armut ist doch keine Schande ... und
+... ich muß gestehen ... Erlauben Sie, daß ich frage:
+ist er schön, klug?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer das? – Foma? ... Wie ein Bild! Wunderbar
+schön!“ antwortete Bachtschejeff mit einem ganz
+eigentümlichen Zittern in der Stimme, das deutlich seine
+Wut verriet. Meine Fragen reizten ihn offenbar, und
+er sah mich etwas mißtrauisch von der Seite an. „Schön?
+Hört doch, der hat jetzt einen Schönen entdeckt! Großer
+Gott, er ähnelt ja allen Tieren, wenn du nun einmal
+alles wissen willst! Ich würde ja nichts sagen, wenn er
+noch wenigstens geistreich wäre, wenn der Schuft es
+mit Geist und Verstand machen würde, – nun, dann
+würde ich’s noch hinnehmen, den Schmerz verbeißen,
+um des Geistes willen, ... Aber er hat ja überhaupt
+keinen! Ich kann nur sagen, er hat ihnen allen einen
+Trank zu trinken gegeben und ist einfach irgend so ein
+Schwarzkünstler. Pfui! ... Meine Zunge ist matt.
+Man kann nur einfach zur Seite speien und weggehen.
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+Und schweigen. Sie haben mich mit Ihrem Gespräch
+nur wieder in Wut gebracht! He, ihr da! Seid ihr
+endlich fertig?“
+</p>
+
+<p>
+„Der Schwarze muß noch neu beschlagen werden,“
+brummte Grigorij mürrisch.
+</p>
+
+<p>
+„Der Schwarze ... Ich werde dir zeigen, was ein
+Schwarzer ist! ... Ja, mein Bester, ich kann Ihnen
+Dinge erzählen, Dinge, sag’ ich Ihnen, daß Sie nur so
+den Mund aufsperren und bis zur Wiederkunft des
+Herrn mit offenem Munde stehen bleiben. Ich habe
+ihn doch anfangs gleichfalls geachtet! Was glauben
+Sie? Jetzt tue ich Buße und schwöre öffentlich: ich war
+ein Esel! Er hatte ja auch mich beschwindelt. Der Kerl
+wußte alles! Jedes letzte Tüttelchen wußte er, alle
+Wissenschaften hatte er im Kopf! Tropfen gab er mir:
+ich bin ja doch, Väterchen, ein kranker Mensch. Sie
+glauben es mir vielleicht nicht, aber ich bin wirklich
+krank, – wovon bin ich denn so dick? Nun, damals
+aber, von seinen Tropfen, wäre ich fast kopfüber in die
+Grube gefahren. Schweigen Sie nur und hören Sie
+zu: wenn Sie hinkommen, werden Sie mit eigenen
+Augen sehen. Er wird ja dem Obersten noch blutige
+Tränen herauspressen, jawohl! – blutige Tränen wird
+der Oberst weinen, aber dann wird es zu spät sein! Hat
+doch schon die ganze Umgegend wegen dieses vermaledeiten
+Fomka den Verkehr mit ihm abgebrochen! Beleidigt
+doch der Kerl ungestraft einen jeden, der über die
+Schwelle tritt! Von mir ganz zu schweigen: selbst die
+größten Potentaten würde er nicht verschonen. Einem
+jeden hält er seine Predigt; denn er hat sich jetzt auf die
+Moral gelegt, der Spitzbube! ‚Ich bin ein Weiser, ich
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+bin der Klügste von allen, auf mich allein hast du zu
+hören!‘ Das sind so seine Worte. ‚Ich bin gelehrt,‘ und
+damit basta! Was geht das mich an, ob er gelehrt ist
+oder nicht! Also bloß weil man gelehrt ist, muß man
+den Ungelehrten unbedingt auspressen? ... Und wenn
+er dann einmal loslegt mit seiner Gelehrsamkeit, dann
+hat es keinen Anfang und kein Ende, nur ta-ta-ta, ta-ta-ta,
+ta-ta-ta schlägt ins Ohr. Das heißt, er hat eine
+solche Zunge, sag’ ich Ihnen, daß sie selbst dann, wenn
+man sie abschneiden und hinaus auf den Misthaufen
+werfen würde, – selbst dann würde sie noch endlos
+weitertattern wie eine Nähmaschine ... Jetzt nimmt er
+sich viel heraus, jetzt ist er wichtig wie eine Maus in der
+Grütze! Jetzt will er schon dorthin kriechen, wohin nicht
+einmal sein Kopf durchkriechen kann. Aber was soll
+man da reden! Ist es ihm doch jetzt eingefallen, das
+ganze Hofgesinde französische Vokabeln lernen zu lassen!
+Wenn Sie nicht wollen, brauchen Sie es mir ja nicht
+zu glauben. Das bringe ihnen, sagt er, großen Nutzen!
+Dem Landbauer also, dem Knecht! Pfui! So ein verfluchter
+Schandkerl! – mehr ist er wirklich nicht. Wozu
+braucht ein Leibeigener Französisch, was fängt er damit
+an? – ich bitt’ Sie! Und selbst wir, wozu braucht denn
+unsereiner Französisch, frage ich Sie bloß? Um jungen
+Damen bei der Mazurka den Kopf zu verdrehen und
+fremde Frauen zu verführen! Luxus, Luxus, und nichts
+weiter!! Meiner Meinung nach – trink eine Flasche
+Branntwein aus, und du sprichst von selbst alle Sprachen.
+Das ist alles, was ich an Hochachtung für die
+französische Sprache übrig habe. Na, auch Sie werden
+ja wohl gut französisch plappern, tatata, tatata,
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+patati und patata!“ Bachtschejeff sah mich mit verachtendem
+Unwillen von der Seite an. „Sie, mein Lieber,
+sind doch auch ein Gelehrter – wie? Haben sich doch
+auch auf die Gelehrsamkeit gelegt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... ich ... zum Teil interessiere ich mich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben Sie denn vielleicht auch schon alle
+Wissenschaften in sich aufgenommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... das heißt, nein ... Ich muß gestehen, daß
+ich jetzt mehr für das Beobachten bin. Ich habe so lange
+in Petersburg gesessen und beeile mich nun, zu meinem
+Onkel zu kommen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat Sie denn darum gebeten? Wären Sie
+doch dort bei sich sitzen geblieben, wenn Sie etwas
+hatten, wo Sie sitzen konnten. Nein, mein Bester, hier,
+das sage ich Ihnen, werden Sie mit Gelehrsamkeit wenig
+ausrichten, und da wird Ihnen kein Onkel helfen –
+da haben Sie sogleich den Fangriemen um den Hals.
+Ich habe bei ihm an einem einzigen Tage bedeutend abgenommen.
+Jawohl! – Werden Sie es mir glauben,
+daß ich dort in vierundzwanzig Stunden magerer geworden
+bin? Nein, ich sehe schon, Sie glauben es mir
+nicht. Nun, dann, meinetwegen, Gott mit Ihnen, dann
+glauben Sie es eben nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wieso, ich glaube es Ihnen durchaus! Nur
+ist mir einiges noch etwas unverständlich ...“ beeilte ich
+mich zu versichern, geriet aber wieder in Verwirrung.
+</p>
+
+<p>
+„Kennt man, dieses Glauben ... aber ich glaube
+<em>Ihnen</em> nicht! Alle seid ihr Springer – soviel es nur
+Gelehrte gibt. Ihr würdet am liebsten jeder auf einem
+Bein hopsen und euch bewundern lassen! Nein, mein
+Bester, diese Wissenschaften sind nicht mein Fall, ich
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+kann sie nicht verdauen. Hab’ mich mit euch Petersburgern
+genug gerieben – unnützes Volk. Alles Freimaurer.
+Verbreiten nur Unglauben. Selbst ein Gläschen
+Branntwein hat er Angst auszutrinken, so’n Gelehrter,
+ganz als fürchtete er, daß es ihn beißen könnte
+– pfui! Nein, mein Bester, Sie haben mich jetzt geärgert,
+will mit Ihnen gar nicht mehr weiter sprechen.
+Und ich bin doch auch wirklich nicht dazu da, um hier
+Geschichten zu erzählen. Meine Zunge ist ohnehin schon
+müde. Alle, Väterchen, kann man ja doch nicht ausschimpfen,
+und es wäre auch Sünde ... Nun hat er
+bei Ihrem Onkel den Diener Widopljässoff buchstäblich
+um den Verstand gebracht, dein großer Gelehrter da!
+Jawohl, nur dank Foma Fomitsch ist Widopljässoff
+übergeschnappt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich aber würde den Widopljässoff,“ mischte sich
+plötzlich Grigorij ein, der bis dahin würdevoll und
+stumm unsere Unterhaltung verfolgt hatte, „ich aber
+würde diesen Widopljässoff unter den Ruten überhaupt
+nicht mehr aufstehen lassen! Käme er mir nur zwischen
+die Finger, so würde ich ihm diese deutschen Albernheiten
+ein für allemal ausbläuen! Würde ihm so viele aufzählen,
+daß er mit den Zahlen zu kurz käme!“
+</p>
+
+<p>
+„Schweig!“ schrie ihn sein Herr an. „Halt deine
+Zunge hinter den Zähnen fest, nicht mit dir wird gesprochen!“
+</p>
+
+<p>
+„Widopljässoff ...“ stotterte ich, nun ganz aus der
+Fassung gebracht – wenn ich nur gewußt hätte, was
+ich sagen sollte! „Widopljässoff ... sagen Sie doch,
+welch ein sonderbarer Name ...“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb denn sonderbar? Da stimmen auch Sie
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+dasselbe Lied an! Ach, Sie! Gelehrt natürlich,
+gelehrt!“
+</p>
+
+<p>
+Doch jetzt riß meine Geduld.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie,“ sagte ich, „weshalb ärgern
+Sie sich denn über mich? Was habe ich denn mit all
+dem zu tun? Ich höre Ihnen nun schon seit einer halben
+Stunde zu und begreife nicht einmal, um was es sich
+handelt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber weshalb ärgern Sie sich denn, mein
+Gutester?“ fragte der Dicke naiv. „Es ist doch nichts,
+was Sie kränken könnte! Ich habe doch in aller Liebe
+zu dir gesprochen, mein Lieber ... Beachten Sie es
+weiter nicht, daß ich ein solcher Schreihals bin und soeben
+noch meinen Diener angeschnauzt habe. Wenn er
+auch eine notorische Kanaille ist, mein Grischka, so liebe
+ich ihn ja doch gerade deswegen, den Schuft. Meine
+Herzensempfindsamkeit allein hat mich ins Unglück gebracht
+– ganz offen und ehrlich gesagt. Aber an dieser
+ganzen Geschichte ist doch nur Fomka schuld! Der
+bringt mich noch ins Grab, darauf kann ich schwören,
+der kriegt’s fertig! Dank seiner Gnaden muß ich hier
+die zweite Stunde in der Sonne braten. Wollte zuerst
+beim Oberpopen vorsprechen, solange wie diese Duselköpfe
+hier den Schaden wieder ausbessern. Ein guter
+Mensch, dieser Oberpope. Aber der Fomka hat mich
+dermaßen geärgert, daß ich auch den Oberpopen nicht
+mehr sehen wollte! Na, und überhaupt! Hier aber gibt
+es ja nicht einmal ein anständiges Frühstückslokal ...
+Alle sind Schufte, das sage ich Ihnen, alle bis auf den
+Letzten! ... Ich würde ja nichts sagen, wenn er ein
+großes Tier wäre,“ fuhr Herr Bachtschejeff fort, sich
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+wieder dem Thema Foma Fomitsch zuwendend, von dem
+er sich offenbar nicht zu trennen vermochte, „dann würde
+es noch mit dem Titel, den er führte, halbwegs zu erklären
+sein; aber so! Er hat ja überhaupt keinen Rang,
+ich weiß es tödlich sicher, daß er nicht den geringsten
+Titel hat! Für Recht und Wahrheit, sagt er, soll er dort
+irgendwo ‚gelitten‘ haben, vor Olims Zeiten vielleicht:
+und so knie jetzt dafür gefälligst vor ihm nieder! Der
+Teufel ist doch nicht unser Bruder! Ist ihm nur etwas
+nicht ganz nach der Nase, so springt er auf, schreit:
+‚Man beleidigt mich, patati! – weil ich arm bin, patata!
+– man hat keine Ehrfurcht vor mir!‘ Ohne Foma
+darfst du dich nicht an den Tisch setzen, er aber sitzt in
+seinem Zimmer und kommt nicht; denn ‚man hat mich
+beleidigt, ich bin ein Gottespilger, kann mich auch von
+schwarzem Brote nähren.‘ Kaum aber hat man sich zu
+Tisch gesetzt, da erscheint er wieder, und da fängt das
+Lied von neuem an: ‚Weshalb hat man sich ohne mich
+zu Tisch gesetzt? Also so gering achtet man mich!‘
+Kurz – dieselbe Tonart! Ich, wissen Sie, ich habe
+lange geschwiegen. Er glaubte, daß auch ich wie ein
+dressiertes Hündchen auf den Hinterbeinen apportieren
+würde. Jawohl ja! Das fehlte noch! Nein, mein
+Lieber, spring du mal selbst auf den Kutschersitz, ich
+werde mich in den Wagen setzen! Ich bin doch Jegor
+Iljitschs Regimentskamerad! Ich trat als Junker aus,
+er aber kam vor einem Jahr als Oberst a. D. auf mein
+Stammgut und stattete mir seinen Besuch ab. Da sagte
+ich ihm gleich: ‚He, mein Bester, verwöhnen Sie den
+Foma nicht so sehr, Sie wissen nicht, was Sie tun, Sie
+werden es noch bereuen!‘ Er aber sagte: ‚Nein, er ist
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+ein überaus guter Mensch‘ – das sagt er von Fomka!
+– ‚er ist mein Freund, er unterrichtet mich jetzt in der
+Moral.‘ Na, dachte ich da bei mir, gegen die Moral
+ist nichts zu machen! Wenn er bereits bei dieser angelangt
+ist, dann gib die letzte Hoffnung auf! Was glauben
+Sie wohl, weshalb er es heute zu dem Skandal gebracht
+hat? Morgen, an Sankt-Elias-Tag (Herr Bachtschejeff
+bekreuzte sich) ist Iljuschas, des kleinen Iljuschas
+Namensfest. Ich hatte eigentlich die Absicht, auch
+diesen Tag bei ihnen zu verbringen, zum Essen zu bleiben,
+und verschrieb mir aus der Residenz ein Spielzeug:
+ein Deutscher auf Sprungfedern küßt seiner Braut die
+Hand, und diese wischt sich mit dem Schnupftuch eine
+Träne ab – ein großartiges Ding! Jetzt aber werde ich
+es nicht mehr schenken, prost Mahlzeit! Sehen Sie,
+da liegt das Ding in meinem Wagen, dem Deutschen ist
+schon die Nase abgeschlagen. Bring’s zurück. Jegor
+Iljitsch feiert bei solcher Gelegenheit ganz gern ein Fest,
+nun aber kommt der Fomka dazwischen und verpfuscht
+ihm das Vergnügen. ‚Weshalb beschäftigt man sich
+denn jetzt mit Iljuscha so sehr? Man will wohl mich
+von nun an überhaupt nicht mehr beachten?‘ Nun, was
+sagen Sie dazu? Wie gefällt er Ihnen? Beneidet einen
+achtjährigen Knaben wegen dessen Namenstag! ‚Aber
+nein,‘ sagte er, ‚ich habe morgen gleichfalls meinen
+Namenstag!‘ Aber morgen ist doch Ilja und nicht Foma!
+‚Nein,‘ sagt er, ‚ich feiere morgen gleichfalls meinen
+Namenstag!‘ Ich schweige, sage kein Wort, dulde stumm.
+Und was glauben Sie? Jetzt schleichen sie dort alle auf
+den Zehenspitzen umher und beraten sich tuschelnd, was
+sie nun tun sollen! Sollen sie ihm nun morgen, am
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+Eliastage, zum Namensfest gratulieren oder sollen sie
+ihm nicht gratulieren? – Unterlassen sie es, so kann er
+sich wieder beleidigt fühlen – gratulieren sie ihm aber,
+so kann er sie alle verspotten. Pfui! Da setzten wir uns
+nun zu Tisch ... Aber du, mein Bester, hörst du mir
+denn überhaupt zu?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber gewiß! – sogar mit besonderem Vergnügen;
+denn durch Sie erst erfahre ich jetzt ... und ... ich
+gestehe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, mit besonderem Vergnügen, das kennt
+man! Dieses Vergnügen ... Oder soll das etwa Ironie
+sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, aus welchem Grunde denn
+Ironie? Ganz im Gegenteil. Und zudem ... drücken
+Sie sich so originell aus, daß ich schon bei mir beschlossen
+habe, Ihre Worte niederzuschreiben.“
+</p>
+
+<p>
+„Was ... was heißt das, Väterchen, wieso niederzuschreiben?“
+fragte Herr Bachtschejeff mit einem gelinden
+Schrecken im Gesicht und blickte mich mißtrauisch
+an.
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens, ich werde sie vielleicht auch nicht niederschreiben
+... ich sagte es nur so ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du willst mich doch sicherlich irgendwie ausnutzen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht,“
+sagte ich verwundert.
+</p>
+
+<p>
+„Ja so. Ich erzähle dir jetzt alles wie ein gutmütiger
+Esel, und du schilderst mich dann plötzlich in irgendeinem
+Buch.“
+</p>
+
+<p>
+Ich beeilte mich sogleich, Herrn Bachtschejeff zu versichern,
+daß ich nicht zu jenen Schriftstellern gehöre –
+er aber sah mich immer noch mißtrauisch an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+„Jawohl ja – nicht zu jenen! Wer kennt dich denn!
+Vielleicht bist du noch toller als jene. Da hat mir nun
+auch Fomka gedroht, mich zu beschreiben und das Geschriebene
+drucken zu lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gestatten Sie mir eine Frage,“ unterbrach ich ihn,
+da ich dem Gespräch eine andere Wendung geben wollte.
+„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß mein Onkel heiraten
+will?“
+</p>
+
+<p>
+„Was wäre denn dabei, wenn er’s will? Das wäre
+ja weiter noch nicht schlimm. Mag der Mensch doch
+heiraten, wenn es ihm so nahe geht! ... Schlimm aber
+ist das andere ...“ fügte Herr Bachtschejeff nachdenklich
+hinzu. „Hm! Aber hierüber, mein Bester, kann ich
+Ihnen keine bestimmte Auskunft geben. Es haben sich
+dort jetzt viel Weibsbilder versammelt, wie die Fliegen
+um den Honig; da wird kein Teufel daraus klug, wer
+von ihnen nun heiraten will, und wer nicht. Ich werde
+Ihnen, mein Lieber, in aller Freundschaft nur eines
+sagen: ich mag die ganze Weiberbande nicht! Das
+einzige ist noch, daß sie Menschen sind; aber sonst, auf
+Ehrenwort, ist es doch nichts als eine Schande mit den
+Weibern und kommt dem Heil unserer Seelen nicht zustatten.
+Daß aber Ihr Onkel verliebt ist wie ein sibirischer
+Kater, dessen kann ich Sie versichern. Aber auch
+darüber will ich jetzt schweigen, Sie werden es ja selbst
+sehen ... Dumm ist nur, daß er die Sache aufschiebt.
+Willst du heiraten, so heirate! Er aber fürchtet sich, es
+Fomka zu sagen, und fürchtet auch die Alte: die würde
+sofort für sieben losschreien und würde noch mit den
+Hinterbeinen ausschlagen. Die Alte steht natürlich auf
+Fomkas Seite; denn sieh, es würde Foma Fomitsch betrüben,
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+wenn eine junge Herrin ins Haus käme, sintemal
+er dann keine Stunde mehr daselbst verweilen
+könnte. Die Hausfrau würde ihn womöglich eigenhändig
+am Kragen fassen und hinauswerfen, und wenn
+sie klug ist, auf eine solche Weise, daß er später schwerlich
+hier irgendwo eine Unterkunft auch nur als
+Schreiberlein finden würde. Deshalb intrigiert er ja
+auch jetzt zusammen mit der Alten, um ihn zu verkuppeln
+mit dieser ... Aber du, mein Gutester, warum hast du
+mich denn unterbrochen? Ich wollte dir vorhin gerade
+das Wichtigste erzählen, du aber unterbrachst mich! Ich
+bin älter als du, einen Älteren unterbrechen, das soll
+man nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich machte meine Entschuldigung.
+</p>
+
+<p>
+„Wozu entschuldigst du dich! Aber ich wollte dir,
+mein Lieber, als einem Gelehrten zur Entscheidung
+unterbreiten, wie er mich heute beleidigt hat. Nun, denk
+und sage selbst, wenn du ein guter Mensch bist. Wir
+setzten uns also zu Tisch: da hat er mich, sag’ ich dir,
+fast aufgefressen, der Verfluchte, während der Mahlzeit.
+Ich sah es ihm von vornherein an, was in ihm vorging:
+er sitzt und ärgert sich, daß seine ganze Seele knirscht.
+Würde mich auch in einem Löffel voll Wasser mit Freuden
+ersäufen, diese Giftblase! Dieser Mensch hat eine
+solche Eigenliebe, daß er sie kaum noch in sich selbst
+unterbringen kann! Und da fiel es ihm denn ein, auch
+mich zu schikanieren, wollte auch mir Moral beibringen.
+Weshalb – bitte, antworten Sie ihm darauf! – weshalb
+ich so dick sei?! Und das war nun sein Steckenpferd:
+weshalb bin ich nicht dünn, sondern dick! Nun,
+sagen Sie doch selbst, mein Lieber, was ist denn das
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+für eine Frage? Ist denn das geistreich? Ich antworte
+ihm also: ‚Das hat Gott der Herr schon so eingerichtet:
+der eine ist dünn, der andere dick; gegen die allweise Vorsehung
+kann ein Sterblicher sich nicht auflehnen.‘ Das
+war doch ganz vernünftig geantwortet – finden Sie
+nicht? ‚Nun,‘ sagt er, ‚du hast fünfhundert Seelen,
+lebst von den Zinsen, bringst aber dem Vaterlande keinen
+Nutzen: dienen muß man, du aber sitzt zu Hause und
+spielst auf dem Harmonium.‘ Das ist nun wahr, ich
+spiele gern, wenn mir mal so traurig zumute ist, auf
+meinem Harmonium. Ich also antworte ihm wieder
+ganz vernünftig: ‚In welchen Dienst soll ich denn eintreten,
+Foma Fomitsch? In welch eine Uniform soll ich
+mich dicken Menschen denn hineinzwängen? Ziehe ich
+eine an – mit genauer Not geht’s vielleicht –, so ist
+es doch nicht ausgeschlossen, daß ich plötzlich niese und
+alle Knöpfe abspringen, was in Gegenwart der höchsten
+Vorgesetzten geschehen kann, und wenn man dann –
+Gott behüte! – das Unglück nur fürs eine Farce hält,
+was dann?‘ Nun, sagen Sie doch, mein Gutester, was
+habe ich denn damit Lachhaftes gesagt? Aber nein, er
+muß lachen, auf meine Kosten, versteht sich, und das Gekicher
+hört gar nicht mehr auf, hahaha und hihihi ...
+Schamgefühl hat er überhaupt nicht, das sage ich Ihnen,
+und da fiel es ihm noch ein, mich auf französisch zu beschimpfen:
+‚Cochon,‘ sagte er. Na, was Cochon heißt,
+weiß auch ich. Wart, du verfluchter Schwarzkünstler,
+denke ich, du glaubst wohl, daß du in mir einen dummen
+Jungen vor dir hast? Ich schwieg aber, litt wortlos
+und schwieg, – dann aber hielt ich es nicht mehr aus,
+stand auf und sagte ihm in Gegenwart der ganzen Versammlung
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+ins Gesicht: ‚Ich habe dir unrecht getan,‘
+sage ich, ‚Foma Fomitsch, du Wohltäter der Menschheit;
+denn ich glaubte von dir, daß du ein wohlerzogener
+Mensch seiest, nun aber stellt es sich heraus, daß du
+ebenso ein Schwein bist wie wir alle,‘ – sagte es, stand
+auf und ging fort, ließ den Pudding stehen, wo er stand
+– der Pudding wurde gerade herumgereicht. Daß euch
+mitsamt dem ganzen Pudding ...! dachte ich und
+ging.“
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, bitte,“ sagte ich, nachdem ich
+die ganze Erzählung Herrn Bachtschejeffs angehört
+hatte, „ich bin natürlich gern bereit, Ihnen in allem zuzustimmen,
+zumal ich ja noch nichts Positives weiß ...
+Aber, wie soll ich Ihnen sagen, – es haben sich jetzt in
+mir gewisse Ideen bezüglich dieser Person gebildet ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was sind denn das für Ideen, Väterchen, die sich
+in dir gebildet haben?“ fragte Herr Bachtschejeff mißtrauisch.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie,“ begann ich, ein wenig verwirrt,
+„es ist vielleicht zu etwas ungelegener Zeit ... aber,
+schließlich, ich werde Ihnen meine Gedanken gern mitteilen.
+Ich denke mir folgendes: vielleicht täuschen wir
+uns beide über Foma Fomitsch. Vielleicht verhüllen alle
+diese Eigenheiten eine besondere, vielleicht sogar sehr
+reiche Natur – wer kann das wissen? Vielleicht ist er
+ein verbitterter, durch Leiden vernichteter Mensch, der
+sich sozusagen an der ganzen Menschheit dafür rächt?
+Ich habe gehört, früher soll er so etwas ... so etwas
+wie ein Hausnarr gewesen sein: vielleicht hat ihn das
+gar zu sehr erniedrigt, beleidigt, vernichtet? Verstehen
+Sie mich recht: ein edler Mensch ... mit einem gewissen
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+Selbstbewußtsein ... und der muß nun plötzlich
+den Narren spielen! ... Da ist er denn vielleicht der
+ganzen Menschheit gegenüber mißtrauisch geworden und
+... und vielleicht, wenn man ihn mit der Menschheit
+aussöhnen würde ..., das heißt, mit den Menschen ...
+so würde sich in ihm vielleicht eine reichbegabte oder
+jedenfalls bemerkenswerte Natur offenbaren, und ...
+nein, es muß doch etwas Besonderes an ihm sein! Es
+muß doch seinen guten Grund haben, warum ihn dort
+alle anbeten!“
+</p>
+
+<p>
+Ich fühlte, daß ich ganz aus dem Konzept gekommen
+war. Bei meiner Jugend war das ja noch verzeihlich,
+aber Herr Bachtschejeff verzieh es mir nicht. Ernst und
+streng blickte er mir in die Augen, und dann wurde er
+plötzlich blaurot im Gesicht, wie ein Truthahn.
+</p>
+
+<p>
+„Und das alles soll dieser Fomka sein?“ stieß er kurz
+hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, ich glaube ja selbst nicht an
+das, was ich soeben gesagt habe ... Ich sagte es nur
+so ... es wäre doch möglich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlauben Sie mal, Sie eines zu fragen: haben
+Sie Philosophie studiert?“
+</p>
+
+<p>
+„Daß heißt, in welchem Sinne?“ fragte ich verwundert.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht in welchem Sinne, sondern antworten
+Sie mir offen und ohne alle Sinne auf meine Frage:
+haben Sie Philosophie studiert?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß gestehen, ich habe allerdings die Absicht,
+aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Na ja, wußt’ ich’s doch!“ rief Herr Bachtschejeff
+aus, indem er seiner Empörung freien Lauf ließ. „Ich,
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+wissen Sie, ich hatt’s ja schon erraten, noch bevor Sie
+den Mund aufgetan, daß Sie Philosophie studiert haben!
+Mir wird man kein X für ein U vormachen! Prost
+Mahlzeit! Auf drei Werst rieche ich den Philosophen
+heraus! Fahren Sie nur hin, Sie können Ihrem Foma
+in die Arme sinken und sich gegenseitig abküssen! Da hat
+er nun einen ‚besonderen‘ Menschen gefunden! Pfui!“
+fauchte er wieder. „Ach, mag die ganze Welt versauern!
+Mag alles untergehen! Und ich glaubte schon, daß Sie
+ein vernünftiger Mensch seien, Sie aber ... Fahr vor!“
+schrie er dem Kutscher zu, der inzwischen auf den Bock
+der ausgebesserten Equipage hinaufgeklettert war. „Nach
+Haus!“
+</p>
+
+<p>
+Mit genauer Not komm ich ihm noch einige beruhigende
+Worte sagen. Endlich besänftigte er sich; aber es
+dauerte doch noch ziemlich lange, bis er sich entschloß,
+seinen Zorn wieder in Wohlwollen zu verwandeln. Mit
+Grigorijs und Archips Hilfe stieg er in seine Kutsche.
+</p>
+
+<p>
+„Gestatten Sie, daß ich noch eines frage,“ sagte ich,
+an den Wagenschlag tretend, „werden Sie meinen Onkel
+nicht mehr besuchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ihren Onkel? Nicht mehr besuchen? Wer das
+glaubt, dem geben Sie ... na, was Sie wollen! Sie
+denken wohl, daß ich ein Mensch von Charakter bin, daß
+ich’s durchhalten werde? Das ist ja doch mein ganzes
+Herzeleid, daß ich ein Lappen bin, aber kein Mensch!
+Es wird keine Woche vergehen, da kraufe ich wieder hin.
+Und warum ich’s tue? Sehen Sie, da weiß ich ja selber
+nicht, aber ich werde wieder hinfahren und werde mich
+dort wieder mit Foma Fomitsch herumschlagen. Diesen
+Foma hat mir Gott der Herr sicherlich zur Strafe für
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+meine Sünden auf den Hals geschickt Das ist ja mein
+Leid, Väterchen, daß ich von Charakter ein Weib bin:
+von Beständigkeit keine Spur! Ein Hasenfuß bin ich,
+mein Lieber, ein echter ...“
+</p>
+
+<p>
+Wir schieden recht freundschaftlich, er lud mich sogar
+zu sich ein.
+</p>
+
+<p>
+„Komm mal, Väterchen, komm, besuch mich, dann
+wollen wir uns mal gütlich tun. Ich habe mir ein gewisses
+Wässerchen aus Kiew bestellt, das ist jetzt eingetroffen,
+und mein Koch ist in Paris gewesen, der wird
+dir solche Frikandeaus und Fischpasteten zubereiten, daß
+du dir nur so die Fingerchen ablecken und ihm, dem
+Schuft, noch einen Bückling machen wirst! Ist ein gebildeter
+Mann! Bloß hab’ ich ihn jetzt lange nicht mehr
+geprügelt, hab’ ihn etwas verwöhnt ... es ist gut, daß
+man mich wieder daran erinnert hat ... Also komm
+nur! Ich würde Sie auch heute zu mir auffordern, aber
+ich bin jetzt doch zu verstimmt, bin ganz sauer geworden,
+ganz und gar aller Hinterbeine beraubt. Ich bin ja doch
+ein kranker Mensch. Sie glauben es mir wohl nicht ...
+Nun, leben Sie wohl, mein Lieber! Es ist Zeit, daß auch
+mein Schiff in den Hafen einläuft. Da ist ja auch Ihr
+Vehikel repariert. Dem Fomka aber sagen Sie, daß er
+mir nicht mehr unter die Augen kommen soll, sonst wird
+es einen neuen Krach geben, daß er nur so ...“
+</p>
+
+<p>
+Die letzten Worte hörte ich nicht mehr. Seine
+Equipage, die von vier starken Pferden mit einem Ruck
+angezogen wurde, verschwand hinter Staubwolken. Da
+fuhr auch meine Postkutsche vor, ich stieg ein, und wir
+hatten in wenigen Minuten das Städtchen hinter
+uns.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+„Natürlich übertreibt der gute Mann,“ dachte ich,
+„er ist gar zu wütend, um unparteiisch zu urteilen. Aber
+andererseits ... was er da von meinem Onkel sagt, ist
+noch sehr bemerkenswert. Da stimmen nun schon zwei
+Aussagen überein. Nun, – aber daß mein Onkel die
+junge Dame liebt ... Hm! Werde ich nun heiraten
+oder werde ich es nicht tun?“
+</p>
+
+<p>
+Und diesmal kamen mir denn doch Bedenken.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-6">
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+<span class="firstline">III.</span><br>
+Mein Onkel.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> gestehe offen, mir war etwas bänglich zumute.
+Meine romantischen Träume erschienen mir jetzt zum
+mindesten sonderbar, und kaum war ich in Stepantschikowo
+angelangt, da fand ich sie sogar dumm. Das
+erstere geschah ungefähr um fünf Uhr nachmittags. Die
+Landstraße führte nicht weit vom Herrenhause vorüber.
+Nun sah ich nach langen Jahren diesen großen Garten
+wieder, in dem ich einige glückliche Tage meiner Kindheit
+verbracht hatte, und den ich dann später so oft im
+Traum gesehen, wenn ich in den Schlafsälen der
+Schulen und Anstalten, die für meine Bildung sorgten,
+halbwach im Schlummer lag. Ich sprang vom Wagen
+und ging quer durch den Garten auf das Herrenhaus
+zu; denn ich wollte unbemerkt zuerst mit meinem Onkel
+sprechen und, wenn es ging, auch noch hier und da
+vorher ein wenig herumforschen und horchen. Meine
+Absicht gelang mir. Die Allee hundertjähriger Linden
+entlang schreitend, kam ich zur Terrasse, von der aus
+man durch eine Glastür unmittelbar in die Wohnzimmer
+trat. Diese Terrasse war von Blumenbeeten
+umgeben und mit Topfpflanzen geschmückt. Hier nun
+traf ich ganz unerwartet einen der „Eingeborenen“ an,
+den alten Gawrila, der mich einst als Kind auf dem
+Arm getragen hatte, jetzt aber der ehrwürdige Kammerdiener
+meines Onkels war. Der Alte hatte eine Brille
+auf der Nase und hielt ein Heft, in dem er mit ungewöhnlicher
+Aufmerksamkeit las, dicht vor den Augen.
+Ich hatte ihn zum letztenmal vor zwei Jahren in Petersburg
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+gesehen, wohin er mit meinem Onkel gekommen
+war, und so erkannten wir uns sofort. Mit Freudentränen
+stürzte er die Stufen herab, um meine Hände
+zu küssen, ohne darauf zu achten, daß ihm bei der Gelegenheit
+seine Brille von der Nase flog. Diese Anhänglichkeit
+des Alten rührte mich tief. Doch ich stand
+noch unter dem Eindruck des Gespräches mit Herrn
+Bachtschejeff, und so wandte sich meine Aufmerksamkeit
+unverzüglich dem verdächtigen Heft zu, das Gawrila
+in der Hand hielt.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das, Gawrila? Was, will man etwa
+auch dir Französisch beibringen?“ fragte ich den
+Alten.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, das will man, Väterchen, trotz meiner
+alten Jahre, als wäre ich ein Papagei,“ antwortete
+Gawrila niedergeschlagen.
+</p>
+
+<p>
+„Und Foma selbst unterrichtet dich?“
+</p>
+
+<p>
+„Er allein, Väterchen. Er muß doch wohl ein
+kluger Mann sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, alle Achtung! Aber wie unterrichtet er dich
+denn? – Im Gespräch?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit dem Heft, Väterchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du meinst dieses, das du in der Hand hast? Ah!
+Französische Worte mit russischen Buchstaben geschrieben
+– findig! Und von einem solchen Rüpel,
+einem solchen Dummkopf laßt ihr euch alle so behandeln
+– schämst du dich nicht, Gawrila?“ In einem
+Augenblick waren alle meine entschuldigenden Annahmen
+vergessen, durch die ich noch vor ein paar
+Stunden Herrn Bachtschejeff in so große Wut versetzt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+„Wie denn, Väterchen, wie kann er denn ein
+Dummkopf sein, wenn er doch auch unsere Herrschaft
+so lenkt, wie er will?“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Vielleicht hast du recht, Gawrila,“ brummte
+ich, durch seine Bemerkung zur Besinnung gebracht.
+„Führ’ mich zu meinem Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott! Ich darf ja dem Herrn überhaupt
+nicht unter die Augen kommen, wage mich gar nicht
+mehr zu zeigen! Ja, ja, so weit ist es gekommen, daß
+ich auch <em>ihn</em> noch fürchten muß! Sitze hier in meiner
+Trübsal, und wenn Foma Fomitsch zu kommen geruhen,
+so gehe ich hinter die Blumenbeete.“
+</p>
+
+<p>
+„Was fürchtest du denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Vorhin wußte ich die Aufgabe nicht gut: Foma
+Fomitsch wollten mich bestrafen und, wie er sagte, mich
+auf den Knien stehen lassen – ich aber kniete nicht
+nieder. Alt bin ich, Väterchen Ssergei Alexandrowitsch,
+viel zu alt, um noch solche Scherze mitzumachen. Der
+Herr aber geruhten darüber böse zu werden, daß ich
+Foma Fomitsch nicht gehorcht hatte. ‚Siehst du denn
+nicht ein,‘ sagte er, ‚alter Kerl, er müht sich doch um
+deine Bildung, will dich doch in der Aussprache des
+Französischen unterweisen ...‘ Und so gehe ich denn
+und lerne Vokabeln. Foma Fomitsch versprachen, am
+Abend noch einmal eine Prüfung vorzunehmen.“
+</p>
+
+<p>
+Es schien mir, daß hier einiges nicht so ganz stimmte.
+</p>
+
+<p>
+„Mit diesem französischen Unterricht wird es wohl
+eine besondere Bewandtnis haben,“ dachte ich, „die der
+Alte mir natürlich nicht erklären kann.“
+</p>
+
+<p>
+„Nur eine Frage noch, Gawrila: wie sieht er aus?
+Stattlich, imponierend?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+„Wer das? Foma Fomitsch? Nein, Väterchen,
+das ist so ein gemausertes Menschlein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Hab’ nur etwas Geduld, Gawrila, es wird
+sich vielleicht noch einrenken lassen, oder vielmehr:
+sicherlich wird es das, ich verspreche es dir, es wird
+alles wieder gut werden! Aber ... wo ist denn nun
+mein Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Hinter dem Pferdestall reden der Herr mit den
+Abgesandten der Bauern. Aus Kapitonowka sind die
+Alten mit Verbeugungen und Bitten hergekommen.
+Dort hat man gesagt, daß der Herr sie Foma Fomitsch
+zu schenken beabsichtige, und daher wollen sie alle bitten,
+daß es nicht geschehe, wollen sich, wie man sagt, losbitten.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum empfängt er sie denn hinter den
+Pferdeställen?“
+</p>
+
+<p>
+„Aus Vorsicht, Väterchen ...“
+</p>
+
+<p>
+In der Tat fand ich meinen Onkel hinter den
+Pferdeställen. Dort stand er auf einem freien Platz
+vor einer ganzen Anzahl Bauern, die sich immer wieder
+vor ihm verneigten und inständig um etwas zu bitten
+schienen. Mein Onkel aber erklärte ihnen offenbar
+eine Sache. Ich näherte mich und rief ihn an. Er
+sah sich um und – wir lagen uns in den Armen.
+</p>
+
+<p>
+Er freute sich unbeschreiblich über mein Kommen,
+er geriet förmlich in Begeisterung vor Freude. Er umarmte
+mich, drückte meine Hände ... als hätte man
+ihm seinen leiblichen Sohn wiedergegeben, der irgendeiner
+tödlichen Gefahr entgangen war, oder als hätte
+ich ihn mit meiner Ankunft von einer tödlichen Gefahr
+befreit oder von schweren Zweifeln erlöst, und als
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+brächte ich Glück und Freude für sein ganzes Leben
+ihm und allen, die er lieb hatte; denn mein Onkel hätte
+nie eingewilligt, allein glücklich zu sein.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem ersten überschwenglichen Ausbruch wurde
+er so mitteilsam, daß er sich bald ganz verlor und wohl
+selbst nicht mehr wußte, wovon er schon gesprochen
+hatte. Er überschüttete mich mit Fragen, wollte mich
+sogleich seiner ganzen Familie vorstellen: wir begaben
+uns auch schon zum Hause – dann aber kehrte er doch
+wieder zurück ... um mich zuerst mit seinen Bauern
+aus Kapitonowka bekannt zu machen. Hierauf – dessen
+entsinne ich mich noch genau – kam er plötzlich aus
+unbekanntem Grunde auf einen Herrn Korowkin zu
+sprechen, einen jedenfalls außergewöhnlichen Menschen,
+den er vor drei Tagen unterwegs getroffen hatte,
+irgendwo auf der Reise, und den er mit der größten
+Ungeduld gerade jetzt als Gast bei sich erwartete. Von
+Korowkin sprang er auf etwas anderes über. Es war
+mir förmlich ein Genuß, ihn zu betrachten. Auf seine
+überstürzten Fragen nach meinen ferneren Absichten
+sagte ich, daß ich vorläufig keine Anstellung suchen,
+sondern fortfahren würde, mich mit der Wissenschaft
+zu beschäftigen. Doch kaum hatte ich das Wort
+„Wissenschaft“ ausgesprochen, als mein Onkel auch
+schon eine ungeheuer wichtige Miene aufsetzte. Als
+er dann erfuhr, daß ich mich in der letzten Zeit mit
+Mineralogie beschäftigt hatte, warf er den Kopf in
+den Nacken und blickte sich stolz im Kreise um, als
+hätte er ganz allein, ohne jede fremde Hilfe, die ganze
+Mineralogie entdeckt und alles allein niedergeschrieben.
+Ich habe ja schon gesagt, daß er vor dem Wort
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+„Wissenschaft“ die größte Ehrfurcht empfand, eine
+Ehrfurcht, die ohne jeden persönlichen Ehrgeiz war,
+dessen sie um so mehr entbehrte, als er selbst fast nichts
+von diesen Dingen verstand.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund, es gibt doch wirklich Menschen in
+der Welt, die alles wissen!“ sagte er mir einmal mit
+wahrem Entzücken in den leuchtenden Augen. „Da
+sitzt man unter ihnen, hört, und weiß doch selbst, daß
+man nichts davon versteht, aber dennoch freut sich das
+Herz. Und warum? Ganz einfach, weil hier eben
+Nutzen ist, hier ist Verstand, hier ist das Allgemeinwohl!
+Das begreife ich doch! Ich fahre jetzt schon
+mit der Eisenbahn, mein Iljuscha aber wird vielleicht
+schon durch die Luft fliegen ... Nun, ja, kurz und
+gut, und der Handel, die Industrie – diese, wie man
+sagt, Schlagadern ... das heißt, ich will nur sagen,
+von welcher Seite du es auch nimmst, es ist und bleibt
+doch nützlich für die Menschheit ... Das ist es doch,
+nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+Doch ich komme zurück auf unser Wiedersehen.
+</p>
+
+<p>
+„Wart nur, Freund, wart,“ begann er in seiner
+schnellen Sprechweise, sich die Hände reibend, „du sollst
+einen Menschen kennen lernen! Es ist ein seltener
+Mensch, sag’ ich dir, gelehrt, gelehrt, ganz ein Mann
+der Wissenschaft! Der überlebt das Jahrhundert! Das
+ist doch gut gesagt: ‚er überlebt das Jahrhundert‘,
+nicht? Das hat mir Foma selbst erklärt ... Wart,
+ich werde dich mit ihm bekannt machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Sie Foma Fomitsch, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Freund, diesmal sprech’ ich von Korowkin.
+Das heißt, Foma ist ja gleichfalls ... er ...
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+Aber diesmal sprach ich einfach nur von Korowkin,“
+fügte er hinzu, während es mir auffiel, daß er, sobald
+die Rede auf Foma kam, zu erröten und sich zu verwirren
+schien.
+</p>
+
+<p>
+„Mit welcher Wissenschaft beschäftigt er sich denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit allen Wissenschaften, Freund, oder kurz gesagt,
+mit der Wissenschaft überhaupt. Ich kann dir
+leider nicht so genau sagen, mit welcher eigentlich, ich
+weiß nur, daß es Wissenschaften sind. Oh, wie der
+über die Eisenbahnen redet! Und weißt du,“ – mein
+Onkel senkte die Stimme und zwinkerte mir bedeutsam
+mit dem linken Auge zu, – „ein wenig so, du weißt
+schon, – freie Ideen! Das habe ich sofort bemerkt,
+namentlich wenn er so von Familienglück spricht ...
+Schade, ich habe nicht alles ganz genau begriffen, was
+er da sprach, – hatte gerade wenig Zeit –, sonst
+könnte ich dir jetzt alles wiedergeben, ganz ausführlich.
+Und zudem ein Mensch von wirklich edlen Eigenschaften.
+Ich habe ihn zu mir zum Besuch eingeladen. Erwarte
+ihn stündlich.“
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen starrten mich die Bauern mit offenen
+Mündern und großen Augen wie ein Wunder an.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Onkel,“ unterbrach ich ihn, „ich habe,
+glaube ich, Ihr Gespräch mit den Bauern unterbrochen.
+Es handelt sich gewiß um Wichtiges. Was
+meinen Sie? Ich will ganz offen gestehen, daß ich so
+meine Vermutungen habe – und daher würde ich gern
+zuhören ...“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel wurde plötzlich sehr geschäftig und beinahe
+aufgeregt.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, richtig! Das hatte ich ganz vergessen! Ja,
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+sieh mal ... was soll man mit ihnen tun? Sie haben
+sich in den Kopf gesetzt – ich möchte bloß wissen, wer
+es als erster getan hat –, daß ich sie und ganz Kapitonowka
+– du erinnerst dich doch noch, wie wir mit
+meiner seligen Katjä abends immer dorthin spazieren
+fuhren? – Nun ja, daß ich das ganze Kapitonowka
+mit seinen rund achtundsechzig Seelen Foma Fomitsch
+schenken wolle! Nun und jetzt heißt es: ‚Wir wollen
+nicht von dir fort, Väterchen!‘ und damit Punktum! ...“
+</p>
+
+<p>
+„So ist es also nicht wahr, Onkel? Sie werden
+ihm Kapitonowka nicht schenken?!“ rief ich erfreut aus.
+</p>
+
+<p>
+„Wie werd’ ich denn! Ist mir nie in den Sinn gekommen!
+Aber durch wen hast du es denn schon erfahren?
+Es war mir nur mal so entschlüpft – und
+da hat man gleich Häuser auf das eine Wort gebaut.
+Ich verstehe bloß nicht, weshalb sie den Foma so wenig
+mögen? Aber wart nur, Ssergei, ich werde dich mit
+ihm bekannt machen,“ sagte er mit schüchternem Blick
+auf mich, als ahne er auch in mir einen Feind Foma
+Fomitschs. „Freund, das ist ein solcher Mensch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wir wollen keinen anderen Herrn, Väterchen, nur
+dich allein!“ riefen hier plötzlich im Chorus alle Bauern
+aus. „Ihr seid unser Vater, wir sind Eure
+Kinder!“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie mal, Onkel,“ sagte ich, „den Foma
+Fomitsch habe ich zwar noch nicht gesehen, aber ...
+sehen Sie ... ich habe so einiges gehört. Ich will es
+Ihnen nur gleich sagen, daß ich heute unterwegs Herrn
+Bachtschejeff getroffen habe. Übrigens hat sich in mir
+jetzt eine andere Auffassung gebildet, wenigstens vorläufig.
+Jedenfalls aber entlassen Sie nun die Bauern,
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+dann können wir ungestört, ganz allein und ohne
+Zeugen, miteinander reden. Ich bin ja doch eigentlich
+nur deswegen hergekommen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es ja! Eben, eben!“ stimmte mein Onkel
+sofort eifrig bei. „Die Bauern entlassen wir und dann
+reden wir, weißt du, so – kameradschaftlich, freundschaftlich,
+verständig! – Nun,“ fuhr er, sich an die
+Bauern wendend, in seiner schnellen Sprechweise fort,
+„geht jetzt wieder nach Hause, Freunde! Und hinfort
+kommt immer zu mir, immer zu mir, wenn was nötig
+ist, kommt ganz einfach gleich zu mir, wenn was
+nötig ist –“
+</p>
+
+<p>
+„Väterchen, du bist ja unser Vater! Gib uns nicht
+der Willkür Foma Fomitschs preis! Alle wir Armen
+bitten dich!“ riefen von neuem die Bauern einstimmig
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ach ihr Dummköpfe! Es wird euch doch nichts
+geschehen, das habe ich euch doch schon gesagt!“
+</p>
+
+<p>
+„Sonst würde er uns ganz dumm machen mit dem
+Unterricht, Väterchen! Die Hiesigen, hört man, soll er
+ja alle schon ganz dumm gemacht haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was, will er denn auch euch die französische
+Sprache beibringen?“ fragte ich, beinahe erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Väterchen, vorläufig hat Gott der Herr uns
+noch verschont!“ antwortete einer der Bauern, ihr
+Sprecher und ein Schwätzer, wie es schien; er war
+rothaarig und hatte eine große Glatze, die ziemlich tief
+auf dem Hinterkopf lag, sowie ein spärliches, keilförmiges
+Bärtchen, das sich so schnell bewegte, wenn
+er sprach, als wäre es an sich lebendig gewesen. „Nein,
+Herr, bis jetzt noch nicht.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+„Aber worin unterrichtet er euch denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Euer Gnaden, in solchen Dingen, daß es nach
+unserem Verständnis so herauskommt: kauf’ einen goldenen
+Kasten, deine kupferne Münze gib aber hin.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, was bedeutet das, kupferne Münze ...?“
+</p>
+
+<p>
+„Sserjosha! Du bist im Irrtum! Das ist eine Verleumdung!“
+rief mein Onkel dazwischen, war aber dabei
+rot geworden und sah sehr betreten aus. „Diese
+Dummköpfe haben natürlich nicht begriffen, was er
+ihnen gesagt hat. Er hat nur so ... Was soll das mit
+der kupfernen Münze? ... Dir aber steht es nicht zu,
+über alles zu urteilen und das Maul aufzureißen,“
+fuhr mein Onkel vorwurfsvoll, zu dem Bauern gewandt,
+fort; „man wollte dir doch, du Dummkopf,
+Gutes tun, du aber siehst das nicht ein – und
+schreist noch!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber um’s Himmels willen, Onkel, Sie vergessen,
+daß er ihnen Französisch beibringen will!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber doch nur wegen der Aussprache, Sserjosha,
+einzig wegen der Aussprache,“ beteuerte er mit geradezu
+flehender Stimme. „Er hat es mir selbst gesagt,
+daß er es einzig wegen der Schulung in der Aussprache
+tut, die dann auch ihrer Muttersprache zugute kommt
+... Zudem ging der Sache noch ein besonderer Fall
+vorher, – du weißt das nicht und daher kannst du
+auch nicht urteilen. Zuerst, Freund, muß man begreifen,
+und dann erst kann man beschuldigen ... Beschuldigen
+ist leicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich verstehe euch nicht!“ sagte ich heftig, mich
+von neuem an die Bauern wendend, „so hättet ihr es
+ihm doch sofort offen sagen sollen. Ganz einfach: so
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+geht es nicht, Foma Fomitsch, die Sache liegt so und
+so! Ihr habt doch einen Mund!“
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist die Maus, die der Katze die Schelle umbindet,
+Väterchen? ‚Ich bringe,‘ sagt er, ‚dir ungeschicktem
+Bauernkerl Sauberkeit und Ordnung bei.
+Warum ist dein Hemd nicht sauber?‘ – Weil es doch
+voll Schweiß ist, darum kann es doch auch nicht sauber
+sein! Wir können doch nicht jeden Tag das Hemd
+wechseln. Sauberkeit macht noch nicht auferstehen, und
+Armut ist noch nicht Tod.“
+</p>
+
+<p>
+„Neulich kam er in die Tenne,“ fiel ein anderer
+Bauer ein, ein großer, hagerer Mann, dessen Kleider
+an vielen Stellen geflickt waren, und dessen Füße in
+den ältesten Bastschuhen staken. Er gehörte offenbar
+zu jenen, die ewig mit irgend etwas unzufrieden sind
+und stets ein gehässiges, scharfes Wort in Bereitschaft
+haben. Bis dahin hatte er hinter den anderen gestanden,
+in mißmutiger Schweigsamkeit zugehört und
+die ganze Zeit ein gewisses zweideutiges, bitteres und
+verschlagenes Spottlächeln nicht aus seinem Gesicht gebannt.
+– „Er kam in die Tenne. ‚Wißt ihr auch,‘
+fragt er, ‚wieviel Werst es von hier bis zur Sonne
+sind?‘ Wer von uns kann denn so was wissen? Das
+steht doch nicht uns zu, das ist doch Herrschaftswissen.
+‚Nein,‘ sagte er, ‚du bist ein Lümmel, wie ich sehe, begreifst
+nicht einmal deinen eigenen Nutzen. Ich aber,‘
+sagt er, ‚bin ein Astrolog! Ich kenne alle Planeten
+Gottes!‘“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, hat er dir auch gesagt, wieviel Werst es
+bis zur Sonne sind?“ mischte sich mein Onkel ein, der
+plötzlich wieder wie neubelebt war und lustig mir zuzwinkerte,
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+als wolle er mir sagen: „Paß nur auf, was
+du jetzt zu hören bekommen wirst!“
+</p>
+
+<p>
+„Er nannte da wohl eine große Zahl,“ antwortete
+der Bauer gewissermaßen wider Willen, da er eine
+solche Frage offenbar nicht erwartet hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, wieviel waren es denn doch, wieviel, was
+meinst du?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das wird doch Euer Gnaden besser wissen
+als wir ... wir sind unaufgeklärte Leute, leben im
+Dunkeln.“
+</p>
+
+<p>
+„<em>Ich</em> weiß es ja, Bruder, aber du, hast <em>du es
+auch</em> behalten?“
+</p>
+
+<p>
+„Es werden da immer soundso viel hundert oder
+auch tausend Werst sein, wie er sagte. Es war etwas
+viel. Die konnte man kaum auf drei Fuhren fortführen,
+diese Zahlen, die er sagte.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist ja die Hauptsache, – daß man es
+behält nämlich! Du glaubtest wohl, was wird es denn
+viel mehr sein als eine Werst, da kann man ja mit
+der Hand hinlangen? Nein, Bruder, die Erde – das
+ist, siehst du, ein runder Ball – verstehst du?“ fuhr
+mein Onkel fort, indem er mit den Händen in der Luft
+einen Kreis beschrieb.
+</p>
+
+<p>
+Der Bauer lächelte schmerzlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wie ein Ball! Und so hält sie sich ganz von
+selbst in der Luft und kreist um die Sonne. Die Sonne
+aber steht auf einem Platz und rührt sich nicht; es
+scheint dir nur so, als bewege sie sich, in Wirklichkeit
+aber steht sie auf einem Fleck. Ja, siehst du, so ist es!
+Entdeckt aber hat das alles der Kapitän Cook, ein Weltumsegler
+... Übrigens, weiß der Teufel, ob der es nun
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+gerade war, oder wer es eigentlich entdeckt hat,“ fügte
+er halblaut, zu mir gewandt, hinzu. „Ich habe ja
+selbst, Freund, keine Ahnung davon ... Weißt du es,
+wieviel Werst es bis zur Sonne sind?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, Onkel,“ antwortete ich, etwas verwundert
+über dieses ganze Gespräch, „nur denke ich folgendermaßen
+darüber: Unbildung ist natürlich Nachlässigkeit,
+dagegen Bauern in der Astronomie zu unterrichten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es ja! Eben, eben – gerade Nachlässigkeit!“
+fiel mein Onkel dazwischen und griff begeistert
+meinen Ausdruck auf, der ihm wohl überaus treffend
+erschien. „Ein großartiger Gedanke! Gerade Nachlässigkeit!
+Das habe ich ja immer gesagt ... das heißt,
+ich habe es noch nie gesagt, aber ich habe es gefühlt.
+Hört ihr,“ rief er dann den Bauern zu, „Unbildung
+ist dasselbe wie Nachlässigkeit, ist genau dasselbe wie
+Schmutz! Und deshalb wollte euch Foma auch belehren.
+Er wollte euch das Gute lehren. Das ist gleichfalls
+ein Dienst, der dem Vaterlande geleistet wird, und des
+größten Lohnes wert. Seht ihr nun, wie es sich verhält!
+Das ist die Wissenschaft! Nun, gut, gut, meine
+Lieben! Geht mit Gott, ich freue mich, es freut mich
+... jedenfalls beruhigt euch, ich werde euch nicht verlassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Beschütze du uns, Väterchen, bist doch immer wie
+ein leiblicher Vater zu uns gewesen!“
+</p>
+
+<p>
+„Laß uns Freude erleben, Väterchen!“
+</p>
+
+<p>
+Und die Bauern stürzten wie ein Mann auf die
+Knie nieder.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, was soll das, welch ein Unsinn! Vor
+Gott und dem Kaiser sollt ihr niederknien, nicht aber
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+vor mir ... Aber so steht doch endlich auf, geht jetzt,
+führt euch gut auf, verdient euch eine gute Behandlung
+... nun, und alles andere, was noch nötig ist ...
+Weißt du,“ sagte er dann zu mir, sich plötzlich umwendend,
+und sein Gesicht schien vor Freude zu leuchten,
+„so ein armer Kerl hört doch gern ein gutes Wort,
+und auch ein Geschenk schadet nicht. Ich werde ihnen
+etwas schenken, was? Was meinst du? So, weil du
+angekommen bist ... Soll ich es tun oder nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, Sie sind ja Ihren Bauern ein guter Herr,
+wie ich sehe, wahrscheinlich einer jener Gutsbesitzer,
+die immer nur Gutes tun wollen ... –“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es geht doch nicht, Freund, es geht doch
+nicht anders: das ist doch nichts. Ich wollte ihnen
+schon lange etwas schenken,“ sagte er wie zur Entschuldigung.
+„Aber fandest du es nicht lächerlich, daß
+ich den Bauern da einen wissenschaftlichen Vortrag
+hielt? Nein, Freund, das habe ich nur so ... nur so
+vor Freude, daß ich dich nun wiedersah, Sserjosha ...
+Ich wollte einfach, daß auch er, der Bauer, erführe,
+wie weit es bis zur Sonne ist, und, wenn er’s hört,
+den Mund aufsperrt. Es ist so lustig zu sehen, wie er
+ihn aufsperrt. Man freut sich geradezu für ihn. Nur
+weißt du, Freund, sag’ das nicht dort im Salon, daß
+ich hier mit den Bauern gesprochen habe. Ich habe
+es absichtlich hier hinter den Pferdeställen getan, damit
+man es von dort nicht sieht; denn sieh, Freund, es
+war nicht anders zu machen ... eine kitzlige Sache!
+Und sie waren ja auch nur heimlich gekommen. Ich
+habe es ja eigentlich auch nur ihretwegen getan
+...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+„Ja, Onkel, jetzt bin ich also angekommen und bin
+hier!“ begann ich, um dem Gespräch eine andere Wendung
+zu geben und schneller auf die Hauptsache zu
+sprechen zu kommen. „Ihr Brief hat mich, offen gestanden,
+dermaßen überrascht und in Erstaunen gesetzt,
+daß ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund, kein Wort mehr darüber!“ unterbrach
+mich mein Onkel geradezu erschrocken und mit
+gesenkter Stimme. „Später, später wird sich das alles
+aufklären! Vielleicht bin ich nicht ganz schuldlos vor
+dir, vielleicht sogar sehr ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht ganz schuldlos vor <em>mir</em>, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Später, später, mein Freund, davon später! Das
+wird sich später erklären! Alles, alles! Was du aber
+für ein prächtiger Bursche geworden bist! Mein lieber
+Junge! Und wie ich dich erwartet habe! Ich wollte
+dir alles, wollte dir mein ganzes Herz ausschütten, wie
+man sagt ... du bist gelehrt, du bist der einzige, den
+ich habe ... du und Korowkin. Im übrigen muß ich
+dich noch darauf aufmerksam machen, daß sich hier alle
+über dich ärgern. Nun sieh dich vor, sei vorsichtig,
+sei auf deiner Hut!“
+</p>
+
+<p>
+„Sich über mich ärgern?“ fragte ich und blickte
+meinen Onkel verwundert an, da ich nicht begriff, wodurch
+ich Menschen, die ich noch gar nicht kannte, hätte
+ärgern können. „Über mich?“
+</p>
+
+<p>
+„Über dich, Freund. Was ist da zu machen! Foma
+Fomitsch ist ein bißchen ... nun, und Mamachen
+natürlich gleichfalls. Überhaupt sei vorsichtig, ehrerbietig,
+widersprich nicht, aber vor allem, sei ehrerbietig
+...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+„Und das etwa im Verkehr mit Foma Fomitsch,
+Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Was soll man tun, mein Freund, ich verteidige
+ihn ja nicht ... Er hat vielleicht wirklich so als Mensch
+seine Fehler, und sogar jetzt im Augenblick ... Ach,
+Freund Sserjosha, wenn du wüßtest, wie mich alles
+das beunruhigt! Wie könnte man das nur gutmachen,
+damit wir wieder alle glücklich und zufrieden wären?
+... Aber wer ist denn ohne Mängel? Auch wir sind
+doch nicht vollkommen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Onkel, so sehen Sie doch nur, was er
+tut ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund! Das sind ja nur Klatschereien und
+weiter nichts! Zum Beispiel, ich werde dir erzählen:
+da ärgert er sich nun über mich, aber was glaubst du,
+weswegen? ... Übrigens, vielleicht bin ich auch selbst
+daran schuld. Ich werde es dir später erzählen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, Onkel, in mir hat sich, was ihn anbetrifft,
+eine besondere Auffassung herausgebildet,“
+unterbrach ich ihn, um ihm noch schnell meine Kombinationen
+mitzuteilen. Wir beeilten uns beide.
+„Erstens war er früher ein Hausnarr: das hat ihn
+erbittert, erniedrigt, ihn in seinem Innersten gekränkt
+und beleidigt, und so ist denn gehässig, unnatürlich,
+rachsüchtig geworden. Er will sich sozusagen an der
+ganzen Menschheit rächen ... Wenn man ihn aber
+mit dieser Menschheit wieder aussöhnen, ihn sich selbst
+wiedergeben würde ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist es ja! Eben, eben!“ rief mein Onkel begeistert
+aus. „Gerade das! Ein herrlicher Gedanke!
+Und es wäre doch eine Schande, es wäre niedrig von
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+uns, wollten wir ihn jetzt ohne weiteres verurteilen!
+Das ist es ja! ... Ach, Freund, ich sehe schon, du
+verstehst mich, du bringst mir Trost! Wenn es sich
+dort nur einrenken ließe! Weißt du, ich habe wirklich
+Angst, dort zu erscheinen. Sieh, du bist nun angekommen,
+ich aber werde dafür büßen müssen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Onkel, wenn es so ist ...,“ begann ich, etwas
+verlegen durch dieses Geständnis.
+</p>
+
+<p>
+„Nei-nei-nein! Um keinen Preis, auf keinen Fall!“
+rief er heftig dazwischen, fest meine Hände drückend.
+„Du bist mein Gast, und ich will es so!“
+</p>
+
+<p>
+Ich wunderte mich.
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, sagen Sie mir jetzt,“ begann ich nachdrücklich,
+„aus welchem Grunde oder zu welchem Zweck
+Sie mich hergerufen haben? Was erwarten Sie von
+mir, und vor allen Dingen, in welcher Beziehung sind
+Sie ‚nicht schuldlos‘ vor mir?“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, frage jetzt lieber nicht! Später, später!
+Alles das wird sich später aufklären! Ich habe vielleicht
+in vielem gefehlt, aber ich wollte wie ein ehrlicher
+Mensch handeln und ... und du wirst sie heiraten!
+Du wirst sie heiraten, wenn du nur einen Tropfen
+Edelmut besitzest!“ schloß er, in einer plötzlichen Gefühlsaufwallung
+über und über errötend, und drückte
+in diesem aufwallenden Gefühl schmerzhaft meine
+Hand. „Aber jetzt genug davon, kein Wort mehr! Du
+wirst ja selbst alles zeitig genug erfahren. Von dir
+wird es abhängen ... Die Hauptsache ist, daß du dort
+jetzt gefällst, daß du Eindruck machst. Laß dich nur
+nicht verwirren.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber sagen Sie doch, Onkel, wer ist denn eigentlich
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+dort bei Ihnen? Ich muß gestehen, ich habe mich
+wenig in Gesellschaft bewegt, so daß ...“
+</p>
+
+<p>
+„So daß dir jetzt etwas bange ist, wie?“ fragte
+der Onkel lächelnd. „Das hat nichts zu sagen! Verlier
+bloß nicht den Mut! Die Hauptsache ist, daß du
+dich nicht fürchtest. Wer dort bei uns ist, fragst du?
+Ja, wen haben wir denn da? ... Erstens natürlich
+meine Mutter,“ begann er geschäftig – „du erinnerst
+dich doch noch ihrer, oder nicht mehr? Eine herzensgute,
+durchaus edeldenkende, alte Frau, ohne alle Prätensionen,
+kann man sagen. Etwas altmodisch, aber
+das ist ja um so besser. Nun, und dann, weißt du,
+zuweilen hat sie so ... gewisse Einfälle, sie sagt manches
+so ... nun eben so in besonderem Ton. Augenblicklich
+ist sie mir böse, ärgert sich, aber es ist meine Schuld,
+und ich weiß es, daß es meine Schuld ist. Nun, und
+sie ist doch immerhin <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Grande Dame</span>, Generalin ...
+ihr Mann war ein prächtiger Mensch, General, sehr
+gebildet, reich war er freilich nicht, aber vom Kriege
+her mit Narben bedeckt, – mit einem Wort: er hatte
+sich allgemeine Achtung verdient. Dann ist da Fräulein
+Perepelizyna. Nun, die ... ich weiß nicht ...
+in der letzten Zeit ist sie so etwas ... ihr Charakter,
+wie gesagt ... Aber man kann doch nicht alle verurteilen!
+... Nun, Gott mit ihr ... du brauchst nicht
+zu glauben, daß sie so eine ist, die ... die anderen auf
+dem Halse sitzt. Sie ist, weißt du, die Tochter eines
+Majors. Mamas Busenfreundin, vergiß das nicht!
+Und dann, nun, meine liebe Schwester Praskowja Iljinitschna.
+Na, von der ist nicht viel zu sagen: eine
+einfache, gute Seele; ein wenig zu geschäftig, aber was
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+für ein Herz! Du sieh nur aufs Herz, Freund, das ist
+die Hauptsache ... Ein bejahrtes Mädchen, aber, denk
+doch, dieser Sonderling Bachtschejeff macht ihr gewissermaßen
+den Hof und scheint anhalten zu wollen.
+Nur laß dir um Gottes willen nichts anmerken, kein
+Wort! Geheimnis! Na, und wen haben wir denn da
+noch? Von den Kindern rede ich weiter nicht: wirst
+sie selbst sehen. Morgen ist Iljuschas Namenstag ...
+Ja, richtig! Fast hätt’ ich’s vergessen: seit einem
+Monat, sieh mal, lebt bei uns Iwan Iwanytsch Misintschikoff,
+– du wirst mit ihm, denke ich, im dritten
+Grade verwandt sein ... ja genau: ein Vetter deines
+Vetters. Leutnant a. D. Er hat erst vor kurzem den
+Abschied genommen – stand in einem Husarenregiment.
+Ein noch junger Mensch. Ein wirklich guter Charakter.
+Aber, weißt du, er hat sich durch seine Verschwendung
+dermaßen – wie sag’ ich doch gleich? – na, abgerupft,
+daß ich gar nicht weiß, wie und wo er das in einem
+solchen Maße hat fertigbringen können. Übrigens
+hat er auch früher nichts gehabt, aber immerhin ...
+er hat viel Schulden gemacht ... Und jetzt ist er bei
+mir zu Besuch. Bisher kannte ich ihn überhaupt nicht
+– als er ankam, stellte er sich mir vor. So ein lieber,
+guter, ruhiger, bescheidener Mensch. Es hat hier,
+glaube ich, kein Mensch je ein Wort von ihm gehört.
+Er schweigt ununterbrochen. Foma hat ihn – zum
+Spott – den ‚schweigsamen Fremdling‘ genannt.
+Aber er macht sich nichts daraus, ärgert sich nicht.
+Foma ist jedenfalls mit ihm zufrieden, nur sagt er von
+ihm, dem Iwan, daß es nicht weit her mit ihm sei.
+Übrigens widerspricht Iwan ihm nie, er stimmt ihm
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+immer bei. Hm! So ein stiller Junge ... Na, Gott
+mit ihm! Du wirst ja selbst sehen. Dann haben wir
+noch Gäste aus der Stadt: Pawel Ssemjonytsch Obnoskin
+mit seiner Mutter, ein junger Mann, ein ungeheuer
+kluger Mensch; etwas so Reifes, weißt du, ist
+in ihm, etwas Festes, Unerschütterliches ... Ich verstehe
+mich nur nicht auszudrücken! Hinzu kommt noch
+eine ungewöhnliche Sittlichkeit: strenge Moral! Nun,
+und dann schließlich lebt noch, sieh mal, eine Tatjana
+Iwanowna bei uns, mit der wir – je nachdem, wie
+man’s nimmt – auch noch verwandt sein sollen, natürlich
+nur sehr entfernt verwandt – du kennst sie nicht
+– ein nicht mehr ganz junges Mädchen – das muß
+man wohl sagen, aber immerhin ... sie hat auch ihre
+Vorzüge. Reich ist sie, weißt du, kann zwei Güter wie
+Stepantschikowo auf einmal kaufen. Sie hat erst vor
+kurzem geerbt, bis dahin war sie bettelarm. Aber du,
+Freund, du urteile nicht voreilig über sie: sie ist etwas
+kränklich ... ich wollte sagen, sie hat etwas ... etwas
+Phantasmagorisches in ihrem Charakter. Nun, du bist
+ein edeldenkender Mensch, du wirst es begreifen, sie hat
+doch sozusagen viel gelitten. Mit solchen Menschen,
+weißt du, die im Unglück gewesen sind, muß man doppelt
+nachsichtig sein! Aber du brauchst nicht gleich ...
+nun, so ... irgend etwas zu denken! Sie hat natürlich
+auch ihre Schwächen: so kommt sie zuweilen etwas
+aus dem Konzept, spricht manches zu schnell aus, wählt
+nicht immer das richtige Wort, das nötig ist ... das
+heißt, – nicht etwa, daß sie lügt, denk nur das nicht
+... das kommt ja, Freund, aus edlem Herzen ... das
+heißt, wenn sie auch manches nicht ganz der Wahrheit
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+gemäß sagen sollte, so geschieht das doch einzig sozusagen
+aus übergroßer Herzenseinfalt – du verstehst
+doch!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel war offenbar sehr verwirrt und wurde
+immer verlegener.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „ich habe Sie sehr
+lieb ... verzeihen Sie mir die offene Frage: werden
+Sie eine von den Damen heiraten oder nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer ... wer hat dir das gesagt?“ fragte er, wie
+ein Kind errötend. „Sieh mal, Sserjosha, ich werde
+dir alles ganz genau erzählen. Erstens – ich heirate
+nicht. Meine Mutter, zum Teil auch meine Schwester
+und vor allen Dingen Foma Fomitsch, den Mama vergöttert
+– und mit Recht, mit Recht: er hat viel für
+sie getan – sie alle wollen, daß ich diese selbe Tatjana
+Iwanowna heirate, aus vernünftiger Überlegung, zum
+Wohl der ganzen Familie. Natürlich wollen sie ja
+nur mein Bestes – das begreife ich vollkommen. Aber
+ich werde um keinen Preis heiraten – ich habe mir
+schon das Wort gegeben. Nichtsdestoweniger verstand
+ich – ich weiß nicht, wie’s kam – nicht so recht zu
+antworten: ich habe weder ja noch nein gesagt. Das
+ist, weißt du, immer so mit mir. Und so glaubten sie
+denn, daß ich einwillige, und wollen jetzt unbedingt,
+daß ich mich morgen, zum Familienfest, erkläre ...
+... Und da sitze ich nun und weiß nicht einmal, was
+ich tun soll! Hinzu kommt noch, daß Foma Fomitsch
+mir zürnt – weiß Gott aus welchem Grunde. Mama
+gleichfalls. Ich werde dir, weißt du, gestehen, daß ich
+nur dich erwartet habe, dich und Korowkin ... ich
+wollte sozusagen ausschütten, was ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+„Aber womit kann denn Korowkin Ihnen helfen,
+Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Doch, doch, er kann mir helfen, du wirst sehen, –
+das ist, Freund, so ein Mensch ... Wie gesagt, ein
+Mann der Wissenschaft! Ich vertraue auf ihn, wie auf
+einen Fels! Ein besiegender, bestrickender Mensch!
+Wie er über Familienglück spricht! Weißt du, auch auf
+dich setzte ich meine Hoffnung, glaubte, du wirst sie
+zur Vernunft bringen. Sag’ doch selbst: nun, nehmen
+wir an, ich bin an allem Unglück schuld, ich allein!
+Das begreife ich doch, ich bin ja doch kein gefühlloser
+Holzklotz. Aber trotzdem konnte man doch auch mir
+einmal verzeihen! Himmel, wie wir dann alle leben
+könnten! ... Wenn du wüßtest, wie groß meine kleine
+Ssaschurka ist – sie könnte schon heiraten! Und wie
+Iljuscha sich entwickelt hat! Morgen ist sein Namenstag.
+Aber wegen Ssaschurka mache ich mir Sorgen
+... sie ist ein kleiner Trotzkopf ...“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel! Wo ist mein Koffer? Ich werde mich
+umkleiden und dann sofort erscheinen, und dann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Im Fremdenzimmer oben, mein Freund, im
+Giebelzimmer. Ich hatte es im voraus so angeordnet,
+daß man dich, sobald du ankommst, sofort dorthin nach
+oben führen solle, damit dich niemand sieht. Ja, ja,
+kleide dich um! Das ist gut, vorzüglich, vorzüglich! Ich
+aber werde inzwischen die anderen dort ein wenig vorbereiten.
+Nun, mit Gott! Weißt du, Freund, man
+muß schlau sein. Hier wird man unfreiwillig zu einem
+Talleyrand. Nun, macht nichts! Jetzt trinken sie dort
+Tee. Wir haben immer ziemlich früh Teestunde. Foma
+Fomitsch liebt es, Tee zu trinken, sobald er von seinem
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+Nachmittagsschläfchen aufgewacht ist. Es ist auch,
+weißt du, besser so ... Nun, ich gehe also, und du
+komme mir schnell nach, laß mich nicht lange allein:
+man ist, weißt du, wenn man allein ist, etwas befangen
+... Ja! Wart! Was ich noch sagen wollte!
+Ich habe eine Bitte an dich: mach mir dort, bitte, keine
+Vorwürfe, wie du sie mir vorhin hier machtest – was?
+Wenn du was sagen willst, so tu’s später, hier unter
+vier Augen – nicht? Bis dahin aber bezwing dich
+und schieb es auf! Ich habe es dort, sieh mal, sowieso
+mit allen verdorben. Sie ärgern sich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Onkel, nach allem, was ich gehört und
+gesehen habe, scheint es mir, daß Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Daß ich ein Lappen bin – nicht? Sprich es nur
+ruhig aus!“ unterbrach er mich ganz unvermutet. „Ja,
+Freund, was ist da zu machen! Ich weiß es ja selbst.
+Nun, dann kommst du also? Komm bitte, sobald wie
+möglich!“
+</p>
+
+<p>
+Oben im Giebelzimmer angelangt, kramte ich eilig
+die notwendigen Sachen aus meinem Koffer, eingedenk
+der Bitte meines Onkels, ihm bald zu folgen. Während
+des Ankleidens dachte ich darüber nach, daß ich,
+trotz der langen Unterhaltung mit meinem Onkel, doch
+noch nichts von dem in Erfahrung gebracht hatte, was
+ich hauptsächlich wissen wollte. Ich wurde nachdenklich.
+Nur eines war mir einigermaßen klar: mein
+Onkel wünschte immer noch, daß ich sie heiratete, und
+folglich waren alle Gerüchte, die dem widersprachen,
+wie zum Beispiel, daß er selbst in das junge Mädchen
+verliebt sei, unbegründet. Ich weiß noch, daß ich mich
+in großer Aufregung befand. Unter anderem dachte
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+ich auch darüber nach, daß ich durch meine Ankunft und
+mein Schweigen in der Hauptsache meinem Onkel
+gleichsam meine Zustimmung ausgedrückt, ihm mein
+Wort gegeben, mich auf ewig gebunden hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nicht schwer,“ dachte ich, „nicht schwer, ein
+Wort auszusprechen, das einen dann später an Händen
+und Füßen und auf ewig bindet. Und das Beste ist,
+daß ich die Braut noch nicht einmal gesehen habe!“
+</p>
+
+<p>
+Und andererseits: woher diese Feindschaft der
+ganzen Familie gegen mich? Warum sollten sie über
+meine Ankunft, wie mein Onkel sagte, ungehalten sein?
+Und was für eine sonderbare Rolle spielte denn mein
+Onkel hier in seinem eigenen Hause? Aus welchem
+Grunde vermeidet er es, mir auf gewisse Fragen zu
+antworten? Aus welchem Grunde fürchtet und quält
+er sich so? Offen gesagt, der ganze Sachverhalt erschien
+mir plötzlich vollkommen unsinnig, unbegreiflich.
+Meine romantischen und heroischen Träume aber waren
+jetzt, nach dem ersten Zusammenstoß mit der Wirklichkeit,
+endgültig verflogen. Erst jetzt, nach der Unterredung
+mit meinem Onkel, begriff ich die ganze Ungereimtheit,
+den ganzen Wahnsinn seines Vorschlages,
+und ich sagte mir, daß unter solchen Umständen wahrlich
+nur er allein einen solchen Plan aushecken konnte.
+Desgleichen gestand ich mir, daß ich selbst, indem ich
+auf sein erstes Wort hin Hals über Kopf hergefahren
+kam, fast begeistert von seinem Vorschlag, einem Narren
+und Dummkopf sogar auffallend ähnlich gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen unangenehmen Erwägungen beschäftigt,
+kleidete ich mich so eilig an, daß ich den mir behilflichen
+Diener zuerst gar nicht bemerkte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+„Werden der Herr die adelaidenfarbene Kravatte
+umlegen oder diese feinkarierte?“ fragte er plötzlich
+mit einer fast widerlich süßen Bescheidenheit.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt erst sah ich ihn an, und es schien mir auf den
+ersten Blick, daß seine Person ein gewisses Interesse
+verdiente. Er war ein noch junger Mensch, für einen
+Diener viel zu gut gekleidet, vielleicht nicht schlechter
+als manch ein Geck unserer Gouvernementsstädte. Er
+trug einen braunen Frack, weiße Beinkleider, eine strohfarbene
+Weste, Halbstiefel aus Lackleder und eine rosa
+Krawatte. Augenscheinlich war jedes Stück nicht ohne
+eine gewisse Absicht gewählt: diese ganze Ausstattung
+mußte sofort den feinen Geschmack des jungen Mannes
+verraten. Die Uhrkette war gleichfalls nicht zufällig so
+angebracht, daß sie einem in die Augen stach. Sein
+Gesicht war blaß und etwas grünlich; seine Nase war
+groß, gebogen, ungewöhnlich weiß, fast als wäre sie
+von Porzellan gewesen. Das Lächeln seiner schmalen
+Lippen drückte eine gewisse Melancholie aus, und zwar
+eine sehr zartfühlende Melancholie. Seine großen
+hervorquellenden Augen hatten etwas Gläsernes, ihr
+Blick war auffallend stumpf, aber dennoch drückten sie
+eine gewisse „Zartheit“ aus. In seinen dünnen, weichen
+Ohren trug er – wohl gleichfalls aus „Zartheit“ –
+je ein Flöckchen weiße Watte. Seine langen, weißblonden,
+spärlichen Haare waren zu Locken gedreht und
+pomadisiert. Seine Hände – oder vielmehr Händchen
+– waren weiß, sauber, wie in Rosenwasser gebadet.
+Seine Nägel waren geckenhaft lang und rosig. Kurz,
+alles an ihm sprach von Verzärtelung und Eitelkeit. Er
+lispelte vor lauter Vornehmheit und sprach nach neuester
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+Mode das r fast gar nicht aus, er schlug die Augen
+auf und schlug sie nieder, seufzte und schmachtete bis
+zur Unglaublichkeit. Ja, er duftete sogar nach Parfüm.
+Er war nicht groß, war schwächlich und welk, und beim
+Gehen knickte er sehr absonderlich in den Beinen, so
+daß es aussah, als wolle er sich bei jedem Schritt setzen,
+worin er wahrscheinlich die vornehmste Zartheit sah.
+Mit einem Wort, der ganze Mensch war förmlich
+durchtränkt mit Zartheit, Subtilität und ungewöhnlich
+entwickeltem Empfinden der eigenen Würde.
+Besonderes letzteres mißfiel mir im ersten Augenblick
+sehr, ohne daß ich hierfür einen besonderen Grund angeben
+könnte.
+</p>
+
+<p>
+„So ist diese Krawatte adelaidenfarben?“ fragte ich
+und sah den jungen Diener scharf an.
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, genau adelaidenfarben,“ antwortete er
+mit „Zartsinn“.
+</p>
+
+<p>
+„Und nicht agrafenenfarben?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Eine solche Farbe kann es überhaupt nicht
+geben.“
+</p>
+
+<p>
+„So? Warum denn nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Agrafena ist ein unanständiger Name.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso unanständig? Warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß doch ein jeder: Adelaida ist wenigstens
+ein ausländischer Name, ein veradelter also; Agrafena
+aber kann hier jedes Bauernweib heißen.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist wohl übergeschnappt?“
+</p>
+
+<p>
+„Keineswegs, ich bin bei vollem Verstande. Es
+steht dem Herrn allerdings frei, mich wie beliebt zu benennen,
+doch sind mit meinem Worte viele Generäle
+und Herren aus der Hauptstadt zufrieden gewesen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+„Wie heißt du denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Widopljässoff.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Also du bist Widopljässoff!“
+</p>
+
+<p>
+„So heiße ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Na, dich werde ich wohl noch näher kennen lernen.“
+</p>
+
+<p>
+Bei mir aber dachte ich, als ich die Treppe hinabstieg:
+„Weiß Gott, das ist ja hier eine regelrechte
+Irrenanstalt!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-7">
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+<span class="firstline">IV.</span><br>
+Beim Tee.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Teesalon war dasselbe Zimmer, aus dem eine
+Glastür auf jene Terrasse führte, auf der ich kurz vorher
+den Diener Gawrila angetroffen hatte. Die geheimnisvollen
+Warnungen meines Onkels bezüglich des
+Empfanges, der mich erwartete, beunruhigten mich
+nicht wenig. Um so unangenehmer war es mir, als
+ich, nachdem ich kaum über die Schwelle getreten war,
+plötzlich über einen Teppich stolperte und, indem ich
+zum Glück gerade noch das Gleichgewicht bewahrte,
+immerhin ganz unverhofft bis in die Mitte des
+Zimmers flog. So stand ich denn, betreten, als hätte
+ich im Augenblick meine ganze Lebenslaufbahn, Ehre
+und guten Ruf verspielt, regungslos, rot wie ein
+Krebs und mit verständnislosem Blick rings um mich
+schauend, geraume Zeit mitten im Zimmer auf einem
+Fleck. Ich erwähne diesen an sich ganz gleichgültigen
+Zwischenfall einzig aus dem Grunde, weil er von einem
+gewissen Einfluß auf meine Gemütsverfassung im Verlaufe
+des ganzen Tages war und somit auch auf mein
+Verhalten zu einigen der handelnden Personen meiner
+Erzählung. Ich versuchte, so etwas wie eine Verbeugung
+zu machen; doch noch bevor ich sie ausgeführt
+hatte, stürzte ich zu meinem Onkel und erfaßte seine
+beiden Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Guten Tag, Onkel,“ sagte ich atemlos, obgleich
+ich etwas ganz anderes, viel Geistreicheres hatte sagen
+wollen ... aber ohne es zu wollen, hatte ich schon
+dieses dumme „Guten Tag, Onkel“ gesagt!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+„Guten Tag, guten Tag, mein lieber, junger
+Freund,“ antwortete mein Onkel, der sichtlich mit mir
+litt, „wir ... wir haben uns ja schon so oft gesehen.
