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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-05-16 09:21:03 -0700 |
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Schreibweise und Interpunktion des +Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche Druckfehler +sind stillschweigend korrigiert worden. + +Um die Übersicht zu verbessern, sind vom Bearbeiter Kapitelzahlen +eingefügt worden. + +Worte in Antiqua sind so +gekennzeichnet+; gesperrte so: ~gesperrt~ + + +======================================================================= + + + + + Geschwister + Rosenbrock + + + Von + + + Diedrich Speckmann + + + [Illustration] + + + + + Berlin 1921 + Verlag von Martin Warneck + + + + + Erschienen 1911 + + Der Gesamtauflage 62.-71. Tausend + + + Alle Rechte vorbehalten + + + + + Gedruckt in Stuttgart bei J. F. Steinkopf + + + + +Die Schulkinder von Brunsode lagen, des Schönschreibens beflissen, +auf ihren Tischen. Oben knarrte die Feder über holziges Papier, unten +rieb der Griffel knirschend in Schiefer. Ein lustiges Torffeuer, +das im gußeisernen Kanonenofen bullerte, hatte die über Nacht +erblühte Eisblumenherrlichkeit der Fenster schon zerstört und auf +den in greller Januarsonne liegenden, von Eis- und Schneekristallen +blitzenden Schulhof den Blick frei gemacht. + +Diesen begrenzten auf zwei Seiten Doppelreihen schlank aufgeschossener +Tannen. Auf der dritten dagegen, dem Schulhause gegenüber, lief ein +gut zwei Meter hoher Fahrdamm, der mit schimmernden Birken bestanden +und von einem dunklen Schiffgraben begleitet in einer Länge von fast +fünf Kilometern sich schnurgerade vor den vierzig »Stellen« der +Moorkolonie Brunsode hinzog. Die Schule lag genau in der Mitte des +Dorfes und war durch den Damm von der Reihe der Gehöfte getrennt. + +Für Herrn Christian Lenz, der seit mehr als drei Jahrzehnten in +Brunsode die Kinder lehrte und durch seine Frau Engel, geborene +Schnakenberg, sowie durch seine Tochter Käthe, verheiratete Kück, +mit dem halben Dorf verschwägert und versippt war, bedeutete das +von den Tannenwänden abgeschnittene Stück Damm eine recht angenehme +Schaubühne, der er zuzeiten mehr Aufmerksamkeit schenkte, als für den +Unterricht gut war. + +So saß er denn auch heute, während sein Völkchen schön schrieb, +mit übergeschlagenen Beinen auf dem Katheder in seinem bequemen +Binsenarmstuhl, spielte mit dem Lineal und ließ den etwas müden Blick +seiner umschleierten Augen nach rechts zum Fenster hinauswandern. + +Eine winterlich verhüllte Frau ging vorüber, mit einem großen, +weidengeflochtenen Henkelkorb am Arm. Hm, Lachmunds Minna macht +Einkäufe für die große Gasterei, die sie und ihr Jan heut' abend geben +wollen. Christian und Engel Lenz werden dabei nicht fehlen. + +Eine schwarzbunte Kuh, die über die Bühne getrieben wurde, streckte +den Kopf in die Luft und brüllte, daß die ihr vom Maule fliegende +weiße Atemwolke die in der Januarsonne blitzenden Birkenstämme +kreuzte. Und schon hatte Herr Lenz ausgerechnet, wann Schwager Augusts +beste Milchgeberin das Kalb haben würde, das er sich bereits zur +Aufzucht gesichert hatte. Wenn's nur kein Bullenkalb wurde! + +In den gefrorenen Gleisen drüben jankte ein gelber zweiräderiger +Wagen. Der Doktor? Wo mag der so früh schon gewesen sein? ... Der alte +Jan Helmke, Nr. 23, ist auf Besserung ... Ach so, hm, Geschmargret +Rosenbrock, Nr. 40 ... ja, ja ... + +Herrn Lenzens Blick kehrte in das Schulzimmer zurück und ruhte +teilnehmend auf einem kleinen Mädchen mit rosigzarten Bäckchen und +seidigem, von einem himmelblauen Band zusammengehaltenen Flachshaar, +das vornan auf der untersten Bank saß und, das reizende Köpfchen ein +wenig schief haltend, mit Hingebung seine Tafel bemalte. Darauf +wanderte sein Auge nach rechts hinüber, zu einem etwa zehnjährigen +Jungen, der eben eine Pause im Schreiben gemacht hatte und merkwürdig +ernst vor sich hinblickte. + +Ein zu steil gehaltener Griffel kreischte ohrenzerreißend. Herr Lenz +schloß die Augen und machte ein Märtyrergesicht. Dann aber raffte er +sich auf, warf einen energischen Blick in die Klasse und rief: »Köpfe +hoch, Finger gerade! Wie oft soll ich das noch sagen! ... Ich muß wohl +mal kommen.« + +Diese Drohung war jedoch leichter ausgesprochen als ausgeführt. Das +linke übergeschlagene Bein des guten Schulmannes hatte nämlich die +günstige Gelegenheit benutzt, schnell ein bißchen einzuschlafen, und +es dauerte eine Weile, bis es sich richtig wieder auf den Zweck seines +Daseins besann. + +Als Herr Lenz endlich mit Vorsicht, da er jenem noch immer nicht recht +traute, von seinem Katheder heruntertrat, schwenkten die Kleinen, um +Beachtung ihres Geschreibsels bittend, ihm die Schiefertafeln entgegen. + +Er nahm die jenes kleinen Mädchens, das er vorhin still beobachtet +hatte. Zwei große hellbraune Augen schauten aus einem zarten, feinen +Gesichtchen ehrfürchtig und erwartungsvoll zu ihm auf und erglänzten +freudig, als er wohlgefällig nickte und die Tafel mit den Worten +zurückreichte: »Leidchen, du machst das kleine r wirklich schon +recht nett.« Darauf legte er die Hand väterlich wohlwollend auf das +weiche Haar des Kindes, dessen Wangen unter so viel Anerkennung sanft +erröteten. + +Nachdem er sodann den Mittelgang abgeschritten, einige Ausstellungen +gemacht, ein kleines r als Muster an die Wandtafel geschrieben +und drei Torfsoden in die mit dem Rockschlippen geöffnete Ofentür +geworfen hatte, stieg er wieder auf das Katheder, wo er sich mit dem +angenehmen Gefühl erfüllter Pflicht in seinen Armstuhl und die vorige +Beschaulichkeit zurücksinken ließ. + +Aber diesmal war die Ruhe nicht von Dauer. Auf dem frostharten +Schulhof klirrten Holzschuhe, und Herr Lenz sah vom Damm her ein +Mädchen eilig auf das Haus zukommen, das er aber in der winterlichen +Vermummung nicht zu erkennen vermochte. Wahrscheinlich eine neue +Einladung. Das ganze Dorf wollte die üblichen Gastereien bei dem +harten Frost abmachen, und es ging jetzt fast Abend für Abend. + +Er begab sich hinaus, um der Sache auf den Grund zu gehen. Hinter +ihm steckten die Deerns zu einem kleinen Schwatz die Köpfe zusammen, +während ein paar Jungens eine Prügelei vom Zaun brachen. + +»Ruhe!« donnerte es plötzlich in den Lärm hinein, und in der Tür +stehend, rief Herr Lenz in die jäh wiedergekehrte Stille: »Gerd! +Leidchen! Ihr sollt nach Hause kommen. Schnell, schnell!« + +Nach wenigen Sekunden stieg ein stillernst dreinblickender Junge von +etwa zehn Jahren aus seiner Bank und schob, den Tornister schief auf +dem Rücken, durch die Schulstube. Der Schwester, die noch unter dem +Tisch packte, gab er im Vorbeigehen einen Stoß mit dem Ellbogen, um +sie zu größerer Eile anzuspornen. + +Draußen, auf dem Gang, half er ihr in die Winterjacke hinein. Dann +liefen die Kinder, so schnell ihre Füße sie trugen, über den Schulhof +und halblinks die Dammböschung hinauf, bis sie die Magd eingeholt +hatten. + +»Was sollen wir?« fragte Gerd keuchend und seinen Lauf hemmend. + +»Mutter verlangt nach euch,« sagte das Mädchen, »macht, daß ihr +heimkommt!« + +»Ich nehm' die Schlittschuh,« rief der Junge. + +Er hatte sie zu Weihnachten geschenkt bekommen und benutzte die +Schulwege, sich in ihrem Gebrauch zu üben. + +Schon war er den Damm hinuntergesprungen und hockte auf dem zwischen +diesem und dem Schiffgraben laufenden Leinpfad. + +Bald kratzte er, weitausgreifend und mit schlenkernden Armen, die +glatte, schwarze Eisbahn dahin, vorbei an den Mündungen der schmäleren +Gräben, die zwischen den einzelnen Kolonaten sich ins Hochmoor +hinaufzogen, unter den vom Damm zu den Gehöften führenden Holzbrücken +hindurch, im Sprung die trotz fortwährenden Wassergerinnsels fest +umfrorenen Klappstaue nehmend. Einmal fiel er dabei hin, aber noch im +Dahinrutschen kam er wieder auf die Beine. Nach kaum fünf Minuten lief +er, die klappernden Schlittschuhe am Arm, über eine Obstwiese auf das +hundert Schritt vom Damm zurückliegende lange, niedrige Strohdachhaus +mit blaugestrichenem Fachwerk zu. + +Beta Rotermund von Nr. 39 leistete dem Nachbarhause in seiner +Not treulich Hilfe. Als sie den Jungen über die Diele nach der +Krankenstube stürzen sah, rief sie ihm zu, er möchte sich erst wärmen, +ehe er hineinginge. + +Mit ausgebreiteten Armen über das offene Herdfeuer gebeugt, schüttelte +er seine Kleidung, um die darin gefangene Kälte gegen die von den +glühenden Torfbrocken aufsteigende Wärme auszutauschen. Dann streifte +er den Tornister ab und ging auf Zehen in die Stube zur Linken. + +Als er vor der in die Wand gebauten Schlafbutze stand, deren Tür +zurückgeschoben war, rief er leise: »Mutter!« + +Langsam öffneten sich die Augen in dem schmalen, spitzen Gesicht und +sahen ihn groß an. Aber dann irrte ihr Blick suchend an ihm vorbei, +und die fahlen Lippen fragten leise: »Wo ist Leidchen?« + +Gerd sagte, sie würde gleich nachkommen, er wäre nur auf +Schlittschuhen vorangelaufen. + +Die Kranke machte eine Bewegung. Gerd, ihren Wunsch erratend, nahm +ihre heiße, trockene Hand, jedoch ohne sie von der Bettdecke zu +erheben. + +»Ich muß von euch ab, Kinder ... du hilfst dir wohl sacht, Gerd ... +aber Leidchen ... Ich glaub', du bist ein guter, zuverlässiger Junge +... verlaß deine Schwester nicht ... hab' ein Auge auf sie ... sie hat +anders keinen als dich ...« + +Mühsam rangen sich ihr die Worte von den Lippen, und Gerd fühlte einen +leisen Druck der kraftlosen Hand. Diesen mit Schonung erwidernd, sagte +er, indem er einen Ausbruch seines Schmerzes gewaltsam zurückhielt: +»Mutter, darauf kannst du dich fest verlassen.« + +Die Kranke bekam einen ihrer qualvollen Anfälle. Ihre Hand +zurückziehend, wimmerte sie: »Kind, bet' mal!« + +Gerd schaute verlegen drein. + +Sie wiederholte ihren Wunsch dringender. + +Da faltete er die Hände, ließ den Kopf auf die Brust sinken und +begann das Gesangbuchslied, das sie in der Schule gerade lernten. +Dieselben Worte, die er heut' früh schrill dem Lehrer zugeschrien +hatte, sprach er jetzt, wo die Not des Lebens sie ihm abverlangte, +langsam, leise und andächtig: »Was Gott tut, das ist wohlgetan.« Mit +geschlossenen Augen, die Zähne aufeinander gebissen, wiederholte die +schwer Leidende: »... will ich ... ihm ... halten stille ... halten +... stille!