+Sei doch nicht so verlegen,“ fuhr er leise fort, so daß
+nur ich es hörte, „das kann ja jedem Menschen
+passieren! Ich verstehe ja: zuweilen wäre man froh,
+wenn man sich unter die Erde verkriechen könnte ...
+Nun, jetzt aber ... erlauben Sie, Mama, daß ich
+Ihnen hier meinen Gast vorstelle ... Sie werden ihn
+sicherlich liebgewinnen. Mein Neffe, Ssergei Alexandrowitsch,“
+sagte er zur Erläuterung, sich diesmal an
+alle Anwesenden wendend.
+</p>
+
+<p>
+Doch bevor ich die folgenden Ereignisse wiedergebe,
+will ich diese ganze Gesellschaft, in die ich mich
+so plötzlich hineinversetzt sah, dem Leser etwas deutlicher
+vor Augen führen.
+</p>
+
+<p>
+Sie bestand aus mehreren Damen und nur zwei
+Herren – mich und meinen Onkel nicht mitgerechnet.
+Foma Fomitsch, für den ich mich so überaus interessierte,
+und der – das fühlte ich bereits – der unumschränkte
+Herrscher des ganzen Hauses war, befand
+sich nicht im Zimmer: er glänzte durch Abwesenheit
+und hatte, wie es schien, das Sonnenlicht gleichzeitig
+mit sich fortgenommen; denn alle waren finster, sorgenvoll
+und bekümmert, was man unmöglich nicht herausfühlen
+konnte. Aber wie verwirrt und erregt ich in
+diesem Augenblick auch war, ich bemerkte doch, daß
+mein Onkel fast ebenso erregt und verwirrt war wie
+ich, wenn er auch alles tat, um seinen wahren Zustand
+und seine Sorgen hinter scheinbarer Ungezwungenheit
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+zu verbergen. Es schien so etwas wie ein schwerer
+Stein auf seinem Herzen zu liegen.
+</p>
+
+<p>
+Der eine der beiden anwesenden Herren, ein noch
+junger Mann von etwa fünfundzwanzig Jahren, war
+jener Obnoskin, dessen Verstand und strenge Moral
+mein Onkel noch kurz vorher gerühmt hatte. Leider
+gefiel er mir äußerst wenig: alles an ihm lief schließlich
+auf einen gewissen „Schick“ – jedoch schlechten
+Tones – hinaus; sein Anzug sah bei allem „Schick“
+doch fadenscheinig und ärmlich aus, und selbst in seinem
+Gesicht schien etwas Fadenscheiniges zu sein. Sein
+hellblonder, spärlicher Schnurrbart und sein zerzaustes
+Bärtchen sollten an ihm offenbar einen selbständig
+denkenden Menschen und vielleicht sogar einen Freigeist
+kennzeichnen. Er schnitt die ganze Zeit Grimassen,
+lächelte mit einer ganz besonderen, gemachten Boshaftigkeit,
+saß keinen Augenblick ruhig auf seinem Stuhl
+und fixierte mich beständig durch ein Lorgnon – dessen
+er sich, wie jeder zeitgenössische Modenarr, bediente.
+Kehrte ich mich jedoch zu ihm um, so senkte er es mit
+einer neuen Grimasse sofort, ganz als wäre er zu feige
+gewesen, mich offen zu fixieren. Der andere Herr
+war auch noch jung, ungefähr so um achtundzwanzig:
+es war dies mein Vetter dritten Grades, Herr Misintschikoff.
+Er war allerdings auffallend schweigsam.
+Während der ganzen Teestunde sprach er kein einziges
+Wort, lachte er kein einziges Mal, auch dann nicht,
+wenn alle lachten; doch konnte ich keine Spur von jener
+Schüchternheit an ihm wahrnehmen, die mein Onkel
+an ihm bemerkt haben wollte; im Gegenteil, ich fand,
+daß der Blick seiner hellbraunen Augen Entschlossenheit
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+und einen sehr bestimmten Charakter verriet. Er
+hatte eine dunkle Gesichtsfarbe, fast schwarzes Haar
+und war eigentlich recht hübsch; gekleidet war er tadellos
+– auf Rechnung meines Onkels, wie ich später
+erfuhr. Von den Damen fiel mir ganz zuerst Fräulein
+Perepelizyna dank ihres erschreckend bösen, blutleeren
+Gesichts auf. Sie saß neben der Generalin,
+– auf die ich später zu sprechen kommen werde –,
+jedoch stand ihr Stuhl nicht ganz in gleicher Reihe
+mit dem der alten Dame, sondern aus Ehrerbietung
+etwas zurück. Sie beugte sich jeden Augenblick vor,
+um ihrer Gönnerin etwas ins Ohr zu tuscheln. Drei
+andere bejahrte Gnadenbrotesserinnen saßen vollkommen
+wortlos, starr und steif an der Fensterwand und erwarteten
+ehrfürchtig ihre Tasse Tee, alle sechs Augen
+andächtig auf die Generalin gerichtet. Auch interessierte
+mich eine nicht allein dicke, sondern förmlich
+ausgeflossene Dame von rund fünfzig Jahren, die sehr
+geschmacklos und auffallend gekleidet und, wenn ich
+mich nicht täusche, sogar geschminkt war. Im Munde
+hatte sie statt der Zähne nur noch einige dunkle, abgebrochene
+Zahnstummeln, was sie jedoch nicht hinderte,
+in einem fort den Mund aufzureißen, schreiend laut
+zu sprechen, sich zu zieren und zu kokettieren. Sie war
+mit vielen Ketten und Kettchen behangen und richtete,
+ganz wie Monsieur Obnoskin, fortwährend ihr Lorgnon
+auf mich. Es war das seine Mutter. Meine
+Tante, die stille Praskowja Iljinitschna, goß den Tee
+ein. Man sah es ihr an, daß sie mich nach der langen
+Trennung am liebsten hätte umarmen, küssen, und daß
+sie bei der Gelegenheit selbstverständlich auch hätte
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+weinen wollen – aber sie wagte es nicht. Alles schien
+hier gleichsam unter einem Verbot zu stehen. Neben
+ihr saß ein allerliebstes, dunkeläugiges, fünfzehnjähriges
+Mädchen, das mich aufmerksam mit kindlicher Neugier
+ansah – das war mein Kusinchen Ssaschenjka.
+Endlich bemerkte ich noch eine sehr sonderbare Dame,
+die vielleicht die auffallendste von allen war: reich
+und sehr jugendlich gekleidet, obschon sie längst nicht
+mehr jung zu sein schien: ich schätzte sie auf mindestens
+fünfunddreißig Jahre. Ihr Gesicht war sehr farblos,
+hager und geradezu ausgetrocknet, doch nichtsdestoweniger
+von ungewöhnlich lebhaftem Ausdruck. Fast
+bei jeder Bewegung, jeder Erregung erschien flammendes
+Rot auf ihren bleichen Wangen. Dabei regte
+sie sich ununterbrochen auf, drehte sich auf dem Stuhl
+hin und her und schien nicht eine Minute ruhig sitzen
+zu können. Sie betrachtete mich mit geradezu gieriger
+Neugier, beugte sich in jedem Augenblick zur Seite, um
+Ssaschenjka oder ihrer Nachbarin zur Linken etwas
+ins Ohr zu flüstern, worauf sie dann jedesmal in ein
+offenherziges, kindlich heiteres Lachen ausbrach. Doch
+dieses ganze auffallende Benehmen der Dame wurde
+zu meiner nicht geringen Verwunderung von keinem
+einzigen der Anwesenden bemerkt, oder wenigstens
+schien man es nicht bemerken zu wollen, ganz als hätte
+man schon früher ein vollkommenes Ignorieren verabredet.
+Ich erriet, daß dieses Geschöpf jene Tatjana
+Iwanowna war, die nach dem Ausdruck meines Onkels
+etwas „Phantasmagorisches“ an sich haben sollte, und
+die ihm fast mit Gewalt als Braut angehängt wurde.
+Wegen ihres Reichtums sahen ihr die alten Damen
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+alles nach und waren überhaupt sehr liebenswürdig
+zu ihr. Übrigens gefielen mir ihre blauen Augen, die
+einen gewissen sanften Ausdruck hatten, und wenn man
+auch an den Schläfen kleine Runzeln wahrnehmen
+konnte, so war der Blick doch so offenherzig, so heiter
+und gut, daß es ganz eigenartig angenehm war, ihm
+zu begegnen. Von dieser Tatjana Iwanowna, einer
+der buchstäblichen „Heldinnen“ meiner Erzählung,
+werde ich späterhin noch ausführlicher sprechen – ihre
+Lebensgeschichte ist recht seltsam.
+</p>
+
+<p>
+Fünf Minuten nach meinem Erscheinen im Teesalon
+kam aus dem Garten ein allerliebster kleiner
+Junge hereingelaufen; das war mein Vetter Iljuscha,
+dessen Namenstag am nächsten Tage gefeiert werden
+sollte, und dessen Taschen jetzt schon mit Kuchen vollgestopft
+waren. In der einen Hand hielt er eine
+Peitsche, in der anderen einen Brummkreisel. Gleich
+nach ihm trat ein junges, schlankes Mädchen ein: sie
+war ein wenig bleich und anscheinend etwas müde,
+aber dennoch sah sie reizend aus. Sie warf einen
+prüfenden, mißtrauischen und etwas scheuen Blick auf
+die Anwesenden, sah mich einmal kurz und aufmerksam
+an und setzte sich dann neben Tatjana Iwanowna hin.
+Ich weiß noch, daß mein Herz unwillkürlich zu klopfen
+begann: das war sie, die Erzieherin ... Auch entsinne
+ich mich noch, daß mein Onkel bei ihrem Eintritt mir
+einen schnellen Blick zuwarf und gleich darauf errötete,
+sich dann plötzlich niederbeugte, seinen Iljuscha auf den
+Arm hob und ihn zu mir brachte: ich sollte ihn begrüßen
+und küssen. Bei der Gelegenheit fiel es mir
+auf, daß Frau Obnoskin meinen Onkel durchdringend
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+musterte, um dann mit einem sarkastischen Lächeln ihr
+Lorgnon auf die Erzieherin zu richten. Mein Onkel
+wußte nicht, was er tun sollte, und so rief er denn
+Ssaschenjka zu sich, um sie mir vorzustellen, doch diese
+stand nur auf und machte schweigend und mit aller
+Wohlerzogenheit einen Knicks vor mir. Das gefiel mir
+übrigens sehr; denn es paßte zu ihr. Da aber konnte
+sich meine gute Tante Praskowja Iljinitschna nicht
+mehr bezwingen: sie ließ ihre Teetassen stehen und
+stürzte auf mich zu, um mich zu umarmen – doch siehe,
+noch hatte ich nicht Zeit gehabt, ihr zwei Worte zu
+sagen, als schon die schrille Stimme der alten Jungfer
+Perepelizyna ertönte, die vorwurfsvoll und stellenweise
+förmlich kreischend bemerkte, daß Praskowja Iljinitschna
+ihr Mütterchen (die Generalin) ganz und gar
+vergesse, das Mütterchen aber habe doch Tee verlangt
+und müsse jetzt so lange warten! Und so eilte denn
+Praskowja Iljinitschna zu ihren Tassen und Pflichten
+zurück, ohne mit mir nur ein Wort gewechselt zu haben.
+Diese Generalin nun, die Hauptperson im Kreise ihrer
+Freundinnen, vor der alle sich wie auf Draht gezogen
+bewegten, und die ganz in Trauer gehüllt dasaß, war
+eine hagere, böse, alte Person – böse vornehmlich vor
+Alter und infolge der Einbuße ihrer letzten, auch früher
+niemals sehr reichen geistigen Fähigkeiten. Früher
+war sie einfach nur launisch gewesen, dann aber hatte
+sie der Titel „Exzellenz“ noch dümmer und noch eingebildeter
+gemacht. Wenn sie sich ärgerte, machte sie
+das Haus zur Hölle. Sie hatte zwei Arten, sich zu
+ärgern. Die eine Art war – Schweigen; dann tat
+die Alte ganze Tage lang kein einziges Mal den Mund
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+auf und stieß alles, was man ihr vorsetzte, entweder
+wie aus Versehen um, oder warf es ganz offen und
+wütend auf den Fußboden. Die andere Art war dieser
+vollkommen entgegengesetzt: nämlich wortreich. Es
+begann gewöhnlich damit, daß meine verehrte Großmutter
+sich in ungewöhnliche Melancholie versenkte,
+das Ende der Welt und ihres Hauses erwartete, Armut
+und alles nur denkbare Elend voraussah, sich an
+ihren eigenen Vorgefühlen in Stimmung redete, die
+zukünftigen Leiden an den Fingern abzuzählen begann,
+während dieser Zählung in eine gewisse Begeisterung
+geriet und aus dieser Begeisterung schließlich in förmlichen
+Jähzorn. Bei der Gelegenheit stellte es sich
+dann natürlich immer heraus, daß sie alles inzwischen
+Eingetroffene vorausgesehen und nur aus dem einen
+Grunde geschwiegen hatte, weil sie doch mit Gewalt
+dazu gezwungen werde, „in diesem Hause“ zu schweigen.
+Wenn man doch „wenigstens ehrerbietig“ zu ihr sein
+und ihr „im voraus gehorchen“ wollte, so ... usw.
+Alle derartigen Reden wurden sogleich von dem ganzen
+Stabe ihrer Anhängerinnen, Fräulein Perepelizyna
+an der Spitze, als unerschütterliche, ewige Wahrheit
+anerkannt und zum Schluß noch von Foma Fomitsch
+feierlich begutachtet und gesegnet. In jenem Augenblick,
+als ich ihr vorgestellt wurde, ärgerte sie sich gerade
+entsetzlich, und zwar nach der ersten Methode, der
+schweigsamen – und furchtbarsten. Alle sahen sie
+angstvoll an. Nur Tatjana Iwanowna, der unbedingt
+alles verziehen wurde, befand sich in der besten
+Stimmung.
+</p>
+
+<p>
+Da führte mich mein Onkel – fast sogar wie im
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+Triumph – zu meiner Großmutter, doch diese machte
+nur eine äußerst saure Miene und schob heftig ihre Tasse
+zur Seite.
+</p>
+
+<p>
+„Ist das jener Vol-ti-geur?“ fragte sie in singendem
+Nasalton, sich dabei an Fräulein Perepelizyna wendend.
+</p>
+
+<p>
+Diese dumme Frage brachte mich gänzlich aus der
+Fassung. Ich begriff nicht, weshalb sie mich einen
+Voltigeur nannte. Doch solche Fragen waren noch
+nichts, im Vergleich zu anderen Beleidigungen, mit
+denen die alte Dame niemals kargte. Die Perepelizyna
+beugte sich vor und tuschelte ihr etwas ins Ohr, die
+Alte aber schlug nur einmal, unwillig abweisend, mit
+der Hand durch die Luft. Ich stand mit halb offenem
+Munde vor ihr und blickte fragend meinen Onkel an.
+Alle tauschten vielsagende Blicke aus, und Obnoskin
+lächelte sogar, was mir sehr wenig gefiel.
+</p>
+
+<p>
+„Sie, weißt du, sie verspricht sich manchmal,“ raunte
+mir mein Onkel unauffällig zu; „aber das tut ja nichts,
+sie sagt es nur so, es kommt aus gutem Herzen. Sieh
+immer nur aufs Herz, immer aufs Herz, das ist die
+Hauptsache!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das Herz, das Herz!“ ertönte da plötzlich die
+helle Stimme Tatjana Iwanownas, die mich die ganze
+Zeit nicht aus den Augen gelassen hatte und tatsächlich
+nicht ruhig auf ihrem Platz zu sitzen vermochte. Offenbar
+hatte sie die letzten mir zugeraunten Worte aufgefangen.
+Doch sie sprach ihren Gedanken nicht zu Ende,
+obgleich sie augenscheinlich etwas sagen wollte. Wurde
+sie nun verlegen, oder war es etwas anderes – jedenfalls
+verstummte sie, errötete heftig, beugte sich hastig zur Erzieherin,
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+flüsterte ihr etwas ins Ohr und plötzlich warf
+sie sich, das Taschentuch an die Lippen pressend, an ihre
+Stuhllehne zurück und lachte, lachte, wie nur ein hysterischer
+Mensch lachen kann. Ich schaute mich höchst verwundert
+im Kreise um: und ich gewahrte zu meiner noch
+größeren Verwunderung, daß alle sehr ernst waren und
+so dreinschauten, als wäre nichts Besonderes geschehen.
+Da begriff ich, wer und was Tatjana Iwanowna war.
+Endlich erhielt auch ich meinen Tee und kam wieder ein
+wenig zur Besinnung. Doch weiß ich nicht, aus welchem
+Grunde ich plötzlich glaubte, ein überaus liebenswürdiges
+Gespräch mit den Damen anknüpfen zu müssen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hatten vollkommen recht, Onkel,“ begann ich,
+„als Sie mich vorhin vor dem Verlegenwerden warnten.
+Ich muß offen gestehen – wozu sollte ich es verheimlichen?“
+fuhr ich fort, mich mit dem einschmeichelndsten
+Lächeln an Frau Obnoskin wendend, „daß sich mich bis
+heute noch nie in Damengesellschaft befunden habe, und
+als mir jetzt beim Eintritt dieses Malheur passierte,
+da ... schien es mir, daß die Pose, die ich mitten im
+Zimmer so unbeabsichtigter Weise annahm, recht lächerlich
+war und in etwas an den ‚Bettelsack‘ erinnerte –
+nicht wahr? Sie haben doch den ‚Bettelsack‘ gelesen?“
+Ich verstummte, denn meine Verwirrung hatte mit jedem
+Wort wieder zugenommen: ich schämte mich meines
+Einschmeichelungsversuchs und blickte wütend auf Herrn
+Obnoskin, der, die Zähne lächelnd entblößend, mich
+immer noch vom Kopf bis zu den Füßen musterte.
+</p>
+
+<p>
+„Stimmt! Das ist es ja! Eben, eben!“ rief plötzlich
+mein Onkel aus, ungemein belebt und aufrichtig erfreut
+darüber, daß es wenigstens zu einem Gespräch kam und
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+ich mich soweit gefaßt hatte. „Aber das, Freund, das
+ist noch nichts, was du da sagst von Verlegenwerden.
+Wird man verlegen, dann wird man verlegen, das ist
+weiter nicht schlimm! Ich aber, Freund, ich habe bei
+meinem Debüt sogar gelogen – wirst du’s mir glauben?
+Ja, bei Gott, Anfissa Petrowna! Und ich kann Ihnen
+nur sagen, es ist eine interessante Geschichte. Ich war
+kaum Fähnrich geworden, kam nach Moskau und begab
+mich zu einer hochgestellten Dame, mit einem Empfehlungsbrief,
+versteht sich – das heißt, sie war eine recht
+hochmütige Dame, aber im Grunde doch herzensgut,
+was man auch dagegen einwenden wollte. Ich trete also
+ein, gebe meine Karte ab – werde empfangen. Im
+Empfangssalon wimmelt es von Gästen – lauter
+Größen. Ich machte meine pflichtschuldige Verbeugung,
+setzte mich. Da wendet sie sich schon nach fünf Minuten
+zu mir und fragt mich: ‚Hast du auch ein Gut, mein
+Lieber?‘ Ich besaß damals kein Huhn – aber was sollte
+ich antworten? Verwirrt war ich, wie ein Brummkreisel.
+Alle sehen mich an – na was, Junkerlein! Nun, ich
+hätte doch einfach sagen können: nein, habe nichts, –
+und es wäre gut und anständig gewesen; denn ich hätte
+doch nur die Wahrheit gesagt. Hielt es aber nicht aus!
+‚Jawohl,‘ sagte ich, ‚hundertundsiebzehn Seelen.‘ Weiß
+Gott, welch ein Teufel mich plagte, diese siebzehn da noch
+anzuhängen! Wenn du schon lügst, dann lüg doch eine
+runde Zahl – nicht wahr? Natürlich erfuhren sie gleich
+darauf aus dem Empfehlungsbrief, daß ich arm war wie
+eine Kirchenmaus – und zum Überfluß hatte ich jetzt
+auch noch gelogen! Na, was tun? Ich machte, daß ich
+fortkam, und ging seit der Zeit nie wieder hin! Ja,
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+damals besaß ich noch nichts; denn das, was ich jetzt
+habe, das sind, wie ihr wißt, dreihundert Seelen von
+Onkel Afanassij Matwejitsch, und dann noch die zweihundert
+Seelen mit Kapitonowka, die ich vorher von
+meiner Großmutter Akulina Panfilowna erbte, also
+<span class="antiqua">summa summarum</span> fünfhundert plus Nachwuchs. Na
+ja. Nur habe ich mir damals geschworen, nie mehr zu
+lügen, und jetzt lüge ich auch tatsächlich nie mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm, ich hätte mir das an Ihrer Stelle nicht geschworen.
+Wer weiß, was alles noch geschehen kann,“
+bemerkte Obnoskin mit spöttischem Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, das ist ja wahr; wer weiß, was alles noch
+geschehen kann!“ stimmte mein Onkel gutmütig bei.
+</p>
+
+<p>
+Obnoskin brach in schallendes Gelächter aus und
+warf sich lachend an die Stuhllehne zurück. Fräulein
+Perepelizyna kicherte wieder ganz besonders widerlich.
+Auch Tatjana Iwanowna lachte auf, ohne selbst zu
+wissen, worüber, und schlug sogar in die Hände vor Vergnügen.
+Kurz, ich begriff, daß mein Onkel in seinem
+eigenen Hause als vollkommene Null betrachtet wurde.
+Ssaschenjka, deren dunkle Augen böse blitzten, sah unverwandt
+Obnoskin an. Die Erzieherin errötete und
+sah zu Boden. Mein Onkel wunderte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was denn? Was ist denn geschehen?“ fragte
+er, sich verständnislos im Kreise umblickend.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser ganzen Zeit fiel es mir auf, daß
+mein Vetter dritten Grades, Misintschikoff, der sich etwas
+abseits niedergelassen hatte, ruhig und stumm auf
+seinem Stuhle saß und selbst dann nicht einmal lächelte,
+als alle lachten. Er trank seinen Tee, blickte philosophisch
+auf das ganze Publikum und war mehr als einmal
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+im Begriff – gleichsam in einem Anfall unerträglicher
+Langeweile – die Lippen zu spitzen und vor sich
+hinzupfeifen, wahrscheinlich aus alter Angewohnheit,
+doch besann er sich immer noch rechtzeitig. Gleichzeitig
+fiel mir auf, daß Obnoskin, der meinen Onkel zum besten
+hatte und sich auch über mich lustig machte, diesen Misintschikoff
+kaum anzusehen wagte. Auch bemerkte ich,
+daß dieser, mein schweigsamer Vetter dritten Grades,
+des öfteren zu mir herübersah und es sogar mit offenkundigem
+Interesse tat, als hätte er genau feststellen
+wollen, was für ein Mensch ich eigentlich sei.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin überzeugt,“ ertönte da plötzlich die Stimme
+Frau Obnoskins, „ich bin fest überzeugt, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur
+Serge</span> – so war’s doch, wenn ich mich nicht irre? –
+daß Sie in Ihrem Petersburg kein großer Damenfreund
+gewesen sind. Ich weiß, es gibt jetzt dort viele, sehr viele
+junge Leute, die sich vor jeder Damengesellschaft scheuen.
+Meiner Ansicht nach sind das aber nur Freigeister. Ich
+werde mich nie dazu verstehen, diese Tatsache anders aufzufassen:
+sie ist nichts als unverzeihliches Freigeistertum.
+Und darum will ich es Ihnen unverhohlen sagen:
+es wundert mich, es wundert mich, junger Mann, es
+wundert mich über alle Maßen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe mich überhaupt nicht in Gesellschaft bewegt,“
+antwortete ich eifrig. „Aber das hat ... wenigstens
+denke ich so, nichts zu sagen ... Ich lebte dort,
+das heißt, ich hatte mir dort ein Zimmer gemietet ...
+aber das hat nichts auf sich, ich versichere Sie. Ich
+werde mir alle Mühe geben, mit Damen bekannt zu werden;
+bis jetzt habe ich allerdings nur zu Hause
+gesessen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+„Und hast dich mit der Wissenschaft beschäftigt,“ bemerkte
+mein Onkel, ersichtlich stolz darauf.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Onkel, – Onkel mit seiner Wissenschaft ...
+Stellen Sie sich nur vor,“ fuhr ich sehr mitteilsam und
+mit liebenswürdigem Lächeln fort, mich wieder an Frau
+Obnoskin wendend, „mein lieber Onkel ist von der
+Wissenschaft dermaßen eingenommen, daß er irgendwo
+auf der Landstraße einen wundertätigen, praktizierenden
+Philosophen, einen gewissen Herrn Korowkin, entdeckt
+hat: und sein erstes Wort, das er mir heute nach so
+langen Jahren der Trennung sagte, war, daß er diesen
+phänomenalen Zauberer mit, man kann wohl sagen,
+krampfhafter Ungeduld erwarte ... selbstverständlich
+nur aus Liebe zur Wissenschaft ...“
+</p>
+
+<p>
+Und ich lachte leise, in der Hoffnung, allgemeines
+Gelächter als Lob meiner geistreichen Mitteilung hervorzurufen.
+</p>
+
+<p>
+„Wen? Von wem spricht er?“ fragte schroff die
+Generalin, die sich wieder nur an die Perepelizyna
+wandte.
+</p>
+
+<p>
+„Jegor Iljitsch hat Gäste eingeladen, Gelehrte,
+Leute, die sich auf der großen Landstraße umhertreiben
+und von ihm aufgesammelt werden,“ berichtete schadenfroh
+die alte Jungfer.
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel wußte zuerst nicht recht, was er dazu
+sagen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Ach ja, richtig! Ich hatte es ganz vergessen!“ rief
+er aus – warf mir aber einen Blick zu, in dem doch ein
+gewisser Vorwurf lag. „Ich erwarte Herrn Korowkin.
+Ein Mann der Wissenschaft, einer, der unser Jahrhundert
+überleben wird ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+Er brach ab und verstummte. Die Generalin hatte
+wieder einmal mit der Hand gewinkt (das bedeutete, daß
+sie ihn nicht mehr anhören wollte), und zwar diesmal so
+glücklich, daß sie die Tasse traf, die auf dem Fußboden
+klirrend zerschlug. Es folgte eine allgemeine Aufregung.
+</p>
+
+<p>
+„Das tut sie immer, wenn sie sich ärgert,“ raunte
+mir mein Onkel zur Erklärung ins Ohr. „Aber nur
+wenn sie sich ärgert ... Du, Freund, sieh nicht hin, bemerke
+es nicht, sieh zur Seite ... Aber, warum hast du
+das von Korowkin gesagt? ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch ich blickte ohnehin schon zur Seite: ich hatte
+den Blick der Erzieherin aufgefangen, und es schien mir,
+daß in ihm mehr als ein Vorwurf, ja sogar etwas wie
+Verachtung lag. Röte des Unwillens brannte auf ihren
+blassen Wangen. Ich begriff ihren Blick. Ich erriet,
+daß ich durch meinen kleinmütigen, häßlichen Versuch,
+meinen Onkel lächerlich zu machen, um auf diese Weise
+wenigstens etwas von der eigenen Lächerlichkeit abzuwälzen,
+nicht gerade die Sympathie dieses Mädchens
+errungen hatte. Ich vermag nicht zu sagen, wie sehr ich
+mich schämte!
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich will mit Ihnen von Petersburg sprechen,“
+begann Anfissa Petrowna Obnoskina von neuem, kaum
+daß sich die Aufregung, die von der zerschlagenen Tasse
+hervorgerufen worden war, etwas gelegt hatte. „Ich
+denke mit einem solchen Vergnügen, kann ich sagen, an
+unser Leben in dieser bezaubernden Residenz zurück ...
+Wir waren damals sehr nah bekannt mit einem Hause ...
+weißt du noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Paul</span>?“ (Die Dame nannte ihren Sohn
+Pawel stets französisch „Poll“ und mich statt Ssergei
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+Alexandrowitsch, „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur Serge</span>“.) „General Polowizyn
+... Ach, wenn Sie wüßten, was für ein bezauberndes,
+be–zau–berndes Wesen die Generalin war!
+Und sie können sich ja denken, dieser Aristokratismus,
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">beau monde</span>! ... Sagen Sie: Sie sind ihnen doch
+wahrscheinlich begegnet? ... Glauben Sie mir, ich habe
+Sie hier mit Ungeduld erwartet: ich hoffte, durch Sie
+hier vieles, vieles von unseren Petersburger Freunden
+zu erfahren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Es tut mir leid, aber ich bin nicht in der Lage
+... entschuldigen Sie ... Ich habe Ihnen bereits gesagt,
+daß ich nur sehr selten in Gesellschaft gewesen
+bin, und ich kann nur hinzufügen, daß ich einen General
+Polowizyn überhaupt nicht kenne, ich habe nicht einmal
+den Namen gehört,“ antwortete ich nervös, da
+meine ganze Liebenswürdigkeit plötzlich in eine sehr
+gereizte und ärgerliche Stimmung umgeschlagen war.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat sich mit Mineralogie beschäftigt!“ bemerkte
+wieder stolz mein unverbesserlicher Onkel. „Das
+ist doch, Freund, die Wissenschaft, die da so – verschiedene
+kleine Steinchen sammelt, nicht? Die Mineralogie?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Onkel, Steine ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm ... Es gibt doch viele Wissenschaften, und
+alle sind sie nützlich! Ich aber, Freund, um die Wahrheit
+zu sagen, wußte nicht einmal, was das eigentlich
+ist, diese ganze Mineralogie! Habe nur so irgendwo
+die Glocken mal läuten gehört. Weißt du, in den
+anderen Dingen – da geht es noch zur Not; aber
+was die Wissenschaft anbetrifft, da bin ich dumm –
+gebe es ganz offen zu.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+„Sie geben es ganz offen zu?“ fragte ironisch
+Obnoskin.
+</p>
+
+<p>
+„Papachen!“ rief Ssaschenjka dazwischen und sah
+vorwurfsvoll ihren Vater an.
+</p>
+
+<p>
+„Was, Liebling? Ach, mein Gott, ich unterbreche
+Sie immer, Anfissa Petrowna,“ entschuldigte er sich,
+da er Ssaschenjkas Ausruf mißverstanden hatte, „verzeihen
+Sie mir, um Gottes willen!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, beunruhigen Sie sich nicht!“ wehrte Anfissa
+Petrowna mit sauersüßem Lächeln ab. „Ich habe ja
+Ihrem Neffen auch schon alles gesagt und kann nur
+noch hinzufügen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">monsieur Serge</span> – so war’s doch,
+wenn ich mich nicht irre? –, daß Sie sich unbedingt
+bessern müssen. Ich bin überzeugt, daß die Wissenschaft,
+die Kunst ... die Bildhauerkunst zum Beispiel
+... mit einem Wort, daß alle diese hohen Ideen ihre
+sozusagen be–rau–schende Seite haben, aber niemals
+werden sie die Damen ersetzen! ... Die Frauen, die
+Frauen, junger Mann, werden Sie bilden, und deshalb
+ist es ohne sie unmöglich, unmöglich, junger
+Mann, ganz un–möglich!“
+</p>
+
+<p>
+„Unmöglich, unmöglich!“ ertönte schon wieder die
+etwas schreiende Stimme Tatjana Iwanownas. „Hören
+Sie,“ begann sie darauf in kindlicher Hast (natürlich
+errötete sie wieder), „hören Sie, ich will Sie etwas
+fragen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie beliebt?“ fragte ich und sah sie aufmerksam an.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte Sie fragen: werden Sie lange hier
+bleiben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es nicht, – je nach den Verhältnissen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+„Nach den Verhältnissen! Was können denn das
+für Verhältnisse sein? ... O, Sie Tor!“
+</p>
+
+<p>
+Und Tatjana Iwanowna verbarg ihr heiß errötendes
+Gesicht hinter ihrem Fächer, beugte sich dann
+zur Erzieherin und begann sofort, ihr eifrig etwas zuzuflüstern.
+Plötzlich lachte sie auf und schlug vergnügt
+in die Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Warten Sie, warten Sie!“ rief sie mir zu, sich
+eilig von ihrer Vertrauten wieder abwendend, als hätte
+sie gefürchtet, ich könnte fortgehen, „hören Sie, wissen
+Sie, was ich Ihnen sagen werde? Sie ähneln auffallend,
+auffallend einem jungen Menschen, einem
+be–zau–bernden jungen Menschen! ... Ssaschenjka,
+Nastenjka, wißt ihr noch? Er gleicht doch auffallend
+jenem Toren – weißt du noch, Ssaschenjka? Wir
+fuhren spazieren und begegneten ihm ... zu Pferde,
+in einer weißen Weste ... er richtete noch sein Lorgnon
+auf mich, der Unverschämte! Wißt ihr noch, ich schlug
+meinen Schleier vors Gesicht, hielt es dann aber doch
+nicht aus, beugte mich aus dem Wagen und rief ihm
+ein ‚Sie Unverschämter!‘ nach. Und dann warf ich
+mein Bukett auf die Landstraße ... Entsinnen Sie
+sich dessen noch, Nastenjka?“
+</p>
+
+<p>
+Und das halb geistesgestörte Mädchen, das von
+Männern nie gleichmütig sprechen konnte, bedeckte das
+Gesicht mit den Händen ... – Plötzlich sprang sie
+auf, lief zum Fenster, riß dort von einem Rosenstock
+eine Blüte ab, warf sie mir zu – die Blüte fiel in
+meiner Nähe hin – und lief aus dem Zimmer. Wir
+hatten das Nachsehen! Diesmal aber war man doch
+etwas aus dem Gleichgewicht gebracht, wenn auch
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+die Generalin, ganz wie das erstemal, ihre Ruhe nicht
+verlor. Anfissa Petrowna war nicht erstaunt, aber
+sie sah jetzt besorgt aus und blickte kummervoll ihren
+Sohn an. Die übrigen Damen erröteten, und „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Paul</span>“
+Obnoskin erhob sich von seinem Platz und trat, mit
+einem mir damals ganz unverständlichen geärgerten
+Ausdruck, ans Fenster. Mein Onkel versuchte, mir
+verstohlen einige Zeichen zu machen; doch in dem
+Augenblick trat ein fremder Mensch ins Zimmer und
+lenkte die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich.
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Da ist ja auch Jewgraf Larionytsch! Du
+kommst ja wie gerufen!“ rief ihm mein Onkel, unbeschreiblich
+erfreut, entgegen. „Nun, was, Freund,
+geradenwegs aus der Stadt?“
+</p>
+
+<p>
+„Na, das sind mir mal eigenartige Wesen! Es
+scheint fast, daß sie alle mit Absicht hier versammelt
+worden sind!“ dachte ich bei mir im stillen, da ich noch
+nicht recht begriff, was ich sah und hörte, und –
+selbstverständlich – ohne zu ahnen, daß ich die Sammlung
+dieser Sonderlinge durch mein Erscheinen unter
+ihnen noch um ein Exemplar vermehrt hatte.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-8">
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+<span class="firstline">V.</span><br>
+Jeshowikin.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ns</span> Zimmer trat oder, richtiger gesagt, drehte sich
+durch die Tür (obgleich die Tür sehr breit war) eine
+Figur, die bereits auf der Schwelle Bücklinge machte,
+grüßte und lächelte, während die Augen mit ungeheuerem
+Interesse alle Anwesenden eilig musterten.
+Es war das ein kleiner, alter Mann, pockennarbig,
+mit einer großen Glatze, mit flinken, klugen Äuglein
+und mit einem unbestimmbaren, feinen Lächeln auf den
+ziemlich dicken Lippen. Er trug einen Frack, der recht
+abgetragen aussah und wahrscheinlich für einen anderen
+gemacht war. Ein Knopf baumelte nur noch an einem
+Faden, zwei oder drei Knöpfe fehlten ganz. Die zerrissenen
+Stiefel und die schmierige Mütze stimmten mit
+dem übrigen Anzug durchaus überein. In der rechten
+Hand hatte er ein baumwollenes, kariertes Schnupftuch,
+das er ersichtlich schon oft benutzt hatte, und mit
+dem er sich jetzt den Schweiß von Stirn und Schläfen
+wischte. Zufällig bemerkte ich, daß die Erzieherin ein
+wenig errötete und mich flüchtig ansah. Ja, es schien
+mir sogar, daß in diesem Blick gleichsam Stolz und
+eine gewisse Herausforderung lagen.
+</p>
+
+<p>
+„Geradenwegs aus der Stadt, mein verehrter
+Wohltäter! Geradenwegs von dort, mein Vater!
+Werde alles erzählen, erlauben Sie nur, daß ich zuerst
+meine Ehrerbietung bezeuge,“ sagte das eingetretene
+alte Männlein und begab sich schnurstracks zur Generalin,
+blieb aber dann doch auf halbem Wege stehen
+und wandte sich von neuem an meinen Onkel.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+„Sie geruhen ja doch meinen Hauptcharakterzug
+bereits zu kennen, verehrter Wohltäter: ein Lump bin
+ich, ein echter Lump! Pflege ich doch, sobald ich über
+die Schwelle trete, sofort die Hauptperson des Hauses
+aufzusuchen und zuerst meine Schritte zu ihr zu lenken,
+um mittels dieses Schrittes alsogleich Gnade und Gunst
+und Vorteil zu erlangen. Ein Lump, Väterchen, wie
+gesagt, ein Lump, mein Wohltäter! Gestatten Sie
+gnädigst, Exzellenz, den Saum Ihres Gewandes zu
+küssen; denn mit meinen Lippen würde ich Ihr
+goldenes Händchen, das hochwohlgeborene, nur entweihen.“
+</p>
+
+<p>
+Die Generalin reichte ihm zu meinem Erstaunen
+ihre Hand – und tat es sogar noch ziemlich gnädig.
+</p>
+
+<p>
+„Und auch Ihnen, unserer Schönheit, mache ich
+meinen Diener,“ fuhr er fort, indem er sich vor Fräulein
+Perepelizyna verneigte. „Nichts zu wollen, mein
+gnädiges Fräulein: bin ein Lump! Schon im Jahre
+1841 war es ausgemacht, daß ich ein Lump sei, als
+ich aus dem Dienst ausgeschlossen wurde, gerade damals,
+als Valentin Ignatjitsch Tichonzeff zum Hochwohlgeborenen
+avancierte: den Assessor erhielt. Tatsächlich,
+er kam unter die Assessoren und ich unter die
+Lumpen. Aber ich bin nun einmal so aufrichtig geboren,
+daß ich alles eingestehe. Was soll man machen!
+Versuchte es, ehrlich zu leben, versuchte es, jawohl –
+jetzt aber muß man es anders anstellen. Alexandra
+Jegorowna, unser verzuckertes Äpfelchen,“ fuhr er fort
+und ging um den Tisch herum, um sich vor Ssaschenjka
+zu verbeugen, „erlauben Sie mir, einen Zipfel Ihres
+Kleidchens zu küssen, – Sie, Fräuleinchen, duften ja
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+wie Äpfelchen und sämtliche Wohlgerüche der Welt.
+Dem Stammhalter, der morgen seinen Namenstag
+feiert, gleichfalls meine Reverenz. Pfeil und Bogen
+habe ich mitgebracht, habe selbst den ganzen Morgen
+daran geschnitzt ... meine Kinderchen haben mir geholfen
+... jawohl, später können wir schießen. Zuerst
+aber muß man hübsch groß werden, dann kann man
+Offizier werden und dem Türken den Kopf abschlagen.
+Tatjana Iwanowna ... ach, nicht anwesend, wie ich
+sehe! Sonst würde ich den Saum auch ihres Kleides
+küssen. Praskowja Iljinitschna, unser Hausmütterchen,
+kann mich bloß nicht zu Ihnen durchzwängen, anderenfalls
+würde ich Ihnen nicht nur Ihre Händchen, sondern
+auch Ihre Füßchen küssen – jawohl! Anfissa Petrowna,
+bezeuge hiermit meine verschiedentlichste Achtung.
+Noch heute habe ich für Sie zu Gott gebetet, meine
+Wohltäterin, sogar kniend und tränenden Auges, und
+desgleichen für Ihren Herrn Sohn, damit Gott der
+Herr ihm alle notwendigen Titel und Talente beschere
+– namentlich Talente, wie gesagt! Bei der Gelegenheit
+entrichte ich auch Ihnen, Iwan Iwanytsch Misintschikoff,
+meinen untertänigsten Ehrensold. Möge der
+Herr Ihnen alles zukommen lassen, was Sie sich selbst
+wünschen; denn es dürfte schwierig sein, richtig zu erraten,
+was Sie sich selbst wünschen: schweigsam wie
+Sie sind und – aber das schadet nichts ... Guten
+Tag, Nastjä! alle Krabben lassen dich grüßen, reden
+jeden Tag von dir. Und jetzt dem Hausherrn meine
+tiefste Verbeugung. Komme aus der Stadt, Euer
+Gnaden, schnurstracks aus der Stadt. Und das da
+ist wahrscheinlich Ihr Neffe, der in der Gelehrtenschule
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+erzogen worden ist, nicht wahr? Meinen ergebensten
+Gruß, junger Herr. Ihre Hand, wenn ich
+bitten darf.“
+</p>
+
+<p>
+Man lachte. Es war klar, daß der Alte freiwillig
+die Rolle eines Spaßvogels spielte, über den ein jeder
+lachen durfte. Schon sein Erscheinen erheiterte die ganze
+Gesellschaft. Die meisten verstanden dabei seine Sarkasmen
+überhaupt nicht. Er aber verschonte fast keinen
+einzigen mit ihnen. Nur die Erzieherin, die er – ich
+wunderte mich nicht wenig darüber – kurzweg Nastjä
+nannte, errötete und blieb ernst.
+</p>
+
+<p>
+Ich zog unwillkürlich meine Hand etwas zurück, doch
+darauf hatte der Alte offenbar nur gewartet.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will sie Ihnen ja nur drücken, mein Bester,
+vorausgesetzt, daß Sie es erlauben – nicht aber küssen.
+Oder glaubten Sie wirklich, daß ich sie küssen wollte?
+Nein, mein Lieber, vorläufig wollte ich sie nur drücken.
+Sie halten mich wohl für so einen herrschaftlichen
+Narren?“ fragte er mich plötzlich mit spöttischem Lächeln
+in den Augen.
+</p>
+
+<p>
+„N–ein, wieso ... wie sollte ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Doch, doch, Verehrtester! Wenn ich ein Narr bin,
+so ist es ein gewisser anderer hier auch. Sie aber können
+mich noch mit ruhigem Gewissen achten: ein solcher
+Lump, wie Sie glauben, bin ich denn doch noch nicht.
+Übrigens, genau genommen – warum soll ich kein
+Narr sein? Ich bin ein Sklave, meine Frau ist eine
+Sklavin. Schmeichle, schmeichle! Jawohl! Etwas gewinnt
+man dabei doch, und wenn’s auch nur zur Milch
+für die Kinderchen reicht. Zucker, Zucker streu nur überall
+aus, dann wird es besser gehen. Das sage ich Ihnen,
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+Verehrtester, nur so unterm Siegel der Verschwiegenheit
+– vielleicht wird diese Methode auch Ihnen einmal
+zustatten kommen. Fortuna hat mich auf dem Gewissen,
+mein Bester, deshalb bin ich auch ein Narr.“
+</p>
+
+<p>
+„Ha–ha–ha! Was dieser Alte doch für ein Spaßvogel
+ist! Immer bringt er einen zum Lachen!“ meinte,
+gut aufgelegt, Anfissa Petrowna Obnoskina.
+</p>
+
+<p>
+„Meine gnädigste Wohltäterin, als Dummkopf
+kommt man besser durch die Welt! Hätte ich das früher
+gewußt, so hätte ich mich von Kindheit an unter die
+Dummen begeben – dann könnte ich jetzt klug sein.
+Da ich aber in der Jugend klug sein wollte, muß ich jetzt
+im Alter dumm sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie doch, bitte,“ mischte sich Obnoskin ein
+(dem wahrscheinlich die Bemerkung bezüglich der „Talente“
+nicht gefallen hatte), nahm zugleich auf seinem
+Lehnstuhl eine sehr selbstbewußte Pose an und betrachtete
+den Alten durch sein Einglas, als hätte er ihn wie
+einen Bazillus unter der Lupe, „sagen Sie doch, bitte,
+... ich vergesse immer Ihren Namen ... verdammt,
+wie war er doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Väterchen! Mein Familienname ist ja
+alles in allem Jeshowikin, aber was nützt das schließlich?
+Da bin ich nun schon das neunte Jahr ohne Anstellung
+– lebe nur noch dank dem ... Naturgesetz.
+Dabei habe ich Kinder, Kinder, mehr als nötig! Ganz
+nach dem Sprichwort: ‚der Reiche hat – Kälber, der
+Arme – Kinder‘ ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ja, schön ... Kälber ... das gehört übrigens
+nicht hierher, davon später. Aber hören Sie, ich wollte
+Sie etwas fragen: warum sehen Sie, wenn Sie eintreten,
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+immer – sozusagen – zurück? Das wirkt sehr
+komisch.“
+</p>
+
+<p>
+„Warum ich zurücksehe? Weil es mir immer scheint,
+daß mich jemand hinter mir mit der flachen Hand platt
+schlagen will, wie eine Fliege, jawohl, und deshalb sehe
+ich mich immer nach rückwärts um. Bin allem Anschein
+nach monomanisch geworden, mein Bester.“
+</p>
+
+<p>
+Wieder lachten alle. Nur die Erzieherin erhob sich
+und schien das Zimmer verlassen zu wollen, sank dann
+aber doch wieder auf ihren Platz zurück. In ihrem Gesicht
+war ein kranker, leidender Zug trotz der Röte, die
+auf ihren Wangen brannte.
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du auch, Freund, wer das ist?“ fragte
+mich mein Onkel heimlich. „Das ist ihr Vater.“
+</p>
+
+<p>
+Ich sah ihn mit weit offenen Augen an. Den Namen
+Jeshowikin hatte ich ganz und gar vergessen. Ich hatte
+mich als Ritter gefühlt, hatte während der ganzen Reise
+nur an meine Zukünftige gedacht und großmütige Pläne
+geschmiedet, und dennoch ihren Familiennamen vergessen,
+oder richtiger, ihm von Anfang an überhaupt
+keine Beachtung geschenkt.
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, ihr Vater?“ fragte ich gleichfalls flüsternd.
+„Aber sie ist doch, denke ich, Waise?“
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Vater, Freund, ihr Vater. Und weißt du, der
+ehrlichste und anständigste Mensch der Welt – trinkt
+nicht mal. Nur spielt er freiwillig den Spaßvogel.
+Entsetzliche Armut, weißt du, acht Kinder! Leben nur
+von Nastenjkas Gehalt. Aus dem Dienst ist er wegen
+seiner scharfen Zunge entlassen worden. Er kommt in
+jeder Woche einmal her. Und stolz ist er, – für keinen
+Preis wird er etwas annehmen. Ich habe ihm oft geben
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+wollen, – er nimmt aber nichts an. Ein verbitterter
+Mensch!“
+</p>
+
+<p>
+„Na also, mein alter Jewgraf Larionytsch, was gibt
+es denn dort bei euch Neues?“ fragte mein Onkel und
+schlug ihm kameradschaftlich mit der Hand auf die
+Schulter, da er bemerkt hatte, daß dem mißtrauischen
+Alten unser heimliches Gespräch nicht entgangen war.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll es Neues geben, mein Wohltäter? Valentin
+Ignatjitsch hat gestern ein Schreiben eingereicht,
+in der Trischin-Affäre. Es hat sich herausgestellt,
+daß bei ihm nicht das volle Quantum Mehl zur Stelle
+war. Das ist, meine Gnädigste, jener selbe Trischin,
+der, wenn er einen ansieht, genau so aussieht, als bliese
+er einen Samowar an. Vielleicht geruhen Sie, sich
+seiner noch zu erinnern? Und so hat denn Valentin
+Ignatjitsch von diesem Trischin zu den Alten gegeben:
+‚Wenn der oft genannte Trischin,‘ schreibt er, ‚nicht
+einmal die Ehre seiner leiblichen Nichte zu wahren gewußt
+hat – denn diese ist vor einem Jahr mit einem
+Offizier losgegangen, – wie sollte er dann,‘ schreibt er,
+‚Kronseigentum aufzubewahren wissen?‘ Das hat er
+tatsächlich so in seinem Schreiben gesagt – bei Gott,
+ich lüge nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, was Sie für Geschichten erzählen!“ rief Anfissa
+Petrowna Obnoskin verächtlich aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ja ja, diesmal hast du dich etwas verhauen, Freund
+Jewgraf!“ pflichtete ihr mein Onkel schnell bei. „Ei,
+ei, du wirst noch wegen deiner Zunge viel Ungemach erleben.
+Ich weiß, du bist ein offener, ehrlicher, edelmütiger
+Mensch – das kann ich bestätigen – aber deine
+Zunge ist gefährlich! Ich wundere mich, wie es kommt,
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+daß du mit ihnen dort nicht in Frieden leben kannst.
+Sie sind doch, glaube ich, gute, einfache Menschen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Vater und Wohltäter! Aber den einfachen
+Menschen – den fürchte ich ja gerade!“ rief der Alte
+mit einer ganz eigenartigen Leidenschaftlichkeit aus.
+</p>
+
+<p>
+Die Antwort gefiel mir. Ich trat schnell entschlossen
+auf ihn zu und drückte ihm fest die Hand. Um die
+Wahrheit zu sagen, wollte ich nur mit irgend etwas
+gegen die allgemeine Meinung protestieren, indem ich
+dem Alten offen meine Zuneigung bewies. Vielleicht
+aber – wer weiß! – vielleicht wollte ich nur in der
+Meinung Nastassja Jewgrafownas, der Erzieherin,
+etwas gewinnen. Doch aus meiner plötzlichen Handlungsweise
+wurde, genau genommen, nichts allzu Gescheites.
+</p>
+
+<p>
+„Gestatten Sie eine Frage,“ sagte ich, wie gewöhnlich
+errötend und mich überhastend, „haben Sie von den
+Jesuiten gehört?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Bester, nichts, oder nur so ein wenig,
+dies und jenes ... wo soll unsereiner was hören! ...
+Aber was ist mit ihnen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich meinte nur so ... ich wollte, da das Gespräch
+darauf kam, nur erzählen ... Übrigens, erinnern Sie
+mich daran bei Gelegenheit. Jetzt aber ... seien Sie
+überzeugt, daß ich Sie verstehe und ... zu schätzen
+weiß ...“
+</p>
+
+<p>
+In meiner hilflosen Verwirrung drückte ich ihm noch
+einmal die Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt, mein Verehrtester, unbedingt werde ich
+Sie daran erinnern! Werde es mir mit goldenen Lettern
+ins Gedächtnis schreiben. Warten Sie, wenn Sie
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+erlauben, werde ich mir noch schnell einen Knoten ins
+Schnupftuch binden, damit ich’s nicht vergesse.“
+</p>
+
+<p>
+Und in der Tat suchte er an seinem schmutzigen
+Taschentuch ein trockenes Eckchen, das er dann eifrig
+zum Knoten schlang.
+</p>
+
+<p>
+„Jewgraf Larionytsch, hier ist Ihr Tee,“ sagte Praskowja
+Iljinitschna.
+</p>
+
+<p>
+„Sofort, meine schönste Dame, sofort, ... will
+sagen, Prinzessin, meine schönste Prinzessin ... nicht nur
+Dame! Das wäre für den Tee. Bin unterwegs Herrn
+Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff begegnet, meine
+Gnädigste! Er war bei so guter Laune, daß Gott erbarm!
+Ich glaubte schon, daß er auf Freiersfüßen ging
+... Schmeichle, schmeichle!“ sagte er dann halblaut zu
+mir, als er mit seiner Teetasse an mir vorüberging, mir
+zublinzelte und sein ganzes Gesicht verzog. „Aber woran
+liegt es denn, daß man den Hauptwohltäter, unseren
+Foma Fomitsch, heute nicht zu sehen bekommt? Wird er
+denn nicht zum Tee erscheinen?“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel zuckte zusammen, als wäre er gestochen
+worden, und warf einen scheuen Blick auf die Generalin.
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... ich weiß wirklich nicht,“ antwortete er unentschlossen
+und eigentümlich befangen. „Er ist gerufen
+worden, aber er ... Ich weiß es wirklich nicht, vielleicht
+fühlt er sich nicht aufgelegt ... Ich habe schon
+Widopljässoff geschickt ... und ... oder soll ich vielleicht
+selbst gehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich war soeben bei ihm,“ bemerkte Jeshowikin vielsagend.
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich?“ fragte mein Onkel erschrocken. „Nun,
+und?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+„Ging zuerst zu ihm, um ihm meine Ehrerbietung
+zu beweisen. Er sagte, daß er sich in der Einsamkeit am
+Tee laben würde, und dann fügte er noch hinzu, daß er
+sich auch von trockenen Brotrinden nähren könne, –
+genau so waren seine Worte!“
+</p>
+
+<p>
+Diese Worte erfüllten meinen Onkel, wie es schien,
+mit wahrem Entsetzen.
+</p>
+
+<p>
+„Aber so hättest du es ihm doch erklären sollen, Jewgraf
+Larionytsch! Hättest es ihm doch auseinandersetzen
+sollen!“ sagte er, indem er den Alten traurig und vorwurfsvoll
+zugleich ansah.
+</p>
+
+<p>
+„Ich hab’ ihm ja auch gesagt, hab’ geredet ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Lange geruhte er mir nicht zu antworten. Er saß
+über einer mathematischen Aufgabe, berechnete etwas:
+offenbar eine Aufgabe zum Kopfzerbrechen. Zeichnete
+vor meinen Augen die Hosen des Pythagoras auf, sah
+es selbst ganz genau. Dreimal wiederholte er dasselbe,
+erst beim vierten geruhte er das Haupt zu erheben –
+und da war’s, als sähe er mich überhaupt zum erstenmal.
+‚Ich werde nicht gehen,‘ sagte er, ‚dort ist ja jetzt ein
+<em>Gelehrter</em> angekommen, wie sollen wir noch neben
+einer solchen Leuchte Platz finden!‘ Genau so geruhte er
+sich auszudrücken: ‚neben einer solchen Leuchte‘.“
+</p>
+
+<p>
+Und der Alte blickte mich von der Seite mit feinem
+Spott an.
+</p>
+
+<p>
+„Das ahnte ich ja!“ rief mein Onkel verzweifelt
+aus, „das konnte ich mir ja denken! Das hat er von dir
+gesagt, Ssergei, dich hat er damit gemeint – mit dem
+‚Gelehrten‘! Was nun?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß gestehen, Onkel,“ sagte ich mit einem
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+Achselzucken und möglichst unbekümmert, „ich finde diese
+Begründung seiner Absage so lächerlich, daß sie es wirklich
+nicht wert ist, beachtet zu werden, und daher wundere
+ich mich, offen gestanden, über Ihre Bestürzung.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ach, Freund, was weißt du davon, das kannst
+du nicht beurteilen!“ unterbrach mich mein Onkel und
+wehrte mit energischer Handbewegung jeden weiteren
+Einwand ab.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt ist es zu spät, zu trauern,“ mischte sich plötzlich
+Fräulein Perepelizyna ein, „wenn alles Böse von Ihnen
+selbst, Jegor Iljitsch, ausgegangen ist. Wenn einem der
+Kopf abgeschlagen ist, so trauert man nicht mehr um
+die Haare. Hätten Sie Ihrem Mütterchen gehorcht, so
+würden Sie jetzt nicht weinen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber um Gottes willen, wieso bin ich denn daran
+schuld? Haben Sie doch ein wenig Angst vor Gott,
+Anna Nilowna!“ bat mein Onkel mit so flehender
+Stimme, als wolle er sie bitten, sein Liebesgeständnis
+anzuhören.
+</p>
+
+<p>
+„Ich fürchte Gott, Jegor Iljitsch; aber es kommt
+doch alles nur daher, daß Sie egoistisch sind und Ihre
+leibliche Mutter nicht lieben,“ antwortete Fräulein
+Perepelizyna würdevoll. „Was hatten Sie für einen
+Grund, gleich von vornherein ihren Willen zu mißachten?
+Sie ist doch Ihre Mutter. Und ich werde Ihnen nicht
+die Unwahrheit sagen. Ich bin selbst die Tochter eines
+Majors ... und nicht nur irgend so eine!“
+</p>
+
+<p>
+Es schien mir, daß die Perepelizyna sich einzig zu
+dem Zweck in das Gespräch einmischte, um uns allen,
+und namentlich mir, dem Neuangekommenen, zu wissen
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+zu geben, daß sie selbst die Tochter eines Majors sei und
+nicht nur „irgend so eine“.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das kommt daher, daß er seine Mutter beleidigt!“
+sagte endlich drohend die Generalin.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Mama, erbarmen Sie sich! Wann beleidige
+ich Sie denn? Und warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Weil du ein unverbesserlicher Egoist bist, Jegoruschka,“
+fuhr die Generalin fort, die sich durch die
+eigenen Worte gleichsam hinreißen ließ.
+</p>
+
+<p>
+„Mama, aber Mama! Wann bin ich denn ein
+solcher Egoist gewesen?“ rief mein Onkel verzweifelt
+aus. „Seit fünf Tagen, seit ganzen fünf Tagen sind
+Sie mir böse und wollen kein Wort mit mir sprechen!
+Und weshalb nicht? Was habe ich verbrochen? Möge
+man mich doch richten, mag die ganze Welt mich richten!
+Aber man soll doch auch meine Rechtfertigung anhören!
+Ich habe lange geschwiegen, Mama. Sie wollten mich
+nie anhören. Mögen nun fremde Menschen mich anhören.
+Anfissa Petrowna! Pawel Ssemjonytsch, mein
+bester Pawel Ssemjonytsch! Ssergei, du mein einziger
+Freund! Du bist hier ein Unbeteiligter, bist sozusagen
+nur ein Zuschauer, du kannst unvoreingenommen urteilen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Beruhigen Sie sich, Jegor Iljitsch, um Gottes
+willen beruhigen Sie sich,“ fiel Anfissa Petrowna Obnoskina
+energisch ein, „töten Sie nicht Ihre Mutter!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich töte nicht meine Mutter, Anfissa Petrowna,
+aber hier ist meine Brust, – zerreißen Sie sie!“ fuhr
+mein Onkel fort, aufs äußerste erregt, wie das zuweilen
+mit Menschen geschieht, die einen schwachen Charakter
+haben, wenn man die Grenze überschreitet und ihre letzte
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+Geduld endlich einmal „reißt“, wie man zu sagen pflegt.
+Doch ihre Heftigkeit vergeht gewöhnlich ebenso schnell,
+wie ein Strohfeuer verbrennt. Und so war es auch
+hier. „Ich will nur sagen,“ fuhr mein Onkel fort, „ich
+will nur sagen, Anfissa Petrowna, daß ich keinen beleidige.
+Ich bin der erste, der da sagt, daß Foma Fomitsch
+der edelste, ehrlichste Mensch ist und zum Überfluß
+auch noch ein Mensch von höchster Begabung; aber
+... aber in diesem Fall hat er – unrecht an mir gehandelt.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“ machte Pawel Obnoskin, wie um meinen
+Onkel noch mehr zu reizen.
+</p>
+
+<p>
+„Pawel Ssemjonytsch, ums Himmels willen, Pawel
+Ssemjonytsch! Glauben Sie denn wirklich, daß ich sozusagen
+ein gefühlloser Pfosten bin? Sehe ich doch,
+begreife ich doch – mit wehem Herzen, kann man sagen,
+fühle ich es –, daß alle diese Mißverständnisse nur
+<em>seiner übergroßen Liebe</em> zu mir entspringen.
+Aber sagen Sie, was Sie wollen, diesmal ist er dennoch
+im Unrecht. Ich werde alles erzählen. Ich will jetzt,
+Anfissa Petrowna, den ganzen Sachverhalt klarlegen,
+ganz ausführlich, damit alle sehen, wie es gekommen
+ist, und ob meine Mutter recht tut, wenn sie mir deshalb
+böse ist, weil ich Foma Fomitschs Wunsch nicht
+erfüllt habe. Auch du hör mich an, Sserjosha,“ fügte
+er hinzu, sich zu mir wendend, was er übrigens während
+seiner ganzen Erzählung wiederholt tat, und zwar
+so, als hätte er die anderen Zuhörer gefürchtet oder
+wenigstens an ihrem Mitgefühl gezweifelt, – „hör
+auch du mich an und urteile dann, ob ich im Recht bin
+oder im Unrecht. Sieh, die Sache begann so: vor
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+einer Woche – ja, genau vor einer Woche – fuhr
+hier durch unser Nachbarstädtchen mein früherer Regimentskommandeur,
+General Russapetoff, mit seiner
+Gemahlin und Schwägerin. Hielt sich eine Zeitlang
+auf. Ich war natürlich hocherfreut, benutzte die Gelegenheit,
+fuhr hin, stellte mich vor und lud sie zu mir
+zu einem Diner ein. Er sagte zu, er werde kommen,
+wenn es seine Zeit irgendwie erlaubte. Weißt du, ein
+durch und durch edler Charakter, das sage ich dir,
+Aristokrat, hoher Würdenträger! Und wieviel Gutes
+er getan hat! Zum Beispiel seiner Schwägerin! Außerdem
+hat er eine Waise mit einem vorzüglichen jungen
+Menschen verheiratet – jetzt ist derselbe Koch in Malinowo,
+ein noch junger Mensch, aber mit einer, fast
+könnte man sagen, Universitätsbildung! – Kurz, der
+Alte ist ein General unter den Generälen! Nun, bei
+uns, versteht sich, gab’s viel zu tun, Gepolter und Geklapper,
+Köche, Frikassees. Ich bestelle Musik. Nun,
+selbstverständlich bin ich guter Laune, freue mich und
+sehe aus wie ein Geburtstagskind. Das aber gefiel
+Foma Fomitsch nicht, daß ich wie ein Geburtstagskind
+aussah! Er saß bei Tisch – es wurde gerade sein
+Lieblingsgericht, eines mit Sahne, gereicht, das weiß
+ich noch ganz genau – er aber saß, schwieg, schwieg
+... und plötzlich springt er auf: ‚Man beleidigt mich,
+man beleidigt mich!‘ schreit er. – ‚Aber wieso,‘ frage
+ich, ‚wieso beleidigt man dich denn, Foma Fomitsch?‘
+– ‚Sie,‘ sagt er, ‚Sie vernachlässigen mich jetzt, Sie beschäftigen
+sich jetzt nur mit Generälen, Ihnen sind Generäle
+wertvoller und lieber als ich!‘ Ich gebe die Szene
+jetzt selbstverständlich nur in kurzen Worten wieder, sozusagen
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+nur die springenden Punkte, nur das Wesen der
+Sache. Aber wenn du zu hören wünschest, was er
+damals noch alles sagte, so ... nun, mit einem Wort,
+er erschütterte meinen ganzen Menschen! Was soll
+man tun? Ich bin natürlich ganz niedergeschmettert.
+Es hatte mich doch gar zu sehr getroffen. Ich versinke
+wie ein nasser Hahn. Der feierliche Tag bricht
+an. Da schickt der General die Nachricht, daß er leider
+verhindert sei zu kommen: muß abreisen. Entschuldigt
+sich vielmals, – also: es gibt nichts! Ich sofort zu
+Foma: ‚Nun, Foma,‘ sage ich, ‚beruhige dich! Er
+kommt nicht!‘ Aber was glaubst du? Er verzeiht mir
+nicht. Mach, was du willst – er verzeiht nicht! ‚Man
+hat mich beleidigt!‘ sagte er und dabei bleibt er. Ich
+rede. So und so. ‚Nein,‘ sagt er, ‚gehen Sie zu
+Ihren Generälen. Ihnen liegen die Generäle näher
+am Herzen als ich – Sie haben die Bande der Freundschaft,‘
+sagt er, ‚zerrissen!‘ Großer Gott! Ich begreife
+ja doch, weshalb er sich ärgert! Ich bin doch kein
+Holzklotz, kein Esel, kein Schaf! Er hat es doch nur
+aus übergroßer Liebe zu mir getan, sozusagen aus
+Eifersucht – er sagt es ja selbst, daß er auf den General
+eifersüchtig sei, meine Neigung zu verlieren
+fürchte, mich prüfen und wissen wolle, was ich für
+ihn zu opfern fähig und bereit wäre. ‚Nein,‘ sagt er,
+‚ich bin für Sie gleichfalls ein General, bin gleichfalls
+– für Sie! – Exzellenz! Werde mich nicht früher
+mit Ihnen aussöhnen, als bis Sie mir die mir zukommende
+Ehre erweisen.‘ – ‚Womit,‘ frage ich, ‚womit
+soll ich dir denn meine Hochachtung – meine
+Höchstachtung ausdrücken, Foma Fomitsch?‘ – ‚Nun,
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+nennen Sie mich,‘ sagt er, ‚einen ganzen Tag nur Ew.
+Exzellenz, damit werden Sie mir dann Ihre Hochachtung
+ausdrücken.‘ Ich fiel aus den Wolken! Man kann
+sich meine Verwunderung denken! ‚Ja,‘ sagt er, ‚das
+wird Ihnen als Lehre dienen, damit Sie sich hinfort
+nicht mehr für Generäle begeistern, wenn auch andere
+vielleicht noch würdiger sind, als alle Ihre Generäle
+zusammengenommen!‘ Na, da hielt ich es aber denn
+doch nicht mehr aus, das muß ich gestehen! Gestehe
+es sogar ganz offen! ‚Foma Fomitsch,‘ sagte ich, ‚ist
+denn das überhaupt möglich, was du verlangst? Wie
+kann ich denn auf so etwas eingehen? Wie kann ich
+denn ... und habe ich denn überhaupt das Recht, dich
+zum General, zur Exzellenz zu machen? Denk doch nur,
+in wessen Macht allein das gelegt ist! Das wäre doch
+sozusagen ein Attentat auf die Majestät des Gesetzes!
+Wie, wie soll ich dich denn Ew. Exzellenz betiteln?
+Ein General dient doch seinem Vaterlande: er gibt für
+dasselbe sein Leben im Kriege hin, er vergießt sein
+Blut auf dem Felde der Ehre, er kämpft mit dem
+Feinde seines Volkes! Und du verlangst nun, daß ich
+dir denselben Ehrentitel geben soll, der nur ihm mit
+Recht zukommt?‘ Foma aber gab nicht nach! ‚Ich
+werde dir alles zu Gefallen tun,‘ fuhr ich fort, ‚alles,
+was du nur willst. Da hast du gewünscht, daß ich
+meinen Backenbart abnehme, da er wenig patriotisch
+sei, – ich habe ihn abgenommen, habe zwar geseufzt,
+aber habe ihn trotzdem abgenommen. Und mehr noch:
+ich werde alles, alles tun, was du wünschst, nur verzichte
+auf diesen Generalstitel!‘ – ‚Nein,‘ sagte er, ‚so
+werde ich mich nicht eher mit dir versöhnen, als bis
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+man mich Exzellenz nennt. Das wird,‘ sagte er, ‚Ihrer
+Moral zugute kommen: es wird Ihren hoffärtigen
+Geist demütigen!‘ sagt er. Und nun ist es schon eine
+Woche her, eine ganze Woche spricht er nicht mit mir,
+und über jeden Besuch, wer es auch sei, ärgert er sich.
+Als er von dir hörte, daß du gelehrt seist – es war
+meine Schuld: ich sagte es ganz zufällig, als das Gespräch
+auf dich kam, so im Eifer, weißt du – da sagte
+er, daß er nicht länger hier im Hause bleiben werde
+von dem Augenblick an, in dem du das Haus betrittst.
+‚Also bin ich jetzt in euren Augen nicht mehr gelehrt!‘
+sagt er. Und was wird es erst geben, wenn er von
+Korowkin erfährt! Erbarm dich doch, urteile doch
+selbst, was habe ich denn nun verbrochen? Soll ich
+mich denn wirklich entschließen, ihn ‚Exzellenz‘ zu
+nennen? Wie soll man es denn aushalten in einer
+solchen Lage? Und weshalb hat er denn heute den
+armen Bachtschejeff vom Tisch fortgejagt? Nun schön,
+Bachtschejeff hat nicht die Astronomie erfunden, aber
+auch ich hab es ja nicht und auch du hast es ja nicht
+getan ... Nun also, aus welchem Grunde, weshalb,
+weshalb?“
+</p>
+
+<p>
+„Eben aus dem Grunde, weil du neidisch bist, Jegoruschka,“
+stieß die Generalin durch die Zähne hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Mutter!“ rief mein Onkel in seiner Verzweiflung
+aus, „Sie bringen mich um meinen letzten Verstand!
+... Sie sprechen ja nicht ihre eigenen Worte – Sie
+sprechen ja fremde Worte nach, Mama! Ich werde zu
+guter Letzt nur noch zu einem Balken, einem Laternenpfahl
+werden, aber nicht mehr Ihr Sohn sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe gehört, Onkel,“ begann ich, noch ganz
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+benommen von dem Gehörten, „ich habe unterwegs von
+Herrn Bachtschejeff gehört – ich weiß allerdings
+nicht, ob es sich so verhält –, daß Foma Fomitsch Ihren
+Iljuscha um den bevorstehenden Namenstag beneide
+und nun behaupte, daß morgen auch sein Namenstag
+sei. Ich gestehe, daß dieser merkwürdige Charakterzug
+mich dermaßen in Erstaunen gesetzt hat, daß ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sein Geburtstag, Freund, sein Geburtstag ist
+morgen, nicht sein Namenstag, nur sein Geburtstag!“
+unterbrach mich mein Onkel eifrig. „Er hat sich nur
+etwas anders ausgedrückt, aber er hat vollkommen
+recht: morgen ist sein Geburtstag. Zuerst, Freund,
+sagte er wohl ...“
+</p>
+
+<p>
+„Durchaus nicht sein Geburtstag!“ rief plötzlich
+Ssaschenjka dazwischen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie denn nicht?“ fragte mein Onkel mit gesträubtem
+Haar.
+</p>
+
+<p>
+„Gar nicht sein Geburtstag, Papa! Sie sagen einfach
+die Unwahrheit, um sich selbst zu betrügen und
+Foma Fomitsch herauszureißen! Sein Geburtstag war
+doch schon im März. – Sie wissen doch noch, wie wir
+am Tage vorher zum Gottesdienst ins Kloster fuhren,
+und er keinen in der Equipage in Frieden sitzen ließ:
+er schrie die ganze Zeit, daß das <em>Kissen</em> ihm die
+Seite <em>eingedrückt</em> habe, und kniff dabei die
+anderen. Tantchen hat er in seiner Wut zweimal gekniffen!
+Und dann, als wir am Geburtstage zu ihm
+gingen, um zu gratulieren, da wurde er wieder wütend,
+weil in unserem Bukett keine Kamelien waren. ‚Ihr
+wißt, daß ich Kamelien liebe,‘ sagte er; ‚denn ich habe
+den Geschmack der vornehmen Welt, euch aber ist es
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+nicht der Mühe wert gewesen, für mich in der Orangerie
+welche abzuschneiden, sie sind wohl zu schade gewesen
+für mich.‘ Und den ganzen Tag war er eigensinnig
+und launisch wie ein ungezogener Bengel, und
+wollte mit keinem von uns ein Wort sprechen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich glaube, selbst wenn eine Bombe mitten im
+Zimmer explodiert wäre, hätte sie die Anwesenden doch
+nicht so erschreckt und aufgeregt, wie es diese offene
+Empörung tat – und die Empörung wessen? – eines
+kleinen Mädchens, dem sonst in der Anwesenheit der
+Großmutter nicht einmal laut zu sprechen gestattet
+wurde! Die Generalin erhob sich, stumm vor Verwunderung
+und Entrüstung zugleich, richtete sich
+kerzengerade auf und sah ihr Enkeltöchterchen an, als
+traue sie ihren Augen nicht. Mein Onkel wurde blaß.
+</p>
+
+<p>
+„So ein verzogenes Ding! Man will hier wohl
+die Großmutter mit Gewalt umbringen!“ stieß die
+Perepelizyna wutzischend hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Ssaschenjka, Ssaschenjka, besinne dich! Was ist
+mit dir, Ssaschenjka?“ rief mein Onkel in höchster Erregung
+seiner Tochter zu, wußte aber nicht, was er
+tun sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will nicht mehr schweigen, Papa!“ schrie Ssaschenjka,
+die plötzlich vom Stuhl aufsprang und mit
+den Füßen trampelte. Ihre hübschen Augen sprühten
+nur so vor Zorn. „Ich will nicht mehr schweigen!
+Wir haben alle lange genug unter diesem Foma Fomitsch
+gelitten, unter eurem schändlichem scheußlichen
+Foma Fomitsch! Denn Foma Fomitsch wird uns alle
+zugrunde richten. Ihm wird ja nichts anderes vorgesungen,
+als daß er brav und gut und edel und gelehrt
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+und die Vereinigung aller Tugenden der Welt
+sei, ein wahres Potpourri von Tugenden! Foma Fomitsch
+aber glaubt wie ein Esel alles, was man ihm
+sagt! Es sind ihm so viel süße Schüsseln vorgesetzt
+worden, daß ein anderer sich schämen würde, Foma
+Fomitsch aber hat alles aufgegessen, was nur vor ihn
+hingesetzt worden ist, und will immer noch mehr haben!
+Ihr werdet sehen, er wird uns alle auffressen! Und
+schuld daran ist Papa! Schändlich, schändlich ist Foma
+Fomitsch, das sage ich dreist und fürchte nichts! Er
+ist dumm, eigensinnig, ein Schmutzfink ist er, ein niedriger,
+herzloser Mensch, ein Tyrann, eine Klatschbase,
+ein erbärmlicher Lügner ... Ach, ich würde ihn sofort,
+sofort hinausjagen, Papa aber vergöttert ihn,
+Papa ist ja ganz vernarrt in ihn!“
+</p>
+
+<p>
+Da ertönte ein „Ach!“ und die Generalin fiel in
+Ohnmacht – d. h. behutsam auf das Sofa.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, mein Täubchen, Agafja Timofejewna, mein
+Engel!“ flötete sofort hilfsbereit Anfissa Petrowna
+Obnoskina, „nehmen Sie mein Flakon! Wasser, schnell
+Wasser!“
+</p>
+
+<p>
+„Wasser, Wasser!“ schrie nun auch mein Onkel.
+„Mama, Mamachen, beruhigen Sie sich! Ich flehe
+Sie auf den Knien an, beruhigen Sie sich! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Man müßte Sie bei Brot und Wasser in ein dunkles
+Zimmer setzen ... diese Menschenmörderin!“ schrie
+die Perepelizyna zitternd vor Wut Ssaschenjka an.
+</p>
+
+<p>
+„Gut, ich werde nur von Brot und Wasser leben,
+ich fürchte mich nicht davor!“ rief Ssaschenjka zur
+Antwort zurück, in heller Begeisterung. „Ich verteidige
+nur meinen Papa! Mein Papa versteht nicht,
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+sich selbst zu verteidigen! Was ist euer Foma Fomitsch
+gegen meinen Papa, was ist er? Er ißt Papas
+Brot und wagt es, Papa zu erniedrigen! Dieser Unverschämte!
+Ich würde ihn in Stücke zerreißen, euren
+ganzen Foma Fomitsch! Ich würde ihn zum Duell
+fordern und ihn auf der Stelle aus zwei Pistolen mausetot
+schießen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ssaschenjka, Ssaschenjka!“ flehte ihr Papa. „Noch
+ein Wort – und ich bin verloren, unwiderruflich verloren!“
+</p>
+
+<p>
+„Papachen!“ Ssaschenjka lief zu ihm hin, umarmte
+krampfhaft seinen Hals und brach in Tränen aus.
+„Papachen! Sie guter, lieber, lustiger, kluger Papa,
+wie können Sie sich nur so erniedrigen lassen! Wie
+können <em>Sie</em>, <em>Sie</em> sich diesem schändlichen, undankbaren
+Menschen so unterordnen, wie können Sie sein
+Spielzeug sein und sich so lächerlich machen! Papachen,
+mein gutes, goldenes Papachen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Da schluchzte sie auf, bedeckte das Gesicht mit den
+Händen und lief aus dem Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Die Aufregung war unbeschreiblich. Die Generalin
+lag in tiefer Ohnmacht. Ihr Sohn, der fast
+vierzigjährige Oberst, kniete vor dem Sofa und küßte
+ihre Hände. Fräulein Perepelizyna machte sich in der
+Nähe der Liegenden zu schaffen und warf böse, doch
+triumphierende Blicke auf uns. Anfissa Petrowna
+Obnoskina befeuchtete mit einem nassen Tuch die
+Schläfen der Generalin und hantierte mit ihrem Flakon.
+Praskowja Iljinitschna zitterte und weinte lautlos.
+Jeshowikin suchte einen Winkel, wo er sich hätte verstecken
+können, und die Erzieherin stand bleich und wie
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+verloren vor ihrem Stuhl. Nur Misintschikoff, mein
+Vetter dritten Grades, blieb, wie er war: er stand bloß
+auf, trat schweigend ans Fenster und begann seelenruhig
+hinauszuschauen, ohne dem ganzen Vorgang auch
+nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken.
+</p>
+
+<p>
+Da erhob sich plötzlich die Generalin aus der Ohnmacht,
+sie erhob sich auch vom Sofa, erhob sich und
+richtete sich sogar auf und maß mich mit drohendem
+Blick.
+</p>
+
+<p>
+„Hinaus!“ rief sie plötzlich und stampfte mit dem
+Fuß auf.
+</p>
+
+<p>
+Offen gestanden: ich hatte alles eher erwartet
+als das.
+</p>
+
+<p>
+„Hinaus! Hinaus aus diesem Hause! Hinaus!
+Wozu ist er hergekommen? Daß sein Atem nicht mehr
+hier zu spüren sei! Hinaus!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Mama! Wie kommen Sie darauf! Das
+ist doch Sserjosha!“ stotterte mein Onkel – wenn ich
+mich nicht täusche, zitterte er am ganzen Körper. „Aber
+er ist doch zu uns zu Besuch gekommen, Mama!“
+</p>
+
+<p>
+„Was für ein Sserjosha? Unsinn! Ich will nichts
+hören – hinaus! Das ist Korowkin! Ich bin überzeugt,
+daß es Korowkin ist! Meine Ahnung täuscht
+mich nicht! Er ist hergekommen, um Foma Fomitsch
+zu verdrängen, nur zu diesem Zweck hat man ihn hergerufen!
+Mein Herz fühlt es ... Hinaus, Elender!“
+</p>
+
+<p>
+„Lieber Onkel, wenn es so ist,“ begann ich mit einer
+Stimme, in der ehrlicher Unwille bebte, „wenn es so
+ist, dann werde ich ... entschuldigen Sie mich ...“
+Und ich wollte mich nach meinem Hut umsehen.
+</p>
+
+<p>
+„Ssergei, aber so hör doch, Ssergei, was tust du!
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+... Da ist nun dieser ... Mama! das ist doch Sserjosha!
+... Ssergei, besinne dich!“ Er holte mich mit
+schnellen Schritten ein, um mich zurückzuhalten. „Du
+bist mein Gast, du wirst hierbleiben, ich will es! Sie
+sagt es ja nur so!“ fügte er halblaut hinzu, „das ist
+ja nur, weil sie sich ärgert ... Nur jetzt, in der ersten
+Zeit, wäre es vielleicht besser, wenn du dich etwas unsichtbar
+machtest ... nur eine Zeitlang – und alles
+wird wieder gut sein! Sie wird dir bestimmt verzeihen,
+– ich versichere dich! Sie ist ja doch ein guter
+Mensch ... Das war ja nur so ... sie hat sich versprochen
+... Du hörst doch, sie hält dich für Korowkin,
+aber sie wird es vergessen und wird verzeihen, glaube
+mir! ... Was willst du?“ rief er plötzlich dem alten
+Gawrila zu, der in diesem Augenblick furchtzitternd
+ins Zimmer trat.
+</p>
+
+<p>
+Gawrila kam nicht allein: ihm folgte ein etwa
+sechzehnjähriger Knabe vom Gesinde, der, wie ich später
+erfuhr, wegen seiner Schönheit ins Herrenhaus genommen
+worden war. Er hieß Falalei. Mir fiel sofort
+seine Kleidung auf: er trug eine rotseidene russische
+Bluse, die um den Hals herum ausgenäht war, einen
+Gürtel aus breiten Goldtressen, schwarze, weite Pluderhosen
+und bocklederne Stiefel mit roten saffianledernen
+Stulpen. Dieses Kostüm hatte die Generalin persönlich
+für ihn ausgedacht. Der Knabe weinte bitterlich,
+und die Tränen rollten eine nach der anderen aus
+seinen hübschen, blauen Augen über seine roten Backen.
+</p>
+
+<p>
+„Was hat denn das zu bedeuten?“ rief mein
+Onkel. „Was ist geschehen? So sprich doch, Junge!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch haben geruht, uns herzubefehlen,“
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+antwortete betrübt Gawrila. „Mich zum Examen und
+ihn ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und ihn?“
+</p>
+
+<p>
+„Er hat getanzt!“ war Gawrilas weinerliche
+Antwort.
+</p>
+
+<p>
+„Getanzt!“ Entsetzen drückte sich auf dem Gesicht
+meines Onkels aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ge–e–e–tanz–t!“ brüllte Falalei schluchzend
+und schluckend.
+</p>
+
+<p>
+„Die Kamarinskaja?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Kama–a–arinskaja!“
+</p>
+
+<p>
+„Und Foma Fomitsch hat dich dabei ertappt?“
+</p>
+
+<p>
+„Erta–appt!“
+</p>
+
+<p>
+„Das hat gerade noch gefehlt!“ stöhnte mein Onkel.
+„Jetzt bin ich verloren!“ Und er faßte sich mit beiden
+Händen an den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Da trat der Diener Widopljässoff ins Zimmer und
+meldete:
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch.“
+</p>
+
+<p>
+Die Tür ging auf, und Foma Fomitsch erschien in
+eigener Person vor dem ratlosen Publikum.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-9">
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+<span class="firstline">VI.</span><br>
+Vom weißen Ochsen und der Kamarinskaja.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">B</span><span class="postfirstchar">evor</span> ich die Ehre haben werde, das Äußere Foma
+Fomitschs dem Leser, so gut ich dies kann, vor Augen
+zu führen, halte ich es für durchaus notwendig, in
+Kürze von Falalei einiges zu erzählen und namentlich
+zu erklären, inwiefern es denn so ungeheuerlich war,
+daß er die Kamarinskaja getanzt und Foma Fomitsch
+ihn bei dieser fröhlichen und, man sollte meinen, harmlosen
+Zerstreuung überrascht hatte.
+</p>
+
+<p>
+Falalei war als Sohn eines Hofbauern in Stepantschikowo
+zur Welt gekommen und hatte seine
+Eltern im ersten Lebensjahre verloren. Die verstorbene
+Frau meines Onkels war seine Taufmutter gewesen.
+Mein Onkel liebte ihn sehr. Dies genügte, um ihn
+Foma Fomitsch, als er aufs Gut übergesiedelt war und
+den Gutsherrn sich unterworfen hatte, verhaßt zu
+machen. Doch zu Fomas Pein geschah es, daß der
+Knabe auch der Generalin ganz besonders gefiel: und
+so blieb denn Falalei, trotz Foma Fomitschs ganzer
+Wut, nach wie vor bei der Herrschaft gut angeschrieben.
+Die Generalin bestand auf ihrer Neigung, und Foma
+mußte nachgeben, wenn er auch im Herzen die „Kränkung“
+nicht vergaß – er hielt ja alles für eine
+„Kränkung“ seiner Person – und sich dafür an
+meinem armen Onkel, der in diesem Falle doch wirklich
+unschuldig war, bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit
+rächte.
+</p>
+
+<p>
+Falalei war in seiner Art allerdings eine Schönheit.
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+Eigentlich hatte er ein Mädchengesicht, das Gesicht
+einer Dorfschönheit. Die Generalin verwöhnte
+und beschützte ihn. Er war ihr teuer wie etwa ein
+nettes, seltenes Spielzeug, und man wußte nicht, wen
+sie mehr liebte: ihr kleines Schoßhündchen Ami oder
+diesen Falalei. Sein Kostüm habe ich bereits beschrieben.
+Die Damen gaben ihm obendrein noch
+Salben und Pomaden, und der Barbier und Friseur
+Kusjma mußte ihm zu den Feiertagen Locken brennen.
+Andererseits war dieser Knabe ein sonderbares Geschöpf:
+man konnte ihn nicht einen vollkommenen
+Idioten oder Geistesschwachen nennen; doch war er
+dermaßen naiv, in seiner Redeweise dermaßen wahrheitsgetreu
+und offenherzig, daß man ihn mitunter
+wirklich für einen großen Dummkopf halten konnte.
+Hatte er in der Nacht einmal einen Traum gehabt, so
+erzählte er ihn sofort der Herrschaft. Er mischte sich
+sogar in ihr Gespräch ein, unbekümmert darum, daß
+er ihnen ins Wort fiel. Er erzählte zuweilen Dinge,
+die man als Hofjunge der Gutsherrschaft ganz unmöglich
+erzählen kann. Er weinte die aufrichtigsten
+Tränen, wenn seine Herrin – die Generalin – in
+Ohnmacht fiel, oder wenn sein Herr gar zu sehr von
+Foma beschuldigt wurde. Er hatte für jedes Unglück
+ein mitfühlendes Herz. Zuweilen schlich er zur Generalin,
+küßte ihr die Hände und bat sie, nicht böse zu
+sein – und die Alte verzieh ihm gnädig alle Dreistigkeiten.
+Er hatte ein äußerst empfindsames Gemüt, war
+gut und friedfertig wie ein Lämmlein auf der Weide
+und heiter wie ein glückliches Kind. Bei Tisch wurde
+ihm immer etwas Süßes gegeben.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+Bei jeder Mahlzeit stellte er sich regelmäßig hinter
+dem Stuhl der Generalin auf und wartete, bis er sein
+Naschwerk erhielt. Gab man ihm ein Stück Zucker,
+so zerknabberte er es unverzüglich mit seinen milchweißen
+Zähnen. Dann leuchtete in seinen lustigen
+Blauaugen wie in seinem ganzen hübschen Gesicht unbeschreibliche
+Zufriedenheit auf.
+</p>
+
+<p>
+Lange zürnte Foma. Endlich überlegte er sich die
+Sache und sagte sich, daß er damit nichts ausrichten
+könne: so beschloß er dann, Falaleis Wohltäter zu
+werden. Nachdem er zuerst meinem Onkel die Leviten
+dafür gelesen hatte, daß dieser sich um die Bildung
+seines Hofgesindes gar nicht kümmere, nahm er sich
+vor, dem armen Knaben sofort Moral, gute Manieren
+und die französische Sprache beizubringen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie!“ rief er aus, als er seinen unsinnigen Einfall
+verteidigte, einem Bauernknaben Französisch beizubringen
+(einen Einfall, der übrigens nicht nur einem
+Foma Fomitsch gekommen ist, was der Aufzeichner
+dieser Erinnerungen selbst bezeugen kann) – „wie!
+er ist beständig hier im Herrenhause bei seiner Herrin:
+wenn sie nun einmal vergißt, daß er nicht Französisch
+versteht und zum Beispiel sagt ‚<span class="antiqua">donneh mua mon
+muschuar</span>‘, so muß er sich doch auch in einem solchen
+Fall zurechtfinden und sie sofort bedienen können!“
+</p>
+
+<p>
+Leider zeigte es sich sehr bald, daß dem Falalei
+nicht nur die französische Sprache nicht beizubringen
+war, sondern daß auch der Koch Andron, sein Onkel,
+der sich, vollkommen uneigennützig, lange genug gemüht
+hatte, ihm das russische Alphabet beizubringen, schon
+längst die Hoffnung aufgegeben und die Fibel auf das
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+Regal zurückgelegt hatte. Falalei war für geistige Belehrung
+so unzugänglich, daß nichts, aber auch nichts
+in seinem Gedächtnis haften blieb. Ja, dieser Belehrungsversuch
+sollte noch ein Nachspiel haben: das
+Hofgesinde begann alsbald, Falalei als „Franzosen“
+zu necken – der alte Gawrila aber, der verdienstvolle
+Kammerdiener meines Onkels, unterstand sich, der Erlernung
+dieser fremden Sprache offen jeden Nutzen
+abzusprechen. Dieses Urteil des alten Dieners kam
+auch Foma Fomitsch zu Ohren, und da befahl dieser
+in seinem Zorn, daß der Opponent Gawrila von nun
+an selbst die französische Sprache erlernen müsse. Und
+das war der Anfang dieser ganzen „Französischen
+Marotte“, die Herrn Bachtschejeff in solche Wut versetzt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Mit den guten Manieren, die Foma dem Knaben
+beibringen wollte, machte er noch schlechtere Erfahrungen:
+es wollte ihm in keiner Beziehung gelingen,
+Falalei nach seinem Geschmack umzumodeln. Falalei
+kam trotz des Verbots jeden Morgen zur Generalin,
+um seine Träume zu erzählen, was Foma höchst unanständig,
+weil allzu „familiär“, fand. Falalei aber
+war und blieb Falalei. Es versteht sich wohl von
+selbst, daß für dieses ganze Mißgeschick am meisten und
+vor allen anderen wieder mein Onkel büßen mußte.
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie auch, wissen Sie auch, was er heute
+getan hat?“ schrie eines Tages Foma, wozu er um der
+größeren Wirkung willen die Zeit wählte, in der alle
+versammelt waren ... „Wissen Sie auch, Oberst, wie
+weit Sie es mit Ihrer systematischen Vernachlässigung
+bringen? Heute verschlang er ein Stück Fischpastete,
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+das man ihm bei Tisch gegeben hatte, und wissen Sie,
+was er nachher sagte? Komm her, komm her, armselige
+Kreatur, komm her, du Idiot, du rote Fratze! ...“
+</p>
+
+<p>
+Falalei näherte sich weinend und wischte sich mit
+beiden Fäusten die Tränen ab.
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du gesagt, als du die Pastete verschlungen
+hattest? Wiederhole es noch einmal!“
+</p>
+
+<p>
+Falalei brach, statt zu antworten, in bittere Tränen
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„Dann werde ich es für dich tun. Du sagtest, indem
+du auf deinen vollgestopften Bauch klopftest:
+‚Habe mich mit Pasteten vollgeschlagen wie Martyn
+mit Seife!‘ – Bedenken Sie, Oberst, – kann man
+denn so etwas in einer gebildeten Gesellschaft sagen,
+und dazu noch in der höheren Gesellschaft? Hast du
+das gesagt? Sprich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ha–ab gesa–agt! ...“ bestätigte Falalei
+schluckend, und erneute Tränenströme rannen herab.
+</p>
+
+<p>
+„So. Dann sag mir jetzt: ißt denn Martyn Seife?
+Wo hast du einen solchen Martyn gesehen, der Seife
+ißt? Sag doch, gib mir eine Vorstellung von diesem
+phänomenalen Martyn!“
+</p>
+
+<p>
+Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich frage dich, wer war dieser Martyn?“ bestand
+Foma auf seiner Frage. „Ich will ihn sehen, will seine
+Bekanntschaft machen. Nun, wer ist er? Ein Registrator,
+ein Astronom, ein Erfinder, ein Dichter, ein
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Captaine d’armes</span>, ein Leibeigener – irgend jemand
+muß er doch sein! Antworte!“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Lei–eibeigener!“ antwortete schließlich Falalei
+und weinte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+„Wessen? Wessen Leibeigener?“
+</p>
+
+<p>
+Hierauf wußte Falalei nichts zu antworten. Natürlich
+endete die Sache schließlich damit, daß Foma
+wutentbrannt aus dem Zimmer stürzte und schrie und
+klagte, daß man ihn beleidigt habe. Die Generalin
+fiel daraufhin in Ohnmacht, mein Onkel verwünschte
+die Stunde seiner Geburt, bat alle um Verzeihung und
+ging während des ganzen übrigen Tages in seinem
+eigenen Hause nur noch auf den Fußspitzen umher.
+</p>
+
+<p>
+Nun aber sollte es auch noch geschehen, daß am
+nächsten Tage – nach dem Seifenvorfall – Falalei,
+als er am Morgen Foma Fomitsch den Tee brachte,
+und sein ganzes gestriges Leid schon längst vergessen
+hatte, vollkommen unschuldig und harmlos erzählte,
+daß ihm in der Nacht von einem weißen Ochsen geträumt
+habe. Ja – wahrlich – das hatte gerade
+noch gefehlt! Foma Fomitsch geriet in einen wahren
+Wutanfall, ließ sofort den Oberst rufen und begann
+dann unverzüglich, diesem für den Traum eine Strafpredigt
+zu halten, den <em>sein</em>, des Obersten, Falalei
+gehabt hatte. Diesmal griff man denn auch zu den
+strengsten Maßregeln: Falalei wurde bestraft – er
+mußte im Winkel knien. Außerdem wurde ihm noch
+einmal strengstens und nachdrücklich untersagt, so
+„rohe“, so „bäuerische“ Träume zu haben.
+</p>
+
+<p>
+„Begreifen Sie auch, <em>weshalb</em> ich darüber so
+ungehalten bin?“ fragte Foma Fomitsch. „Ganz abgesehen
+davon, daß er es sich nicht einfallen lassen, daß
+er es überhaupt nicht wagen dürfte, mir mit seinen
+Träumen zu kommen, und noch dazu solchen weißen
+Ochsenträumen ... ganz abgesehen davon, sage ich –
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+und Sie müssen es doch selbst zugeben, Oberst –
+was ist denn dieser weiße Ochse anderes als ein Beweis
+der Roheit, Unwissenheit und bäuerischen Empfindungsart
+Ihres unbehauenen Falalei? Wie die
+Gedanken, so die Träume. Habe ich nicht gleich gesagt,
+daß aus dem Burschen nichts werden wird und
+man ihn folglich nicht im Herrenhause behalten sollte?
+Niemals, niemals werden Sie diesen sinnlosen, einfachen
+Volksgeist zu etwas Höherem, Poetischem entwickeln!
+Kannst du denn nicht,“ fuhr er zu Falalei
+fort, „kannst du denn nicht etwas anderes im Traum
+sehen, etwas Vornehmes, Zartes, Veredeltes, eine Szene
+aus der guten Gesellschaft, sagen wir zum Beispiel
+Herren bei einer Kartenpartie oder Damen, die in
+einem schönen Garten lustwandeln?“
+</p>
+
+<p>
+Als Falalei an jenem Tage zu Bett ging, bat er
+den lieben Gott unter Tränen um einen schönen Traum
+und dachte lange darüber nach, wie er es anstellen
+sollte, daß er nicht mehr diesen verwünschten weißen
+Ochsen sähe. Doch die Hoffnungen der Menschen
+pflegen trügerisch zu sein. Als er am nächsten Morgen
+erwachte, da ward er sich mit Schrecken bewußt, daß
+ihm die ganze liebe Nacht wieder nur von dem verhaßten
+weißen Ochsen geträumt hatte – und von keiner
+einzigen im Garten lustwandelnden schönen Dame.
+Diesmal aber waren die Folgen besonderer Art. Foma
+Fomitsch erklärte unerschütterlich, daß er an die Möglichkeit
+einer ähnlichen Wiederholung nicht glaube, daß
+Falalei vielmehr lüge und womöglich von einem der
+Bewohner des Herrenhauses, vielleicht sogar vom
+Obersten selbst, absichtlich dazu verleitet worden sei, um
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+ihn, Foma Fomitsch, zu ärgern. Es kam wiederum
+zu viel Geschrei, Vorwürfen und Tränen. Am Abend
+erkrankte die Generalin. Die ganze Einwohnerschaft
+von Stepantschikowo ließ die Köpfe hängen. Und es
+blieb nur noch die eine schwache Hoffnung, daß Falalei
+in der nächsten Nacht, in der dritten, etwas aus der
+höheren Gesellschaft träumen werde. Wie groß aber
+war der allgemeine Unwille, als Falalei eine ganze
+Woche in jeder Herrgottsnacht regelmäßig den weißen
+Ochsen sah, einzig und allein immer nur den weißen
+Ochsen! An die höhere Gesellschaft war gar nicht zu
+denken!!
+</p>
+
+<p>
+Das merkwürdigste war aber, daß Falalei kein
+einziges Mal darauf kam, zu lügen: einfach zu sagen,
+er habe im Traum nicht einen weißen Ochsen, sondern,
+zum Beispiel, eine Equipage gesehen, in der schöne
+Damen und Foma Fomitsch vorübergefahren wären,
+– um so mehr, als in einem solchen Notfall das Lügen
+doch keine gar so große Sünde hätte sein können. Aber
+Falalei war dermaßen wahrheitsliebend, daß er zu
+lügen entschieden nicht verstand, – selbst wenn er es
+gewollt hätte. So kam es, daß man ihn nicht einmal
+auf diesen Gedanken zu bringen suchte; denn alle
+wußten, daß Falalei sich sofort verraten und Foma Fomitsch
+ihn auf der Lüge ertappen werde. Was sollte
+man also tun? Die Lage, in der sich mein armer Onkel
+befand, wurde nahezu verzweifelt. Falalei war unverbesserlich.
+Der arme Junge wurde sogar merklich
+magerer. Die Haushälterin Malanja behauptete, daß
+er behext worden sei, und besprengte ihn, nach altem
+Aberglauben, von einem Winkel aus mit kaltem Wasser.
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+An dieser zweckmäßigen Behandlung beteiligte sich auch
+die mitleidige Praskowja Iljinitschna. Aber auch das
+sonst so wohltätige kalte Wasser verweigerte diesmal
+seine Wirkung. Es half alles nicht!
+</p>
+
+<p>
+„Daß ihn doch! ... den verfluchten Ochsen!“ sagte
+Falalei seinerseits, „in jeder Nacht träumt mir von
+ihm! Jeden Abend bete ich: ‚Traum, komm’ mir nicht
+mit dem weißen Ochsen, Traum, komm’ mir nicht
+mit dem weißen Ochsen!‘ – Er aber ist da, der verfluchte,
+steht vor mir, so groß, mit Hörnern, mit so ’ner
+stumpfen Schnauze, hu–u–u!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel geriet schließlich wirklich in Verzweiflung.
+Doch siehe, zum Glück vergaß Foma Fomitsch,
+wie es schien, plötzlich den weißen Ochsen. Natürlich
+glaubte niemand, daß Foma Fomitsch im Ernst
+etwas so Wichtiges vergessen könnte, und so sagten sich
+alle mit angstvollem Herzen, daß er diese unerledigte
+Geschichte mit dem weißen Ochsen gleichsam für den
+Bedarfsfall aufheben wolle, um sie dann bei der ersten
+sich bietenden Gelegenheit wieder vorzuführen. In der
+Folge stellte es sich aber heraus, daß es Foma Fomitsch
+in dieser Zwischenzeit tatsächlich nicht um den weißen
+Ochsen zu tun gewesen war: er hatte andere Sorgen,
+andere Pläne waren in seinem emsigen und vieldenkenden
+Kopfe entstanden. Nur darauf war es zurückzuführen,
+daß er Falalei endlich aufatmen ließ. Gleichzeitig
+mit Falalei atmeten auch die anderen auf. Ja,
+der Junge vergaß sogar bald das Vorgefallene, und
+selbst der weiße Ochse erschien ihm immer seltener im
+Traum, obschon er ihn hin und wieder doch noch an seine
+phantastische Existenz erinnerte. Kurz, es wäre alles
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+gut gewesen, wenn es in der Welt nicht einen Tanz
+gegeben hätte, der die Kamarinskaja heißt.
+</p>
+
+<p>
+Ich muß hier vorausschicken, daß Falalei vorzüglich
+tanzte. Die Tanzkunst war seine größte Begabung,
+sie war ihm gewissermaßen als innerer Trieb angeboren.
+Er tanzte mit Energie und unermüdlicher Lust, und von
+allen Tänzen liebte er am meisten den „Kamarinskij-Mushick“
+zu tanzen. Nicht, daß ihm etwa die leichtsinnigen
+und jedenfalls unverständlichen Handlungen
+dieses flatterhaften Bauern gar so sehr gefallen hätten
+– nein, er liebte diesen Tanz einzig deshalb, weil es
+für ihn, wenn er die Kamarinskaja spielen hörte, vollkommen
+unmöglich war, nicht zu tanzen. Es kam vor,
+daß zuweilen abends zwei oder drei Diener, die
+Kutscher, der Gärtner und einige Hofmädchen sich versammelten,
+natürlich irgendwo auf einem möglichst entfernten
+Wiesenplan hinter den Ställen des Herrenhofes,
+möglichst weit von Foma Fomitsch. Dann ertönte
+alsbald Musik, und das Tanzen begann, bis
+schließlich auch die Kamarinskaja in ihr Recht trat.
+Die Musikkapelle bestand aus zwei Balalaiken, einer
+Gitarre, einer Geige und einer Handtrommel, die der
+Vorreiter Mitjuschka vorzüglich zu bearbeiten verstand.
+Dann hätte man sehen sollen, was schon beim ersten
+Takt mit Falalei geschah: er sprang in den Kreis und
+tanzte, tanzte bis zu völliger Bewußtlosigkeit, bis zur Erschöpfung
+seiner letzten Kräfte, angefeuert noch durch
+die Zurufe und das Lachen seiner Zuschauer; er jauchzte,
+lachte, schlug in die Hände und tanzte, als risse ihn
+eine fremde, unerfaßliche Kraft, gegen die er nicht anzukämpfen
+vermochte, mit sich fort, und tat sich Gewalt
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+an, um das immer schneller werdende Tempo des temperamentvollen
+Motivs einzuhalten, während er im
+Rhythmus mit den Stiefelabsätzen aufstampfte. Das
+waren Augenblicke seiner höchsten Begeisterung. Und
+es wäre auch hier alles gut gewesen, wenn das Gerücht
+von seiner Kamarinskaja nicht auch Foma Fomitsch
+zu Ohren gekommen wäre.
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch – erstarrte, und als er zu sich kam,
+schickte er sofort nach dem Oberst.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wollte mich von Ihnen nur über eines aufklären
+lassen, Oberst,“ begann Foma. „Haben Sie
+sich geschworen, diesen unglücklichen Idioten vollständig
+zu verderben, oder nicht? Ist das erstere der Fall,
+so ziehe ich mich selbstverständlich sofort zurück; falls
+aber nicht, so werde ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was ist denn los? Was ist geschehen?“ fragte
+der Oberst, der aus den Wolken fiel.
+</p>
+
+<p>
+„Wie? Sie fragen, was geschehen ist? Wissen Sie
+denn nicht, daß er die Kamarinskaja tanzt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, – nun, und?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie – nun, und?!“ schrie Foma auf. „Und
+das sagen Sie – Sie, sein Herr und in gewissem
+Sinne sein Vater! Ja, haben Sie denn nach alledem
+überhaupt eine annähernd richtige Vorstellung davon,
+was dieser Tanz überhaupt ist? Wissen Sie denn nicht,
+daß dieses Lied einen verkommenen Kerl besingt, der
+es in der Trunkenheit auf das allerunsittlichste Vergehen
+abgesehen hat? Wissen Sie denn nicht, was
+dieser verderbte Knecht im Schilde führt? Er hat die
+wertvollsten, die heiligsten Bande zerrissen und unter
+die Füße getreten, hat sie mit seinen klobigen Bauernstiefeln,
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+die sonst nur den Fußboden der Schenke zu
+stampfen pflegen, – <em>zertreten</em>! Begreifen Sie
+denn nicht, daß Sie mit dieser Antwort meine edelsten
+Gefühle beleidigt haben? Begreifen Sie denn nicht,
+daß Ihre Antwort eine persönliche Beleidigung meiner
+Person ist? Begreifen Sie das, oder begreifen Sie
+das nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Foma ... es ist doch nur ein Lied, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was, nur ein Lied? Und Sie schämen sich nicht,
+mir zu gestehen, daß Sie, Sie selbst dieses Lied kennen,
+– Sie, der Sie zur Gesellschaft gehören, Sie, der
+Sie der Vater vornehmer und unschuldiger Kinder und,
+zum Überfluß, noch Oberst sind! Nur ein Lied! Ich
+bin aber überzeugt, daß dieses Lied nach einer wirklichen
+Begebenheit entstanden ist! Nur ein Lied! Aber
+welcher anständige Mensch kann denn zugeben, ohne
+vor Scham zu vergehen, daß er dieses Lied kenne, daß
+er es jemals auch nur gehört habe? Welch ein Mensch,
+frage ich Sie, welch einer?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, aber du, Foma, du kennst es doch offenbar,
+wenn du so fragst,“ antwortete in seiner Herzenseinfalt
+und völlig harmlos mein verwirrter Onkel.
+</p>
+
+<p>
+„Was! Ich kenne es? ... Ich ... ich ... das
+heißt! ... Man hat mich beleidigt!“ schrie plötzlich
+Foma, sprang vom Stuhl auf und brüllte vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+Alles hatte er eher erwartet, als eine solche geradezu
+vernichtende Antwort.
+</p>
+
+<p>
+Doch wozu Foma Fomitschs Zorn beschreiben! Der
+Oberst wurde mit Schmach und Schande wegen der
+„Unschicklichkeit“ und „Ungeschicktheit“ seiner Antwort
+aus dem Gesichtskreise dieses „Wahrers der Sittlichkeit“
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+verbannt. Foma Fomitsch selbst aber hatte sich
+seit diesem Tage geschworen, Falalei einmal <span class="antiqua">in flagranti</span>
+zu ertappen – wenn dieser wieder das Verbrechen begehen
+sollte, die Kamarinskaja zu tanzen, und so schlich
+er sich abends, wenn alle ihn mit irgend etwas Literarischem
+beschäftigt glaubten, heimlich in den Park,
+ging im Bogen um den Gemüsegarten herum und schlug
+sich dann in ein Gebüsch, von wo aus man deutlich
+jene kleine Wiese sehen konnte, auf der gewöhnlich getanzt
+wurde. So stellte er dem Falalei nach, wie der
+Jäger dem armen Wild, und malte sich inzwischen mit
+Wonne aus, was für einen Skandal er im Fall eines
+Erfolges seiner Bemühungen machen könne, und wie
+alle, und namentlich der Oberst ihm dafür würden
+„büßen müssen“! Der Lohn für seine Mühe blieb denn
+auch nicht aus. Der Augenblick kam, in dem er „ihn
+hatte“. Endlich, endlich! Und das geschah – gerade
+heute!!
+</p>
+
+<p>
+Nun wird es verständlich sein, weshalb mein
+Onkel sich das Haar raufte, als er den weinenden
+Falalei sah und vernehmen mußte, was geschehen war,
+und als dann noch Widopljässoff eintrat, um Foma
+Fomitschs Erscheinen anzumelden, und Foma Fomitsch
+so plötzlich und in einem so peinlichen Augenblick in
+eigener Person vor unseren sündigen Augen erschien.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-10">
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+<span class="firstline">VII.</span><br>
+Foma Fomitsch.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">it</span> unendlicher Neugier sah ich diesem Herrn entgegen.
+Gawrila hatte recht, wenn er ihn ein gemausertes
+Menschlein nannte. Foma war klein von Wuchs,
+mit weißblondem, kaum merklich grau untermischtem
+Haar, weißen Augenbrauen und Wimpern, mit einer
+gebogenen Nase und vielen kleinen Runzeln im ganzen
+Gesicht. Am Kinn hatte er eine große Warze. Er
+war ungefähr fünfzig Jahre alt. Leise trat er ein, mit
+gleichmäßigen Schritten, die Augen zu Boden gesenkt.
+Aber das unverschämteste Selbstbewußtsein drückte sich
+in seinem Gesicht und in seiner ganzen, überaus pedantischen
+Erscheinung aus. Zu meiner Verwunderung erschien
+er im Schlafrock – freilich von ausländischem
+Schnitt, aber es war immerhin ein Schlafrock – und
+obendrein in Hausschuhen. Eine Krawatte trug er
+nicht. Der Kragen seines Hemdes war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à l’enfant</span>
+zurückgeschlagen, was der ganzen Erscheinung Fomas
+etwas überaus Dummes verlieh. Er schritt zu einem
+Lehnstuhl, rückte ihn ein wenig näher zum Tisch und
+setzte sich, ohne auch nur ein Wort gesagt zu haben.
+Im Augenblick war alles still geworden, von der Aufregung
+und dem Spektakel, die noch vor einer Minute
+hier geherrscht hatten, war nichts mehr zu sehen und
+zu hören. Es war so still, daß man das Summen der
+kleinsten Fliege hätte hören können. Die Generalin
+saß sanft und fromm wie ein Lamm auf dem Sofa.
+Die ganze sklavische Ergebenheit dieser Törin ihrem
+Idol Foma gegenüber trat jetzt so recht klar zutage.
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+Sie schien sich an ihrem Liebling gar nicht satt sehen
+zu können, sie hing unverwandt mit den Blicken an
+ihm, sie verschlang ihn förmlich mit den Augen.
+</p>
+
+<p>
+Fräulein Perepelizyna entblößte lächelnd ihre alten
+Zähne und rieb sich die Hände, die arme Praskowja
+Iljinitschna aber zitterte merklich vor Furcht. Mein
+Onkel fand als erster die Sprache wieder.
+</p>
+
+<p>
+„Tee, Schwesterchen, bitte, Tee! Nur etwas
+süßer, Schwesterchen. Foma Fomitsch trinkt ihn nach
+dem Schläfchen gern etwas süßer. Nicht wahr, Foma,
+du liebst den Tee nachmittags doch etwas süßer?“
+</p>
+
+<p>
+„Mir ist es jetzt nicht um Tee zu tun!“ begann
+Foma langsam und würdevoll, und mit bekümmerter
+Miene machte er eine wegwerfende Handbewegung.
+„Sie dagegen scheinen sich ja nur darum zu sorgen,
+daß alles süßer sei!“
+</p>
+
+<p>
+Diese ersten Worte und der in seiner pedantischen
+Wichtigkeit unbeschreiblich lächerliche Eintritt Fomas
+interessierten mich natürlich außerordentlich. Es interessierte
+mich vor allem, bis zu welch einer Gewissenlosigkeit
+die Unverschämtheit dieses von sich so eingenommenen
+Menschen gehen konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ begann mein Onkel von neuem. „Hier
+stelle ich dir jemand vor: meinen Neffen Ssergei
+Alexandrowitsch! Er ist erst vor kurzem angekommen.“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch maß meinen Onkel vom Kopf bis
+zu den Füßen.
+</p>
+
+<p>
+„Es wundert mich, daß Sie mich mit Vorliebe
+immer so systematisch unterbrechen, Oberst,“ sagte er
+endlich nach bedeutsamem Schweigen und ohne mich
+auch nur eines Blickes zu würdigen. „Man redet mit
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+Ihnen über eine ernste Sache, Sie aber ... schwatzen
+... weiß Gott was ... Haben Sie Falalei gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, also Sie haben ihn gesehen! Nun, dann
+werde ich Ihnen denselben noch einmal zeigen, wenn
+Sie ihn schon gesehen haben. Dann können Sie sich
+ergötzen an Ihrem Produkt ... ich meine, in sittlicher
+Beziehung. Komm her, Bursche! Komm her, du holländische
+Fratze! Nun, hörst du nicht? – komm her!
+Fürchte dich nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Falalei näherte sich ihm, schluchzend, mit halboffenem
+Munde, und schluckte seine Tränen. Foma Fomitsch
+betrachtete ihn mit augenscheinlichem Vergnügen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe ihn mit Absicht ‚holländische Fratze‘ genannt,
+Pawel Ssemjonytsch,“ bemerkte er, indem er
+es sich ungeniert in seinem Lehnstuhl bequem machte,
+mit einer leichten Wendung seines Kopfes zu Obnoskin,
+der als Nächster links von ihm saß. „Und überhaupt,
+wissen Sie, halte ich es nicht für nötig, daß man seine
+Ausdrücke mildert, gleichviel in welchem Fall. Die
+Wahrheit muß immer Wahrheit bleiben. Und andererseits:
+womit man auch Schmutz bedecken wollte, es
+bleibt immer Schmutz. Wozu also die Mühe, eine Sache
+noch zu beschönigen? Um sich und die Menschen zu
+betrügen! Nur in dem dummen Kopf eines Menschen
+aus der sogenannten höheren Gesellschaft konnte das
+Verlangen nach so sinnlosen Anstandsregeln entstehen.
+Sagen Sie doch – ich bitte um Ihr Urteil – können
+Sie in dieser Fratze etwas Schönes finden? Ich meine:
+etwas Höheres, Erhabenes, Wunderbares – und nicht,
+wie gesagt, nur eine schöne Fratze?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+Foma Fomitsch sprach ziemlich leise, ruhig, jedes
+Wort abmessend und mit einem fast erhabenen
+Gleichmut.
+</p>
+
+<p>
+„Schönes?“ fragte Obnoskin mit einer geradezu
+frechen Nachlässigkeit. „Mir scheint, es ist nur ein
+gutes Stück Roastbeef und nichts weiter ...“
+</p>
+
+<p>
+„Trat heute zum Spiegel und besah mich in ihm,“
+fuhr Foma ruhig fort, würdevoll das Wörtlein „ich“
+auslassend. „Halte mich längst nicht für eine Musterschönheit,
+kam aber unwillkürlich zu der Überzeugung,
+daß doch etwas in diesem grauen Auge liegt, das mich
+von einem Falalei unterscheidet. Das ist der Gedanke,
+das ist das Leben, das ist der Verstand in diesem Auge!
+Will mich nicht damit loben. Rede nur so im allgemeinen
+von meinem Ich. Jetzt, was meinen Sie? Kann
+es überhaupt auch nur ein Stückchen, auch nur ein
+Atom von einer Seele in diesem lebenden Beefsteak
+geben? Nein, in der Tat, beobachten Sie es doch,
+Pawel Ssemjonytsch, wie diese <em>Menschen</em>, die jedes
+Gedankens, jedes Ideals vollkommen bar sind, und die
+nur Rindfleisch essen, wie bei diesen Menschen die Gesichtsfarbe
+immer so widerlich frisch ist, von einer so
+rohen und dummen Frische! Wünschen Sie, den Grad
+seiner Denkfähigkeit zu erkennen? He, du, Kasus!
+Komm mal näher, gönn uns, daß wir uns an deinem
+Anblick berauschen! Warum sperrst du den Mund auf?
+Willst du etwa einen Walfisch verschlingen? Bist du
+schön? Antworte: bist du schön?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... bin ... schön!“ antwortete Falalei mit
+ersticktem Schluchzen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+Obnoskin wälzte sich vor Lachen. Ich fühlte, wie
+ich vor Wut zu zittern begann.
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie gehört?“ fuhr Foma fort, mit einem
+gewissen Triumph sich wieder an Obnoskin wendend.
+„Aber Sie werden noch ganz andere Dinge von ihm
+hören! Ich kam nur, um ihn zu examinieren. Sehen
+Sie, Pawel Ssemjonytsch, es gibt Menschen, deren
+Wunsch es zu sein scheint, diesen armseligen Idioten
+endgültig zu verderben. Vielleicht urteile ich zu streng,
+kann mich ja täuschen, aber ich rede und tue alles nur
+aus Liebe zur Menschheit. Er hat den unanständigsten
+aller Tänze getanzt. Hier scheint das keinen Menschen
+etwas anzugehen. Aber ... nun, Sie können
+es hier mit eigenen Ohren hören ... Antworte: was
+hast du vorhin getan? Antworte, antworte sofort! –
+hörst du?“
+</p>
+
+<p>
+„I ... ich ... habe ... getanzt ...“ sagte Falalei,
+der nur mit Mühe das Schluchzen unterdrückte.
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du denn getanzt? Welch einen Tanz?
+So sprich doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Die Kamarinskaja ...“
+</p>
+
+<p>
+„Die Kamarinskaja! Aber wer ist diese Kamarinskaja?
+Was ist das für ein Name? Wie soll ich denn
+deine Antwort verstehen? Nun, so gib mir doch wenigstens
+eine Vorstellung davon: wer ist denn diese deine
+Kamarinskaja?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein ... Bauer ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Bauer! Nur ein Bauer? Ich wundere mich!
+Das muß doch ein ganz hervorragender Bauer sein!
+Dann ist er wohl irgendein berühmter Mann, wenn
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+man ihn in Liedern besingt und in Tänzen verherrlicht?
+Nun, so antworte doch!“
+</p>
+
+<p>
+Es schien Foma ein Bedürfnis zu sein, Menschen
+zu foltern. Er spielte mit seinem Opfer wie die Katze
+mit der Maus. Doch Falalei schwieg, schluchzte und
+begriff die Frage nicht.
+</p>
+
+<p>
+„So antworte doch! Du wirst gefragt, was das
+für ein Bauer ist. So sprich doch ...! Ein Gutsbauer
+oder ein Kronsbauer, ein freier oder ein leibeigener
+oder vielleicht ein Ökonomiebauer<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a>? Es gibt
+viele Bauern ...“
+</p>
+
+<p>
+„E–e–ein ... Ö–ko–nomiebauer ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, also ein Ökonomiebauer! Haben Sie gehört,
+Pawel Ssemjonytsch? Ein neues historisches Faktum:
+die Kamarinskaja ist ein – Ökonomiebauer. Hm!
+Nun, aber was hat denn dieser Ökonomiebauer getan?
+Für welche Taten wird er denn besungen und ...
+wird ihm zu Ehren getanzt?“
+</p>
+
+<p>
+Die Frage war nicht wenig kitzlig, und da er sie
+an Falalei richtete, auch sehr gefährlich.
+</p>
+
+<p>
+„Nun – aber Sie ... einstweilen ...“ versuchte
+Obnoskin einzulenken, nach einem flüchtigen Blick auf
+seine Mutter, die sich so eigentümlich auf ihrem Sofa
+hin und her zu bewegen begann.
+</p>
+
+<p>
+Was sollte man tun? Die Launen Foma Fomitschs
+wurden als Gesetz betrachtet.
+</p>
+
+<p>
+„Aber, lieber Onkel, wenn Sie diesen Esel nicht ablenken,
+so kann er ja ... Sie begreifen doch, auf was
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+er es abgesehen hat – Falalei wird vielleicht irgendeine
+Dummheit sagen, sogar bestimmt, ich versichere
+Sie ...“ flüsterte ich unbemerkt meinem Onkel zu, der
+selbst nicht wußte, wozu er sich entschließen oder was
+er sagen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn du, Foma ...“ begann er etwas unsicher.
+„Hier stelle ich dir meinen Neffen vor, Foma: mein
+junger Freund, der sich mit Mineralogie beschäftigt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie inständig, Oberst, unterbrechen Sie
+mich nicht mit Ihrer Mineralogie, von der Sie, soviel
+mir bekannt ist, keine Ahnung haben, und <em>andere</em>
+vielleicht ebensowenig. Ich bin kein Kind. Er wird
+mir antworten, daß dieser Bauer, anstatt für das
+Wohlergehen seiner Familie zu arbeiten, in der Schenke
+seinen Halbpelz vertrunken hat und betrunken auf die
+Straße hinausgelaufen ist. Das ist bekanntlich der
+Inhalt dieses Liedes, das die Trunkenheit verherrlicht.
+Beunruhigen Sie sich nicht, <em>jetzt</em> weiß er, was er zu
+antworten hat. – Nun, so antworte doch: was hat
+dieser Bauer denn getan? Ich habe es dir doch schon
+vorgesagt, habe es dir in den Mund gelegt. Ich will
+nur von dir, von dir selbst hören, was er getan hat,
+wodurch er berühmt geworden ist, wodurch er einen so
+unsterblichen Ruhm verdient hat, daß er sogar besungen
+wird? Nun?“
+</p>
+
+<p>
+Der arme Falalei blickte sich hilflos im Kreise um,
+und da er nicht wußte, was er sagen sollte, machte er
+nur den Mund auf und ratlos wieder zu, wie eine
+Karausche, die aus dem Wasser auf den Sand gezogen
+ist.
+</p>
+
+<p>
+„Ich schäm’ mich, es zu sagen!“ brachte er schließlich
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+in seiner Hilflosigkeit mit langen Lippen ziemlich
+undeutlich hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Ah! du schämst dich, es zu sagen!“ Foma triumphierte.
+„Nur diese Antwort erwartete ich, Oberst!
+Man schämt sich, es zu sagen; aber es zu tun, schämt
+man sich nicht! Das ist die Sittlichkeit, die Sie hier
+gesät haben, die jetzt aufgegangen ist, und die Sie noch
+... begießen! Doch wozu so viel Worte verlieren! Geh
+in die Küche, Falalei. Im Augenblick sage ich dir
+nichts – aus Achtung vor den Anwesenden; aber heute
+noch, <em>heute noch</em> wirst du unbarmherzig und schmerzhaft
+bestraft werden. Geschieht es aber nicht, zieht man
+auch diesmal <em>dich</em> – <em>mir</em> – vor, so bleibe du hier
+und tröste deine Herren mit der Kamarinskaja, ich aber
+werde dann heute noch dieses Haus verlassen! Genug!
+Ich habe gesprochen. Geh!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, das war, glaube ich, denn doch etwas ...
+streng ...“ brummte Obnoskin.
+</p>
+
+<p>
+„Eben, eben ...!“ griff sofort mein Onkel auf und
+wollte ihm beipflichten, brach aber ab und verstummte.
+Foma warf ihm einen finsteren Blick zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wundere mich, Pawel Ssemjonytsch,“ fuhr er
+fort, „ich wundere mich nur über eines: was tun denn
+eigentlich unsere zeitgenössischen Literaten, die Dichter,
+die Gelehrten, die Denker? Wie kommt es, daß sie gar
+nicht darüber nachdenken, welche Lieder das russische
+Volk singt, und zu welchen Liedern das russische Volk
+tanzt? Was haben denn bis jetzt alle unsere Puschkin,
+Lermontoff, Borosdin getan? Ich wundere mich. Das
+Volk tanzt die Kamarinskaja, diese Apotheose der
+Trunkenheit und der Ausschweifung; sie aber besingen
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+da irgendwelche Vergißmeinnicht! Warum schreiben sie
+nicht einige sittliche Lieder für den Volksgebrauch?
+Was nützen diese Gedichte an die Vergißmeinnicht und
+Gänseblümchen? Hier handelt es sich doch um eine
+soziale Frage! Mögen sie mir meinetwegen einen
+Bauern schildern, aber einen veredelten Bauern, einen
+Landmann, der eigentlich nichts mehr mit dem rohen
+Bauern gemein hat. Mögen sie doch einen solchen
+Dorfweisen womöglich in seiner ganzen Einfachheit uns
+zeigen, meinetwegen sogar in Bastschuhen – ich bin
+auch damit noch einverstanden –, aber es muß ein
+Mann sein, der alle Tugenden besitzt, Tugenden, um
+die ihn – das sage ich kühn – selbst irgend so ein
+berühmter Alexander von Mazedonien beneiden müßte.
+Ich kenne Rußland und Rußland kennt mich: darum
+rede ich so. Mögen sie uns diesen Mann darstellen,
+der, sagen wir, bei grauem Haar noch eine große Familie
+zu ernähren hat, meinetwegen sogar in einer
+stickigen Hütte lebt, vielleicht sogar hungern muß, der
+aber dennoch zufrieden ist und nicht murrt, sondern
+seine Armut preist, und den alles Gold des Reichen
+gleichgültig läßt. Mag ihm der Reiche schließlich gerührt
+sein ganzes Gold bringen ... bei dieser Gelegenheit
+kann sogar eine Vereinigung der Tugend des Bauern
+mit der Tugend des Reichen, seines Herrn und,
+sagen wir, geborenen Aristokraten sich vollziehen. Der
+Landmann und der Reiche, die auf den Stufen der Gesellschaft
+so weit voneinander getrennt sind, – mögen
+sie dann in der Tugend sich vereinigen, – das wäre
+ein edler Grundgedanke! Aber sonst – was haben
+wir jetzt in unserer Literatur? Einerseits Vergißmeinnicht
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+und andererseits – einen Bauern, der aus der
+Schenke herausstürzt und in betrunkenem Zustande
+durch die Straßen läuft! Nun, was ist denn hier,
+sagen Sie doch selbst: Was ist denn hier Poetisches?
+Woran soll man sich erbauen? Wo ist hier Verstand?
+Wo Grazie? Wo Moral? ... Ich wundere mich!“
+</p>
+
+<p>
+„Hundert Rubel schulde ich Ihnen, Foma Fomitsch,
+für solche Worte!“ sagte Jeshowikin anscheinend begeistert.
+– „Würde ihm keinen grindigen Deubel jemals
+geben!“ rannte er mir dabei leise zu, fast ohne die
+Lippen zu bewegen. „Schmeichle, schmeichle!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... das haben Sie gut gesagt,“ brummte
+Obnoskin.
+</p>
+
+<p>
+„Eben, eben! Vortrefflich!“ rief mein Onkel aus,
+der die ganze Zeit mit angestrengter Aufmerksamkeit
+zugehört hatte und mich jetzt triumphierend ansah. –
+„Was für ein Thema!“ flüsterte er mir unbemerkt ins
+Ohr und rieb sich vor Vergnügen die Hände. „Vielseitig,
+weiß der Teufel! – Foma Fomitsch, hier ist
+mein Neffe,“ fuhr er laut im Überschwang seiner Gefühle
+fort. „Er hat sich gleichfalls mit der Literatur
+beschäftigt – hier stelle ich ihn dir vor.“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch schenkte wiederum nicht die geringste
+Beachtung weder mir, noch meinem Onkel.
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen, stellen Sie mich doch nicht nochmals
+vor! Ich bitte Sie darum!“ flüsterte ich in sehr
+bestimmtem Ton meinem Onkel zu.
+</p>
+
+<p>
+„Iwan Iwanytsch!“ hub plötzlich Foma Fomitsch
+an, sich mit aufmerksam betrachtendem Blick an Misintschikoff
+wendend, „da haben wir nun gesprochen –
+welcher Meinung aber sind Sie?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+„Ich? Sie fragen mich?“ erkundigte sich verwundert
+Misintschikoff, mit einem Gesichtsausdruck, als
+hätte man ihn soeben erst aus dem Schlaf geweckt.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, gerade Sie. Ich frage Sie aus dem Grunde,
+weil mir die Meinung wirklich kluger Menschen immer
+wertvoll ist, nicht aber diejenige – weiß Gott was für
+welcher – problematischer kluger Köpfe, die nur deshalb
+klug sind, weil sie einem <em>beständig als klug
+vorgestellt werden</em>, als sogenannte <em>Gelehrte</em>,
+und die man sich mitunter sogar absichtlich
+verschreibt, um sie in einer Jahrmarktsbude auszustellen
+oder an einem ähnlichen Ort.“
+</p>
+
+<p>
+Dieser Stein war natürlich in meinen Garten geworfen.
+Es konnte überhaupt kein Zweifel darüber
+bestehen, daß Foma Fomitsch, der mich scheinbar gar
+nicht beachtete, dieses ganze Gespräch über die Literatur
+einzig und allein meinetwegen begonnen hatte, um mich,
+den „Klugen“, den „Petersburger Gelehrten“, von
+vornherein zu besiegen, zu vernichten. Ich wenigstens
+zweifelte nicht daran.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie meine Meinung wissen wollen, so ...
+bin ich ... so bin ich ganz Ihrer Meinung,“ antwortete
+Misintschikoff träge und gleichsam wider Willen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind stets ganz meiner Meinung! Es könnte
+einem sogar übel davon werden,“ bemerkte Foma.
+„Werde Ihnen ganz aufrichtig sagen, Pawel Ssemjonytsch,“
+wandte er sich nach kurzem Schweigen wieder
+an Obnoskin, „wenn ich unseren unsterblichen Karamsin
+für etwas hochachte, so tue ich es nicht wegen seiner
+‚Statthalterin Marfa‘, nicht wegen seiner ‚Russischen
+Geschichte‘, auch nicht wegen seines Werkes über das
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+‚Alte und neue Rußland‘, sondern einzig deshalb, weil
+er ‚Froll Ssilin‘ geschrieben hat: Das ist ein großes
+Epos! Es ist ein rein volkliches Werk und wird alle
+Ewigkeiten überleben! Ein großes Epos!“
+</p>
+
+<p>
+„Eben, das ist es! Stimmt! Ein großes <em>Epos</em>!
+Froll Ssilin ist ein tugendhafter Mensch! Ich weiß,
+habe ihn gelesen; er kaufte <em>noch</em> zwei Mädchen aus,
+und dann sah er zum Himmel empor und weinte. Ein
+erhabener Zug!“ bestätigte mein Onkel, strahlend vor
+Zufriedenheit.
+</p>
+
+<p>
+Mein armer Onkel! Er konnte es doch auf keine
+Weise unterlassen, sich in „gelehrte“ Gespräche einzumischen!
+Foma lächelte boshaft, schwieg aber.
+</p>
+
+<p>
+„Es wird auch jetzt Interessantes geschrieben,“
+mischte sich vorsichtig Anfissa Petrowna Obnoskina ein.
+„Zum Beispiel: die ‚Geheimnisse von Brüssel‘!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich enthalte mich eines Urteils,“ sagte Foma,
+gleichsam mitleidig. „Ich habe vor nicht langer Zeit
+einen von den neueren Dichtern gelesen ... Was soll
+man sagen? ‚Vergißmeinnicht‘! Aber wenn ich Ihnen
+die Wahrheit sagen soll, so gefällt mir von den Modernsten
+am besten der ‚Kopist‘, – wie er sich unterzeichnet
+– eine leichte Feder!“
+</p>
+
+<p>
+„Der Kopist!“ schrie förmlich Anfissa Petrowna
+auf, „das ist doch dieser, der an die Zeitung Briefe
+schreibt? Ach, wie ist er doch entzückend! Welch ein
+Spiel mit Worten!“
+</p>
+
+<p>
+„Ganz recht, ein Spiel mit Worten. Er spielt, wie
+man sagt, mit der Feder. Eine ungewöhnliche Leichtigkeit
+im Satzbau!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+„Ja, aber er ist ein Pedant,“ bemerkte Obnoskin
+nachlässig.
+</p>
+
+<p>
+„Pedant! gewiß ein Pedant – das bestreite ich
+nicht. Aber er ist ein sympathischer Pedant, ein graziöser
+Pedant! Natürlich, keine einzige seiner Ideen
+hält einer ernsten Kritik stand, aber man läßt sich unwillkürlich
+von seiner Leichtigkeit fortreißen! Schön,
+es sind leere Worte – ich will es gern zugeben; aber
+es sind sympathische, es sind graziöse Worte! Entsinnen
+Sie sich vielleicht, wie er in einem literarischen Artikel
+erklärte, daß er seine eigenen Güter habe?“
+</p>
+
+<p>
+„Güter?“ griff sofort mein Onkel auf. „Das ist
+nicht übel. In welchem Gouvernement?“
+</p>
+
+<p>
+Foma blieb stumm, richtete nur einen aufmerksamen
+Blick auf den Hausherrn und fuhr dann im selben Ton
+fort:
+</p>
+
+<p>
+„Nun sagen Sie mir doch um der gesunden Vernunft
+willen: wozu brauche ich, der Leser, zu wissen, daß
+er Güter hat? Hat er sie – dann gratuliere ich! Aber
+wie lieblich, wie spaßhaft ist es beschrieben! Er sprüht
+von Geist, er wirft ihn verschwenderisch um sich! Er
+ist ein unerschöpflicher Quell von sprudelndem Geist!
+Ja, <em>so</em> muß man schreiben! Ich glaube, daß ich gerade
+in dieser Art schreiben würde, wenn ich mich entschließen
+wollte, für Zeitschriften zu schreiben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sicherlich sogar noch besser!“ bemerkte ehrerbietig
+Jeshowikin.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist sogar etwas Melodisches im Stil!“ bestätigte
+mein Onkel.
+</p>
+
+<p>
+Nun aber hielt es Foma nicht mehr aus.
+</p>
+
+<p>
+„Oberst,“ hub er an, „dürfte man Sie vielleicht
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+bitten – natürlich mit aller nur möglichen Rücksicht –
+sich nicht einzumischen und uns in Ruhe unser Gespräch
+beenden zu lassen? Sie können über unsere Gespräche
+nicht urteilen, die Themata sind nicht für Sie geschaffen!
+So haben Sie doch die Güte, unsere angenehme literarische
+Unterhaltung nicht zu unterbrechen. Beschäftigen
+Sie sich mit Ihrer Landwirtschaft, trinken Sie Tee,
+aber ... kümmern Sie sich nicht um die Literatur ...
+sie wird dadurch nicht verlieren, dessen kann ich Sie
+versichern!“
+</p>
+
+<p>
+Das war denn doch der Gipfel aller Frechheit! Ich
+wußte nicht, wie ich mich beherrschen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber du hast doch selbst gesagt, Foma, daß sogar
+etwas Melodisches im Stil sei,“ versuchte sich mein
+Onkel, peinlich berührt, zu verteidigen.
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß. <em>Ich</em> aber habe es mit Kenntnis der Sache
+gesagt, als es angebracht war – und Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, wir haben es mit Verständnis und Verstand
+gesagt,“ griff Jeshowikin auf, der Foma Fomitsch
+auffällig umschmeichelte. „Verstand haben wir nur so
+ein wenig, man muß ihn sich zuweilen leihen; denn zur
+Not reicht er noch zu zwei Ministerien, und wenn’s
+darauf ankommt, dann werden wir auch noch mit dem
+dritten fertig, – jawohl, so steht’s mit uns!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dann habe ich also wieder etwas Unrichtiges
+gesagt!“ sagte mein Onkel und lächelte sein gutmütiges
+Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Zum Glück sehen Sie es wenigstens ein,“ bemerkte
+Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Tut nichts, Foma, ich ärgere mich nicht. Ich weiß,
+daß du mich wie ein Freund lenken und leiten willst,
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+wie ein Verwandter, ein Bruder ... Das habe ich dir
+selbst erlaubt, ich habe dich sogar darum gebeten ...
+Das ist ganz recht, ganz recht von dir. Du tust es ja
+nur zu meinem Besten! Also hab Dank, ich werde es
+mir merken.“
+</p>
+
+<p>
+Meine Geduld war zu Ende. Alles, was ich von
+Foma Fomitsch gehört hatte, war mir übertrieben erschienen.
+Als ich nun aber selbst alles sah und hörte,
+fand meine Verwunderung keine Grenzen. Ich glaubte
+mir selbst nicht mehr; eine solche Frechheit, eine so unverschämte
+Anmaßung einerseits, und eine so freiwillige
+Knechtschaft und so arglose Gutmütigkeit andererseits
+begriff ich einfach nicht. Übrigens war mein Onkel
+durch diese Dreistigkeit doch auch verwirrt. Das sah
+man ihm an, obschon er es zu verbergen suchte. Ich
+brannte vor Begier, mit Foma irgendwie aneinander
+zu geraten, mit ihm einen Zweikampf auszufechten, ihm
+hageldicht die Wahrheit zu sagen – aber mit Überlegenheit
+und Temperament, so daß sie ihren Ohren nicht
+trauen sollten – und dann möge kommen, was da
+kommen wolle! Dieser Gedanke begeisterte mich. Ich
+wartete krampfhaft auf eine Gelegenheit, und in der
+Erwartung verbog ich gänzlich den Rand meines Hutes,
+den ich in der Hand behalten hatte. Die Gelegenheit
+aber bot sich nicht: Foma geruhte überhaupt nicht, mich
+zu bemerken.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist wahr, es ist wahr, was du sagst, Foma,“
+fuhr mein Onkel fort, aus allen Kräften bemüht, das
+Unangenehme des vorhergegangenen Gespräches wenigstens
+durch irgend etwas ein wenig gutzumachen. „Du
+trittst damit für die Wahrheit ein, Foma. Ich danke
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+dir. Zuerst muß man eine Sache kennen, und nur dann
+kann man urteilen. Ich bereue es. Aber ich bin ja
+schon mehr als einmal in eine solche Patsche geraten.
+Stell dir vor, Ssergei, ich habe einmal sogar examiniert.
+Ihr lacht! Nun ja! Bei Gott, ich habe faktisch examiniert!
+Das war so: man forderte mich einmal auf,
+in irgendeiner Lehranstalt einem Examen beizuwohnen,
+und man setzte mich zusammen mit den Examinatoren
+an den großen Tisch, nur so, als Ehrenbezeugung, es
+war dort ein überflüssiger Platz. Aber weißt du, ich
+sage dir, ich bekam ordentlich Angst, – nein wirklich:
+regelrechte Angst erfaßte mich. Wie sollte ich nicht –
+denk doch nur: habe doch von keiner einzigen Wissenschaft
+auch nur einen Schimmer! Was tun also? Gott im
+Himmel, denke ich, jetzt wirst du selbst auch noch an die
+Tafel gerufen werden! Nun, dann aber – ging alles
+gut vonstatten: ich stellte sogar selbst noch Fragen,
+fragte: Wer war Noah? Überhaupt, es wurde vorzüglich
+geantwortet. Nachher frühstückten wir noch und tranken
+auf das Gedeihen der Anstalt Champagner. Eine vortreffliche
+Lehranstalt war’s!“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch und Obnoskin brachen in schallendes
+Gelächter aus.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich habe ja später auch gelacht!“ rief mein
+Onkel dazwischen, lachte selbst mit in seiner Gutmütigkeit
+und freute sich, daß er andere erheitert hatte. „Nein,
+Foma, wart, ich werde euch alle noch mehr zum Lachen
+bringen – ich werde euch erzählen, wie ich einmal hereingefallen
+bin ... Stell dir vor, Ssergei, wir standen
+damals in Krasnogorsk ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+„Gestatten Sie eine Frage, Oberst: Wird Ihre Geschichte
+lang werden?“ unterbrach ihn Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma! Aber das ist doch eine wundervolle
+Geschichte, einfach zum Kranklachen! Hör doch nur zu!
+Sie ist gut, bei Gott, sie ist gut!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich höre Ihre Geschichten, wenn sie von dieser Art
+sind, stets mit Vergnügen an,“ sagte Obnoskin, indem
+er sich absichtlich kaum die Mühe gab, ein Gähnen zu
+verbergen.
+</p>
+
+<p>
+„Tja, man wird also wohl zuhören müssen,“ meinte
+Foma resigniert.
+</p>
+
+<p>
+„Aber es lohnt sich, bei Gott, Foma! Ich werde
+Ihnen erzählen, wie ich einmal hereinfiel, Anfissa Petrowna.
+Hör auch du zu, Ssergei: es ist zugleich lehrreich.
+Unser Regiment stand damals in Krasnogorsk,“
+begann mein Onkel, strahlend vor Freude, schnell und
+eilig, mit unzähligen einleitenden Sätzen, wie es nun
+einmal seine Art war, wenn er etwas zur Unterhaltung
+seiner Gäste erzählte. „Kaum waren wir angekommen,
+da ging’s auch schon am selben Abend ins Theater.
+Die Primadonna, Fräulein Kuropatkina, war berückend
+schön. Später entfloh sie mit dem Rittmeister Swerkoff,
+noch bevor sie das Stück zu Ende gespielt hatte. Der
+Vorhang mußte fallen ... Das heißt, dieser Swerkoff
+war eine Bestie, trank und spielte; aber eigentlich war
+er doch kein Trunkenbold, sondern nur so, – immer
+bereit, mit den Kameraden gemütlich zu sein. Wenn er
+dann aber einmal ins Trinken kam, dann vergaß er
+alles: wo er lebte, in welchem Reich, wie er hieß –
+kurz: alles! Im Grunde aber war er ein prächtiger
+Junge ... Nun, ich sitze also im Theater. In der
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+Pause gehe ich hinaus ins Foyer, und da treffe ich
+zufällig meinen früheren Regimentskameraden, Kornuchoff
+... Ein prachtvoller Mensch! Wir hatten uns
+seit sechs Jahren nicht mehr gesehen. Nun, er war im
+Feuer gewesen, mit Kreuzen behängt – jetzt ist er, wie
+ich vor kurzem hörte, schon Wirklicher Staatsrat: er ist
+nämlich in den Staatsdienst übergetreten und wird es
+noch zu hohem Ansehen bringen ... Nun, versteht sich,
+wir freuten uns. Reden dies und das. Neben uns
+aber in der Loge sitzen drei Damen: die eine, die links
+sitzt, hat ein Gesicht, wie die Welt kein fürchterlicheres
+hervorbringen kann ... Später erfuhr ich, daß sie eine
+treffliche Dame war, Familienmutter – was will man
+mehr – hat den Mann glücklich gemacht ... Nun,
+und ich Dummkopf frage Kornuchoff: ‚Sag mal,
+Freund, weißt du nicht, was ist denn das da für eine
+Vogelscheuche?‘ – ‚Wer?‘ – ‚Na, diese dort links!‘ –
+‚Ja so ... das ist meine Cousine.‘ – Pfui Teufel! Man
+denke sich meine Situation! Ich will’s natürlich sofort
+gutmachen: – ‚Nein doch, nicht diese,‘ sage ich, ‚was du
+doch für Augen hast! Diese, die rechts sitzt: wer ist das?‘
+– ‚Das ist meine Schwester.‘ – Verdammte Zucht!
+denke ich. Seine Schwester aber war, wie zum Trotz,
+eine wahre Rosenknospe, ganz allerliebst, und dazu angekleidet:
+Kettchen und Armbänder und Spitzen, – mit
+einem Wort, wie so’n Engelchen. Späterhin heiratete
+sie einen prächtigen jungen Menschen, einen gewissen
+Pychtin; sie war zuerst mit ihm losgezogen und hatte
+sich ungefragt trauen lassen; jetzt aber ist alles, wie es
+sich gehört, leben gut, die Eltern haben ihre Freude an
+ihnen ... Na also –: ‚Nein doch!‘ sage ich unwillig,
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+weiß aber selbst nicht, wo ich mich verkriechen soll,
+‚nicht diese! Ich meine jene, die in der Mitte sitzt, –
+wer ist das?‘ – ‚Tja, in der Mitte – nun, Freund,
+das ist meine Frau ...‘ Unter uns: ein wahrer Leckerbissen,
+aber kein Mensch: ihr Anblick allein war schon
+ein solches Vergnügen, daß man sie am liebsten heil verschluckt
+hätte ... – ‚Nun,‘ sage ich, ‚hast du jemals
+einen Dummkopf gesehen? Dann sieh ihn dir jetzt an;
+hier ist er, und sein Kopf steht dir gleichfalls zur Verfügung:
+köpfe nur zu, brauchst nichts zu bedauern!‘ Er
+lachte. Nach der Aufführung machte er mich mit seinen
+Damen bekannt, und wahrscheinlich hatte der Schlingel
+ihnen schon alles erzählt. Es wurde etwas viel gelacht!
+Aber ich muß sagen, ich habe noch nie so lustig die Zeit
+verbracht. Nun siehst du, Foma, wie man zuweilen
+hereinfallen kann! Ha–ha–ha–ha!“
+</p>
+
+<p>
+Doch vergeblich lachte mein armer Onkel, vergeblich
+blickten seine heiteren treuen Augen im Kreise umher:
+Schweigen war die Antwort auf seine „lustige“ Geschichte.
+Foma Fomitsch saß in finsterer Stummheit da,
+und seinem Beispiel folgten pflichtschuldig alle anderen
+– nur Obnoskin lächelte kaum merklich, da er die Philippika
+voraussah, die meinem armen Onkel bevorstand.
+Dieser wurde etwas verlegen und errötete. Das war
+es, was Foma gewünscht hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Sind Sie nun fertig?“ fragte er endlich feierlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich bin fertig, Foma.“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie freuen sich?“
+</p>
+
+<p>
+„Das heißt ... wieso, Foma? – wie meinst du
+das?“ fragte gleichsam schmerzlich mein Onkel.
+</p>
+
+<p>
+„Ist Ihnen jetzt leichter? Sind Sie jetzt zufrieden,
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+da es Ihnen doch gelungen ist, die angenehme literarische
+Unterhaltung der Freunde zu stören, indem Sie
+sie unterbrachen und so Ihrem kleinlichen Ehrgeiz Genüge
+tun konnten?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber hör doch auf, Foma! Ich wollte euch alle ja
+nur erheitern, du aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Erheitern!“ schrie Foma auf, plötzlich sehr belebt.
+„Sie sind ja nur fähig, einen schwermütig zu machen,
+aber nicht zu erheitern! Zu erheitern! Begreifen Sie
+denn nicht, daß Ihre Erzählung fast unsittlich war? Ich
+sage nicht einmal: unanständig – das versteht sich von
+selbst ... Sie erklärten soeben mit seltener Gefühlsroheit,
+daß Sie über eine Unschuldige gelacht haben,
+über eine geborene Aristokratin, und zwar nur deshalb,
+weil diese nicht die Ehre hatte, Ihnen zu gefallen! Und
+uns, uns wollen Sie veranlassen zu lachen, mit anderen
+Worten: uns wollten Sie verleiten, einer rohen und
+unanständigen Tat Beifall zu spenden, und das alles
+nur deshalb, weil Sie hier der Hausherr sind! Tun Sie,
+was Sie wollen, Oberst, Sie können sich Schmarotzer,
+Speichellecker und Partner jeder Art zusammensuchen,
+Sie können sie sogar aus fernen Landen verschreiben und
+auf diese Weise Ihre Suite vergrößern, zum Nachteil
+der Gesinnungstüchtigkeit und des Edelsinnes aller noch
+reinen Herzen. Niemals aber wird Foma Opiskin
+weder ein Schmeichler, noch ein Speichellecker, noch Ihr
+Gnadenbrotesser sein! Wenn auch sonst nichts, dieses
+aber können Sie mir glauben: dessen versichere ich
+Sie ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma, du hast mich ja gar nicht verstanden,
+Foma!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+„Nein, Oberst, ich bin schon lange hinter Ihr
+wahres Wesen gekommen, ich durchschaue Sie vollkommen.
+An Ihnen nagt grenzenlose Eigenliebe: Sie
+machen Ansprüche auf unübertrefflichen Witz, und Sie
+vergessen, daß Ansprüche den Geist stumpf machen –
+Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen, Foma, laß es doch gut sein!
+Schäm dich doch wenigstens vor den anderen ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es ist doch traurig, so etwas mit ansehen zu
+müssen, Oberst, und wenn man es sieht, kann man nicht
+schweigen. Ich bin arm, ich lebe bei Ihrer Frau
+Mutter. Da könnte man ja glauben, daß ich durch mein
+Schweigen mich bei Ihnen einschmeicheln wollte. Ich
+aber will nicht, daß mich der erste beste <em>Grünschnabel</em>
+für Ihren Gnadenbrotesser hält! Vielleicht
+habe ich vorhin, als ich hier eintrat, absichtlich meine
+wahrheitsliebende Offenheit betont und unterstrichen,
+ich war <em>gezwungen</em>, sie bis zur Grobheit zu treiben,
+eben weil Sie selbst belieben, mich in eine solche Lage
+zu bringen. Sie gehen gar zu anmaßend mit mir um,
+Oberst. So kann man mich ja für Ihren Sklaven,
+Ihren Schmarotzer, Ihren Speichellecker halten! Es
+scheint Ihnen Vergnügen zu bereiten, mich vor <em>Unbekannten</em>
+zu erniedrigen, während ich Ihnen gleichstehe
+– hören Sie? – in jeder Beziehung gleichstehe!
+Vielleicht bin sogar <em>ich</em> es, der Ihnen damit einen
+Dienst erweist, daß ich bei Ihnen lebe ... und es ist
+nicht so, daß <em>Sie</em> mir einen erweisen. Man erniedrigt
+mich, folglich muß ich mich vor Ihnen loben – das ist
+nur natürlich! Ich darf nicht schweigen, ich muß
+sprechen, ich muß unverzüglich protestieren; denn ich
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+erkläre Ihnen offen und einfach, daß Sie phänomenal
+neidisch sind! Sie sehen, zum Beispiel, daß ein Mensch
+in einem einfachen, freundschaftlichen Gespräch unwillkürlich
+sein Wissen, seine Belesenheit, seinen guten
+Geschmack bewiesen hat: und schon ärgern Sie sich, Sie
+ertragen es nicht: ‚Wart, jetzt werde auch ich schnell
+meine Kenntnisse, meinen guten Geschmack zeigen!‘ denken
+Sie sogleich. Aber was haben Sie denn für einen
+Geschmack, mit Erlaubnis zu fragen? Vom Geschmack
+verstehen Sie ebensoviel wie – verzeihen Sie, Oberst
+– wie zum Beispiel, sagen wir, ein Ochs von Rindfleisch!
+Das ist schroff und grob ausgedrückt – ich gebe
+es selbst zu ... aber es ist wenigstens offenherzig und
+gerecht. So etwas würden Sie von Ihren Schmeichlern
+nicht hören, Oberst.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist’s ja: ‚Ach, Foma!‘ Man sieht, die Wahrheit
+ist kein Daunenkissen. Nun gut. Wir werden darauf
+noch später zu sprechen kommen, jetzt aber erlauben Sie
+auch mir einmal, das Publikum zu erheitern. Sie
+können sich doch nicht immer nur allein auszeichnen.
+Pawel Ssemjonytsch! Haben Sie dieses Meerungeheuer
+in Menschengestalt schon gesehen? Ich beobachte ihn
+schon geraume Zeit. Sehen Sie ihn sich nur aufmerksam
+an: er würde mich mit Vergnügen verschlingen,
+lebendig, mit Haut und Haaren!“
+</p>
+
+<p>
+Er sprach von Gawrila. Der alte Diener stand
+an der Tür und hörte allerdings mit tiefem Herzeleid
+zu, wie seinem Herrn „der Kopf gewaschen“
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Auch ich will Sie mit einem Schaustück belustigen,
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+Pawel Ssemjonytsch. – He, du, Krähe, komm her!
+Aber so geruhen Sie doch, sich hierherzubemühen, Gawrila
+Ignatjitsch! Das ist, wie Sie sehen, Gawrila, der
+zur Strafe für seine Grobheit Französisch lernt. Ich
+mildere wie Orpheus die hiesigen Sitten, nur tue ich
+es nicht mit Liedern, sondern mittels der französischen
+Sprache. Nun, mein Franzose, mßjö Schematon –
+er kann es nicht leiden, wenn man mßö Schematon zu
+ihm sagt – hast du deine Aufgabe gelernt?“
+</p>
+
+<p>
+„Habe sie gelernt,“ antwortete Gawrila mit gesenktem
+Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, parleh-wu-franßeh?“
+</p>
+
+<p>
+„Wui mßö, shö-lö-parl-ön-pö ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß nicht, war die traurige Miene Gawrilas
+beim Aussprechen der französischen Phrase die Ursache,
+oder hatten alle den Wunsch Fomas erraten – jedenfalls
+ertönte eine schallende Lachsalve, kaum daß Gawrila
+den Mund aufgetan hatte. Sogar die Generalin
+geruhte zu lachen. Anfissa Petrowna Obnoskina warf
+sich an die Sofalehne zurück und wieherte geradezu, das
+Gesicht mit dem Fächer bedeckt. Gawrila aber, als
+er sah, welche Wendung das Examen nahm, riß die Geduld,
+er spie plötzlich aus und sagte:
+</p>
+
+<p>
+„Daß ich in meinen alten Jahren eine solche
+Schande erleben muß!“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch fuhr auf:
+</p>
+
+<p>
+„Was? Was hast du gesagt? Du läßt es dir einfallen,
+frech zu werden?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma Fomitsch,“ antwortete Gawrila ernst,
+„meine Worte sind keine Frechheit, und mir, dem Leibeigenen,
+steht es nicht zu, gegen Euch, der Ihr als Freier
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+geboren seid, unehrerbietig zu sein. Aber jeder Mensch
+trägt Gottes Geist in sich und ist sein Ebenbild. Ich
+stehe im dreiundsechzigsten Lebensjahr. Mein Vater
+erinnert sich noch Pugatschoffs<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a>, und mein Großvater
+ist mit Matwei Nikititsch – Gott hab ihn selig! –
+also zusammen mit seinem gnädigen Herrn von Pugatschoff
+an ein und demselben Galgen erhängt worden,
+wofür mein Vater vom seligen Herrn Afanassij Matwejitsch
+mehr als alle anderen ausgezeichnet wurde: er
+diente als Kammerdiener und starb als freier Hofbauer.
+Ich aber, Herr, bin wohl nur ein herrschaftlicher Leibeigener,
+aber eine solche Schande, wie jetzt, habe ich
+bis heute noch nicht erlebt!“
+</p>
+
+<p>
+Bei den letzten Worten führte Gawrila seine herabhängenden
+Hände auseinander und senkte den Kopf.
+Mein Onkel sah ihn unruhig an.
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schon gut, Gawrila!“ rief er ihm zu,
+„wozu so viel reden! Schon gut!“
+</p>
+
+<p>
+„Tut nichts, tut nichts,“ sagte Foma, der ein wenig
+erbleicht war und sich zu einem Lächeln zwang. „Mag
+er nur reden: das sind ja doch nur Ihre Früchte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde jetzt einmal alles sagen,“ fuhr Gawrila
+fort, in den plötzlich irgendein Geist gefahren zu sein
+schien, – „alles sagen und nichts beschönigen! Und
+wenn man mir auch die Hände binden wird – meine
+Zunge kann man mir doch nicht binden. Ich weiß, Foma
+Fomitsch, daß ich vor Euch nur ein niedriger Mensch
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+bin, ein Knecht, aber auch ich hab mein Ehrgefühl! Zu
+Dienstbarkeit bin ich Euch für alle Zeit verpflichtet, da
+ich als Unfreier geboren bin und jede Pflicht in Furcht
+gewissenhaft erfüllen muß. Wenn Ihr Euch einschließt,
+um ein Buch zu schreiben, so ist es meine Pflicht, daß
+ich Wache stehe und keinen zu Euch lasse, weil Ihr mir
+das so angesagt und befohlen habt. Und wenn Ihr
+Bedienung verlangt – ich tue alles gern. Nicht aber,
+daß ich in meinen alten Tagen noch wie ein Ausländer
+bellen und vor den Menschen mir solche Schmach und
+Schande antun lassen muß! Wage ich es doch jetzt nicht
+mehr, in die Gesindestube zu gehen: ein Franzose bist du,
+sagen sie mir alle, guten Tag, Herr Franzose! Nein,
+Foma Fomitsch, nicht ich Dummkopf allein, sondern alle
+guten Leute sagen dasselbe: daß Ihr jetzt wahrhaftig
+ein böser Mensch geworden seid, und daß unser Herr
+so gut wie ein kleines Kind zu Euch sind, und daß Ihr,
+wenn Ihr auch von Geburt so viel wie ein Generalssohn
+seid und es vielleicht selbst nicht viel weniger weit als bis
+zum General gebracht habt, so doch ebendasselbe seid,
+was man eine Furie nennt.“
+</p>
+
+<p>
+Gawrila hatte zu Ende geredet. Ich war außer mir
+vor Entzücken. Foma Fomitsch saß bleich und vor Wut
+regungslos da, inmitten der allgemeinen Bestürzung,
+und schien nach diesem unerwarteten Angriff noch nicht
+zur Besinnung kommen zu können. Es war, als überlegte
+er, in welchem Maße er sich ärgern sollte, bis zu
+welchem Grade es richtig wäre, sich zu ärgern. Endlich
+erfolgte der erste Aufschrei.
+</p>
+
+<p>
+„Wie!“ kreischte er auf. „Er hat es gewagt, mich
+zu beschimpfen! – mich! Aber das ist doch Rebellion!“
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+schrie Foma, vom Stuhl emporschnellend, mit der
+Stimme eines alten Weibes.
+</p>
+
+<p>
+Seinem Beispiel folgte sogleich die Generalin: sie
+schlug sogar die Hände zusammen. Mein Onkel bemühte
+sich, den verbrecherischen Gawrila aus dem
+Gesichtskreise zu schaffen.
+</p>
+
+<p>
+„Fesselt ihn, fesselt ihn! Legt ihn in Ketten!“ schrie
+die Generalin. „Laß ihn sofort in die Stadt bringen
+und gib ihn unter die Soldaten, Jegoruschka! Sonst
+versage ich dir meinen Muttersegen! Laß ihm sofort
+Fußfesseln anlegen – und dann unter die Soldaten!“
+</p>
+
+<p>
+„Wie!“ schrie Foma, „dieser Knecht! dieser Chaldäer!
+dieser Hamlet! Er hat sich unterstanden, mich zu
+beschimpfen! Er, er, mein Schuhputzlappen! Er hat es
+gewagt, mich eine Furie zu nennen!“
+</p>
+
+<p>
+Da trat ich plötzlich entschlossen vor.
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß gestehen, in diesem Fall bin ich vollkommen
+derselben Meinung wie Gawrila,“ sagte ich, zitternd
+vor Aufregung, und blickte Foma offen in die
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+Dieses Auftreten meinerseits machte ihn so bestürzt,
+daß er im ersten Augenblick, glaube ich, seinen Ohren
+nicht traute.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll denn das bedeuten!“ brachte er endlich
+hervor, stürzte wie rasend ein paar Schritte vor und
+durchbohrte mich gerader mit seinen kleinen, blutunterlaufenen
+Augen. „Was bist du denn für einer?!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch ...“ wollte mein Onkel, der selbst
+nicht wußte, wo sein Kopf stand, einlenken, „Foma
+Fomitsch, das ist Sserjosha, mein Neffe ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+„Der Gelehrte!“ brüllte Foma auf, „das ist also
+jener <em>Gelehrte</em>! Liberté – Egalité – Fraternité!
+Journal des Débats! Nein, du lügst! Hier ist nicht
+Petersburg, hier kannst du nicht betrügen! Hol der
+Teufel deine Débats! Bei dir heißt es Débats, bei uns
+aber Kabbala! Gelehrter! Ich habe siebenmal mehr
+vergessen, als du überhaupt weißt! Was weißt du denn
+überhaupt?“ ...
+</p>
+
+<p>
+Wenn man ihn nicht gehalten hätte, so würde er
+sich wahrscheinlich mit den Fäusten auf mich gestürzt
+haben.
+</p>
+
+<p>
+„Aber er ist ja betrunken!“ sagte ich, mich im Kreise
+umblickend.
+</p>
+
+<p>
+„Wer? <em>Ich?!</em>“ schrie Foma mit einer noch nie
+gehörten Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Betrunken?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß: betrunken!“
+</p>
+
+<p>
+Das war zu viel für ihn. Er stieß einen Schrei aus,
+als wenn er aufgespießt worden wäre, und stürzte aus
+dem Zimmer. Die Generalin wollte, wie es schien, in
+Ohnmacht fallen, sagte sich aber, daß es besser wäre,
+Foma Fomitsch nachzueilen. Ihr folgten alle anderen,
+– und allen anderen folgte auch mein Onkel. Als ich
+wieder zu mir kam und mich umsah, fand ich im Zimmer
+außer mir nur noch Jeshowikin. Er lächelte und rieb
+sich die Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Von den Jesuiten versprachen Sie mir zu erzählen,“
+sagte er mit einschmeichelnder Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Was?“ fragte ich, da ich nicht begriff, wovon er
+sprach.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+„Von den Jesuiten versprachen Sie vorhin zu erzählen
+... eine Anekdote ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich ließ ihn stehen und eilte hinaus auf die Terrasse
+und von dort in den Garten. In meinem Kopf drehte
+sich alles durcheinander ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-11">
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+<span class="firstline">VIII.</span><br>
+Die Liebeserklärung.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">ohl</span> über eine Viertelstunde irrte ich, aufgebracht
+und äußerst unzufrieden mit mir, im Garten umher.
+Was sollte ich tun? Die Sonne stand schon tief im
+Westen ... Ich bog in eine dunkle Allee ein – und
+plötzlich stand Nastenjka vor mir. In ihren Augen
+blitzten Tränen. In der Hand zusammengeballt hielt sie
+ein Taschentuch.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe Sie gesucht,“ sagte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich Sie,“ antwortete ich. „Sagen Sie, ich
+bitte Sie: bin ich hier in einer Irrenanstalt?“
+</p>
+
+<p>
+„Durchaus nicht!“ war die Antwort. Sie schien
+gekränkt zu sein und sah mich streng an.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wenn es nicht der Fall ist, warum geschieht
+dann das alles? Geben Sie mir doch um Gottes willen
+eine Erklärung, einen Rat! Wohin ist mein Onkel jetzt
+gegangen? Kann ich nicht zu ihm gehen? Es freut mich
+sehr, daß ich Sie getroffen <a id="corr-9"></a>habe, vielleicht werden Sie
+mich wenigstens über einiges aufklären.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, gehen Sie jetzt nicht hin. Ich bin selbst fortgegangen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wo sind sie denn jetzt alle?“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß ich es!? Vielleicht sind sie wieder in den Gemüsegarten
+gelaufen,“ sagte sie gereizt.
+</p>
+
+<p>
+„In welch einen Gemüsegarten?“
+</p>
+
+<p>
+„In der vergangenen Woche schrie Foma Fomitsch,
+daß er nicht mehr in diesem Hause bleiben wolle, und
+plötzlich lief er in den Gemüsegarten, fand im Schuppen
+glücklich einen Spaten und begann Beete zu graben.
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+Wir wunderten uns alle und glaubten schon, daß er verrückt
+geworden sei. ‚Ich werde Erde schaufeln,‘ sagte
+er, ‚damit man mir später nicht vorwerfen kann, daß
+ich umsonst hier gelebt und gegessen habe. Wenn ich
+aber das gegessene Brot mit meiner Hände Arbeit bezahlt
+haben werde, dann werde ich mich aufmachen und
+fortgehen. So weit hat man mich gebracht!‘ Da aber
+weinten alle, und viel fehlte nicht, so wären sie vor ihm
+niedergekniet. Den Spaten wollten sie ihm mit Gewalt
+fortnehmen. Er aber grub und grub drauflos. Alle
+Rüben hat er umgegraben. Ist man ihm damals so begegnet,
+so wird er, denke ich, jetzt vielleicht dasselbe tun.
+Von ihm ist alles zu erwarten.“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie ... Sie erzählen das so kaltblütig!“ rief
+ich in heftigem Unwillen aus.
+</p>
+
+<p>
+Da sah sie mich mit aufblitzenden Augen von der
+Seite an.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie mir: ich weiß eigentlich gar nicht
+mehr, was ich rede! ... Wissen Sie, weshalb ich hergekommen
+bin?“
+</p>
+
+<p>
+„N–ein,“ antwortete sie errötend, und ein gewisses
+peinliches Gefühl spiegelte sich auf ihrem lieblichen
+Gesicht wider.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie mir;“ fuhr ich fort, „ich bin jetzt
+ganz aus dem Konzept gebracht, und ich fühle, daß ich
+nicht in dieser Weise hätte anfangen sollen, davon zu
+sprechen ... namentlich mit Ihnen nicht ... Aber,
+gleichviel! Ich glaube, Offenheit ist in solchen Dingen
+immer das beste. Ich gestehe ... das heißt, ich wollte
+sagen ... Sie kennen doch die Absicht meines Onkels?
+Er wünscht, daß ich um Ihre Hand anhalte ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+„Ach, welch ein Unsinn! Sprechen Sie nicht davon,
+ich bitte Sie!“ unterbrach sie mich heftig, während sie
+heiß errötete.
+</p>
+
+<p>
+Ich war baff.
+</p>
+
+<p>
+„Wieso: – Unsinn? Aber er hat es mir doch geschrieben!“
+</p>
+
+<p>
+„Hat er es Ihnen wirklich so ohne weiteres geschrieben?“
+fragte sie lebhaft. „Ach, er ist doch! ...
+Wie hat er mir dann versprechen können, daß er es
+<em>nicht</em> schreiben werde! ... Welch ein Unsinn! Gott,
+welch ein Unsinn!“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie,“ stotterte ich, da ich nicht wußte,
+was ich sagen sollte. „Vielleicht war es unvorsichtig
+von mir, vielleicht sogar roh ... Aber wer kann denn
+hier, nach diesen Erlebnissen ... Denken Sie doch nur,
+von ... weiß Gott was für Menschen und Plänen wir
+umringt sind ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, um Gottes willen, entschuldigen Sie sich doch
+nicht! Glauben Sie mir, daß es mir ohnehin schwer
+ist, davon reden zu hören; aber ich habe Sie gesucht, um
+von Ihnen etwas zu erfahren ... Ach, wie ärgerlich!