« + +Unterdessen trat das kleine Mädchen auf Socken in die Stube und +näherte sich zögernd der Bettstatt. + +»Mein lüttjes süßes Leidchen,« rief die Kranke, den Blick erhebend, +mit aufwallender Zärtlichkeit, »was hast du für schöne rote Backen!« +und ihre weit offenen fieberdurstigen Augen schienen des Kindes +Frische und Lieblichkeit zu trinken. + +Gerd nahm das frostrote Händchen der Schwester, rieb und drückte es +warm und legte es zugleich mit seiner Rechten in die welke Hand, die +auf der rotkarierten Decke lag. Krampfhaft umklammerte die fieberheiße +die von warmem jungen Leben durchpulsten Kinderhände, wie um sie +nimmer loszulassen. Doch bald erschlaffte sie unter Zuckungen. Die +Kinder sahen sich hilflos an und zogen langsam die Hände zurück. + +Nach einer Weile trat Beta Rotermund in die Stube. Auf Wunsch der +Kranken, deren Schmerzen jetzt wieder erträglicher waren, setzte sie +sich dicht vor das Bett, indem die Kinder ihr Platz machten. + +Und nun traf Geschmargret Rosenbrock an dem Ohr der zu ihr +herabgeneigten Nachbarin ihre letzten Anordnungen. Seit vorhin der +Arzt noch einmal bei ihr gewesen, wußte sie ja, wie es um sie stand. + +Auf dem Leinenschrank läge ein geliehener Wollkratzer. Dieser müßte +der Eigentümerin, Meta Frerks, Nr. 37, noch heute zurückgebracht +werden. + +Bei ihrem letzten Kirchgang wäre sie dem Kaufmann Nolte in Grünmoor +eine Mark und fünfundsechzig Pfennige schuldig geblieben. Frau +Rotermund mußte die Summe dem Geldtäschchen unter dem Kopfkissen +der Kranken entnehmen und sie bei nächster Gelegenheit zu bezahlen +versprechen. + +Bis ihr Stiefsohn Jan, der Stellerbe, sich verheiratete, sollte die +kürzlich verwitwete Häuslingsfrau Marie Engelken ihm den Haushalt +führen. Sie hatte diese schon vor einigen Tagen an ihr Bett bitten +lassen und mit ihr darüber gesprochen. Die Nachbarin versprach, die +Augen offenzuhalten und vor allem achtzugeben, daß Gerd und Leidchen +ihr Recht bekämen. + +Das Totenhemd läge in der Eichenlade auf dem Flett zu unterst ... +Das rechts vom Herd hängende Stück vorjährigen Rauchfleisches möchte +beim Dodenbeer zuerst mit aufgeschnitten werden ... In Leidchens +Sonntagskleid wäre eine Naht aufgegangen, die müßte vorher noch genäht +werden ... + +Frau Rotermund nickte, sobald sie einen dieser Wünsche, welche die +Kranke nur mit großer Anstrengung verständlich machen konnte, halbwegs +erraten hatte, und versprach zu guter Letzt noch einmal, alles aufs +beste zu besorgen. + +Als die Uhr in der anderen Stube zwölf schlug, bat die Kranke, die +Nachbarin möchte mit den Kindern zum Essen hinübergehen, die Magd +würde das Mittagbrot wohl auf dem Tische haben. Wie die Frau noch +einen Augenblick zögerte, wollte sie ungeduldig werden. Da gab Beta +Rotermund mit den Augen Gerd und Leidchen einen Wink und schob die +leise sich sträubenden Kinder vor sich her zur Tür hinaus. + + * * * * * + +Es war kurz nach Mitternacht, als Frau Rotermund sich in ihr wollenes +Umschlagetuch hüllte, die Schultern zusammenzog und, unter der +niedrigen Seitentür sich bückend, schuddernd in die sternklare, +schneidend kalte Winternacht hinaustrat. + +Dem nachbarlichen Verkehr dient in Brunsode weniger der öffentliche, +von der Häuserreihe etwas entfernte Fahrdamm als ein Pfad, der durch +die Grenz- und Windschutzgehölze laufend und die trennenden Gräben auf +schmalen Eichenbohlen überschreitend eine kürzere Verbindung zwischen +den Gehöften herstellt. + +Diesem folgte die Frau, aber nicht, um beim eigenen Hause abzubiegen, +sondern, nachdem sie ihr Gehöft überschritten hatte, machte sie erst +vor den Stubenfenstern von Nr. 38 halt. Hier trommelte sie mit dem +Knöchel des Mittelfingers gegen die Scheiben, daß es hart und hell +durch die nächtliche Stille klang. Es dauerte nicht lange, so wurde +von drinnen an den Eisblumen gekratzt. Da rief Beta durch die hohlen +Hände gegen das Fenster: »Geschmargret ist eben eingeschlafen. Kommt +und helft sie bekleiden!« + +Die gleiche Ansage machte sie den beiden nächsten Häusern in der +Dorfreihe. Denn die vier »Nachbarn in Not und Tod« sind durch das +ungeschriebene Gesetz altererbter Sitte zu solchem Dienst jede Tag- +oder Nachtstunde verpflichtet, wenn jemand sich zum letzten Schlaf +gestreckt hat. + +Als Beta Rotermund von ihrem Gange durch die frostklingende Nacht +zurückgekehrt war, nahm sie das Abendmahlskleid der Verblichenen +aus dem Schrank, holte ihr Totenhemd aus der Tiefe der Eichenlade +herauf und legte ein paar Torfbrocken unter den Wasserkessel, den die +Magd auf ihr Geheiß zu Feuer gebracht hatte. Darauf ging sie in die +Wohnstube, um sich zu wärmen und die Frauen zu erwarten. + +In dem niedrigen, mit dicker warmer Luft angefüllten Raum, den eine +Hängelampe vom mittleren Deckbalken her nur schwach erleuchtete, +hockte die Familie beieinander. Jan, des verstorbenen Jan Rosenbrock +Sohn aus erster Ehe, hatte die Fäuste tief in den Hosentaschen +vergraben und machte, mit angezogenen Füßen auf einem gegen die Wand +gekippten Binsenstuhl mehr liegend als sitzend, ein etwas verlegenes +Gesicht, als ob er nicht recht wüßte, wie er sich in diesem Fall zu +benehmen hätte. Das kleine Mädchen lehnte schlafend in einer Ecke +der Ofenbank, Gerd saß steif und steil in der anderen, mit trockenen +rotgeweinten Augen auf einen Fleck starrend. Trina, die Magd, hatte +sich an den Tisch hingelehnt und kämpfte, häufig gähnend, mit der +Müdigkeit. + +»Kinder, es wäre besser für euch, ihr ginget zu Bett,« mahnte Frau +Rotermund mütterlich, indem sie sich einen Stuhl an den Ofen zog und +die verklammten Hände an die warmen Gußplatten hielt. Aber niemand +machte Miene, dem Rat zu folgen. + +Draußen wurden Schritte laut, und gleich darauf trat Meta Frerks +von Nr. 37 in die Stube. Die rundliche kleine Frau hatte von Natur +ein Paar graue, schalkhafte Augen, aber wenn Zeit und Gelegenheit +es verlangten, konnten diese auch leicht und ergiebig weinen. Die +blanken Tränen polterten ihr denn auch nur so über die kugeligen +roten Backen, wie sie die Hingeschiedene beklagte und rühmte und die +landläufigen Tröstungen spendete. Darauf pflanzte sie sich zwischen +die beiden Kinder in die reichlich enge Bank, tätschelte mit der +Linken dem Jungen die Knie und strich mit der Rechten dem erwachenden +Mädchen die Haare aus den Augen, um ihm dann liebkosend über die +rosig verschlafenen Bäckchen zu fahren. Das Kind hatte von solcher +handgreiflichen Zärtlichkeit schnell genug und hielt zum Schutz beide +Arme vor das Gesicht. + +Die bald darauf eintretende, bis auf die Nasenspitze vermummte +Gestalt enthüllte sich als eine hagere Vierzigerin mit gelblichen, +lederartigen Gesichtszügen und kleinen, starren Augen. Anna Wöltjen +und ihr Klaus galten als die »dollsten Quäler« im ganzen Dorf, kamen +aber doch nicht recht vorwärts. Sie waren Sklaven der Torfkuhle +geworden; nicht einmal mehr des Sonntags kam der Torfstaub rein aus +den tiefen Furchen ihrer stumpfen, abgearbeiteten Gesichter. Da der +Torf all ihr Sinnen erfüllte, verpaßten sie in der Ackerwirtschaft +meist die rechte Zeit und das gute Wetter, und manches Stück Vieh +hatten sie in die Erde stecken müssen, weil sie es an sorgfältiger +Pflege, vor allem auch an der nötigen Sauberkeit fehlen ließen. Anna +Wöltjen murmelte ein paar Worte, die zu verstehen sich niemand Mühe +gab, und sackte auf dem nächsten Stuhl nieder. + +»Daß Malwine Böschen noch gar nicht kommt!« sagte Beta Rotermund nach +einer Weile, etwas ungeduldig zur Wanduhr aufblickend, »sie hat doch +von uns allen noch die jüngsten Beine.« + +»Wenn eine erst jung verheiratet ist ...« entschuldigte die gutmütige +Meta Frerks mit verstehendem Lächeln. + +»Na, ich sollt' meinen, aus den Honigwochen wären sie heraus,« sagte +Anna Wöltjen mit ihrer blechernen Stimme. + +Meta Frerks hob horchend den Kopf: »Ich hör ihre Hollschen all, sie +geht grad' über den Steg. Was das diese Nacht weit klingen tut!« + +Die schmucke, blühende Frau, die bald darauf eintrat, sah trotz des +Ganges durch die schneidende Kälte ein wenig verschlafen aus und +machte einen etwas verlegenen Eindruck. Erst im letzten Herbst hatte +sie in das Dorf hineingeheiratet und sich noch nicht recht in der +Nachbarschaft eingelebt. + +Nachdem Beta Rotermund das junge Volk noch einmal vermahnt hatte, +endlich das nutzlose Herumsitzen aufzugeben, führte sie die Frauen +dahin, wo die traurige Pflicht ihrer wartete. + +Diese warfen einen halb scheuen, halb neugierigen Blick auf das +spitze, wächserne Gesicht im Bettschrank, hielten eine Vaterunserlänge +die Köpfe auf die Brust gesenkt und die Hände gefaltet, dann machten +sie sich schweigend an die Arbeit, indem sie durch Zeichen und +Flüstern sich leicht verständigten. + +Als nach Brauch und Herkommen alles besorgt, auch das Zimmer gesäubert +und der Fußboden mit weißem Sand bestreut war, betrachteten sie ihr +Werk nicht ohne Befriedigung. Man fand, die gute Geschmargret sähe nun +aus wie eine sanft und friedlich Schlafende. + +»Wenn einer erst so weit wäre ...« seufzte Meta Frerks, die +lebenslustigste von allen, und sie fühlte in diesem Augenblick +auch so, wie sie sprach. Als aber Beta Rotermund, die während der +Aufräumungsarbeiten sich draußen am Herde zu schaffen gemacht hatte, +fragte, ob sie jetzt in der andern Stube eine Tasse heißen Kaffee +trinken wollten, nickte sie sehr erfreut und war die erste, die +schnell und gern der Einladung folgte. + +Die Jugend des Hauses hatte sich inzwischen in ihre Butzen und Kammern +zurückgezogen, und die Frauen waren froh, daß sie das Reich allein +hatten. Nachdem sie einige Torfbrocken im Ofen nachgelegt und den +Tisch dicht an diesen herangeschoben hatten, rückten sie so eng als +möglich um die dampfende Kaffeekanne zusammen, die ihren duftenden +braunen Labetrank in goldig umränderte Tassen ergoß. Es waren die +feinsten des Hauses, die Meta Frerks der besonderen Gelegenheit wegen +dem Glasschrank entnommen und schnell mit der Schürze ausgewischt +hatte. Geschmargret Rosenbrock hatte sie von ihr selbst einst zur +Hochzeit geschenkt bekommen. Mitten auf dem Tisch stand ein bunter +Teller mit Butterkuchen, den Vater Rotermund der kranken Nachbarin +gestern frisch von Worpswede mitgebracht hatte. Die hatte nicht mehr +von ihm gekostet, aber jetzt fand das lockere, zuckerbestreute Gebäck +seine Liebhaber, und die kundigen Zungen schmeckten schnell heraus, +daß es vom Bäcker Soltmann stammte, der am schmackhaftesten zu backen +pflegte. Der Kaffee wurde mit behaglichem Schlürfen getrunken. Nach +Erfüllung der traurigen Pflicht war ein Stündchen freundnachbarlicher +Geselligkeit gutes Recht und seelisches Bedürfnis. Man war ja Nachbar +nicht bloß für Not und Tod, sondern gottlob auch für die angenehmeren +Seiten des Daseins. + +Ach ja, das menschliche Leben ... Wer hätte gedacht, daß die gute +Geschmargret so früh dahin mußte. Nach Ostern hatte sie noch im +Torf geholfen und bei der zweiten Heuernte noch mit abgeladen. Es +wurden mancherlei Erinnerungen wach: was sie bei dieser Gelegenheit +gesagt, bei jener getan, wie sie sich in ihre Stellung als zweite +Frau und Stiefmutter gefunden hatte, und dergleichen. Die einzelnen +Züge ergaben zusammen das Bild einer schlichten, fleißigen, stets +freundlich hilfsbereiten, von allen wohlgelittenen Frau. + +Endlich sprang die Unterhaltung auf die Kinder des Hauses über. + +Jan, der Erbe und jetzige Stellbesitzer ... Hmhm, Kopfschütteln, +bedenkliche Mienen. Man konnte sich nicht verhehlen, daß er in den +letzten Jahren, seit des Vaters Tode, ein rechter Schleef geworden +war. Die Stiefmutter war ihm gegenüber vielleicht doch zu gut und +weich gewesen. Hoffentlich bekam er einmal die richtige Frau, die +noch einen ordentlichen Menschen aus ihm machte. Ob er schon auf +Freiersfüßen ging? Ernstlich wohl noch nicht. Aber jetzt machte er +gewiß bald Anstalten. Das half ja auch nichts; eine Frau mußte wieder +ins Haus, die Haushälterin konnte nur für kurze Zeit ein Notbehelf +sein. + +Gerd und Leidchen ... Ach ja, die armen kleinen Dinger ... Und +so fixe, brave Kinder ... Gerd, über seine Jahre verständig und +ernsthaft, und so ein feines kleines Mädchen wie Leidchen sollte +man weit umher suchen. Cord Rosenbrock, der Kinder Vatersbruder und +Vormund, wär' ein gar zu gleichgültiger Mensch, ein rechter Liekeväl, +und würde sich wohl nicht viel um sie kümmern. Da müßten die Nachbarn +fleißig zum Rechten sehen, das verlange die Christenpflicht, und man +wäre es der guten Seligen auch schuldig. Ach ja, ja, ja ... + +Plötzlich horchten die Frauen erschrocken auf. In der Butze nebenan +regte sich etwas, und schon wurde die Tür zurückgeschoben, und das +kleine Mädchen kam herausgestiegen. Zitternd stand es da in seinem +kurzen Hemdchen, sah die gestörte Kaffeegesellschaft mit den großen +braunen Augen an und fragte: »Was macht ihr hier?« + +»Wir haben deine Mutter fein angekleidet,« sagte Beta Rotermund, das +Kind an sich ziehend. »Nun trinken wir 'ne Tasse Kaffee.« + +»Komm mal 'n bißchen auf meinen Schoß, lüttje Deern,« sagte Meta +Frerks und hob sie auf ihre Knie. Dann reichte sie ihr einen Streifen +Butterkuchen, und das Kind stopfte und kaute, denn Butterkuchen +gab's nicht jeden Tag. Darauf knabberten die kleinen Zähne ein Stück +Kandiszucker, das Malwine aus der Dose schenkte. »Sososiso,« sagte +Meta Frerks, »nun leg' ich unser Herzenskind wieder ins Bett, und es +schläft süß die ganze Nacht. Huh, draußen ist's so kalt, und all die +kleinen Piepvögel müssen so frieren. Soso, nun mach' ich die Tür zu, +du brauchst gar nicht bange zu sein, mein' Deern, die lieben Tanten +sollen alle hier bleiben.« + +Ein Weilchen ruhte die Unterhaltung. Nur Seufzer und traurige Blicke, +von Kopfschütteln begleitet, gingen hin und her. + +Als das Gespräch nach und nach wieder in Gang kam, begann es freiere +Bahnen zu wandeln. Der betrübende Fall war ja nun nach allen Seiten +hin erörtert und erschöpft, da drängte das eigene Leben, mit seinen +Sorgen und Leiden, Freuden und Hoffnungen, sich wieder vor. Auch des +lieben Nächsten gedachte die mitternächtliche Kaffeegesellschaft, im +Guten wie im Bösen. Meta Frerks, die am Tage vorher von einer Gasterei +im unteren Dorf einen ganzen Sack voll Neuigkeiten mitgebracht hatte, +fand für diese die aufmerksamsten Ohren; zumal, als sie von einer +Hochzeit berichtete, die etwas plötzlich in Sicht gekommen war. + +So enteilten die Viertel-, halben und ganzen Stunden, bis die Wanduhr +auf einmal fünf kurze, klirrende Schläge tat. + +»Kinners!« rief Beta Rotermund erschrocken, »wir müssen nun aber bald +Feierabend machen!« + +Aber niemand traf Anstalten, sich zu erheben. Über den Schlaf war man +doch einmal hinweg, es verlohnte sich auch nicht mehr, noch wieder +ins Bett zu steigen. Draußen fror es Pickelsteine, um den warmen +Ofen dagegen hatte die Behaglichkeit stetig zugenommen. Die Nähe der +Toten störte diese durchaus nicht. Die gute Geschmargert war ja von +schwerem, unheilbarem Leiden erlöst, man hatte seine Pflicht an ihr +getan, und wenn die Gedanken noch einmal zu ihr hinübereilten, freute +man sich im stillen, daß einem selber das liebe Leben noch nicht +entwichen war. Sogar Anna Wöltjen war ganz menschlich geworden, und +die junge Malwine Böschen längst aufgetaut. Diese paar Stunden hatten +sie den Nachbarinnen näher gebracht, als die vier Monate, die sie +unter ihnen gelebt hatte, und sie verriet ihnen, daß sie sich guter +Hoffnung fühlte. Da sahen alle drei sie schwesterlich teilnehmend an, +und Beta Rotermund sagte, nachdenklich vor sich hin nickend: »Ja, ja, +so geht's zu in der Welt: der eine geht, der andere kommt.« + +Als sie endlich daran erinnerte, daß es Zeit würde zum Melken, +erhoben sich alle aus dem warmen, gemütlichen Winkel. Man suchte die +Umschlagetücher, schnackte auf dem Flett ein Weilchen im Stehen, +stattete der still gewordenen Nachbarin noch einen stummen Besuch ab, +bei dem sich wieder einige Seufzer lösten, und machte sich endlich auf +den Heimweg. An den Leitstangen sich haltend, schurrten die Frauen +vorsichtig über die glattgefrorenen schmalen Eichenbohlen der Gräben, +und bei jedem Hause schwenkte eine mit kurzem Gutenachtgruß ab. Bei +jedem Abschied noch einmal wieder stehenzubleiben, verbot die gar zu +grimmige Kälte. + + * * * * * + +Langsam und feierlich, den hohen Hut auf dem ergrauenden Kopf und das +Gesangbuch mit goldenem Kreuz in der schwarzbeschuhten Rechten, kam +Herr Lenz von dem Fahrdamm auf das Trauerhaus zugeschritten. + +Was Geschmargret Rosenbrock die letzte Ehre erweisen wollte, war schon +vollzählig versammelt. Das obere Dorf, bis zur Schule, war Haus für +Haus vertreten, aber auch das untere hatte eine stattliche Anzahl zum +Gefolge geschickt. Die Frauen saßen in den Stuben und tranken Kaffee. +Die Männer, die meist auf der Herddiele umherstanden, ließen ein paar +Flaschen kreisen. Diese mußten öfter als gewöhnlich aus dem irdenen +Kruge von neuem gefüllt werden; denn die Kälte hatte noch nicht im +geringsten nachgelassen und nur wenige waren im Besitz eines wärmenden +Überziehers. + +Herr Lenz nahm in der Wohnstube ein Glas Grog an, »wegen der +schneidenden Luft,« wie er halb entschuldigend bemerkte. Als er es +geleert hatte, wechselte er einen Blick mit Beta Rotermund, die +heute im Haus das Sagen hatte, strich sich den Bart und trat voll +Würde auf die große Diele hinaus, wo er am Kopfende des über Stühlen +aufgestellten Sarges Aufstellung nahm. Die Singjungens sammelten +sich ihm zur Linken, den Platz an seiner Rechten wies er durch +eine Handbewegung den Hinterbliebenen an. Aber nur die beiden +Kinder kamen, Jan zog es vor, als weniger beteiligt, sich etwas im +Hintergrunde zu halten. Eine Kuh, die brüllend den Kopf vorstreckte, +bekam einen mißbilligenden Blick, woraufhin einer der umstehenden +Männer ihr einen Stoß gegen den Hals gab. + +Und dann feierte Herr Lenz, nachdem er ein Sterbelied hatte +singen lassen, die stille Frau zwischen den mit Sago beklebten +schwarzlackierten Brettern als treue Gattin, liebevolle Mutter, +fleißige Arbeiterin und geduldige Kreuzträgerin. Darauf wandte er +sich halbrechts zu ihren Kindern, malte mit grellen Farben das Elend +verlassener Waisen und tröstete, die Hand wie segnend erhoben, Gott, +der Witwen und Waisen Vater, werde sie nicht verlassen noch versäumen. + +Herr Lenz liebte das große Wort und die feierliche Gebärde, und die +Brunsoder waren stolz darauf, daß sie bei solchen Gelegenheiten keinem +der fünfzehn Lehrer des Kirchspiels so zu Gebote standen, wie ihrem +guten Lenz. Ja, nicht einmal der alte Pastor in Grünmoor konnte es so +rührend machen und die Tränen so locken wie er. Diese flossen denn +auch jetzt gar reichlich. In diesem Lande, wo das Wasser überall rinnt +und sickert, sitzt es auch über den Augen recht lose. + +Gerd aber stand mit trockenen Augen, den Kopf auf die Brust gesenkt +und die Hände über der Mütze gefaltet. Er hatte sich in der Stille +der letzten Tage ausgeweint, und daß er vom Lehrer, den er im Grunde +nicht liebte, zum Gegenstand des allgemeinen Mitleids gemacht wurde, +berührte ihn peinlich. + +Das kleine Mädchen verstand von all den schallenden Worten so gut wie +nichts. Das feierliche Gepränge an der Stätte, wo sie zu Füßen der +Mutter mit Polli, Musch und Poppedeidei gespielt hatte, bedrückte und +verwirrte ihren kindlichen Geist. Im roten Sonntagskleidchen stand +sie an des Bruders Seite und sah aus der dunkelblauen Wollkapuze, +die ihr feines Gesichtchen umrahmte, mit den großen, unschuldigen, +lichtbraunen Augen verwundert zu den schwarzen Menschen auf, die so +todernste Mienen zeigten oder sich im Gesicht herumwischten. Eine +Zeitlang lenkte ein schmaler Lichtstreif, der hell und warm auf dem +Kinde lag, manchen still verwunderten Blick nach ihm hin. Denn solche +Lieblichkeit und Frische erblüht nur selten unter dem hart arbeitenden +Geschlecht des schwarzbraunen Moorlandes. + +Als der Wagen in den zerfahrenen und gefrorenen Gleisen des Dammes +knarrte, saß Leidchen eng und warm verpackt zwischen zwei Frauen, +und ihre Blicke wanderten über den Sarg vor ihren Knien in die Welt +hinaus, die mit Hochmooren, Ackerbreiten, Wiesen und Reihendörfern im +schönsten Wintersonnenglanze sich vor ihr dehnte. Es war ihre erste +Fahrt, von der allerersten im Steckkissen, zur Taufe, abgesehen. Gerd +schritt indessen, die frierenden Hände in