+So hat er es Ihnen also wirklich geschrieben? Das
+fürchtete ich ja am meisten! Mein Gott, was ist denn
+das für ein Mann! ... Und Sie glaubten natürlich
+sofort alles und kamen stehenden Fußes hergefahren?
+Das war gerade noch nötig!“
+</p>
+
+<p>
+Sie verbarg ihren Ärger nicht im geringsten. Meine
+Lage war nichts weniger als beneidenswert.
+</p>
+
+<p>
+„Offen gestanden, ich hatte nicht erwartet ...“
+brachte ich in größter Verwirrung hervor. „Eine solche
+Wendung ... ich glaubte, im Gegenteil ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+„Ah, also Sie glaubten?“ fragte sie mit leichter
+Ironie und biß sich die Lippe. „Wissen Sie – zeigen
+Sie mir den Brief, den er an Sie geschrieben hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie Sie wünschen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber bitte seien Sie mir nicht böse, nehmen Sie
+es mir nicht übel! Es gibt ja auch ohnehin schon Leid
+genug!“ fuhr sie mit bittender Stimme fort, doch erschien
+schon wieder ein spöttisches Lächeln flüchtig auf
+ihren reizenden Lippen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, halten Sie mich bitte nicht für so dumm!“
+rief ich leidenschaftlich aus. „Sie sind vielleicht voreingenommen
+gegen mich? Vielleicht hat Ihnen jemand
+Schlechtes von mir erzählt? – Oder vielleicht – weil
+ich dort heute so schlecht abgeschnitten habe? Aber das
+ist ja nichts, – ich versichere Sie! Ich begreife sehr
+gut, für wie dumm Sie mich jetzt halten müssen. Aber
+lachen Sie, bitte, nicht über mich! Ich weiß nicht, was
+ich rede ... Aber das kommt ja alles nur daher, daß
+ich in diesem verwünschten Alter von zweiundzwanzig
+Jahren stehe!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, mein Gott, was hat das damit zu tun?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, was das damit zu tun hat? Aber wer zweiundzwanzig
+Jahre alt ist, dem steht ja die Jugend noch
+auf der Stirn geschrieben! Zum Beispiel wie mir, als
+ich vorhin so wider Willen in die Mitte des Zimmers
+flog, oder wie jetzt ... hier vor Ihnen ... Oh, dieses
+verwünschte Alter!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, nein, nein!“ beteuerte Nastenjka, die sich kaum
+das Lachen verbeißen konnte. „Ich bin überzeugt, daß
+Sie ein guter, lieber und kluger Mensch sind. – Sie
+können mir glauben, daß ich es aufrichtig meine!
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+Aber ... Sie sind nur sehr ... ehrgeizig, sehr ...
+eigenliebig. Doch das kann man sich ja noch abgewöhnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, daß ich nicht ehrgeiziger als nötig bin!“
+</p>
+
+<p>
+„N ... das doch wohl nicht. Was war es denn vorhin,
+als Sie so verlegen wurden – und weshalb? Weil
+Sie beim Eintritt gestolpert waren! ... Welches Recht
+hatten Sie da, Ihren guten Onkel, der so viel für Sie
+getan hat, lächerlich zu machen? Warum wollten Sie
+das Lächerliche auf ihn abwälzen, während Sie selbst
+lächerlich waren? Das war schlecht, das war häßlich
+von Ihnen! Das machte Ihnen wahrlich keine Ehre
+und – ich sage es Ihnen ganz offen – Sie waren mir
+in jenem Augenblick sehr unsympathisch – jawohl, damit
+Sie’s wissen!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben recht! Ich war ein großer Esel! Sogar
+mehr als das: ich beging einfach eine Gemeinheit!
+Meine Strafe dafür ist – daß Sie es bemerkt haben!
+Schelten Sie mich, lachen Sie über mich, aber hören
+Sie mich an: vielleicht werden Sie Ihre Meinung von
+mir doch einmal ändern,“ fuhr ich fort, beherrscht von
+einem ganz eigenartigen Gefühl; „Sie kennen mich noch
+so wenig, daß Sie später, wenn Sie mich näher kennen
+gelernt haben werden, vielleicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes willen, lassen wir dieses Gespräch!“
+unterbrach mich Nastenjka mit sichtlicher Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut, lassen wir es! Aber ... wo kann ich
+Sie wiedersehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das – wo wiedersehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es kann doch nicht sein, daß wir jetzt hier das
+letzte Wort miteinander gesprochen haben sollen,
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+Nastassja Jewgrafowna! Ich flehe Sie an, mir zu
+sagen, wo und wann ich Sie wiedersehen kann, wenn
+möglich heute noch! Übrigens nein, es dunkelt ja schon.
+Nun, dann also, wenn es irgend geht, morgen früh, so
+früh wie möglich ... Ich werde mich früher wecken
+lassen. Wissen Sie, dort am Weiher ist eine Laube.
+Ich entsinne mich ihrer noch sehr gut und ich werde
+auch schon den Weg dorthin finden. Ich habe ja als
+kleiner Junge hier gelebt.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wozu dieses Rendezvous? Wir sprechen doch
+schon miteinander!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich weiß ja vorläufig noch nichts, Nastassja
+Jewgrafowna! Ich muß vorher noch mit meinem Onkel
+reden. Er muß mir doch endlich alles erzählen, und
+dann werde ich Ihnen vielleicht etwas sehr Wichtiges
+sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein! Das ist nicht nötig, gar nicht nötig!“
+rief Nastenjka aus. „Lassen Sie es uns jetzt zu einem
+Ende bringen, aber so, daß wir später kein Wort mehr
+darüber zu verlieren brauchen. In jene Laube aber bemühen
+Sie sich nicht. Ich versichere Sie, daß ich nicht
+kommen werde. Bitte, schlagen Sie sich doch diesen
+ganzen Unsinn aus dem Kopf – ich bitte Sie allen
+Ernstes darum ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dann ist ja mein Onkel verrückt gewesen, als er
+jenen Brief schrieb!“ rief ich in unerträglichem Ärger
+aus. „Warum hat er mich denn hergerufen? Doch
+– Hören Sie? – Was ist das für ein Geschrei?“
+</p>
+
+<p>
+Wir waren nicht weit vom Hause stehen geblieben.
+Aus den offenen Fenstern drangen Gekreisch und ganz
+absonderliche Schreie in den Garten.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+„Mein Gott!“ sagte sie erbleichend, „schon wieder!
+Ich ahnte es ja!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie ahnten es? Gestatten Sie mir noch eine Frage,
+Nastassja Jewgrafowna? Ich habe allerdings nicht das
+geringste Recht, sie zu stellen, aber des allgemeinen
+Wohles wegen entschließe ich mich dazu. Sagen Sie
+– es soll in mir begraben sein – sagen Sie mir ganz
+offen: ist mein Onkel in Sie verliebt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach glauben Sie doch, bitte, nicht an solchen Unsinn!“
+rief sie heftig aus und errötete vor Unwillen.
+„Nun fangen auch Sie damit an! Wenn er mich lieben
+würde, so hätte er mich doch nicht Ihnen angeboten,“
+fügte sie mit bitterem Lächeln hinzu. „Und wie kommen
+Sie überhaupt darauf? Begreifen Sie denn wirklich
+nicht, um was es sich hier handelt? Hören Sie dieses
+Geschrei?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... das ist ja Foma Fomitsch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich Foma Fomitsch! Jetzt streiten sie sich
+dort um meinetwillen; denn sie sagen ja dasselbe, was
+Sie soeben sagten, denselben Unsinn: sie argwöhnen,
+daß er in mich verliebt sei! Und da ich arm und gering
+bin, und es folglich nichts kostet, mich mit Schmutz zu
+bewerfen, so wollen sie ihn mit einer anderen verheiraten
+– und daher verlangen sie, daß er mich zur Sicherheit
+nach Haus, zu meinem Vater schicke. Wenn man ihm
+aber damit kommt, so gerät er sofort außer sich – ich
+glaube, er wäre sogar fähig, Foma Fomitsch zu zerreißen.
+Und nun streiten sie sich wieder darum! Ich
+fühle es, daß es sich wieder um mich handelt.“
+</p>
+
+<p>
+„So ist also alles wahr? Dann wird er diese
+Tatjana heiraten?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+„Was für eine Tatjana?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dieses verrückte Frauenzimmer.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie, Tatjana Iwanowna ist durchaus
+nicht verrückt! Sie ist ein sehr guter Mensch. Und Sie
+haben kein Recht, so von ihr zu sprechen! Sie hat ein
+edles Herz, ein edleres, als es manch einer hat. Sie ist
+nicht schuld daran, daß sie unglücklich ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie. Nehmen wir an, daß Sie hierin
+vollkommen recht haben; aber täuschen Sie sich dann
+nicht in der Hauptsache? Wie kommt es denn, sagen
+Sie doch, – daß zum Beispiel Ihr Herr Vater, wie ich
+bemerkt habe, so freundlich von ihnen empfangen wird!
+Denn – wenn sie sich wirklich dermaßen über Sie
+ärgerten, wie Sie versichern, und wenn man Sie sogar
+aus dem Hause schicken wollte, dann würde man sich
+doch auch über ihn ärgern und ihn schlecht empfangen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber haben Sie denn nicht gesehen, was mein
+Vater für mich tut? Er erniedrigt sich doch bis zum
+Narren vor ihnen! Er wird nur deshalb empfangen,
+weil er Foma Fomitsch schmeichelt; da dieser Foma Fomitsch
+selbst eine Narrenrolle gespielt hat, so freut es
+ihn, wenn nun auch er seine Narren hat. Was glauben
+Sie denn, warum mein Vater es tut? – Nur um
+meinetwillen, einzig und allein für mich tut er es! Er
+hat es nicht nötig, seinetwegen wird er keinem einen
+unnützen Bückling machen. Vielleicht erscheint er manchem
+sehr lächerlich; ich weiß aber, daß er der ehrenhafteste
+und edelste Mensch ist. Er glaubt, weiß Gott
+aus welchem Grunde – jedenfalls aber nicht deshalb,
+weil ich hier ein gutes Gehalt bekomme – das schwöre
+ich Ihnen ...! er glaubt, daß es für mich besser sei,
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+wenn ich in diesem Hause bleibe. Aber jetzt habe ich
+ihn vom Gegenteil überzeugt. Ich hatte ihm in sehr
+bestimmtem Ton geschrieben; und deshalb ist er heute
+hergekommen, um mich mitzunehmen. Und wenn es
+darauf ankommt, so fahre ich morgen fort. Ich bin ja
+doch schon zum Äußersten getrieben. Die da – die
+würden froh sein, wenn sie mich verschlingen könnten.
+Ich weiß, daß ich die Ursache ihres Streites bin. Sie
+zermalmen <em>ihn</em> nur deswegen, und nur weil ich hier
+bin, werden sie <em>ihn</em> unglücklich machen! <em>Er</em> aber ist
+mir ein zweiter Vater, hören Sie! – sogar mehr als
+mein leiblicher Vater! Ich will es nicht so weit kommen
+lassen. Ich sehe weiter voraus als andere; denn ich
+weiß mehr. Nein, morgen, morgen noch werde ich fortfahren!
+Vielleicht werden sie dann wenigstens seine
+Hochzeit mit Tatjana Iwanowna auf einige Zeit noch
+hinausschieben ... Jetzt habe ich Ihnen alles gesagt.
+Und nun sagen Sie ihm das wieder; denn ich kann jetzt
+nicht mehr mit ihm sprechen: wir werden beobachtet ...
+von der Perepelizyna. Sagen Sie <em>ihm</em>, daß er sich
+nicht beunruhigen soll, daß ich lieber schwarzes Brot
+essen und in der Hütte meines Vaters leben, als die
+Ursache <em>seiner</em> Folter sein will. Ich bin arm und
+folglich muß ich auch so leben wie Arme. Aber, Gott,
+welch ein Geschrei! Was mag dort wieder vor sich
+gehen? ... Nein, was daraus auch entstehen mag, ich
+gehe hin! Ich werde ihnen alles offen ins Gesicht
+sagen, gleichviel, was dann geschieht! Ich muß es tun!
+Leben Sie wohl.“
+</p>
+
+<p>
+Sie lief fort. Ich stand immer noch auf demselben
+Fleck, war mir vollkommen der Lächerlichkeit der Rolle,
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+die ich soeben gespielt hatte, bewußt und konnte mir
+nicht denken, wie sich der Knoten lösen sollte. Das
+arme Mädchen tat mir aufrichtig leid, und ich fürchtete
+für meinen Onkel. Da bemerkte ich plötzlich, daß
+Gawrila vor mir stand. Er hielt immer noch sein
+Vokabelheft in der Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Jegor Iljitsch lassen bitten,“ sagte er mit wehmütiger
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Da kam ich wieder zur Besinnung.
+</p>
+
+<p>
+„Wie – ich soll zu meinem Onkel? Wo ist er jetzt?
+Was ist mit ihm geschehen? Wo ist er?“
+</p>
+
+<p>
+„Im Teezimmer.“
+</p>
+
+<p>
+„Und wer ist bei ihm?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind allein und warten.“
+</p>
+
+<p>
+„Auf wen? Auf mich?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben nach Foma Fomitsch geschickt ... Ach
+ja! unsere guten Tage sind jetzt gewesen!“ fügte er tief
+aufseufzend hinzu.
+</p>
+
+<p>
+„Nach Foma Fomitsch? Hm! Aber wo sind die
+anderen? Wo ist die Gnädige?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind in ihrer Hälfte. Sie geruhten, in Ohnmacht
+zu fallen, und jetzt liegen sie bewußtlos da und
+weinen.“
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen hatten wir die Terrasse erreicht. Es war
+fast schon ganz dunkel. Mein Onkel war tatsächlich
+ganz allein im Teesalon und ging in ihm mit großen
+Schritten auf und ab. Auf dem Tisch brannten Lichter.
+Als er mich erblickte, eilte er mir entgegen und erfaßte
+meine Hände. Er war bleich und atmete schwer. Seine
+Hände bebten. Von Zeit zu Zeit lief ein nervöses
+Zucken über seinen ganzen Körper.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-12">
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+<span class="firstline">IX.</span><br>
+„Ew. Exzellenz.“
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Freund! Alles ist zu Ende, alles ist zu Ende!“
+sagte mein Onkel halblaut mit einer fast tragischen
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Onkel ... ich hörte vorhin eigentümliche Schreie.“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, Freund, eigentümliche Schreie, – hier hat
+es alle möglichen Schreie gegeben! Mama ist in Ohnmacht
+gefallen, und dort steht jetzt alles auf dem Kopf.
+Aber ich habe mich entschlossen und bestehe auf dem
+meinen. Jetzt fürchte ich nichts mehr, Ssergei. Ich
+will ihnen beweisen, daß auch ich Charakter habe, und
+ich werde es beweisen! Darum habe ich absichtlich nach
+dir geschickt, damit du mir hilfst, es ihnen zu beweisen
+... Mein Herz ist wund, mein junger Freund
+... aber ich muß! Es ist geradezu meine Pflicht, mit
+aller Strenge vorzugehen! Gerechtigkeit ist unerbittlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was ist denn vorgefallen, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich trenne mich von Foma,“ antwortete mein
+Onkel mit entschlossener Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Onkel!“ rief ich begeistert aus, „auf etwas Besseres
+hätten Sie ja überhaupt nicht verfallen können!
+Und wenn ich nur irgendwie zur Ausführung Ihres
+Entschlusses beitragen kann, so ... verfügen Sie ewig
+über mich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich danke dir, Freund, ich danke dir! Aber jetzt
+ist alles beschlossen. Ich erwarte Foma. Ich habe schon
+nach ihm geschickt. Entweder er oder ich! Wir müssen
+auseinandergehen. Entweder verläßt Foma morgen
+das Haus, oder – ich schwöre es – ich verlasse hier
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+alles und trete wieder in mein Husarenregiment ein!
+Mich wird man schon nehmen. Man wird mir schon
+einen Platz geben! Zum Teufel mit diesem ganzen
+System! Jetzt geht es nach neuen Grundsätzen! ...
+Wozu hältst du da noch immer dein französisches Heft
+in der Hand?“ schrie er plötzlich heftig den alten
+Gawrila an. „Fort damit! Verbrenn es, zerstampf es,
+zerreiß es! <em>Ich</em> bin dein Herr, und <em>ich</em> befehle dir,
+französisch nicht zu lernen! <em>Mir</em> mußt du gehorchen;
+denn <em>ich</em> bin dein Herr und nicht Foma Fomitsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Gott sei gelobt und gedankt!“ murmelte Gawrila
+vor sich hin.
+</p>
+
+<p>
+Die Sache schien wirklich ernst zu werden.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ fuhr mein Onkel mit tiefem Gefühl
+fort, „sie verlangen Unmögliches von mir! Du
+sollst mich richten, du sollst jetzt zwischen ihnen und mir
+wie ein unparteiischer Richter stehen ... Du weißt
+nicht, du weißt nicht, was sie von mir wollten, und
+was sie schließlich ganz ausdrücklich bereits von mir
+verlangten! Jetzt haben sie alles offen ausgesprochen!
+Aber das ist wider die Nächstenliebe, wider Anstand und
+Ehre ... Ich werde dir alles erzählen, aber zuerst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß bereits alles, Onkel,“ unterbrach ich ihn,
+„oder ich errate es wenigstens ... Ich habe soeben
+mit Nastassja Jewgrafowna gesprochen.“
+</p>
+
+<p>
+„Freund, kein Wort, jetzt kein Wort davon!“ unterbrach
+er mich eilig, als hätte ich ihn erschreckt. „Ich
+werde dir später alles selbst erzählen, aber vorläufig ...
+Nun was?“ rief er den eingetretenen Widopljässoff an,
+„wo ist Foma Fomitsch?“
+</p>
+
+<p>
+Widopljässoff meldete, daß Foma Fomitsch „nicht
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+zu kommen wünschten und die Forderung, zu erscheinen,
+unerhört beleidigend fänden, so daß sie, Foma Fomitsch,
+sich sehr gekränkt zu fühlen geruhten“.
+</p>
+
+<p>
+„Bring ihn her! Schlepp ihn an! Her mit ihm!
+Mit Gewalt schleif ihn her!“ schrie mein Onkel, und er
+stampfte mit dem Fuß auf.
+</p>
+
+<p>
+Widopljässoff, der seinen Herrn noch nie in einem
+solchen Zorn gesehen hatte, zog sich erschreckt zurück. Ich
+wunderte mich.
+</p>
+
+<p>
+„Dann muß es sich doch um etwas sehr Wichtiges
+handeln,“ dachte ich, „wenn ein Mensch mit einem so
+weichen Charakter in eine solche Wut geraten kann und
+so energisch seinen Entschluß durchsetzen will.“
+</p>
+
+<p>
+Schweigend ging mein Onkel eine Weile auf und
+ab, als kämpfe er innerlich mit sich selbst.
+</p>
+
+<p>
+„Du, zerreiß übrigens nicht das Heft,“ sagte er
+schließlich zu Gawrila. „Wart noch etwas und bleibe
+auch hier: du wirst vielleicht nötig sein. Freund!“ fuhr
+er fort, sich wieder an mich wendend, „ich bin, glaube
+ich, doch etwas zu laut gewesen. Jede Sache muß man
+würdig und männlich tun, und ohne zu schreien, ohne
+Beleidigungen. Ja, so muß man’s tun. Weißt du,
+Ssergei: würde es nicht besser sein, wenn du so lange
+fortgingst? Dir kann es doch gleichgültig sein, nicht?
+– denn ich werde dir später ja doch alles erzählen –
+was? Was meinst du? tu es mir zuliebe, bitte!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie fürchten sich, Onkel? Sie bereuen es?“ fragte
+ich und sah ihn aufmerksam an.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, mein Freund, ich bereue nichts!“ rief
+er mit doppelter Lebhaftigkeit aus. „Jetzt fürchte ich
+nichts mehr. Ich habe entscheidende Maßregeln getroffen,
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+die entscheidendsten! Du weißt nicht, du kannst
+es dir nicht vorstellen, was sie von mir verlangt haben!
+Hätte ich denn wirklich einwilligen sollen? Nein, ich
+werde es beweisen! Ich habe mich frei gemacht und
+werde es beweisen! Irgendeinmal hätte ich es doch
+beweisen müssen! Aber, weißt du, Freund, ich bereue es,
+daß ich dich habe rufen lassen: es könnte Foma sehr
+schwer werden ... wenn auch du zugegen bist ...
+sozusagen als Zeuge seiner Erniedrigung. Sieh mal,
+ich will ihm in einer anständigen Form meine Gastfreundschaft
+kündigen, aber ohne jede Beleidigung oder
+Erniedrigung. Aber, sieh, das kann ich doch nur so
+sagen, bloß sagen, daß ich es ohne Beleidigung tun will;
+denn die Sache an sich, Freund, ist und bleibt doch derart,
+daß sie, auch wenn du sie mit noch so honigsüßen
+Worten ausschmückst, immerhin kränkt. Und dazu bin
+ich noch ein roher, ungebildeter Mensch; da kann es
+denn geschehen, daß ich aus Dummheit irgend etwas
+sage, worüber ich mein Lebtag nicht wieder froh sein
+werde. Er hat doch immerhin viel für mich getan ...
+Geh, Freund, bitte! ... Da kommt er schon, da bringt
+man ihn schon! Ssergei, ich bitte dich, geh fort! Ich
+werde dir später alles erzählen. Geh, um Christi willen,
+geh!“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel schob mich auf die Terrasse hinaus
+– fast im selben Augenblick, als Foma ins Zimmer trat.
+</p>
+
+<p>
+Doch nun muß ich eines gestehen: Ich ging nicht
+fort: ich beschloß, auf der Terrasse zu bleiben, wo man
+mich in der Dunkelheit, vom Zimmer aus, kaum sehen
+konnte: ich nahm mir vor, zu lauschen!
+</p>
+
+<p>
+Ich will meine Handlungsweise nicht weiter zu
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+rechtfertigen suchen; aber ich darf wohl sagen, daß ich,
+indem ich diese halbe Stunde dort auf der Terrasse aushielt,
+ohne die Geduld zu verlieren und ins Zimmer zu
+stürzen – die Heldentat eines Märtyrers vollbrachte.
+Von meinem Versteck aus konnte ich nicht nur gut hören,
+ich konnte auch das ganze Zimmer übersehen: ich war
+ja nur durch eine Glastür von ihnen getrennt.
+</p>
+
+<p>
+Jetzt bitte ich nur, sich einen Foma Fomitsch vorzustellen,
+dem <em>befohlen</em> worden war, zu erscheinen
+– und das noch mit der Androhung sofortiger Gewaltanwendung,
+falls er nicht freiwillig kommen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„War es für meine Ohren bestimmt, diese Drohung
+zu vernehmen, Oberst?“ brüllte Foma, als er ins
+Zimmer trat. „Habe ich recht gehört?“
+</p>
+
+<p>
+„Für deine, für deine Ohren, Foma, beruhige dich,“
+antwortete mein Onkel mutig. „Setz dich, laß uns einmal
+ernst, freundschaftlich, brüderlich miteinander reden.
+Setz dich doch, Foma.“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch ließ sich feierlich auf einen Lehnstuhl
+nieder. Mein Onkel ging mit schnellen, ungleichen
+Schritten im Zimmer auf und ab, offenbar wußte er
+nicht, wie er anfangen sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Eben brüderlich,“ wiederholte er. „Du wirst mich
+verstehen, Foma, du bist kein Kind. Ich bin auch kein
+Kind – mit einem Wort, wir sind beide in den Jahren
+... Hm! Sieh, Foma, wir stimmen in manchen
+Punkten nicht ganz überein ... ja, eben in manchen
+Punkten, und darum, Foma – sollte es da nicht besser
+sein, Freund, wenn wir auseinandergingen? Ich bin
+überzeugt, daß du edelmütig bist, daß du mein Bestes
+willst, und darum ... Aber wozu soviel Worte! Foma,
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+ich werde ewig dein Freund sein, ich schwöre es dir bei
+allem, was mir heilig ist! Hier sind fünfzehntausend
+Rubel, das ist alles, Freund, was ich habe flüssig
+machen können, habe das Letzte zusammengescharrt und
+noch den Meinen abgenommen. Nimm es ruhig! Ich
+muß, ich bin verpflichtet, dich sicherzustellen! Hier ist
+der Betrag, fast nur in Kassenscheinen. Nimm es ruhig!
+Du wirst mir deshalb nichts schulden; denn ich werde
+dir ja sowieso niemals all das entgelten können, was
+du für mich getan hast. Ja, ja, eben, ich fühle es, wenn
+wir auch jetzt im Hauptpunkte auseinandergehen. Morgen
+oder übermorgen ... oder wann es dir recht ist ...
+gehen wir auseinander. Fahr in unser Städtchen,
+Foma, es ist ja nicht weit von hier, einige zehn Werst
+nur. Dort ist ein Häuschen neben der Kirche, gleich
+in der ersten Querstraße, mit grünen Läden und weißen
+Fensterrahmen, ein allerliebstes Häuschen. Es gehört
+der Witwe des früheren Geistlichen, es ist für dich wie
+geschaffen. Sie will es verkaufen. Ich werde es für
+dich erstehen, natürlich nicht von diesem Gelde. Richte
+dich dort gemütlich ein, nicht weit von uns. Beschäftige
+dich mit der Literatur, mit der Wissenschaft: du
+wirst berühmt werden ... Die Beamten sind dort im
+Städtchen ohne Ausnahme ehrenwerte, freundliche, uneigennützige
+Leute. Der Geistliche ist ein gelehrter
+Mann. Zu den Feiertagen kommst du zu uns gefahren,
+zum Besuch – und wir leben wie im Paradiese! Bist
+du einverstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Also unter solchen Zugeständnissen wird Foma aus
+dem Hause geschafft!“ dachte ich. „Vom Gelde hat er
+mir nichts gesagt.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+Lange Zeit herrschte tiefe Stille. Foma saß wie betäubt
+im Lehnstuhl und blickte unverwandt meinen
+Onkel an, der sich unter diesem Schweigen und diesem
+Blick augenscheinlich sehr unbehaglich fühlte.
+</p>
+
+<p>
+„Geld!“ hauchte schließlich Foma mit einer gemacht
+schwachen Stimme. „Wo ist es denn, wo ist denn
+dieses Geld? Geben Sie es her, geben Sie es nur
+schneller her!“
+</p>
+
+<p>
+„Hier ist es, Foma: alles, was ich in bar habe, rund
+fünfzehntausend, alles, was ich habe auftreiben können.
+In Banknoten und Wertpapieren – du wirst schon
+selbst sehen ... hier!“
+</p>
+
+<p>
+„Gawrila! Nimm dieses Geld,“ sagte Foma
+demütig, „es kann dir, Alter, einmal zustatten kommen.
+– Doch nein!“ rief er plötzlich mit einer Stimme aus,
+in der noch ein ganz besonderer kreischender Ton mitklang,
+und er sprang auf – „nein! Gib es mir zurück,
+Gawrila! Gib es mir, dieses Geld! Gib es mir! Gib
+mir diese Millionen, damit ich sie mit meinen Füßen in
+den Staub trete, gib sie mir, damit ich sie zerreiße, bespeie,
+in alle Winde zerstreue, beschmutze, schände! ...
+Mir, mir bietet man Geld an! Man will mich – bestechen,
+damit ich dieses Haus verlasse! Habe ich recht
+gehört? Darf ich meinen Ohren trauen? Warum mußte
+ich noch diese Schmach erleben! Hier, hier sind sie, Ihre
+Millionen! Sehen Sie: hier, hier, hier und hier! Sehen
+Sie: so handelt Foma Opiskin, wenn Sie es bis jetzt
+noch nicht gewußt haben, Oberst!“
+</p>
+
+<p>
+Und Foma streute das ganze Geld auf dem Fußboden
+aus. Bemerkenswert war nur, daß er keine einzige
+Banknote weder zerriß noch bespie, wie er es zuerst
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+angekündigt hatte, er verknitterte sie nur ein wenig,
+und auch das tat er ersichtlich ziemlich vorsichtig. Gawrila
+stürzte sofort hinzu, um das Geld aufzusammeln,
+das er dann später, nach Fomas Fortgang, seinem
+Herrn wieder einhändigte.
+</p>
+
+<p>
+Diese Handlungsweise Fomas machte meinem Onkel
+buchstäblich starr vor Verwunderung. Er stand unbeweglich,
+verständnislos, mit halboffenem Munde vor
+Foma. Dieser hatte sich inzwischen wieder auf seinen
+Lehnstuhl niedergelassen und atmete keuchend, ganz als
+befände er sich in unbeschreiblicher Aufregung.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ein erhabener Mensch, Foma!“ rief endlich
+mein Onkel aus, wie aus einem Traum erwachend.
+„Du bist der edelste Mensch der Welt!“
+</p>
+
+<p>
+„Das weiß ich,“ antwortete Foma mit ergebener
+Stimme, doch mit unendlicher Würde.
+</p>
+
+<p>
+„Foma, vergib mir! Ich bin ein Schuft vor dir,
+Foma!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, vor mir,“ bestätigte Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Hör, Foma, nicht über deinen Edelmut wundere
+ich mich,“ fuhr mein Onkel begeistert fort, „sondern darüber,
+daß ich dermaßen roh, blind und niedrig sein
+konnte, dir Geld unter solchen Bedingungen anzubieten.
+Aber, Foma, nur in einem täuschst du dich: ich habe dich
+nicht bestechen wollen, nicht dir dafür <em>zahlen</em> wollen,
+wenn du das Haus verließest, sondern ich wollte nur,
+daß du Geld hättest, daß du nicht Not zu leiden brauchtest,
+wenn du von mir fortgingst. Das schwöre ich dir!
+Auf den Knien, auf den Knien bin ich bereit, dich um
+Verzeihung zu bitten, Foma, und wenn du willst, werde
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+ich sogleich vor dir niederknien ... wenn du nur
+willst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich brauche Ihr Knien nicht, Oberst! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Gott! ... Foma, du mußt doch verstehen:
+ich war doch aufgebracht, war von Sinnen, war
+außer mir ... Aber so sage mir, womit ich diese Kränkung
+wieder gutmachen könnte? Belehre mich, sag es
+doch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mit nichts, mit nichts Oberst! Und seien Sie überzeugt,
+daß ich morgen noch, auf der Schwelle dieses
+Hauses, den Staub von meinen Füßen schütteln werde.“
+</p>
+
+<p>
+Und Foma begann sich langsam aus dem tiefen
+Lehnstuhl zu erheben. Als mein Onkel das sah, stürzte
+er entsetzt zu ihm und versuchte ihn wieder zum Sitzen
+zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma, du wirst nicht fortgehen, ich flehe
+dich an! Was redest du da von Staub und Füßen,
+Foma! Du wirst nicht fortgehen, oder ich folge dir bis
+ans Ende der Welt und werde dir so lange folgen,
+bis du mir endlich verzeihst ... Ich schwör dir, Foma,
+daß es so sein wird!“
+</p>
+
+<p>
+„Ihnen verzeihen?“ fragte Foma, „aber begreifen
+Sie denn noch immer nicht Ihre ganze Schuld vor mir?
+Begreifen Sie denn nicht, daß Sie mit jedem Stück
+Brot, daß Sie mir hier gegeben haben, schuldig vor
+mir geworden sind? Begreifen Sie denn nicht, daß Sie
+in dieser einen Minute alle jene Brotstücke, die ich
+früher hier in diesem Hause gegessen habe, nachträglich
+mit Gift vergiftet haben? Sie haben mir soeben einen
+Vorwurf wegen dieser Brotstücke gemacht, wegen jedes
+Bissens, den ich hier zu mir genommen! Sie haben mir
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+soeben gezeigt, daß ich hier in Ihrem Hause wie ein
+Knecht, wie ein Diener, wie ein Putzlappen Ihrer Lackstiefel
+gelebt habe! Währenddessen habe ich in meiner
+Herzensreinheit bis jetzt geglaubt, daß ich in Ihrem
+Hause als Freund, als Bruder lebte! Haben Sie mich
+nicht selbst, nicht selbst mit Ihren Schlangenreden tausendmal
+dieser Brüderschaft versichert? Warum haben
+Sie denn heimlich hinter meinem Rücken diese Netze
+gestrickt, in denen ich nun wie ein Tölpel gefangen bin?
+Warum haben Sie mir in der Dunkelheit diese Wolfsgruben
+gegraben, in die Sie mich jetzt noch eigenhändig
+hineinstoßen? Warum haben Sie mich nicht mit einem
+einzigen, kurzen Schlage niedergestreckt, mit einem
+Schlage dieser Keule? Warum haben Sie mir nicht
+gleich zu Anfang den Kopf umgedreht, wie einem Hahn,
+zur Strafe dafür, daß er ... nun, sagen wir, keine Eier
+legt? Ja, gerade so verhält es sich! Ich bestehe auf
+diesem Vergleich, Oberst, wenn er auch dem Provinzleben
+entnommen ist und durch seinen trivialen Ton an
+die zeitgenössische Literatur erinnert: ich bestehe deshalb
+auf ihm, weil er so anschaulich die ganze Sinnlosigkeit
+Ihrer Beschuldigungen zeigt; denn ich bin vor Ihnen
+genau so wenig schuldig wie dieser Hahn, der durch
+seine Unfähigkeit zum Eierlegen den Unwillen seines
+leichtsinnigen Besitzers erregt. Ich bitte Sie, Oberst!
+– zahlt man denn einem Freunde, einem Bruder Geld
+– und wofür noch? Die Hauptsache ist doch dieses:
+wofür! ‚Hier, nimm, mein geliebter Bruder, ich schulde
+dir viel: du hast sogar mein Leben gerettet; hier hast du
+ein paar Judassilberlinge, aber pack dich jetzt aus meinem
+Hause!‘ Wie naiv! Wie roh Sie mich behandelt
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+haben! Sie glaubten, daß ich nach Ihrem Golde trachtete,
+während ich nur paradiesische Gefühle nährte und
+mich um Ihr Wohlergehen sorgte. Oh, wenn Sie
+wüßten, wie Sie mein Herz verwundet haben! Mit
+meinen edelsten Gefühlen haben Sie gespielt wie ein
+Knabe mit einem Käfer, den er durchbohrt! Schon
+lange, schon lange, Oberst, habe ich das jetzt Eingetroffene
+vorausgesehen. Das war auch der Grund,
+warum ich schon lange an Ihrem Brot zu ersticken
+meinte, warum dieses Brot mir innere Pein verursachte!
+Das ist auch der Grund, warum Ihre Daunenkissen mich
+drückten, ja, mich drückten, statt mir ein weiches Lager
+zu sein! Das war der Grund, weshalb Ihr Zucker,
+Ihre Konfitüren mir wie Pfeffer schmeckten, nicht aber
+wie Süßigkeiten! Nein, Oberst! Leben Sie hinfort
+allein, seien Sie allein selig und lassen Sie Foma einsam
+seinen traurigen Weg gehen, mit einem kleinen Kleiderbündel
+auf dem Rücken. So wird es sein, Oberst!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma, nein! So wird es nicht sein, so kann
+es nicht sein!“ stöhnte mein unglücklicher Onkel.
+</p>
+
+<p>
+„Doch, Oberst, doch! Gerade so wird es sein; denn
+so <em>muß</em> es sein. Morgen noch werde ich Sie verlassen.
+Breiten Sie alle Ihre Millionen aus, bedecken Sie die
+ganze Landstraße bis Moskau mit Banknoten – ich
+werde stolz und verachtend über Ihr Geld dahinschreiten!
+Hier, dieser selbe Fuß, Oberst, wird diese Banknoten
+zertreten, in den Schmutz treten, und Foma Opiskin
+wird einzig von seinem Seelenadel satt sein! Ich
+habe es gesagt und – bewiesen! Leben Sie wohl,
+Oberst! Le–ben – Sie wohl, Oberst!“
+</p>
+
+<p>
+Und Foma begann von neuem sich zu erheben.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+„Verzeih mir, Foma, vergib mir! Vergiß, was ich
+getan!“ bat mein Onkel mit flehender Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„‚Vergib!‘ Was liegt Ihnen an meiner Vergebung?
+Nun gut, nehmen wir an, ich vergebe Ihnen:
+ich bin Christ, ich kann Ihnen schlechterdings meine
+Vergebung nicht vorenthalten, – ich habe Ihnen ja
+auch jetzt schon fast verziehen. Aber urteilen Sie selbst:
+wäre es denn auch nur irgendwie mit der gesunden
+Vernunft und dem Seelenadel vereinbar, wenn ich
+jetzt noch eine Minute in Ihrem Hause bliebe? Sie
+haben mich doch aus dem Hause <em>fortgetrieben</em>!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, gewiß ist es vereinbar, Foma, gewiß ist es
+vereinbar! Ich versichere dir, daß es vereinbar ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Vereinbar? Aber sind wir denn jetzt noch Gleichstehende?
+Begreifen Sie denn wirklich nicht, daß ich
+Sie mit meinem Edelmut sozusagen vernichtet habe –
+und daß Sie sich selbst durch Ihre niedrige Handlung
+erniedrigt haben? Sie sind in den Staub geworfen
+und ich bin erhoben worden. Wo kann hier jetzt noch
+von Gleichheit die Rede sein? Wie aber kann es ohne
+diese Gleichheit eine Freundschaft geben? Ich frage
+es mit einem Schmerzensschrei, nicht aber triumphierend,
+wie Sie vielleicht wähnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich stoße ja selbst einen Schmerzensschrei
+aus, Foma, ich versichere dich! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und das ist derselbe Mensch,“ fuhr Foma fort,
+den strengen Ton in einen andächtig-frommen verwandelnd,
+„derselbe Mensch, um dessentwillen ich so
+viele Nächte nicht geschlafen habe! Wie oft, wie oft
+habe ich mich in meinen schlaflosen Nächten von meinem
+Lager erhoben, das Nachtlicht angezündet und zu
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+mir gesagt: ‚Jetzt schläft er ruhig und verläßt sich auf
+dich. So schlafe denn nicht, Foma, und wache du für
+ihn, vielleicht wirst du noch etwas zu seinem Wohle
+ersinnen.‘ So dachte Foma Opiskin in seinen schlaflosen
+Nächten, Oberst! Und so wird er dafür von diesem
+selben Obersten belohnt! Doch genug, genug! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich werde, Foma, ich werde mir deine Freundschaft
+wieder verdienen, das schwör’ ich dir!“
+</p>
+
+<p>
+„Verdienen? Sie wollen sie wieder verdienen?
+Welche Gewähr können Sie mir geben? Als Christ,
+der ich bin, verzeihe ich Ihnen und werde Sie sogar
+lieben – als Mensch aber, und als edler Mensch, werde
+ich Sie unwillkürlich verachten. Ich muß es, es ist
+meine Pflicht, um der Sittlichkeit willen; denn – ich
+wiederhole es – Sie haben sich selbst in den Schmutz
+getreten, und ich habe die edelste <em>Tat</em> vollbracht. Wer
+von den <em>Ihrigen</em> würde eine ähnliche <em>Tat</em> je vollbringen
+können? Wer von ihnen würde auf eine so
+ungeheure Summe Geldes freiwillig verzichten, auf
+eine Summe, auf die der bettelarme, von allen verachtete
+Foma Opiskin aus Liebe zu seiner Seelengröße
+indessen verzichtet hat? Nein, Oberst, um sich als
+Gleichstehender mit mir messen zu können, müßten Sie
+jetzt <em>eine ganze Reihe</em> von großen <em>Taten</em>, von
+<em>Heldentaten</em> vollbringen. Zu welch einer Heldentat
+aber sind Sie fähig, wenn Sie nicht einmal in der
+Anrede ‚Sie‘ zu mir sagen können, wie zu einem Gleichstehenden,
+sondern stets ‚du‘ zu mir sagen, wie zu einem
+Diener?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Foma, ich habe doch nur aus Freundschaft
+<em>du</em> zu dir gesagt!“ rief mein Onkel aus. „Ich ahnte
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+es nicht, daß es dir unangenehm sein könnte ... Mein
+Gott! Wenn ich es nur geahnt hätte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie,“ fuhr Foma unerschütterlich fort, „Sie, der
+Sie nicht einmal die geringste, die geringfügigste Bitte
+erfüllen konnten oder richtiger – nicht erfüllen
+<em>wollten</em>, als ich Sie bat, mich wie einen General
+‚Eure Exzellenz‘ zu nennen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Foma, das wäre doch sozusagen schon ein
+höherer Eingriff ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ein höherer Eingriff! Da haben Sie nun irgendeine
+Bücherphrase auswendig gelernt und behalten:
+und die wiederholen Sie jetzt wie ein Papagei! Wissen
+Sie denn nicht, daß Sie mich beschimpft, entehrt haben
+mit Ihrer Weigerung, mich ‚Exzellenz‘ zu nennen, jawohl:
+entehrt! Denn indem Sie meine Gründe nicht
+begriffen, stellten Sie mich als launischen Dummkopf
+bloß, der es verdient hat, in die Irrenanstalt zu kommen!
+Glauben Sie denn, ich begriffe nicht, daß ich
+lächerlich wäre, wenn ich mich Exzellenz betiteln ließe,
+ich, der ich alle diese Titel und irdischen Auszeichnungen
+verachte, alle diese Ehrungen, die an sich vollkommen
+wertlos und nichtig sind, wenn sie nicht durch die Tugend
+geheiligt werden? Für keine Million würde ich
+den Adel eines Generals <em>ohne diese Tugend</em> annehmen!
+Und <em>Sie</em>, <em>Sie</em> hielten mich für einen Wahnsinnigen!
+Nur zu Ihrem Vorteil opferte ich meine
+Eigenliebe und ließ es zu, daß <em>Sie</em>, <em>Sie</em> mich für
+einen Wahnsinnigen halten konnten, Sie und Ihre
+<em>Gelehrten</em>! Einzig zu dem Zweck, um Ihren Verstand
+zu erleuchten, Ihre Sittlichkeit zu entwickeln und
+Sie mit dem Strahlenlicht neuer Ideen zu überschütten,
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+entschloß ich mich, von Ihnen die Anrede ‚Exzellenz‘
+zu fordern. Ich wollte nur, daß Sie hinfort nicht
+mehr die Generäle für die höchsten Koryphäen oder
+Gestirne unseres Erdballes hielten; ich wollte Ihnen
+beweisen, daß der Titel ohne Größe – nichts ist, und
+daß kein Grund vorhanden war, sich dermaßen über
+den Besuch Ihres Generals zu freuen, wenn neben
+Ihnen Menschen leben, die im Glanze der Tugend
+leuchten! Aber Sie haben sich ja stets so gebrüstet vor
+mir mit Ihrem Oberstentitel, daß es Ihnen gar zu
+schwer fiel, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir zu sagen. Das war
+der Grund Ihrer Weigerung! Hierin muß man den
+wahren Grund suchen, nicht aber in irgendwelchen Eingriffen
+in das heilige Reglement! Der ganze Grund
+war der, daß Sie Oberst sind, ich aber nur Foma
+Opiskin bin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma, nein! Ich versichere dich, daß es sich
+nicht so verhielt. Du bist ein Gelehrter, du bist nicht
+ein gewöhnlicher Foma ... ich achte dich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Achten, mich? Nun gut! Dann sagen Sie mir
+doch, wenn Sie mich so achten, Ihre volle Meinung:
+bin ich des Generalstitel wert, bin ich seiner würdig
+oder unwürdig? Antworten Sie mir bestimmt und
+ohne zu zögern: ja oder nein? Ich will bei der Gelegenheit
+Ihren Verstand, Ihre geistige Entwicklung
+prüfen.“
+</p>
+
+<p>
+„Für deine Ehrlichkeit, deine Uneigennützigkeit,
+deinen Verstand, deinen unvergleichlichen Edelmut –
+gewiß!“ antwortete mein Onkel stolz.
+</p>
+
+<p>
+„Und wenn ich ihn verdient habe, weshalb sagen
+Sie dann nicht ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+„Foma, wenn du willst ... werde ich alles sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich verlange es! Jetzt verlange ich es, Oberst,
+ich bestehe darauf und fordere es von Ihnen! Ich sehe,
+daß es Ihnen schwerfällt, und deshalb verlange ich es.
+Dieses Opfer Ihrerseits wird der erste Schritt zu einer
+großen Tat sein; denn – vergessen Sie das nicht! –
+Sie werden eine ganze Reihe von großen Taten vollbringen
+müssen, um sich mit mir messen zu können. Sie
+müssen sich selbst überwinden, dann erst werde ich an
+Ihre Aufrichtigkeit glauben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Morgen, Foma, werde ich ‚Exzellenz‘ zu dir sagen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht morgen, Oberst, morgen versteht es
+sich von selbst. Ich fordere von Ihnen, daß Sie hier,
+jetzt gleich, hier auf der Stelle, ‚Ew. Exzellenz‘ zu mir
+sagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie du willst, Foma, ich bin bereit ... Nur ...
+wie soll ich denn das, Foma? So ... ohne weiteres
+... jetzt gleich?“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb denn nicht jetzt? Oder schämen Sie sich
+etwa? In dem Falle ist es eine neue Kränkung, wenn
+Sie sich schämen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dann ... gut, Foma, ich bin bereit ... ich
+bin sogar stolz darauf ... Nur ... wie soll ich denn,
+Foma, so ohne weiteres? Ich kann doch nicht sagen:
+‚Guten Tag, Exzellenz‘, – das geht doch nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht ‚guten Tag, Exzellenz‘, das ist wieder
+ein beleidigender Ton. Das erinnert an einen Scherz,
+an eine Farce. Ich erlaube aber nicht, daß man mit
+mir scherzt. Besinnen Sie sich, Oberst, besinnen Sie
+sich sofort! Ändern Sie Ihren Ton!“
+</p>
+
+<p>
+„Du willst doch nicht, Foma –?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+„Erstens bitte ich, mich nicht zu duzen, Jegor Iljitsch,
+– Sie haben mich mit ‚Sie‘ anzureden, vergessen
+Sie das nicht. Und nicht Foma, sondern Foma
+Fomitsch.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, bei Gott, ich freue mich, Foma Fomitsch!
+Ich freue mich ... aus allen Kräften ... Nur – was
+soll ich denn sagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Es macht Ihnen offenbar große Schwierigkeiten,
+Ihren Worten ‚Exzellenz‘ hinzuzufügen – das sehe ich.
+Das ist einerseits sogar verzeihlich, namentlich wenn
+der Mensch ... <em>kein Schriftsteller</em> ist – höflich
+ausgedrückt. Nun, ich werde Ihnen helfen, weil Sie
+<em>kein</em> Schriftsteller sind. Sprechen Sie mir jetzt nach:
+‚Eure Exzellenz‘ ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ‚Eure Exzellenz‘.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht: ‚<em>nun</em>, Eure Exzellenz‘, sondern einfach:
+‚Eure Exzellenz!‘ Ich sage Ihnen nochmals,
+Oberst, ändern Sie Ihren Ton! Auch hoffe ich, daß
+Sie sich nicht beleidigt fühlen werden, wenn ich Sie
+auffordere, sich bei dieser Gelegenheit leicht zu verbeugen
+und gleichzeitig den Körper ein wenig nach
+vorn zu neigen, um auf diese Weise Ihre Ehrerbietung
+auszudrücken und sozusagen Ihre Bereitschaft, auf den
+leisesten Wink hin, gleichsam zu fliegen, um meinen
+Befehl auszuführen. Ich habe selbst in Generalskreisen
+verkehrt und kenne das ... Nun also: ‚Eure Exzellenz‘.“
+</p>
+
+<p>
+„Eure Exzellenz.“
+</p>
+
+<p>
+„‚Wie unsäglich freut es mich, endlich Gelegenheit
+zu haben und um Entschuldigung dafür bitten zu können,
+daß ich nicht sogleich den wahren Seelenrang
+Eurer Exzellenz erkannt habe. Ich erlaube mir, zu versichern,
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+daß ich hinfort meine schwachen Kräfte zum
+allgemeinen Nutzen nicht schonen werde ...‘ So, das
+mag vorläufig genügen!“
+</p>
+
+<p>
+Mein armer Onkel! Er mußte tatsächlich und
+wortwörtlich diese ganze Tirade Satz für Satz, Wort
+für Wort nachsprechen! Ich stand und errötete wie
+ein Schuldiger. Die Wut schnürte mir die Kehle zu.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, fühlen Sie jetzt nicht,“ fuhr der Henker fort,
+„daß es Ihnen plötzlich leichter ums Herz geworden
+ist, als ob in Ihrer Seele ein Engel sich niedergelassen
+hätte? ... Fühlen Sie diese Gegenwart eines Engels?
+Antworten Sie mir!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Foma, es scheint mir jetzt wirklich leichter zumute
+zu sein,“ antwortete mein Onkel.
+</p>
+
+<p>
+„Als wäre Ihr Herz, nachdem Sie sich selbst überwunden
+haben, gleichsam in Öl untergetaucht!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Foma, es ist wirklich wie mit Butter bestrichen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie mit Butter? Hm! ... Ich habe Ihnen von
+Butter nichts gesagt, sondern von Öl ... Nun, gleichviel!
+Sehen Sie jetzt, was das bedeutet, Oberst –
+erfüllte Pflicht! Überwinden, besiegen Sie sich nur!
+Sie sind eigenliebig, unendlich eigenliebig!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es, Foma, ich sehe es vollkommen ein,“
+sagte mein Onkel aufseufzend.
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind ein Egoist und sogar ein großer, ein
+grausamer Egoist ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es, Foma, auch das sehe ich ein; seitdem
+ich dich kenne, habe ich auch das eingesehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Und jetzt sage ich Ihnen, wie ein Vater, wie eine
+zärtliche Mutter ... Sie scheuchen alle von sich und
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+vergessen, daß ein liebenswürdiges Kalb an zwei Kühen
+saugt.“
+</p>
+
+<p>
+„Auch das ist wahr, Foma.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind roh. Sie drängen sich so roh in das
+Herz anderer Menschen, Sie drängen sich so eigenliebig
+der Aufmerksamkeit anderer auf, daß ein anständiger
+Mensch am liebsten auf dreißig Meilen von
+Ihnen fortlaufen würde.“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel seufzte noch einmal tief auf.
+</p>
+
+<p>
+„Seien Sie also zärtlicher, aufmerksamer, liebenswürdiger
+gegen andere. Vergessen Sie sich für andere
+– sehen Sie, das ist meine Regel! Duldend mühe dich,
+bete und hoffe – das sind Wahrheiten, die ich gerne
+der ganzen Menschheit einprägen möchte! Eifern Sie
+ihnen nach, und dann werde ich Ihnen als erster mein
+Herz öffnen, werde an Ihrer Brust weinen ... falls
+es nötig sein sollte ... Denn sonst heißt es bei Ihnen
+nur ‚ich‘ und ‚ich‘ und ‚meine Gnade‘! Aber diese Ihre
+Gnade bekommt man doch schließlich satt, mit Erlaubnis
+zu sagen!“
+</p>
+
+<p>
+„Welch ein Mensch!“ murmelte Gawrila, der an
+der Tür stand, voll Andacht.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist wahr, Foma, ich fühle es selbst,“ bestätigte
+mein Onkel gerührt. „Aber schließlich ist doch
+nicht alles nur meine Schuld! Ich bin so erzogen
+worden, habe unter Soldaten gelebt. Aber ich schwöre
+dir, Foma, auch ich verstand zu fühlen und zu empfinden.
+Als ich aus meinem Regiment trat und von
+der Truppe Abschied nahm, da hatten alle meine braven
+Husaren Tränen in den Augen, mein ganzes Regiment
+weinte fast, und sie sagten, einen solchen Vorgesetzten
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+würden sie wohl nie wieder bekommen! ... Und so
+dachte ich damals, daß auch ich vielleicht dennoch kein
+ganz verlorener Mensch sei.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieder ein egoistischer Zug! Wieder ertappe ich
+Sie auf einem Beweise Ihrer Eigenliebe, Sie brüsten
+sich, und bei der Gelegenheit machen Sie mir noch
+wegen der Tränen Ihrer Husaren einen Vorwurf.
+Wie kommt es, daß ich mich niemals mit Tränen anderer
+brüste? Und doch, und doch – ich hätte so manchen
+guten Grund dazu.“
+</p>
+
+<p>
+„Weißt du, das ist mir nur so entschlüpft, Foma,
+ich erinnerte mich der alten, guten Zeit – da hielt ich’s
+denn nicht aus und erzählte es dir jetzt.“
+</p>
+
+<p>
+„Die gute Zeit fällt nicht vom Himmel, sondern
+wir selbst schaffen sie uns: sie ist in unserem Herzen
+enthalten, Jegor Iljitsch. Weshalb bin ich denn immer
+glücklich und trotz meiner Leiden zufrieden? Weshalb
+bin ich ruhig und werde niemandes überdrüssig, ausgenommen
+vielleicht der Dummköpfe und der sogenannten
+<em>Gelehrten</em>, die ich nicht schone und nie schonen
+werde. Ich liebe die Dummköpfe nicht. Und was
+sind denn diese Gelehrten? ‚Ein Mann der Wissenschaft!‘
+Seine ganze ‚Wissenschaft‘ besteht ja nur in
+seiner ‚Gewissenshaft‘! Nun, was hat <em>er</em> denn vorhin
+gesprochen? Laßt ihn herkommen! Ihn und alle Gelehrten!
+Ich kann alles widerlegen! Ich werde alle
+ihre aufgestellten Gesetze widerlegen! Und vom Seelenadel,
+von allem Edlen – rede ich schon gar nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Natürlich, Foma, ich glaube es dir! Wer zweifelt
+denn überhaupt daran?“
+</p>
+
+<p>
+„Vorhin zum Beispiel bewies ich Verstand, Begabung,
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+große Belesenheit, Kenntnisse des Menschenherzens,
+Kenntnis der zeitgenössischen Literatur, ich
+zeigte und bewies glänzend, wie ein talentvoller Mensch
+sogar aus irgendeiner Kamarinskaja ein hohes und
+interessantes Gespräch entwickeln kann. Und nun frage
+ich: Hat auch nur einer von ihnen allen das Ganze
+würdig zu schätzen verstanden? Nein, und nicht genug
+damit – sie wandten sich obendrein ab! Ich bin
+ja überzeugt, daß sie Ihnen schon gesagt haben, ich
+‚wüßte nichts‘. Dabei hat aber in Wirklichkeit ein
+zweiter Machiavelli vor ihnen gesessen und ist nur deshalb
+von ihnen nicht als solcher erkannt worden, weil
+er noch arm und unbekannt war ... Nein, das soll
+ihnen nicht durchgehen! ... Ferner habe ich da noch
+von einem Korowkin gehört. – Was ist das nun wieder
+für ein Gänserich?“
+</p>
+
+<p>
+„O, das ist, weißt du, ein kluger Mensch, ein Mann
+der Wissenschaft ... Ich erwarte ihn. Der wird
+dir aber sicherlich gefallen, Foma!“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! das bezweifle ich. Wahrscheinlich irgend
+so ein moderner Esel, der mit Bücherweisheit vollgepfropft
+ist. Die haben keine Seele, Oberst, die haben
+auch kein Herz! Was aber ist selbst Gelehrtheit, wenn
+sie keine Tugend hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma, nein! Wie er über Familienglück
+redet! – ich sage dir, das Herz begreift es ganz von
+selbst, Foma!“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Warten wir ab; wir können ja auch den
+Korowkin noch examinieren. Doch jetzt genug,“ schloß
+Foma, sich erhebend. „Noch kann ich Ihnen nicht ganz
+verzeihen, Oberst; Sie haben mich bis aufs Blut gekränkt.
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+Aber ich werde beten, vielleicht wird Gott
+dann meinem gekränkten Herzen Frieden senden. Wir
+werden morgen noch darüber reden, jetzt aber erlauben
+Sie, daß ich mich zurückziehe. Ich bin ermüdet und
+entkräftet ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma!“ rief mein Onkel erschrocken aus,
+„nun habe ich dich auch noch ermüdet! Weißt du was,
+– willst du dich nicht etwas stärken, einen kleinen
+Imbiß nehmen? Ich werde ihn sofort bestellen.“
+</p>
+
+<p>
+„Einen Imbiß nehmen! Hahaha! Einen Imbiß
+nehmen!“ war Fomas Antwort mit verächtlichem
+Lachen. „Zuerst wird man mit Gift getränkt, und dann
+wird man gefragt, ob man nicht einen Imbiß nehmen
+wolle! Die Wunden, die dem Herzen geschlagen sind,
+wollen Sie mit irgendwelchen gedämpften Pilzen oder
+eingemachten Früchten heilen! Was für ein armseliger
+Materialist Sie doch sind, Oberst!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma, ich wollte es doch, bei Gott, nur aus
+gutem Herzen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut. Genug davon. Ich gehe. Sie aber,
+gehen Sie unverzüglich zu Ihrer Mutter, knien Sie
+vor ihr nieder, schluchzen Sie, weinen Sie, erflehen
+Sie ihre Verzeihung, – das ist Ihre Pflicht, das
+müssen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Foma, ich habe ja die ganze Zeit nur daran
+gedacht. Sogar jetzt, als ich mit dir sprach, dachte
+ich die ganze Zeit daran. Ich bin bereit, bis zum
+Morgen vor ihr auf den Knien zu liegen. Aber bedenk
+doch auch, Foma, was man von mir verlangt!
+Das ist doch ungerecht, das ist doch grausam, Foma!
+Sei doch großmütig, mach mich vollkommen glücklich,
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+denk doch nur nach, erlöse mich, und dann ... dann
+... ich schwöre dir ...“
+</p>
+
+<p>
+„Jegor Iljitsch, das ist nicht meine Sache,“ antwortete
+Foma. „Sie wissen, daß ich mich in diese Angelegenheit
+überhaupt nicht hineinmische. Das heißt,
+Sie sind ja, sagen wir, überzeugt, daß ich die Ursache
+sei; aber ich versichere Ihnen, daß ich mich von Anfang
+an vollkommen davon zurückgezogen und nichts damit
+zu tun habe und haben will. Hier handelt es sich
+einzig und allein um den Willen Ihrer Frau Mutter,
+sie aber will natürlich nur Ihr Bestes ... So gehen
+Sie denn hin, eilen Sie, und machen Sie Ihre Schuld
+durch vollkommenen Gehorsam wenigstens teilweise
+wieder gut ... Lasset nicht die Sonne über eurem
+Zorne untergehen! Ich aber ... ich werde die ganze
+Nacht für Sie beten. Schon seit langem weiß ich nicht
+mehr, was Schlaf ist, Jegor Iljitsch. Leben Sie wohl!
+Auch dir verzeihe ich, Alter,“ sagte er, zu Gawrila
+gewandt. „Ich weiß, daß du nicht aus eigenem Antriebe
+Böses getan hast. Vergib also auch du mir,
+wenn ich dir etwas zuleide getan haben sollte ...
+Lebt wohl, lebt alle wohl, und der Herr segne euch! ...“
+</p>
+
+<p>
+Foma entfernte sich. Ich trat ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Du hast gelauscht!“ rief mein Onkel aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Onkel, ich habe gelauscht! Und Sie, Sie
+konnten ‚Exzellenz‘ zu ihm sagen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was sollte ich tun, Freund! Ich bin sogar stolz
+darauf, daß ich es getan habe ... Das ist ja noch
+nichts im Vergleich zu seiner großen Heldentat! Welch
+ein edler, uneigennütziger, erhabener Mensch! Ssergei
+– du hast ja zugehört – so sag du mir doch, wie
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+konnte ich da nur mit dem Gelde kommen! Ich begreife
+mich selbst nicht! Aber ich war nicht bei klarer
+Vernunft, ich war aufgebracht, ich verstand ihn nicht,
+ich beargwöhnte ihn, beschuldigte ihn ... Doch nein!
+– er konnte nicht mein Gegner sein – das begreife
+ich jetzt vollkommen ... Aber weißt du, hast du gesehen,
+welch einen edlen Ausdruck sein Gesicht hatte,
+als er das Geld zurückwies?“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, Onkel, seien Sie so stolz, wie Sie nur wollen,
+ich aber reise morgen: meine Geduld ist zu Ende! Zum
+letzten Male frage ich Sie: was verlangen Sie von
+mir? Wozu haben Sie mich hergerufen, und was erwarten
+Sie von mir? Und wenn nun alles zu Ende
+und besiegelt ist und ich Ihnen zu nichts mehr nütze
+bin – dann fahre ich eben. Ich ertrage solche Schaustücke
+nicht! Heute noch reise ich ab!“
+</p>
+
+<p>
+„Freund,“ sagte mein Onkel eifrig, wie es so seine
+Art war, „wart nur noch zwei Minuten: ich werde jetzt
+zu meiner Mutter gehen ... ich muß dort zuerst ins
+reine kommen ... es ist eine wichtige, große, eine
+entscheidende Sache! ... Du aber geh in dein Zimmer
+und erwarte mich dort. Hier, Gawrila wird dich ins
+Sommerhaus führen. Du erinnerst dich doch noch?
+Es liegt dort mitten im Garten. Ich habe schon alles
+angeordnet, auch dein Koffer ist hingeschafft worden.
+Ich werde jetzt schnell zu meiner Mutter gehen, nur
+ihre Verzeihung erwirken, mich rasch entschließen –
+jetzt weiß ich, wie ich es anfassen muß –, und dann
+komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles, alles,
+alles bis aufs Letzte, werde meine ganze Seele vor dir
+ausschütten! Und ... und auch wir werden noch einmal
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+glückliche Tage erleben! ... Zwei Minuten, nur
+zwei Minuten, Ssergei!“
+</p>
+
+<p>
+Er drückte meine Hand und verließ eilig das Zimmer.
+Mir blieb nichts anderes übrig, als mich von
+Gawrila ins Sommerhaus führen zu lassen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-13">
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+<span class="firstline">X.</span><br>
+Misintschikoff.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">as</span> Sommerhaus, in dem man für mich ein Zimmer
+eingeräumt hatte, wurde aus alter Gewohnheit
+noch immer „das neue Haus“ genannt, obgleich es
+schon vor langen Jahren, noch von den früheren Besitzern
+des Gutes Stepantschikowo erbaut worden war.
+Es war dies ein nettes, einstöckiges Holzgebäude, das
+nicht weit vom Herrenhause im Garten lag. Von drei
+Seiten umstanden das Sommerhäuschen alte, hohe
+Lindenbäume, deren Äste das Dach überragten. Alle
+vier Zimmer dieses Sommerhauses waren gut möbliert
+und ausschließlich für etwaigen Besuch bestimmt. Als
+ich mich in dem mir zugewiesenen Gemach umsah, bemerkte
+ich zuerst meinen Koffer und dann auf dem
+Nachttisch neben dem Bett einen Bogen Postpapier,
+das von einem wahren Meister in der Schönschreibekunst
+beschrieben und mit Girlanden und Schnörkeln
+überreich verziert war. Die Anfangsbuchstaben und
+die Blumengewinde leuchteten sogar in bunten Farben.
+Alles in allem war es eine bewundernswerte kalligraphische
+Arbeit. Schon aus den ersten Zeilen ersah
+ich, daß es ein an mich gerichteter Bittbrief war, in
+dem ich ein „aufgeklärter Wohltäter“ genannt wurde.
+Als Überschrift stand: „Widopljässoffs Wehklagen.“
+Wie sehr ich aber auch meine Aufmerksamkeit anstrengte,
+um wenigstens etwas von dem ganzen Schreiben
+zu begreifen, so waren doch alle meine Bemühungen
+umsonst: es war der reinste Blödsinn in hochtrabendem
+Dienerstil. Ich erriet nur ungefähr, daß Widopljässoff
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+sich in einer bedauernswerten Lage befand, meine Hilfe
+erbat und in irgendwelchen Dingen große Hoffnungen
+auf mich setzte – „von wegen Eurer Bildung ...“
+Zum Schluß bat er mich dann noch, zu seinen Gunsten
+auf meinen Onkel einzuwirken, und zwar – „kraft
+Eurer Maschine“, wie es buchstäblich in der letzten
+Zeile dieses Handschreibens geschrieben stand. Ich war
+noch in die Lektüre vertieft, als die Tür aufging und
+Iwan Iwanytsch Misintschikoff, mein Vetter dritten
+Grades, in das Zimmer trat.
+</p>
+
+<p>
+„Ich hoffe, Sie werden mir gestatten, Ihre Bekanntschaft
+zu machen,“ sagte er ungezwungen, doch
+äußerst höflich, und er reichte mir die Hand. „Vorhin
+habe ich Ihnen keine zwei Worte sagen können, und
+doch empfand ich schon im ersten Augenblick den
+Wunsch, Sie näher kennen zu lernen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich antwortete ihm sogleich, daß auch ich mich
+freue usw., obschon ich mich in der miserabelsten Laune
+befand.
+</p>
+
+<p>
+Wir setzten uns.
+</p>
+
+<p>
+„Was haben Sie denn da?“ fragte er, nach einem
+Blick auf das Blatt, das ich noch in der Hand hielt.
+„Etwa ‚Widopljässoffs Wehklagen‘? Na, natürlich!
+Ich war ja überzeugt, daß Widopljässoff unfehlbar auch
+Sie attackieren würde. Mir hat er gleichfalls so ein
+wunderbar bemaltes Blatt mit denselben ‚Wehklagen‘
+überreicht. Sie sind von ihm wohl schon lange sehnsüchtig
+erwartet worden, so daß er Zeit genug gehabt
+hat, inzwischen dieses Gemälde herzustellen. Doch
+können Sie sich die Mühe sparen, sich darüber zu wundern:
+hier gibt es viel Sonderbares, und wenn man
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+Lust zum Lachen hat, fände sich eine Unmenge Stoff
+dazu.“
+</p>
+
+<p>
+„Nur zum Lachen?“
+</p>
+
+<p>
+„Na, doch nicht etwa zum Weinen? Wenn Sie
+wollen, kann ich Ihnen Widopljässoffs Leben erzählen,
+und ich wette, daß Sie lachen werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Offen gestanden, es ist mir jetzt nicht um Widopljässoff
+zu tun,“ antwortete ich etwas ungehalten.
+</p>
+
+<p>
+Es war mir vollkommen klar, daß der Besuch
+Herrn Misintschikoffs und sein liebenswürdiges Gespräch
+– einen besonderen Zweck verfolgten und mein
+Herr Vetter dritten Grades sehr einfach meiner bedurfte.
+Im Teesalon hatte er finster und ernst ausgesehen,
+und nun war er plötzlich so aufgeräumt und
+sogar bereit, lange Geschichten zu erzählen. Man sah
+es ihm sofort an, daß er sich vorzüglich zu beherrschen
+verstand und, wie mir schien, ein Menschenkenner war.
+</p>
+
+<p>
+„Dieser verdammte Foma!“ knirschte ich wütend
+und schlug mit der Faust auf den Tisch. „Ich bin
+überzeugt, daß nur er allein die Quelle alles Übels
+hier ist, und daß jede Verrücktheit sich auf ihn zurückführen
+läßt! Dieser verfluchte Spitzbube!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben sich ja, wie es scheint, sehr über ihn
+geärgert,“ bemerkte Misintschikoff.
+</p>
+
+<p>
+„Sehr über ihn geärgert!“ Ich geriet plötzlich in
+Wut. „Ich weiß, ich habe mich heute nachmittag hinreißen
+lassen und somit jedem das Recht gegeben, mich
+abfällig zu beurteilen. Ich sehe es jetzt sehr wohl ein,
+daß ich unnützerweise aus mir herausgegangen bin und
+in jeder Beziehung schlecht abgeschnitten habe; aber ich
+denke, es ist zum mindesten überflüssig, mir das obendrein
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+noch zu verstehen zu geben! ... Auch begreife
+ich vollkommen, daß man so etwas in guter Gesellschaft
+nicht tut; aber, sagen Sie doch selbst, war es denn
+überhaupt möglich, nicht aus der Haut zu fahren? Das
+ist ja hier eine Irrenanstalt, genau genommen! und
+... und ... schließlich ... Ach was! Ich fahre einfach
+fort und damit basta!“
+</p>
+
+<p>
+„Rauchen Sie?“ fragte Misintschikoff ruhig.
+</p>
+
+<p>
+„Ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann werden Sie hoffentlich nichts dagegen
+haben, wenn auch ich rauche. Dort wird es nicht gestattet.
+Ich bin schon auf dem besten Wege, darüber
+melancholisch zu werden. Ich gebe gern zu,“ fuhr er
+fort, nachdem er sich eine Zigarette angesteckt hatte,
+„daß hier manches stark an eine Irrenanstalt erinnert;
+doch seien Sie versichert, daß ich mir nicht erlauben
+werde, Sie oder Ihr Auftreten zu verurteilen, und
+zwar deshalb nicht, weil ich an Ihrer Stelle vielleicht
+noch dreimal mehr in Wut geraten oder aus der Haut
+gefahren wäre als Sie vorhin.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber warum taten Sie es dann nicht, wenn Sie
+wirklich so ungehalten waren? Ich entsinne mich, im
+Gegenteil, noch ganz genau, daß Sie sehr kaltblütig
+waren. Ich will Ihnen sogar ganz offen sagen – es
+wunderte mich, daß Sie für meinen armen Onkel nicht
+eintraten, ihn nicht verteidigten, da er doch soviel
+Gutes ... allen und jedem erweist!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben recht: er hat vielen Gutes getan. Doch
+für ihn einzutreten, das halte ich in diesem Fall für
+vollkommen nutzlos: erstens würde es ihm nichts helfen
+und hätte gewissermaßen sogar etwas Erniedrigendes
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+für ihn – und zweitens würde man mich dann am
+nächsten Tage vor die Tür setzen. Und nun will auch
+ich Ihnen etwas ganz offen gestehen: nämlich, daß
+meine Verhältnisse augenblicklich derart sind, daß ich
+die Gastfreundschaft, die ich hier genieße, sehr hoch
+einschätzen muß.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich verlange von Ihnen durchaus keine Aufschlüsse
+über Ihre Verhältnisse ... Aber übrigens, ich würde
+Sie gern etwas fragen wollen, da Sie ja doch schon
+einen ganzen Monat hier leben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie die Güte, fragen Sie nur: ich stehe
+Ihnen jederzeit zu Diensten,“ antwortete Misintschikoff
+bereitwillig und rückte seinen Stuhl näher zu mir.
+</p>
+
+<p>
+„Erklären Sie mir, bitte, eines: soeben hat Foma
+Fomitsch fünfzehntausend Rubel, die er bereits in der
+Hand hielt, verschmäht – ich habe es mit eigenen
+Augen gesehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das? Ist’s möglich!“ Misintschikoff war erstaunt.
+„Erzählen Sie doch, bitte!“
+</p>
+
+<p>
+Ich erzählte, was ich gesehen und gehört hatte,
+verschwieg aber alles, was sich auf „Eure Exzellenz“
+bezog. Misintschikoff hörte mir mit lebhafter Neugier
+zu; sein ganzes Gesicht schien sich zu verändern, als
+ich auf die Einhändigung der fünfzehn Tausend zu
+sprechen kam.
+</p>
+
+<p>
+„Raffiniert!“ sagte er, als ich meine Erzählung
+beendet hatte. „Das hätte ich eigentlich von Foma
+gar nicht erwartet.“
+</p>
+
+<p>
+„Jedenfalls – er hat das Geld zurückgewiesen!
+Wie soll man sich das erklären? Doch nicht mit seinem
+Seelenadel?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+„Er hat fünfzehn Tausend zurückgewiesen, um
+später dreißig Tausend zu nehmen. Übrigens – wissen
+Sie!“ fügte er nach kurzem Nachdenken hinzu, „ich bezweifle
+es, daß Foma eine bestimmte Berechnung gehabt
+habe. Er ist doch ein unpraktischer Mensch – er
+ist in seiner Art gleichfalls so etwas wie ein Dichter.
+Fünfzehn Tausend ... hm! Sehen Sie: er hätte das
+Geld sicherlich genommen und behalten, nur: er widerstand
+nicht der Versuchung, Theater zu spielen, sich zu
+verstellen, sich in schönem Lichte zu zeigen. Ich sage
+Ihnen, er ist nichts als ein unendlich saurer, tränenreicher
+Schwamm bei unbegrenzter Eigenliebe!“
+</p>
+
+<p>
+Misintschikoff geriet beinahe in Wut. Man sah es
+ihm an, daß er sich aufrichtig ärgerte; ja, es schien mir
+sogar, als beneide er Foma wegen der angebotenen
+fünfzehn Tausend. Ich beobachtete ihn genau.
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Dann muß man großer Veränderungen gewärtig
+sein,“ meinte er nachdenklich. „Jegor Iljitsch
+ist ja bereit, Foma anzubeten. Was kann man wissen
+... vielleicht wird er sie noch heiraten – einfach aus
+Herzensrührung,“ sprach er durch die Zähne vor
+sich hin.
+</p>
+
+<p>
+„So glauben Sie, daß diese schändliche, diese
+widernatürliche Ehe mit diesem übergeschnappten, verdrehten
+Frauenzimmer wirklich zustande kommen
+wird?“
+</p>
+
+<p>
+Misintschikoff warf mir einen forschenden Blick zu.
+</p>
+
+<p>
+„Diese Schurken!“ rief ich heftig aus. Er schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens haben sie es verstanden, ihre Idee recht
+gut zu begründen,“ bemerkte Misintschikoff. „Sie behaupten
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+nämlich, daß er doch irgend etwas für die
+Familie tun müsse.“
+</p>
+
+<p>
+„Als ob er noch zu wenig für sie getan hätte!“ Ich
+war empört. „Und auch Sie, auch Sie wagen noch
+zu sagen, daß es eine vernünftige Idee sei – eine
+dumme Gans zu heiraten!“
+</p>
+
+<p>
+„O, ich stimme mit Ihnen darin vollkommen überein,
+daß sie eine dumme Gans ist ... Hm! Es freut
+mich, daß Sie Ihren Onkel so lieben ... auch ich kann
+es nachfühlen ... obschon man mit ihrem Gelde das
+Gut prächtig vergrößern könnte. Aber sie haben außerdem
+noch andere Gründe: sie fürchten, daß Jegor Iljitsch
+die Erzieherin seiner Kinder heiraten könnte –
+Sie entsinnen sich doch noch des interessanten jungen
+Mädchens, das nach Iljuscha eintrat?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber ist denn das möglich? Ist denn das
+anzunehmen?“ fragte ich erregt. „Es scheint mir vielmehr
+eine Verleumdung zu sein. Sagen Sie doch, um
+Gottes willen, es interessiert mich über alle Maßen ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, er ist bis über die Ohren verliebt! Nur verbirgt
+er es selbstredend.“
+</p>
+
+<p>
+„Verbirgt es! Sie glauben, er will es verbergen?
+Nun, aber sie? Liebt auch sie ihn?“
+</p>
+
+<p>
+„Sehr leicht möglich, daß auch sie ihn liebt. Und
+zudem sind ja alle Vorteile auf ihrer Seite: sie ist sehr
+arm.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber welche Anhaltspunkte haben Sie, um hier
+eine gegenseitige Liebe zu vermuten?“
+</p>
+
+<p>
+„Da müßte man ja blind sein, wenn man das nicht
+sehen wollte. Hinzu kommt, daß sie, glaube ich, sich
+heimlich treffen. Es ist sogar behauptet worden, daß
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+sie unerlaubte Beziehungen unterhielten. Aber erzählen
+Sie das, ich bitte Sie, nicht weiter. Ich sage
+es Ihnen nur unterm Siegel der strengsten Verschwiegenheit.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie kann man nur an so etwas glauben!“ rief
+ich unwillig aus. „Und Sie geben zu, daß Sie diesem
+Märchen Glauben schenken?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich glaube ich es nicht ganz, ich bin
+nicht dabei gewesen. Aber es kann sehr leicht möglich
+sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Was! es kann möglich sein! Denken Sie doch nur
+an die Ehrenhaftigkeit, an die Ehre meines Onkels!“
+</p>
+
+<p>
+„Einverstanden. Aber man kann sich doch vergessen
+– kann sich damit beruhigen, daß man später
+mit der Heirat unfehlbar alles wieder gutmachen wird.
+Das kommt ja häufig vor ... so läßt man sich denn
+hinreißen. Doch ich sage nochmals, daß ich durchaus
+nicht für die vollkommene Glaubwürdigkeit dieser Gerüchte
+einstehe, um so weniger, als man das Mädchen
+hier schon zur Genüge in den Schmutz zu ziehen versucht
+hat. So wurde zum Beispiel auch erzählt, daß
+sie mit Widopljässoff ein Verhältnis habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Widopljässoff! – Da sehen Sie es ja! Ist
+das überhaupt denkbar? Ist es denn nicht ekelhaft, so
+etwas auch nur zu hören? Und Sie glauben es?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sage Ihnen doch, daß ich es nicht glaube,“
+antwortete Misintschikoff ruhig, „aber schließlich –
+hätte es ja auch vorkommen können. In der Welt kann
+alles vorkommen. Ich aber bin nicht zugegen gewesen,
+und überdies finde ich, daß es mich nichts angeht. Da
+Sie aber, wie ich sehe, an allen Dingen, die mit Ihrem
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+Onkel zu schaffen haben, so lebhaften Anteil nehmen,
+so halte ich es für meine Pflicht, ausdrücklich hinzuzufügen,
+daß dieses Verhältnis mit Widopljässoff allerdings
+sehr wenig Wahrscheinliches für sich hat. Das
+ganze Gerücht scheint vielmehr nur ein Machwerk Anna
+Nilownas zu sein – der Perepelizyna. Sie hat natürlich
+nur aus Neid diesen ganzen Klatsch verbreitet, da
+sie früher selbst davon geträumt hat, Jegor Iljitsch zu
+heiraten – bei Gott! – und zwar, wie ich glaube,
+hauptsächlich deshalb, weil sie selbst die Tochter eines
+Majors ist. Jetzt hat sie ihre Hoffnung aufgeben
+müssen, und so ist auch ihre Wut danach. Doch, ich
+glaube – ich habe Ihnen bereits alles erzählt und
+dieses Thema erschöpft, und – offen gestanden – ich
+bin nichts weniger als ein Freund von solchen Klatschgeschichten.
+Außerdem verlieren wir über diesem Geschwätz
+die kostbare Zeit. Ich bin, sehen Sie mal, ich
+bin mit einer kleinen Bitte zu Ihnen gekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit einer Bitte? O, ich bin gern zu allem bereit,
+was ich für Sie tun kann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Besten Dank; ich hoffe sogar, Sie gewissermaßen
+mit meinem Anliegen zu interessieren; denn wie ich
+sehe, lieben Sie Ihren Onkel und nehmen großen Anteil
+an seinem Schicksal, namentlich bezüglich seiner zukünftigen
+Ehe. Doch, vor <em>dieser</em> Bitte habe ich noch
+eine andere Bitte an Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Und das wäre?“
+</p>
+
+<p>
+„Folgendes. Vielleicht werden Sie einwilligen,
+meine Hauptbitte zu erfüllen, vielleicht aber auch nicht.
+Daher würden Sie mir einen großen Gefallen erweisen,
+wenn Sie die Güte hätten, mir vorher Ihr Ehrenwort
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+als Edelmann und Ehrenmann zu geben, daß alles,
+was Sie von mir hören werden, zwischen uns bleibt,
+als größtes Geheimnis, und daß Sie in keinem Fall
+und mit Ausnahme keiner einzigen Person dieses Geheimnis
+verraten werden, sowie ferner, daß Sie die
+betreffende Idee nicht für sich benutzen werden, diese
+Idee, die ich jetzt notwendigerweise Ihnen mitteilen
+muß. Sind Sie damit einverstanden?“
+</p>
+
+<p>
+Die Einleitung war recht feierlich. Ich erklärte
+mich mit seinen Bedingungen einverstanden.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, und?“ fragte ich dann.
+</p>
+
+<p>
+„Die Sache ist im Grunde sehr einfach,“ begann
+Misintschikoff. „Ich will, sehen Sie mal ... ich will
+Tatjana Iwanowna entführen und sie dann heiraten.
+Kurz, es soll etwas in der Art eines spanischen Romans
+werden – Sie verstehen mich doch?“
+</p>
+
+<p>
+Ich blickte Herrn Misintschikoff unverwandt in die
+Augen, und es dauerte etwas, bis ich die ersten Worte
+fand.
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... ich begreife nicht ...“ sagte ich endlich;
+„und außerdem,“ fuhr ich fort, „außerdem, da ich es
+mit einem vernünftigen Menschen zu tun zu haben
+glaubte ... habe ich keineswegs erwartet ...“
+</p>
+
+<p>
+„Erwartet oder nicht erwartet,“ unterbrach mich
+Misintschikoff, „ins Unverblümte übersetzt, heißt das
+ungefähr soviel wie: daß sowohl ich wie mein Vorhaben
+dumm ist, nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber durchaus nicht ... nur ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, bitte sehr, tun Sie sich in Ihren Ausdrücken
+keinen Zwang an. Beunruhigen Sie sich nicht. Sie
+erweisen mir damit sogar ein großes Entgegenkommen;
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+denn so gelangen wir schneller zum Ziel. Ich gebe
+übrigens gern zu, daß mein ganzer Plan so auf den
+ersten Blick etwas sonderbar erscheinen muß. Doch
+ganz abgesehen davon, versichere ich Sie, daß meine
+Absicht nicht nur keineswegs dumm, sondern sogar
+höchst vernünftig ist. Und wenn Sie so freundlich sein
+wollen, zuerst die Klarlegung der Verhältnisse anzuhören,
+so ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, bitte – ich bin sehr gespannt.“
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens ist hier fast nichts zu erzählen. Sehen
+Sie mal: ich habe augenblicklich nur Schulden und
+dementsprechend keine Kopeke in der Tasche. Außerdem
+habe ich noch eine Schwester, ein Mädchen von
+ungefähr neunzehn Jahren. Sie ist Waise, wissen
+Sie, gänzlich mittellos und verdient sich selbst ihr Brot.