den Jackentaschen vergraben, +als einziger unmittelbar hinter dem Wagen; denn das Gefolge hatte sich +schnell in Gruppen aufgelöst, die nach und nach zurückblieben und den +anderthalbstündigen Weg durch Unterhaltung zu kürzen suchten. + +Das ausgedehnte Kirchspiel Grünmoor hatte nur eine einzige sandige +Bodenerhebung, die es gestattet, den Toten aus den achtzehn Kolonien +trockene Ruhestätten zu geben. Hier ist darum auch um das schlichte, +den ersten Ansiedlern vom Landesherrn geschenkte Gotteshaus der +geräumige Friedhof angelegt worden. In seiner Anlage und Aufteilung +zeigt er ein ziemlich getreues Bild der Gemeinde im kleinen. Den +langen Reihendörfern entsprechen hier die Reihen der Erbbegräbnisse. +Die im Leben Nachbarn waren, werden es im Tode wieder. Die +Rosenbrocks, Rotermunds, Frerks, Wöltjens und Böschens wohnen auch +hier freundnachbarlich beieinander. + +Die zunehmende Wohlhabenheit einzelner Moordörfer zeigt sich hier und +da in unschönen protzigen Denkmälern aus Zementguß. Die Kolonisten +der ärmeren Dörfer, zu denen auch Brunsode gehört, setzen wohl +einmal ein Kreuz aus Tannenholz, das in wenig Jahren zerfällt; im +übrigen begnügen sie sich mit dem grünen Schmuck, den die Natur ihren +Ruhestätten verliehen hat. + +Das Rosenbrocksche Erbbegräbnis bezeichnet ein hochragender +dunkelgrüner Wacholder. Der erste Brunsoder Rosenbrock hatte den Baum, +der heute als einer der stattlichsten des Friedhofs in winterlichem +Prachtgeschmeide funkelte, vor mehr als hundert Jahren von den +Heiden seiner Geestheimat ins Moor herabgeholt, um ihn seiner jung +verstorbenen Frau zum Gedächtnis zu pflanzen. Zu seinen Füßen hatte +des Totengräbers Hacke, Axt und Spaten in mehrstündiger Arbeit das +hart und tief gefrorene Erdreich geöffnet. + +Nachbar Wöltjen, der tappige Mensch, stach beim Schließen des Grabes +nicht wie die andern nach dem losen Sande, sondern ließ die gefrorenen +Erdklumpen auf den Sargdeckel poltern. Da schmiegte sich die Schwester +unwillkürlich enger an den Bruder, und der legte wie schützend den Arm +um sie. + +So fand Geschmargret Rosenbrock ihre Ruhe, im Schatten des ehrwürdigen +Wacholderbaumes, dem Staube der andern gesellt, die vor ihr in +Brunsode auf Stelle Nr. 40 sich müde gearbeitet und schlafen gelegt +hatten. Die Kinder aber, denen sie das Leben geschenkt, sollten sich +nun allein ihren Weg suchen. Den Weg durch das bunte und schöne, wilde +und wirre, ernste und große Leben. + + + + + 2. + + +Vor der Brunsoder Schuljugend stand ein neuer Mann. Er war an der +Weserkante zu Hause, kam frisch vom Seminar in Bederkesa, und die +Kinder mußten ihn Herr Timmermann nennen. + +Der junge Schulmann, noch in der ersten Begeisterung für seinen +Beruf glühend, strengte die Stimme mehr als nötig an, war darauf +bedacht, seine lang aufgeschossene Gestalt straff zu halten und gab +sich redliche Mühe, aus den sanft blauen Augen energische Blicke +zu schießen. Der rote Binsenarmstuhl, den sein wegen Kränklichkeit +pensionierter Vorgänger schwarz und blank gesessen hatte, war für ihn +nicht vorhanden, und dessen Schaubühne auf dem Fahrdamm hatte er noch +nicht einmal entdeckt. + +Aber heute ließ Herr Otto Timmermann doch des öfteren den Blick +halbrechts über die Kinderköpfe zum Fenster hinausschweifen, jedoch +weniger neugierig als träumerisch froh. Denn dort draußen war etwas +sehr Hübsches zu sehen. Wo tagelang ein ödes, schweres Nebelgrau +gedrückt hatte, da war heute auf einmal ein weißes, weiches, molliges +Schweben. Der erste Schnee kam sachte zur Erde nieder, in so großen +Flocken, wie der junge Mann sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu +haben, und so wunderbar weiß, daß die schönen glatten Birkenstämme +drüben auf einmal schmutziggrau dagegen erschienen. + +Herr Timmermann rieb sich voll Behagen die Hände. Nach den +Jahren des kasernenartigen Seminarlebens zum erstenmal im +eigenen Heim einzuschneien, so recht tief einzuschneien, mit dem +Lieblingsschwesterchen, das ihm Haus hielt, und mit seinen Kindern, +an denen er die mit redlichem Fleiß erworbenen pädagogischen Künste +erproben sollte -- er war der Mann danach, um so etwas zu schätzen. + +Es traf sich gut, daß er sein Völkchen gerade nicht in allerhand +Fernen und Höhen zu entführen brauchte. Der Stundenplan, der, +säuberlich geschrieben, unter Glas und Rahmen an der Wand hing, +schrieb nämlich Heimatkunde vor, und der junge Lehrer hatte am Abend +vorher die Moorkolonie Brunsode, nachdem er ihre Belegenheit auf +nachmittäglichen Spaziergängen erkundet, mit ihren Gehöften, Dämmen +und Gräben fein rechtwinkelig und geradlinig, wie der Königliche +Moorkommissarius Jürgen Christian Findorf sie vor vier Menschenaltern +angelegt hatte, auf die Wandtafel gezeichnet. Dabei hatte er +eigentlich nur an die jüngeren Jahrgänge gedacht, aber auch die Großen +zeigten für das Kunstwerk seines Kreidestifts solches Interesse, +daß er sie gern teilnehmen ließ und die Gelegenheit benutzte, +ihnen den Unterschied zwischen den uralten, aus sagenhaftem Dunkel +herüberkommenden Siedelungen der Geest und den jungen, künstlich und +planmäßig angelegten Moorkolonien klarzumachen. Während der vier +Wochen, die Herr Timmermann seines Schulamts waltete, waren seine +Kinder noch niemals so Auge und Ohr gewesen, wie eben jetzt, und +noch nie hatte ihm das Unterrichten solche Freude gemacht. Zuletzt +stimmte er gar eine Art Hymnus auf das Moor an, das ihm nach den +Lern- und Wanderjahren, wie es schien, schnell zur zweiten Heimat +werden wollte. »Das Moor, liebe Kinder,« rief er begeistert aus, »hat +noch eine schöne Zukunft. Wenn eure Urgroßväter, die als jüngere +Bauernsöhne oder arme Häuslinge es wagten, in das wilde Sumpfland +hinabzusteigen, einmal ihre Ruhekammern auf dem Kirchhof in Grünmoor +verlassen könnten und die Dorfreihe mit den schmucken Häusern und den +grünen Feldern dahinter entlang wanderten, was würden sie für Augen +machen! Und wenn ihr Jungen die Hände nicht in den Schoß legt, sondern +tüchtig weiter arbeitet, wird die Zeit kommen, wo das ganze einst so +schaurige und verrufene Teufelsmoor in einen weiten, grünen, blühenden +Gottesgarten umgewandelt ist. Ihr, Knaben und Mädchen, habt die schöne +Lebensaufgabe, eure Heimat diesem Ziele näher zu bringen.« + +»Das ist uns mal nett gelungen,« belobigte Herr Timmermann sich selbst +und blickte, sich eine Pause gönnend, träumerisch in das Geschwebe +der Schneeflocken, die sich weiß und weich auf das so zukunftsreiche, +hoffnungsvolle Land legten. + +»Nun wollen wir mal sehen, was ihr behalten habt,« begann +Herr Timmermann, wieder zu den Kindern gewendet, und fing an, +Wiederholungsfragen zu stellen. Aber da kam in die bislang so glatt +und angenehm verlaufene Unterrichtsstunde plötzlich eine Störung. + +»Adelheid, komm und zeig mir auf der Wandtafel mal unsere Schule!« +hatte Herr Timmermann, seiner Zeichnung zugekehrt, gutgelaunt gerufen. + +Aber es erschien keine Adelheid. + +Sich herumwerfend, schoß er den schärfsten Pädagogenblick, den seine +Augen zu versenden hatten, nach der dritten Mädchenbank hinüber: +»Adelheid Rosenbrock! Schläfst du?« + +Jetzt erhob sich, offenbar widerwillig, ein elfjähriges Mädchen und +kam, das Mäulchen schief ziehend und die neuen Holzschuhe aus rotem +Ellernholz über den Boden schleifend, langsam den Mittelgang daher. + +»Zurück, marsch marsch, an deinen Platz! Ich will dir Beine machen.« + +Trapp trapp -- trapp trapp, machte das Ellernholz auf den Tannendielen. + +»Wisch mir die ganze Schule nicht weg, du dumme Deern!« rief Herr +Timmermann ärgerlich und fuhr sogleich mit der Kreide hinterdrein, um +den Schaden, den die tappigen Finger angerichtet hatten, wieder gut +zu machen. Dann sah er mit gestrenger Miene auf das vor ihm stehende +Mädchen herab und sagte: »Was, Adelheid? Du willst dich hier auf den +kleinen Trotzkopf hinaus spielen? Damit kommst du bei mir aber an den +Verkehrten. Jetzt sagst du mir auf der Stelle, warum du nicht gleich +kamst, als ich dich rief!« + +»Weil ich überhaupt nicht Adelheid heiße!« stieß das Mädchen heraus. + +Herr Timmermann hob die Hand mit dem Kreidestück ein wenig, um sie +sogleich seufzend wieder sinken zu lassen. + +»Ach, Mädchen, noch immer die alte Geschichte? Hast du denn ganz +vergessen, wie ich dir das schon vor drei Wochen ausführlich erklärt +habe? Leidchen ist überhaupt kein Name, sondern nichts als eine +sinnlose Verstümmelung von Adelheid. ›Leidchen, Leid--chen‹, hör' doch +nur, wie das klingt! Dagegen ›A--del--heid‹ ... was für ein Klang +und Tonfall sitzt in diesem Wort! Und ist ein edler, altdeutscher +Name, den schon die Gemahlin Kaiser Ottos des Großen führte, in der +Geschichte bekannt als ›die schöne Adelheid‹.« + +»Ich will aber doch Leidchen heißen,« erklärte das Mädchen verstockt +und hartnäckig. + +Der junge Schulmann zuckte ratlos die Achseln und wandte sich zu dem +zweitobersten Jungen, der schon während seiner schönen Belehrung +aufgezeigt hatte und auch jetzt noch mit ruhig aufgehobenem Finger +sich zum Wort meldete. + +»Was willst denn ~du~, Gerd?« + +»Als unsere Eltern noch lebten,« begann der Gefragte, der in Haltung +und Auftreten etwas auffallend Bestimmtes hatte, »haben sie meine +Schwester immer Leidchen gerufen. Auch der alte Lehrer hat sie nie +anders genannt. Und gestern nach der Konfirmandenstunde hab' ich den +Herrn Pastor gebeten, mal im Kirchenbuch nachzusehen, da steht's auch +so in.« + +Er blieb, eine Gegenäußerung erwartend, aufgerichtet stehen. + +Bruder und Schwester, mit der gleich zu Beginn des Winterhalbjahrs +vorgenommenen Namensveredelung durchaus nicht einverstanden, waren +eins geworden, heute die Sache zum Austrag zu bringen, und schienen, +nach dem Ausdruck ihrer Gesichter zu urteilen, zum äußersten +entschlossen. Die ganze Schuljugend befand sich in gespanntester +Erwartung, wie dies Ding ablaufen würde. + +Herr Timmermann trat von einem Fuß auf den andern, drehte die Kreide +zwischen den Fingern, zupfte an seiner Oberlippe, sah wie hilfesuchend +hinaus in den Schneeflockentanz. Endlich machte er hmhm, errötete ein +wenig und sagte mit gezwungenem Lächeln: »Na, Leidchen, denn lauf' hin +und bleib' meinetwegen, was du bist!