+Das ist zum Teil auch meine Schuld. Wir erbten
+vierzig Seelen. Da mußte ich wie verhext gerade damals
+zum Fähnrich avancieren! Nun, zuerst natürlich
+verpfändete ich die vierzig Seelen, dann brachte ich sie
+durch. Ich führte ein törichtes Leben, gab den Ton
+an, spielte den Lebemann, spielte auch am grünen Tisch,
+trank – mit einem Wort: töricht war’s, man schämt
+sich geradezu, daran zu denken. Jetzt bin ich zur Besinnung
+gekommen, habe mich anders bedacht: ich will
+nun ein ganz neues Leben beginnen. Zu diesem Zweck
+aber brauche ich unumgänglich eine Summe von
+hunderttausend Rubeln in bar. Da ich jedoch mit dem
+Offiziersdienst nichts verdienen würde, zu irgendeinem
+Beruf nicht begabt bin und fast gar keine wissenschaftliche
+Bildung habe, so bleiben mir nur zwei Möglichkeiten:
+entweder zu stehlen oder eine reiche Dame zu
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+heiraten. Hergekommen bin ich so gut wie ohne Stiefel,
+und, wohl verstanden: ich bin zu Fuß gekommen, nicht
+mit Postpferden. Meine Schwester gab mir ihre letzten
+drei Rubel, als ich mich aus Moskau fortbegab. Hier
+lernte ich diese Tatjana Iwanowna kennen, und mir
+kam sofort ein Gedanke. Ich beschloß, mich zu opfern
+und sie zu heiraten. Sie müssen mir doch zugeben,
+daß das nichts anderes ist als – Vernünftigkeit. Zudem
+tue ich es ja mehr für meine Schwester ... das
+heißt, in erster Linie selbstredend für mich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlauben Sie, Sie wollen doch formell bei
+Tatjana Iwanowna anhalten?“
+</p>
+
+<p>
+„Gott soll mich davor bewahren! Dann wäre ich
+ja am längsten hier gewesen, und auch sie würde nicht
+wollen. Schlage ich ihr dagegen eine Entführung vor,
+eine Flucht, so wird sie sofort einwilligen. Das ist die
+Hauptsache: es muß etwas Romantisches, etwas Effektvolles
+sein. Versteht sich, wir werden dann in kürzester
+Zeit gesetzmäßig getraut werden. Wenn man sie nur
+erst einmal herausgelockt hätte!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie können Sie so fest überzeugt sein, daß
+sie mit Ihnen entfliehen wird?“
+</p>
+
+<p>
+„O, machen Sie sich deshalb keine Sorgen! Davon
+bin ich vollkommen überzeugt. Das ist ja gerade
+mein Grundgedanke, wenn ich so sagen darf, daß Tatjana
+Iwanowna tatsächlich fähig ist, mit jedem ersten
+besten eine Liebesgeschichte anzufangen, buchstäblich mit
+jedem, dem es nur einfällt, darauf einzugehen. Deswegen
+habe ich auch Ihnen zuerst das Ehrenwort abgenommen,
+diese Idee nicht zu Ihren eigenen Gunsten
+auszunutzen. Jetzt werden Sie, denke ich, begreifen,
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+daß es von mir einfach Sünde wäre, wenn ich diese
+Gelegenheit nicht benutzen wollte, und noch dazu bei
+meinen Verhältnissen.“
+</p>
+
+<p>
+„So ist sie denn also ganz und gar verrückt ...
+Ach! verzeihen Sie,“ unterbrach ich mich, plötzlich mich
+besinnend, „da Sie jetzt diese Absicht haben, so ...“
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, genieren Sie sich nicht, ich habe Sie darum
+schon einmal gebeten. Sie fragen, ob Tatjana Iwanowna
+total verrückt sei? Was soll ich Ihnen darauf
+antworten? Natürlich ist sie <em>nicht</em> verrückt; denn noch
+sitzt sie nicht in einer Irrenanstalt. Zudem vermag
+ich in dieser Manie für Liebesdinge eigentlich keinen
+besonderen Irrsinn zu sehen. Sie aber ist trotz allem
+ein ehrenhaftes Mädchen. Sehen Sie mal: vor einem
+Jahre war sie noch entsetzlich arm, hatte seit ihrer Geburt
+bei ihren Wohltäterinnen wie im Joch gelebt. Sie
+hat ein sehr gefühlvolles Herz, um ihre Hand hat niemand
+sie jemals gebeten ... Nun, Sie verstehen:
+Träume, Wünsche, Hoffnungen, die Leidenschaften, die
+sie beständig hat unterdrücken müssen, die ewigen Schikanen
+der sogenannten Wohltäterinnen – alles das
+zusammen konnte seinen empfindsamen Menschen sehr
+wohl aufreiben. Und dann plötzlich dieser Reichtum!
+Sie werden doch zugeben, daß so etwas nicht nur eine
+Tatjana Iwanowna aus dem Gleichgewicht bringen
+kann. Nun, und jetzt sind natürlich alle hinter ihr her,
+alle machen ihr den Hof, umschwärmen sie – und alle
+ihre Hoffnungen sind auferstanden. Was sie zum Beispiel
+beim Tee von dem Geck in der weißen Weste erzählte,
+– Tatsache, es ist wirklich buchstäblich alles so
+geschehen, wie Sie es gehört haben. Nach dieser Begebenheit
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+können Sie sich auch das übrige denken. Mit
+Seufzern, Billets-doux, Gedichten können Sie sie sofort
+erobern, und wenn Sie dann noch heimliche Zusammenkünfte,
+spanische Serenaden und diesen ganzen Humbug
+hinzufügen, so können Sie sie zu allem bewegen.
+Ich habe auch schon einmal einen Versuch gemacht und
+sogleich ein nächtliches Stelldichein erreicht. Vorläufig
+habe ich mich aber bis zu günstigerer Zeit auf
+neutralen Boden zurückgezogen. Doch spätestens binnen
+vier Tagen wird man sie entführen müssen. Am Tage
+vor der Entführung fange ich mit dem Mumpitz an:
+Augendrehen, Seufzer und so weiter ... ich spiele nicht
+schlecht Gitarre und singe sogar. In der Nacht ein
+Stelldichein in der Laube und – beim Morgengrauen
+ist der Wagen bereit: ich locke sie hinaus, wir steigen
+ein und fahren los. Wie Sie sehen, ist hierbei nichts
+zu riskieren: sie ist mündig – und ganz abgesehen davon,
+wird es doch ihr freier Wille sein. Und wenn
+sie erst einmal mit mir entflohen ist, so heißt das natürlich,
+daß ... wir uns gegenseitig verpflichtet haben.
+Ich werde sie in eine gute, aber arme Familie bringen
+– ich kenne hier eine, vierzig Werst von hier – wo
+man sie bis zur Hochzeit auf den Händen tragen, doch
+keinen Menschen zu ihr lassen wird. Und ich werde
+inzwischen auch nicht unnütz die Zeit verlieren: nach
+spätestens drei Tagen müssen wir getraut sein – das
+läßt sich machen. Natürlich gehört dazu vor allen
+Dingen Geld. Aber ich habe schon berechnet: ich brauche
+nicht mehr als fünfhundert Rubel für das ganze Intermezzo,
+und zwar hoffe ich in der Beziehung auf Jegor
+Iljitsch: er wird sie mir geben, natürlich ohne zu wissen,
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+um was es sich handelt. Haben Sie mich jetzt vollkommen
+verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ sagte ich, da ich ihn allerdings nur zu gut
+verstanden hatte. „Aber sagen Sie doch, bitte, inwiefern
+ich Ihnen hierbei behilflich sein könnte?“
+</p>
+
+<p>
+„O, in sehr vielem, ich bitte Sie! Sonst hätte ich
+Sie doch wahrlich nicht eingeweiht. Ich habe Ihnen
+schon gesagt, daß ich sie in eine arme, aber sehr ehrenwerte
+Familie zu bringen beabsichtige. Sie nun können
+mir sowohl hier wie dort aushelfen, außerdem mein
+Trauzeuge sein. Ohne Ihren Beistand stehe ich gleichsam
+mit gebundenen Händen da.“
+</p>
+
+<p>
+„Noch eine Frage: Warum haben Sie gerade mich
+Ihres Vertrauens gewürdigt? Sie kennen mich doch
+gar nicht, ich bin doch erst vor ein paar Stunden hier
+eingetroffen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ihre Frage,“ antwortete Misintschikoff mit dem
+liebenswürdigsten Lächeln, „Ihre Frage bereitet mir,
+offen gestanden, ein großes Vergnügen; denn sie bietet
+mir Gelegenheit, Sie meiner ganz besonderen Hochachtung
+zu versichern.“
+</p>
+
+<p>
+„O, zuviel Ehre!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, sehen Sie mal, ich habe Sie vorhin, beim
+Tee, ein wenig studiert. Sie sind, nun ja, Sie sind
+heftig und ... und ... nun ja, und noch jung. Aber
+von einem bin ich durchaus überzeugt: Wenn Sie mir
+einmal Ihr Wort gegeben haben, keinem Menschen etwas
+davon zu erzählen, so werden Sie es auch halten.
+Sie sind kein Obnoskin – dies wäre Punkt eins. Punkt
+zwei: Sie sind ehrlich und werden mir meine Idee nicht
+stehlen, nicht wahr – natürlich ausgenommen den
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+Fall, daß Sie etwa mit mir in aller Freundschaft einen
+entsprechenden Vergleich abschließen wollten. In dem
+Fall wäre ich vielleicht einverstanden, Ihnen meine Idee
+abzutreten, oder vielmehr: Tatjana Iwanowna. Und
+ich würde sogar bereit sein, Ihnen bei der Entführung
+eifrig beizustehen, nur mit der Bedingung, daß Sie mir
+einen Monat nach der Trauung eine Summe von fünfzigtausend
+Rubel bar zahlen, selbstredend nach einer
+vorhergehenden Sicherstellung durch eine Schuldverschreibung
+... doch ohne Prozente.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie! Sie bieten die Dame jetzt bereits mir an?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich kann ich sie abtreten ... wenn
+Sie es sich überlegen sollten und zulangen wollen.
+Freilich verliere ich dabei, aber ... Doch die Idee gehört
+nun einmal mir, und für Ideen nimmt man doch
+Geld. Und schließlich, drittens, habe ich Sie gewählt,
+weil mir keine andere Wahl übrigbleibt. Lange zu
+zögern aber erscheint mir, nachdem ich mir über die
+hier herrschenden Zustände klar geworden bin, mehr
+als gefährlich. Hinzu kommt, daß bald die Fastenzeit
+vor Mariä Himmelfahrt beginnt und dann nicht getraut
+wird. So, jetzt haben Sie mich hoffentlich ganz
+verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Vollkommen, und ich verspreche Ihnen nochmals,
+Ihr Geheimnis heilig zu halten. Ihr Helfershelfer
+kann ich aber in dieser Angelegenheit nicht sein, was
+Ihnen unverzüglich mitzuteilen ich für meine Pflicht
+halte.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, weshalb nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie fragen noch?“ rief ich heftig aus, endlich den
+Gefühlen, die sich in mir angesammelt hatten, freien
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+Lauf lassend. „Sehen Sie denn nicht ein, daß eine
+solche Handlung schuftig, unehrenhaft ist? Gut, nehmen
+wir an, Sie rechneten ganz richtig, wenn Sie sich
+auf die Unklugheit und die unglückliche Manie dieses
+Mädchens stützen, aber – ebendies müßte Sie doch als
+Ehrenmann davon abhalten! Sie sagen ja selbst, daß
+Tatjana Iwanowna ein ehrenwertes Mädchen sei, wenn
+sie auch lächerlich ist. Und nun plötzlich wollen Sie
+ihr Unglück benutzen, um ihr hunderttausend Rubel abzuzapfen!
+Sie werden doch gewiß nicht ihr wirklicher
+Mann sein, der seine Pflicht in jeder Beziehung erfüllt.
+Sie werden sie unfehlbar verlassen ... Das ist aber
+so wenig ehrenhaft, daß ich, verzeihen Sie, eigentlich
+nicht begreife, wie Sie sich haben entschließen
+können mir die Rolle eines Helfershelfers zuzumuten!“
+</p>
+
+<p>
+„Donnerwetter, das ist mir mal eine Romantik!“
+rief Misintschikoff aus, während er mich mit ehrlicher
+Verwunderung ansah. „Übrigens handelt es sich hier
+wohl nicht so sehr um Romantik, sondern – Sie scheinen
+einfach nicht zu begreifen, um was es sich handelt. Sie
+sagen, es sei unehrenhaft, vergessen aber, daß alle Vorteile
+nicht auf meiner, sondern auf ihrer Seite sind
+... Bedenken Sie doch nur ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, natürlich, wenn man von Ihrem Standpunkt
+aus urteilt, dann ergibt sich womöglich noch, daß Sie
+die großmütigste Tat begehen, wenn Sie Tatjana Iwanowna
+heiraten,“ antwortete ich mit sarkastischem
+Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wie denn nicht? Aber das <em>ist</em> es doch! Es
+ist doch tatsächlich eine großmütige Tat!“ rief Misintschikoff
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+aus, der nun seinerseits in Hitze geriet. „Überlegen
+Sie es sich doch nur: erstens opfere ich mich und
+willige ein, ihr Mann zu sein – das kostet doch wohl
+etwas? Zweitens: ungeachtet dessen, daß sie blank und
+bar mehrere hunderttausend Rubel besitzt, werde ich nur
+einhunderttausend Rubel von ihr nehmen. Ich habe
+mir bereits mein Wort gegeben, daß ich, solange ich
+lebe, keine Kopeke mehr von ihr nehmen werde, obgleich
+ich es doch könnte: das aber kostet doch wiederum
+etwas – denken Sie nur nach: kann sie denn so ihr
+Leben ruhig verbringen? Damit sie ruhig leben kann,
+muß man ihr unbedingt das Geld abnehmen und ...
+müßte sie eigentlich in eine Irrenanstalt einsperren;
+denn sonst kann man sich darauf gefaßt machen, daß
+in jeder Minute irgendein Tagedieb, ein Schwindler
+oder Spekulant auftaucht, irgend so einer mit einem
+Spitzbart und Schnurrbart, mit einer Gitarre und mit
+Serenaden – wie etwa Obnoskin – der sie verführt,
+sie heiratet, ihr alles abnimmt und sie dann auf der
+Landstraße sitzen läßt. Hier, zum Beispiel, befinden
+wir uns in einem ehrenwertesten Hause – und dennoch
+hat man sie auch hier nur deshalb aufgenommen,
+weil man auf ihr Geld spekuliert. Vor diesen zweifelhaften
+Chancen muß man sie bewahren, beschützen,
+retten. Nun aber, begreifen Sie doch, sobald sie mich
+geheiratet hat, hört diese Berechnung sofort auf. Ich
+werde schon dafür Sorge tragen, daß kein Unglück sie
+wird treffen können. Nach der Trauung bringe ich
+sie zuerst nach Moskau in eine ehrenwerte, doch mittellose
+Familie – ich meine jetzt nicht jene, von der ich
+vorhin sprach –, nein, in eine andere Familie. Meine
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+Schwester wird beständig bei ihr sein. Man wird sie
+nicht aus den Augen lassen. An Geld behält sie etwa
+zweihundertfünfzigtausend Rubel, vielleicht sogar dreihunderttausend:
+damit kann man, wissen Sie, doch
+leben! Alle Vergnügungen sollen ihr geboten werden,
+alle Zerstreuungen, Bälle, Maskeraden, Konzerte. Sie
+kann sogar von Liebesabenteuern träumen – wenn
+ich mich auch in der Beziehung natürlich sicherstellen
+werde: träume soviel du willst, in Wirklichkeit aber
+– nie und nimmer! Jetzt kann ein jeder sie beleidigen,
+dann aber kann das keiner mehr tun: sie ist meine
+Frau, Madame Misintschikoff, und meinen Namen gebe
+ich nicht zum Gespött hin! Denken Sie doch nur, was
+das allein wert ist – das kostet doch etwas! Selbstredend
+werde ich nicht mit ihr zusammen leben: sie in
+Moskau und ich irgendwo in Petersburg. Diese meine
+Absicht teile ich Ihnen gleichfalls im voraus mit; denn
+Ihnen gegenüber will ich ehrlich sein. Aber was hat
+denn das auf sich, daß wir getrennt leben? Überlegen
+Sie es sich doch nur, denken Sie an ihren Charakter
+und sagen Sie selbst: Ist sie denn überhaupt fähig, Frau
+zu sein und mit ihrem Mann zusammen zu leben? Kann
+man denn auch nur irgendeine Beständigkeit von ihr
+erwarten? Sie ist doch das leichtsinnigste Geschöpf der
+Welt! Sie bedarf ewig der Veränderung. Sie ist
+fähig, am nächsten Tage zu vergessen, daß sie vor vierundzwanzig
+Stunden mir angetraut worden ist. Ja,
+ich würde sie schließlich nur unglücklich machen, wenn
+ich mit ihr zusammen leben und strenge Erfüllung ihrer
+ehelichen Pflichten verlangen wollte! Natürlich werde
+ich sie von Zeit zu Zeit besuchen, etwa einmal im Jahr
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+oder auch öfter, aber nicht, um dann Geld von ihr zu
+verlangen – ich versichere Sie, daß ich nichts von ihr
+verlangen werde. Ich habe Ihnen doch gesagt, daß ich
+mehr als hunderttausend Rubel nicht nehmen werde,
+bestimmt nicht! Im Geldpunkt werde ich mehr als verständig
+sein. Wenn ich auf zwei, drei Tage zum Besuch
+komme, werde ich ihr sogar Vergnügen und nicht
+etwa Langeweile bereiten: ich werde mit ihr scherzen,
+werde ihr Geschichten erzählen, werde mit ihr Bälle
+besuchen, flirten, ihr Andenken schenken, Romanzen
+singen und einen Liebesbriefwechsel mit ihr eingehen.
+Sie wird doch einfach entzückt sein – von einem so
+romantischen, verliebten und liebenswürdigen Ehemann!
+Meiner Meinung nach ist es sogar sehr rationell: alle
+Männer sollten so verfahren. Den Frauen sind sie ja
+nur dann wertvoll, wenn sie abwesend sind, und wenn
+ich mein System durchhalte, werde ich gewiß in der
+süßesten Weise Tatjana Iwanownas Herz für ihr
+ganzes Leben einnehmen. Was könnte man ihr noch
+Besseres wünschen? Sagen Sie doch! Das ist ja ein
+Paradies, aber keine Erdenwirklichkeit!“
+</p>
+
+<p>
+Ich hörte schweigend und mit wachsender Verwunderung
+zu. Ich sagte mir, daß man Herrn Misintschikoff
+nicht gut widerlegen konnte. Er war von der
+Rechtlichkeit und Genialität seines Projektes fanatisch
+überzeugt und sprach von ihm mit der ganzen Begeisterung
+eines Erfinders. Es blieb nur noch ein
+peinlicher Punkt übrig, über den man sich unbedingt
+aussprechen mußte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber denken Sie denn gar nicht daran,“ fragte
+ich, „daß sie schon so gut wie die Braut meines Onkels
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+ist? Wenn Sie sie nun entführen, dann nehmen Sie
+ihm die Braut fast am Tage vor der öffentlichen Verlobung
+fort und tun es außerdem noch mit seinem
+Gelde, das Sie von ihm zur Ausführung der gewagten
+Tat borgen wollen und werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Warten Sie, damit fange ich Sie gerade!“ rief
+Misintschikoff eifrig aus. „Ich habe diese Ihre Einwendung
+vorausgesehen. Aber erstens – und das ist
+die Hauptsache: Ihr Onkel hat ja noch nicht bei ihr
+angehalten, folglich brauche ich doch gar nicht zu wissen,
+daß man ihn mit ihr verkuppeln will. Zudem bitte
+ich, nicht zu vergessen, daß ich bereits vor drei Wochen
+meinen Entschluß gefaßt habe, also zu einer Zeit, als
+ich von allen Absichten der Generalin und Foma Fomitschs
+nichts ahnte. Folglich bin ich in moralischer
+Hinsicht durchaus im Recht, und genau genommen,
+mache nicht ich ihm, sondern macht er mir die Braut
+abspenstig, mit der ich – nicht zu vergessen! – inzwischen
+schon ein nächtliches Stelldichein in der Laube
+gehabt habe. Und dann erlauben Sie mal: Waren Sie
+nicht selbst außer sich darüber, daß man Ihren lieben
+Onkel mit dieser Tatjana Iwanowna verheiraten will?
+Und nun treten Sie plötzlich für diese Ehe ein, reden
+von Familienbeleidigung und Ehre! Im Gegenteil: ich
+verpflichte mir Ihren Onkel ganz außerordentlich, ich
+rette ihn gewissermaßen – das müssen Sie doch einsehen!
+Er denkt mit Ekel an diese Heirat – und hinzu
+kommt noch, daß er ein anderes Mädchen liebt. Und
+was wäre denn Tatjana Iwanowna für eine Frau für
+ihn? Und auch sie würde doch mit ihm nur unglücklich
+werden; denn – sagen Sie, was Sie wollen – man
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+wird sie dann doch zum mindesten im Zaume halten
+müssen, damit sie wenigstens jungen Herren keine Rosen
+zuwirft! Und wenn ich sie in der Nacht entführe, so
+kann doch weder die Generalin noch ein Foma Fomitsch
+als Hindernis in den Weg treten. Ein einmal entführtes
+Mädchen aber zu heiraten, das ist auch gerade
+keine Ehre. Also – verpflichte ich mir Jegor Iljitsch
+nicht zu ewigem Dank? Wende ich nicht ein großes
+Unglück von ihm ab?“
+</p>
+
+<p>
+Dieses letzte Argument machte allerdings einen sehr
+starken Eindruck auf mich.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wenn er morgen bei ihr anhält?“ fragte
+ich. „Dann würde es doch zu spät sein – wenn sie
+seine offizielle Braut ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich wäre es dann zu spät. Deshalb
+muß man auch schnell handeln, um dies zu verhüten.
+Weshalb und wozu habe ich Sie denn um Ihren
+Beistand gebeten? Allein würde es mir schwerfallen,
+vereint aber könnten wir alles gut einleiten und durchführen,
+können wir vor allem verhindern, daß Jegor
+Iljitsch bei ihr anhält. Man muß alles daransetzen,
+um das, wie gesagt, zu verhindern, muß im äußersten
+Fall – wenn’s nicht anders geht – Foma Fomitsch
+verprügeln und damit die allgemeine Aufmerksamkeit
+so ablenken, daß dann niemand mehr an Hochzeiten
+denkt. Selbstredend käme dieses Mittel nur für den
+äußersten Fall in Frage; wie gesagt, ich nahm es nur
+als Beispiel. Nun sehen Sie: In all diesen Beziehungen
+hoffe ich auf Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Noch eine Frage, die letzte: Haben Sie außer mir
+niemandem etwas von Ihrem Plan gesagt?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+Misintschikoff kratzte sich ein wenig hinterm Ohr
+und schnitt eine überaus saure Grimasse.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will Ihnen gestehen,“ antwortete er, „daß
+diese Frage für mich schlimmer ist als die bitterste Pille.
+Das ist ja der Haken, daß ich meinen Plan schon einem
+anderen mitgeteilt habe ... Ich habe ... ich habe ...
+ich habe mir da einen verteufelten Brei eingebrockt!
+Und was glauben Sie wohl, wem ich ihn mitgeteilt
+habe? – <em>Obnoskin!</em> Ich begreife es selbst nicht,
+ich kann es mir selber gar nicht glauben! ... Ja, ich
+weiß nicht einmal, wie es eigentlich kam! Er scharwenzelte
+hier herum ... ich kannte ihn noch nicht näher,
+und als die Eingebung mich beglückte, da war ich natürlich
+wie im Fieber – ... und da ich mir gleichzeitig
+sagte, daß ich ohne einen Helfershelfer nicht auskommen
+würde, so wandte ich mich eben an Obnoskin.
+... Unverzeihlich von mir, unverzeihlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, und Obnoskin?“
+</p>
+
+<p>
+„O, er war mit Begeisterung zu allem bereit, aber
+am nächsten Morgen verschwand er. Nach drei Tagen
+erschien er wieder – diesmal aber mit seiner Frau
+Mutter. Mit mir spricht er seitdem kein Wort und er
+meidet mich sogar auffallend: er scheint mich geradezu zu
+fürchten. Ich begriff natürlich sofort, um was es sich
+handelte. Seine Mutter ist ein so abgefeimtes, durchtriebenes
+Frauenzimmer, wie man ein zweites schwerlich
+finden könnte. Ich habe sie schon früher gekannt.
+Er hat ihr natürlich alles erzählt. Ich schweige vorläufig
+und warte ab. Sie spionieren hier jetzt eifrig
+herum, und die Situation ist sehr gespannt ... Deshalb
+beeile ich mich auch.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+„Was befürchten Sie denn von ihnen?“
+</p>
+
+<p>
+„Großes werden sie freilich nicht ausrichten; daß
+sie aber Unfug anstiften werden, davon bin ich überzeugt.
+Wahrscheinlich werden sie fürs Schweigen und
+vielleicht auch für ihren Beistand Geld fordern –
+darauf bin ich schon gefaßt. Aber mehr als dreitausend
+bar – kann ich unmöglich. Urteilen Sie selbst:
+Dreitausend den Obnoskins, fünfhundert blank und
+bar für die Trauung und Entführung; denn dem Onkel
+muß unverzüglich die ganze Summe zurückgegeben
+werden. Dann noch alte Schulden. Nun, meiner
+Schwester noch eine kleine Summe, nicht viel, aber
+immerhin etwas. Was bleibt dann von hunderttausend
+noch übrig? Das ist doch der reine Bankrott! ... Die
+Obnoskins sind übrigens heute fortgefahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Fortgefahren?“ fragte ich interessiert.
+</p>
+
+<p>
+„Sogleich nach dem Tee. Ach, zum Teufel mit
+ihnen! Morgen aber, das werden sie sehen, werden
+Mutter und Sohn wieder erscheinen. Nun, wie ist’s
+denn, sind Sie einverstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... verzeihen Sie,“ begann ich zögernd in
+dieser etwas peinlichen Lage, „ich weiß nicht recht, was
+ich sagen soll. Die Sache ist etwas kitzlig ... Ich
+werde das Geheimnis natürlich heilig halten – ich bin
+nicht Obnoskin ... aber, ich glaube ... Sie können
+sich nicht auf meinen Beistand verlassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sehe,“ sagte Misintschikoff ruhig und erhob
+sich vom Stuhl, „ich sehe, daß Foma Fomitsch und die
+Großmama Ihre Geduld noch nicht erschöpft haben,
+und daß Sie, wenn Sie Ihren guten, durch und durch
+edlen Onkel auch lieben mögen, dennoch nicht genügend
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+begriffen haben, wie sehr er gequält wird. Sie sind
+hier noch Neuling ... Aber nur ein wenig Geduld!
+Wenn Sie nur den morgigen Tag noch miterleben,
+werden Sie schon am Abend einwilligen; denn sonst
+ist doch Ihr Onkel rettungslos verloren – Sie verstehen
+mich? Man wird ihn unfehlbar zwingen, Tatjana
+Iwanowna zu heiraten. Und vergessen Sie nicht,
+daß er vielleicht morgen schon anhalten wird. Dann
+werden wir zu spät kommen – man müßte sich also
+eigentlich schon heute entschließen.“
+</p>
+
+<p>
+„Glauben Sie mir, ich wünsche Ihnen den besten
+Erfolg, aber helfen ... ich weiß nicht recht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut. Warten wir bis morgen,“ entschied
+Misintschikoff mit etwas spöttischem Lächeln. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">La
+nuit porte conseil.</span> Auf Wiedersehen! Ich werde
+morgen etwas früher zu Ihnen kommen, und Sie überlegen
+es sich inzwischen ...“
+</p>
+
+<p>
+Er ging, irgend etwas vor sich hinpfeifend.
+</p>
+
+<p>
+Ich trat fast unmittelbar nach ihm hinaus in den
+Garten, um mich zu erfrischen. Der Mond war noch
+nicht aufgegangen. Die Nacht war dunkel, die Luft
+warm und schwül. Die Blätter der Bäume regten
+sich nicht. Ungeachtet meiner entsetzlichen Müdigkeit
+wollte ich etwas gehen, mich zerstreuen und doch wieder
+meine Gedanken sammeln. Ich war aber noch keine
+zehn Schritte gegangen, als ich die Stimme meines
+Onkels vernahm. Er stieg mit einem anderen die
+Treppenstufen zum Sommerhaus hinan und sprach lebhaft.
+Ich kehrte sofort zurück und rief ihn. Der andere
+war Widopljässoff.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-14">
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+<span class="firstline">XI.</span><br>
+Äußerste Verwunderungen.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>O</span><span class="postfirstchar">nkel!“</span> rief ich, „da sind Sie ja endlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Freund, ich wollte mich die ganze Zeit losmachen,
+um zu dir zu kommen. Laß mich jetzt noch den Widopljässoff
+abfertigen, dann können wir uns ruhig aussprechen.
+Ich habe dir viel zu erzählen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, Sie wollen sich noch mit Widopljässoff abgeben!
+Schicken Sie ihn doch zum Teufel, Onkel!“
+</p>
+
+<p>
+„Nur noch fünf, höchstens zehn Minuten, und ich
+gehöre dir allein, Ssergei. Sieh: es handelt sich um
+eine wichtige Angelegenheit.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, der Kerl kommt doch sicherlich nur mit
+Dummheiten!“ meinte ich ärgerlich.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was soll ich dir nun sagen, mein Bester?
+Hättest du dir nicht eine andere Zeit wählen können,
+um mir mit diesen Kleinigkeiten zu kommen! Hast du
+denn wirklich keine andere Zeit, um deine Klagen vorzubringen,
+Grigorij? Nun, was kann ich denn für dich
+tun? Hab doch <em>du</em> wenigstens Mitleid mit mir! Ich
+werde ja doch von euch sozusagen wie eine Zitrone ausgepreßt,
+werde lebendig verzehrt, gierig verschlungen!
+Meine Kraft ist erschöpft, Ssergei!“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel streckte die Arme auseinander, wie
+in aussichtsloser Verzweiflung.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn das für eine so wichtige Sache, daß
+sie sich nicht bis morgen früh aufschieben läßt? Ich
+hätte es dagegen so dringend nötig, mit Ihnen, Onkel,
+über Wichtiges zu reden ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach Freund, es wird ja ohnehin schon laut genug
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+geklagt und geschrien, daß ich mich um die Sittlichkeit
+meiner Leute nicht kümmere! Da könnte er sich ja
+morgen über mich beschweren, daß ich ihn nicht angehört
+hätte, und dann ...“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel machte wieder seine bezeichnende
+Armbewegung.
+</p>
+
+<p>
+„Na, dann fertigen Sie ihn schnell ab! Kann ich
+Ihnen nicht helfen? Gehen wir hinein. Was will
+er denn eigentlich?“ fragte ich, als wir ins Zimmer
+traten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, sieh mal, Freund, sein Familienname gefällt
+ihm nicht, er bittet mich, ihm einen anderen zu verschaffen.
+Was sagst du dazu?“
+</p>
+
+<p>
+„Sein Familienname gefällt ihm nicht? Wie das?
+... Wissen Sie, Onkel, bevor ich ihn selbst anhöre,
+erlauben Sie, Ihnen zu sagen, daß nur in Ihrem Hause
+solche Wunderlichkeiten vorkommen können!“ Und vor
+lauter Nichtverstehenkönnen breitete ich kopfschüttelnd
+die Arme aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund! Glaub mir, auch ich verstehe es, so
+die Arme auszubreiten, aber damit ist keinem geholfen!“
+sagte mein Onkel etwas ärgerlich. „Versuch es doch,
+mit ihm zu reden, versuch’s nur. Schon ganze zwei
+Monate quält er mich damit ...“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ein unbegründeter Familienname,“ bemerkte
+Widopljässoff von der Tür her.
+</p>
+
+<p>
+„Warum denn ein unbegründeter?“ fragte ich ihn
+erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+„So. Ich meine, er stellt jede Abscheulichkeit dar,
+die man sich nur ausdenken kann.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+„Wieso – jede Abscheulichkeit? Und wie soll man
+ihn denn ändern? Wer tut denn so etwas überhaupt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Euch, welcher Mensch hat denn einen
+solchen Familiennamen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich gebe ja zu, daß dein Familienname zum Teil
+etwas eigenartig ist,“ fuhr ich in wachsender Verwunderung
+fort, „aber was läßt sich denn jetzt noch
+daran ändern? Dein Vater hat doch denselben Namen
+geführt?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist durchaus wahr: daß ich durch meinen
+Vater dieserhalb zu ewigem Leiden verurteilt bin, da
+es mir beschieden ist, dank meinem Namen viel Spott
+und Schimpf ertragen zu müssen,“ antwortete Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ich könnte wetten, Onkel, daß hinter dieser Idee
+Foma Fomitsch steckt!“ rief ich geärgert aus.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Freund, nein, da täuschst du dich! Es
+ist allerdings wahr, Foma tut ihm viel Gutes. Er
+hat ihn zu seinem Sekretär ernannt. In Sekretärobliegenheiten
+besteht jetzt seine ganze Beschäftigung.
+Nun und außerdem hat Foma selbstverständlich für
+seine geistige Entwicklung gesorgt, hat ihn zu wahrem
+Seelenadel erhoben, so daß ihm in gewisser Beziehung
+sogar ein Licht aufgegangen ist ... Hör, ich werde dir
+alles erzählen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das stimmt genau,“ unterbrach Widopljässoff,
+„daß Foma Fomitsch mein wahrhaftiger Wohltäter
+sind, und da sie mein wahrhaftiger Wohltäter sind,
+haben sie mir auch meine ganze irdische Nichtigkeit
+mehrfach bewiesen, wie ich beispielsweise hier auf
+Erden nur ein Wurm bin, so daß ich nur dank ihrer
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+Unterweisungen zum erstenmal mein Schicksal erkannt
+und vorausgesehen habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Hör mich an, Sserjosha, ich werde dir erzählen,
+um was es sich hier handelt,“ wandte sich mein Onkel
+eilig, wie es seine Art war, an mich wie an einen
+Schiedsrichter. „Er lebte zuerst, fast seit seiner Kindheit,
+in Moskau bei einem Schönschreiblehrer als –
+nun, so als dienstbarer Geist. Du müßtest sehen, wie
+er bei ihm die Schönschreibekunst erlernt hat: mit
+Farben und Gold ... und ... rund herum, weißt du,
+malt er dir noch Kupidos – mit einem Wort, ein
+Künstler! Iljuscha lernt jetzt bei ihm Schönschreiben.
+Zahle ihm anderthalb Rubel für die Stunde. Foma
+hat selbst den Preis bestimmt, anderthalb Rubel, wie
+gesagt. Er fährt außerdem zu drei benachbarten Gutsbesitzern
+ins Haus – die zahlen gleichfalls. Und sieh,
+wie er sich kleidet! Außerdem schreibt er Gedichte.“
+</p>
+
+<p>
+„Gedichte! Das fehlte gerade noch!“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, Gedichte, Freund, glaub mir, Gedichte!
+Und denke nicht, daß ich scherze: wirkliche Gedichte,
+sag ich dir, Versifikationen, oder wie man es nennt,
+mit Reimen am Ende. Er behandelt alle Gegenstände,
+nimmt irgendein x-beliebiges Ding und beschreibt’s dir
+sofort in Versen. Ein richtiges Talent, sozusagen.
+Zum Namenstage meiner Mutter hatte er eine Epistel
+verfaßt, daß wir nur so die Münder aufsperrten: sogar
+aus der Mythologie hatte er was genommen, und
+die Musen schwebten in der Luft, so daß sogar, weißt
+du, diese ... wie heißt das Ding doch gleich? – na
+ja, diese Vollendung der Form zu sehen war, – mit
+einem Wort, jede Zeile klappte und reimte sich immer
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+mit einer vorhergehenden. Foma hatte es korrigiert
+... Nun, ich, natürlich – was sollte ich sagen? freute
+mich auch meinerseits. Mag er doch dichten, wenn er
+es nur nicht zu bunt treibt! Ich, weißt du, Grigorij,“
+wandte er sich an Widopljässoff, „ich sage dir das ja
+nur wie ein Vater. Foma hörte davon, ließ sich das
+Gedicht bringen, munterte ihn noch auf und ernannte
+ihn sogleich zu seinem Vorleser und Schreiber, – mit
+einem Wort, er sorgte für seine Bildung. Das ist also
+durchaus wahr, was er da sagte: daß Foma sein Wohltäter
+sei. Nun und so, weißt du, hat sich so ein bißchen
+edle Romantik in seinem Kopf entwickelt und so ein
+Gefühl der Unabhängigkeit – das hat mir alles Foma
+erklärt; leider habe ich die Einzelheiten, Hand aufs
+Herz, wieder vergessen. Nun wollte ich – Ehrenwort!
+– ich wollte ihn ohnehin befreien, noch bevor
+Foma davon zu reden anfing. Es ist, weißt du, doch
+immer irgendwie ... man schämt sich gewissermaßen
+... Ja, aber Foma war dagegen, er braucht ihn, er
+hat ihn liebgewonnen. Und dann sagt er: mir, seinem
+Herrn, gereiche es zur größeren Ehre, wenn ich unter
+meinen Leibeigenen Dichter habe, – es habe irgendwo
+mal solche Barone gegeben oder Ritter, na, kurz
+und gut – das sei <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>. Nun, soll’s einmal
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span> sein, dann meinetwegen <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>! Ich
+habe ihn, den Grigorij, schon achten gelernt – verstehst
+du das? ... Aber Gott weiß, wie er sich aufführt.
+Am schlimmsten ist, daß er, nachdem er sein
+Gedicht verfaßt hat, vor dem ganzen übrigen Gesinde
+die Nase in die Höhe zieht und mit den anderen nicht
+einmal mehr sprechen will. Doch fühl dich nicht gekränkt,
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+Grigorij, ich sage es nur wie ein Vater von
+dir. Im letzten Winter wollte er heiraten: es ist hier
+ein junges Mädchen, vom Hofgesinde, Matrjona, und,
+weißt du, so ein nettes, ehrliches, arbeitsames, lustiges
+Mädel. Na, und nun will er sie plötzlich nicht, sagt
+ab. Ist er jetzt so hoher Meinung von sich oder beabsichtigt
+er, zuerst berühmt zu werden und dann bei
+einer anderen anzuhalten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mehr auf den Rat Foma Fomitschs hin,“ bemerkte
+Widopljässoff, „da Sie mein wahrhaftiger Wohltäter
+sind ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber natürlich! Wie wäre denn hier etwas ohne
+Foma Fomitsch möglich!“ rief ich unwillkürlich aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund, nicht darum handelt es sich!“ unterbrach
+mich mein Onkel eilig, „sieh mal: jetzt lassen sie
+ihm keine Seelenruh. Jenes Mädchen, ein gewandtes
+und gescheites Ding, hat jetzt alle gegen ihn aufgehetzt:
+sie necken und foppen ihn beständig – und sogar die
+kleinen Hofjungen behandeln ihn wie einen Narren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was mehr auf Matrjona zurückzuführen ist,“ bemerkte
+wieder Widopljässoff; „denn sie ist eine echte
+dumme Gans, und da sie eine echte dumme Gans ist,
+ist sie, was ihren Charakter angeht, ein unbeflügeltes
+Weibsbild. Auf diese Weise bin ich zu ewigem Leiden
+in meinem Leben verdammt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Grigorij, ich habe es dir doch gesagt,“ fuhr
+mein Onkel fort, nach einem vorwurfsvollen Blick auf
+Widopljässoff. „Sieh mal, Ssergei, die Hofleute haben
+nun glücklich ein schmutziges Wort gefunden, das sich
+auf seinen Namen reimt. Und jetzt kommt er zu mir,
+beklagt sich und bittet, ihm einen anderen Familiennamen
+<a id="page-242" class="pagenum" title="242"></a>
+zu geben, sagt, daß er schon lange unter dem
+Mißklang desselben gelitten habe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist kein veredelter Name,“ bemerkte wieder
+Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Na, du schweige mal jetzt, wenn ich rede, Grigorij!
+Foma hat ihn darin natürlich bestärkt ... das heißt
+... nicht gerade, daß er den Einfall gutgeheißen hätte;
+aber sieh, es handelt sich um folgende Erwägung: wenn
+nun, nehmen wir an, seine Gedichte gedruckt werden,
+was Foma projektiert, so kann ein solcher Familienname
+ihm doch geradezu schaden – nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„So will er seine Gedichte drucken lassen, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Drucken, drucken, Freund. Das ist schon beschlossene
+Sache – auf meine Rechnung, – und auf
+dem Titelblatt wird stehen, daß sie von einem Leibeigenen
+Soundso verfaßt sind, und im Vorwort, das
+Foma schreiben wird, soll der Dank des Autors für die
+ihm gebotene Bildung ausgesprochen werden. Das
+Ganze ist Foma gewidmet. Foma wird, wie gesagt,
+selbst eine Einleitung schreiben. Und nun denke dir,
+wenn auf dem Titelblatt steht: ‚Widopljässoffs Gedichte‘
+...“
+</p>
+
+<p>
+„‚Widopljässoffs Wehklagen‘,“ korrigierte Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, sieh – dazu noch Wehklagen! Was ist denn
+Widopljässoff für ein Name? Er verletzt ja geradezu
+unser Zartgefühl. Das sagt auch Foma. Die Kritiker
+aber sollen, wie es heißt, alle sehr unangenehme Spötter
+sein. Zum Beispiel unser großer Kritiker der ‚Moskauer
+Nachrichten‘ ... Die nehmen auf nichts Rücksicht.
+Sie können ihn ja einzig wegen seines Familiennamens
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+unmöglich machen – nicht wahr? Nun, ich meine:
+mag er doch gleichviel welch einen Namen auf seinen
+Buchdeckel schreiben – wie nennt man das doch gleich
+... Pseudonym, glaube ich, oder so ungefähr, jedenfalls
+etwas mit ‚nym‘. Aber nein, damit ist er nicht
+einverstanden; er will, daß ich dem ganzen Hofgesinde
+anbefehle, ihn sein Leben lang nur bei einem ganz
+neuen Namen zu nennen, damit er, seinem Talent entsprechend,
+wie gesagt, einen ‚veredelten Namen‘
+habe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich könnte wetten, daß Sie es ihm auch versprochen
+haben, Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... weißt du, Freund Sserjosha, nur um
+mit ihnen nicht wieder in Streit zu geraten ... Laß
+gut sein! Es war damals zwischen uns, Foma und
+mir, hm! ... so ein Mißverständnis – du verstehst
+schon. Nun, und seit der Zeit gibt es in jeder Woche
+einen anderen Familiennamen, und immer wählt er sich
+so zarte Bedeutungen aus: Oleandroff, Tulpenoff ...
+Sag doch selbst, Grigorij, denk doch nach: Zuerst batest
+du, daß man dich Wernyj<a class="fnote" href="#footnote-3" id="fnote-3">[3]</a> nenne, ‚Grogorij Wernyj‘.
+Dann aber gefiel dir der Name nicht mehr, weil irgendein
+Hofbengel einen Reim gefunden hatte und dich
+‚Skwernyj‘<a class="fnote" href="#footnote-4" id="fnote-4">[4]</a> nannte. Du beklagtest dich: der Bengel
+wurde bestraft. Zwei Wochen lang dachtest du dir
+einen anderen Namen aus. Endlich hattest du dich
+entschlossen: Kamst, batest, man solle dich ‚Ulanoff‘
+nennen. Aber sag doch selbst, kann es denn einen
+dümmeren Namen als ‚Ulanoff‘ überhaupt geben?
+<a id="page-244" class="pagenum" title="244"></a>
+Doch ich war auch damit einverstanden: befahl von
+neuem, dich nur noch ‚Ulanoff‘ zu nennen. Ich tat es
+nur, Freund“ – mein Onkel wandte sich wieder an
+mich – „um die Sache vom Halse zu haben. Drei
+Tage lang hießest du ‚Ulanoff‘. Du hast alle Wände,
+alle Fensterbretter im Pavillon verdorben; denn, weißt
+du, Sserjosha, er hat überall seinen Namenszug angebracht:
+‚Grogorij Ulanoff‘. Später mußte dann alles
+mit weißer Farbe übergestrichen werden. Du hast ein
+ganzes Buch holländisches Papier zur Übung deiner
+Unterschrift verbraucht: ‚Ulanoff – Schriftprobe –
+Ulanoff – Schriftprobe‘. Na, dann war ihm auch
+Ulanoff nicht recht: auf Ulanoff reimt sich zum Unglück
+‚Bolwanoff‘<a class="fnote" href="#footnote-5" id="fnote-5">[5]</a>. ‚Ich will vom Gesinde nicht
+Bolwanoff genannt werden,‘ sagte er – und wieder
+mußte der Name geändert werden! Wie hießest du
+dann noch, ich habe es vergessen.“
+</p>
+
+<p>
+„‚Tanzeff‘,“ antwortete Widopljässoff. „Wenn es
+mir durch meinen Namen Widopljässoff auferlegt ist,
+einen Hampelmann darzustellen, dann möge es doch
+wenigstens eine veredelte, eine ausländische Benennung
+sein: Tanzeff.“
+</p>
+
+<p>
+„Richtig: ‚Tanzeff‘. Nun, Freund, weißt du, ich
+war auch damit einverstanden. Aber die Hofbengel
+sind dann auf einen solchen Reim verfallen, daß man
+ihn überhaupt nicht aussprechen darf. Heute kommt
+er wieder, will wieder einen neuen Namen haben. Ich
+wette, daß du ihn schon in Bereitschaft hast. Nun,
+hab’ ich nicht recht, Grigorij, heraus mit der Sprache!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+„Ich habe dieserhalb schon seit langem die Absicht,
+Euch meinen neuen Namen zu Füßen zu breiten: einen
+neuen veredelten.“
+</p>
+
+<p>
+„Und wie lautet er denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Esbuketoff.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Und du schämst dich nicht, Grigorij? Ein
+Name, von der Pomadenbüchse genommen! Du willst
+doch ein vernünftiger Mensch sein! Und wie lange du
+darüber gebrütet haben wirst! Nicht wahr, den hast
+du auf der Parfümflasche gelesen?“
+</p>
+
+<p>
+„Erbarmen Sie sich, Onkel,“ sagte ich halblaut zu
+ihm, „der Kerl ist doch ein Esel, ein ausgesprochener
+Narr!“
+</p>
+
+<p>
+„Was soll ich denn tun, Freund?“ fragte mein
+Onkel gleichfalls halblaut zurück. „Rund herum versichern
+alle, daß er klug und so begabt sei, und daß
+dies nur die edlen Gefühle seien, die sich in ihm
+regten ...“
+</p>
+
+<p>
+„So schicken Sie ihn doch um Christi willen zum
+Teufel, machen Sie sich doch endlich von ihm los!“
+</p>
+
+<p>
+„Hör mal, Grigorij! Sieh, mein Lieber, ich habe
+doch bei Gott keine Zeit!“ begann mein Onkel mit
+einer geradezu bittenden Stimme, als fürchte er sogar
+seinen eigenen Diener. „Nun, sag doch selbst, wie kann
+ich mich denn jetzt mit deinen Klagen befassen! Du
+sagst, man hätte dich wieder gekränkt? Nun gut, also
+höre: ich gebe dir hiermit mein Ehrenwort, daß ich
+morgen die ganze Angelegenheit erledigen werde, jetzt
+aber geh mit Gott ... Wart! Was macht Foma
+Fomitsch?“
+</p>
+
+<p>
+„Haben sich zur Ruhe begeben. Geruhten nur zu
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+befehlen, falls jemand nach ihnen fragen sollte, dann
+zu sagen, daß sie diese Nacht im Gebet kniend zu verbringen
+gedächten.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Nun, geh mal, geh! – Sieh, Sserjosha,
+er ist beständig bei Foma, so daß ich ihn ordentlich
+fürchte. Und das Hofgesinde liebt ihn ja auch nur
+deshalb nicht, weil er Foma alles hinterbringt. Jetzt
+ist er gegangen, aber wer weiß, ob er nicht morgen
+irgend etwas klatschen wird. Aber jetzt habe ich alles
+gut gemacht, Freund. Ich bin jetzt ganz ruhig ...
+Es drängte mich nur zu dir ... Gott sei Dank, jetzt
+habe ich dich endlich wieder!“ sagte er mit innigem
+Gefühl, und er drückte fest meine Hand. „Weißt du,
+ich glaubte und fürchtete schon, daß du ernstlich böse seist
+und mir entschlüpfen würdest. Ich habe sogar auf dich
+aufpassen lassen, damit du mir nicht entwischst! Nun,
+Gott sei Dank! Jetzt ist’s überstanden! Aber vorhin –
+was? – der alte Gawrila? – was er ihm da sagte!
+Und auch Falalei, und du! – eins zum anderen! Nun,
+Gott sei Dank, Gott sei Dank! Endlich kann ich mich
+mit dir aussprechen. Werde dir mein ganzes Herz
+ausschütten. Du, Ssergei, fahre mir nur nicht fort: du
+bist der einzige, den ich habe, du und Korowkin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, erlauben Sie, Onkel, was haben Sie denn
+dort ‚gut gemacht‘, und worauf soll ich denn hier noch
+warten, nach dem, was vorgefallen ist? Offen gestanden,
+mir dreht sich der Kopf im Kreise!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach – steht mein Kopf etwa still? Der tanzt
+schon seit einem halben Jahre Walzer! Aber Gott sei
+Dank! jetzt ist alles wieder gut. Man hat mir vor
+allen Dingen verziehen, vollkommen verziehen, unter
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+verschiedenen Bedingungen natürlich: aber dafür bin
+ich jetzt ganz ruhig und brauche nichts mehr zu fürchten.
+Meiner Ssaschenjka haben sie gleichfalls alles verziehen.
+Aber die war doch vorhin, die war doch! – was? ...
+heißes Herzchen! Ließ sich bißchen hinreißen ... Aber
+hat doch ein goldenes Herzchen! Weißt du, ich bin sehr
+stolz auf mein kleines Mädchen, Sserjosha. Möge Gott
+sie immer behüten. Dir wurde gleichfalls verziehen, und
+weißt du, sogar <em>wie</em>! – Du kannst alles tun, was
+du willst, kannst durch alle Zimmer gehen und auch
+im Garten spazieren, und sogar dann, wenn Gäste da
+sind – mit einem Wort, alles, was du willst; aber
+nur unter einer Bedingung, daß du morgen in Foma
+Fomitschs oder meiner Mutter Gegenwart nicht sprichst,
+nur unter der Bedingung! Also buchstäblich keine
+Silbe – ich habe es auch schon in deinem Namen
+feierlich versprochen, – und du wirst nur zuhören, was
+die Älteren ... Das heißt, ich wollte sagen, was die
+anderen sprechen. Sie sagten, du seist noch zu jung.
+Du, Ssergei, nimm es nicht übel; denn schließlich bist
+du ja auch wirklich noch jung ... Auch Anna Nilowna
+sagt es ...“
+</p>
+
+<p>
+Allerdings war ich damals noch sehr jung, was
+ich sofort dadurch bewies, daß ich ob solcher beleidigenden
+Bedingungen in helle Empörung geriet.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Onkel!“ rief ich heftig aus, „sagen
+Sie mir bitte nur eines, und beruhigen Sie mich wenigstens
+in dieser Hinsicht: Befinde ich mich hier tatsächlich
+in einer Irrenanstalt, oder –?“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben wir’s, Freund, du willst gleich Kritik
+üben! Konntest du denn das auf keine Weise unterdrücken?“
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+sagte er betrübt. „Durchaus nicht in einer
+Irrenanstalt! Wir sind nur so von beiden Seiten ein
+wenig in Eifer geraten. Aber du mußt doch zugeben,
+Freund, daß auch du dich nicht ganz <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">comme il faut</span>
+benommen hast. Du entsinnst dich doch noch dessen,
+was du ihm an den Kopf warfst, – einem Manne,
+der doch immerhin in ehrwürdigem Alter steht!“
+</p>
+
+<p>
+„Solche Leute wie er haben kein ehrwürdiges Alter,
+Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Na, Freund, das ist denn doch etwas über die
+Schnur gehauen! Das ist mehr als Freidenkertum.
+Ich habe ja selbst nichts gegen ein vernünftiges Freidenkertum,
+aber das ist denn doch etwas zu stark –
+das heißt ... ich meine ... ich – du hast mich eigentlich
+überrascht, Ssergei.“
+</p>
+
+<p>
+„Seien Sie mir nicht böse, Onkel, ich sehe meine
+Schuld vollkommen ein, meine Schuld vor Ihnen.
+Was aber Ihren Foma Fomitsch betrifft ...“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben wir’s! Nun auch noch ‚<em>Ihren</em>‘ Foma
+Fomitsch! Ach, Freund, beurteile ihn nicht gar zu
+streng: er ist etwas misanthropisch veranlagt – und
+das ist alles ... und ein bißchen kränklich. Man darf
+ihn nicht so streng beurteilen. Dafür aber ist er ein
+edler Mensch, der edelste, kann man sagen, von allen!
+Du warst ja doch vorhin selbst Zeuge – er leuchtete
+förmlich! Und daß er zuweilen so seine kleinen Eigenheiten
+hat und uns ein Stückchen spielt – lohnt es
+sich denn, das zu beachten? Bei wem kommt denn so
+etwas nicht vor?“
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil, Onkel, bei wem kommt denn so
+etwas überhaupt vor?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+„Ach, da kommst du wieder damit! Gutmütig bist
+du gerade nicht, Sserjosha; zu verzeihen verstehst du
+nicht! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut, Onkel, gut, lassen wir das. Sagen
+Sie, haben Sie Nastassja Jewgrafowna gesehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund, um sie allein handelte sich ja alles.
+Sieh, Sserjosha, erstens – und das ist das wichtigste
+–: wir haben beschlossen, ihn morgen alle zum Geburtstage
+zu beglückwünschen, – Foma, meine ich –
+weil nämlich morgen wirklich sein Geburtstag ist.
+Ssaschenjka ist ein gutes Kind, aber hierin täuschte sie
+sich. Wir werden also alle, die ganze Karawane, zu
+ihm gehen, noch vor dem Frühgottesdienst. Iljuschka
+wird ein Gedicht vortragen, so daß er sich sehr geschmeichelt
+fühlen wird. Wenn doch auch du ihn, Sserjosha,
+zusammen mit uns beglückwünschen würdest!
+Er würde dir dann vielleicht alles verzeihen. Und wie
+gut das doch wäre, wenn ihr euch aussöhnen würdet!
+Vergiß, Freund, die Kränkung, du hast ihn ja doch
+auch gekränkt, Sserjosha ... Er ist ein so ehrenwerter
+Mensch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, um’s Himmels willen, ich habe von so wichtigen
+Dingen mit Ihnen zu reden, Sie aber ...
+Wissen Sie denn,“ fragte ich nochmals, „wissen Sie
+denn, was mit Nastassja Jewgrafowna geschehen ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Was, Freund, wie? Was fehlt dir? Weshalb
+bist du so heftig? Aber ihretwegen hat doch die ganze
+Geschichte vorhin angefangen! Übrigens hat sie nicht
+erst vorhin, sondern schon vor langer Zeit angefangen.
+Ich wollte dir davon nur jetzt noch nichts sagen, um
+dich nicht zu erschrecken ... Man wollte sie einfach hinausjagen,
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+nun, und von mir verlangt man, daß ich sie
+nach Hause schicke. Du kannst dir meine Lage vorstellen
+... Nun, Gott sei Dank! Jetzt ist alles wieder
+gut. Sie dachten nämlich, sieh mal, – ich werde dir
+lieber schon alles sagen – sie glaubten, daß ich selbst
+in sie verliebt sei und sie heiraten wollte, kurz und
+gut, daß ich sie in mein eigenes Unglück hineinzureißen
+beabsichtigte – denn das wäre es wirklich. So haben
+sie mir auch alles erklärt ... und daher, um mich zu
+retten, hatten sie beschlossen, sie hinauszujagen. Vor
+allem meine Mutter, aber hauptsächlich Anna Nilowna.
+Foma schweigt vorläufig noch. Aber jetzt habe ich sie
+alle beruhigt, und ich will dir sogleich gestehen: Ich
+habe dort gesagt, du seist bereits mit Nastenjka verlobt
+– und nur deshalb hergekommen. Nun, das beruhigte
+sie zum Teil, und sie kann jetzt hierbleiben. Und auch
+du bist jetzt in ihrer Meinung sehr gestiegen, nachdem
+ich erklärt habe, daß du als Freier hier auftrittst. Wenigstens
+hat sich meine Mutter allem Anschein nach beruhigt.
+Nur Anna Nilowna Perepelizyna hat immer
+noch etwas auszusetzen. Ich weiß wirklich nicht, was
+ich noch tun soll, um es ihr recht zu machen. Ja, was
+die nur wollen mag, wirklich, diese Anna Nilowna?“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, lieber Onkel, Sie sind ja auf ganz falschem
+Wege, Sie täuschen sich vollkommen! So hören Sie
+denn, daß Nastassja Jewgrafowna morgen von hier
+fortfahren wird, wenn sie inzwischen nicht schon fortgefahren
+sein sollte! Wissen Sie denn nicht, daß ihr
+Vater heute nur deshalb hergekommen ist, um sie mitzunehmen?
+– daß schon alles beschlossen ist, daß sie
+es mir heute selbst gesagt und mir zum Schluß aufgetragen
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+hat, Sie zu grüßen – wissen Sie das oder
+wissen Sie das nicht?“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel blieb so, wie er vor mir stand, wie erstarrt
+stehen und vergaß sogar, den Mund zu schließen.
+Es schien mir, daß sich alles zusammenkrampfte in ihm,
+und ein Stöhnen rang sich aus seiner Brust.
+</p>
+
+<p>
+Ohne jetzt noch zu zögern, erzählte ich ihm mein
+ganzes Gespräch mit Nastenjka, meinen Antrag, ihre
+entschiedene Absage, ihren Ärger über ihn, meinen
+Onkel, weil er mich brieflich hergerufen hatte. Ich
+sagte, daß sie mit ihrer Abreise ihn vor der Ehe mit
+Tatjana Iwanowna bewahren wolle – kurz, ich verschwieg
+nichts; ja, ich übertrieb noch, was es an Unangenehmem
+in diesen Nachrichten gab. Ich wollte
+ihn schmerzhaft treffen, wollte ihn endlich zu entschlossenem
+Eingreifen zwingen – und es gelang mir
+wirklich, ihn wenigstens zu erschrecken. Er schrie plötzlich
+auf und griff sich an den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist sie jetzt, weißt du das? Wo ist sie jetzt?“
+fragte er endlich, bleich vor Angst. „Und ich, ich war
+bereits ruhig, glaubte, alles sei jetzt wieder gut!“ rief
+er verzweifelt aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, wo sie augenblicklich ist; nur ging
+sie vorhin, als sich dort im Zimmer das Geschrei erhob,
+zu Ihnen: sie wollte alles, was ich Ihnen soeben
+erzählt habe, denen da selbst sagen. Wahrscheinlich ist
+sie nicht zugelassen worden.“
+</p>
+
+<p>
+„Das fehlte noch, daß man sie zugelassen hätte!
+Gott, was hätte sie dann angerichtet! Ach Gott, was
+sie sich da wieder in ihr stolzes Köpfchen gesetzt haben
+mag! Und wohin will sie denn gehen, wohin? Wohin?
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+Aber du, du bist auch gut! Warum hat sie dir
+denn abgesagt? Unsinn! Du mußt ihr gefallen! Weshalb
+hast du ihr denn nicht gefallen? So antworte
+doch, um Gottes willen, was stehst du denn da und
+schweigst!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber – Onkel! Wie kann man nur solche
+Fragen stellen?“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist doch unmöglich! Du mußt, du mußt sie
+heiraten! Wozu habe ich dich denn aus Petersburg
+hergebeten? Du mußt sie glücklich machen! Jetzt will
+man sie von hier fortschicken, wenn sie aber deine Frau
+und meine Nichte ist – dann wird man sie nicht mehr
+fortjagen können. Und wohin will sie denn gehen?
+Was soll aus ihr werden? Eine Gouvernantenstelle?
+Aber das ist doch Unsinn – Gouvernante! Und bis
+sie eine Stelle findet – wovon sollen die Ihrigen so
+lange leben? Der Vater hat ja ganze neun zu ernähren!
+Die haben selbst nichts zu beißen! Sie wird
+ja doch keine Kopeke von mir annehmen, wenn sie
+wegen dieser schmutzigen Verleumdungen fortgeht,
+weder sie noch ihr Vater. Und wie soll sie dann in
+dieser Weise mein Haus verlassen? Entsetzlich! Und
+ohne Skandal ist es ganz undenkbar – das weiß ich.
+Und ihr Gehalt ist schon vorausbezahlt, sie hatten es
+für den Lebensunterhalt nötig ... sie allein ernährt sie
+doch. Nun, sagen wir, ich empfehle sie, finde für sie
+eine ehrliche und ehrenwerte Familie ... aber Teufel
+noch eins! – woher nimmst du sie denn, diese ehrenwerten,
+wirklich ehrlichen Menschen? Na, gut, sagen
+wir, es gibt sogar sehr viele solcher, – wozu Gott erzürnen!
+– aber es ist doch, Freund, immerhin gefährlich:
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+kann man sich denn auf die Menschen verlassen?
+Zudem ist doch ein armer Mensch immer mißtrauisch:
+es scheint ihm unwillkürlich, daß man ihn
+das Brot und die Freundlichkeit mit seiner Erniedrigung
+bezahlen läßt! Man wird sie sicherlich kränken,
+sie aber ist stolz, und dann ... ja, und was dann?
+Und was dann, wenn schließlich noch so ein elender
+Verführer hinzukommt? ... Sie wird ihn ohrfeigen,
+– ich weiß, daß sie ihn ohrfeigen wird – aber er wird
+sie doch beleidigen, der Schurke! Und sie kann dann
+doch immer in üblen Leumund geraten, ein Schatten,
+ein Verdacht kann auf sie fallen – was dann? ...
+Mein Kopf, mein Kopf droht mir zu zerspringen!
+Großer Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel! Verzeihen Sie mir, wenn ich eine Frage
+an Sie richte,“ sagte ich plötzlich feierlich. „Seien Sie
+mir nicht böse und vergessen Sie nicht, daß Ihre Antwort
+auf diese Frage vieles entscheiden kann. Ich
+habe zum Teil sogar das Recht, von Ihnen eine Antwort
+zu verlangen, Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Was, was meinst du? Was für eine Frage?“
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie mir wie vor Gott, offen und ohne
+Umschweife: Empfinden Sie nicht, daß Sie selbst in
+Nastassja Jewgrafowna ein wenig verliebt sind und sie
+gern selbst heiraten würden? Bedenken Sie doch nur:
+einzig wegen dieser Befürchtung will man sie doch aus
+dem Hause entfernen.“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel machte eine energische Geste wie in
+heftigster Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Verliebt? In sie? Ihr seid wohl alle nicht
+recht bei Troste oder habt euch gegen mich verschworen!
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+Wozu habe ich denn dich herbestellt, wenn nicht, um
+ihnen allen endlich zu beweisen, daß sie nicht recht gescheit
+sind? Weshalb will ich denn dich mit ihr verheiraten?
+Ich? In sie? Ver... Verliebt? Ihr seid
+wohl wirklich alle ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn es sich so verhält, Onkel, dann erlauben
+Sie mir, alles auszusprechen. Ich erkläre Ihnen hiermit
+feierlich, daß ich in dieser Annahme entschieden
+nichts Schlechtes finden kann. Im Gegenteil, Sie
+würden sie überaus glücklich machen, wenn Sie sie nun
+einmal so lieben, und – und Gott gebe es! Möge
+Gott Ihnen Liebe und Rat schenken!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, um’s Himmels willen, was redest du da!“
+rief mein Onkel fast entsetzt aus. „Ich wundere mich
+nur, wie du das so kaltblütig aussprechen kannst ...
+und ... überhaupt, Freund, eilst du immer irgendwohin
+– diesen Zug habe ich schon an dir bemerkt!
+Ist denn das nicht einfach sinnlos, was du da sagst?
+Wie, sag doch selbst, wie soll ich sie denn heiraten, wenn
+ich sie gewissermaßen als meine Tochter betrachte?
+Ja, eben nur wie ein Vater seine Tochter und nicht
+anders! Es wäre sogar eine Schande und eine Sünde,
+wenn ich anders auf sie blicken würde! Ich – ein
+Greis, und sie – ein kleines Mädchen! Sogar Foma
+hat es mir genau so in diesen Ausdrücken erklärt. Ich
+empfinde nur väterliche Liebe für sie in meinem Herzen,
+und da kommst du nun mit Eheschließung! Sie würde
+ja vielleicht aus Dankbarkeit nicht absagen, aber dann
+müßte sie mich doch ewig verachten, wenn ich ihre Dankbarkeit
+in dieser Weise ausnutzte. Ich würde sie nur
+unglücklich machen und ... und würde ihre Anhänglichkeit
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+verlieren! Ach, ich würde ihr ja meine ganze
+Seele hingeben, mein kleines Mädchen, das heißt ...
+Sie ... sie ... Ich liebe sie ebenso wie Ssaschenjka,
+sogar mehr, aber das will ich nur dir allein gestehen;
+denn Ssaschenjka ist, siehst du, sowieso meine Tochter,
+nach dem Gesetz und mit Recht, diese aber habe ich
+durch meine Liebe zu meiner Tochter gemacht. Ich
+habe sie aus armen Verhältnissen zu mir genommen.
+Auch Katjä, mein toter Liebling, hat die Kleine geliebt
+und hat sie mir als Tochter hinterlassen. Ich
+habe sie gut erziehen lassen: französische Stunden und
+Klavierstunden und Literaturstunden – kurz und gut,
+alles was dazu gehört. Was für ein Lächeln sie hat!
+Hast du es nicht bemerkt, Sserjosha? Man glaubt,
+sie lache über einen, indessen lacht sie gar nicht, sondern,
+im Gegenteil, liebt dich ... Ich ... sieh, ich glaubte,
+du würdest kommen, bei ihr anhalten – dann würden
+sie sich alle überzeugen, daß ich keine ... Absichten auf
+sie habe, und würden dann endlich aufhören, alle diese
+dummen, schmutzigen Geschichten über sie zu verbreiten.
+Sie würde dann hier bei uns in Ruhe und Frieden
+leben: und wie würden wir alle glücklich sein! Ihr
+seid ja beide meine Kinder, beide gewissermaßen
+Waisen, beide seid ihr unter meiner Vormundschaft aufgewachsen
+... ich würde euch beide so lieben, so lieben!
+Ich würde euch mein ganzes Leben hingeben, niemals
+mich von euch trennen, überall würde ich bei euch sein!
+Ach, wie glücklich wir doch sein könnten! Und warum
+nur ärgern sich die Menschen, warum sind sie alle so
+böse, warum hassen sie einander? Ich ... ich würde
+sie alle einmal so fest in meine Arme nehmen und es
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+ihnen so recht von Herzensgrund erklären wollen!
+Würde ihnen so die ganze Herzenswahrheit zeigen!
+Ach, du, Grundgütiger!“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, Sie haben in allem vollkommen recht, nur
+ändert das an der Tatsache nichts, daß sie mir einen
+Korb gegeben hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Einen Korb! ...? ... Hm! ... Aber weißt du,
+es ist mir doch, als hätte ich es vorausgefühlt, daß sie
+dir absagen würde,“ sagte er nachdenklich. „Aber
+nein!“ rief er aus, „ich glaube es nicht! Das ist unmöglich.
+In dem Falle würde ja nichts zustande
+kommen! Sicherlich hast du es irgendwie ungeschickt
+angefangen, hast sie vielleicht sogar gekränkt oder ihr
+womöglich Komplimente zu machen versucht ... Erzähle
+mir noch einmal, wie es war, Ssergei!“
+</p>
+
+<p>
+Ich wiederholte alles noch einmal ganz ausführlich.
+Als ich sagte, daß Nastenjka mit ihrer Entfernung ihn,
+meinen Onkel, vor der Ehe mit Tatjana Iwanowna
+bewahren wolle, lächelte er bitter.
+</p>
+
+<p>
+„Bewahren!“ sagte er. „Bewahren bis morgen!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wollen doch damit nicht sagen, daß Sie Tatjana
+Iwanowna heiraten werden?“ rief ich erschrocken
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„Womit habe ich es denn erkauft, daß Nastjä
+morgen nicht hinausgeworfen wird? Morgen noch
+werde ich anhalten – ich habe es versprochen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, Sie haben sich dazu entschließen können,
+Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Was sollte ich tun, Freund, es war nichts zu
+wollen! Es zerreißt mir ja das Herz, aber ich habe
+mich entschlossen. Morgen halte ich um sie an ... die
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+Hochzeit soll still gefeiert werden, nur im Familienkreise.
+Es ist auch besser so, Freund. Du wirst natürlich mein
+Ehrenmarschall sein ... bei der Trauung. Das habe
+ich auch drüben schon angedeutet, so daß sie dich bis dahin
+bestimmt nicht vor die Tür setzen werden. Was soll
+man denn tun, Freund? Sie sagen: ‚Du machst deine
+Kinder steinreich!‘ Natürlich, was ist man für seine
+Kinder nicht zu tun bereit! Selbst auf den Kopf stellt
+man sich ... um so mehr, als es ja auch im Grunde
+ganz richtig so ist. Und ich muß doch etwas für meine
+Familie tun! Ich kann doch nicht immer dieser Egoist
+bleiben!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Onkel, sie ist doch verrückt!“ rief ich aus,
+ohne im Augenblick daran zu denken, daß sie ja doch
+schon so gut wie seine Braut war. Mein Herz krampfte
+sich zusammen vor Schmerz.
+</p>
+
+<p>
+„Na, jetzt erklärst du sie sogar schon für verrückt!
+Sie ist durchaus nicht verrückt, Freund, sondern ...
+nur so, weißt du, sie hat viel Schweres durchgemacht ...
+Was soll man denn tun, Freund, ich wäre ja auch froh,
+eine mit vollem Verstande ... Aber übrigens, was für
+welche gibt es nicht auch unter denen, die geistig normal
+sind! Und wenn du wüßtest, wie gut sie ist, wie edelmütig
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott! Er söhnt sich mit dem Gedanken
+bereits aus!“ Ich war im Begriff, zu verzweifeln.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was soll ich denn tun, wenn ich mich nicht
+aussöhne? Und sie wollen das alles doch nur zu meinem
+Besten, und ... und schließlich sah ich ein, daß ich früher
+oder später doch daran werde glauben müssen, davor
+wird mich keiner retten: sie werden mich zu zwingen verstehen,
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+sie zu heiraten. Deshalb ist es doch besser, sich
+sogleich zu entschließen, als erst noch lange herumzustreiten.
+Ich werde dir, Freund, alles ganz offen sagen:
+weißt du, ich bin zum Teil sogar ganz froh darüber.
+Hat man sich entschlossen, so hat man sich entschlossen –
+dann ist es wenigstens erledigt, und man hat es hinter
+sich. Man fühlt sich auch ruhiger, weißt du. Ich, siehst
+du, ich kam ja auch schon ganz ruhig hierher. Aber so
+will es wahrscheinlich mein Stern! Und die Hauptsache,
+unser Gewinn sozusagen, ist doch, daß Nastjä bei uns
+bleibt. Ich habe doch nur unter dieser Bedingung eingewilligt.
+Und nun will <em>sie selbst</em> fortgehen! Das
+darf nicht sein!“ Mein Onkel stampfte mit dem Fuß auf.
+„Hör, Ssergei,“ fuhr er plötzlich entschlossen fort, „erwarte
+mich hier, bleibe hier im Zimmer, ich werde im
+Augenblick wieder hier sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Wohin, wohin gehen Sie, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht treffe ich sie, Ssergei. Dann wird sich
+alles aufklären, glaube mir, alles wird sich aufklären
+und ... und ... du wirst sie heiraten – ich gebe dir
+mein Ehrenwort!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel verließ das Zimmer, schlug aber, wie
+ich sah, nicht den Weg zum Hause ein, sondern ging
+noch tiefer in den Garten, in der Richtung auf den
+Weiher. Ich blickte ihm durch das Fenster nach.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-15">
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+<span class="firstline">XII.</span><br>
+Die Katastrophe.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> war allein. Die Lage, in der ich mich befand,
+war unerträglich: Ich hatte einen Korb erhalten, und
+mein Onkel wollte mich ungeachtet dessen mit Gewalt
+verheiraten. Meine Gedanken schweiften unruhig umher,
+doch ich konnte keinen ruhig zu Ende denken.
+Misintschikoff und sein Vorschlag wollten mir nicht aus
+dem Sinn. Es galt, was es auch koste, meinen Onkel
+zu retten. Ich dachte sogar daran, Misintschikoff unverzüglich
+aufzusuchen und ihm alles zu erzählen ...
+Aber wohin war mein Onkel gegangen? Er hatte gesagt,
+daß er Nastenjka sprechen wolle, und hatte doch
+den Weg in den Garten eingeschlagen. Einen Augenblick
+dachte ich an heimliche Zusammenkünfte, und ein
+unangenehmes Gefühl regte sich in meinem Herzen.
+Mir fielen Misintschikoffs Worte ein: daß sie heimliche
+Beziehungen zueinander hätten ... Ich sann nach –
+wies dann aber jeden Verdacht unwillig von mir. Nein,
+mein Onkel konnte nicht betrügen, das lag ja auf der
+Hand. Doch meine Unruhe wuchs mit jeder Minute.
+Fast unbewußt trat ich hinaus auf die Treppe und ging
+dann in Gedanken versunken dieselbe Allee entlang, die
+mein Onkel verfolgt hatte. Der große Sommermond
+stand rot und noch niedrig über dem Horizont.
+Ich kannte den Garten gut und brauchte nicht zu fürchten,
+irrezugehen. Als ich mich der alten Laube näherte,
+die einsam am Ufer des schlammigen, schilfbewachsenen
+Weihers stand, blieb ich plötzlich wie angewurzelt stehen:
+ich vernahm deutlich Stimmengeflüster, das aus der
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+Laube kam. Ich kann nicht sagen, welch ein eigenartig
+ärgerliches Gefühl mich erfaßte! Ich war überzeugt,
+daß mein Onkel und Nastenjka dort saßen, und ich ging
+geradeaus weiter, indem ich auf alle Fälle mein Gewissen
+wenigstens damit beruhigte, daß ich denselben
+Schritt beibehielt und mich nicht etwa unbemerkt heranzuschleichen
+suchte. Da vernahm ich plötzlich, daß zwei
+sich küßten, und darauf folgte eine Menge begeisterter
+Worte und dann – ein durchdringender weiblicher
+Schrei! Fast im selben Augenblick aber lief oder flog
+auch schon eine weißgekleidete Dame wie eine Schwalbe
+an mir vorüber. Es schien mir, daß sie das Gesicht mit
+den Händen bedeckt hatte, um nicht erkannt zu werden.
+Man hatte mich also aus der Laube bemerkt. Wie groß
+aber war meine Verwunderung, als ich in dem Herrn,
+der nach der aufgescheuchten Dame aus der Laube trat,
+– Obnoskin erkannte, Obnoskin, der nach Misintschikoffs
+Behauptung Stepantschikowo bereits verlassen
+hatte! Auch Obnoskin war nicht wenig verwirrt: seine
+sonst so anmaßende Haltung war völlig verschwunden.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, aber ... ich hatte nicht erwartet,
+mit Ihnen hier zusammenzutreffen,“ brachte er
+stotternd und mit verlegenem Lächeln hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Dasselbe kann ich auch von mir sagen,“ entgegnete
+ich spöttisch, „um so mehr, als ich gehört habe, daß Sie
+bereits fortgefahren seien.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein ... das war nur so ... ich begleitete nur
+meine Mutter ... eine Strecke ... Aber darf ich mich
+an Sie mit einer Bitte wenden; denn ich weiß, daß Sie
+ein ehrenwerter Mensch sind ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und diese Bitte wäre?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+„Es gibt Fälle – und Sie werden mir darin zustimmen
+– in denen ein wirklich edler Mensch gezwungen
+ist, an den ganzen Edelmut eines anderen,
+gleichfalls edlen Menschen zu appellieren ... Ich hoffe,
+Sie verstehen mich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hoffen Sie das nicht; denn ich verstehe Sie tatsächlich
+nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben doch die Dame gesehen, die hier mit mir
+in der Laube war?“
+</p>
+
+<p>
+„Gesehen – ja, aber nicht erkannt.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, nicht erkannt ... Diese Dame werde ich alsbald
+meine Frau nennen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gratuliere. Aber womit kann ich Ihnen dienen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nur mit einem: es als tiefstes Geheimnis zu bewahren,
+daß Sie mich mit dieser Dame hier gesehen
+haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wer mag das gewesen sein?“ dachte ich, „doch
+nicht ...?“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich, ich weiß nicht ...“ sagte ich. „Sie werden
+entschuldigen, daß ich Ihnen mein Wort nicht geben
+kann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Um’s Himmels willen, ich <em>bitte</em> Sie doch darum!“
+flehte Obnoskin. „Begreifen Sie doch meine
+Situation! Es ist noch ein Geheimnis. Sie können
+gleichfalls einmal Bräutigam sein: dann werde auch ich
+meinerseits ...“
+</p>
+
+<p>
+„Pst! Jemand kommt!“
+</p>
+
+<p>
+„Wo?“
+</p>
+
+<p>
+In der Tat bemerkten wir kaum dreißig Schritt von
+uns den Schatten eines Menschen vorübergleiten.
+</p>
+
+<p>
+„Das ... das war Foma Fomitsch!“ flüsterte Obnoskin,
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+am ganzen Leibe zitternd. „Ich erkannte ihn
+am Gang. Mein Gott! da kommen wieder Schritte!
+Von der anderen Seite! Hören Sie ... Leben Sie
+wohl! Ich danke Ihnen und ... flehe Sie an ...“
+</p>
+
+<p>
+Obnoskin verschwand. Nach einer Minute stand
+mein Onkel vor mir, wie aus der Erde gewachsen.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du es?“ fragte er hastig. „Alles ist verloren,
+Ssergei, jetzt ist alles verloren!“
+</p>
+
+<p>
+Ich bemerkte, daß auch er am ganzen Körper zitterte.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist verloren, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir!“ Er erfaßte krampfhaft meine Hand
+und zog mich nach sich. Während des ganzen Weges
+bis zum Sommerhaus sprach er kein Wort und ließ
+auch mich nicht sprechen. Ich erwartete etwas Außergewöhnliches
+und kann sagen, daß ich in meiner Erwartung
+auch nicht enttäuscht wurde. Als wir mein Zimmer
+betraten, schwindelte ihm und er wankte. Er war
+bleich wie ein Toter. Ich spritzte ihm sofort Wasser ins
+Gesicht. „Es muß etwas Furchtbares geschehen sein,“
+dachte ich, „wenn ein Mann wie er – in dieser Weise
+... fast ohnmächtig wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, was haben Sie nur?“ fragte ich schließlich.
+</p>
+
+<p>
+„Alles ist verloren, Ssergei! Foma überraschte mich
+und Nastenjka im Garten ... gerade in dem Augenblick,
+als ich sie küßte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Als Sie sie küßten? Im Garten?“ Ich sah ihn
+verständnislos an.
+</p>
+
+<p>
+„Im Garten, Freund, Gott wollte es so! Ich ging,
+um sie unverzüglich zu sprechen ... Ich wollte ihr alles
+sagen, wollte ihr zureden, sie zur Vernunft bringen ...
+in bezug auf dich, weißt du. Sie aber hatte schon seit
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+einer ganzen Stunde auf mich gewartet, dort, bei der
+zerbrochenen Bank ... hinter dem Weiher ... Sie
+kommt oft dorthin, wenn ich mit ihr sprechen muß.“
+</p>
+
+<p>
+„Oft?“
+</p>
+
+<p>
+„Oft, oft, Freund! In der letzten Zeit haben wir
+uns dort fast in jeder Nacht getroffen. Nun haben sie
+uns wahrscheinlich aufgelauert – ich weiß es genau,
+daß sie spioniert haben, und ich weiß auch, daß Anna
+Nilowna die Hauptbeteiligte ist. So stellten wir denn
+unsere Zusammenkünfte ein: seit vier Tagen hatten wir
+uns nicht gesehen ... aber heute ging es doch nicht
+anders ... Du weißt doch selbst, wie notwendig es
+war ... Und wie und wo hätte ich sonst ein Wort
+mit ihr reden können? Ich ging also in der Hoffnung
+hin, sie dort anzutreffen ... Und sie saß auch schon
+seit einer Stunde da ... und hatte auf mich gewartet:
+sie hatte mir gleichfalls Wichtiges zu sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie kann man nur so unvorsichtig sein! Sie wußten
+doch, daß man Sie beide beobachtet!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es war doch ein kritischer Augenblick, Ssergei!
+Wir mußten uns doch über so vieles aussprechen! Am
+Tage wage ich ja nicht einmal, sie anzusehen: sie sieht in
+den einen Winkel und ich absichtlich in den anderen, als
+wenn ich überhaupt nicht bemerkte, daß sie auf der Welt
+ist. In der Nacht aber treffen wir uns und können
+uns dann aussprechen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und was geschah nun heute, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh! Kaum hatte ich ihr zwei Worte gesagt, weißt
+du – da fing mein Herz zu hämmern an, und die
+Tränen traten mir in die Augen. Ich wollte sie bereden,
+dich doch zu heiraten – sie aber sagte mir ohne weiteres:
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+‚Dann lieben Sie mich offenbar überhaupt nicht, dann
+sehen Sie ja gar nichts!‘ Und plötzlich wirft sie sich an
+meine Brust, umarmt mich krampfhaft, weint und
+schluchzt: ‚Ich liebe nur Sie allein,‘ sagte sie, ‚ich
+werde keinen anderen heiraten! Ich liebe Sie schon
+lange, nur werde ich auch Sie nicht heiraten, sondern
+morgen noch fortfahren und ins Kloster gehen.‘“
+</p>
+
+<p>
+„Donnerwetter! Hat sie das wirklich so gesagt?
+Und was geschah dann weiter – weiter, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Da – ich blickte auf: vor uns steht Foma! Woher
+er nur gekommen sein mag? Er kann doch unmöglich
+hinter dem Gebüsch gehockt haben, um nur auf diesen
+Sündenaugenblick zu warten?“
+</p>
+
+<p>
+„Der Schuft!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich erstarrte, Nastenjka lief fort, und Foma Fomitsch
+ging schweigend an uns vorüber und drohte mir
+nur einmal so mit dem Finger. – Begreifst du jetzt,
+Ssergei, was es morgen geben wird?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie sollte ich nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Begreifst du?“ rief er verzweifelt aus und sprang
+vom Stuhl auf. „Begreifst du, daß sie sie verderben,
+verleumden, entehren wollen? Sie suchen einen Vorwand,
+um ihr eine Schande anhängen und sie dann aus
+dem Hause treiben zu können! Und jetzt haben sie ihn
+glücklich gefunden! Haben sie doch schon gesagt, sie
+hätte ein ehrloses Verhältnis mit mir! Ja, diese Schurken
+haben sogar gesagt, sie hätte auch eins mit Widopljässoff
+gehabt! Und das hat alles diese Anna Nilowna
+verbreitet! Was wird jetzt werden? Was wird morgen
+sein? Sollte Foma es wirklich erzählen?“
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt wird er es erzählen, Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+„Wenn er es aber erzählt, wenn er es wagt ...“
+Mein Onkel biß sich die Lippen und ballte die Fäuste.
+„Nein, nein! Ich glaube es nicht! Er wird es nicht
+sagen, er wird begreifen ... er ist ein Mensch mit
+edler Gesinnung! Er wird sie schonen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schonen oder nicht schonen,“ unterbrach ich ihn
+entschlossen; „jedenfalls aber ist es jetzt Ihre Pflicht,
+morgen um Nastassja Jewgrafownas Hand anzuhalten.“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel blickte mich unbeweglich an.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie denn nicht ein, Onkel, daß Sie dem
+Mädchen die Ehre nehmen, wenn Sie die Sache an die
+große Glocke hängen lassen? Sehen Sie denn nicht ein,
+daß Sie allem Gerede so schnell wie möglich die Spitze
+abbrechen müssen? Sie müssen jedem furchtlos und stolz
+in die Augen blicken können, Ihre Verlobung sofort veröffentlichen,
+alle Ihre Vernunftgründe zum Teufel
+schicken und Foma, wenn er dagegen auch nur zu mucken
+wagt, einfach zu Pulver zerstäuben! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ssergei, Freund, ich dachte daran, als wir herkamen!“
+</p>
+
+<p>
+„Und zu was haben Sie sich entschlossen?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Entschluß steht fest! Ich hatte mich bereits
+entschlossen, noch bevor ich dir zu erzählen begann!“
+</p>
+
+<p>
+„Bravo, Onkel!“
+</p>
+
+<p>
+Ich fiel ihm um den Hals vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+Lange noch sprachen wir. Ich hielt ihm alle die unerbittlichen
+Gründe vor, die ihn zwangen, Nastenjka
+zu heiraten, und die er übrigens selbst noch viel besser
+begriff als ich. Aber ich kam nun einmal ins Reden.
+Ich freute mich unsäglich für ihn. Jetzt zwang ihn die
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+Pflicht, anderenfalls hätte er sich wohl nie entschlossen.
+Vor der Pflicht aber, und noch dazu einer Ehrenpflicht,
+war er machtlos.
+</p>
+
+<p>
+Doch ungeachtet alles dessen wußte ich entschieden
+nicht, wie das Vorhaben ausgeführt werden sollte. Ich
+wußte und glaubte ohne den geringsten Zweifel, daß
+mein Onkel um keinen Preis von dem ablassen werde,
+was er einmal als seine Pflicht erkannt hatte. Aber
+im Grunde fürchtete ich doch, daß er nicht rücksichtslos
+genug sein könne, um sich gegen die Herrscher in seinem
+Hause aufzulehnen. Nur deshalb bemühte ich mich so
+hartnäckig, ihn anzutreiben und in dieser Richtung vorwärtszustoßen:
+und so legte ich mich denn mit dem
+ganzen Eifer der Jugend ins Zeug.
+</p>
+
+<p>
+„... Um so mehr, um so mehr müssen Sie es,“
+wiederholte ich, „als jetzt bereits alles beschlossen ist und
+Ihre letzten Zweifel aufgehoben sind! Es ist etwas geschehen,
+was <em>Sie</em> nicht erwartet haben, obgleich es alle
+seit langer Zeit wissen: Nastassja Jewgrafowna liebt
+Sie! Wollen Sie es denn wirklich zulassen!“ rief ich
+heftig aus, „daß diese reine Liebe sich für sie in Schmach
+und Schande verwandle?“
+</p>
+
+<p>
+„Niemals will ich das! Aber, Freund, ist es denn
+überhaupt möglich, daß ich so glücklich werden könnte?
+Und wie kann sie mich nur lieben, und wofür eigentlich?
+wofür? Ich glaube, es ist doch so gar nichts an mir ...
+Ich bin ein Greis im Vergleich zu ihr. Nein, das hätte
+ich nie erwartet! Liebling, mein Liebling! ... Höre,
+Sserjosha, vorhin fragtest du mich, ob ich nicht in sie
+verliebt sei: hattest du irgendeine ... Idee vielleicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sah nur, Onkel, daß Sie sie so liebten, wie man
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+noch mehr einen Menschen überhaupt nicht lieben kann;
+und daß Sie sie liebten, ohne es selbst zu wissen. Denken
+Sie doch einmal nach: Sie rufen mich aus Petersburg
+her und wollen mich mit ihr verheiraten, einzig damit
+sie Ihre Nichte werde und Sie, Onkel, uns dann ewig
+bei sich haben können ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und du ... du verzeihst mir, Ssergei?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Onkel ...“
+</p>
+
+<p>
+Er preßte mich an sein Herz.
+</p>
+
+<p>
+„Aber jetzt seien Sie auf der Hut; denn es haben
+sich ja dort alle gegen Sie verschworen. Sie müssen sich
+erheben und gegen alle kämpfen, und zwar gleich
+morgen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... ja, morgen!“ wiederholte er etwas nachdenklich,
+„und weißt du, wir wollen die Sache männlich
+und vollkommen überzeugt von unserem Recht anfassen,
+mit wirklicher Charakterstärke ... ja eben mit Charakterstärke!“
+</p>
+
+<p>
+„Lassen Sie den Mut nicht sinken, Onkel!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich werde den Mut nicht sinken lassen, Ssergei!
+Nur eines: ich weiß nicht, welch einen Schlachtplan
+ich wählen soll!“
+</p>
+
+<p>
+„Denken Sie jetzt nicht daran, Onkel. Morgen wird
+alles seine Lösung finden. Für heute beruhigen Sie sich.
+Je mehr man jetzt grübelt, um so schlimmer ist es. Und
+falls Foma den Mund auftut – dann entweder: ihn
+unverzüglich vor die Tür setzen, oder: ihn zu Staub
+zermalmen!“
+</p>
+
+<p>
+„Geht es denn nicht auch ohne das? Freund, ich
+habe so beschlossen: morgen gehe ich in aller Frühe zu
+ihm und erzähle ihm den ganzen Sachverhalt, so wie ich
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+ihn dir erzählt habe. Er kann mich doch unmöglich
+nicht verstehen wollen! Er ist doch ein edler Mensch,
+der edelste von allen! Aber sieh, was mich beunruhigt:
+was dann, wenn er meine Mutter und Tatjana Iwanowna
+heute schon von der bevorstehenden Werbung benachrichtigt
+hat? Das wäre doch furchtbar?“
+</p>
+
+<p>
+„Tatjana Iwanownas wegen brauchen Sie sich
+nicht zu beunruhigen, Onkel.“ Und ich erzählte ihm
+meine Begegnung mit Obnoskin vor der Laube. Mein
+Onkel war maßlos erstaunt. Misintschikoff erwähnte
+ich mit keinem Wort.
+</p>
+
+<p>
+„Eine phantasmagorische Person, in der Tat! Wirklich,
+eine phantasmagorische Person!“ rief er aus. „Die
+Arme! Man will ihre Naivität ausnutzen! Und war es
+wirklich Obnoskin? Aber er fuhr doch nach dem Tee
+fort? Sonderbar, höchst sonderbar! Ich bin wirklich
+betroffen, Sserjosha ... Das muß man morgen noch
+untersuchen, um gegebenenfalls Maßregeln ergreifen zu
+können ... Aber bist du auch überzeugt, daß es Tatjana
+Iwanowna war?“
+</p>
+
+<p>
+Ich sagte, daß ich ihr Gesicht zwar nicht gesehen
+hätte, aber aus gewissen Gründen fest überzeugt sei, daß
+es Tatjana Iwanowna gewesen war.
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Oder sollte es nicht doch ein kleines Techtelmechtel
+mit einem der Hofmädchen gewesen sein, und dir
+hat es vielleicht nur so geschienen, daß es Tatjana
+Iwanowna war? War es nicht Dascha, die Gärtnerstochter?
+Das ist ein durchtriebenes Mädchen! Man
+hat sie bereits öfter bemerkt ... Nur deshalb sage ich
+es ja, weil man sie wirklich schon gesehen hat. Anna
+Nilowna hat sie ertappt! ... Aber nein, das ist auch
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+unwahrscheinlich! Und er hat dir gesagt, daß er sie heiraten
+wolle? Sonderbar, sehr sonderbar ...“
+</p>
+
+<p>
+Endlich trennten wir uns. Ich umarmte ihn zum
+Abschied.
+</p>
+
+<p>
+„Morgen, morgen wird sich alles entscheiden,“ sagte
+er lebhaft, „noch bevor du aufstehst! Ich werde zu Foma
+gehen und ihm ritterlich alles aufdecken, wie meinem
+leiblichen Bruder, alles, was ich auf meinem Herzen
+habe, meine ganze Seele. Leb wohl, Sserjosha. Leg
+dich jetzt hin, du wirst müde sein. Na, und ich – ich
+werde in der ganzen Nacht wohl kein Auge schließen.“
+</p>
+
+<p>
+Er ging. Ich legte mich unverzüglich schlafen; denn
+ich war in der Tat todmüde. Das war ein schwerer
+Tag gewesen! Meine Nerven waren überreizt, und bevor
+ich endlich einschlief, zuckte ich noch mehrmals zusammen
+und wachte immer wieder aus dem Halbschlaf
+auf.
+</p>
+
+<p>
+Aber wie seltsam meine Eindrücke auch während
+des Einschlafens waren, so war ihre Seltsamkeit doch
+noch nichts im Vergleich mit der Seltsamkeit meines
+Erwachens am nächsten Morgen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-16">
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+<span class="firstline">XIII.</span><br>
+Die Verfolgung.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> schlief traumlos und ungewöhnlich fest. Plötzlich
+fühlte ich, wie ein Gewicht von etwa vierhundert Pfund
+sich auf meine Beine legte: ich schrie auf und erwachte.
+</p>
+
+<p>
+Es war schon hell: durch die Fenster flutete gelbes
+Sommermorgenlicht ins Zimmer. Auf meinem Bett,
+oder richtiger, auf meinen Beinen saß – Herr Bachtschejeff.
+</p>
+
+<p>
+Ein Zweifel war ausgeschlossen: er war es. Nachdem
+ich meine Füße mit genauer Not von dieser Last
+befreit hatte, setzte ich mich im Bett auf und sah ihn
+mit der stumpfen Verständnislosigkeit eines kaum erwachten
+Menschen an.
+</p>
+
+<p>
+„Er glotzt noch!“ rief der Dicke empört aus. „Was
+staunst du mich denn an? Steh auf, Alter, steh auf!
+Wecke dich hier schon seit einer halben Stunde. Reib
+dir endlich den Schlaf aus den Augen!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist geschehen? Wieviel ist die Uhr?“
+</p>
+
+<p>
+„Die Uhr ist noch nicht viel, aber unsere Fewronja
+hat nicht einmal den Tag erwartet, um loszuziehen.
+Steh mal auf, fix, wir setzen ihr nach!“
+</p>
+
+<p>
+„Was für eine Fewronja?“
+</p>
+
+<p>
+„Na, die unserige doch, die Holde, wer denn sonst!
+Ist schon über alle Berge! Bereits vor Sonnenaufgang
+ausgekniffen! Ich aber bin ja, mein Bester, nur auf
+einen Augenblick zu Ihnen gekommen, bloß um Sie auf
+die Beine zu bringen – und da vertrödele ich nun mit
+ihm geschlagene zwei Stunden! Stehen Sie auf, mein
+Lieber, Ihr Onkel erwartet Sie schon ... Da hat man
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+nun die Bescherung!“ knurrte er zum Schluß, mit einer
+gewissen schadenfrohen Gereiztheit in der Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Aber von wem ... wovon reden Sie?“ fragte ich
+erregt; denn ich begann bereits zu ahnen, „... doch
+nicht ... Tatjana Iwanowna?“
+</p>
+
+<p>
+„Von wem denn sonst? Natürlich von ihr! Habe ich
+nicht gesagt, gewarnt – keiner wollte auf mich hören!
+Da habt ihr jetzt die Bescherung ... zum Feiertage!
+Kupido hat ihr den Kopf verdreht, nur deswegen ist sie
+verrückt! Pfui! Aber jener, jener – was? Da habt
+ihr jetzt den Spitzbart!“
+</p>
+
+<p>
+„Doch nicht mit Misintschikoff?“
+</p>
+
+<p>
+„Hör nur einer <em>so</em> was! Nun reib dir aber den
+Schlaf aus den Augen und werde wenigstens dem
+großen Feiertage zu Ehren nüchtern! Bist wohl gestern
+bis untern Tisch gekommen, wenn dir der Schädel jetzt
+noch brummt! Was: Misintschikoff! – Mit Obnoskin,
+aber nicht mit Misintschikoff! Iwan Iwanowitsch
+Misintschikoff ist ein anständiger Mensch und macht sich
+mit uns auf die Verfolgung.“
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie sagen!“ rief ich erschrocken aus und
+machte, noch halb sitzend, einen Sprung aus dem Bett,
+„tatsächlich mit Obnoskin?“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, du langweiliger Mensch!“ Der Dicke erhob
+sich fauchend von meinem Bett. „Ich komme zu ihm
+wie zu einem gebildeten Menschen, um ihm das Unglück
+mitzuteilen, er aber zweifelt noch! Du, mein Lieber,
+wenn du mit willst, so erheb dich schleunigst und zieh dir
+deine Höschen an; ich aber hab’s satt, hier mit meiner
+Lunge für dich zu arbeiten: habe sowieso schon meine
+Zeit an dich verschwendet!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+Und er verließ äußerst ungehalten mein Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Noch ganz bestürzt von der Nachricht, sprang ich
+aus dem Bett, kleidete mich schnell an und eilte ins
+Herrenhaus.
+</p>
+
+<p>
+Dort schien noch alles zu schlafen: und so trat ich
+denn vorsichtig durch die Paradetür ein, um unbemerkt
+zu meinem Onkel zu kommen. Kaum war ich eingetreten,
+als plötzlich Nastenjka vor mir stand: sie mußte
+soeben erst aufgestanden sein und sich in aller Eile angezogen
+haben. Ihr Haar war in Unordnung, und sie
+trug eine Art Morgenkleid oder Umwurf. Wahrscheinlich
+hatte sie im Flur auf jemanden gewartet.
+</p>
+
+<p>
+„Sagen Sie, bitte, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna
+mit Obnoskin fortgefahren ist?“ fragte sie mich
+erregt mit zitternder Stimme, bleich und sichtlich erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+„Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel ...
+Wir wollen ihr nachfahren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, bringen Sie sie, bringen Sie sie schnell zurück!
+Wenn Sie es nicht tun, ist sie verloren!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wo ist denn mein Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Wahrscheinlich bei den Pferdeställen. Die Pferde
+werden schon angeschirrt. Ich habe hier auf ihn gewartet.
+Hören Sie, sagen Sie ihm von mir, daß ich
+unbedingt heute noch fortfahren will: ich bin fest entschlossen.
+Mein Vater nimmt mich zu sich. Am liebsten
+würde ich sofort fahren, wenn es sich nur machen ließe!
+Jetzt ist alles verloren! Jetzt ist alles zu Ende!“
+</p>
+
+<p>
+Während sie das sagte sah sie mich selbst wie eine
+Verlorene an – und plötzlich brach sie in Tränen aus.
+Es schien ein nervöser Anfall zu sein.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+„Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich!“ bat ich
+sie. „Das ist doch nur eine günstige Wendung – Sie
+werden sehen ... Was haben Sie nur, Nastassja Jewgrafowna?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... ich weiß nicht ... was mit mir ist,“ sagte
+sie erregt und preßte unbewußt meine Hände krampfhaft
+zusammen. „Sagen Sie ihm ...“
+</p>
+
+<p>
+Da hörten wir hinter der nächsten Tür ein Geräusch.
+</p>
+
+<p>
+Sie zog erschrocken ihre Hände zurück und eilte die
+Treppe hinauf.
+</p>
+
+<p>
+Ich fand sie alle – d. h. meinen Onkel, Herrn
+Bachtschejeff und Misintschikoff – auf dem hinteren
+Hof bei den Ställen. Vor Herrn Bachtschejeffs Wagen
+wurden frische Pferde angeschirrt. Alles war zur Abfahrt
+bereit: man hatte nur noch auf mich gewartet.
+</p>
+
+<p>
+„Da ist er!“ rief mein Onkel aus, als er mich
+erblickte. „Hast du es schon gehört, Freund?“ fragte
+er leiser mit einem eigentümlichen Gesichtsausdruck.
+Schreck, Zerstreutheit und doch so etwas wie eine neue
+Hoffnung lagen in seinem Blick, in seiner Stimme und
+selbst in seinen Bewegungen. Offenbar fühlte er, daß
+in seinem Schicksal eine Wendung eingetreten war.
+</p>
+
+<p>
+Ich wurde sogleich in die Einzelheiten eingeweiht.
+</p>
+
+<p>
+Herr Bachtschejeff war nach einer qualvollen Nacht
+beim ersten Morgengrauen von Hause aufgebrochen, um
+rechtzeitig zum Frühgottesdienst im Kloster einzutreffen,
+das einige fünf Werst von seinem Gut entfernt lag.
+Als er gerade von der Landstraße in den Nebenweg zur
+Einsiedelei einbiegen wollte, hatte er mit einemmal
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+einen offenen Wagen in rasender Schnelligkeit daherkommen
+sehen und in den Insassen Tatjana Iwanowna
+und Obnoskin erkannt. Tatjana Iwanowna sei verweint
+gewesen und habe, als sie Herrn Bachtschejeff
+erblickt, vor Schreck aufgeschrien und ihm dann die
+Hände wie hilfesuchend entgegengestreckt – so wenigstens
+ging es aus seiner Erzählung hervor. „Jener
+aber, der Schuft mit dem Spitzbart, wollte sich vor mir
+verstecken, jawohl, ja! – vor mir aber versteckst du dich
+nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Ohne lange zu zögern, hatte Stepan Alexejewitsch
+(Herr Bachtschejeff) dem Kutscher wieder auf die Landstraße
+zurückzukehren befohlen und war schnurstracks
+nach Stepantschikowo gefahren, hatte hier ohne weiteres
+meinen Onkel geweckt, ferner Misintschikoff und schließlich
+auch mich. Es war beschlossen worden, ihnen sogleich
+nachzufahren.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Obnoskin, was sagst du zu Obnoskin?“
+fragte mein Onkel und sah mich unverwandt an, als
+wolle er mir gleichzeitig noch sagen: „Wer hätte das
+gedacht!“
+</p>
+
+<p>
+„Von diesem niedrigen Menschen war jede Gemeinheit
+zu erwarten!“ bemerkte Misintschikoff in sehr scharfem
+Ton, wandte sich aber im selben Augenblick ab, um
+meinen Blick zu vermeiden.
+</p>
+
+<p>
+„Na, was nun: fahren wir oder fahren wir nicht?
+Oder werden wir bis zum Abend hier stehen und uns
+Märchen erzählen?“ erinnerte Herr Bachtschejeff an
+unser Vorhaben und schob sich als erster in den Wagen.
+</p>
+
+<p>
+„Fahren wir, fahren wir!“ rief sogleich eilig mein
+Onkel.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+„Es wendet sich alles zum guten, Onkel,“ raunte ich
+ihm noch schnell zu. „Dieser Punkt ist jetzt besser erledigt,
+als wir es uns hätten träumen können!“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, Freund, lästere nicht ... Aber jetzt
+wird man <em>sie</em> ja einfach hinauswerfen, zur Strafe
+dafür, daß das andere mißglückt ist, aus Rache – du
+verstehst doch? Entsetzlich, Freund, was ich jetzt kommen
+sehe!“
+</p>
+
+<p>
+„Zum Donner, Jegor Iljitsch, wollen Sie Geheimnisse
+tuscheln – oder wollen Sie fahren?“ schrie Herr
+Bachtschejeff zum zweitenmal. „Sollte man nicht lieber
+die Pferdchen vorläufig wieder ausschirren lassen und
+erst noch einen Imbiß einnehmen – was meinen Sie?
+– und womöglich noch ein paar Gläschen sich hinter die
+Binde gießen?“
+</p>
+
+<p>
+Diese Worte waren mit einem so grimmigen Sarkasmus
+gesagt, daß es ganz ausgeschlossen war, Herrn
+Bachtschejeff nicht unverzüglich zu befriedigen. Wir
+stiegen eilig ein, und die Pferde zogen an.
+</p>
+
+<p>
+Eine Zeitlang schwiegen alle. Mein Onkel streifte
+mich ab und zu mit einem bedeutungsvollen Blick, schien
+aber in Gegenwart der anderen nicht sprechen zu wollen.
+Mitunter versank er in Gedanken, um dann nach einer
+Weile zusammenzuzucken, plötzlich gleichsam zur Besinnung
+zu kommen und sich erregt umzublicken. Misintschikoff
+war scheinbar ruhig, rauchte seine Zigarette
+und schaute mit dem Selbstbewußtsein eines ungerechterweise
+gekränkten Menschen drein. Dafür ereiferte sich
+Herr Bachtschejeff für drei. Er brummte die ganze
+Zeit vor sich hin, blickte auf alle und alles mit entschiedener
+Mißbilligung, wurde rot, fauchte, spie fortwährend
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+seitwärts auf die Landstraße und konnte sich auf
+keine Art und Weise beruhigen.
+</p>
+
+<p>
+„Bist du denn auch wirklich überzeugt, Stepan, daß
+die beiden nach Mischino gefahren sind?“ erkundigte sich
+plötzlich mein Onkel. „Das ist, <a id="corr-17"></a>mußt du wissen,
+zwanzig Werst von hier,“ fügte er, zu mir gewandt, erklärend
+hinzu, „ein kleines Gut mit dreißig Seelen. Es
+ist vor kurzem von einem ehemaligen Gouvernementsbeamten
+den früheren Besitzern abgekauft worden. Ein
+Schikaneur, sagt man, wie die Welt keinen zweiten aufzuweisen
+hat! Wenigstens wird es ihm nachgesagt.
+Stepan Alexejewitsch behauptet, Obnoskin sei dorthin
+gefahren, und dieser Beamte helfe ihm.“
+</p>
+
+<p>
+„Du zweifelst wohl noch?“ fuhr Herr Bachtschejeff
+sofort auf. „Ich sage es und bleibe dabei: sie sind nach
+Mischino gefahren. Nur hat man ihn in Mischino
+wahrscheinlich schon längst wieder vergessen, den Obnoskin.
+Warum auch nicht! Haben doch drei Stunden auf
+dem Hof verschwatzt!“
+</p>
+
+<p>
+„Beunruhigen Sie sich nicht,“ bemerkte Misintschikoff,
+„wir werden sie dort noch antreffen.“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, ja! Antreffen! Der will gerade dort
+noch Wiedersehen mit dir feiern! Er hat doch die Schatulle
+in den Fingern, worauf soll er jetzt noch warten?“
+</p>
+
+<p>
+„Beruhige dich, Stepan, beruhige dich nur,“ redete
+ihm mein Onkel gütig zu. „Sie haben ja noch zu nichts
+Zeit gehabt – du wirst sehen, daß es so ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Zu nichts Zeit gehabt!“ wiederholte Herr Bachtschejeff
+boshaft. „Zu was hat diese nicht Zeit, wenn
+sie auch noch so bescheiden ist! ‚Ach ja, sie ist so bescheiden,
+ein so bescheidenes Kind!‘“ flötete er plötzlich
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+aus der Fistel, als wolle er jemand nachäffen. „‚Sie
+hat so viel Unglück erfahren!‘ – Jawohl, ja! Da hat
+sie uns jetzt ihre Absätze gezeigt, die bescheidene Unglückliche!
+Da rast man ihr nun auf der großen Landstraße
+nach, mit der Zunge aus dem Halse womöglich, und
+sucht sie von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang!
+Läßt einen nicht einmal an Gottes heiligem Feiertage
+beten, wie es sich gehört! Pfui!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber sie ist doch mündig,“ bemerkte ich, „sie steht
+doch nicht unter Vormundschaft. Wir können sie doch
+nicht zwingen, zurückzukehren, wenn sie es nicht selbst
+will. Was werden wir dann tun?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wird gewiß zurückkehren wollen, ich versichere
+dich,“ sagte mein Onkel. „Das hat sie jetzt nur so ...
+Sobald sie uns nur erblickt, wird sie zurück wollen –
+dafür garantiere ich. Und außerdem – es geht doch
+nicht anders, Freund, man kann sie doch nicht so dem
+Zufall überlassen, dem Schicksal als Opfer ... es ist
+doch gewissermaßen eine Pflicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Steht nicht unter Vormundschaft!“ rief Herr Bachtschejeff
+aufgebracht aus und sah mich mit bösen Augen
+an. „‚Ist mündig!‘ – Eine Gans ist sie, mein Lieber,
+eine echte Gans! – <em>So</em> muß man es nennen, aber
+nicht, daß sie <em>mündig</em> ist! Gestern wollte ich mit
+dir überhaupt nicht von ihr sprechen; denn ein paar
+Stunden vorher hatte ich aus Versehen die Tür zu ihrem
+Zimmer aufgemacht – und was sehe ich: sie ist allein
+im Zimmer vor dem Spiegel, die Hände in die Seiten
+gestemmt und tanzt so was wie ’ne Ecossaise! Und wie
+aufgeputzt! Ein Journal, sag ich, einfach ein Modejournal!
+Ich spie nur aus und ging. Und damals
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+schon sah ich voraus, sah ich alles so kommen, wie es
+jetzt gekommen ist – buchstäblich, genau so!“
+</p>
+
+<p>
+„Wozu soll man sie so hart beurteilen,“ wagte ich
+etwas eingeschüchtert einzuwenden, „wir wissen doch,
+daß Tatjana Iwanowna ... sich nicht ihrer vollen
+Gesundheit erfreut ... oder richtiger, daß sie eine gewisse
+Manie ... Ich glaube, daß man nur Obnoskin
+beschuldigen darf und nicht sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Sich nicht ihrer vollen Gesundheit erfreut! Da
+werde einer mit ihm fertig!“ griff der Dicke wieder
+meinen Ausdruck auf, das Gesicht rot vor Zorn. „Er
+hat sich ja wahrhaftig geschworen, einen aus der Haut
+zu bringen! Schon gestern hat er den Schwur abgelegt!
+<em>Eine Gans ist sie</em>, hörst du mich, Väterchen, ich
+sage es dir nochmals: eine <em>kapitale</em> Gans! <em>So</em>
+heißt’s, nicht aber, daß sie sich ‚nicht ihrer vollen Gesundheit
+erfreut‘! Sie ist von Kindesbeinen <span class="antiqua">in puncto</span>
+Liebe übergeschnappt, das laß dir gesagt sein! Und jetzt
+hat der Kupido sie glücklich bis zum Letzten gebracht!
+Von jenem aber mit dem Spitzbart – von dem lohnt es
+sich gar nicht zu reden! Der wird jetzt für dreie leben,
+da sei du unbesorgt, und das Geld springen lassen und
+sich ins Fäustchen lachen.“
+</p>
+
+<p>
+„Glauben Sie denn wirklich, daß er sie verlassen
+wird?“
+</p>
+
+<p>
+„Was denn sonst? Soll er denn einen solchen Schatz
+noch mit sich herumschleppen? Was soll er mit ihr
+anfangen? Er wird ihr das Geld abrupfen und sie
+dann an der Landstraße unter einen Busch setzen – und
+Lebewohl sagen –, sie aber kann dann dort unterm
+Busch sitzen und Blümchen riechen, wenn sie will.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+„Nein, Stepan, da hast du dich denn doch etwas
+fortreißen lassen, so wird es nicht sein!“ sagte mein
+Onkel. „Und weshalb ärgerst du dich so? Wirklich,
+ich wundere mich über dich, Stepan! Was hast du
+davon?“
+</p>
+
+<p>
+„Soo? Bin ich denn kein Mensch? Da kann man
+doch auch wütend werden! Ganz unwillkürlich! Und
+vielleicht rede ich nur aus mitleidigem Herzen ... Ach,
+mag die ganze Welt versauern! Sagt mir doch, wozu
+bin ich eigentlich hergefahren? Weshalb bin ich nicht
+ruhig weitergefahren? Was geht denn das mich an?
+Was schert das mich, Schockschwerenot!“
+</p>
+
+<p>
+So haderte Herr Bachtschejeff mit dem Schicksal,
+doch ich hörte ihm nicht lange zu und beschäftigte mich
+in Gedanken mit derjenigen, der wir nachfuhren – mit
+Tatjana Iwanowna. Ihre Lebensgeschichte, über die
+ich mich in der Folge habe unterrichten lassen, und die
+als Erklärung ihres Abenteuers interessieren dürfte, ist
+kurz folgende:
+</p>
+
+<p>
+Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen
+Hause aufgewachsen war, dann als armes,
+junges Mädchen und mit der Zeit als armes, altes Mädchen
+hatte Tatjana Iwanowna in ihrem ganzen kärglichen
+Leben alles Leid, das Verwaistheit, Erniedrigung,
+Vorwürfe und ungern gegebenes Gnadenbrot verursachen,
+zur Genüge ausgekostet. Von Natur mit einem
+heiteren, sehr empfänglichen und wohl auch leichtsinnigen
+Charakter begabt, hatte sie ihr bitteres Los anfangs
+noch leicht genommen und mitunter sogar fröhlich und
+sorglos wie ein Kind lachen können. Mit den Jahren
+tat aber die Zeit das Ihre: Tatjana Iwanowna wurde
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+gelb und mager, wurde reizbar, krankhaft empfänglich
+und überschwenglich und träumte immer phantastischer
+von allem Schönen der Erde, träumte einen Traum, der
+nur von hysterischen Tränen oder plötzlichem, krampfartigem
+Schluchzen unterbrochen wurde. Je weniger
+irdische Güter die Wirklichkeit ihr verlieh, um so mehr
+tröstete sie sich mit ihrer Phantasie: je unwiederbringlicher
+und unaufhaltsamer ihre letzten Berechtigungen
+zu irgendwelchen Hoffnungen dahinschwanden, um so
+berauschender wurden ihre Illusionen, die sich doch niemals
+verwirklichen konnten. Unermeßliche Reichtümer,
+unverwelkbare Schönheit, elegante, reiche, vornehme
+Kavaliere, wenn nicht gar Großfürsten, die ihr den
+Hof machten, die für sie allein ihr Herz in jungfräulicher
+Reinheit erhalten hatten, und zu ihren Füßen vor lauter
+Liebe starben, und schließlich <em>er</em> – <em>er</em>, das Schönheitsideal,
+ein Mann, der alle Vollkommenheiten in sich vereinigte,
+sie leidenschaftlich liebte, dazu Künstler, Dichter,
+General war – alles zusammen oder abwechselnd –
+alles das sah und erlebte sie bald nicht nur in ihrer
+Phantasie, sondern fast wie in Wirklichkeit. Ihre Vernunft
+widerstand nicht lange dem Gift dieser heimlichen,
+ununterbrochenen Träume ... Und nun plötzlich –
+griff das Schicksal in ihr Leben ein und hatte sie zum
+besten. In der letzten Erniedrigung, inmitten der traurigsten,
+das Herz bedrückenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin
+einer alten, zahnlosen, launischen Dame –
+die sie beständig beschuldigte, die ihr wegen jedes Brotstücks
+und jedes Kleides Vorwürfe machte –, fast als
+Dienstmagd, die ein jeder kränken durfte, und die von
+niemand beschützt wurde, die durch ihr armseliges Leben
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+um ihre Vernunft gebracht war und im geheimen nur
+im Zauber der sinnlosesten und glühendsten Phantasiegebilde
+lebte – erhielt sie eines Tages die Nachricht
+vom Tode eines ihrer entfernten Verwandten, dessen
+Angehörige alle vor ihm gestorben waren, wovon sie in
+ihrem Leichtsinn keine Ahnung gehabt hatte. Dieser
+entfernte Verwandte war ein Sonderling gewesen, hatte
+wie ein Einsiedler gelebt, irgendwo weit in einem Provinznest,
+mürrisch, einsam und mit der Welt zerfallen,
+sich nur mit Kraniologie beschäftigt und sein Geld auf
+Wucherzinsen geliehen. Und so war denn plötzlich wie
+durch ein Wunder dieser Tatjana Iwanowna ein ganzes
+großes Vermögen in den Schoß gefallen: sie war die
+einzige noch lebende Verwandte und folglich die einzige
+gesetzmäßige Erbin des Alten. Hunderttausend Rubel
+erhielt sie sofort blank und bar ausgezahlt. Dieser Hohn
+des Lebens aber brachte sie alsbald um den Rest ihres
+Verstandes. Wie sollte nun ihre ohnehin schon geschwächte
+Vernunft nicht an die Erfüllung aller ihrer
+Träume glauben, wenn solche Wunder geschehen konnten?
+Und so kam es, daß sie, fast betäubt vom Glück,
+unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien
+und verführerischer Illusionen versank. Verschwunden
+waren alle Zweifel, alle Grenzen der Wirklichkeit
+und deren Gesetze. Fünfunddreißig Jahre und
+blendende Schönheit, traurig stimmende Herbstkälte und
+die ganze Wonne unendlicher Liebesseligkeit lebten in
+ihrem Wesen nebeneinander, ohne miteinander auch nur
+einmal in Konflikt zu geraten. War doch <em>ein</em> Traum
+Wirklichkeit geworden – weshalb sollten es nicht auch
+die anderen werden? Weshalb sollte nicht auch <em>er</em> erscheinen?
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+Tatjana Iwanowna dachte nicht – sie
+glaubte. Und während sie <em>ihn</em> noch erwartete, das
+Ideal – sah sie jetzt Tag und Nacht nur noch Werbende
+vor sich, Offiziere und Zivilpersonen, Infanteristen
+und Gardekavalleristen, Millionäre und Dichter,
+die in Paris gewesen waren, und auch solche, die nur
+Moskau gesehen hatten, solche mit spanischen Spitzbärten
+und solche ohne Spitzbärte, Spanier und Nichtspanier
+(größtenteils aber doch Spanier) – jedenfalls
+sah sie dieselben in erschreckend großer Anzahl, so daß
+sie in ihrer Umgebung ernstliche Befürchtungen erregte.
+Es fehlte nicht viel, und man hätte sie in eine Irrenanstalt
+schaffen müssen. Alle ihre schönen Illusionen
+umgaben sie wie eine glänzende Kette, und im wirklichen
+Leben sah sie alles im selben phantastischen Licht:
+wen sie nur sah, der schien ihr in sie verliebt zu sein;
+wer nur an ihr vorüberging, der war in ihren Augen
+ein Spanier, wer starb – der starb unfehlbar aus Liebe
+zu ihr. Und in diesen Einbildungen wurde sie noch
+dadurch bestärkt, daß ihr jetzt tatsächlich viele Herren,
+wie zum Beispiel ein Obnoskin, mit demselben Ziel, das
+auch Misintschikoff verfolgte, den Hof machten. Plötzlich
+wurde sie von allen umschmeichelt, verwöhnt und
+„geliebt“. Die Arme konnte und wollte nicht einmal
+argwöhnen, daß es nur um ihres Geldes willen geschah.
+Sie war vollkommen überzeugt, daß alle Menschen, von
+denen sie früher so schlecht behandelt worden war, sich
+plötzlich wie auf irgend jemandes Befehl gebessert
+hatten, heiter, lieb, freundlich und gut geworden seien.
+<em>Er</em> erschien zwar vorläufig noch nicht, und wenn es
+auch nicht dem geringsten Zweifel unterlag, daß <em>er</em>
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+einmal kommen werde, so war doch das Leben auch so
+nicht schlecht, es war sogar sehr angenehm, so voll Zerstreuungen
+und netter Erlebnisse, daß man sehr gut noch
+warten konnte! Tatjana Iwanowna naschte Konfekt,
+pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane.
+Diese Romane regten ihre Phantasie noch mehr an; doch
+las sie keinen einzigen zu Ende, sondern legte das Buch
+gewöhnlich schon nach den ersten Seiten aus der Hand.
+Sie hielt die Lektüre nicht länger aus, da schon die gleichgültigste
+Andeutung einer Liebe oder auch nur die Beschreibung
+des Ortes, eines Zimmers etwa, ihre Gedanken
+gänzlich gefangen nahm. Fortwährend wurden
+ihr neue Kleider, Spitzen, Hüte, Bänder, Musterbogen
+und Schnittmuster, Stickereien, Konfekt, Blumen
+und Schoßhündchen zugesandt. In der Mädchenstube
+waren drei Mädchen ganze Tage lang nur mit dem
+Nähen ihrer Kleider beschäftigt, sie aber drehte sich fast
+vom Morgen bis zum Abend und sogar in der Nacht vor
+dem Spiegel und hatte eine Anprobe nach der anderen.
+Sie schien dabei nach der Erbschaft jünger und hübscher
+geworden zu sein. Ich habe bis jetzt leider noch nicht
+in Erfahrung bringen können, wie sie mit dem verstorbenen
+General Krachotkin verwandt war. Im Grunde
+war ich von Anfang an überzeugt, daß diese ganze Verwandtschaft
+nur eine Erfindung der Generalin sein
+konnte, die sich Tatjana Iwanownas bemächtigen
+wollte, um sie dann, was es auch koste, mit meinem
+Onkel zu verheiraten. Herr Bachtschejeff hatte recht,
+wenn er sagte, Kupido hätte sie um die letzte Vernunft
+gebracht. Andererseits war der Entschluß meines
+Onkels, als er von ihrer Flucht mit Obnoskin erfahren
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+hatte, ihr sogleich nachzufahren und sie zurückzubringen,
+das Vernünftigste, was er tun konnte. Die Arme war
+gar nicht fähig, ohne Bevormundung zu leben, und sie
+würde unfehlbar ihrem Verderben entgegengegangen
+sein, wenn sie unter schlechte Menschen geraten wäre.
+</p>
+
+<p>
+Es war über neun, als wir in Mischino anlangten.
+Das Gut lag drei Werst abseits von der großen Landstraße.
+Es war dort nur ein kleines Gutshaus mit ein
+paar ärmlichen Nebengebäuden, die alle gleichsam in
+einer Grube lagen. Sechs oder sieben Bauernhütten,
+die schief und verräuchert, nur spärlich mit schwarz gewordenem
+Stroh bedeckt am Wege standen, machten
+einen traurigen Eindruck auf den Vorüberfahrenden.
+Kein Garten, kein Strauch war rings im Umkreise von
+einer Viertelwerst zu sehen. Nur ein alter Weidenbaum
+stand einsam an einem grünen Tümpel, der „Teich“
+genannt wurde. Ein solcher Ort konnte auf Tatjana
+Iwanowna unmöglich einen freundlichen Eindruck
+machen. Das Wohngebäude des Besitzers war ein langgestreckter,
+schmaler Neubau mit sechs Fenstern in einer
+Reihe und einem vorderhand nur mit Stroh gedeckten
+Dach. Der Besitzer – ein ehemaliger Beamter –
+hatte das Gut erst kürzlich übernommen. Selbst der
+Hof war noch nicht einmal mit einem Zaun umgeben:
+nur an einer Seite war ein Stück von einem neuen
+Flechtzaun zu sehen, von dem die trockenen Nußbaumblätter
+noch nicht abgefallen waren. Dort am Zaun
+stand auch Obnoskins offener Wagen. Aus einem geöffneten
+Fenster hörten wir Geschrei und Weinen.
+</p>
+
+<p>
+Im Flur trafen wir nur einen barfüßigen Knaben
+an, der Hals über Kopf davonlief. Im ersten Zimmer,
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+das wir betraten, saß auf einem langen, kattunüberzogenen
+„türkischen“ Diwan ohne Lehne – Tatjana
+Iwanowna, die ganz verweint war. Als sie uns erblickte,
+schrie sie auf und verbarg das Gesicht in den
+Händen. Neben ihr stand Obnoskin – mitleiderregend
+verwirrt und erschrocken. Er verlor dermaßen den Kopf,
+daß er uns entgegenstürzte, um uns die Hände zu
+drücken, ganz als hätte ihn unsere Ankunft unsäglich
+gefreut. Durch die halboffene Tür sah man den Zipfel
+eines Frauenkleides: jemand schien dort durch einen
+Spalt zu lauern und zu lauschen. Weder war der
+Hausherr noch war die Hausfrau zu sehen: sie schienen
+überhaupt nicht im Hause zu sein – oder sie hatten sich
+irgendwo versteckt.
+</p>
+
+<p>
+„Da ist sie ja, unsere Ausflüglerin! Will sich jetzt
+noch hinter den Händen verstecken!“ rief Herr Bachtschejeff
+aus, der hinter uns als letzter in das Zimmer
+gerollt kam.
+</p>
+
+<p>
+„Mäßigen Sie Ihr Entzücken, Stepan Alexejewitsch!
+Das ist hier durchaus nicht angebracht. Das Recht zu
+sprechen hat jetzt nur Jegor Iljitsch, wir aber sind hier
+vollkommen Nebenpersonen!“ bemerkte Misintschikoff
+scharf.
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel, der dem Dicken nur einen strengen Blick
+zugeworfen hatte, ging, ohne Obnoskin und seine ausgestreckten
+Hände auch nur zu beachten, auf Tatjana
+Iwanowna zu, die ihr Gesicht immer noch verbarg, und
+sagte mit ungeheuchelter Teilnahme in seiner sympathischen
+Stimme:
+</p>
+
+<p>
+„Tatjana Iwanowna, wir alle lieben und achten
+Sie so, daß wir selbst hergekommen sind, um Ihre Absichten
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+zu erfahren. Wollen Sie nicht mit uns nach
+Stepantschikowo zurückkehren? Heute ist doch Iljuschas
+Namenstag. Meine Mutter erwartet Sie ungeduldig,
+und Ssaschenjka und Nastenjka werden sicherlich den
+ganzen Morgen vor Sehnsucht nach Ihnen geweint
+haben ...“
+</p>
+
+<p>
+Tatjana Iwanowna erhob schüchtern den Kopf, sah,
+ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, vorsichtig durch
+die Finger zu ihm auf, und plötzlich warf sie sich aufschluchzend
+an seinen Hals.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, bringen Sie mich, bringen Sie mich schnell
+von hier fort!“ flehte sie unter Tränen, „schnell, schnell,
+so schnell wie möglich!“
+</p>
+
+<p>
+„Hat das Durchbrennen schon satt!“ tuschelte mir
+Bachtschejeff mit einem gleichzeitigen Rippenstoß zu.
+</p>
+
+<p>
+„Dann wäre also die Angelegenheit erledigt,“ sagte
+mein Onkel trocken, sich an Obnoskin wendend; doch
+vermied er es, ihn anzusehen. „Tatjana Iwanowna,
+Ihren Arm, wenn ich bitten darf. Fahren wir!“
+</p>
+
+<p>
+Im Nebenzimmer hinter der Tür hörte man Kleiderrascheln.
+Die Tür kreischte ein wenig und der Spalt
+wurde größer.
+</p>
+
+<p>
+„Einstweilen aber ... wenn man von einem anderen
+Standpunkt aus urteilt ...“ bemerkte Obnoskin
+mit unruhigem Blick nach der offenen Tür, „so müßten
+Sie sich doch selbst sagen, Jegor Iljitsch ... Ihre
+Handlungsweise in meinem Hause ... und schließlich
+– ich begrüße Sie, und Sie erwidern nicht einmal
+meinen Gruß, Jegor Iljitsch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ihre Handlungsweise in <em>meinem</em> Hause, mein
+Herr, war ehrlos,“ sagte mein Onkel und sah Obnoskin
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+mit strengem Blick offen an, „– und das hier ist nicht
+Ihr Haus. Sie haben es soeben selbst gehört: Tatjana
+Iwanowna will keinen Augenblick mehr hier verweilen.
+Was wollen Sie denn noch? Kein Wort – hören Sie,
+kein Wort mehr, ich bitte Sie darum! Ich würde gern
+weitere Erklärungen vermeiden, und das – wäre wohl
+auch vorteilhafter für Sie.“
+</p>
+
+<p>
+Obnoskin verlor so sehr den Kopf, daß er den
+größten Unsinn zusammenschwatzte.
+</p>
+
+<p>
+„Verachten Sie mich nicht, Jegor Iljitsch,“ begann
+er halblaut, vor Beschämung, wie es schien, den Tränen
+nahe, wobei er sich fortwährend nach der Tür umsah –
+wahrscheinlich in der Furcht, daß man ihn dort hören
+könnte. „Ich habe ja eigentlich nichts getan, das war
+doch nur Mama ... Ich habe es nicht in meinem
+Interesse getan, Jegor Iljitsch ... ich habe es nur so
+getan ... natürlich habe ich es zum Teil auch in
+meinem Interesse getan, Jegor Iljitsch ... aber ich habe
+es mit einem edlen Ziel vor Augen getan, Jegor Iljitsch
+... Ich hätte das Kapital nutzbringend angewandt ...
+ich hätte den Armen geholfen. Ich wollte ferner zum
+Fortschritt der gegenwärtigen Aufklärung etwas beitragen
+... ich beabsichtigte sogar, ein Stipendium an
+der Universität zu stiften ... Sehen Sie, in welcher
+Weise und zu welchen Zwecken ich meinen Reichtum
+angewandt hätte, Jegor Iljitsch ... und nicht, daß ich
+sonst etwas, Jegor Iljitsch ...“
+</p>
+
+<p>
+Wir alle schämten uns mit einem Male ganz entsetzlich.
+Misintschikoff wurde rot und wandte sich ab,
+mein Onkel aber wurde so verlegen, daß er nicht wußte,
+was er sagen sollte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+„Schon gut, schon gut!“ sagte er endlich. „Beruhigen
+Sie sich nur, Pawel Ssemjonytsch. Was soll
+man hier viel sagen ... Es kann jedem passieren ...
+Wenn Sie wollen, besuchen Sie uns ... ich aber freue
+mich ... es freut mich, daß ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch nicht ganz so zartfühlend verfuhr Herr Bachtschejeff.
+</p>
+
+<p>
+„Stipendium stiften!“ schrie er plötzlich jähzornig.
+„Der ist mir der Rechte zum Stiften! Du würdest gern
+selbst einem jeden das Letzte abrupfen! ... Hat sich im
+Leben noch kein Paar Hosen verdient, kräht aber schon
+wie die anderen von Stipendienstiften! So ein Lumpenkerl!
+Und hat jetzt noch ein zärtliches Herz besiegt!
+Aber wo ist denn die Hauptperson, die verehrte Frau
+Mutter? Oder hat sie sich versteckt? Ich will nicht
+Bachtschejeff heißen, wenn sie nicht dort irgendwo sitzt,
+sich hinter einem Bettschirm verborgen hält oder vor
+Schreck sich unters Bett verkrochen hat ...“
+</p>
+
+<p>
+„Stepan, Stepan!“ unterbrach ihn mein Onkel geärgert.
+</p>
+
+<p>
+Obnoskin wurde feuerrot und schien protestieren zu
+wollen. Doch noch bevor er den Mund aufmachen
+konnte, wurde die Tür schon aufgerissen, und Anfissa
+Petrowna Obnoskina stürzte mit blitzenden Augen empört
+und zornbebend ins Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll das bedeuten?“ kreischte sie laut. „Was
+geht hier vor? Sie, Jegor Iljitsch, dringen mit einer
+ganzen Kohorte in ein ehrenwertes Haus, erschrecken
+Damen, treffen eigenmächtig Anordnungen! ... Das
+ist doch unerhört! Ich bin zum Glück noch meiner Sinne
+mächtig, Jegor Iljitsch! ... Du Tölpel!“ fuhr sie in
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+ihrem Redeschwall fort, sich auf ihren Sohn stürzend,
+„du scheinst ja hier vor ihnen noch weinen zu wollen!
+Deiner Mutter wird in ihrem Hause eine Beleidigung
+zugefügt, und du stehst da und schweigst! Was bist du?
+ein ehrenwerter junger Mann und Sohn? Ein Lappen
+bist du, aber kein Mann!“
+</p>
+
+<p>
+Vergessen waren alle Ziererei und die ganze lächerliche
+Koketterie, die mir am Tage zuvor an ihr aufgefallen
+waren – auch keine Spur war mehr davon
+sichtbar: man sah nur noch eine Furie vor sich, eine
+Furie, der man die Maske vom Gesicht gerissen hatte.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte sie ihren ersten Redeschwall beendet, als
+mein Onkel auch schon Tatjana Iwanowna seinen Arm
+bot und sie zur Tür hinausgeleiten wollte. Anfissa Petrowna
+jedoch versperrte ihm sogleich den Weg.
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden so nicht fortgehen, Jegor Iljitsch!“ begann
+sie von neuem ihr Geschrei. „Mit welchem Recht
+wollen Sie Tatjana Iwanowna gewaltsam entführen?
+Es macht Ihnen einen Strich durch die Rechnung, daß
+der Goldfisch den erbärmlichen Netzen entschlüpft ist,
+mit denen Sie sie in Gemeinschaft mit Ihrer Mutter und
+dem Esel Foma Fomitsch einzufangen gedachten! Sie
+würden sie gern selbst aus niedriger Geldgier heiraten.
+Verzeihen Sie, aber hier ist man edler gesinnt! Da
+Tatjana Iwanowna sah, was man dort gegen sie plante,
+vertraute sie sich meinem Sohn Pawluscha an. Sie hat
+ihn selbst gebeten, sie vor Ihnen zu retten und sie zu beschützen:
+Sie war gezwungen, in der Nacht aus Stepantschikowo
+zu fliehen – sehen Sie, so verhält sich die
+Sache! So weit haben Sie sie gebracht! Nicht wahr,
+so ist es doch, Tatjana Iwanowna? Wenn es sich aber
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+so verhält, wie können Sie es dann wagen, mit einer
+solchen Bande, wie dieser, in ein angesehenes Haus
+einzudringen und mit Gewalt ein ehrenwertes Mädchen
+zu entführen, trotz der Tränen desselben? Das erlaube
+ich nicht! Das erlaube ich nicht! Ich bin ein vernünftiger
+Mensch, kein verrückter! ... Tatjana Iwanowna
+wird hierbleiben; denn das ist ihr Wunsch und
+ihr Wille! Gehen wir, Tatjana Iwanowna, es lohnt
+sich nicht, diese Menschen anzuhören: das sind unsere
+Feinde und nicht unsere Freunde! Ich werde sie schon
+hinausbringen, die – ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein!“ rief Tatjana Iwanowna erschrocken
+aus, „ich will nicht, ich will nicht! Was ist er für ein
+Mann? Ich will Ihren Sohn nicht heiraten! Was ist
+er denn für ein Mann?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wollen nicht!“ schrie Anfissa Petrowna wutschnaubend,
+„Sie wollen nicht? Erst sind Sie hergekommen
+und jetzt wollen Sie nicht? Wie haben Sie
+uns denn so betrügen können? Wie haben Sie ihm dann
+Ihre Zusage geben können? Sie sind in der Nacht mit
+ihm entflohen, haben sich ihm selbst an den Hals geworfen,
+haben uns in Ausgaben gestürzt! Mein Sohn
+hat Ihretwegen vielleicht eine gute Partie verloren,
+die er hätte machen können ... Er hat vielleicht
+zehntausend Rubel Mitgift verloren durch Sie! ...
+Nein! Sie werden es bezahlen, Sie müssen es bezahlen!
+Wir haben Beweise in der Hand ... Sie sind in der
+Nacht mit ihm entflohen ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch wir hatten genug von ihrem Geschrei: wie auf
+Kommando scharten wir uns alle dicht um meinen Onkel
+und drängten zur Tür hinaus, rücksichtslos auf Anfissa
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+Petrowna zu, die uns den Weg versperren wollte, und
+gelangten auch glücklich ins Freie. Unser Wagen
+fuhr vor.
+</p>
+
+<p>
+„So etwas tun nur Schufte, nur Schurken!“ schrie
+uns in rasender Wut Anfissa Petrowna von der Treppe
+noch nach.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde die Rechnung schicken! Sie werden sie
+bezahlen! Sie fahren in ein ehrloses Haus, Tatjana
+Iwanowna! Sie können Jegor Iljitsch nicht heiraten,
+er hält sich ja vor Ihrer Nase seine Gouvernante als
+Mätresse im Hause! ...“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel fuhr zusammen, erbebte, erbleichte, biß
+sich auf die Lippe und half eifrig Tatjana Iwanowna
+beim Einsteigen. Ich ging um den Wagen herum und
+wartete, bis an mich die Reihe kam, einzusteigen, als
+plötzlich Obnoskin neben mir stand und meine Hand
+erfaßte.
+</p>
+
+<p>
+„Wenigstens müssen Sie mir erlauben, Sie um
+Ihre Freundschaft zu bitten!“ flüsterte er mir mit einem
+ganz verzweifelten Ausdruck zu und drückte krampfhaft
+meine Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Wie das – Freundschaft?“ fragte ich verwundert
+und setzte schnell den Fuß auf das Trittbrett.
+</p>
+
+<p>
+„Ja! Ich habe gestern in Ihnen einen überaus gebildeten
+Menschen erkannt. Verurteilen Sie mich nicht
+... Mich hat eigentlich nur meine Mutter verleitet, ich
+aber bin in dieser Angelegenheit ganz <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à part</span>. Ich neige
+mehr zur Literatur – versichere Sie! Dies hier aber
+hat alles nur meine Mutter ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube es, glaube es,“ sagte ich, „leben Sie
+wohl!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+Wir setzten uns und fuhren fort. Das Geschrei
+und die Verwünschungen Anfissa Petrownas schallten
+uns noch lange nach. Und nun tauchten auch in allen
+Fenstern des Hauses unbekannte Gesichter auf, die uns
+mit unbeschreiblicher Neugier nachstarrten.
+</p>
+
+<p>
+Wir saßen jetzt zu fünfen im Wagen. Misintschikoff
+hatte sich neben den Kutscher gesetzt und seinen Platz
+auf dem Rücksitz Herrn Bachtschejeff abgetreten, der nun
+Tatjana Iwanowna gegenübersaß. Tatjana Iwanowna
+war sehr zufrieden damit, daß wir sie wieder zurückbrachten,
+weinte aber immer noch. Mein Onkel tröstete
+sie, so gut er es konnte. Er selbst war dabei niedergedrückt
+und nachdenklich: man sah es ihm an, daß die
+schändlichen Worte über Nastenjka, die Anfissa Petrowna
+in ihrer Wut uns nachgeschrien hatte, schmerzlich
+in seinem Herzen widerhallten. Übrigens – unsere
+Rückfahrt wäre ohne jeden Zwischenfall sehr glücklich
+verlaufen, wenn Herr Bachtschejeff nicht mit uns gewesen
+wäre.
+</p>
+
+<p>
+Kaum hatte er Tatjana Iwanowna gegenüber Platz
+genommen, als er plötzlich ein ganz anderer wurde: er
+konnte nicht mehr gleichmütig dreinblicken und noch
+weniger ruhig auf seinem Platz sitzen, er drehte sich
+vielmehr hin und her, wurde rot wie ein gekochter Krebs
+und rollte beängstigend die Augen. Namentlich als
+mein Onkel Tatjana Iwanowna zu trösten suchte, schien
+der Dicke förmlich aus der Haut fahren zu wollen und
+brummte und knurrte wie eine aufs äußerste gereizte
+Bulldogge, die man zum Überfluß noch neckt. Mein
+Onkel blickte ihn mehrmals etwas ängstlich an und schien
+einige Befürchtungen zu hegen. Schließlich fiel auch
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+Tatjana Iwanowna die eigentümliche Gemütsstimmung
+ihres Gegenübers auf, und sie begann ihn aufmerksam
+zu betrachten. Dann blickte sie uns an, lächelte, und
+plötzlich nahm sie ihren kleinen Sonnenschirm und schlug
+mit einer graziösen Bewegung Herrn Bachtschejeff leicht
+auf die Schulter.
+</p>
+
+<p>
+„Sie Tor!“ sagte sie mit der bezauberndsten Koketterie
+und verbarg ihr Gesicht hinter ihrem Fächer.
+</p>
+
+<p>
+Das war der Tropfen, der den Becher überlaufen
+machte.
+</p>
+
+<p>
+„Wa–a–as!“ brüllte der Dicke, „wa–as sagten
+Sie, Madame? Also jetzt hast du’s schon auf mich abgesehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie Tor! Sie Tor!“ rief Tatjana Iwanowna
+und brach in heiteres Lachen aus, wozu sie in die Hände
+klatschte.
+</p>
+
+<p>
+„Halt an!“ schrie Bachtschejeff dem Kutscher zu,
+„halt an!“
+</p>
+
+<p>
+Die Pferde blieben stehen. Bachtschejeff öffnete
+den Wagenschlag und machte sich eilig daran, auszusteigen.
+</p>
+
+<p>
+„Was fällt dir ein, Stepan? Wohin willst du?“
+fragte mein Onkel verwundert und erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das ist mir zu stark!“ antwortete der Dicke
+zitternd vor Unwillen, „mag die ganze Welt verderben!
+Ich bin zu alt, Madame, um mich noch auf Amouren
+einlassen zu können. Ich, meine Beste, ich sterbe lieber
+allein! Adieu, Madame, kommang wu porteh-wu!“
+</p>
+
+<p>
+Und er begann in der Tat zu Fuß zu marschieren.
+Der Wagen fuhr im Schritt hinter ihm her.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+„Stepan!“ rief ihm mein Onkel ärgerlich zu, da er
+endlich die Geduld verlor. „Mach doch keine Dummheiten,
+steig ein! Es ist doch die höchste Zeit, nach Haus
+zu kommen!“
+</p>
+
+<p>
+„Fällt mir ein!“ rief Herr Bachtschejeff zwar empört,
+aber es klang doch schon etwas atemlos vom
+Gehen; denn infolge seiner Dicke hatte er das Gehen
+fast ganz verlernt.
+</p>
+
+<p>
+„Fahr zu, so schnell die Pferde können!“ befahl
+plötzlich Misintschikoff ganz unerwartet dem Kutscher.
+</p>
+
+<p>
+„Was tust du, was tust du?“ rief zwar mein Onkel
+gerade noch erschrocken aus, aber der Wagen flog schon
+dahin. Misintschikoff hatte sich nicht getäuscht: die gewünschten
+Folgen ließen nicht lange auf sich warten.
+</p>
+
+<p>
+„Halt an! Halt an!“ ertönte alsbald hinter uns
+ein verzweifeltes Gegröl, „halt an, du Räuber! Halt
+an, du Seelenverführer, der du bist! ...“
+</p>
+
+<p>
+Der Dicke kam schließlich müde und halberstickt, mit
+Schweißtropfen auf der Stirn, mit aufgebundener Krawatte
+und in Hemdsärmeln wieder bei uns an. Stumm
+und finster kletterte er mühsam in den Wagen, doch
+diesmal mußte ich ihm meinen Platz abtreten. So
+brauchte er wenigstens nicht Tatjana Iwanowna gegenüberzusitzen,
+die unaufhörlich lachte, vor Vergnügen
+in die Hände schlug und während der ganzen Fahrt
+nicht mehr gleichmütig den Dicken ansehen konnte. Er
+aber sprach bis zur Ankunft kein einziges Wort und
+schien sich die ganze Zeit grundsätzlich nur noch dafür
+zu interessieren, wie sich das eine Hinterrad das Wagens
+drehte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+Die Sonne stand im Zenith, als wir in Stepantschikowo
+ankamen. Ich begab mich sogleich in das
+Sommerhaus, wohin mir der alte Gawrila mit dem
+Tee folgte. Als ich mich, kaum dort angelangt, zu ihm
+wandte, um ihn einiges zu fragen, trat mein Onkel ein
+und schickte ihn fort.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-17">
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+<span class="firstline">XIV.</span><br>
+Neuigkeiten.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>M</span><span class="postfirstchar">ein</span> Freund, ich bin nur auf einen Augenblick
+zu dir gekommen,“ sagte er eilig. „Ich wollte dir nur
+mitteilen ... Ich habe mich nach allem erkundigt. Es
+ist niemand von ihnen zum Gottesdienst gefahren,
+außer Iljuschka, Ssaschenjka und Nastenjka. Meine
+Mutter soll in Krämpfen gelegen haben. Man hat sie
+nur mit Mühe wieder zu sich gebracht. Jetzt hat man
+beschlossen, daß alle sich bei Foma versammeln sollen,
+und auch mich hat man hingebeten. Nur weiß ich nicht,
+ob ich Foma zum Geburtstag gratulieren soll oder nicht
+– das ist die Frage! Und dann – wie werden sie
+überhaupt diesen ganzen Zwischenfall auffassen? Entsetzlich,
+Ssergei, wenn ich daran denke, was ich jetzt
+alles kommen sehe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil, Onkel,“ beeilte ich mich, ihn zu
+beruhigen, „es wird jetzt alles vorzüglich werden. Jetzt
+können Sie doch unmöglich Tatjana Iwanowna heiraten
+– bedenken Sie doch nur, was das allein
+wert ist! Ich wollte Ihnen das schon unterwegs
+sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, ich weiß, Freund. Aber das ist es ja
+nicht! Das ist natürlich ein Fingerzeig Gottes, wie du
+sagst, aber nicht davon wollte ich sprechen ... Die arme
+Tatjana Iwanowna! Was sie für Anfälle hat! ...
+Ein Schuft, ein Schuft ist dieser Obnoskin! Doch –
+was sage ich ‚Schuft‘! Hätte ich nicht dasselbe getan,
+wenn ich sie geheiratet hätte? ... Aber ich wollte doch
+nicht davon reden ... Hast du gehört, was vorhin diese
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+schändliche Anfissa von Nastjä uns nachrief?“ fragte
+er leise.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es gehört, Onkel. Sehen Sie jetzt ein,
+daß Sie sich beeilen müssen?“
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt! Und was es auch koste, um jeden
+Preis!“ antwortete mein Onkel. „Der Augenblick ist
+gekommen. Nur haben wir beide, Freund, gestern an
+eines nicht gedacht; später aber habe ich mir die ganze
+Nacht den Kopf darüber zerbrochen: wird sie mich denn
+auch nehmen – sieh, das ist die Frage!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber hören Sie ...! Wenn sie Ihnen doch selbst
+gesagt hat, daß sie Sie liebt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Freund, sie hat doch gleich darauf hinzugefügt,
+daß sie mich niemals heiraten werde!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Onkel! Das wird doch nur so gesagt worden
+sein, und zudem liegen ja auch die Verhältnisse heute
+ganz anders.“
+</p>
+
+<p>
+„Glaubst du? Nein, Freund Ssergei, das ist eine
+delikate Sache, hier muß man unendlich zartfühlend
+sein! Hm! ... Aber weißt du, ich war ja wohl traurig
+darüber, aber im Herzen verspürte ich doch die ganze
+Nacht so etwas wie – ein großes Glück ... Nun,
+leb wohl, ich eile. Sie erwarten mich, ich komme sowieso
+zu spät. Ich wollte überhaupt nur einen Augenblick
+bei dir vorsprechen, bloß um zwei Worte mit dir
+zu wechseln. Ach, mein Gott!“ rief er plötzlich aus und
+kehrte von der Tür zurück, „und die Hauptsache habe
+ich doch noch vergessen! Weißt du: ich habe ihm ja
+doch geschrieben, dem Foma!“
+</p>
+
+<p>
+„Wann?“
+</p>
+
+<p>
+„In der Nacht. Am Morgen aber, als es kaum
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+dämmerte, schickte ich ihm den Brief durch Widopljässoff
+zu. Ich habe, weißt du, ihm alles klargelegt, zwei ganze
+Briefbogen lang, habe ihm alles wahrheitsgetreu und
+aufrichtig geschrieben – kurz, daß es, wie gesagt, meine
+Pflicht ist, das heißt, unbedingt meine Pflicht – du
+verstehst doch? – um Nastenjkas Hand in aller Form
+anzuhalten. Ich habe ihn gebeten, von unserer Begegnung
+im Garten nichts verlauten zu lassen, und ich
+habe mich an den ganzen Edelmut seiner Seele gewandt,
+mit der Bitte, mir bei meiner Mutter zu helfen.
+Ich habe mich natürlich – ich weiß es, mein Freund
+– schlecht ausgedrückt, aber ich habe jedes Wort von
+ganzem Herzen geschrieben, mit Tränen geschrieben,
+kann ich wohl sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und? Er hat nichts geantwortet?“
+</p>
+
+<p>
+„Vorläufig noch nicht. Nur am Morgen, als wir
+zur Fahrt aufbrachen, begegnete ich ihm im Flur –
+er war noch im Nachtkostüm, in Pantoffeln und Zipfelmütze
+– er schläft immer mit einer Zipfelmütze –
+er ging gerade irgendwohin. Er sagte kein Wort,
+sah mich nicht einmal an. Ich sah ihm, weißt du, ins
+Gesicht, aber das verriet nichts!“
+</p>
+
+<p>
+„Onkel, hoffen Sie nicht auf ihn: er wird Ihnen
+noch was Schönes einbrocken!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Freund, sprich nicht so!“ unterbrach
+mich mein Onkel eilig, „ich bin überzeugt! Und dann
+– es ist dies ja auch meine letzte Hoffnung. Er wird
+einsehen, er wird es verstehen ... Er ist launisch, eigensinnig
+– ich gebe es zu. Wenn es sich aber um etwas
+Großes handelt, um, sozusagen, um höheren Edelmut,
+dann steht Foma in seinem vollen Glanze da – ja, in
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+seinem vollen Glanze ... Das sagst du nur deshalb,
+Ssergei, weil du ihn noch nicht in einem solchen Augenblick
+gesehen hast ... Aber, Herrgott! Wenn er ...
+wenn er wirklich das Geheimnis nicht als solches wahrt,
+so ... ich weiß nicht, Ssergei, was dann geschehen
+wird! An was in der Welt kann man dann noch
+glauben? Doch nein, er kann nicht so schlecht sein.
+Ich bin ja nicht einmal seinen kleinen Finger wert!
+Du brauchst nicht den Kopf zu schütteln, Freund: es
+ist wahr – ich bin ihn nicht wert.“
+</p>
+
+<p>
+„Jegor Iljitsch! Ihre Exzellenz beunruhigen sich
+um Sie!“ ertönte da plötzlich die Stimme der Perepelizyna
+unter dem offenen Fenster. Wahrscheinlich
+hatte die alte Jungfer unser ganzes Gespräch belauscht.
+„Sie werden im ganzen Hause gesucht, und niemand
+kann Sie finden.“
+</p>
+
+<p>
+„Herrgott, ich habe mich verspätet!“ rief mein
+Onkel entsetzt aus. „Freund, um Christi willen, zieh
+dich schnell an und komm hin! Ich bin ja eigentlich
+auch nur deshalb hergekommen, um dich abzuholen ...
+Ich komme, Anna Nilowna, ich komme ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich blieb allein zurück. Ich dachte an meine Begegnung
+mit Nastenjka und war froh darüber, daß ich
+meinem Onkel nichts davon gesagt hatte: ich hätte ihn
+nur noch unentschlossener gemacht. Ich sah voraus,
+daß ein großer Sturm bevorstand, und konnte eigentlich
+nicht begreifen, wie mein Onkel die Sache zu Ende
+bringen und um Nastenjkas Hand anhalten würde. Ich
+wiederhole und gestehe es: trotz meines ganzen Glaubens
+an seine Ritterlichkeit, zweifelte ich doch unwillkürlich
+am Erfolge.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+Einstweilen hieß es jedoch: sich schnellstens ankleiden!
+Ich hielt es für meine Pflicht, ihm zu helfen,
+und beeilte mich mit dem Umziehen. Aber wie sehr
+ich mich auch beeilte, es dauerte doch länger – wie es
+gewöhnlich geschieht, wenn man sich etwas sorgfältiger
+ankleiden und dabei beeilen will. Und während ich
+mich noch ankleidete, trat Misintschikoff ein.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin gekommen, um Sie abzuholen,“ sagte er.
+„Jegor Iljitsch läßt Sie bitten, schnell zu kommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir!“
+</p>
+
+<p>
+Ich war jetzt fertig. Wir gingen.
+</p>
+
+<p>
+„Was gibt es Neues?“ fragte ich ihn unterwegs.
+</p>
+
+<p>
+„Alle sind bei Foma versammelt,“ antwortete
+Misintschikoff, „Foma ist diesmal nicht launenhaft,
+scheint nachdenklich zu sein und spricht wenig, knurrt
+nur durch die Zähne. Er hat sogar Iljuscha geküßt,
+was Jegor Iljitsch selbstredend in wahre Begeisterung
+versetzte. Er hat kurz vorher durch die Perepelizyna
+der Generalin sagen lassen, daß man ihn nicht zum
+Namensfest beglückwünschen solle, er habe ‚nur prüfen
+wollen‘ ... Die Alte riecht zwar den Braten, hat sich
+aber beruhigt; denn auch Foma ist ruhig. Von der
+Flucht wird mit keiner Silbe gesprochen – als wäre
+überhaupt nichts vorgefallen. Man schweigt; denn auch
+Foma geruht zu schweigen. Er hat den ganzen Morgen
+keinen Menschen zu sich gelassen, die Alte aber hat ihn
+bei allen Heiligen angefleht, zu einer Beratung zu ihr
+zu kommen. Sie hat sogar selbst und eigenhändig an
+seiner Tür gerüttelt. Er aber hatte sich eingeschlossen
+und soll gesagt haben, er bete ‚für die Menschheit‘ –
+oder Ähnliches. Er scheint irgend etwas im Schilde
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+zu führen: das sieht man seinem Gesicht sofort an. Da
+aber Jegor Iljitsch nicht fähig ist, aus einem Gesicht
+etwas zu erraten, so ist er jetzt durch Fomas Frömmigkeit,
+wie gesagt, völlig bezaubert: ein richtiges Kind!
+Iljuscha hat ein Gedicht gelernt, das er jetzt vortragen
+soll. Deshalb hat man mich auch nach Ihnen
+geschickt.“
+</p>
+
+<p>
+„Und Tatjana Iwanowna?“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo ist sie? Dort bei den anderen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, sie ist in ihrem Zimmer,“ antwortete Misintschikoff
+trocken. „Sie erholt sich und weint. Vielleicht
+schämt sie sich auch. Bei ihr befindet sich, glaube
+ich, diese ... Erzieherin. Aber was ist denn das?
+Ein Gewitter zieht auf, wie es scheint. Sehen Sie
+doch, dort – den Himmel!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wahrscheinlich ein Gewitter,“ sagte ich nach
+einem Blick auf die dunklen Wolken am Horizont.
+</p>
+
+<p>
+In dem Augenblick stiegen wir zur Terrasse hinauf.
+</p>
+
+<p>
+„Doch – Obnoskin? – was sagen Sie zu dem?“
+fragte ich, da ich es nicht verbeißen konnte, Misintschikoff
+ein bißchen auf den Zahn zu fühlen.
+</p>
+
+<p>
+„Sprechen Sie nicht von ihm! Erinnern Sie mich
+überhaupt nicht an diesen Schurken!“ rief er aus und
+blieb plötzlich stehen. Er wurde rot und stampfte mit
+dem Fuß auf. „Dieser Esel! Dieser Esel! einen so
+sicheren Plan, einen so glänzenden Gedanken zu verpfuschen!
+Hören Sie, ich bin natürlich auch ein Esel,
+da ich seine Schliche nicht bemerkt und nicht erraten
+habe – das gestehe ich vollkommen ehrlich und feierlich
+selbst ein, und vielleicht wünschten Sie nur diese
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+Selbstbeschuldigung zu hören. Aber ich schwöre Ihnen:
+Hätte der Kerl die Sache nach allen Regeln der Kunst
+durchgeführt, so würde ich ihm vielleicht noch verzeihen.
+Der Esel, o, der Esel! Wie kann man nur solche Leute
+in der Gesellschaft überhaupt dulden? Weshalb verschickt
+man sie nicht nach Sibirien, in die Zwangsarbeit,
+als Kolonisten! Aber was da! Die sollen mich
+nicht überlisten! Jetzt habe ich wenigstens Erfahrungen
+gesammelt, ich habe ein Beispiel vor Augen – und
+wir werden uns noch einmal messen! Ich überlege jetzt
+– einen neuen Plan ... Sie werden mir zugeben:
+soll man denn die Früchte seiner Ideen wirklich nur
+deshalb verlieren, weil irgendein Esel die Idee gestohlen,
+doch die Sache nicht richtig auszuführen verstanden
+hat? Das wäre doch töricht! Und schließlich
+– diese Tatjana muß unbedingt heiraten: das ist nun
+einmal ihre Bestimmung. Und wenn bis jetzt noch
+niemand sie in eine Irrenanstalt gesteckt hat, so ist das
+doch nur deshalb nicht geschehen, weil man sie immer
+noch heiraten konnte. Ich werde Ihnen meinen neuen
+Plan auseinandersetzen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber doch wohl später,“ unterbrach ich ihn, „denn
+jetzt sind wir ja angelangt.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut, später!“ sagte Misintschikoff – sein
+Mund verzog sich zu einem kurzen Lächeln. „Jetzt aber
+... Wohin gehen Sie denn? Ich sagte Ihnen doch:
+direkt zu Foma Fomitsch! Folgen Sie mir. Sie sind
+noch nie dort gewesen. Jetzt werden Sie eine neue
+Komödie erleben ... Da nun einmal die Komödien
+hier Mode sind ...“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-18">
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+<span class="firstline">XV.</span><br>
+Iljuschas Namenstag.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">F</span><span class="postfirstchar">oma</span> bewohnte zwei große, prachtvolle Räume: sie
+waren besser möbliert als alle anderen in Stepantschikowo.
+Der größte Komfort umgab den großen Mann.
+Neue, teure Tapeten an den Wänden, seidene, gemusterte
+Vorhänge an den Fenstern, Teppiche, Trumeaus,
+ein Kamin und weiche, elegante Polstersessel
+– alles sprach von der zarten, liebevollen Aufmerksamkeit
+des gastfreundlichen Hausherrn, der es Foma
+Fomitsch nicht gut genug machen konnte. Vor den
+Fenstern standen auf runden Marmortischen schöne
+Blumen. Mitten im „Arbeitskabinett“ stand ein großer
+Tisch, der mit einer schweren roten Tuchdecke bedeckt
+war, und auf dem viele Bücher und Manuskriptbogen
+lagen; ferner stand auf ihm ein kostbares, in Bronze
+gearbeitetes Tintenfaß – daneben ein ganzer Stoß
+von Gänsefedern, für die Widopljässoff zu sorgen hatte.
+Alles das sollte ersichtlich von der schweren geistigen
+Arbeit Foma Fomitschs zeugen. Nebenbei bemerkt:
+Foma, der runde acht Jahre hier lebte, hat eigentlich
+überhaupt nichts verfaßt. Späterhin, als er das Zeitliche
+gesegnet hatte, durchsuchten wir seine hinterlassenen
+Manuskripte, die, wie es sich dann zeigte, in nichts als
+bekritzeltem Papier bestanden. Das von ihm Geschriebne
+war barer Unsinn, einfach Blödsinn. So
+fanden wir zum Beispiel den Anfang eines historischen
+Romans, der in Nowgorod spielte, und zwar im
+siebenten Jahrhundert! – als Nowgorod überhaupt
+noch nicht vorhanden war. Dann noch ein ungeheuerliches
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+Gedicht: „Anachoret auf dem Friedhof“, das er
+in reimlosen Versen geschrieben hatte; ferner eine sinnlose
+Abhandlung über die Bedeutung und die Eigenschaften
+des russischen Bauern, sowie darüber, wie man
+mit ihm umgehen müsse; und schließlich noch eine Novelle:
+„Gräfin Wlonskaja“, aus der eleganten Welt,
+gleichfalls sinnlos und unbeendet. Das war alles, was
+wir fanden. Indes hatte Foma Fomitsch meinen Onkel
+jährlich große Summen für Bücher und Zeitschriften
+zahlen lassen. Die meisten von ihnen blieben jedoch
+unaufgeschnitten liegen. Dagegen habe ich Foma
+später nicht selten bei der Lektüre eines Romans von
+Paul de Kock überrascht, den er vor anderen Sterblichen
+natürlich möglichst verbarg.
+</p>
+
+<p>
+An der einen Seite des Zimmers war eine Glastür,
+durch die man über ein paar Stufen auf den Hof
+gelangte.
+</p>
+
+<p>
+Wir wurden erwartet. Foma Fomitsch saß in
+seinem Philosophenstuhl und trug einen eigentümlich
+langen Rock, der fast bis zu den Fersen herabreichte,
+doch hatte er sich keine Krawatte umgebunden. Er war
+auffallend wortkarg und nachdenklich. Als wir eintraten,
+hob er nur ein wenig die Brauen in die Höhe
+und richtete einen prüfenden Blick auf mich. Ich machte
+ihm meine Verbeugung, und er dankte mir mit einem
+nur leichten Kopfnicken, das aber doch ziemlich höflich
+ausfiel. Als die Generalin sah, daß Foma Fomitsch
+mir gnädig gesinnt war, nickte auch sie mir lächelnd
+zu. Die Arme! – sie hatte am Morgen alles eher erwartet,
+als daß ihr Liebling die Nachricht von dem
+„Zwischenfall“ ruhig aufnehmen werde! Daher war
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+sie jetzt sehr gut aufgelegt, – ungeachtet dessen, daß
+sie noch vor wenigen Stunden in Krämpfen und Ohnmachtsanfällen
+gelegen hatte. Hinter ihrem Stuhl
+stand wie gewöhnlich Fräulein Perepelizyna, die ihre
+Lippen zu einem schmalen Streifen zusammenpreßte,
+bitter und boshaft lächelte und ihre mageren Hände,
+an denen alle Gelenke hervorstanden, unaufhörlich rieb.
+Neben der Generalin hatten sich ihre zwei Freundinnen
+niedergelassen, zwei alte adlige Damen, die beständig
+bei ihr lebten und fast nie ein Wort sprachen. Dann
+saßen dort noch eine am Morgen angekommene Nonne
+und eine Gutsbesitzerin aus der Nachbarschaft, die zum
+Morgengottesdienst ins Kloster gefahren und auf dem
+Rückwege in Stepantschikowo ausgestiegen war, um
+die alte Generalin zum Fest zu beglückwünschen. Meine
+Tante Praskowja Iljinitschna zog sich ängstlich in einen
+Winkel zurück und blickte unruhig bald auf Foma Fomitsch,
+bald auf ihre Mutter, die Generalin. Mein
+Onkel saß in einem Lehnstuhl, und ungetrübte Freude
+leuchtete aus seinen Augen. Vor ihm stand Iljuscha,
+festlich angezogen – in einem rotgestickten russischen
+Kittelchen – und war mit seinem Lockenkopf reizend
+wie ein kleiner Engel anzusehen. Ssaschenjka und
+Nastenjka hatten ihm heimlich ein Gedicht beigebracht,
+damit er den Vater an diesem Tage durch seine Fortschritte
+erfreue. Mein Onkel war vor lauter Freude
+fast den Tränen nahe: die unerwartete Sanftmut Fomas,
+die freundliche Stimmung seiner Mutter, dazu
+Iljuschas Namenstag, und dazu das Gedicht – kurz,
+alles zusammen wirkte geradezu begeisternd auf ihn,
+und er hatte feierlich Misintschikoff gebeten, mich zu
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+rufen, damit auch ich schneller des allgemeinen Glücks
+teilhaftig würde und das Gedicht mit anhören könne.
+</p>
+
+<p>
+Ssaschenjka und Nastenjka, die kurz vor uns eingetreten
+waren, standen nicht weit von Iljuscha. Ssaschenjka
+brach immer wieder in helles Lachen aus und
+war in diesem Augenblick glücklich wie ein Kind.
+Nastenjka mußte beim Anblick meines fröhlichen Kusinchens
+gleichfalls lächeln, doch eingetreten war sie
+bleich und ernst. Sie allein hatte Tatjana Iwanowna
+empfangen und getröstet und war die ganze Zeit bei
+ihr gewesen. Der kleine Schlingel Iljuscha konnte
+auch nicht ernst bleiben, wenn er seine Lehrerinnen ansah.
+Wie es schien, hatten die drei einen Scherz vorbereitet,
+der sehr zum Lachen anregte ...
+</p>
+
+<p>
+Herrn Bachtschejeff habe ich noch vergessen. Er
+saß etwas abseits auf einem kleinen Stuhl, war
+immer noch wütend und rot, schwieg, maulte, schnaubte
+sich und spielte überhaupt eine recht finstere Rolle auf
+dem Familienfest. Neben ihm scharwenzelte Jeshowikin
+umher, übrigens nicht nur bei ihm allein, sondern so
+ziemlich überall: bald küßte er der Generalin die Hand,
+bald der fremden Gutsbesitzerin, bald flüsterte er
+Fräulein Perepelizyna etwas ins Ohr, oder er machte
+Foma Fomitsch den Hof. Er erwartete gleichfalls mit
+großem Mitgefühl Iljuschas Vortrag. Bei meinem
+Eintritt erschien er mit seinen üblichen Bücklingen sofort
+an meiner Seite, um mir seine große Hochachtung
+und Ergebenheit zu bezeugen. Es war ihm durchaus
+nicht anzusehen, daß er hergekommen war, um seine
+Tochter zu verteidigen und sie wieder zu sich nach Haus
+zu bringen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+„Da ist er!“ rief mein Onkel freudig aus, als er
+mich erblickte. „Freund, Iljuscha hat ein Gedicht auswendig
+gelernt – auswendig – das ist doch eine
+Überraschung – nicht? Ich fiel aus den Wolken! Ich
+ließ dich rufen, damit du es mit anhören kannst ...
+Also setz dich her! Hören wir zu! Aber, Foma, gesteh
+es nur, du hast sie sicherlich auf die Idee gebracht, um
+mir eine Freude zu bereiten? Ich wette meinen Kopf
+darauf!“
+</p>
+
+<p>
+Wenn mein Onkel in Fomas Gemach in diesem
+Ton und mit einer solchen Stimme zu sprechen wagte,
+so hätte man glauben dürfen, daß alles sich in der
+größten Ordnung befände. Aber das war ja das Unglück,
+daß mein Onkel nichts aus einem Gesicht zu erraten
+verstand, wie Misintschikoff sich ausgedrückt hatte.
+Als ich jetzt Fomas Miene sah, mußte ich zugeben, daß
+allerdings etwas Besonderes bevorstand ...
+</p>
+
+<p>
+„Beunruhigen Sie sich nicht um mich,“ antwortete
+Foma mit schwacher Stimme – mit der Stimme eines
+Menschen, der seinen Feinden vergibt. „Die Überraschung
+lobe ich natürlich: sie spricht von der Anhänglichkeit
+und Wohlerzogenheit Ihrer Kinder. Gedichte
+sind gleichfalls nützlich, schon wegen der Aussprache,
+die sie bilden ... Doch ich war an diesem
+Morgen nicht mit Gedichten beschäftigt, Jegor Iljitsch:
+ich habe gebetet ... Sie wissen es ... Aber ich bin
+schließlich bereit, auch Gedichte anzuhören.“
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen hatte ich Iljuscha gratuliert und auf
+beide Bäckchen geküßt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, Foma, verzeih! Ich hatte es vergessen
+... wenn ich auch von deiner Freundschaft überzeugt
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+bin, Foma!“ fügte er unvermittelt hinzu. „Küß ihn
+noch einmal, Ssergei! Sieh mal, was für ein Bengel!