« + +Triumphierend klappten die Ellernholzschuhe bankwärts. Der wackere +Bundesgenosse bekam einen froh dankbaren Blick. Die Nachbarinnen +machten der siegreich Zurückkehrenden achtungsvoll Platz, und eine +flüsterte ihr ins Ohr: »Leidchen, du bist 'n ganzen Lork.« + +Von diesem Augenblick an waren die Geschwister wie ausgewechselt. +Sie meldeten sich zu den Antworten mit einem Eifer, daß der Lehrer +sich zusammennehmen mußte, um sie auf Kosten der anderen nicht gar +zu häufig zu fragen. Hei, wie konnten die braunen Augen der Deern +blitzen! Und wenn bei einer Frage, die tieferes Nachdenken erforderte, +die anderen Gesichter starr wurden, fing es in den ruhigen Zügen ihres +Bruders an zu arbeiten, und wenn er dann in seiner sicheren Weise +aufzeigte, traf er fast stets den Nagel auf den Kopf. + +Neben Gerd Rosenbrock saß, als Erster der Schule, Hermann Vogt, +der einzige Sohn des Müllers auf Nr. 1 unten im Dorf. Es war ein +großer, wohlgenährter Junge mit breitem, frischem Gesicht, das zu +dem scharfgeschnittenen, schmalen und farblosen seines hageren +Banknachbarn einen starken Gegensatz bildete. Er trug eine graugrüne +Joppe mit Hornknöpfen, und statt der landesüblichen Holzschuhe +Lederstiefel. Auch besaß er schon eine Taschenuhr. + +Als er heimlich nach dieser sah, fuhr der Lehrer auf ihn zu: »Ich hab +dich jetzt oft genug gewarnt, die Uhr ist mir für drei Tage verfallen, +her damit!« + +Nach einigem Sträuben trennte der Junge sich von seinem Stundenglas, +und ein Blick auf dieses sagte dem Lehrer zu seinem Schrecken, daß er +wieder einmal eine Stunde um zehn Minuten zu lang ausgedehnt hatte. +Er stellte noch schnell ein paar Schlußfragen, um darauf die Kinder +schnell zur Frühstückspause zu entlassen. + +Die schöne, weiche Schneedecke des Schulhofs wurde von hundert +Holzschuhen zerwühlt, indem die Kinder, in Gruppen umherstehend +und von einem Fuß auf den andern tretend, hastig die Butterbrote +hinunterstopften, um möglichst schnell die Hände für den ersten +Schneeballkampf des Winters frei zu bekommen. + +Da näherte Leidchen Rosenbrock sich heimlich ihrem Bruder, einen +dicken rotbackigen Apfel in der Hand. + +»Schenk ~mir~ den Apfel, schöne Adelheid!« rief Hermann Vogt +lachend, indem er ihr breitbeinig den Weg vertrat. + +Die Umstehenden lachten. Das Mädchen stieß, halb ärgerlich, halb +belustigt, mit dem Ellbogen die ausgestreckte Hand zurück. Gerd +aber blickte grimmig von unten auf und knurrte im Kauen: »Paß auf, +Windmüller, gleich auf dem Damm will ich dir die ›schöne Adelheid‹ +einreiben.« + +Der also Bedrohte erhob ein Gelächter, während Gerd den letzten Bissen +wegdrückte, den ihm geschenkten Apfel in die Tasche steckte und sich +bückte, um zwischen den Knien den ersten Ball zu kneten. + +Eine Minute später standen die Kämpfer der beiden Dorfhälften sich auf +dem Birkendamm gegenüber, und die Geschosse sausten scharf durch das +ruhige Flockengeschwebe, klatschten gegen die Birkenstämme, verfingen +sich im hängenden Gezweige, fehlten oder trafen ihr Ziel. Unten +kommandierte Hermann Vogt in seiner lauten prahlerischen Weise, die +vom oberen Dorf führte Gerd Rosenbrock, der mit jedem Wurf auf jenen +zielte. Der aber wußte geschickt auszuweichen und quittierte für jeden +an ihm vorbeisausenden Ball mit höhnendem Zuruf. + +»Laßt uns den großschnauzigen Müller mal waschen,« raunte Gerd, +des ergebnisarmen Fernkampfes müde, seinen Getreuen zu, die dazu +sogleich bereit waren. Man sammelte in der Stille Munition, vorwärts +marsch! ertönte das Kommando, und im Sturmlauf ging's mit wildem +Kriegsgeschrei auf den Feind. Eine Salve aus nächster Nähe brachte +diesen zum Weichen, nur der Führer hielt stand. Aber schon hatten +feste Fäuste ihn gepackt, die verzweifeltste Gegenwehr half nichts, +er mußte längelangs an den Boden, reichlicher Schnee wurde ihm +unsanft in Mund, Nase und Ohren gerieben, in Nacken, Ärmellöcher und +Hosenbeine gestopft, und derbe Püffe gab's ungezählt überher. Es +war keiner im oberen Dorf, der den Müller leiden mochte. Den ganzen +Übermut der unteren wohlhabenderen Dorfhälfte, die im Bauernmal ihre +Väter oft genug überstimmte, sahen sie in ihm verkörpert, und mit +wahrer Wollust besorgten sie es ihm bei dieser Gelegenheit einmal +gründlich. + +Als Herr Timmermann Freund und Feind wieder friedfertig durcheinander +vor sich auf den Bänken hatte, wandte er sich, nicht ohne ein wenig +boshaft zu lächeln, an seinen Schulobersten, der prustend und +triefend, mit krebsrotem Gesicht und zerzaustem Haar auf seinem Platz +saß: + +»Na, Hermann, sie haben dich wohl ordentlich gehabt? Ich glaube aber, +es bekommt dir mal ganz gut.« + +Gerd, der sich gerade unter dem Pult mit dem Hochgefühl des Siegers +die Hände an den Hosen trocken rieb, warf einen dankbaren Blick nach +dem Lehrer und einen triumphierenden auf seinen Widersacher, mit dem +er nicht erst seit heute auf gespanntem Fuße lebte. Dieser hatte +unter dem alten Lenz, der es mehr mit den Reichen hielt, gute Tage +gesehen, aber der Neue benutzte zu Gerds Freude jede Gelegenheit, den +übermütigen Bengel zu ducken, und hatte sogar schon einmal gesagt: +»Eigentlich müßtet ihr beiden die Plätze tauschen; aber wir wollen es +das letzte halbe Jahr lieber beim alten lassen.« + +Es war Mittag. Die Kinder bummelten heim, ein schneedurchpflügendes +Holzschuhpaar nach dem anderen schwenkte nach rechts über die +Hofbrücken ab. Zuletzt befanden sich nur die Geschwister noch auf +dem Damm. Leidchen, die mit einer Freundin hinterher getrödelt war, +holte laufend den Bruder ein, hing sich zärtlich an seinen Arm, und +so stapften die beiden durch unbetretenen Schnee ihrem Hause zu, das +unter der tief herabgezogenen weißen Kappe weg heute besonders lustig +und freundlich aus den blanken Fensteraugen in die Welt guckte. -- + +Die Familie Rosenbrock hatte sich in den vier Jahren mehr als ergänzt, +indem Jan bald nach dem Tode der Stiefmutter Trina Grotheer aus +Meinsdorf als Frau ins Haus geholt und sich bereits zwei Kinder von +ihr hatte schenken lassen. So sammelten sich denn jetzt ihrer sechs um +den Mittagstisch. Jan, der Stammhalter, langte mit seinem Zinnlöffel +schon wacker in die steife Bohnensuppe, während sein Schwesterchen +Minna noch in der Wiege lag und an der Milchflasche sog. + +Beta Rotermund war mit Jans Wahl zufrieden. Gerd und ihr Patenkind +Leidchen wurden zwar bei der Arbeit tüchtig mit herangenommen, aber +so war's im Moor überall, und das ging auch nicht anders. Wer im Torf +jung geworden ist, muß sich so ungefähr vom achten Jahre an des Lebens +Nahrung und Notdurft selber verdienen. Jedenfalls wurden die Kinder +nicht unfreundlich behandelt, bekamen satt zu essen und behielten Zeit +für die Schularbeiten. Mehr konnte man billigerweise nicht verlangen. + +Es war schulfreier Mittwoch-Nachmittag, und nach dem Essen erhielten +die beiden den Auftrag, mit dem Schiff einen Haufen Heidestreu vom +Hochmoor ans Haus zu schaffen, ehe er gar zu tief einschneite. + +Das flache, braungeteerte Fahrzeug, das hauptsächlich zur Verschiffung +des wichtigsten Landesproduktes, des Backtorfs, nach der Freien +Reichs- und Hansestadt Bremen diente, lag dreißig Schritt vom Hause +in einem kleinen Hafen, den ein auf Eichenpfählen ruhendes Strohdach, +das Schiffsschauer, gegen Regen und Sonnenbrand schützte. Es hatte +vorn eine Art Verdeck, Koje genannt, die dem Schiffer zum Übernachten +dienen kann, und weiterhin eine feste, zur Aufnahme des Segelbaums +durchbohrte Bank. Meist lag jener jedoch, mit dem torffarbigen +Segeltuch umwickelt, samt dem Steuer unten im Schiff, und dieses wurde +mit dem langen, schwertförmigen, eisenbewehrten Schieberuder gestakt +oder vom Leinpfad aus geschoben. + +Gerd lud Segel und Steuer, die von Jans letzter Bremerfahrt her noch +im Schiff lagen, aus und stieg mit der Schwester hinein. Während sie +unter einem ausgedienten Regenschirm, dem der Griff fehlte und zwei +Rippen durch den altersgrünen Bezug starrten, auf der Segelbank Platz +nahm, handhabte er mit Kraft und Sicherheit das Schieberuder, und das +Schiff glitt mit ziemlicher Schnelligkeit im Graben hinauf, der die +Grenze zwischen den Stellen 40 und 39 bildete und sich schnurgerade +zum Hochmoor hinzog. + +Den schwarzen Wasserlauf zwischen den weißen Ufern, der die jetzt vor +dem Winde lustig tanzenden Schneeflocken unbarmherzig verschluckte, +begleiteten anfangs die beschneiten Felder der benachbarten +Stellen, um nach einer Weile tiefer liegenden, von schmalen Gräben +durchschnittenen Wiesen Platz zu machen. Diesen folgten, wieder zu +beiden Seiten, wüste abgetorfte Flächen, aus denen schwarze Lachen +gähnten und regelrecht gesetzte Torfhaufen, an der Schlagseite mit +Strohschirmen geschützt, ebenfalls schwarz gegen die weiße Umgebung +sich erhoben. Dahinter stand in anderthalb Mannshöhe die senkrecht +abgestochene Wand des Hochmoors, auf dem der Schnee in niedrigem +Birkenanflug, üppigem Heidekraut und sperrigem Gagelgesträuch hing. +Eine Gruppe älterer Föhren schloß endlich die hintere Schmalseite +des Rechtecks, das Jan Rosenbrocks Stelle bildete, gegen die nächste +Kolonie hin ab. Sonst prangten sie in sattem Dunkelgrün, aber heut' +erschienen sie tiefschwarz, wie denn der Schnee alles, was er nicht +weiß machen konnte, schwarz gefärbt hatte. Die winterliche Öde war +wie ausgestorben. Nur eine Elster schunkelte, hungrig schackernd, von +einer Föhre zu einer Birke. Auch sie, wie alles, weiß und schwarz. + +Die Streuheide, die Jan Rosenbrock im Spätsommer mit der Lee gehauen +hatte, lagerte am Saum des Föhrengehölzes. Auf Forken trugen die +Kinder sie, oftmals hin und her gehend, an den zwanzig Schritt +entfernten Graben, um ihre Last die steile Moorwand hinab ins Schiff +zu werfen. + +Als dieses beladen war, kletterten sie hinunter und hockten zu kurzem +Ausruhen unter Leidchens Regenschirm aneinandergeschmiegt auf der +Segelbank. + +Gerd war durstig geworden und nahm sich vom Bordrand eine Prise Schnee. + +»Hast du den Apfel, den ich dir geschenkt habe, schon aufgegessen?« +fragte Leidchen, indem sie in seine Tasche langte. »Nein, hier ist er +noch!« rief sie erfreut und brachte ihn zum Vorschein. + +Gerd holte sein Dreigroschenmesser aus der Hosentasche, teilte die +Frucht und reichte der Schwester die größere Hälfte. Sie aßen auch das +Kerngehäuse mit, denn Äpfel gab's in diesem Jahr nicht viele, und es +war der letzte Prinzenapfel. + +Als er verschwunden war, griff Leidchen in ihre Rocktasche, machte ein +verheißungsvolles Gesicht und sagte: »Ich hab' auch noch was Feines.« + +Ein Weilchen ließ sie seine Neugierde zappeln, dann zog sie eine Tafel +Schokolade heraus. + +-- »Feine Gewürzschokolade, mit Zusatz von feinstem Weizenmehl,« las +sie lüstern, ihren Schatz sich unter das Näschen haltend. Dann durfte +auch der Bruder dran riechen. + +»Wo hast du das her?« fragte dieser mit strenger Miene. + +»Wird nicht verraten,« antwortete sie, geheimnisvoll lächelnd. + +»Von Tante Beta?« + +»Nicht so neugierig, mein Junge! Da, nimm!« + +»Erst will ich wissen, wo das herkommt.« + +»Denn nicht,« sagte sie und führte das Stück, das sie ihm angeboten +hatte, zum eigenen Munde. Aber er griff schnell zu und packte ihre +Hand. + +»Laß mich los!« rief sie und suchte sich frei zu machen. + +Aber seine Hand hielt die ihre wie ein Schraubstock umklammert. + +»Wenn du nicht auf der Stelle losläßt, beiß' ich,« schrie sie und +zeigte ihre Zähne. + +Er lachte kurz und spöttisch auf. Aber im nächsten Augenblick sprang +er mit einem Schrei in die Höhe, das Schirmdach mit sich emporreißend. +Sie hatte die kleinen Beißer recht herzhaft in seinen Daumenballen +geschlagen. + +»Du bist ja 'n ganzer Satan!« knirschte er und hob die Hand zur +vergeltenden Backpfeife. Da sie sich aber schnell unter den Schirm +duckte, stapfte er mit großen Schritten über die Ladung weg auf +die andere Seite des Bootes und setzte es mit dem Schieberuder in +Bewegung. Er hatte sein bitterbösestes Gesicht aufgesteckt und sah mit +Ausdauer an der Schwester vorbei. + +Diese saß schmausend auf der Segelbank, lugte unter ihrem graugrünen +Dach hervor und liebäugelte nach dem Bruder hinüber. Sie hätte jetzt +gern wieder Frieden gemacht. + +Das Schiff glitt seine Bahn dahin. Das Planschen des Moorwassers gegen +den Bug und die engen Ufer war mit dem Reiben des Stangenruders an der +Bordwand das einzige Geräusch in der Stille der winterlichen Welt. + +Als Leidchen einsah, daß sie mit Äugeln die Aufmerksamkeit seines +in die Schneelandschaft starrenden Leichenbittergesichts nicht auf +sich lenkte, kletterte sie ebenfalls über die Streuheide und suchte, +indem ihre Augen ein verführerisches Lächeln spielen ließen, ihm ein +Stück Schokolade zwischen die Lippen zu schieben. Aber er hielt diese +fest geschlossen. Da kitzelte sie ihm mit den Fingern der linken Hand +unter dem Kinn. Und plötzlich schnappte er zu. Doch sie hatte, dies +erwartend, die Hand blitzschnell zurückgezuckt und nur die Schokolade +blieb zwischen seinen Zähnen. + +Lustig sprang sie über die Heide zu ihrer Bank zurück, streifte die +Schneeflocken aus dem Haar und lugte triumphierend unter dem wieder +aufgenommenen Schirm hervor. + +»Na, wie schmeckt's?« + +»Oh ... nicht schlecht ... Deern, du bist 'ne kleine Hexe!« + +Dabei lächelte er und sah nicht mehr an ihren schalkhaften Augen +vorbei. + +»Gut, daß du wieder artig bist. Nun sollst du auch wissen, wo die +Schokolade herkommt. Müllers Hermann hat mir die Tafel geschenkt.« + +»Müllers Hermann?« wiederholte Gerd gedehnt. + +»Ja, ja, dein Freund Hermann.« + +»Mein ~Freund~?« + +»Ja, meinetwegen auch dein Feind.« + +»Leidchen, das wundert mich, daß der dir Schokolade schenkt. Und noch +mehr, daß du sie annimmst.« + +»Hahaha, kneifst du die Hände zu, wenn dir einer was schenken will?« + +»Ja, das wär' möglich. Von jedeinem ließ' ich mir nichts schenken ... +Aber sag', wie kommt der dazu?« + +»Gestern abend mußte ich doch Sirup holen, weißt du, für unsern +Buchweizenpfannkuchen. In Bollmanns Laden traf ich Hermann, und er +hatte sich gerade drei Tafeln Schokolade gekauft. Draußen gab er mir +dann eine ab und sagte, ich sollte es nicht weiter sagen. Und ich +sag's sonst auch zu keinem.« + +»Leidchen, ich wollte, du hättest das Geschenk nicht angenommen. Ich +hätte dir dafür gern zwei Tafeln gekauft.« + +»Haha, das kannst du jetzt leicht sagen. Du hast mir überhaupt noch +keine Schokolade geschenkt.« + +»Schokolade wohl noch nicht, aber hab' ich dir nicht neulich erst +von der Konfirmandenstunde 'ne dicke Apfelsine mitgebracht? ... Drei +Groschen auf einmal für solche Schnökerei ... Wo er das viele Geld +wohl her hat?« + +»Der? Och Junge, das wissen doch alle Leute, daß seine Eltern gräsig +reich sind. Meta Kück hat mir erzählt, als sie Hochzeit gemacht +hätten, hätte der große Tewesbauer von Drömstedt ihnen die harten +Taler man so scheffelweise zugemessen. Und Anna Meyerdierks sagt, es +gäbe nicht viele im Dorf, die dem Müller kein Geld schuldig wären, und +wenn der Gerichtsvollzieher käme, hätte er ihn beinah immer kommen +lassen.« + +»Die Leute schnacken allerhand dummes Zeug,« sagte Gerd trocken, +indem er mit der rechten Hand an den Fingern der linken zog und ein +bedenkliches Gesicht dazu machte. + +Ihre braunen Augen blitzten. + +»Willst du damit sagen, er hätte sich das Geld genommen?« + +Als er die Achseln zuckte, rief sie empört: »Du, das finde ich gar +nicht schön von dir, daß du anderen Leuten so was Schlechtes zutraust!« + +»Müllers Hermann traue ich nicht von da bis da,« sagte er, indem er +mit der Hand von einem Ufer des schmalen Grabens zum andern zeigte. + +»Ich glaube, du bist bloß neidisch, weil er über dir sitzt,« meinte +sie lauernd. + +Er schüttelte langsam den Kopf: »Das ist mir einerlei. Es ist ja auch +nur, weil er dem Müller sein Sohn ist. Was der alte Lenz für einer +war, das wissen wir doch wohl ... Leidchen, glaub' mir, ich habe +die ganzen Schuljahre bei ihm gesessen und kenn' ihn: der Junge ist +nicht echt. Ja, den Leuten die Augen zu verblenden, das versteht er. +In der Konfirmandenstunde sitzt er so andächtig da und macht so'n +scheinheiliges Gesicht, daß der Pastor ihn gewiß für den frömmsten von +uns allen hält. Na, der sollte bloß wissen, was er unterwegs manchmal +für Reden führt! ... Wir andern müssen alle tüchtig mit an die Arbeit. +Aber der? Die ganzen Nachmittage läuft er mit der Vogelflinte herum +und schießt nach den kleinen Lerchen, wenn sie zum Himmel aufsteigen +wollen, und auch sonst nach allem Lebendigen, was ihm in die Quere +kommt. Sein Vater kümmert sich um nichts, und die Mutter ist in ihr +einziges Kind rein vernarrt. Darum ist er auch so bodenlos frech ... +Ich freue mich, daß er's heut' morgen mal ordentlich gekriegt hat.« + +»Ihr habt es reichlich schlimm gemacht. So viele auf einen, das ist +auch nicht gerade nett.« + +»Warum haben die anderen ihm nicht geholfen! Er soll dich nur noch +einmal ›schöne Adelheid‹ schimpfen, dann lernt er mich erst kennen. So +was einem Mädchen anzuhängen! ...« + +Sie lachte hell auf. + +»Wenn einer mir nichts Schlimmeres anhängt, als das, bin ich zufrieden +... Kuck mal!« + +Aus dem Stanniol der Schokolade hatte sie sich einen breiten +Fingerreif gefaltet und gebogen und hielt nun die Hand mit dem +silberglänzenden Schmuck in die Höhe. + +»Was ist an solchem Narrenkram zu kucken ...« sagte er verdrossen, +den Gegenstand ihres Entzückens kaum eines halben Blickes würdigend, +während sie, das Köpfchen schief haltend, noch eine Weile mit ihm +liebäugelte. + +Es wehte plötzlich ein kälterer Lufthauch über das Land, der die +spärlichen Schneeflocken, die noch fielen, vor sich hertrieb. Das +Mädchen schauerte leicht zusammen, stand entschlossen auf und sprang +von der Koje auf das Ufer hinüber. »Wo willst du hin?« fragte Gerd +verwundert. »Es wird kalt, ich lauf',« sagte sie kurz und lenkte durch +einen kleinen Obstkamp dem Hause zu. + +Gerd sah mit nachdenklichen Augen hinter ihr her. Sie schritt wie +eine, die ihren eigenen Weg gehen will und nicht sonderlich geneigt +ist, sich gängeln und leiten zu lassen. + + + + + 3. + + +Zum viertenmal schickte Herr Timmermann einen Jahrgang Brunsoder +Jugend zur Einsegnung nach Grünmoor, und zwar einen guten, den er +ungern aus den Händen ließ. Freilich, mit dem starken Geschlecht +war kein Staat zu machen. Dessen einziger Vertreter, Jan Kassen +vom Achterdamm, hatte in seinem welken Gesicht ein Paar starre, +blöde Augen und war auch als Konfirmand nicht über die dritte Bank +hinausgeklettert. Aber die Mädchen! Glatt und schier waren sie alle +fünf, die am Gründonnerstagmorgen unbedeckten Hauptes, funkelneue +Gesangbücher und gefaltete weiße Taschentücher in den Händen, die +ungewohnten langen Festkleider hoch aufgerafft, an der schimmernden +Birkenreihe des Kirchdamms entlang auf Grünmoor zuschritten. Und eine +von ihnen war so rank und schlank gewachsen, schaute aus schmalem, +rosig durchscheinenden Gesichtchen so frank und frei, hell und warm +in die Welt, daß ein alter Heide- und Moorläufer mit jungen Augen und +Beinen, den der Tag zur ersten Vorfrühlingswanderung verlockt hatte, +abends in Bremen seiner Frau erzählte: »Du, heut' morgen bin ich unter +den Moorbirken dem leibhaftigen Frühling begegnet.