+Nun, fang an, Iljuscha! Wovon handelt es denn?
+Wohl eine feierliche Ode ... von Lomonossoff gar?
+Hm?“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel nahm eine wichtige Miene an. Er
+konnte dabei kaum ruhig bleiben vor Freude und Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Papachen, nicht von Lomonossoff,“ mischte
+sich Ssaschenjka ein, die nur mit Mühe ihr Lachen
+unterdrückte, „da Sie Soldat waren und sogar im
+Kriege gewesen sind, so hat Iljuscha etwas Kriegerisches
+gelernt ... ‚Die Belagerung von Pamba‘ heißt es,
+Papachen.“
+</p>
+
+<p>
+„‚Die Belagerung von Pamba‘? ah! Entsinne mich
+bloß nicht ... Was ist das für ein Pamba, weißt du
+es nicht, Ssergei? ... Sicherlich etwas Historisches.“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel setzte von neuem eine wichtige
+Miene auf.
+</p>
+
+<p>
+„Fang an, Iljuscha!“ kommandierte Ssaschenjka.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Seit neun Jahren liegt Don Pedro“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+begann Iljuscha mit seinem kleinen, hellen, gleichmäßigen
+Stimmchen, ohne Kommata und Punkte zu
+beachten, wie kleine Kinder gewöhnlich auswendig gelernte
+Gedichte aufsagen –
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Vor der stolzen Festung Pamba;</p>
+ <p class="verse">Seit neun Jahren hat er selber,</p>
+ <p class="verse">Ganz wie alle seine Krieger,</p>
+ <p class="verse">Nie was anderes genossen</p>
+ <p class="verse">Als nur reine Kuhmilch.</p>
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+ <p class="verse">Denn es haben die neuntausend</p>
+ <p class="verse">Kämpfenden Kastilier</p>
+ <p class="verse">Hoch und heilig sich geschworen:</p>
+ <p class="verse">Bis zur Einnahme der Festung</p>
+ <p class="verse">Nichts als Kuhmilch zu genießen.“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Wie! Was? Was ist das für eine Milch!“ unterbrach
+ihn mein Onkel und sah mich verwundert an.
+</p>
+
+<p>
+„Weiter, Iljuscha!“ kommandierte wieder Ssaschenjka.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Täglich trauert Pedro Gomez,</p>
+ <p class="verse">Denn es schwinden seine Kräfte,</p>
+ <p class="verse">Und das zehnte Jahr bricht an.</p>
+ <p class="verse">Doch die Mauren triumphieren:</p>
+ <p class="verse">Denn vom stolzen Heer Don Pedros</p>
+ <p class="verse">Sind im ganzen ihm geblieben</p>
+ <p class="verse">Nicht mehr als nur neunzehn Mann.“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Aber das ist ja Unsinn!“ unterbrach hier mein
+Onkel wieder. „Das ist ja doch unmöglich! Neunzehn
+Mann bleiben von einem Heer übrig, das zu Anfang
+der Belagerung so groß und mächtig gewesen
+ist! Was soll denn das heißen?“
+</p>
+
+<p>
+Hier aber konnte Ssaschenjka ihr Lachen nicht mehr
+zurückhalten: sie lachte schallend auf, wie nur Kinder
+lachen können. Und wenn auch gerade kein besonderer
+Grund zum Lachen vorhanden war, so war es doch unmöglich,
+bei ihrem Anblick ernst zu bleiben.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Papachen, das ist doch nur ein Scherzgedicht!“
+rief sie aus, königlich erfreut über ihren Einfall. „Das
+ist doch mit Absicht so gemacht, vom Verfasser, damit
+es um so spaßiger ist, Papachen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+„Ah so! Ein Scherzgedicht also!“ Meines Onkels
+Gesicht hellte sich auf. „Das heißt, ein satirisches! ...
+Deshalb, ich höre ... Eben, eben, ein Scherzgedicht,
+wie du sagst! Und es ist ja auch zum Lachen: Mit
+Milch will er ein ganzes Heer ernähren! – nach irgend
+so einem Gelübde! Als ob das zu geloben gerade nötig
+gewesen wäre! Sehr geistreich – nicht wahr, Foma?
+Sehen Sie, Mama, das ist so ein Scherzgedicht, wie
+es die Dichter zuweilen schreiben – nicht wahr, Ssergei,
+Sie schreiben doch mitunter auch so etwas? Vorzüglich!
+Nun, Iljuscha, wie geht es weiter?“
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Nicht mehr als nur neunzehn Mann!</p>
+ <p class="verse">Sie nun rief Don Pedro zu sich.</p>
+ <p class="verse">Und er sprach hierauf wie folgt:</p>
+ <p class="verse">‚Freunde!‘ sagt er, ‚laßt uns heute</p>
+ <p class="verse">Unsre Fahnen hoch erheben,</p>
+ <p class="verse">In die Felddrommete stoßen</p>
+ <p class="verse">Und von Pamba uns zurückzieh’n.</p>
+ <p class="verse">Wenn wir diese stolze Festung</p>
+ <p class="verse">Auch nicht eingenommen haben –</p>
+ <p class="verse">Können wir doch allenthalben</p>
+ <p class="verse">Dreist auf Ehre und Gewissen</p>
+ <p class="verse">Jedem schwören, daß wir niemals</p>
+ <p class="verse">Das Gelübde übertreten,</p>
+ <p class="verse">Wie wir’s einst geschworen haben:</p>
+ <p class="verse">Nichts zu trinken als nur Milch!‘“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Dieser Dummkopf! Womit er sich tröstet!“ unterbrach
+ihn wieder mein Onkel. „Daß er neun Jahre
+nichts als Milch genossen hat! ... Was ist denn das
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+für eine besondere Tugend? Hätt’ er doch lieber täglich
+einen ganzen Ochsen gegessen und seine Leute nicht umkommen
+lassen! Aber das Gedicht – vorzüglich, ganz
+vorzüglich ist das Gedicht! Ich sehe jetzt: das ist so
+eine Satire oder ... wie nennt man das doch – eine
+Allegorie, nicht wahr? Und vielleicht sogar auf irgendeinen
+ausländischen General gemünzt – Wie?“ fragte
+mein Onkel plötzlich, erhob bedeutsam die Brauen und
+blinzelte mir zu – „was? Was meinst du dazu?
+Aber nur, versteht sich, eine ganz unschuldige Satire,
+ohne Spitze, so daß sie keinen verletzen kann. Vorzüglich,
+ganz vorzüglich! Und – die Hauptsache –
+belehrend! Nun, Iljuscha, fahre fort! Ach ihr unartigen
+Mädel!“ fügte er hinzu, mit dem Finger
+drohend, und sah dabei lächelnd Ssaschenjka an, während
+er Nastenjka nur verstohlen mit einem flüchtigen
+Blick zu streifen wagte – was jedoch genügte, sie erröten
+zu machen. Sie lächelte gleichfalls.
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Neue Kraft gab diese Rede</p>
+ <p class="verse">Seinen neunzehn tapfren Kriegern,</p>
+ <p class="verse">Die, in ihren Sätteln wankend,</p>
+ <p class="verse">Mit erschöpfter Stimme riefen:</p>
+ <p class="verse">‚Sancto Jago Compostello!</p>
+ <p class="verse">Ehr’ und Ruhm Don Pedro Gomez,</p>
+ <p class="verse">Unsrem Löwen von Kastilien!‘</p>
+ <p class="verse">Sein Kaplan jedoch, Diego,</p>
+ <p class="verse">Brummte unwirsch vor sich hin:</p>
+ <p class="verse">‚Wäre ich der Feldherr hier,</p>
+ <p class="verse">Hätt’ ich nur noch Fleisch zu essen</p>
+ <p class="verse">Und nur edlen Wein zu trinken</p>
+ <p class="verse">Als Gelübde abgelegt!‘“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+„Da hört ihr’s! Sagt’ ich nicht dasselbe?“ rief
+mein Onkel höchst erfreut dazwischen. „In dem ganzen
+Heer gibt es nur einen einzigen vernünftigen Menschen,
+und sogar der ist noch weiß Gott was für ein –
+Kaplan! Was ist das eigentlich, ein Kaplan, Ssergei?
+Ein Hauptmann?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Mönch, Onkel, ein Geistlicher.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ja ja, richtig! Kaplan, Kapellan? Ich weiß
+schon, jetzt entsinne ich mich! Habe es schon in einem
+Roman gelesen, im Radcliff war’s, glaube ich. Dort
+im Auslande gibt es doch verschiedene Orden ...
+wart mal – Benediktiner heißen auch welche ...
+Nicht wahr, es gibt noch immer solch einen Orden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! ... Das meinte ich eben auch. Nun, Iljuscha,
+wie geht es weiter? Vorzüglich, ganz vorzüglich!“
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">„Da sprach hell mit lautem Lachen</p>
+ <p class="verse">Pedro Gomez zu den neunzehn:</p>
+ <p class="verse">‚Gebt ihm schnell doch einen Ochsen!</p>
+ <p class="verse">Denn, fürwahr, der Mann hat recht!‘“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Das war wohl die richtige Zeit zum Lachen!?
+Ist das aber ein Dummkopf! Zu guter Letzt ist es also
+auch ihm lächerlich vorgekommen, was er sich da selbst
+zusammengelübdet hat! Außerdem: Ochsen hat es doch
+gegeben – weshalb hat er denn da seine Soldaten
+nicht Rindfleisch essen lassen? und selbst auch welches
+gegessen? Nun, Iljuscha, weiter! Es ist wirklich ganz
+vorzüglich! Ungemein geistreich!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+„Aber es ist ja schon zu Ende, Papachen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach? Schon zu Ende? Ja, in der Tat, was blieb
+ihm denn auch anderes übrig – nicht wahr, Ssergei?
+Vortrefflich, Iljuscha! ganz wundervoll hast du es vorgetragen!
+Küsse mich, mein Liebling! Ach, du, mein
+kleiner Junge! Aber wer hat es ihm denn beigebracht:
+du, Ssaschenjka?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das hat Nastenjka getan. Vor einigen
+Tagen lasen wir beide das Gedicht. Sie las es und
+sagte: ‚Was für ein komisches Gedicht! Bald ist Iljuschas
+Namenstag – wollen wir es ihn lernen lassen,
+dann kann er es vortragen. Es paßt wie geschaffen!‘“
+</p>
+
+<p>
+„Dann also Nastenjka? Ich danke, herzlichen
+Dank!“ brachte mein Onkel nicht gerade sehr sicher
+hervor, während er zugleich wie ein Kind über und
+über errötete. „Küß mich noch einmal, Iljuscha! Küß
+auch du mich, Unart du!“ sagte er scherzend zu Ssaschenjka,
+indem er sie zu sich zog und ihr zärtlich in die
+Augen sah.
+</p>
+
+<p>
+„Wart nur, Ssaschurka, auch du wirst bald deinen
+Namenstag feiern!“ fügte er hinzu, als wüßte er nicht,
+was er vor lauter Freude sagen sollte.
+</p>
+
+<p>
+Ich wandte mich an Nastenjka und fragte sie, von
+wem das Gedicht sei.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, richtig, wer hat es denn gedichtet?“ fragte
+sogleich auch mein Onkel. „Es muß sicherlich ein
+kluger Dichter gewesen sein – was meinst du,
+Foma?“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“ brummte Foma vor sich hin.
+</p>
+
+<p>
+Während des ganzen Vortrags war ein beißend
+spöttisches Lächeln nicht von seinen Lippen gewichen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+„Ich ... habe es im Augenblick vergessen,“ antwortete
+Nastenjka mit scheuem Blick auf Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Das hat Kusjma Prutkoff gedichtet, Papachen,
+und im ‚Zeitgenossen‘ ist es erschienen,“ sagte Ssaschenjka
+eifrig.
+</p>
+
+<p>
+„Kusjma Prutkoff? Kenne ich nicht,“ sagte mein
+Onkel. „Nur Puschkin, den kenne ich! ... Doch man
+sieht sofort, das es ein talentvoller Dichter ist. Habe
+ich nicht recht, Ssergei? Und außerdem ein Mensch
+mit wirklich edlen Eigenschaften – das ist klar! Vielleicht
+ist er sogar ein Offizier ... Ja, das lobe ich
+mir! Wirklich ein gutes Blatt, der ‚Zeitgenosse‘! Wir
+müssen unbedingt darauf abonnieren, wenn solche
+Dichter in ihm schreiben ... Ich liebe die Dichter!
+Prächtige Jungen! Alles sagen sie in Versen! Weißt
+du noch, Ssergei, ich habe ja bei dir in Petersburg
+auch einen Literaten kennen gelernt. Er hatte noch
+so eine ganz besondere Nase ... in der Tat! ...
+Was sagtest du, Foma?“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch, dessen Ärger inzwischen bedeutend
+gewachsen war, kicherte vor sich hin. Dieses Kichern
+war eine nur ihm eigentümliche Art zu lachen.
+</p>
+
+<p>
+„Nichts, ich lache nur so ... es hat nichts auf
+sich ...“ sagte er mit einer Miene, als unterdrücke er
+nur mit Mühe ein ganz gewaltiges Lachen. „Fahren
+Sie fort, Jegor Iljitsch, fahren Sie nur fort! Ich
+werde später mein Wort sagen ... Auch Stepan
+Alexejewitsch hört Sie mit großem Interesse von Ihren
+Petersburger Literatenbekanntschaften erzählen ...“
+</p>
+
+<p>
+Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff, der die ganze
+Zeit etwas weiter ab in Gedanken verloren auf einem
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+Stuhl gesessen hatte, wurde plötzlich rot, erhob den
+Kopf und sagte ziemlich scharf mit halber Wendung
+zu Foma:
+</p>
+
+<p>
+„Du, Foma, fang gefälligst nicht wieder an, sondern
+laß mich in Ruh!“ Seine kleinen, sogleich rot
+anlaufenden Augen sahen den Gegner zornig an. „Was
+schiert mich deine Literatur? Wenn Gott mir nur Gesundheit
+gibt,“ brummte er halblaut, „das übrige kann
+mir ... Und diese Schriftsteller ... lauter Voltairianer
+und nichts weiter!“
+</p>
+
+<p>
+„Die Schriftsteller – lauter Voltairianer?“ fragte
+Jeshowikin, der im Augenblick neben Bachtschejeff auftauchte.
+„Da haben Sie die reinste Wahrheit gesagt.
+Genau so hat sich kürzlich auch Valentin Ignatjitsch
+auszudrücken geruht, und zwar hat er mich selbst einen
+Voltairianer genannt – bei Gott! Ich aber habe doch
+bekanntlich nichts geschrieben. Man redet bloß manchmal
+so ein wenig literarischer. Aber auch daran soll
+nun wieder Voltaire schuld sein. So ist es immer
+bei uns!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, so doch nicht!“ meinte mein Onkel gewichtig,
+„das ist doch wohl ein Irrtum! Voltaire war
+nur ein mokanter Schriftsteller, er machte sich über die
+Vorurteile lustig. Ein ‚Voltairianer‘ aber ist er selber
+nie gewesen! Seine Feinde haben ihn verleumdet. Aber
+weshalb hacken sie jetzt immer so auf den Armen los?
+Das begreife ich wirklich nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Wieder ertönte das häßliche Kichern Foma Fomitschs.
+Mein Onkel blickte sofort beunruhigt zu ihm
+hinüber und wurde augenscheinlich verlegen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, sieh, Foma, ich rede ja nur von unseren
+<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
+Zeitschriften,“ sagte er verwirrt, um das Gesagte
+wieder gutzumachen. „Du hattest vollkommen recht,
+Foma, als du sagtest, daß wir das Blatt halten müßten.
+Ich bin jetzt auch der Meinung, daß wir es müssen!
+... Denn ... warum auch nicht, es verbreitet doch
+Aufklärung! Und schließlich, was wäre man sonst für
+ein Sohn des Vaterlandes, wenn man eine solche Zeitschrift
+nicht hält? Habe ich nicht recht, Ssergei? Hm!
+... Ja! ... Da haben wir nun diesen ‚Zeitgenossen‘
+... Aber weißt du, Ssergei, die größten Wissenschaften
+sind meiner Meinung nach doch in der dicken Revue –
+wie heißt sie doch gleich? Im gelben Umschlag ...“
+</p>
+
+<p>
+„‚Vaterländische Aufzeichnungen‘, Papachen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, richtig – ‚Vaterländische Aufzeichnungen‘ –
+ein vorzüglicher Titel – nicht wahr, Ssergei? Das
+ganze Vaterland sitzt sozusagen und zeichnet auf ...
+Und dabei verfolgen sie ein edles Ziel! Ein äußerst
+nützliches Blatt! Und wie dick! Geh mal, versuch du,
+eine solche Diligence herauszugeben! Und Wissenschaften,
+sag’ ich dir, daß einem fast die Augen übergehn!
+... Vor ein paar Tagen ging ich dort durch
+das Zimmer, sehe – das Heft liegt auf dem Tisch ...
+nahm es aus Neugier in die Hand, schlug es auf und
+las in einem Strich ganze drei Seiten. Glaub mir,
+Freund, ich vergaß den Mund zu schließen! Weißt
+du, es gibt dort über alles Abhandlungen, so zum Beispiel,
+was bedeutet das Wort Besen, Spaten, Kochlöffel,
+Henkel? Ich glaubte, ein Besen sei nichts als
+ein Besen, ein Henkel eben ein Henkel. Aber nein,
+Freund, wart! Ein Besen ist nach der Wissenschaft
+nicht nur ein Besen, sondern ein Sinnbild, ein Emblem,
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+oder gar etwas aus der Mythologie, ich weiß
+nicht mehr, was er da eigentlich war; aber jedenfalls
+kam schließlich etwas Ähnliches heraus ... Ja, sieh
+mal, so verhält es sich, Freund! Man kommt eben
+hinter alles!“
+</p>
+
+<p>
+Ich weiß nicht, was Foma nach diesem neuen Erguß
+meines Onkels zu tun oder zu sagen beabsichtigte;
+denn das Gespräch wurde durch Gawrila unterbrochen,
+der plötzlich eintrat und mit gesenktem Haupt auf der
+Schwelle stehenblieb.
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch blickte ihn bedeutsam an.
+</p>
+
+<p>
+„Ist alles bereit, Gawrila?“ fragte er mit
+schwacher, jedoch entschlossener Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Alles ist bereit,“ antwortete Gawrila traurig und
+seufzte.
+</p>
+
+<p>
+„Und auch mein Reisebündel hast du im Wagen
+untergebracht?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dann bin auch ich bereit!“ sagte Foma und
+begann, sich langsam zu erheben. Mein Onkel blickte
+ihn verwundert an. Die Generalin erhob sich plötzlich
+gleichfalls und blickte sich unruhig im Kreise um.
+</p>
+
+<p>
+„Erlauben Sie mir jetzt, Oberst,“ hub Foma würdevoll
+an, „Sie zu bitten, das interessante Gespräch über
+die literarischen Besen für eine kurze Zeit zu unterbrechen.
+Sie können es ohne mich fortsetzen. Ich aber
+will, <em>indem ich mich auf ewig von Ihnen
+verabschiede</em>, gerade Ihnen noch ein paar letzte
+Worte sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+Schreck und Verwunderung lähmten alle Anwesenden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
+„Foma! ... Foma! Was fällt dir ein? Wohin
+willst du?“ rief endlich mein Onkel aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will Ihr Haus verlassen, Oberst,“ fuhr Foma
+mit der ruhigsten Stimme fort. „Ich habe beschlossen,
+zu gehen, wohin der Weg mich führt, und deshalb habe
+ich mir für mein Geld einen einfachen, ganz gewöhnlichen
+Bauernwagen gemietet. In ihm liegt bereits
+mein Reisebündel. Es ist nicht groß: ein paar Bücher,
+die mir lieb sind, Wäsche, um zu wechseln: das ist alles!
+Ich bin arm, Jegor Iljitsch, werde aber um keinen
+Preis Ihr Geld annehmen, das ich ja auch gestern schon
+verschmäht habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber um Gottes willen, Foma! Was bedeutet
+das?“ rief mein Onkel bestürzt aus, bleich wie ein Tuch.
+</p>
+
+<p>
+Die Generalin stieß einen Schrei aus und streckte
+mit verzweifeltem Blick Foma Fomitsch beide Hände
+entgegen. Fräulein Perepelizyna stürzte zu ihr, um sie
+nötigenfalls aufzufangen. Die übrigen Schmarotzerinnen
+erstarrten auf ihren Plätzen. Nur Herr Bachtschejeff
+erhob sich schwerfällig.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt geht es los!“ raunte mir Misintschikoff zu,
+der neben mir stand.
+</p>
+
+<p>
+Und im selben Augenblick hörte man fern den ersten
+Donner grollen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-19">
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+<span class="firstline">XVI.</span><br>
+Die Vertreibung.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>S</span><span class="postfirstchar">ie</span> fragten, glaube ich, was das zu bedeuten habe,
+Oberst?“ hub Foma feierlich an, indem er die allgemeine
+Bestürzung förmlich zu genießen schien. „Die
+Frage wundert mich! Erklären Sie mir doch Ihrerseits,
+wie <em>Sie</em> es fertigbringen, mir jetzt noch offen
+in die Augen zu sehen? Erklären Sie mir dieses größte
+Beispiel menschlicher Unverschämtheit, und ich werde
+von dannen ziehen, wenigstens um eine neue Erkenntnis
+der Verderbtheit des Menschengeschlechts bereichert.“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel war nicht fähig zu einer Antwort. Erschrocken
+und ratlos, wie er war, blickte er nur starr
+Foma Fomitsch an.
+</p>
+
+<p>
+„Jesus Christ! Welche Leidenschaften!“ stöhnte
+Fräulein Perepelizyna.
+</p>
+
+<p>
+„Begreifen Sie denn nicht, Oberst,“ fuhr Foma
+fort, „daß Sie mich jetzt einwandlos und ohne Fragen
+meines Weges ziehen lassen <em>müssen</em>? In Ihrem
+Hause muß selbst ich, der ich doch ein denkender Mensch
+und schon in reifen Jahren bin, ernstlich für meine
+Sittlichkeit fürchten und auf der Hut sein. Glauben
+Sie mir, daß Ihre Fragen zu nichts anderem führen
+würden, als nur zur Aufdeckung Ihrer Schmach ...“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Aber Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel,
+auf dessen Stirn kalter Schweiß hervortrat.
+</p>
+
+<p>
+„So erlauben Sie mir denn, Ihnen ohne weitere
+Erklärungen zum Abschied nur noch einige Geleitworte
+zu sagen: meine letzten Worte in Ihrem Hause. Es
+ist geschehen, und das Geschehene kann man nicht mehr
+<a id="page-320" class="pagenum" title="320"></a>
+ungeschehen machen! Ich hoffe, Sie verstehen, was
+ich meine. Aber ich flehe Sie auf den Knien an: Wenn
+in Ihrem Herzen noch ein Funken von Sittlichkeit übriggeblieben
+ist, so zügeln Sie den Lauf Ihrer Leidenschaften!
+Und wenn das Gift der Verwesung noch
+nicht das ganze Gebäude Ihrer Seele erfaßt hat, so
+löschen Sie nach Möglichkeit die Feuersbrunst!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Glaube mir, du bist im Irrtum!“ rief mein
+Onkel aus, der allmählich zur Besinnung kam und mit
+Entsetzen begriff, worauf es hinauslief.
+</p>
+
+<p>
+„Mäßigen Sie Ihre Leidenschaften,“ fuhr Foma
+mit derselben Feierlichkeit fort – als hätte er den
+Ausruf meines Onkels gar nicht gehört, „besiegen Sie
+sich! ‚Willst du die ganze Welt erobern – besiege dich
+selbst!‘ Das ist meine Lebensregel. Sie sind Gutsherr.
+Sie müßten wie ein Brillant in höchster Tugend
+strahlen, statt dessen – was für ein schmachvolles Beispiel
+der Zügellosigkeit geben Sie hier allen Ihren Gästen
+sowie allen Ihren Untergebenen! Ich habe ganze Nächte
+für Sie gebetet und um Sie gezittert, habe gerungen
+um Ihr Glück. Ich habe es nicht gefunden; denn
+Glück ist nur in der Tugend enthalten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist doch unmöglich, Foma!“ unterbrach
+ihn wieder mein Onkel, „du hast es falsch verstanden,
+du hast es ganz anders aufgefaßt! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und so vergessen Sie denn nicht, daß Sie Gutsherr
+sind,“ fuhr Foma, wieder ohne die Worte des
+anderen zu beachten, in seiner Rede fort. „Geben Sie
+sich nicht dem verderblichen Glauben hin, daß Nichtstun
+und seiner Wollust frönen die Bestimmung des
+Gutsherrenstandes seien. Dieser Glaube bringt Sie
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+ins Verderben! Nicht das Nichtstun ist es, sondern
+die Verantwortung vor Gott, vor dem Zaren und dem
+Vaterlande! Arbeiten, arbeiten muß der Gutsherr, und
+zwar arbeiten wie der Letzte seiner Bauern!“
+</p>
+
+<p>
+„Was, ich soll also hinfort für meine Leibeigenen
+arbeiten?“ brummte Herr Bachtschejeff, „ich bin doch
+<em>auch</em> Gutsbesitzer ...“
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt wende ich mich an euch, Dienstboten,“ fuhr
+Foma fort, sich an Gawrila und Falalei, der in der
+Tür erschien, wendend. „Liebet eure Herrschaft und
+erfüllet deren Gebote in Ehrfurcht und Bescheidenheit.
+Dafür werdet ihr von euren Herren wiedergeliebet
+werden. Sie aber, Oberst, seien Sie gerecht und barmherzig
+zu ihnen. Der Dienstbote ist derselbe Mensch –
+das Ebenbild Gottes, wie es in der Heiligen Schrift
+geschrieben steht, der minderjährig vom Zaren und vom
+Vaterlande Ihrer Obhut anvertraut ist. Groß ist die
+Pflicht, aber groß wird auch Ihr Verdienst sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch! Täubchen! Was hast du vor?“
+rief in ihrer Verzweiflung die Generalin aus, bereit,
+jeden Augenblick wieder in Ohnmacht zu fallen.
+</p>
+
+<p>
+„Doch ... das dürfte genügen, denke ich?“ schloß
+Foma, der Generalin weiter gar keine Beachtung
+schenkend. „Jetzt noch einige Einzelheiten, die freilich
+nur geringfügig, aber doch notwendig sind, Jegor
+Iljitsch. Auf der Waldwiese bei Harinskoje ist Ihr
+Heu noch nicht gemäht. Lassen Sie es nicht zu spät
+werden, Oberst, lassen Sie es mähen, möglichst bald
+mähen. Dies wäre mein Rat ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie hatten die Absicht, ich weiß es, einen Teil des
+<a id="page-322" class="pagenum" title="322"></a>
+Syrjänower Waldes fällen zu lassen: lassen Sie ihn
+nicht fällen – dies wäre mein zweiter Rat. Erhalten
+Sie Ihre Wälder; denn die Wälder erhalten die Feuchtigkeit
+auf der Erdoberfläche ... Schade, daß Sie so
+spät das Sommerkorn gesät haben, – wirklich erstaunlich,
+wie spät Sie es gesät haben! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Doch genug! Alles kann man ja doch nicht sagen,
+und es ist auch nicht die Zeit dazu! Ich werde Sie
+schriftlich vom Nötigen unterrichten ... ich werde
+Ihnen ein ganzes Heft schicken. Jetzt aber – leben
+Sie wohl! Lebt alle wohl! Gott sei mit euch, mag der
+Herr euch segnen! Ich segne auch dich, mein Kind,“
+sagte er zu Iljuscha, „der Herr beschütze dich vor dem
+Verwesungsgifte deiner zukünftigen Leidenschaften!
+Auch dich, Falalei, segne ich. Vergiß die Kamarinskaja!
+Und euch, euch alle! ... Denkt an Foma! ...
+Aber gehen wir, Gawrila! Hilf mir in den Wagen,
+guter Alter!“
+</p>
+
+<p>
+Und Foma schritt langsam zur Tür. Die Generalin
+schrie auf und stürzte ihm nach.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Foma! So lasse ich dich nicht fort!“ rief
+mein Onkel aus, holte ihn mit drei Schritten ein und
+erfaßte seine Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Heißt das, daß Sie Gewalt anwenden wollen?“
+fragte Foma hochmütig.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Foma ... auch Gewalt, wenn es darauf ankommt.“
+Mein Onkel zitterte vor Erregung. „Du
+hast zuviel gesagt, du mußt deine Worte erklären! Du
+hast meinen Brief falsch verstanden, Foma! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ihren Brief!“ kreischte Foma plötzlich wie rasend,
+<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
+im Augenblick lichterloh, als hätte er nur auf dieses
+Wort gewartet, um zu explodieren. „Ihren Brief!
+Hier ist er, Ihr Brief! Hier ist er! Ich zerreiße diesen
+Brief, ich speie ihn an! Ich zerstampfe Ihren Brief
+mit meinen Füßen und erfülle damit die heiligste Pflicht
+der Menschheit! Sehen Sie, was ich tue, wenn Sie
+mich mit Gewalt zu Erklärungen zwingen! Sehen Sie!
+Sehen Sie! Sehen Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+Und die Papierfetzen flogen auf den Fußboden.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wiederhole es, Foma, du hast ihn falsch verstanden!“
+beteuerte mein Onkel, der immer bleicher
+wurde, „ich halte um ihre Hand an, Foma, ich suche
+mein Glück ...“
+</p>
+
+<p>
+„Um ihre Hand! Sie haben dieses Mädchen verführt,
+und jetzt wollen Sie mich mit einem Heiratsantrag
+betrügen; denn ich habe Sie gestern nacht mit
+ihr im Garten unter den Büschen gesehen!“
+</p>
+
+<p>
+Die Generalin stieß einen Schrei aus und sank
+kraftlos auf ihren Lehnstuhl. Ihre ganze Suite verlor
+den Kopf. Die arme Nastenjka saß bleich wie eine
+Tote und rührte sich nicht. Ssaschenjka umklammerte
+vor Schreck Iljuscha und zitterte am ganzen
+Körper.
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ rief mein Onkel außer sich. „Wenn du
+dieses Geheimnis verrätst, so tust du die schändlichste
+Tat der Welt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich will dieses Geheimnis verraten,“ kreischte
+Foma, „und damit die edelste aller Taten vollbringen!
+Dazu bin ich von Gott selbst gesandt, um die ganze
+Welt in ihrem Schmutz zu entlarven! Ich bin bereit,
+auf eines armen Bauern elendes Strohdach zu steigen
+<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
+und von dort aus allen Gutsbesitzern in der Runde
+und jedem Vorüberfahrenden die Kunde von Ihrer
+Schandtat zuzuschreien! ... Ja, hört es alle, wißt,
+daß ich gestern, mitten in der Nacht ihn mit diesem
+Mädchen, das die Maske der Unschuld zur Schau
+trägt, im Garten unter dichtem Gebüsch überrascht
+habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Jesus, welche Schande!“ kam es fast zischend
+über die schmalen Lippen der Perepelizyna.
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Setz nicht dein Leben aufs Spiel!“ schrie
+ihm mein Onkel mit blitzenden Augen zu und ballte die
+Fäuste.
+</p>
+
+<p>
+„... Er aber,“ kreischte Foma, „er aber hat es
+gewagt, – nach dem ersten Schreck darüber, daß ich
+ihn sah – hat es gewagt, mich mit einem Brief betrügen
+und bestechen zu wollen, mich, mich, den Ehrlichen,
+Ehrenhaften und Offenherzigen, um mich zu
+überzeugen, daß er kein Verbrechen begangen habe –
+ja, Verbrechen, sage ich! ... denn aus dem bis jetzt
+unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Noch ein einziges Wort, das sie beleidigt, – und
+ich schlage dich tot, Foma, das schwöre ich dir!! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und ich spreche dieses Wort aus; denn aus dem
+bis jetzt unschuldigsten Mädchen der Welt haben Sie
+<em>eines der verderbtesten gemacht</em>!“
+</p>
+
+<p>
+Kaum jedoch war das letzte Wort über Fomas
+Lippen gekommen, als mein Onkel ihn auch schon gepackt
+hatte, ihn wie einen Strohhalm zusammenknickte
+und gegen die Glastür schleuderte, die auf den Hof
+führte. Der Anprall war so stark, daß die Tür krachend
+aufflog und Foma wie ein Brummkreisel über die sieben
+<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
+Stufen der steinernen Treppe kollerte und sich unten
+in seiner ganzen Länge auf dem Hof ausstreckte.
+Klirrend flogen die Glasscherben der zerschlagenen
+Scheiben auf die weißen Steine der Treppe.
+</p>
+
+<p>
+„Gawrila, heb ihn auf!“ schrie mein Onkel totenbleich
+dem Diener zu, „setz ihn in den Wagen! und
+daß mir nach zwei Minuten sein Fuß nicht mehr in
+Stepantschikowo ist!“
+</p>
+
+<p>
+Was Foma Fomitsch nun auch beabsichtigt haben
+mochte – diese Lösung wird er in seiner Berechnung
+jedenfalls nicht vorausgesehen haben.
+</p>
+
+<p>
+Ich will es lieber gar nicht versuchen, die ersten
+hierauf folgenden Minuten zu schildern: Das kreischende
+Geschrei der Generalin, die sich in ihrem Lehnstuhl
+wand; den Starrkrampf der Perepelizyna infolge der
+unerwarteten Handlungsweise meines sonst stets so
+sanften und gehorsamen Onkels; das Ach und Weh
+der übrigen „Freundinnen“; die vor Schreck fast ohnmächtige
+Nastenjka, neben der Jeshowikin, ihr Vater,
+auftauchte; die vor Angst zähneklappernde Ssaschenjka;
+meinen Onkel, der in unbeschreiblicher Erregung im
+Zimmer auf und ab ging und wartete, bis die Mutter
+wieder zu sich käme; schließlich das laute Geheul Falaleis,
+der seine Herrschaft beklagte und bejammerte
+– alles das stellte ein lebendes Bild dar, wie man es
+mit Worten nicht zu beschreiben vermag. Hierzu
+denke man sich noch, daß sich gerade jetzt, im selben
+Augenblick, ein starkes Gewitter entlud. Die Donnerschläge
+wurden immer lauter und unheimlicher, und
+plötzlich peitschte der Regen in Strömen an die Fensterscheiben.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
+„Da habt ihr jetzt ’nen Feiertag!“ brummte Herr
+Bachtschejeff grollend, senkte den Kopf und schlug sich
+auf den Schenkel.
+</p>
+
+<p>
+„Die Sache ist gefährlich!“ flüsterte ich ihm zu –
+gleichfalls zitternd vor Aufregung. „Aber wenigstens
+ist Foma hinausgeworfen und wird wohl nicht mehr
+zurückgebracht werden!“
+</p>
+
+<p>
+„Mama! Sind Sie zu sich gekommen? Fühlen
+Sie sich etwas besser? Könnten Sie mich jetzt anhören?“
+fragte mein Onkel, der vor seiner Mutter
+stehengeblieben war.
+</p>
+
+<p>
+Diese erhob den Kopf, faltete die Hände und blickte
+flehend zu ihrem Sohn empor, den sie in ihrem ganzen
+Leben noch nie in solchem Zorn gesehen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Mama!“ begann der Oberst, „das Maß ist voll
+– Sie haben es selbst gesehen. Nicht in dieser Weise
+wollte ich mein Vorhaben ausführen, aber die Stunde
+hat geschlagen, und jetzt duldet es keinen Aufschub. Sie
+haben die Verleumdung gehört, so hören Sie denn jetzt
+auch die Rechtfertigung. Mama, ich liebe dieses edle
+und ehrenwerte Mädchen, ich liebe sie schon lange und
+werde nie, niemals aufhören, sie zu lieben. Sie wird
+meine Kinder glücklich machen und wird Ihnen eine
+ehrerbietige Tochter sein, und deshalb spreche ich jetzt
+hier in Ihrer, meiner Verwandten und Freunde Gegenwart
+meine innige Bitte aus, Nastassja Jewgrafowna,
+mir die unendliche Ehre zu erweisen und einzuwilligen,
+meine Frau zu werden.“
+</p>
+
+<p>
+Nastenjka zuckte zusammen, errötete heiß und erhob
+sich erschrocken. Die Generalin starrte ihren Sohn
+eine Zeitlang an, als begreife sie nicht, wovon er sprach,
+<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
+und plötzlich stürzte sie mit einem gellenden Schrei vor
+ihm auf die Knie nieder.
+</p>
+
+<p>
+„Jegoruschka, du mein Täubchen, bring Foma Fomitsch
+zurück!“ schrie sie, „bring ihn sofort zurück!
+Ohne ihn sterbe ich noch vor dem Abend!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel erstarrte, als er seine alte Mutter,
+die stets launische und eigensinnige Frau, vor sich auf
+den Knien sah. Ein schmerzliches Gefühl spiegelte sich
+auf seinem Antlitz wider. Endlich besann er sich, beugte
+sich nieder, hob sie auf und setzte sie wieder in ihren
+Lehnstuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Bring Foma Fomitsch zurück, Jegoruschka!“ fuhr
+die Alte in ihrem Geheul fort, „bring ihn mir zurück,
+Täubchen! Ohne ihn kann ich nicht leben!“
+</p>
+
+<p>
+„Mama!“ rief mein Onkel bekümmert aus, „–
+dann haben Sie ja überhaupt nicht verstanden, was ich
+Ihnen gesagt habe? Ich kann Foma Fomitsch nicht
+zurückrufen – begreifen Sie das doch! Ich kann es
+nicht, und ich habe auch kein Recht dazu nach seiner
+niedrigen, schändlichen, schmutzigen Verleumdung dieses
+Mädchens, das mir heilig ist! Sehen Sie denn nicht
+ein, Mama, daß es meine Pflicht ist, daß meine Ehre
+es mir befiehlt, für ihren guten Ruf, für ihre Ehre
+einzustehen! Sie haben es doch gehört: ich halte um
+die Hand dieses Mädchens an und bitte Sie, wie ein
+Sohn seine Mutter bittet, unseren Bund zu segnen.“
+</p>
+
+<p>
+Doch die Generalin erhob sich, ehe er sich dessen
+versah, wieder von ihrem Platz und stürzte vor Nastenjka
+auf die Knie nieder.
+</p>
+
+<p>
+„Ich flehe dich an! Sei ein Engel!“ schrie die Alte
+in ihrer Verzweiflung, „heirate ihn nicht! Heirate ihn
+<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
+nicht, sondern bitte ihn, daß er Foma Fomitsch zurückbringt!
+Sei mein Täubchen, Nastassja Jewgrafowna!
+Ich gebe dir alles hin, ich opfere dir alles, wenn du
+ihn nicht heiratest! Ich habe noch nicht alles aufgezehrt,
+ich habe noch einen Sparpfennig von meinem
+Seligen. Alles ist dein, mein Engel, werde dich mit
+allem beschenken, und auch Jegoruschka wird dich beschenken,
+nur bringe mich nicht lebendig ins Grab; bitte
+ihn, daß er mir Foma Fomitsch zurückbringt! ...“
+</p>
+
+<p>
+Lange noch hätte die Alte geschrien und gefleht,
+wenn nicht alle ihre Busenfreundinnen, voran die Perepelizyna,
+mit Gekreisch und Klagegeschrei zu ihr gestürzt
+wären und sie mit vereinten Kräften emporgehoben
+hätten – empört darüber, daß sie vor der „Gouvernante“
+ihrer Enkelkinder auf den Knien lag. Nastenjka
+konnte sich kaum noch auf den Füßen halten vor Schreck.
+Die Perepelizyna aber weinte fast vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+„Töten wollen Sie Ihre Mutter!“ schrie sie meinen
+Onkel an, „umbringen wollen Sie sie! Sie aber,
+Nastassja Jewgrafowna, hätten nicht die Mutter mit
+ihrem leiblichen Sohne entzweien sollen! So etwas
+wird auch Gott der Herr nicht verzeihen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Anna Nilowna, nehmen Sie sich mit Ihrer Zunge
+in acht!“ rief ihr mein Onkel zornig zu. „Ich habe
+genug ertragen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und auch ich habe genug von Ihnen ertragen!
+Was werfen Sie mir meine Verwaistheit vor? Werden
+Sie mich noch lange – mich Waise – beleidigen?
+Ich bin doch nicht Ihre Sklavin! Ich bin selbst die
+Tochter eines Majors! Mein Fuß soll nicht mehr hier
+in diesem Hause weilen! ... Heute noch – ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
+Doch mein Onkel hörte sie nicht an: er trat zu
+Nastenjka und ergriff schüchtern ihre Hand.
+</p>
+
+<p>
+„Nastassja Jewgrafowna ... haben Sie gehört,
+um was ich Sie gebeten habe?“ fragte er langsam,
+während sein Blick kummervoll auf ihrem lieben Gesicht
+ruhte.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Jegor Iljitsch, nein! Lassen wir es lieber,“
+antwortete Nastenjka, die allen Mut verloren hatte.
+„Das ist es ja nicht,“ fuhr sie fort und preßte unbewußt
+wie im Krampf seine Hand, während Tränen
+ihr in die Augen traten. „Das sagen Sie jetzt, nach
+dem – Gestrigen ... Aber es kann ja nichts daraus
+werden, Sie sehen es doch selbst ... Wir haben uns
+getäuscht, Jegor Iljitsch ... Ich aber werde ewig an
+Sie als an meinen Wohltäter denken und ... und
+werde ewig, ewig für Sie beten! ...“
+</p>
+
+<p>
+Tränen erstickten ihre Stimme. Mein armer Onkel
+hatte offenbar keine andere Antwort erwartet; er verfiel
+nicht einmal darauf, etwas einzuwenden, sie zu
+bitten ... Er hörte, den Kopf zu ihr hinabgeneigt, ohne
+ihre Hand freizugeben, stumm und wie geschlagen an,
+was sie sagte. Seine Augen schimmerten feucht.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe Ihnen schon gestern gesagt,“ fuhr Nastenjka
+fort, „daß ich nicht Ihre Frau werden kann.
+Sie sehen doch: man will mich hier nicht ... und das
+habe ich schon lange vorausgefühlt. Ihre Mutter wird
+Ihnen nicht ihren Segen geben ... <em>andere</em> auch
+nicht. Und Sie selbst, wenn Sie es auch nicht bereuen
+werden – denn Sie sind der großmütigste Mensch –
+so würden Sie doch um meinetwillen unglücklich sein
+... bei Ihrem Charakter, bei Ihrer Güte ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
+„Ganz recht – <em>bei Ihrer Güte</em>! – bei Ihrem
+<em>Charakter</em>! Du hast recht, Nastenjka!“ griff ihr
+alter Vater auf, der an der anderen Seite neben ihrem
+Stuhl stand. „Gerade dieses eine Wort sagt
+alles.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will nicht Unfrieden in Ihr Haus bringen,“
+fuhr Nastenjka fort. „Um mich aber machen Sie sich
+keine Sorgen, Jegor Iljitsch: mich rührt niemand an,
+niemand wird mich beleidigen ... ich gehe zu meinem
+Vater ... heute noch ... Es ist besser, wir nehmen
+Abschied voneinander, Jegor Iljitsch ...“
+</p>
+
+<p>
+Tränen rollten ihr über die Wangen.
+</p>
+
+<p>
+„Nastassja Jewgrafowna, – ist das wirklich Ihr
+letztes Wort?“ fragte mein Onkel, Verzweiflung im
+Blick. „Sagen Sie nur ein Wort, nur ein Wort, und
+ich opfere Ihnen alles! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Es war das letzte, das letzte, Jegor Iljitsch,“ sagte
+Jeshowikin, „und sie hat es Ihnen so gut erklärt, wie
+ich es nicht einmal erwartet hätte. Sie sind der gütigste
+Mensch, Jegor Iljitsch, gerade der gütigste, und Sie
+haben uns eine große Ehre erwiesen! Große Ehre,
+große Ehre! ... Aber immerhin passen wir nicht zu
+Ihnen, Jegor Iljitsch. Sie müssen sich eine andere
+Braut aussuchen, eine, die sowohl reich, als vornehm
+und schön und auch mit einer lauten Stimme begabt
+ist, und die nur in Brillanten und Straußenfedern
+durch Ihre Säle rauscht ... Dann wird vielleicht auch
+Foma Fomitsch etwas nachgiebiger sein ... und den
+Ehebund segnen! Den Foma Fomitsch aber bringen
+Sie nur wieder zurück! Umsonst, ganz umsonst haben
+Sie ihn so beleidigt! Er hat ja nur aus Tugendeifer,
+<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
+aus übermäßiger Moralität so gesprochen ... Sie
+werden es selbst später zugeben, daß er es nur deshalb
+getan hat – Sie selbst werden es selbst sagen! Er
+ist der ehrwürdigste Mensch der Welt. Jetzt aber wird
+er in dem Regen ganz naß werden. Wäre es daher
+nicht besser, ihn sogleich zurückzurufen? ... denn einmal
+wird man es doch tun müssen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Bring ihn! Bring ihn zurück!“ schrie wieder die
+Generalin. „Täubchen, er sagt dir ja nur die Wahrheit
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl,“ fuhr Jeshowikin fort, „da sehen Sie,
+daß auch Ihre Frau Mutter sich tot zu ängstigen geruht
+– und zwar ganz umsonst ... Bringen Sie ihn
+nur zurück! Wir aber, Nastenjka und ich, wir werden
+uns mittlerweile aufmachen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wart, Jewgraf Larionytsch!“ unterbrach ihn
+mein Onkel, „ich bitte dich! Noch ein Wort, Jewgraf,
+nur ein Wort habe ich noch zu sagen!“
+</p>
+
+<p>
+Er ging mit schnellen Schritten in eine Ecke, setzte
+sich in einen Lehnstuhl, stützte den Kopf in die Hände,
+mit denen er seine Augen bedeckte, – es war, als wolle
+er für einen Augenblick seine Gedanken sammeln.
+</p>
+
+<p>
+Da ertönte ein ungeheuerlicher Donnerschlag fast
+gerade über dem Hause. Das ganze Gebäude erzitterte.
+Die Generalin schrie auf, die Perepelizyna gleichfalls,
+die „Freundinnen“, dumm geworden vor Angst, bekreuzten
+sich, was übrigens gleichzeitig mit ihnen auch
+Herr Bachtschejeff tat.
+</p>
+
+<p>
+„Heiliger Vater, steh uns bei!“ flüsterten fünf
+oder sechs Stimmen wie auf ein Kommando.
+</p>
+
+<p>
+Unmittelbar nach dem Donnerschlage folgte ein
+<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
+Platzregen, als wenn ein ganzer See auf Stepantschikowo
+herabstürzen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Und Foma Fomitsch, was wird jetzt mit ihm dort
+auf dem freien Felde?“ kreischte die Perepelizyna.
+</p>
+
+<p>
+„Jegoruschka, bring ihn zurück!“ schrie die Generalin
+mit Verzweiflung in der Stimme, und sie stürzte
+wie eine Wahnsinnige zur Tür. Doch sie wurde von
+ihrer Suite zurückgehalten: die ganze Weiberbande umringte
+sie, weinte, tröstete, kreischte und schrie. Sodom
+war einst sicherlich nichts dagegen!
+</p>
+
+<p>
+„Nur im leichten Rock ist er gegangen! Wenn er
+doch wenigstens sein Mäntelchen mitgenommen hätte!“
+jammerte die Perepelizyna. „Und einen Regenschirm
+hat er auch nicht! Der Blitz wird ihn erschlagen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt!“ stimmte Herr Bachtschejeff bei. „Und
+der Regen wird ihn dann auch noch durchnässen!“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie doch!“ flüsterte ich ihm ungehalten
+zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber ist er denn kein Mensch?“ fragte mich
+der Dicke aufgebracht. „Er ist doch kein Hund. Du
+würdest jetzt auch nicht hinausgehen. Oder geh, versuch’s
+doch, nimm ein Bad, bloß zum Vergnügen!“
+</p>
+
+<p>
+Da ich die drohende Gefahr erkannte, ging ich zu
+meinem Onkel, der wie erstarrt in seinem Lehnstuhl saß.
+</p>
+
+<p>
+„Onkel,“ sagte ich, mich zu seinem Ohr beugend,
+„werden Sie denn wirklich einwilligen, Foma Fomitsch
+zurückzurufen? Begreifen Sie denn nicht, daß es die
+größte Charakterlosigkeit wäre und eine Schändlichkeit
+von Ihrer Seite, wenigstens so lange wie Nastassja
+Jewgrafowna hier ist ...“
+</p>
+
+<p>
+„Freund,“ sagte mein Onkel, indem er den Kopf
+<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
+erhob und mir mit entschlossenem Blick in die Augen
+sah, „ich habe hier über mich selbst Gericht gehalten,
+und jetzt weiß ich, was ich tun muß. Beunruhige dich
+nicht, ihr soll keine Kränkung widerfahren – ich werde
+es so einrichten ...“
+</p>
+
+<p>
+Er erhob sich und trat zur Mutter.
+</p>
+
+<p>
+„Mama!“ sagte er, „beruhigen Sie sich: ich werde
+Foma Fomitsch zurückbringen, ich werde ihm nachfahren,
+ihn einholen; er kann noch nicht weit sein. Aber
+eines schwöre ich: nur unter der Bedingung wird er
+zurückkehren, daß er hier im Kreise aller Zeugen der
+Beleidigung seine Schuld eingesteht und dieses ehrenwerteste
+Mädchen feierlich um Verzeihung bittet. Das
+werde ich durchsetzen! Ich werde ihn dazu zwingen!
+Anderenfalls wird er nie die Schwelle meines Hauses
+überschreiten! Auch schwöre ich Ihnen feierlich,
+Mutter: wenn er es freiwillig tut, so bin ich bereit,
+ihn auch meinerseits um Entschuldigung zu bitten, und
+ich werde ihm alles hingeben, alles, was ich nur geben
+kann, ohne meine Kinder zu berauben! Ich selbst aber
+werde mich von allem zurückziehen. Der Stern meines
+Glückes ist untergegangen ... Ich verlasse Stepantschikowo.
+Dann könnt ihr hier alle ruhig und glücklich
+leben. Ich werde wieder in mein Regiment eintreten
+und auf dem Schlachtfelde, im Kaukasus oder in Asien
+mein Leben beschließen ... Doch wozu soviel Worte!
+Ich fahre!“
+</p>
+
+<p>
+Da tat sich die Tür auf, und Gawrila erschien,
+triefend und bis zur Unkenntlichkeit beschmutzt, vor der
+sprachlosen Versammlung.
+</p>
+
+<p>
+„Was fehlt dir? Woher kommst du? Wo ist Foma?“
+<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
+fragte erschrocken mein Onkel, der ihn als erster
+erblickte.
+</p>
+
+<p>
+Aller Augen wandten sich zur Tür, alle stürzten zu
+Gawrila und umringten mit geradezu gieriger Neugier
+den alten Diener, von dessen Kleidern das schmutzige
+Wasser buchstäblich in Strömen herabfloß. Ausrufe,
+Schreie, Gekreisch begleiteten jedes Wort Gawrilas.
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch sind beim Birkenwäldchen geblieben,
+anderthalb Werst von hier,“ begann er mit
+weinerlicher Stimme. „Das Pferd erschrak vor einem
+Blitz und lief in den Graben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und? ...“ rief mein Onkel aus.
+</p>
+
+<p>
+„Der Wagen fiel um ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und ... und Foma?“
+</p>
+
+<p>
+„Geruhten, in den Graben zu fallen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber so erzähl doch, Mensch!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie geruhten sich die Seite zu beschädigen
+und hierauf begannen sie zu weinen. Da schirrte
+ich das Pferd aus und kam reitend her, um zu melden
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Und Foma blieb dort liegen?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie erhoben sich und gingen mit dem Stöckchen
+weiter,“ schloß Gawrila, seufzte hierauf und senkte
+den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Das Weinen und Schluchzen der Damen war unbeschreiblich.
+</p>
+
+<p>
+„Sofort den Polkan!“ befahl der Oberst und
+stürzte aus dem Zimmer. Das Pferd wurde im Augenblick
+vorgeführt. Mein Onkel schwang sich, wie es
+nur ein Husar fertigbringt, auf das ungesattelte Pferd
+und sprengte davon – ohne Mütze, so wie er war.
+<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
+Der verhallende Hufschlag zeigte uns die Richtung an,
+in der er ritt.
+</p>
+
+<p>
+Die Damen eilten zu den Fenstern. Zwischen Gestöhn
+und Wehklagen wurden weise Ratschläge erteilt.
+Es wurde von den Vorzügen eines heißen Bades gesprochen
+und von denen einer Einreibung mit Spiritus.
+Ferner sprach man von mildem Brusttee und davon,
+daß Foma seit dem frühen Morgen noch keinen Bissen
+zu sich genommen habe und folglich noch nüchtern sei.
+Die Perepelizyna fand seine vergessene Brille im
+Futteral, und dieser Fund machte einen ungewöhnlichen
+Eindruck: die Generalin stieß einen Schrei aus, entriß
+der Finderin das Andenken, um dann nach neuen
+Tränenströmen und ohne das Ding aus der Hand zu
+legen, wieder ans Fenster zu eilen und hinauszuspähen,
+ob der Entschwundene nicht schon zurückkehrte. Die
+Erwartung erreichte schließlich den höchsten Grad der
+Spannung ... In einer anderen Ecke versuchte Ssaschenjka
+Nastjä zu trösten: beide hatten sich eng umschlungen
+und weinten still. Nastenjka hielt Iljuschas
+Händchen umklammert und küßte zum Abschied immer
+wieder ihren kleinen Schüler. Iljuscha weinte mit
+offenem Mäulchen, ohne zu wissen, weshalb. Jeshowikin
+und Misintschikoff redeten etwas abseits sehr
+eifrig miteinander. Mir schien, daß Bachtschejeff beim
+Anblick der weinenden Damen gleichfalls den Tränen
+beängstigend nahe war. Ich trat an ihn heran.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Lieber,“ sagte er, „Foma Fomitsch
+hätte sich vielleicht auch ohnedem von hier fortgemacht,
+nur war der rechte Augenblick offenbar noch nicht gekommen:
+noch hatte man ihm keine Ochsen mit goldenen
+<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
+Hörnern vor seine Equipage geschirrt! Keine Sorge,
+mein Lieber, der wird noch die Besitzer aus dem Hause
+jagen und selber hier bleiben!“
+</p>
+
+<p>
+Das Gewitter war nämlich schon weitergezogen,
+weshalb Herr Bachtschejeff seine Meinung inzwischen
+geändert hatte.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich erhob sich ein Geschrei: „Sie kommen, sie
+kommen! Sie bringen ihn!“ Und die Damen eilten
+mit Gekreisch zur Tür. Es waren kaum zehn Minuten
+nach dem Aufbruch meines Onkels vergangen. Aber
+wie war es denn möglich gewesen, Foma Fomitsch so
+schnell einzuholen? Das Rätsel sollte später sehr einfach
+gelöst werden: Foma war allerdings, nachdem er
+Gawrila zurückgeschickt hatte, mit seinem „Stöckchen“
+weitergegangen. Als er sich dann aber so verlassen in
+der Einsamkeit bei Sturm, Donner, Blitz und Regen
+gesehen hatte, da hatte ihn der Mut gar schmählich im
+Stich gelassen, und er war unverzüglich Gawrila nachgelaufen.
+Jedenfalls hatte mein Onkel ihn schon in
+nächster Nähe des Gutshofes angetroffen. Sofort war
+ein Mann, der gerade vorüberfuhr, angerufen worden,
+und mit Hilfe von ein paar Bauern hatte man den
+ganz zahm gewordenen Foma in den Wagen gehoben.
+Und so wurde er denn glücklich in die offenen Arme
+der Generalin zurückgeführt, die fast den Verstand –
+ihren letzten – verlor, als sie sah, in welchem Zustande
+ihr Abgott sich befand. Er war nämlich noch bedeutend
+nasser und schmutziger als Gawrila. Ein entsetzliches
+Durcheinander war die erste Folge: die einen wollten
+ihn sogleich ins Schlafzimmer schaffen, damit er die
+Wäsche wechsele, die anderen sprachen von Holundertee
+<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a>
+und ähnlichen Stärkungsmitteln. Alles lief hin
+und her. Die Kopflosigkeit war allgemein. Alle
+sprachen zu gleicher Zeit, so daß man kein Wort verstehen
+konnte ... Doch Foma schien nichts zu sehen und
+nichts zu hören. Er wurde unter den Armen gestützt
+und langsam zu seinem Philosophenstuhl geführt, in den
+er sich erschöpft niedersinken ließ, um sogleich die Augen
+zu schließen. Jemand schrie, daß Foma Fomitsch sterbe.
+Darauf erhob sich ein entsetzliches Geheul. Am lautesten
+aber von allen heulte Falalei, der sich krampfhaft
+bemühte, durch die Mauer der Damen zu Foma
+vorzudringen, um ihm, wie er sagte, „die Händchen
+zu küssen“.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-20">
+<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a>
+<span class="firstline">XVII.</span><br>
+Foma Fomitsch als Schöpfer des allgemeinen Glücks.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">ohin</span> hat man mich gebracht?“ fragte Foma
+endlich mit der Stimme eines Sterbenden – eines für
+die Wahrheit den Märtyrertod Sterbenden.
+</p>
+
+<p>
+„Verd...!“ fluchte Misintschikoff halblaut neben
+mir, „als ob er nicht sähe, wo er ist! Jetzt wird er uns
+wieder Theater vorspielen!“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist bei uns, Foma, du bist im Kreise deiner
+Freunde!“ rief ihm mein Onkel zu. „Faß dich, beruhige
+dich! Weißt du, es wäre wirklich gut, wenn du jetzt
+deine Kleider wechseln wolltest, Foma, so kannst du dich
+noch erkälten ... Und willst du dich nicht etwas stärken
+– was meinst du? So, weißt du ... ein Gläschen,
+um dich zu erwärmen.“
+</p>
+
+<p>
+„Malaga ... würde ich vielleicht trinken,“ stöhnte
+Foma und schloß wieder die Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Malaga? Ich weiß nicht, ob wir den gerade vorrätig
+haben ...“ sagte mein Onkel, mit unruhigem
+Blick sich nach Praskowja Iljinitschna umsehend.
+</p>
+
+<p>
+„Aber natürlich doch!“ Praskowja Iljinitschna
+schien ordentlich gekränkt zu sein. „Ganze vier Flaschen
+haben wir noch!“ Und schlüsselklirrend eilte sie nach
+dem Wein, begleitet vom Geschrei aller Damen, die
+ihren Foma, ungefähr wie Fliegen einen Honigteller,
+belagerten. Dafür geriet freilich Herr Bachtschejeff so
+ziemlich in das letzte Stadium des Unwillens.
+</p>
+
+<p>
+„Malaga! Malaga will er!“ fauchte er. „Na
+natürlich! Es muß doch unbedingt ein Wein sein, den
+<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a>
+sonst kein Mensch trinkt! Wer trinkt denn jetzt noch
+Malaga, außer vielleicht so ’m Schuft wie er! Pfui! ...
+Pfui! ... Aber was stehe <em>ich</em> denn hier? Was habe
+<em>ich</em> denn hier zu suchen? Worauf warte <em>ich</em> denn noch?“
+</p>
+
+<p>
+„Foma,“ hub mein Onkel an, verwirrte sich aber
+bei jedem Satz, „jetzt wäre es ... wenn du dich erholt
+hast und wieder mit uns zusammen ... Ich meine, ich
+will nur sagen, Foma, wie du vorhin, nachdem du das
+unschuldige Mädchen beleidigt hattest ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wo, wo ist sie, meine Unschuld?“ griff Foma sofort
+das Wort auf, als phantasiere er im Fieber. „Wo
+sind die goldenen Tage meiner Unschuld? Wo bist du,
+meine goldene Kindheit, als ich noch schuldlos und schön
+über die Wiesen dem ersten Frühlingsschmetterling nachlief?
+Wo, wo ist diese Zeit? Gebt mir meine Unschuld
+wieder, gebt sie mir wieder zurück ...“
+</p>
+
+<p>
+Und Foma wandte sich mit ausgestreckten Armen der
+Reihe nach an alle Anwesenden, als hätte jemand von
+uns seine Unschuld in der Tasche gehabt. Bachtschejeff
+schien platzen zu wollen vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+„Hört doch, was der Mensch will!“ fauchte er empört.
+„Gebt ihm seine Unschuld wieder! Will er sie
+etwa abküssen? Vielleicht war er auch als Knabe schon
+so ein Räuber, wie jetzt! Könnte schwören, daß er’s
+war!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ ... hub mein Onkel wieder an.
+</p>
+
+<p>
+„Wo, wo sind sie, jene Tage, als ich noch an die
+Liebe glaubte und den Menschen liebte?“ phantasierte
+Foma, „als ich den Nächsten umarmte und an seiner
+Brust Tränen vergoß? Jetzt aber – wo bin ich? Wo
+bin ich?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a>
+„Du bist bei uns, Foma, beruhige dich!“ rief ihm
+mein Onkel zu. „Ich aber will dir jetzt folgendes sagen,
+Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie doch jetzt wenigstens schweigen wollten!“
+keuchte haßerfüllt die Perepelizyna, deren kleine
+Schlangenaugen meinen Onkel böse anblitzten.
+</p>
+
+<p>
+„Wo bin ich?“ fuhr Foma fort, „wer umgibt mich
+hier? Das sind ja Büffel und Stiere, die ihre Hörner
+gegen mich senken! Leben, was bist du? Ach, lebe, lebe,
+sei entehrt, geschmäht, gegeißelt, geschlagen, und wenn
+dann dein Grab zugeschüttet ist, dann erst kommen die
+Menschen zur Besinnung, und deine armen Knochen
+werden von einem Monument zerdrückt!“
+</p>
+
+<p>
+„Himmlischer Vater, jetzt kommt er noch auf sein
+Monument zu sprechen!“ flüsterte Jeshowikin und schlug
+die Hände zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, errichtet mir kein Monument!“ phantasierte
+Foma ohne Unterlaß weiter, „errichtet mir keines! Ich
+brauche keine Monumente! Errichtet mir in Eurem
+Herzen Monumente ... das ist alles ... sonst aber
+verlange ich nichts, nichts, nichts!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel, „so hör doch
+jetzt auf! Beruhige dich! Es ist kein Grund vorhanden,
+von Monumenten zu reden. Hör mich jetzt an ... Sieh,
+Foma, ich begreife, daß du vielleicht ... sagen wir, in
+edlem Feuer branntest, als du mir vorhin ... diese Vorwürfe
+machtest; aber du ließest dich zu weit fortreißen,
+Foma, du überschrittest jede Grenze – ich versichere
+dich, du hast dich geirrt, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„Werden Sie denn nicht endlich aufhören!“ schrie
+wieder die Perepelizyna, „wollen Sie denn den Unglücklichen
+<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a>
+ganz und gar töten, bloß weil er jetzt in Ihren
+Händen ist? ...“
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Beispiel der Perepelizyna fuhr auch die
+Generalin sofort auf, und mit ihr das ganze Gefolge:
+alle winkten sie meinem Onkel wie besessen mit den
+Händen zu, damit er nur endlich schweige.
+</p>
+
+<p>
+„Anna Nilowna, halten Sie gefälligst selbst den
+Mund; ich weiß, was ich sage!“ fuhr mein Onkel mit
+entschlossener Stimme fort. „Es handelt sich um eine
+heilige Sache der Ehre und Gerechtigkeit ... Foma, ich
+weiß, du bist vernünftig. Du mußt unverzüglich das
+edelste Mädchen, das du beleidigt hast, um Verzeihung
+bitten.“
+</p>
+
+<p>
+„Welches Mädchen? Welches Mädchen habe ich
+beleidigt?“ fragte Foma und sah sich mit verständnislosem
+Blick im Kreise um, als hätte er alles vergessen,
+was geschehen war, und als begreife er nicht, wovon
+man sprach.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Foma, und wenn du jetzt freiwillig deine
+Schuld eingestehst, so werde ich, das schwöre ich, dir
+hier meinetwegen zu Füßen fallen und ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wen habe ich denn beleidigt?“ rief Foma
+leidenschaftlich. „Welches Mädchen? Wo ist sie? Wo
+ist sie? Wo ist dieses Mädchen? Erinnert mich doch,
+helft mir, sagt mir doch nur mit einem Wort, wer
+dieses Mädchen ist! ...“
+</p>
+
+<p>
+Da trat Nastenjka verwirrt und geängstigt zu
+meinem Onkel und berührte ihn zaghaft am Ärmel.
+</p>
+
+<p>
+„Jegor Iljitsch, lassen Sie ihn, es ist nicht nötig,
+daß er sich entschuldigt! Wozu das alles?“ sagte sie mit
+bittender, gequälter Stimme. „Lassen Sie doch!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a>
+„Ah! Jetzt besinne ich mich!“ rief plötzlich Foma
+aus. „Gott! Ich besinne mich! Oh, helft mir, helft
+mir, mich zu erinnern!“ flehte er, scheinbar in unbeschreiblicher
+Aufregung. „Sagt mir, ist es wahr, daß
+man mich von hier wie den räudigsten aller Hunde hinausgejagt
+hat? Ist es wahr, daß ich vom Blitz getroffen
+wurde? Ist es wahr, daß ich von hier auf die Treppe
+hinausgeworfen worden bin? Ist das wahr? Ist das
+alles wahr?“
+</p>
+
+<p>
+Das Weinen und Gejammer der Damen war eine
+beredte Antwort auf seine Frage.
+</p>
+
+<p>
+„Richtig, richtig!“ fuhr er fort, „ich entsinne mich
+jetzt, daß ich nach dem Blitz und nach meinem Sturz
+hergelaufen kam, verfolgt vom Donner, um hier meine
+Pflicht zu erfüllen und um dann auf ewig zu verschwinden!
+Erhebt mich! Wie erschöpft ich jetzt auch
+bin, ich muß sie erfüllen – meine letzte Pflicht!“
+</p>
+
+<p>
+Man faßte ihn stützend unter die Arme und hob ihn
+aus dem Ruhestuhl. Er selbst nahm hierauf die Pose
+eines klassischen Redners an und streckte beschwörend
+seine Hand aus.
+</p>
+
+<p>
+„Oberst!“ begann er, „jetzt bin ich wieder erwacht!
+Der Donner hat meine geistigen Kräfte nicht gänzlich
+vernichtet: es ist zwar noch eine gewisse Taubheit in
+meinem rechten Ohr vorhanden, aber die ist vielleicht
+nicht so sehr auf den Donner als auf den Sturz von der
+Treppe zurückzuführen ... Doch was hat das zu sagen!
+Und wen geht hier das rechte Ohr Foma Opiskins
+etwas an!“
+</p>
+
+<p>
+Den letzten Worten verlieh Foma so viel traurige
+Ironie und begleitete sie mit einem so wehmütigen
+<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a>
+Lächeln, daß das Gestöhn der gerührten Damen unwillkürlich
+von neuem ertönte. Alle sahen sie mit bitterem
+Vorwurf, einige aber mit wahrem Haß auf meinen
+armen Onkel, der sich allmählich, beim Anblick eines so
+einmütigen Urteils, wie vernichtet zu fühlen begann.
+Misintschikoff spie heimlich aus vor Wut und trat ans
+Fenster. Bachtschejeff versetzte mir immer stärker werdende
+Rippenstöße: er konnte sich wirklich nicht mehr
+ruhig verhalten, der arme Dicke!
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt hören Sie alle meine Beichte!“ hub Foma
+mit erhöhter Stimme an und ließ stolz und entschlossen
+seinen Blick über die ganze Versammlung schweifen,
+„und gleichzeitig entscheiden Sie, Jegor Iljitsch, über
+das Schicksal des unglücklichen Foma Opiskin! Schon
+lange habe ich Sie beobachtet, habe ich Sie bangen Herzens
+beobachtet und alles bemerkt, alles, während Sie
+noch nicht einmal ahnten, daß ich Sie beobachtete.
+Oberst! Ich habe mich vielleicht geirrt, aber ich kannte
+Ihren Egoismus, Ihre unbegrenzte Eigenliebe, Ihre
+schreckliche Wollüstigkeit, und – wer wird mich deshalb
+verdammen können, daß ich unwillkürlich für die Ehre
+des unschuldigsten Wesens erzitterte?“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! ... Foma! ...“ fiel ihm mein Onkel ins
+Wort, da er mit Unruhe den gequälten Ausdruck in
+Nastenjkas Gesicht gewahrte.
+</p>
+
+<p>
+„Nicht so sehr die Unschuld und die Vertrauenswürdigkeit
+dieses Mädchens ängstigten mich als gerade
+ihre Unerfahrenheit,“ fuhr Foma fort, als hätte er die
+Warnung meines Onkels überhaupt nicht gehört. „Ich
+sah, wie ein zärtliches Gefühl in ihrem Herzen erwachte
+und erblühte, gleich der Frühlingsrose, und ich dachte
+<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a>
+unwillkürlich an Petrarca, der da sagt: ‚Die Unschuld
+ist so oft nur um Haaresbreite vom Untergang entfernt.‘
+Ich seufzte und litt, und wenn ich auch für dieses Mädchen,
+das rein wie eine Perle, wie ein kostbarer Edelstein
+ist, mein ganzes Blut als Bürgschaft hingegeben hätte
+– wer aber hätte mir für Sie gebürgt, Jegor Iljitsch?
+Da ich das zügellose Streben Ihrer Leidenschaften
+kannte, da ich wußte, daß Sie für deren kurze Befriedigung
+alles zu opfern bereit sind, – so versenkte ich
+mich plötzlich in einen Abgrund des Entsetzens und der
+Befürchtungen bezüglich des Schicksals dieses edelsten
+aller Mädchen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Wie hast du das nur denken können!“ rief
+mein Onkel erregt aus.
+</p>
+
+<p>
+„Mit schmerzendem Herzen habe ich Sie beobachtet.
+Wenn Sie wissen wollen, wie ich gelitten habe, fragen
+Sie Shakespeare: er wird Ihnen in seinem ‚Hamlet‘ von
+meinem Seelenzustande erzählen. Ich wurde argwöhnisch
+und unerträglich. In meiner Unruhe, in
+meinem Unwillen sah ich alles schwarz, aber, das war
+nicht dieses ‚Schwarz‘, von dem in der bekannten Romanze
+die Rede ist, das können Sie mir glauben. Deshalb
+hegte ich auch den Wunsch, <em>sie</em> aus diesem Hause
+zu entfernen: ich wollte sie retten. Dies war der eigentliche
+Grund, weshalb Sie mich in der letzten Zeit so
+gereizt und mit der ganzen Menschheit zerfallen gesehen
+haben. Oh! wer wird mich jetzt mit dieser Menschheit
+wieder aussöhnen? Ich fühle, daß ich vielleicht anmaßend
+und ungerecht zu Ihren Gästen, zu Ihrem
+Neffen, zu Herrn Bachtschejeff gewesen bin, indem ich
+von ihm Kenntnis der Astronomie verlangte; aber wer
+<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a>
+kann mich wegen meines damaligen Seelenzustandes
+tadeln? Ich berufe mich nochmals auf Shakespeare und
+sage, daß die Zukunft mir wie ein finsterer Abgrund von
+unbekannter Tiefe erschien, auf dessen Grunde ein Krokodil
+lag. Ich fühlte, daß es meine Pflicht war, das
+Unglück zu verhüten, daß ich dazu berufen, daß ich dazu
+gesandt war, – doch was geschah? Sie begriffen die
+edelsten Beweggründe meiner Seele nicht und zahlten
+mir in dieser ganzen Zeit mit Bosheit, Undankbarkeit,
+Spott, Erniedrigungen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Wenn es so ist ... ich fühle ...“ unterbrach
+ihn mein Onkel in unsäglicher Erregung.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie tatsächlich etwas fühlen, Oberst, so seien
+Sie so gut und lassen Sie mich zu Ende sprechen, ohne
+mich zu unterbrechen. Ich fahre fort: meine ganze
+Schuld bestand folglich darin, daß ich mich gar zu sehr
+um das Schicksal und das Glück dieses Kindes sorgte, –
+denn sie ist ja noch ein Kind im Vergleich zu Ihnen.
+Die höchste Liebe zur Menschheit machte mich in dieser
+Zeit fast zu einem Dämon des Argwohns und Zornes.
+Ich wäre fähig gewesen, mich auf die Menschen zu
+stürzen und sie zu zerreißen. Und wissen Sie auch,
+Jegor Iljitsch, daß ein jeder Ihrer Schritte meinen Argwohn
+noch bestärkte und mich von der Richtigkeit aller
+meiner Befürchtungen überzeugte? Wissen Sie auch,
+daß ich gestern, als Sie mich mit Ihrem Golde überschütteten,
+um mich auf diese Weise los zu werden, bei
+mir im stillen dachte: ‚Er will in mir, in meiner Person
+sein eigenes Gewissen entfernen, um dann bequemer das
+Verbrechen begehen zu können ...‘“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! Aber Foma ... Hast du das wirklich
+<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a>
+gestern gedacht?“ rief mein Onkel entsetzt aus. „Gott,
+und ich habe nichts geahnt!“
+</p>
+
+<p>
+„Der Himmel selber flößte mir diesen Argwohn
+ein,“ fuhr Foma fort. „Und sagen Sie doch: was mußte
+ich denken, als der blinde Zufall mich noch am selben
+Abend zu jener Bank im Garten führte, was mußte ich
+fühlen, – o Gott! – als ich endlich mit eigenen Augen
+sah, daß alle meine Befürchtungen sich plötzlich bewahrheiteten
+und mir in der glänzendsten Weise recht gaben?
+Mir blieb nur noch eine Hoffnung, eine schwache, allerdings,
+aber es war doch immerhin eine Hoffnung! Und
+was mußte ich erleben?! Heute morgen zerstörten Sie
+sie selbst zu Schutt und Trümmer! Sie sandten mir
+Ihren Brief. Sie sprachen von der Absicht, sie zu heiraten,
+und Sie flehten mich an, von dem Gesehenen
+nichts verlauten zu lassen ... ‚Aber weshalb,‘ dachte ich,
+‚weshalb hat er mir denn gerade jetzt geschrieben, nachdem
+ich ihn bereits überrascht habe, warum nicht früher?
+Weshalb ist er nicht früher eilends zu mir gekommen,
+glücklich und schön – denn die Liebe verschönt das
+Gesicht –, weshalb hat er sich nicht in meine Arme geworfen,
+warum ist er nicht an meiner Brust in Tränen
+grenzenlosen Glücks ausgebrochen, und weshalb hat er
+mir nicht alles, alles gestanden?‘ Oder bin ich ein
+Krokodil, das Sie nur verschlungen, nicht aber Ihnen
+einen klugen Rat gegeben haben würde? Oder bin ich
+irgendein widerliches Insekt, das Sie nur gebissen,
+nicht aber Ihnen zu Ihrem Glück verholfen haben
+würde? ‚Bin ich sein Freund, oder bin ich ein ekelhaftes
+Gewürm?‘ Das war die Frage, die ich heute
+morgen an mich stellte! ‚Und wozu schließlich,‘ dachte
+<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a>
+ich, ‚wozu hat er aus der Hauptstadt einen Neffen hergerufen
+und mit diesem Mädchen verlobt, wenn nicht,
+um sowohl uns wie den leichtsinnigen Neffen zu betrügen
+und inzwischen heimlich die verbrecherischste aller
+Absichten auszuführen?‘ Nein, Oberst, wenn jemand
+mich in dem Gedanken bestärkt hat, daß Ihre Liebe verbrecherisch
+ist, so sind Sie es selbst, und nur Sie allein!
+Ja, Sie sind auch vor diesem Mädchen ein Verbrecher;
+denn durch Ihre Ungeschicklichkeit und Ihr eigensüchtiges
+Mißtrauen haben Sie sie der Verleumdung und häßlichem
+Argwohn preisgegeben!“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel schwieg, den Kopf gesenkt. Die Beredsamkeit
+Fomas behielt offenbar die Oberhand; denn
+mein Onkel wagte nichts mehr zu entgegnen und gab
+damit eigentlich schon zu, daß er der „große Verbrecher“
+sei. Die Generalin und ihre Freundinnen hatten stumm
+und andächtig Fomas Rede angehört; die Perepelizyna
+blickte mit schadenfrohem Triumph auf die arme Nastenjka.
+</p>
+
+<p>
+„Bestürzt, erregt, halbtot,“ fuhr Foma fort, „schloß
+ich mich heute ein und betete, daß Gott mich erleuchte!
+Endlich beschloß ich, Sie zum letzten Male und öffentlich
+zu prüfen. Vielleicht habe ich mich mit gar zu großem
+Eifer darangemacht, vielleicht habe ich mich gar zu sehr
+meinem Unwillen hingegeben! Doch für meine edelsten
+Absichten warfen Sie mich zur Tür hinaus! Noch als
+ich aus der Türe flog, dachte ich bei mir: ‚Sieh, so wird
+in der Welt die Tugend belohnt!‘ Hieran schlug ich
+auf die Erde, und was weiter mit mir geschah – dessen
+entsinne ich mich kaum noch.“
+</p>
+
+<p>
+Gestöhn und Wehklagen unterbrachen Foma bei
+<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a>
+dieser tragischen Erinnerung. Die Generalin stürzte
+mit der Flasche Malaga, die sie vor einer Minute der
+zurückgekehrten Praskowja Iljinitschna aus der Hand
+gerissen hatte, zu Foma; dieser jedoch wies mit majestätischer
+Handbewegung die Flasche samt der Generalin
+zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Unterbrechen Sie mich nicht. Ich muß beenden.
+– Was nach meinem Sturz geschah – ich weiß es
+nicht. Ich weiß nur eines, daß ich jetzt, durchnäßt und
+der Gefahr einer Influenza ausgesetzt, hier stehe, um
+Ihr beiderseitiges Glück zu schaffen. Oberst! Aus vielen
+Anzeichen, die ich jetzt nicht weiter erklären will, habe
+ich schließlich die Überzeugung gewonnen, daß Ihre
+Liebe rein und sogar erhaben ist. Und wenn auch
+gleichzeitig von einem geradezu verbrecherischen Mißtrauen
+gemartert, erniedrigt, der Beleidigung eines
+ehrenhaften Mädchens verdächtigt, desselben Mädchens,
+für das ich wie ein mittelalterlicher Ritter mein Blut
+bis auf den letzten Tropfen hingegeben hätte, entschließe
+ich mich nunmehr, Ihnen zu zeigen, wie Foma Opiskin
+sich für ihm zugefügte Beleidigungen rächt. Geben Sie
+mir Ihre Hand, Oberst!“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Vergnügen, Foma!“ rief mein Onkel aus.
+„Und da du dich jetzt deutlich über die Ehre des ehrenwertesten
+Mädchens ausgesprochen hast, so ... hier
+ist meine Hand, Foma, und gleichzeitig gestehe ich dir
+meine aufrichtige Reue ...“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel reichte ihm von ganzem Herzen
+die Hand, ohne zu ahnen, was daraus entstehen
+sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Geben Sie mir auch Ihre Hand,“ fuhr Foma
+<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a>
+mit milder Stimme fort, indem er sich durch den Kreis
+der ihn umgebenden Damen an Nastenjka wandte.
+</p>
+
+<p>
+Nastenjka erschrak, verwirrte sich und blickte schüchtern
+zu Foma hinüber.
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie, kommen Sie, mein liebes Kind!
+Das ist unbedingt notwendig zu Ihrem Glück,“ fuhr
+Foma freundlich fort, während er immer noch die Hand
+meines Onkels in der seinen hielt.
+</p>
+
+<p>
+„Was mag er wollen?“ fragte Misintschikoff leise.
+</p>
+
+<p>
+Nastjä näherte sich schließlich, noch immer erschrocken
+und ängstlich, Foma Fomitsch und reichte ihm
+zaghaft ihr Händchen.
+</p>
+
+<p>
+Foma nahm dieses Händchen und legte es in die
+Hand meines Onkels.
+</p>
+
+<p>
+„<em>Ich vereinige und segne euch!</em>“ sagte
+er mit der feierlichsten Stimme. „Und wenn der Segen
+eines vom Leid erdrückten Märtyrers euch Nutzen
+bringen kann, so seid glücklich! Nun seht ihr, wie sich
+Foma Opiskin rächt! Hurra!“
+</p>
+
+<p>
+Wir waren sprachlos. Diese Lösung kam so unerwartet,
+daß niemand sie verstand. Die Generalin glich
+einer Salzsäule mit einer Flasche Malaga in der Hand.
+Die Perepelizyna erbleichte und erzitterte vor Wut.
+Das übrige Gefolge schlug die Hände über dem Kopf
+zusammen und erstarrte in dieser Stellung. Mein Onkel
+fuhr zusammen und wollte etwas sagen, brachte aber
+kein Wort hervor. Nastjä war blaß wie eine Tote und
+stammelte zwar ein „aber das geht doch nicht ...“ –
+aber jetzt war es zu spät. Bachtschejeff war der erste
+– man muß ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen –,
+der in Fomas Hurra einstimmte, nach ihm ich, nach
+<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a>
+mir Ssaschenjka mit allem Jubel ihrer hellen Kinderstimme.
+Zugleich eilte sie zum Vater und umarmte und
+küßte ihn –, dann Iljuscha, dann Jeshowikin, und zum
+Schluß auch Misintschikoff.
+</p>
+
+<p>
+„Hurra!“ schrie noch einmal Foma, „hurra! Und
+jetzt auf die Knie, meine Herzenskinder, auf die Knie
+vor der zärtlichsten der Mütter! Bittet um ihren Segen,
+und wenn es nötig ist, werde ich selbst mit euch vor
+ihr niederknien ...“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel und Nastjä, die einander noch nicht
+angesehen hatten und im ersten Schreck wahrscheinlich
+noch gar nicht begriffen, was mit ihnen geschah, knieten
+sogleich vor der Generalin nieder: die übrigen gruppierten
+sich um sie herum. Die Generalin stand wie betäubt,
+rührte sich nicht und schien nicht begreifen zu
+können, was sie tun sollte. Doch da half Foma: er
+kniete in eigener Person vor seiner Gönnerin nieder,
+was diese im Augenblick zur Besinnung brachte. Sie
+brach in Tränen aus und sagte, daß sie einverstanden
+sei. Der Oberst sprang auf und preßte Foma an seine
+Brust.
+</p>
+
+<p>
+„Foma! ... Foma!“ rief er aus, doch seine Stimme
+versagte.