« + +Die Kinder hätten sich für ihre Einsegnung keinen schöneren Tag +aussuchen können. Ein herbfrischer Märzwind strich ihnen über die +jungen Gesichter, spielte mit den losen Härchen, die den ordnenden +Kämmen und Bändern entschlüpft waren, entführte die heut' nicht +gesparten Haaröldüfte und jagte grüne Wellen über die junge Saat der +Ackerbreiten. Die Luft war voll Sonnenglanz und von Lerchenjubel wie +gesättigt. Über dem Dunkellila des Birkengezweiges lagen schon die +zarten Schleier von grüner Seide, im ernsten Braun des Hochmoors +loderten lichtbraune Inseln blühenden Gagels, die bewaldeten +Höhenrücken der Geest standen in der Ferne tiefblau und scharfumrissen +gegen die sanfte Bläue des wolkenlosen Himmels. Die Welt schien so +groß und weit, und den Kindern war ein wenig eng und ängstlich ums +Herz, aber auch wieder feiertäglich ernst und freiheitsfroh, standen +sie nun doch vor der Tür, die sie aus der Schulstube in das Leben +hinausführen wollte. Mochte dieses auch keinem von ihnen Großes und +Außerordentliches zu versprechen haben, an solchem Tage macht es nun +einmal jedem ein verheißungs- und geheimnisvolles Gesicht. + +Eine halbe Stunde, nachdem Leidchen Rosenbrock das Haus verlassen +hatte, machte sich auch ihr Bruder auf den Weg. Er trug die Weste +hoch am Halse geschlossen und auf dem Kopf eine Tuchmütze mit blankem +Schirm. Seine dunkelgrauen Augen blickten stetig und verweilend, harte +Arbeit hatte die Züge seines langen, schmalen Gesichts, zumal um den +strengen Mund herum, scharf herausgemeißelt. Mit weit ausgreifenden +wiegenden Schritten folgte er anfangs einem wenig begangenen federnden +Moorpfad. An Gesellschaft und Unterhaltung lag ihm heute nichts. Er +war keiner von denen, die der Einsamkeit aus dem Wege gehen, und +wollte die Schwester zum Abendmahlstisch geleiten. + +Wer hätte das sonst tun sollen? Der Vormund wohnte in einem anderen +Dorfe und kümmerte sich um nichts. Bruder Jan ging nicht ohne seine +Frau, und die lag mit ihrem vierten Kinde im Bett. Beta Rotermund, +die gute Nachbarin und Leidchens Patentante, hatte mit ihrer +Frühjahrserkältung zu tun. »Sie hat keinen als dich,« hatte einst die +Mutter gesagt, als sie sterben wollte, und so war's wirklich gekommen. + +Es machte sich ganz von selbst, daß er eine kleine Rechnung darüber +aufstellte, was er schon alles für seine Schwester getan hatte. + +Einen angenehmeren und besser bezahlten Dienst, der ihm angeboten war, +hatte er ausgeschlagen, um als Knecht des Bruders ihr nahe zu bleiben, +ein Auge auf sie zu haben und sie anzuleiten. Wie manche Arbeit hatte +er ihr abgenommen, damit sie ungestört die Schularbeiten machen konnte! + +Ob sie am Palmsonntag bei der Konfirmandenprüfung so gut bestanden +und besonders gelobt worden wäre, wenn er an den Abenden des letzten +Winters ihr nicht immer die Lektionen abgehört hätte? + +Warum hatte er sich mehr und mehr von der Wildbahn zurückgezogen, so +daß er den Erwachsenen mit seinen achtzehn Jahren als der solideste +und vernünftigste Bursch des Dorfes, dem Jungvolk dagegen als +Duckmäuser und Drögepeter galt? Der Schwester wegen! Um sie, die +sehr lebenslustig war und mit ihrer Ausgelassenheit ihn manchmal +fast bange machte, vermahnen zu dürfen und in Schranken halten zu +können, hatte er sich selbst je länger desto mehr in acht genommen und +zurückgehalten. + +Dafür hatte er nun aber auch so viel im Sparkassenbuch, wie wohl +keiner seiner Altersgenossen. Im Grunde war das Solide doch wohl das +Beste, wenn einer sich nur erst daran gewöhnt hatte. + +Gerd nickte ein paarmal wohlgefällig, er war recht mit sich zufrieden. +Und der liebe Gott, bei dem er heute zu Gast gehen wollte, war es +gewiß auch. + +Der einsame Moorpfad mündete endlich auf den belebteren Damm, der die +Kirchgänger der nördlichen Kolonien des Kirchspiels sammelte. + +Eine Strecke war Gerd auf diesem dahingeschritten, als plötzlich eine +Klingel hinter ihm schrillte. Er trat in die Birkenreihe, um den +Radfahrer, der sich auf solche Weise bemerklich machte, vorbei zu +lassen. Aber dieser sprang neben ihm ab und sagte munter: »'n Morgen, +Gerd.« + +»Ach so, du bist das, Hermann ...« + +Gerd hatte den alten Schulkameraden, der seit Jahren auf einer +Windmühle vor den Toren Bremens arbeitete und selten nach Hause +kam, lange nicht mehr gesehen. Er wunderte sich, wie der Mensch +sich herausgemacht hatte. Ein Paar übermütige Augen lachten ihm aus +dem frischen, gebräunten Gesicht, das sogar schon der Anflug eines +Schnurrbärtchens schmückte, und dem der kecke grüne Hut mit dem Spiel +eines Birkhahns vortrefflich stand. + +Der junge Müller schritt, das Rad schiebend, an Gerds Seite. + +»Wie die Zeit hinläuft! Wir beiden sind nun schon vier Jahr aus +der Schule und müssen nächstens zur Musterung. Und euer lüttjes +Kinkindiewelt wird auch schon konfirmiert.« + +»Ja,« sagte Gerd kurz und trocken. + +»Die Leute sagen, sie wär' eine bannig schmucke Deern geworden. Kann's +mir wohl denken, daß aus dem gralläugigen Leidchen mit den Jahren 'ne +›schöne Adelheid‹ geworden ist. Weißt du noch?« + +»Hast du dein leeges Maul noch immer nicht abgelegt?« + +»Mensch, was machst du für ein Gesicht? ... Ach so, du willst heute +fromm sein. Na, denn will ich nicht länger stören. Grüß Leidchen von +mir, und ich gratulierte ihr vielmals. Adjüs.« + +Er sprang lachend auf sein Rad, riß den Hut ein wenig in den Nacken +und fuhr in gemächlichem Bummeltempo, die linke Hand in die Seite +gestemmt, davon. + +Über das winzige Kirchdörfchen -- nur aus Pfarre, Schule, einigen +Gastwirtschaften und Kaufläden, sowie einem knappen Dutzend +kleiner Anbauerstellen bestehend, ist es eins der kleinsten des +Landes, während das Kirchspiel eins der größten ist -- schaute die +frischvergoldete Turmuhr her und zeigte an, daß bis zum Beginn des +Gottesdienstes noch eine gute halbe Stunde blieb, weshalb Gerd seinen +Schritt verlangsamte. Aber plötzlich schlug er ein sehr schlankes +Tempo an, das ihn nach wenigen Minuten ins Dorf brachte. + +An den Gruppen von Konfirmanden, die auf der Straße vorm Pfarrhause +sich bereits gesammelt hatten, hinschreitend, suchte er seine +Schwester heraus und winkte sie zu sich. Sie kam nur zögernd und, wie +es schien, widerwillig. Als er ihr aber einige Worte zuflüsterte, +nickte sie zustimmend, trat an seine Seite, und sie gingen schweigend +die Dorfstraße hinunter. Durch ein eisernes Tor bogen sie nach +rechts auf die Lindenallee des Friedhofs ab, umschritten die +Kirche und folgten einem Nebenweg, der sie zu einem hochragenden +Wacholder führte. Vor dem halb eingesunkenen, von dichter Grasnarbe +überzogenen Hügel zu seinen Füßen blieben sie stehen. Gerd zog +seine Schirmmütze und hielt sie vor die Brust. Leidchen hatte die +in schwarzen Wollhandschuhen steckenden Hände über dem Gesangbuch +gefaltet. So standen sie wohl eine Minute. Dann setzte er räuspernd +die Mütze wieder auf, sie fuhr sich mit einem Zipfel des weißen +Einsegnungstaschentuches über beide Augen, und schweigend gingen sie +den Weg zurück, den sie gekommen waren. + +Die Holzschuhe der Läuter polterten auf den Treppen des Turmes, und +kaum war der zehnte Schlag der Uhr verhallt, da setzte die kleine +Glocke, etwas vorlaut, auch schon ein, und bald ließ auch die große +ihre tiefen, vollen Klänge vernehmen. + +Aber die Menge, die den breiten Lindenweg vom Friedhofstor bis zur +Kirche besetzt hielt, hörte weniger auf das Geläute, das aus der Höhe +kam, als auf das Singen, dessen Klang der Frühjahrswind vom Pfarrhause +herüberwehte, und das sich langsam näherte. + +Nicht weit von Gerd Rosenbrock stand die eheverlassene Trina Kassen +vom Achterdamm, die mit Heidquesten durch die Dörfer ging. Als ihr Jan +mit dem unförmlichen Kopf und dem welken Gesicht, die Augen starr im +Gesangbuch, in der letzten Knabenreihe vorüberstolperte, schossen ihr +die Tränen in die Augen, die sie dann mit dem verrunzelten Handrücken +in ihren grüngrau verschossenen Rock wischte. + +Gerd hatte die Frau stets ehrlich verachtet. Denn ihren kleinen +Hausierhandel benutzte sie als Deckmantel für eine recht unverschämte +Bettelei, durch die sie dem Dorf in der Umgegend Schande machte. Aber +wie er jetzt die Freudentränen aus ihren blöden Augen stürzen sah, da +wallte es warm in ihm auf. Und als er bald darauf seine Schwester so +ernst und lieblich in dem feierlichen Zuge vorüberwallen sah, als er +ihre klare, schöne Stimme aus dem Gesang heraushörte, da lief es ihm +schnell hintereinander kalt und heiß über den Rücken, und er mußte +ein paarmal mit den Augenlidern zwinkern, um etwas zwischen ihnen zu +verdrücken. + + * * * * * + +Wenn die Brunsoder zweimal den weiten Kirchweg gemacht haben, gehört +es für sie mit zur rechten Sonntagsruhe, daß sie sich nach dem +Mittagessen ein Stündchen lang legen. + +»Du willst dich jetzt wohl ein bißchen ausruhen?« fragte Gerd seine +Schwester, als sie vom Tisch aufstanden. + +Sie schüttelte den Kopf: »Ach was, ich bin nicht ein Spierchen müde.« + +»Dann schlage ich vor, wir machen ein paar Schritte zusammen über +Feld. Wir beide haben heut' noch keine fünf Minuten miteinander +gesprochen.« + +Leidchen war gern dazu bereit. + +Festlich umstrahlte Gerd das saubere Weiß der Hemdsärmel, während +von unten das Rot funkelneuer Ellernholzschuhe heraufleuchtete. Die +zur Feier des Tages mit besserem Tabak gefüllte Sonntagspfeife, auf +deren Kopf eine lachende Sennerin himmelblaue Augen, kirschrote Wangen +und schneeweiße Zähne zeigte, ließ er nicht, wie sonst wohl, faul im +Munde hängen, sondern so oft er ein paar Züge getan hatte, nahm er sie +heraus, um sie am Daumen in das Armloch seiner Weste zu hängen. + +Leidchen hatte sich im Sonnenwinkel hinter der Scheune ein +Veilchensträußchen gepflückt und erfreute sich bald an dem süßen Duft, +bald an der lieblichen Farbe. Das lange Einsegnungskleid, in dem das +Gehen ihr noch unbequem war, trug sie hoch aufgerafft, so daß die +blanken Schnürstiefelchen und ein gut Teil des rotgesäumten weißen +Flanellunterrocks frei wurden. + +So schlenderten sie feiertäglich gemächlich den Weg dahin, der die +Rosenbrocksche Stelle der Länge nach durchschneidet. + +»Die Saat steht über Jahr gut. Eine Krähe kann sich schon drin +verstecken,« sagte Gerd mit einem Kennerblick über die Roggenbreiten +und mit dem Behagen des Landmanns, der seiner Mühe schönen Lohn winken +sieht. Leidchen nickte und ließ den warmen Glanz ihrer braunen Augen +still und träumerisch auf dem leuchtenden jungen Grün ruhen. Viel +zu reden spürte sie keine Lust. Die Eindrücke des Vormittags wirkten +leise nach, und eine leichte Abspannung und Mittagsmüdigkeit machte +sich doch auch geltend. + +Vom Ackerland senkte der Weg sich zu den abgetorften Gründen, die zu +einem Teile in Wiesen verwandelt waren, zum größeren aber schwarz und +öde in gelbem vorjährigem Riedgras und spärlichem Birkenanflug lagen. + +Gerd war stehen geblieben, tat ein paar nachdenkliche Züge aus seiner +Pfeife, beschrieb mit ihr in der Luft ein Quadrat und sagte: + +»Ein schönes Loch, was unsere Vorweser da schon ins Moor hineingewühlt +haben ... Als der erste Rosenbrock -- er hieß auch Gerd, hat +Großvater, den du nicht mehr gekannt hast, mir erzählt -- von der +Geest hierher kam und da, wo jetzt unser Haus steht, seine Erdhütte +hinsetzte, fing er mit einer Ziege und einem halben Dutzend Hühnern +an. Wir sind gut vorwärts gekommen. Manche hundert Taler haben wir +hier aus dem Moor herausgequält.