+</p>
+
+<p>
+„Champagner!“ rief Herr Bachtschejeff. „Hurra!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht Champagner,“ unterbrach ihn die Perepelizyna,
+die inzwischen schon Zeit gehabt hatte, sich zu
+besinnen, sich die Sachlage zu überlegen und gleichzeitig
+auch die Folgen zu berechnen, – „jetzt muß man Gott
+ein Licht anzünden, vor dem Heiligenbilde beten und
+mit dem Heiligenbilde das Brautpaar segnen, wie alle
+Gottesfürchtigen es tun ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a>
+Sofort beeilten sich alle, den vernünftigen Rat zu
+befolgen. Alles lief kreuz und quer. Zuerst mußte das
+Licht angezündet werden. Herr Bachtschejeff zog einen
+Stuhl herbei, stellte ihn vor das Heiligenbild und kletterte
+höchst eigen hinauf, um das Licht einzusetzen. Der
+Stuhl jedoch war nicht für eine solche Last gedacht: er
+krachte in allen Fugen, und Herr Bachtschejeff rettete
+nur mit Mühe und Not sein Gleichgewicht. Doch ohne
+sich im geringsten über seinen Mißerfolg zu ärgern, trat
+er den Platz sofort höflich der Perepelizyna ab. Die
+dünne Jungfer erledigte die Sache denn auch im Augenblick:
+das Licht brannte. Und wie die Perepelizyna, so
+bekreuzte sich und verneigte sich das ganze Gefolge bis
+zur Erde. Hierauf wurde das Heiligenbild der Generalin
+gereicht. Der Oberst und Nastenjka knieten nochmals
+vor ihr nieder, und die Zeremonie vollzog sich unter
+gottesfürchtigen Vorhaltungen der Perepelizyna, die zu
+jedem ihrer Worte Unterweisungen hinzufügte: „Knien
+Sie jetzt nieder, küssen Sie jetzt das Heiligenbild, küssen
+Sie der Mutter die Hand!“ Nach den Verlobten hielt
+es auch Herr Bachtschejeff für seine Pflicht, das Heiligenbild
+zu küssen, worauf er die Hand der Generalin
+an die Lippen führte. Er befand sich mit einem Male
+in unbeschreiblicher Begeisterung.
+</p>
+
+<p>
+„Hurra!“ schrie er immer von neuem. „Aber jetzt
+Champagner!“
+</p>
+
+<p>
+Übrigens waren alle begeistert. Die Generalin
+weinte, doch waren es diesmal Tränen der Freude: die
+Verbindung, die Foma gesegnet hatte, wurde in ihren
+Augen ohne weiteres sowohl heilig wie auch möglich,
+und vor allen Dingen fühlte sie, daß Foma Fomitsch sich
+<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a>
+ausgezeichnet hatte und jetzt ganz sicher wieder bei
+ihr bleiben werde. Auch ihr Gefolge teilte – wenigstens
+äußerlich – die allgemeine Begeisterung. Mein Onkel
+ging bald zu seiner Mutter, um ihre Hände zu küssen;
+bald umarmte er mich, Bachtschejeff, Misintschikoff und
+Jeshowikin. Seinen Iljuscha hätte er um ein Haar erdrückt
+in seinen Armen. Ssaschenjka hing sich an
+Nastenjka und küßte sie unaufhörlich. Praskowja Iljinitschna
+weinte still. Als Herr Bachtschejeff das bemerkte,
+ging er zu ihr hin und küßte ihr die Hand.
+Der alte Jeshowikin wischte sich, in die entfernteste Ecke
+zurückgezogen, mit einem Zipfel seines karierten
+Schnupftuches gleichfalls Tränen aus den Augen. In
+der anderen Ecke schluchzte Gawrila und sah andächtig
+zu Foma Fomitsch auf. Falalei aber brüllte herzbrechend
+vor lauter Rührung, trat zu jedem Anwesenden und
+küßte ihm die Hand. Alle flossen über vor lauter Gefühl.
+Niemand vermochte zu sprechen. Niemand dachte
+an Erklärungen. Es schien alles schon gesagt zu sein.
+Nur freudige Ausrufe wurden laut. Im Grunde begriff
+zwar noch keiner so recht, was und wie es eigentlich
+geschehen war. Man wußte nur das eine: daß
+Foma Fomitsch alles getan und geordnet hatte, und daß
+eine unwiderrufliche Tatsache vor einem stand.
+</p>
+
+<p>
+Noch waren keine fünf Minuten des allgemeinen
+Glücks vergangen, als plötzlich auch Tatjana Iwanowna
+erschien. Durch wen, durch welchen Spürsinn mochte
+sie oben in ihrem Zimmer Kunde von der Verlobung
+erhalten haben? Mit strahlendem Gesicht, mit Freudentränen
+in den Augen und in bezaubernd eleganter
+Toilette – sie hatte inzwischen doch Zeit und Lust dazu
+<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a>
+gehabt, sich umzukleiden – erschien sie in der Tür und
+flatterte wie eine Schwalbe zu Nastenjka, die sie krampfhaft
+in ihre Arme schloß.
+</p>
+
+<p>
+„Nastenjka, Nastenjka! Du hast ihn geliebt, ich
+aber habe es nicht einmal gewußt!“ rief sie aus.
+„O Gott! Sie haben sich geliebt, sie haben heimlich gelitten,
+ohne daß jemand es gewußt hätte! Man hat sie
+verfolgt! Welch ein Roman! Nastjä, mein Täubchen,
+sag mir die ganze Wahrheit: liebst du denn wirklich
+diesen – Toren?“
+</p>
+
+<p>
+Statt einer Antwort umarmte Nastjä sie und küßte
+sie auf den Mund.
+</p>
+
+<p>
+„O Gott, welch ein entzückender Roman!“ Tatjana
+Iwanowna klatschte in die Hände vor Freude. Hör,
+Nastjä, hör, mein Engel: alle diese Männer, alle bis
+auf den letzten sind sie undankbare Unmenschen, Ungeheuer
+und unserer Liebe nicht wert. Er aber ist vielleicht
+noch der beste von ihnen. „Komm her zu mir, du Tor!“
+rief sie plötzlich meinem Onkel zu, sich an ihn wendend,
+und sie erfaßte seine Hand, um ihn zu sich zu ziehen.
+„Bist du wirklich verliebt? Bist du wirklich fähig zu
+lieben? Sieh mich an: ich will dir in die Augen sehen,
+ich will sehen, ob diese Augen lügen ... Nein, nein,
+sie lügen nicht – in ihnen leuchtet wahre Liebe. Oh,
+wie glücklich ich bin! Nastenjka, meine Freundin, hör
+mich an: du bist nicht reich – ich schenke dir dreißig
+Tausend. Nimm sie, um Christi willen! – ich bitte
+dich! Ich brauche sie nicht, ich habe sie nicht nötig! Es
+bleibt mir ja noch genug! Nein, nein, nein!“ wehrte sie
+heftig, als sie sah, daß Nastjä das Geschenk nicht annehmen
+wollte. „Schweigen Sie, Jegor Iljitsch, das
+<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a>
+geht Sie nichts an. Nein, Nastjä, ich habe es so beschlossen
+– sie dir zu schenken. Ich wollte dir immer
+schon ein Geschenk machen, aber ich wartete auf deine
+erste Liebe ... Und nun werde ich euer Glück sehen und
+mich mitfreuen. Du wirst mich kränken, wenn du es
+nicht annimmst, ich werde weinen, Nastjä ... Nein,
+nein, nein und nein, du darfst mir die Bitte nicht abschlagen!“
+</p>
+
+<p>
+Tatjana Iwanowna war so glücklich, daß man ihr
+– wenigstens in diesem Augenblick – unmöglich ihre
+Bitte und ihr Geschenk abschlagen konnte: sie hätte
+einem zu leid getan. So tat man es denn auch vorläufig
+nicht ... man schob es auf. Darauf fiel sie der
+alten Generalin um den Hals, küßte sie, küßte die Perepelizyna
+– küßte alle. Bachtschejeff drängte sich in der
+höflichsten Weise zu ihr durch und bat sie, ihr die Hand
+küssen zu dürfen.
+</p>
+
+<p>
+„Du mein Mütterchen, mein Täubchen! Verzeih
+mir altem Dummkopf, was auf der Rückfahrt geschah
+– ich kannte doch dein goldenes Herz noch
+nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sie Tor! Ich aber kenne Sie schon lange!“
+sagte Tatjana Iwanowna mit schelmischer Koketterie,
+schlug Stepan Alexejewitsch mit dem Batisttüchelchen
+auf die Nase und flatterte wie eine Nixe davon, während
+ihr prächtiges Kleid ihn streifte.
+</p>
+
+<p>
+Der Dicke trat ehrerbietig zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Ein vortreffliches Mädchen!“ sagte er gerührt.
+„Aber dem Deutschen ist ja die Nase wieder angeklebt
+worden!“ flüsterte er mir vertrauensvoll zu und sah mir
+froh in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a>
+„Was für eine Nase? Welch einem Deutschen?“
+fragte ich verständnislos.
+</p>
+
+<p>
+„Na, dem verschriebenen doch, der seiner Dame das
+Händchen küßt, während diese sich eine Träne mit dem
+Schnupftuch aus dem Auge wischt. Mein Jewdokim
+hat sie ihm noch gestern zu Haus angeleimt. Als wir
+aber vorhin von der Jagd zurückkamen, schickte ich einen
+reitenden Boten ... Bald wird er hier sein. Ein
+großartiges Ding, sag’ ich Ihnen!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ rief mein Onkel in fassungsloser Begeisterung
+aus, „du bist der Urheber meines Glücks! Womit
+kann ich es dir vergelten?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit nichts, Oberst,“ sagte Foma mit einer Asketenmiene.
+„<em>Fahren Sie fort, mir keine
+Beachtung zu schenken</em>, und seien Sie glücklich
+ohne Foma.“
+</p>
+
+<p>
+Er fühlte sich offenbar verletzt – während des
+großen Gefühlsüberschwanges schien man ihn, und wenn
+auch nur einen Augenblick, beinahe vergessen zu haben.
+</p>
+
+<p>
+„Das war ja nur die übergroße Seligkeit, Foma!“
+rief mein Onkel aus. „Ich ... weiß kaum noch, wo ich
+bin, Freund! Höre, Foma: ich habe dich beleidigt.
+Mein ganzes Leben, all mein Blut würde nicht ausreichen,
+um diese Beleidigung wieder gutzumachen,
+und deshalb schweige ich lieber und versuche gar nicht,
+meine Tat zu entschuldigen. Wenn du aber jemals
+meines Kopfes, meines Lebens bedarfst, wenn jemand
+sich für dich in einen Abgrund stürzen muß, so befiehl
+nur, und du wirst sehen ... Ich sage nichts weiter,
+Foma!“
+</p>
+
+<p>
+Und mein Onkel machte nur eine Handbewegung,
+<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a>
+da er die Unmöglichkeiten, in Worten noch etwas hinzuzufügen,
+das seinen Gedanken stärker ausdrücken
+könnte, vollkommen einsah. Dann blickte er Foma mit
+dankbaren, feucht schimmernden Augen an.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt sieht man erst, was für ein Engel er ist!“
+flötete honigsüß die Perepelizyna – bereit, Foma anzubeten.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja!“ stimmte ihr Ssaschenjka bei. „Ich wußte
+gar nicht, daß Sie ein so guter Mensch sind, Foma Fomitsch
+– und ich war so ungezogen zu Ihnen. Verzeihen
+Sie mir, Foma Fomitsch, und glauben Sie mir,
+daß ich Sie von ganzem Herzen lieben werde. Wenn
+Sie wüßten, wie ich Sie jetzt achte!“
+</p>
+
+<p>
+„Foma!“ sagte Herr Bachtschejeff, „verzeih auch
+mir. Ich war dumm. Ich kannte dich nicht, ich kannte
+dich wahrhaftig nicht! Du, Foma Fomitsch, du bist
+nicht nur ein Gelehrter, sondern einfach – ein Held!
+Mein ganzes Haus steht dir zur Verfügung. Komm
+nur. Am besten aber, weißt du, komm gleich übermorgen
+zu mir; aber selbstverständlich lade ich auch die
+Braut und den Bräutigam ein ... Jawohl! – das
+ganze Haus zu mir! Dann wollen wir mal speisen –
+ich will nichts vorher loben, nur eines schicke ich voraus:
+bloß Vogelmilch kann ich euch nicht vorsetzen! Darauf
+gebe ich mein Wort!“
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen war Nastenjka zu Foma Fomitsch
+getreten und hatte ihn, ohne viel zu reden, umarmt und
+herzlich geküßt.
+</p>
+
+<p>
+„Foma Fomitsch,“ sagte sie, „Sie sind unser Wohltäter,
+Sie haben so viel für uns getan, daß ich nicht
+weiß, wie ich es Ihnen entgelten soll ... Ich weiß nur,
+<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a>
+daß ich Ihnen die liebevollste und ehrerbietigste Schwester
+sein will ...“
+</p>
+
+<p>
+Tränen erstickten ihre Stimme. Foma küßte sie auf
+die Stirn und war sehr gerührt.
+</p>
+
+<p>
+„Meine Kinder, Kinder meines Herzens!“ sagte er.
+„Lebt, blüht, und in den Stunden des Glücks gedenkt
+bisweilen auch des armen Ausgestoßenen! Von mir
+aber sage ich, daß Unglück vielleicht die Mutter der
+Tugend ist. Das hat, glaube ich, Gogol gesagt, ein
+sonst leichtfertiger Schriftsteller, der aber mitunter gute
+Gedanken hat. Ausgestoßen werden – ist Unglück!
+Als unsteter Wanderer werde ich jetzt mit meinem
+Wanderstabe des Weges ziehen und – wer weiß? –
+durch mein Unglück vielleicht immer noch tugendreicher
+werden! Dieser Gedanke ist der einzige mir noch verbliebene
+Trost!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... wohin willst du denn gehen, Foma?“
+fragte mein Onkel erschrocken.
+</p>
+
+<p>
+Alle zuckten zusammen und richteten ihre Blicke auf
+Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Kann ich denn nach der mir zugefügten Kränkung
+noch in diesem Hause bleiben, Oberst?“ fragte Foma
+mit ungeheurer Würde.
+</p>
+
+<p>
+Man ließ ihn nicht weitersprechen: ein wahrer
+Tumult erhob sich und verschlang jedes gesprochene
+Wort. Er wurde wieder in seinen Sessel gesetzt, wurde
+angefleht und beweint, und ich weiß nicht, was noch
+alles mit ihm getan wurde. Natürlich hatte er diesmal
+ebensowenig die Absicht, „dieses Haus“ zu verlassen,
+wie vor seinem Flug durch die Glastür oder wie am
+Abend vorher oder wie damals, als er im Gemüsegarten
+<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a>
+alle Rüben umgrub. Er wußte genau, daß man sich jetzt
+erst recht an ihn klammern werde, – gerade jetzt, nachdem
+er alle glücklich gemacht hatte, alle von neuem an
+ihn glaubten und bereit waren, ihn auf den Händen zu
+tragen und sich das noch zur Ehre anzurechnen. Wahrscheinlich
+war es seine feige Rückkehr – die sehr aus
+eigenem Antriebe geschehen war, als das Gewitter ihn
+erschreckt hatte – die nun seinen Ehrgeiz anstachelte
+und ihn trieb, den Helden zu spielen. In der Hauptsache
+aber war es natürlich die Versuchung, einen
+erhabenen Menschen darzustellen, – die war denn doch
+zu groß! Man konnte so schön reden, das eigene Unglück
+ausmalen, sich selbst erheben und loben – wie sollte
+man da der Versuchung widerstehen? Und so widerstand
+er ihr denn auch nicht: er wollte sich aus den
+Armen der ihn Zurückhaltenden reißen, verlangte einen
+Wanderstab, bat sogar, ihm seine Freiheit wiederzugeben,
+ihn seines Weges ziehen zu lassen: in „diesem Hause“
+sei er entehrt und geschlagen worden, er sei nur aus
+dem Grunde zurückgekehrt, um erst noch das Glück der
+Zurückgebliebenen zu schaffen – wie könne er „im
+Hause der Undankbarkeit“ bleiben? Wie könne er „am
+selben Tische mit ihnen Kohl – wenn auch fettgekochten
+– zu essen fortfahren“? Kohl, der „mit Schlägen gewürzt“
+war? Endlich ließ er sich besänftigen. Er wurde
+wieder in seinen Ruhestuhl gesetzt – doch seine Beredsamkeit
+hatte, wie sich zeigte, auch jetzt noch nicht ihr
+Ende erreicht.
+</p>
+
+<p>
+„Hat man mich denn hier nicht beleidigt?“ rief er
+aus. „Hat man mir hier nicht die Zunge gezeigt?
+Haben denn nicht Sie, Sie selbst, Oberst, wie die ungezogenen
+<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a>
+Kinder in den Vorstadtstraßen mir täglich,
+stündlich die Faust gezeigt? Ja, Oberst! Ich bestehe
+auf diesem Vergleich, weil Sie mir diese Faust, wenn auch
+nicht physisch, so doch moralisch gezeigt haben. Eine
+moralische Faust ist aber in manchen Fällen sogar kränkender
+als eine physische. Von den Schlägen ganz zu
+schweigen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Foma! ... Foma!“ unterbrach ihn mein Onkel.
+„Martere mich nicht mit dieser Erinnerung! Ich habe
+dir gesagt, daß all mein Blut nicht genügen würde, um
+die Tat vergessen zu machen. Sei doch großmütig! Vergiß,
+vergib, bleibe hier und freue dich an unserem Glück!
+Es ist dein Werk, Foma ...“
+</p>
+
+<p>
+„... Ich will lieben, ich will den Menschen lieben,“
+redete Foma unaufhaltsam weiter; „man gibt ihn mir
+aber nicht, man verbietet mir, ihn zu lieben, man nimmt
+ihn mir fort, den Menschen! Gebt mir, gebt mir den
+Menschen, damit ich ihn lieben kann! Wo ist dieser
+Mensch? Wo hat er sich versteckt dieser Mensch? Wie
+Diogenes suche ich ihn mit der Laterne, suche ihn mein
+ganzes Leben lang und kann ihn nicht finden ... und
+kann doch keinen anderen lieben, bevor ich nicht diesen
+Menschen gefunden habe. Wehe dem, der mich zum
+Menschenhasser gemacht hat! Da rufe ich nun: Gebt mir
+den Menschen, auf daß ich ihn lieben kann, und man
+schiebt mir Falalei zu! Werde ich denn einen Falalei
+jemals lieben können? Will ich denn Falalei lieben?
+Kann ich denn Falalei überhaupt lieben, selbst wenn ich
+es <em>wollte</em>? Nein!! Und warum nicht? Weil er
+Falalei ist. Warum liebe ich nicht die ganze Menschheit?
+Weil alles, was es auf der Welt gibt – Falalei ist
+<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a>
+oder Falalei ähnlich ist. Ich will keinen Falalei, ich
+hasse Falalei, ich speie auf Falalei, ich werde Falalei
+erwürgen, und wenn ich wählen soll, so werde ich eher
+Asmodei lieben als Falalei! Komm, komm her, du mein
+ewiger Peiniger, komm her!“ rief er plötzlich dem armen
+Falalei zu, der sich mit dem unschuldigsten Gesicht der
+Welt hinter der Foma umgebenden Schar auf die Fußspitzen
+erhob und mit langgerecktem Hals über die
+Schultern der anderen lauerte. „Komm her! Ich werde
+Ihnen beweisen, Oberst,“ eiferte Foma und zog den vor
+Schreck fast bewußtlosen Falalei an der Hand zu sich
+heran, „ich werde Ihnen die Wahrheit meiner Worte
+über den ewigen Spott und die Beleidigungen beweisen!
+Sprich, Falalei, und sage die Wahrheit: wovon hat dir
+heute nacht geträumt? Sie werden sehen, Oberst, Sie
+werden Ihre Früchte sehen! Nun, Falalei, sprich!“
+</p>
+
+<p>
+Der arme Knabe blickte sich zitternd vor Angst im
+Kreise um und suchte einen Retter in einem von uns,
+doch alle zitterten nur gleich ihm und harrten mit Bangen
+der Antwort.
+</p>
+
+<p>
+„Sprich, Falalei, ich warte!“
+</p>
+
+<p>
+Statt einer Antwort zog Falalei das Gesicht kraus,
+sperrte langsam den Mund auf und brüllte dann los wie
+ein junges Kalb.
+</p>
+
+<p>
+„Oberst! Sehen Sie diesen Eigensinn? Halten Sie
+ihn wirklich für natürlich? Zum letztenmal wende ich
+mich an dich, Falalei, – antworte: wovon hat dir heute
+nacht geträumt?“
+</p>
+
+<p>
+„Von ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sag von mir!“ raunte ihm Bachtschejeff ins
+eine Ohr.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a>
+„Von Euren Tugenden!“ raunte ihm Jeshowikin ins
+andere Ohr.
+</p>
+
+<p>
+Falalei sah sich bloß um.
+</p>
+
+<p>
+„Von ... von einer Ku– ... von einer weißen
+K ... u ... h“ brüllte er schließlich, und ein Strom
+von Tränen ergoß sich über seine roten Backen.
+</p>
+
+<p>
+Alles stöhnte auf.
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch jedoch war diesmal von ganz ungewöhnlicher
+Großmut.
+</p>
+
+<p>
+„Wenigstens sehe ich deine Aufrichtigkeit, Falalei,“
+sagte er, „eine Aufrichtigkeit, die ich bei den anderen
+nicht wahrzunehmen vermag. Gott mit dir! Wenn du
+mich absichtlich mit diesem Traum verspottest, auf Grund
+der Einflüsterung anderer, so wird Gott sowohl dich wie
+diese anderen dafür heimsuchen. Wenn du mich jedoch
+nicht verspotten willst, dann achte ich wenigstens deine
+Aufrichtigkeit; denn selbst in der niedrigsten aller
+Kreaturen, selbst in dir bin ich Gottes Ebenbild zu sehen
+gewohnt ... Ich verzeihe dir, Falalei! Meine Kinder,
+umarmt mich! Ich bleibe! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Er bleibt!“ rief alles begeistert aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bleibe und verzeihe! Oberst, belohnen Sie Falalei
+mit Zucker. Mag auch er an einem solchen
+Freudentage nicht traurig sein!“
+</p>
+
+<p>
+Eine solche Großmut erschien geradezu wunderbar!
+<em>So</em> sich zu sorgen und das noch dazu in einer <em>solchen</em>
+Stunde, und um wen? – um Falalei!
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel beeilte sich, dem Befehl sofort nachzukommen.
+Und schon erschien eine Zuckerdose in Praskowja
+Iljinitschnas Händen. Mein Onkel nahm zuerst
+zwei Stücke, dann drei, ließ sie in der Aufregung fallen,
+<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a>
+und da er schließlich einsah, daß er mit seinen zitternden
+Händen nichts machen konnte, so nahm er einfach die
+Dose und schüttete den ganzen Inhalt Falalei in die
+Bluse.
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Zur Feier eines solchen Tages! Halt fest,
+Falalei ... Das ist für deine Aufrichtigkeit,“ fügte er
+noch als „Moral“ hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Da erschien plötzlich Widopljässoff in der Tür und
+meldete: „Herr Korowkin!“
+</p>
+
+<p>
+Alle waren überrascht. Der Besuch Korowkins kam
+gerade in diesem Augenblick äußerst ungelegen. Alle
+sahen fragend meinen Onkel an.
+</p>
+
+<p>
+„Korowkin!“ rief er etwas bestürzt aus. „Natürlich,
+es freut mich ...“ fügte er mit scheuem Blick auf
+Foma hinzu; „nur weiß ich nicht, soll ich ihn jetzt, in
+diesem Augenblick herbitten lassen ...? Was meinst
+du, Foma?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, nichts!“ sagte Foma gnädig, „fordern Sie den
+Korowkin nur auf, einzutreten, mag er an dem allgemeinen
+Glück teilnehmen.“
+</p>
+
+<p>
+Kurz, Foma Fomitsch war die Güte selbst.
+</p>
+
+<p>
+„Wage untertänigst zu melden,“ bemerkte Widopljässoff,
+„daß Herr Korowkin sich nicht in Ihrem gewöhnlichen
+Zustande zu befinden geruhen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Was faselst du da?“ fuhr mein Onkel erschrocken
+auf.
+</p>
+
+<p>
+„Zu Befehl: der Herr befinden sich nicht in nüchternem
+Zustande ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch noch bevor mein Onkel den Mund auftun,
+erröten, erschrecken und sich besinnen konnte, fand das
+Rätsel schon seine Lösung: in der Tür erschien Herr
+<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a>
+Korowkin in höchsteigener Person, schob den Diener mit
+der Hand zur Seite und trat vor das verwunderte
+Publikum.
+</p>
+
+<p>
+Es war ein mittelgroßer, dicker Herr von vierzig
+Jahren, mit dunklem, über den Kamm geschnittenem,
+grau untermischtem Haar, mit kleinen, geröteten
+Augen, einem roten, runden Gesicht, einer billigen
+Krawatte, die hinten mit einer Gummistrippe schloß,
+und in einem ungewöhnlich abgetragenen Frack, mit
+dem er im Heu und auf der Erde gelegen zu haben schien,
+und der unter den Armen bereits Risse hatte. Dazu
+denke man sich ein unmögliches Beinkleid und eine
+Mütze, die bis zur Unglaublichkeit fettig glänzte, und die
+er noch obendrein wie einen <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Chapeau claque</span> mit gebogenem
+Arm weit von sich hielt. Dieser Herr nun war
+tatsächlich vollkommen betrunken. Er trat bis in die
+Mitte des Zimmers vor, blieb dann stehen und
+schwankte, die Nase gesenkt, wie in tiefem Nachdenken.
+Schließlich weiteten sich langsam seine Mundwinkel, und
+er lächelte übers ganze Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, meine Verehrtesten,“ sagte er, „ich
+... habe ... etwas (er knipste sich an den Kragen)
+hier hinabgegossen!“
+</p>
+
+<p>
+Die Generalin setzte sofort die Miene beleidigter
+Würde auf. Foma, der in seinem Ruhestuhl lehnte,
+maß den exzentrischen Gast mit ironischem Blick. Bachtschejeff
+sah ihn verständnislos an, doch blickte durch
+diese Verständnislosigkeit ein gewisses Mitgefühl. Die
+Verwirrung meines Onkels war unbeschreiblich: er litt
+mit ganzer Seele für Korowkin.
+</p>
+
+<p>
+„Korowkin!“ begann er zwar, „hören Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Attendez</span> gefälligst!“ unterbrach ihn Korowkin.
+„Habe die Ehre, mich vorzustellen: ein Kind der Natur
+... Aber was sehe ich? Hier sind ja Damen ...
+Aber warum hast du mir nicht gesagt, du Schuft, daß
+du hier Damen hast?“ fragte er, sich mit verschlagenem
+Lächeln an meinen Onkel wendend. „Tut nichts! Habe
+keine Angst! ... Stellen wir uns also auch dem schönen
+Geschlechte vor ... Vereh...ehrungswürdige Damen!“
+begann er, während er nur mit Mühe die Zunge bewegte
+und bei jeder Silbe stecken blieb, „Sie sehen einen Unglücklichen
+vor sich, der ... nun ja, und dann so
+weiter ... Das übrige wird nicht ausgesprochen ...
+Musikkapelle! Eine Polka!“
+</p>
+
+<p>
+„Wäre es Ihnen nicht recht, zunächst ein wenig zu
+schlafen?“ fragte Misintschikoff, der ruhig zu ihm trat.
+</p>
+
+<p>
+„Schlafen? Fragen Sie das in beleidigendem
+Sinne?“
+</p>
+
+<p>
+„Durchaus nicht. Wissen Sie, es ist manchmal gut
+nach der Reise ...“
+</p>
+
+<p>
+„Niemals!“ antwortete Korowkin voll Unwillen.
+„Du glaubst, ich sei betrunken? – nicht im geringsten!
+... Aber übrigens, wo schläft man denn hier bei
+euch?“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir, ich werde Sie hinführen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wohin? In den Schuppen? Nein, Freund, mich
+betrügst du nicht! Dort habe ich schon übernachtet ...
+Aber übrigens, führ mich mal zu ... Warum soll man
+nicht gehen – mit einem guten Menschen? ... Ein
+Kissen ist nicht nötig ... ein Soldat braucht kein Kissen.
+Du könntest mir aber, Freund, einen Diwan, einen
+Diwan, weißt du, einen Diwan zusammenstellen ...
+<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a>
+Aber hör (er blieb stehen), du bist, wie ich sehe, ein
+witziger Bruder ... Komponier mir mal so etwas ...
+verstehst du? Etwas, um eine Fliege hinabzuspülen ...
+einzig, um eine Fliege hinabzuspülen, ein ... das heißt,
+ein Gläschen!“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, schön!“ sagte Misintschikoff.
+</p>
+
+<p>
+„Schön ... Aber du, wart doch, man muß sich erst
+verabschieden ... Also: Adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span> und <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdemoiselles</span>!
+... Sie haben mich, wie man sagt,
+durchbohrt ... Aber was! Werden uns später aussprechen
+... nur wecken Sie mich, wenn es anfängt ...
+oder sogar fünf Minuten vor dem Beginn ... ohne
+mich aber bitte – nicht zu beginnen! Hören Sie?
+Nicht zu beginnen!“
+</p>
+
+<p>
+Und der lustige Herr verschwand hinter Misintschikoff.
+</p>
+
+<p>
+Alles schwieg. Niemand begriff, was geschehen war.
+Da begann plötzlich Foma leise, zunächst kaum hörbar zu
+kichern. Dann wurde dieses Kichern immer lauter, bis
+es schließlich in helles Lachen überging. Als die Generalin
+das sah, wurde sie sanftmütiger, wenn auch der
+Ausdruck gekränkter Würde immer noch in ihrem Gesicht
+verblieb. Allmählich erhob sich auf allen Seiten unwillkürlich
+Lachen und Fröhlichkeit. Mein Onkel stand
+wie betäubt auf einem Fleck, errötete fast bis zu Tränen
+und war eine Zeitlang zu keinem Wort fähig.
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott!“ stieß er endlich hervor, „wer hätte
+das ahnen können! Aber ... aber das kann ja doch
+einem jeden passieren, Foma, glaube mir, er ist der ehrlichste,
+der edelste Mensch und außerordentlich belesen,
+Foma ... du wirst es selbst sehen! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a>
+„Sehe schon, sehe schon,“ antwortete Foma, atemlos
+vor Lachen, „ungewöhnlich belesen ... belesen!“
+</p>
+
+<p>
+„Und wie er spricht!“ bemerkte Jeshowikin halblaut.
+</p>
+
+<p>
+„Foma! ...“ rief mein Onkel aus, doch das allgemeine
+Lachen verschlang seine Worte. Foma Fomitsch
+wälzte sich geradezu. Als mein Onkel diese Heiterkeit
+sah, stimmte auch er ein.
+</p>
+
+<p>
+„Weiß Gott, ihr habt recht!“ sagte er lachend. „Du
+bist großmütig, Foma, du hast ein gutes Herz: du hast
+mich glücklich gemacht ... du wirst auch Korowkin verzeihen!“
+</p>
+
+<p>
+Nur Nastenjka lachte nicht. Sie sah nur mit liebeleuchtenden
+Blicken zu ihrem Verlobten auf, als hätte
+sie ihm sagen wollen:
+</p>
+
+<p>
+„Wie lieb du bist, wie gut, und wie lieb ich dich
+habe!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-21">
+<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a>
+<span class="firstline">XVIII.</span><br>
+Schluß.
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">F</span><span class="postfirstchar">omas</span> Sieg war unwiderruflich – war größer
+noch, als man sich denken kann. Es ist ja wahr: ohne
+ihn wäre es nie zu dieser Verlobung gekommen – die
+Tatsache, vor der man mit einem Male stand, hob jeden
+Einwand auf. Die Dankbarkeit der Glücklichen war
+denn auch grenzenlos. Als ich eine kleine Anspielung
+zu machen versuchte, auf welche Weise man Fomas Einwilligung
+erlangt hatte, winkten mir Nastenjka und
+mein Onkel nur flehend mit den Händen ab: nichts
+davon! nichts davon! Ssaschenjka war gleichfalls begeistert
+für den Ehebundstifter: „Der gute, gute Foma
+Fomitsch! Ich werde ihm ein Kissen dafür sticken!“ sagte
+sie und tadelte mich ernstlich, weil ich „so hartherzig“
+sein konnte. Stepan Alexejewitsch Bachtschejeff war
+geradezu verwandelt und hätte mich wahrscheinlich erwürgt,
+wenn es mir nur eingefallen wäre, in seiner
+Gegenwart etwas Schlechtes über Foma zu sagen. Er
+hing jetzt wie ein Schoßhündchen an ihm und sagte zu
+allem, was dieser sprach: „Ein edler Mensch bist du,
+Foma, der Gelehrteste von allen!“ Was Jeshowikin anbetrifft,
+nun – so hatte seine Freude einfach die letzte
+Grenze erreicht. Der Alte hatte es schon lange geahnt,
+daß Jegor Iljitsch in seine Tochter verliebt war, und
+seit der Zeit hatte er Tag und Nacht nur daran gedacht,
+wie er die beiden zusammenbringen und glücklich machen
+könnte. Er hatte die Sache so lange hingezogen, wie es
+nur noch irgend ging, und erst dann abgesagt, als ihm
+nichts anderes mehr übrigblieb. Da hatte – Foma
+<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a>
+ganz unerwarteterweise eingegriffen! Natürlich durchschaute
+der Alte trotz seiner ehrlichen Freude den
+Schmarotzer Foma nur zu gut. Nun war es klar, daß
+Foma Fomitsch sich für sein ganzes Leben in diesem
+Hause festgesetzt hatte und seine Tyrannei hinfort keine
+Schranken mehr kennen werde. Bekanntlich sagt man
+sogar von den unangenehmsten, den launischsten Menschen,
+daß sie sich wenigstens für einige Zeit besänftigen,
+wenn man alle ihre Wünsche erfüllt. Foma Fomitsch
+aber – das konnte man schon damals voraussehen –
+wurde im Gegenteil nur noch hochmütiger, nur noch anspruchsvoller
+und hob die Nase immer noch höher. Kurz
+vor dem Essen, nachdem er sich vollkommen umgekleidet
+hatte, setzte er sich wieder in seinen Ruhestuhl, rief
+meinen Onkel zu sich und begann hierauf in Gegenwart
+der ganzen Versammlung ihm eine neue Predigt zu
+halten.
+</p>
+
+<p>
+„Oberst!“ hub er an, „Sie wollen eine rechtmäßige
+Ehe schließen. Sind Sie sich auch klar ... Sind Sie
+sich auch jener Pflichten bewußt, die ...“ usw.
+</p>
+
+<p>
+Man denke sich zehn Seiten im Format des „Journal
+des Débats“, ganze zehn Seiten, in denen so gut
+wie überhaupt nicht von Pflichten die Rede ist, sondern
+nur von dem Verstande, der Frömmigkeit, der Großmut,
+dem männlichen Charakter und der allgemein menschlichen
+Uneigennützigkeit – Foma Fomitschs. Alle waren
+hungrig, alle wollten essen. Nichtsdestoweniger wagte
+niemand, ihn zu unterbrechen. Alle hörten andächtig
+den ganzen Blödsinn bis zu Ende an. Sogar Bachtschejeff
+saß mit seinem ganzen quälenden Hunger da,
+ohne sich zu rühren, saß mit der größten Ehrfurcht auf
+<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a>
+einem kleinen Stuhl. Nachdem sich dann Foma Fomitsch
+endlich, endlich genügend an seiner Redekunst erfreut
+hatte, ward auch er sehr guter Laune und trank
+bei Tisch sogar ziemlich viel zu seinen unvermeidlichen
+Toasten. Darauf machte er verschiedene Witzchen über
+die Verlobten, und alle lachten und spendeten Beifall.
+Schließlich wurden die Witzchen aber dermaßen
+schlüpfrig und unzweideutig, daß selbst Herr Bachtschejeff
+nicht wußte, wohin er blicken sollte – und daß
+Nastenjka es schließlich nicht mehr aushielt und fortlief.
+Das war für Foma denn ein unbeschreibliches
+Gaudium. Übrigens wußte er sich sogleich zu fassen: in
+kurzen, beredten Worten schilderte er alle ihre Tugenden
+und brachte zum Schluß ein Hoch auf die Abwesenden
+aus. Mein Onkel, der noch vor einer Minute Höllenqualen
+ausgestanden hatte, war jetzt sofort wieder bereit,
+Foma Fomitsch zu umarmen. Es war mir überhaupt
+aufgefallen, daß die beiden Verlobten sich ihres Glücks
+gewissermaßen zu schämen schienen; ich hatte bemerkt,
+daß sie seit dem Augenblick ihrer Verlobung noch so gut
+wie kein Wort untereinander gewechselt hatten. Als die
+Tafel aufgehoben wurde, verschwand mein Onkel plötzlich
+– niemand wußte, wohin. Auf der Suche nach
+ihm war es dann, daß ich zufällig auch auf die Terrasse
+kam. Dort redete Foma im Triumphstuhl und bei einer
+Tasse Kaffee, ersichtlich stark „ermutigt“. Bei ihm
+saßen Jeshowikin, Bachtschejeff und Misintschikoff. Ich
+gesellte mich zu ihnen, um ein wenig zuzuhören.
+</p>
+
+<p>
+„Warum,“ rief Foma aus, „warum bin ich sofort
+bereit, für meine Überzeugungen auf den Scheiterhaufen
+zu gehen? Und warum ist von euch kein einziger
+<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a>
+fähig, den Scheiterhaufen zu besteigen? Warum,
+warum?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das würde ja doch ganz überflüssig sein,
+Foma Fomitsch, sich einen Scheiterhaufen zu leisten!“
+meinte Jeshowikin, der sich natürlich über Foma lustig
+machte. „Was hätte denn das für einen Sinn? Erstens
+ist es doch schmerzhaft und zweitens: verbrennt man dich
+– was bleibt dann noch von dir übrig?“
+</p>
+
+<p>
+„Was von mir übrigbleibt? Edelste Asche bleibt
+übrig! Aber wie solltest du das verstehen! – wie solltest
+du mich richtig zu schätzen verstehen! Für euch gibt es
+keine großen Menschen, außer irgendeinem Cäsar oder
+Alexander von Mazedonien. Doch was hat denn dein
+Cäsar Großes vollbracht? Wen hat er glücklich gemacht?
+Was hat dein gerühmter Alexander der Große getan?
+Die ganze Welt erobert? Aber gib mir nur ein solches
+Heer, wie er es hatte, und ich werde gleichfalls erobern,
+und auch du wirst erobern, und auch jeder Dritte, Vierte
+wird erobern ... Dafür aber hat er den tugendhaften
+Kleitos erstochen, ich aber habe den tugendhaften Kleitos
+<em>nicht</em> erstochen! ... Dieser Schuft! Dieser
+Prahlhans! Ruten müßte man ihm geben, aber nicht
+ihn in der Weltgeschichte unsterblich machen ... Und
+ebenso Cäsar!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber den Cäsar verschonen Sie doch wenigstens,
+Foma Fomitsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Fällt mir nicht ein, den Rüpel! ...“ schrie Foma.
+</p>
+
+<p>
+„Und ’s ist recht so: schone ihn auch nicht!“ griff
+mit Eifer Herr Bachtschejeff auf, der gleichfalls mehr
+als nötig getrunken hatte. „Wozu soll man ihn schonen?
+Alle sind sie Hampelmänner, alle würden sie sich am liebsten
+<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a>
+nur auf einem Fuß um sich selber drehen! Diese
+Wurstmacher! Da wollte vorhin einer von ihnen noch
+ein Stipendium stiften. Was ist denn so ein Stipendium?
+Der Teufel weiß, was es eigentlich bedeutet!
+Könnte wetten, daß es wieder irgend so ’ne neue
+Schweinerei ist. Und jener andere, dort, vorhin,
+schwankt auf den Beinen, schwatzt allen Unsinn zusammen,
+will aber noch Rum trinken! Ich aber denke so:
+Warum soll der Mensch nicht trinken? Trink doch, trink,
+aber dann mußt du auch zu stoppen verstehen ...
+und dann, nach einem Weilchen trink meinethalben
+wieder ... Wozu soll man sie schonen? Alle sind Spitzbuben!
+Nur du allein bist gelehrt und groß, Foma!“
+</p>
+
+<p>
+Wenn Herr Bachtschejeff sich jemandem hingab, so
+gab er sich ihm restlos hin, einwandlos und ohne jede
+Kritik.
+</p>
+
+<p>
+Endlich fand ich meinen Onkel im Garten – im
+entlegensten Teil: hinter dem Weiher. Er war nicht
+allein, sondern mit Nastenjka. Als sie mich erblickte,
+verschwand sie im Augenblick hinter dem Gebüsch, als
+hätte ich sie bei etwas Unrechtem ertappt. Mein Onkel
+kam mir mit strahlendem Gesicht entgegen. In seinen
+Augen standen, glaube ich, Tränen. Er nahm meine
+beiden Hände und drückte sie krampfhaft.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ sagte er, „ich vermag noch immer
+nicht, an mein Glück zu glauben ... Nastjä kann es
+auch noch nicht fassen. Wir wundern uns nur und
+danken dem Höchsten ... Sie weinte soeben ... Wirst
+du mir glauben – ich bin noch nicht zur Besinnung gekommen:
+ich glaube es und glaube es auch wieder nicht!
+Und womit habe ich das nur verdient? Wofür dieses
+<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a>
+Glück? Was habe ich getan? Womit habe ich es
+verdient?“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn jemand Glück verdient hat, so sind Sie es,
+Onkel,“ sagte ich herzlich. „Ich habe noch niemals
+einen so ehrlichen, so guten, so prächtigen Menschen
+gesehen, wie Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Ssergei, nein, das ist zuviel,“ antwortete
+er gleichsam betrübt. „Das ist ja das schlimmste, daß
+wir nur dann gut sind – ich rede natürlich nur von
+mir allein – wenn wir es selbst gut haben; wenn wir
+es aber schlecht haben, dann kommt uns nicht zu nahe!
+Darüber sprachen wir soeben noch, Nastjä und ich. Wie
+erhaben Foma sich auch zeigte, ich habe vielleicht doch
+– wirst du es mir glauben? – bis auf den heutigen
+Tag nicht ganz an ihn geglaubt, wenn ich mir auch
+immer wieder seine Vollkommenheit vorhielt! Selbst
+gestern glaubte ich nicht, nachdem er doch ein solches
+Geschenk zurückgewiesen hatte! Ich muß es zu meiner
+Schande gestehen! Mein Herz zittert, wenn ich daran
+denke, was ich vorhin getan habe! Aber ich war meiner
+nicht mehr mächtig ... Als er das von Nastjä sagte,
+da war es mir, als hätte mich etwas bis ins Herz verwundet.
+Ich verstand ihn nicht und handelte wie ein
+Tiger ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Onkel! – das war sogar sehr richtig –“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel winkte wieder nur ab.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Freund, sprich nicht so! – das kommt
+alles ganz einfach nur von der Verderbtheit meiner
+Natur, weil ich ein grausamer und wollüstiger Egoist
+bin und mich rücksichtslos meinen Leidenschaften hingebe.
+Das sagt auch Foma.“ (Was sollte ich darauf
+<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a>
+erwidern?) „Du weißt nicht, Ssergei,“ fuhr er mit
+tiefem Gefühl fort, „wie oft ich gereizt, unnachsichtig,
+ungerecht, anmaßend gewesen bin – und nicht nur
+Foma gegenüber. Und jetzt habe ich mich alles dessen
+wieder erinnert, es ist mir zum Bewußtsein gekommen,
+und ich schäme mich, daß ich bis jetzt noch nichts getan
+habe, um dieses Glückes würdig zu sein. Nastjä sagte
+soeben Ähnliches von sich, wenn ich auch nicht weiß, was
+sie für Sünden haben könnte; denn sie ist doch ein Engel
+– kein Mensch! Sie sagte mir, daß wir Gott unendlich
+viel schuldig sind, und daß wir uns jetzt bemühen müssen,
+besser zu sein und Gutes zu tun ... Wenn du gehört
+hättest, wie begeistert, wie schön sie sprach! Himmlischer
+Vater, was das für ein Mädchen ist!“
+</p>
+
+<p>
+Er verstummte erregt. Nach einer Weile fuhr er
+fort:
+</p>
+
+<p>
+„Wir haben beschlossen, Freund, vor allem zu Foma
+gut zu sein, zu meiner Mutter und zu Tatjana Iwanowna.
+Aber Tatjana Iwanowna! Was sagst du dazu!
+Was für ein guter Mensch sie ist! Oh, wieviel ich
+allen abzubitten habe! Auch dir, mein Freund ...
+Aber wenn jetzt jemand wagen sollte, Tatjana Iwanowna
+zu beleidigen, oh! dann ... Ach, was rede ich
+da viel! ... Für Misintschikoff muß man auch etwas
+tun.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Onkel, ich habe jetzt meine Meinung über
+Tatjana Iwanowna geändert. Man muß sie hochachten
+und Mitleid mit ihr haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Eben, eben!“ bestätigte mein Onkel eifrig. „Man
+<em>muß</em> sie achten! Und da, zum Beispiel, Korowkin ...
+Du wirst im stillen gewiß über ihn gelacht haben,“
+<a id="page-374" class="pagenum" title="374"></a>
+meinte er mit zaghaftem Seitenblick auf mich, „und
+wir alle haben ja über ihn gelacht ... Aber das war
+doch vielleicht unverzeihlich von uns ... Er kann
+doch der beste, der prächtigste Mensch sein ... Im
+übrigen aber – das Schicksal ... Er hat vielleicht
+viel Unglück gehabt ... Du glaubst es nicht, aber
+es kann doch wirklich so sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, Onkel, warum sollte ich es nicht glauben?“
+</p>
+
+<p>
+Und ich begann ihm auseinanderzusetzen, daß selbst
+in dem gesunkensten Geschöpf sich noch die höchsten
+menschlichen Gefühle erhalten können, daß die Tiefe
+der Menschenseele unergründlich sei, daß man die Gefallenen
+nicht verachten dürfe, sondern im Gegenteil
+versuchen müsse, sie wieder aufzurichten – daß das allgemein
+angenommene Maß des Guten und Bösen und
+des sittlichen Wertes nicht richtig sei, usw. Mit einem
+Wort, ich geriet in Begeisterung und erzählte meinem
+Onkel sogar von der Schule der Materialisten und Skeptiker.
+Zum Schluß zitierte ich noch ein Gedicht von
+Puschkin – „Wenn aus dem Dunkel der Verirrung“ ...
+– kurz, mein Onkel war schließlich auch in vollständiger
+Begeisterung.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund, mein Freund!“ sagte er, bis ins Herz
+gerührt, „du verstehst mich vollkommen, du hast alles,
+was ich selbst sagen wollte, viel besser ausgedrückt, als
+ich es verstanden hätte. So, so ist es, genau so! Herrgott!
+Weshalb ist der Mensch böse? Weshalb bin ich
+so oft böse, wenn es doch so wunderschön ist, gut zu
+sein? Dasselbe hat auch Nastjä soeben gesagt ...
+Aber sieh doch nur, wie schön es hier am Weiher ist,“
+sagte er plötzlich, sich umschauend, „sieh doch diese ganze
+<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a>
+Natur! Welch ein Bild! Sieh mal dort diesen Baum.
+Den Stamm kann kein Mann umfassen! Welche Kraft,
+welch ein Saft, was für Blätter! Und sieh nur die
+Sonne! Wie sauber jetzt alles nach dem Regen ist, wie
+frisch! ... Man könnte ja glauben, daß auch die
+Bäume etwas begreifen, fühlen und das Leben genießen
+... Oder sollten sie es wirklich nicht tun –
+was? Was meinst du?“
+</p>
+
+<p>
+„Warum nicht, Onkel, das ist sehr leicht möglich.
+Auf ihre Art natürlich.“
+</p>
+
+<p>
+„Eben, natürlich auf ihre Art ... Wunderbarer,
+wundervoller Schöpfer! ... Aber du mußt dich doch
+noch gut dieses Gartens entsinnen, Sserjosha? – Wie
+du hier spieltest und umherliefst, als du klein warst! Ich
+erinnere mich noch so gut, wie du klein warst,“ sagte er
+plötzlich und blickte mich mit einem Ausdruck von so
+grenzenloser Liebe und so unfaßlichem Glück an. „Nur
+hierher zum Weiher durftest du nicht allein gehen. Und
+weißt du noch, wie einmal am Abend die selige Katjä
+dich zu sich rief und dich streichelte ... Du warst im
+Garten umhergelaufen, vorher, und deine Bäckchen
+waren ganz rot; dein Haar war noch ganz hellblond und
+ringelte sich zu Löckchen ... Sie spielte mit deinen Locken
+und dann sagte sie: ‚Es ist gut, daß du das Waisenkind
+zu uns genommen hast.‘ Entsinnst du dich dessen noch,
+oder nicht mehr?“
+</p>
+
+<p>
+„Kaum, kaum, lieber Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Es war damals Abend, und die Sonne schien auf
+euch beide, und ich saß in der Ecke, rauchte meine Pfeife
+und sah zu euch hinüber ... Ich ... weißt du, Sserjosha,
+ich fahre in jedem Monat einmal zu ihr, zu ihrem
+<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a>
+Grabe, in die Stadt,“ fügte er mit gesenkter Stimme
+hinzu, deren leises Beben aufsteigende, unterdrückte
+Tränen verriet. „Ich habe auch mit Nastjä vorhin
+davon gesprochen; sie sagte, daß wir jetzt beide zusammen
+zu ihr fahren werden ...“
+</p>
+
+<p>
+Mein Onkel verstummte, um seine Erregung niederzuringen.
+</p>
+
+<p>
+In dem Augenblick näherte sich uns Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Widopljässoff!“ rief mein Onkel erschrocken
+aus, als er ihn erblickte. „Schickt dich Foma Fomitsch?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Herr, ich bin mehr in eigener Angelegenheit
+gekommen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! nun gut! Dann können wir gleich Näheres
+über Korowkin erfahren ... Ich wollte schon vorhin
+nachfragen ... Ich hatte ihm, weißt du, anbefohlen,
+Korowkin zu bewachen. Nun, was ist es, Widopljässoff?“
+</p>
+
+<p>
+„Erlaube mir, zu erinnern,“ sagte der Diener, „daß
+der Herr gestern hinsichtlich meiner Bitte Hilfe zu versprechen
+geruhten, sowie Schutz vor den mir alltäglich
+zugefügten Beleidigungen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du kommst wieder mit deinem Familiennamen?“
+fragte mein Onkel wahrhaft entsetzt.
+</p>
+
+<p>
+„... Die alltäglich und allstündlich mir zugefügten
+Beleidigungen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Widopljässoff, Widopljässoff! Was soll ich
+nur mit dir tun?“ fragte mein Onkel ratlos. „Was
+können denn das für Beleidigungen sein? Wenn das
+so weitergeht, wirst du ja einfach wahnsinnig werden
+und in der Irrenanstalt dein Leben beschließen!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a>
+„Ich glaube, daß ich mit meinem Verstande ...“
+begann Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das ist es doch nicht!“ unterbrach ihn mein
+Onkel. „Ich sage es nur so, nicht um dich zu kränken,
+sondern um dir Vernunft zuzureden. Nun, was können
+denn das für Beleidigungen sein? Es ist doch wahrscheinlich
+nur ein dummer Scherz!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie lassen mich nicht ruhig vorübergehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer das?“
+</p>
+
+<p>
+„Sowohl alle wie vornehmlich diese Matrjona.
+Durch sie muß ich fortan mein ganzes Leben lang leiden.
+Wie bekannt, haben alle vornehmen Menschen, welche
+mich von Kindesbeinen an gesehen haben, gesagt, daß
+ich ganz wie ein Ausländer aussehe, vornehmlich in
+meinem Gesicht. Und deswegen muß ich jetzt dulden!
+Sobald ich nur vorübergehe, schreien mir alle häßliche
+Worte nach – sogar kleine Kinder, die man zu allererst
+durchprügeln müßte, selbst die schreien mir nach ...
+Auch jetzt, als ich herkam, schrien sie wieder ... Und
+das ist zuviel! Wenn der Herr mich zu verteidigen
+geruhen wollten, mit Ihrem Schirm und Schutz –
+denn ich – ... kann ... nicht mehr!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Widopljässoff! ... Was schreien sie dir denn
+nach? Es wird doch bestimmt nur irgendeine Dummheit
+sein, die man überhaupt nicht beachten sollte!“
+</p>
+
+<p>
+„Es läßt sich nicht sagen.“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist ekelhaft auszusprechen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach was, sag es nur!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie rufen: Grischka der Franzose – hat eine rote
+Hose.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a>
+„Nun? Und? Ach, Gott, und ich dachte, daß es
+weiß der Himmel was sei! So spei doch einfach aus
+und geh deines Weges!“
+</p>
+
+<p>
+„Habe gespien: sie schreien dann noch mehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, Onkel,“ sagte ich, „er beklagt sich darüber,
+daß er hier kein Leben habe. So schicken Sie ihn
+doch nach Moskau zu jenem Schönschreiber. Sie sagten
+doch, daß er dort einmal bei einem solchen gewesen sei.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Freund, der hat gleichfalls tragisch geendet!“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie hatten das Unglück,“ sagte Widopljässoff, „sich
+fremdes Eigentum anzueignen, wofür sie, ungeachtet
+ihres ganzen Talents, ins Gefängnis gebracht wurden,
+woselbst sie jetzt unrettbar verloren sind.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut, Widopljässoff: beruhige dich nur. Ich
+werde alles das untersuchen und erledigen,“ sagte mein
+Onkel, „ich verspreche es dir! Nun, aber was macht
+Korowkin? Schläft er?“
+</p>
+
+<p>
+„Mit nichten. Sie haben geruht fortzufahren. Ich
+bin aus diesem Grunde auch gekommen, um seine Abreise
+zu melden.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das – fortgefahren? Was sprichst du? Wie
+hast du ihn denn fortgelassen?“
+</p>
+
+<p>
+„Aus reinem Mitleid. Es war traurig anzusehen.
+Als sie erwachten und sich des Vorgefallenen erinnerten,
+da schlugen sie sich vor den Kopf und schrien herzzerreißend
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Herzzerreißend? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ehrerbietiger gesagt: sie gaben verschiedene Schreie
+von sich. Sie schrien: wie könnten sie sich jetzt noch
+dem schönen Geschlecht zeigen? Und dann sagten sie:
+<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a>
+‚Ich bin des Menschengeschlechts unwürdig!‘ Und so
+sprachen sie die ganze Zeit mitleiderregend und nur in
+gewählten Worten.“
+</p>
+
+<p>
+„Habe ich dir nicht gesagt, Ssergei, daß er ein
+überaus zartfühlender Mensch ist? ... Aber wie konntest
+du ihn denn fortfahren lassen, Widopljässoff, wenn ich
+dir doch anbefohlen hatte, ihn zu bewachen? Ach Gott,
+ach Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Mehr infolge meines Mitleids. Sie baten mich
+himmelhoch, nichts zu erzählen. Der Postknecht, mit
+dem sie gekommen waren, hatte die Pferde inzwischen
+gefüttert und schirrte sie dann wieder an. Und für die
+vor drei Tagen eingehändigte Summe befahlen sie,
+ihren höflichsten Dank zu übermitteln und zu sagen, daß
+sie die Schuld mit der ersten Post zurücksenden würden.“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das für eine Summe, Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie nannten fünfundzwanzig Rubel,“ sagte Widopljässoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das habe ich ihm, weißt du, auf der Station
+geliehen: sein Geld reichte nicht ganz. Er wird es mir
+selbstverständlich mit der nächsten Post zurücksenden, wie
+er gesagt hat ... Ach, mein Gott, wie schade, daß er
+fortgefahren ist! Soll ich ihm nicht nachschicken? Was
+meinst du, Ssergei?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Onkel, schicken Sie ihm lieber nicht nach.“
+</p>
+
+<p>
+„Das denke ich auch. Sieh, Ssergei, ich bin natürlich
+kein Philosoph, aber ich glaube, daß in jedem Menschen
+doch viel mehr Gutes ist, als es äußerlich scheint.
+So ist es auch mit Korowkin: er hat die Schande nicht ertragen
+... Aber gehen wir jetzt zu Foma! Wir haben
+uns sowieso zu lange hier aufgehalten. Er kann sich
+<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a>
+gekränkt fühlen, er kann es als Undankbarkeit, als Unaufmerksamkeit
+auffassen ... Gehen wir also! Nein,
+dieser Korowkin, dieser Korowkin!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="chapter" id="part-22">
+<span class="firstline">Nachbemerkungen.</span>
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Roman ist zu Ende. Die Liebenden sind vereint,
+und der Genius der Güte hat sich in der Person
+Foma Fomitschs endgültig im Herrenhause von Stepantschikowo
+niedergelassen. Zwar könnte man noch
+eine Menge Erklärungen, Erläuterungen usw. hinzufügen,
+doch im Grunde sind diese jetzt ganz überflüssig.
+Wenigstens meiner Meinung nach. An Stelle aller
+Ergänzungen und Zusätze werde ich nur ein paar Worte
+über das fernere Schicksal meiner Helden sagen. Ohne
+das geht es ja bekanntlich nicht! Die Kunst selbst will
+es so! Also –
+</p>
+
+<p>
+Die Trauung des glücklichen Brautpaares fand in
+der sechsten Woche nach ihrer Verlobung statt. Die
+Hochzeit wurde sehr still gefeiert, nur im Familienkreise,
+ohne jeden Pomp und vor allem ohne überflüssige
+Gäste. Misintschikoff und ich waren die Brautführer:
+ich geleitete Nastenjka, er meinen Onkel. Übrigens
+waren doch einige Gäste zugegen. Die erste und wichtigste
+Person war natürlich Foma Fomitsch. Ihm wurde
+alles zu Willen getan – wie auf den Händen wurde er
+getragen. Leider aber sollte es geschehen, daß man einmal
+vergaß, ihm Champagner zu reichen, und sofort –
+hub das alte Lied von neuem an: Foma sprang auf,
+weinte, grölte, lief in sein Zimmer, schloß die Tür zu,
+schrie, daß man ihn jetzt nicht mehr achte, daß jetzt „neue
+<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a>
+Menschen“ in die Familie kämen und folglich er, Foma,
+nichts mehr sei oder nur soviel wie ein Holzspan, den
+man zum Fenster hinauswerfen könne. Mein Onkel
+war verzweifelt, Nastenjka weinte und die Generalin fiel
+nach alter Gewohnheit in Ohnmacht ... Das Hochzeitsmahl
+glich alsbald einem Totenschmaus. Und ein
+solches Zusammenleben mit dem Wohltäter Foma Fomitsch
+stand meinem armen Onkel und der armen
+Nastenjka noch ganze sieben Jahre bevor! Bis zu seinem
+Tode (Foma Fomitsch ist vor einem Jahr gestorben) war
+er eigensinnig, launisch, ärgerte sich täglich und hielt
+allen Moralpredigten. Doch die Ehrfurcht vor ihm verminderte
+sich bei den von ihm Beglückten nicht etwa,
+sondern wuchs noch täglich, stündlich, in genauem Verhältnis
+zur Zunahme seiner Launenhaftigkeit. Jegor
+Iljitsch und Nastenjka waren nämlich so glücklich miteinander,
+daß sie für ihr Glück fürchteten: sie glaubten,
+es sei zu groß, sei von ihnen nicht verdient, Gott gäbe
+ihnen zuviel Glück, und späterhin würden sie es vielleicht
+mit Leid und Kummer bezahlen müssen. So konnte
+Foma Fomitsch in diesem friedlichen Hause buchstäblich
+alles tun, was er nur wollte. Und was tat er nicht
+alles in diesen sieben Jahren! Es ist schwer, ja, es ist
+unmöglich, sich vorzustellen, bis zu welchen zügellosen
+Phantasien sich seine übersättigte, müßige Seele in der
+Erfindung der raffiniertesten Launen einer wahrhaft
+lukullischen Moralität verstieg. Im dritten Jahre nach
+der Heirat meines Onkels starb meine Großtante, die
+Generalin. Der verwaiste Foma war die Verzweiflung
+selbst. Sogar jetzt wird in Stepantschikowo mit wahrem
+Entsetzen von seinem Zustande in diesen Tagen gesprochen.
+<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a>
+Als die Gruft zugeschüttet wurde, wollte er
+sich mit aller Gewalt von den anderen, die ihn krampfhaft
+festhielten, losreißen: in einem fort schrie er, daß
+man ihn zusammen mit ihr beerdigen solle! Einen ganzen
+Monat gab man ihm weder eine Gabel noch ein
+Messer in die Hand, und einmal hatten ganze vier
+Menschen ihm mit Gewalt den Mund öffnen müssen,
+um eine Stecknadel, die er hatte verschlucken wollen,
+wieder herauszunehmen. Jemand von den gleichgültigeren
+Zeugen des Kampfes hat zwar gemeint, daß Foma
+Fomitsch, wenn ihm im Ernst darum zu tun gewesen
+wäre, diese Stecknadel während des Kampfes schon
+tausendmal hätte verschlucken können. Doch diese Behauptung
+war von allen mit entschiedenem Unwillen
+zurückgewiesen worden, und man hatte dem Betreffenden
+sogleich Herzensroheit vorgeworfen. Nur Nastenjka
+schwieg darüber und lächelte kaum merklich, während
+mein Onkel stets ein wenig unruhig wurde, wenn er
+dieses Lächeln sah. Ich muß hier bemerken, daß Foma
+zwar wie ehedem im Hause meines Onkels sich vieles
+herausnehmen und nach Herzenslust launisch sein konnte;
+doch die anmaßenden, die geradezu unverschämten
+Moralpredigten, die er früher meinem Onkel hielt, die
+gab es jetzt nicht mehr. Foma beklagte sich, weinte,
+machte Vorwürfe, tadelte; aber er durfte nicht mehr
+frech werden, – solche Szenen, wie z. B. die wegen des
+Titels Exzellenz, waren jetzt nicht mehr denkbar. Es
+war das, glaube ich, auf Nastenjkas Einfluß zurückzuführen.
+Fast unmerklich zwang sie Foma, in manchem
+nachzugeben und sich in manches zu fügen. Sie duldete
+es nicht, daß ihr Mann beleidigt wurde, und sie setzte
+<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a>
+ihren Willen auch durch. Foma erkannte bald, daß sie
+ihn fast <em>durchschaute</em>. Ich sage: <em>fast</em>; denn andererseits
+verwöhnte Nastenjka ihn gleichfalls und
+stimmte ihrem Mann jedesmal bei, wenn dieser begeistert
+seinen Weisen in den Himmel hob. Sie wollte
+offenbar die Zuhörer zwingen, alles an ihrem Mann
+zu achten, und so suchte sie auch seine Anhänglichkeit an
+Foma Fomitsch vor anderen stets gutzuheißen. Ich bin
+überzeugt, daß ihr gutes Herz alles Leid, das ihr früher
+von ihm zugefügt worden war, verziehen und vergessen
+hatte, wahrscheinlich schon in demselben Augenblick, als
+er sie mit meinem Onkel vereinigte. Außerdem hatte
+sie sich, glaube ich, im Ernst und mit ganzem Herzen dem
+Gedanken hingegeben, daß man von einem „Märtyrer“,
+einem ehemaligen Narren, nicht viel verlangen dürfe,
+sondern ihn pflegen und ihn die „Wunden“ vergessen
+machen müsse. Die arme Nastenjka hatte selbst zu den
+Erniedrigten gehört, sie hatte selbst gelitten und daher
+wußte sie, wie Erniedrigtsein ist. Schon nach einem
+Monat wurde Foma kleinlauter, wurde sogar freundlich
+und bescheiden; dafür aber kamen jetzt neue, überaus
+unerwartete Anfälle: er verfiel nämlich bisweilen in
+einen sogenannten magnetischen Schlaf, der alle zuerst
+heftig erschreckte. Der Arme sprach zum Beispiel etwas
+ganz Gleichgültiges, oder er lachte – und plötzlich war
+er dann erstarrt, und zwar genau in der Stellung, in der
+er sich im letzten Augenblick vor dem Anfall befunden
+hatte: wenn er zum Beispiel gelacht hatte, so erstarrte
+er mit einem lachenden Gesicht; hatte er etwas in der
+Hand gehalten, eine Gabel vielleicht, einen Löffel, so
+blieb die Gabel in der erhobenen Hand. Später sank
+<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a>
+die Hand natürlich nieder, doch Foma Fomitsch fühlte
+nichts und entsann sich auch später nicht, daß sie niedergesunken
+sei. Er saß, sah, blinzelte sogar, sprach jedoch
+nichts, hörte nichts und begriff nichts. Und das dauerte
+mitunter eine ganze Stunde an. Natürlich verging
+dann das ganze Haus fast vor Angst; alle hielten den
+Atem an, schlichen nur auf den Fußspitzen, weinten ...
+bis Foma endlich zu erwachen geruhte. Dann fühlte
+er sich unsäglich erschöpft und versicherte, während der
+ganzen Zeit seines Starrkrampfes nichts gesehen und
+nichts gehört zu haben. Das hatte nämlich wirklich
+noch gefehlt, daß dieser Mensch ganze Stunden lang
+sich freiwillig Qualen auferlegte, einzig zu dem Zweck,
+um dann sagen zu können: „Seht auf mich, seht, um
+wieviel ich mehr empfinde als ihr!“ Einmal geschah es
+auch, daß Foma Fomitsch ganz unvermittelt meinen
+Onkel wegen dessen „Unehrerbietung und fortwährender
+Beleidigungen“ anzeterte und zu Herrn Bachtschejeff
+fuhr, bei dem er fortan leben wollte. Stepan Alexejewitsch
+Bachtschejeff, der nach meines Onkel Verlobung
+und Hochzeit sich noch oft mit Foma gestritten, ihn jedoch
+zu guter Letzt jedesmal wieder um Verzeihung gebeten
+hatte, entschloß sich diesmal mit ungewöhnlichem Eifer,
+energisch in die Sache einzugreifen: er empfing Foma
+mit wahrem Enthusiasmus, fütterte ihn bis zum Platzen
+und beschloß hierauf, sich formell von der Freundschaft
+meines Onkels loszusagen und sogar gerichtlich eine
+Klage gegen ihn einzureichen. Es gab dort irgendwo
+ein strittiges Stück Land, um das sie aber eigentlich nie
+gestritten hatten, da es ihm von meinem Onkel ohne
+jeden Streit freiwillig abgetreten worden war. Ohne
+<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a>
+Foma ein Wort davon zu sagen, ließ Herr Bachtschejeff
+die Pferde anschirren und fuhr in die Stadt, setzte dort
+die Klage auf und reichte sie ein, mit dem Ersuchen,
+ihm formell das Stück Land zuzusprechen, mit Vergütung
+der Zinsen und Erstattung der Gerichtskosten,
+um auf diese Weise die „Räuberei und das eigenmächtige
+Verfahren“ zu bestrafen. Inzwischen aber war es
+Foma langweilig geworden, und so hatte er schon am
+nächsten Tage meinem Onkel – der ihm nachgefahren
+war und um Verzeihung gebeten hatte –, wieder verziehen
+und war dann mit ihm nach Stepantschikowo
+zurückgekehrt. Der Zorn des Herrn Bachtschejeff, der,
+als er zu Hause ankam, Foma nicht mehr vorfand, soll
+fürchterlich gewesen sein. Nach drei Tagen aber erschien
+auch er mit dem Eingeständnis seiner Schuld in
+Stepantschikowo, bat meinen Onkel unter Tränen um
+Verzeihung und zog seine Klage zurück. Mein Onkel
+versöhnte ihn noch am selben Tage auch mit Foma
+Fomitsch, worauf Stepan Alexejewitsch diesem wieder
+wie ein Hündchen ergeben war und zu jedem Wort hinzufügte:
+„Du bist ein kluger und großer Mensch, Foma,
+du bist wirklich mit einem Wort ein Genie!“
+</p>
+
+<p>
+Foma Fomitsch ruht jetzt neben der Generalin. Über
+seinem Grabe erhebt sich ein kostbares Monument aus
+weißem Marmor, das mit Trauerzitaten und Lobpreisungen
+seiner Person von oben bis unten bedeckt ist.
+Zuweilen gehen Jegor Iljitsch und Nastenjka, wenn sie
+einen Spaziergang machen, auch auf den Friedhof, um
+an Fomas Grab zu beten. Auch jetzt noch können sie
+nicht gleichgültig von ihm sprechen, sie erinnern sich
+jedes Wortes, das er gesprochen, aller Speisen, die er
+<a id="page-386" class="pagenum" title="386"></a>
+gern gegessen, und alles dessen, was er geliebt hat.
+Seine Sachen werden wie Kostbarkeiten aufbewahrt.
+Mein Onkel und Nastjä, die sich nach seinem Tode zuerst
+ganz verwaist fühlten, haben sich jetzt noch mehr aneinandergeschlossen.
+Kinder hat Gott ihnen nicht geschenkt
+– sie sind sehr traurig darüber, wagen aber nie zu
+klagen. Ssaschenjka hat schon vor langer Zeit einen
+prächtigen jungen Mann geheiratet. Iljuscha studiert
+in Moskau. So leben denn mein Onkel und Nastjä
+ganz allein in Stepantschikowo und sind immer
+noch genau so verliebt ineinander. Die Sorge des
+einen um den anderen ist geradezu rührend. Wenn
+einer von ihnen früher sterben sollte, was doch wohl
+einmal geschehen wird, so wird ihn der andere, denke ich,
+kaum eine Woche überleben. Doch gebe ihnen Gott noch
+ein langes Leben! Sie empfangen jeden Gast mit unendlicher
+Herzlichkeit und sind bereit, mit einem Unglücklichen
+alles zu teilen, was sie nur haben. Nastenjka
+liest oft die Lebensgeschichten der Heiligen und sagt gerührt,
+daß bloß „bei Gelegenheit Gutes tun“ zu wenig
+sei, man müsse alles, was man hat, den Armen hingeben
+und in freiwilliger Armut glücklich sein. Hätten
+sie nicht Iljuscha und Ssaschenjka, so würde mein Onkel
+wohl schon längst alles unter die Armen verteilt haben;
+denn er ist in allem vollkommen einverstanden mit seiner
+Frau. Praskowja Iljinitschna lebt bei ihnen und tut
+ihnen mit Freuden alles zu Willen. Sie führt vor allem
+die Wirtschaft. Herr Bachtschejeff hat ihr zwar bald
+nach der Hochzeit meines Onkels einen Heiratsantrag
+gemacht, sie aber hat ihn rund abgeschlagen. Daraus
+schloß man zunächst, daß sie wohl ins Kloster gehen wolle
+<a id="page-387" class="pagenum" title="387"></a>
+und werde, aber auch das geschah nicht. Sie hat von
+Natur die bemerkenswerte Eigenschaft, sich vollkommen
+denen zu opfern, die sie liebhat, sich zu jeder Zeit ihnen
+unterzuordnen, ihnen die Wünsche von den Augen abzulesen,
+allen ihren Launen nachzugehen, sie zu warten
+und zu pflegen und zu bedienen. Jetzt, nach dem Tode
+ihrer Mutter, der Generalin, hält sie es für ihre Pflicht,
+bei ihrem Bruder und Nastenjka zu bleiben und sich
+diesen unterzuordnen. Der alte Jeshowikin lebt noch,
+und in der letzten Zeit besucht er seine Tochter immer
+häufiger. Anfangs brachte er meinen Onkel zur Verzweiflung
+damit, daß er sich und seine Krabben (so
+nennt er seine Kinder) mit erklärter Absichtlichkeit von
+Stepantschikowo fernhielt. Alle Aufforderungen seines
+Schwiegersohnes waren fruchtlos: Das geschah jedoch
+von ihm nicht so sehr aus Stolz als aus Empfindlichkeit
+und Argwohn. Der Gedanke, daß man ihn, den Armen,
+aus Barmherzigkeit im reichen Hause empfangen, daß
+man ihn im Herzen aufdringlich und lästig finden könnte
+– dieser Gedanke lastete schwer auf ihm. Er wies sogar
+Nastenjkas Hilfe zurück und nahm nur im äußersten
+Notfall etwas an. Von meinem Onkel wollte er unter
+keiner Bedingung etwas annehmen. Nastenjka hatte
+sich sehr geirrt, als sie mir seinerzeit sagte, ihr Vater
+spiele nur deshalb den Narren, weil er damit ihr, seiner
+Tochter, Nutzen zu bringen hoffe. Freilich wollte er sie
+damals gerne mit dem Oberst verheiraten, aber den
+Narren spielte er doch wohl mehr aus innerem Bedürfnis:
+um der in ihm angesammelten Wut einen Ausgang
+zu verschaffen. Das Bedürfnis, zu spotten und seine
+scharfe Zunge zu üben, war ihm angeboren. So machte
+<a id="page-388" class="pagenum" title="388"></a>
+er aus sich den niedrigsten Schmeichler, um gleichzeitig
+mit nicht mißzuverstehender Deutlichkeit zeigen zu
+können, daß er es nur zum Schein tat. Und je mehr er
+schmeichelte, um so beißender und unverhohlener schaute
+dann aus der Schmeichelei sein Spott hervor. Das lag
+ihm nun einmal im Blut. Schließlich gelang es doch,
+seine „Krabben“ in den besten Lehranstalten Moskaus
+und Petersburgs unterzubringen, aber erst dann, als
+Nastenjka ihm schwarz auf weiß bewiesen hatte, daß
+sie es nicht mit dem Gelde ihres Gatten tue, vielmehr
+mit den Dreißigtausend, die Tatjana Iwanowna ihr zur
+Verlobung geschenkt hatte. Diese dreißigtausend Rubel
+waren in Wirklichkeit natürlich niemals von Tatjana
+Iwanowna angenommen worden; damit diese sich nicht
+gekränkt fühlte, hatte man ihr einfach gesagt, daß man
+sich sogleich an sie wenden werde, sobald man einmal in
+Verlegenheit geraten sollte. Und so tat man denn
+schließlich auch und lieh von ihr „scheinbar“ größere
+Summen. Doch Tatjana Iwanowna starb vor drei
+Jahren, und da fielen Nastjä ihre Dreißigtausend von
+selbst zu. Der Tod Tatjana Iwanownas kam ganz unerwartet.
+Die ganze Familie war von einem benachbarten
+Gutsbesitzer zum Ball eingeladen worden, Tatjana
+Iwanowna hatte sich bereits ihr Ballkleid angezogen
+und einen wundervollen Kranz weißer Rosen ins
+Haar gesteckt, als ihr plötzlich schlecht wurde: sie setzte
+sich auf den nächsten Stuhl und – starb. Mit diesem
+Kranz weißer Rosen wurde sie auch begraben. Nastjä
+war untröstlich. Tatjana Iwanowna war von allen
+wie ein Kind geliebt und verwöhnt worden. Nach
+ihrem Tode setzte sie noch alle durch ihr vernünftiges
+<a id="page-389" class="pagenum" title="389"></a>
+Testament in Erstaunen: außer Nastjäs Dreißigtausend
+hatte sie alles übrige, an dreihunderttausend Rubel, zur
+Erziehung armer Waisenmädchen vermacht, denen bei
+Verlassen der Erziehungsanstalt auch noch eine gewisse
+Summe ausgezahlt werden sollte. Noch vor Tatjana
+Iwanownas Hinscheiden heiratete Fräulein Perepelizyna,
+die nach dem Tode der Generalin ruhig in Stepantschikowo
+verblieben war, wahrscheinlich in der Absicht,
+sich bei Tatjana Iwanowna einzuschmeicheln. Inzwischen
+war aber der Besitzer von Mischino, jenem
+selben kleinen Gut, wohin Obnoskin mit seiner Mutter
+und später mit Tatjana Iwanowna gefahren war, Witwer
+geworden. Dieser ehemalige Beamte war ein entsetzlicher
+Schikaneur. Er hatte von der ersten Frau sechs
+Kinder. Da er bei der Perepelizyna Geld vermutete, so
+machte er gelegentlich einige Andeutungen, die auf eine
+Heirat anspielten. Sie aber warf sich ihm sofort an
+den Hals. Leider war die Perepelizyna arm wie eine
+Kirchenmaus: alles, was sie in die Ehe brachte, waren
+dreihundert Rubel, die Nastenjka ihr zur Hochzeit geschenkt
+hatte. Jetzt führt das Ehepaar vom Morgen
+bis zum Abend Krieg miteinander: sie zieht seine Kinder
+an den Haaren und verabreicht ihnen Ohrfeigen; ihm
+zerkratzt sie das Gesicht (wenigstens erzählt man es in
+der ganzen Umgegend) und hält ihm beständig vor, daß
+sie die Tochter eines Majors sei. – Misintschikoff hat
+sein Leben gleichfalls einzurichten gewußt. Er gab vernünftigerweise
+alle seine Hoffnungen auf Tatjana Iwanowna
+auf und machte sich allmählich daran, die Landwirtschaft
+zu erlernen. Mein Onkel empfahl ihn einem
+reichen Grafen, einem Gutsbesitzer, der etwa achtzig
+<a id="page-390" class="pagenum" title="390"></a>
+Werst von Stepantschikowo dreitausend Seelen besaß,
+doch nur sehr selten sein Gut besuchte. Da der Graf in
+Misintschikoff einige Fähigkeiten entdeckt zu haben
+glaubte und sich im übrigen auf die Empfehlung meines
+Onkels verließ, bot er ihm die Stelle eines Verwalters
+seiner Güter an, nachdem er seinen früheren Verwalter
+fortgejagt hatte – einen Deutschen, der aber trotz der
+berühmten deutschen Ehrlichkeit seinen Grafen gründlich
+bestohlen hatte. Nach fünf Jahren war das Gut nicht
+wiederzuerkennen: die Bauern lebten im Wohlstande;
+Misintschikoff hatte Verwaltungsbücher eingeführt und
+führte sie fehlerlos – was niemand von ihm erwartet
+hätte; die Einnahmen hatten sich verdoppelt – mit
+einem Wort: Der neue Verwalter hatte sich trefflich eingeführt,
+und sein Ruhm ertönte bereits durch das ganze
+Gouvernement. Wie groß aber war die Überraschung
+und der Kummer des Grafen, als Misintschikoff nach
+fünf Jahren, ungeachtet aller Bitten und Gehaltserhöhungen,
+sein Amt niederlegte! Der Graf glaubte,
+daß ihn die Nachbargutsbesitzer fortgelockt hätten oder
+vielleicht sogar jemand aus einem anderen Gouvernement.
+Um wieviel größer war aber das Erstaunen
+aller, als plötzlich, im zweiten Monat nach seinem Austritt,
+Iwan Iwanytsch Misintschikoff ein schönes Gut
+von hundert Seelen besaß, das nur vierzig Werst von
+dem des Grafen entfernt war, und das er von einem
+verschuldeten Husarenoffizier, seinem früheren Regimentskameraden,
+gekauft hatte! Diese hundert Seelen
+verpfändete er sogleich, und nach einem Jahr war er im
+Besitz von noch weiteren sechzig Seelen! Jetzt ist er selbst
+Gutsherr, und seine Wirtschaft ist mustergültig. Alle
+<a id="page-391" class="pagenum" title="391"></a>
+wundern sich und fragen, woher er wohl das Geld dazu
+erhalten haben mag. Einige aber schütteln nur das
+Haupt und schweigen. Iwan Iwanytsch jedoch ist vollkommen
+ruhig und fühlt sich durchaus in seinem Recht.
+Jetzt hat er aus Moskau seine Schwester zu sich gerufen,
+dieselbe, die ihm einst ihre letzten drei Rubel zur Wanderung
+nach Stepantschikowo gegeben hatte – ein sehr
+nettes Mädchen, nicht mehr ganz jung, bescheiden, zärtlich,
+gebildet, nur etwas eingeschüchtert. Vorher hatte
+sie in Moskau als Gesellschafterin bei einer „Wohltäterin“
+gelebt; jetzt hängt sie mit aller Liebe am Bruder,
+führt in seinem Hause die Wirtschaft, hält jeden seiner
+Wünsche für ein Gesetz und sich selbst für vollkommen
+glücklich. Ihr Bruder verwöhnt sie nicht gerade und
+hält sie, wie man zu sagen pflegt, etwas „unter dem
+Daumen“, was sie aber gar nicht zu merken scheint. In
+Stepantschikowo hat man sie sehr liebgewonnen, und es
+heißt, Herr Bachtschejeff sei nicht abgeneigt – ...
+und er würde wohl auch bei ihr anhalten, fürchte aber
+eine Absage. Doch von Herrn Bachtschejeff hoffe ich
+noch ein anderes Mal zu erzählen, in einer neuen Erzählung,
+und dann ausführlicher.
+</p>
+
+<p>
+Das waren, denke ich, alle ... Ja! richtig! fast
+hätte ich vergessen: Gawrila ist sehr gealtert und hat
+sein Französisch ganz und gar verlernt. Aus Falalei
+ist ein guter Kutscher geworden. Der arme Widopljässoff
+aber mußte tatsächlich schon sehr bald in einer Irrenanstalt
+untergebracht werden: er ist dort, wenn ich mich
+nicht täusche, auch schon gestorben ... In den nächsten
+Tagen muß ich nach Stepantschikowo fahren – dann
+werde ich mich bei meinem Onkel nach ihm erkundigen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="footnotes" id="part-23">
+Fußnoten
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bauern, die zur Zelt der Leibeigenschaft den Kirchen und
+Klöstern gehörten. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> Führer des Kosakenaufstandes von 1773, gab sich für
+den ermordeten Peter III. aus, wurde 1775 hingerichtet.
+<span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-3" id="footnote-3">[3]</a> Treu. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-4" id="footnote-4">[4]</a> Schändlich. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-5" id="footnote-5">[5]</a> Von „Bolwann“ – Schafskopf. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p>
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung
+der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren
+Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde
+transkribiert nach:
+</p>
+
+<p class="nowrap center">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br>
+Zweite Abteilung: Sechzehnter Band<br>
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München, 1920.<br>
+6. bis 10. Tausend
+</p>
+
+<p class="skip_in_txt">
+Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen
+Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“
+vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen
+Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw.
+sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
+</p>
+
+<p>
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+</p>
+
+<p>
+Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
+Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“)
+eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen
+wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen:
+Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“.
+Die Schreibweise häufig vorkommender Namen
+wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+</p>
+
+<p class="list">
+Matwejitsch (Matvejitsch)<br>
+Widopljässoff (Widapljässoff)
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... an <span class="underline">des</span> glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...<br>
+... an <a href="#corr-1"><span class="underline">das</span></a> glaubte, was sie predigte. Ja, ich ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... sehr, daß ich Sie getroffen <span class="underline">haben</span>, vielleicht werden Sie ...<br>
+... sehr, daß ich Sie getroffen <a href="#corr-9"><span class="underline">habe</span></a>, vielleicht werden Sie ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... plötzlich mein Onkel. „Das ist, <span class="underline">mußte</span> du wissen, ...<br>
+... plötzlich mein Onkel. „Das ist, <a href="#corr-17"><span class="underline">mußt</span></a> du wissen, ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 75923 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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