« + +»Wie manchen Tropfen Schweiß das wohl gekostet hat ...« sagte Leidchen +nachdenklich. + +»Tropfen? Ich sage dir, Deern, viele hundert Eimer voll.« + +»Na, na!« + +»In hundertundzwanzig Jahren? Ganz gewiß!« + +Schweigend standen sie und schauten auf die Arbeitsstätte ihres +Geschlechts. + +»Weißt du noch,« fragte nach einer Weile das Mädchen leise, »wo Vater +und Mutter ihren Torf gemacht haben?« + +Er maß die schwarze Fläche mit den Augen ab. Dann zeigte er mit dem +Mundstück seiner Pfeife schräglinks hinüber: + +»Das muß daherum gewesen sein, wo der alte Kienstubben liegt. Ich +mußte bei dir bleiben und dir was vormachen. Du warst ein schrecklich +unruhiges Kröt. Einmal bist du mir direktemang in einen Graben +gelaufen, und ich hatte Not, daß ich dich wieder herausfischte. Puh, +wie du da aussahst! ... Wenn du dich gar nicht mehr zugeben wolltest, +kam Mutter, setzte sich auf die Schiebkarre oder auf einen Torfhaufen +und gab dir die Brust. Du nahmst sie noch, als du bald drei Jahr alt +warst. Deern, Deern, was konntest du lutschen! Man wurde beinah selbst +durstig vom Zusehen. Darum bist du auch so groß und stark geworden. +Ich muß mich ganz gerade machen, sonst kuckst du schon über mich weg.« + +Er richtete seine Gestalt, die gewöhnlich ein klein wenig dem Torf zu +geneigt war, stramm auf und betrachtete die Schwester an seiner Seite +mit Wohlgefallen und nicht ohne Stolz. Indem es wie ein Schatten über +sein herausgearbeitetes Gesicht flog, fuhr er leise fort: »Wenn Mutter +diesen Tag noch mit erlebt hätte ... wenn sie uns hier so sehen könnte +...« + +Leidchen schaute still und ernst in die sonnigen Weiten des +Frühlingsnachmittags. + +»Wie hat Mutter eigentlich ausgesehen?« fragte sie nach einer Weile. +»Ich kann mich gar nicht recht mehr besinnen.« + +»Das glaub' ich dir gern,« versetzte er. »Als sie von uns ging, warst +du noch zu klein und dumm ... Die braunen Augen hast du von ihr ... +die runden Kuhlen in den Backen auch ... Aber sie war besinnlicher als +du und nicht so flüchtig. So in der ganzen Natur hab' ich wohl mehr +von ihr abgekriegt ...« + +Sie hatten den abgetorften Grund inzwischen durchschritten und kamen +an die senkrecht abgestochene, oben hellbraune und nach unten zu +allmählich in Schwarz übergehende Wand des Hochmoors. Ein aus dieser +vorspringendes Rechteck war bereits von der Heidedecke befreit und für +den Abbau vorbereitet. + +»Hier wollen ~wir~ nach dem Fest wohl Torf machen?« fragte +Leidchen. + +»Stimmt,« sagte Gerd, an seiner fast erloschenen Pfeife jetzt wieder +kräftig saugend, »und du mußt tüchtig mit 'ran. Trina hat sich das +mal wieder höllschen schlau eingerichtet, daß sie grad jetzt im Bett +sitzen geht, wo's an den Torf soll. Du sollst sehn, du mußt für zwei +pedden.« + +Sie zertrat lächelnd einen im Wege liegenden aufgeweichten Torfsoden. + +»Wenn das Torfpedden mit so lüttjen Füßen man ordentlich schafft ...« +meinte er bedenklich. + +Sie streckte den linken Fuß vor, und indem sie ihn zierlich kokett um +den Enkel drehte, fragte sie: »Nicht wahr? Ich hab' niedliche Füße.« + +»Wie 'n Kind von zehn Jahren,« meinte er trocken, ohne die geringste +Bewunderung. + +»Kleine Füße sind aber was Feines.« + +Er zuckte mit den Achseln: »In Bremen auf der Sögestraße wohl. Aber +hier ins Moor gehören feste, breite Hüften und ein Paar reelle Füße. +Diesen weichen Weg zum Hochmoor hinauf kannst du mit solchen Dingern, +die in solchen Stiefeln stecken, zum Beispiel überhaupt nicht gehn. Du +bleibst einfach im Matsch stecken.« + +»Dann mußt du mich hinauftragen, in deinen breiten Hollschen. Nach +unseren Fuhren möcht' ich zu gern mal wieder. Ich bin den ganzen +Winter nicht hingekommen. Bitte, pack' zu!« + +»Die Zeiten haben wir gehabt,« meinte er lächelnd. + +Aber sie drängte sich ihm lachend in die Arme, und endlich tat er +ihr zögernd den Willen. Tief sanken die schönen roten Holzschuhe in +den braunen Brei des steil hinaufführenden Weges und rissen sich nur +schwer unter hohlem Glucksen wieder los. + +Als er seine Last oben auf festen Grund stellte, atmete er tief auf: +»Deern, ich hätte nicht gedacht, daß du so klotzig schwer wärst.« + +»Hundertundsieben Pfund Lebendgewicht,« lachte sie, wobei die Grübchen +ihrer Wangen sich vertieften und zwischen den frischroten Lippen die +weiße Perlreihe ihrer Zähne blitzte. »Du meintest wohl, ich wär' noch +immer ein Kind?« + +»Aus Kindern werden Leute,« sagte er gelassen und sah sie an. Die +knospenden jungfräulichen Formen, die er gefühlt hatte, als sie eben +in seinen Armen lag, verrieten sich auch schon dem Auge. + +Erfreut beugte Leidchen sich zur Erde und pflückte zu dem +Veilchenstrauß in ihrer Hand einige Stengel der eben aufblühenden +Rosmarienheide, deren zartes Rosa den Rand des Hochmoors schmückte. +Ihrem Bruder steckte sie ein Sträußchen in ein Knopfloch der Weste. + +Der Weg führte jetzt durch wucherndes Heidekraut, blühenden Gagel, +mit silbernen Kätzchen übersäte Zwergweiden und grünumsponnenen +Birkenanflug auf eine waldartige Gruppe von Kiefern zu. Die Bäume +waren für ihre Art niedrig geblieben, weil der zähe Moostorf keine +Pfahlwurzeln aufnahm, hatten aber in langsamem Wachstum starke Stämme, +schön geformtes rotes Astwerk und breite, reichbenadelte, dunkelgrüne +Kronen gebildet. Ein erfrischender Harzduft erfüllte in ihrem Bereich +die warm durchsonnte Luft, in der schon allerhand kleines Getier fast +sommerlich durcheinander schwirrte. + +Die Geschwister schlenderten, vom Wege abbiegend, in das Gehölz hinein +und kamen bald zu einem Baum, der vor Jahren vom Sturm geworfen war, +aber bei einem getreuen Nachbarn Halt und Stütze gefunden hatte. +Da der Moostorf ein gut Teil seiner Wurzeln festhielt, war er grün +geblieben, weshalb Axt und Säge ihn einstweilen verschont hatten. +Manches liebe Mal war Leidchen den breiten schrägen Stamm, die Zweige +als Leitstangen benutzend, hinangestiegen und hatte von einer Art +grüner Kanzel aus, die beide Bäume in einiger Höhe bildeten, in die +weite, offene Landschaft hinausgeschaut. + +Sie setzte den Fuß auf den Stamm, wiegte den Oberkörper nach vorn und +sah den Bruder schelmisch an: »Soll ich?« + +»Du bist kein Kind mehr,« sagte er trocken. + +»Aber auch lange noch keine alte Großmutter,« lachte sie klingend. +»Es ist so klare Luft; ich glaube, heut' kann man oben die Türme von +Bremen sehen.« + +Sie schwankte noch, ob sie hinaufsteigen sollte oder nicht, und hätte +sich wohl dagegen entschieden, wenn Gerd ihr nicht mit vernünftigen +Gründen, unter Erinnerung an den Ernst des Tages und ihr schönes +schwarzes Kleid, vom Aufstieg abgeraten hätte. Das aber gab der Sache +den Reiz des Verbotenen, und sie kletterte, mit der einen Hand sich an +den Zweigen haltend, mit der anderen ihr Kleid in acht nehmend, den +Stamm hinan. + +Als sie glücklich auf ihrem Luginsland angekommen war, lachte sie mit +übermütigen Augen auf den unten Stehenden herab: »Steig mir doch nach, +Junge! Hier oben ist Platz für zwei.« + +Er stieß verdrießlich mit der Spitze seines Holzschuhs gegen den Stamm +und brummte irgend etwas. + +Leidchen richtete sich auf, um über einen Zweig, der sich in Augenhöhe +vorüberzog, hinweg den freien Ausblick zu gewinnen. + +Plötzlich rief sie jauchzend: »Oh, oh! Die Türme von Bremen! So groß +und klar hab' ich sie von hier noch nie gesehen.« + +Gerd schaute zu der schlanken, von grüngoldigem Licht umflossenen +Mädchengestalt auf, die sich schützend die Hand über die Augen hielt +und die Blicke wie sehnsüchtig in die Ferne sandte. + +»Flieg mir bloß nicht weg, du da oben!« + +»Oh, das möchte ich wohl!« + +Sie hob die Arme, als ob es Flügel wären. + +»Ein Glück, daß du keine richtigen Flünke hast,« spottete er. + +»Schade, schade! Wenn ich ein Vöglein wär! ... Aber in die Welt +hinausfliegen kann einer auch ohne Flügel.« + +»Nun schnack man bloß kein dummes Zeug und komm wieder 'runter!« + +Noch einmal durchmaßen ihre Augen die lichte, lockende Ferne. Dann +begann sie mit großer Vorsicht den Abstieg. + +Gerd freute sich ihrer Schwierigkeiten und priesterte, er hätte ja +gleich gesagt, sie sollte unten bleiben, aber sie hätte natürlich mal +wieder nicht hören wollen. + +Bis über die Mitte des Stammes war die Sache gut gegangen. Aber da +glitt sie plötzlich aus und kam ins Fallen. Gerd, mit schneller +Geistesgegenwart hinzuspringend, fing sie in seinen Armen auf, wurde +aber von der Wucht des Falles mit zu Boden gerissen. + +Keiner hatte sich Schaden getan, und als sie das festgestellt hatten, +lachte Leidchen auch schon wieder, bis Gerd mit strengem Gesicht auf +ihr Kleid hinzeigte: »Kuck mal da!« + +Erschrocken hielt die die Ränder eines ansehnlichen rechteckigen +Risses gegeneinander. + +»Ja, so hat's gesessen,« spottete er, »du großes Mädchen solltest dich +tüchtig was schämen.« + +Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während er noch eine Weile fort +moralisierte. Aber bald, als er sah, wie ihr das Unglück zu Herzen +ging, fing er an zu trösten. Sie hätte im Handarbeitsunterricht bei +Fräulein Timmermann das Flicken und Stopfen ja gründlich gelernt und +letzten Winter ihm den Riß in seiner Sonntagshose so fein zugemacht, +daß man ihn überhaupt nicht wiederfinden könnte. + +Aber ihre gute Laune war dahin. Den Blumenstrauß, den sie vor der +verunglückten Kletterei zur Seite gelegt hatte, nahm sie nicht wieder +auf, obgleich Gerd sie daran erinnerte. Die Hand an dem Riß, trat sie +mit ärgerlichem Aufstampfen der kleinen Füße den Rückweg an. + +Eine Strecke waren sie stumm nebeneinander geschritten, da sagte sie +verdrossen: »Das ist viel zu wenig, was ihr mir als Lohn geben wollt.« + +Gerd fand fünfundzwanzig Taler für das erste Jahr ganz anständig. +Später müßte Jan natürlich auflegen und würde es gewiß auch tun. + +»Später? Es soll nicht lange dauern, so geh' ich in die Stadt.« + +»Wie kommst du mit einemmal auf solche Grappen?« fragte er verwundert. + +»Von den Mädchen, die heute mit mir konfirmiert sind, gehen sechs +schon zum ersten Mai hin.« + +»So--o?« + +»Gerkens Minna aus Moorwede fängt mit vierzig Talern an und braucht +dafür bloß ein bißchen wischen und fegen. Und Meyerdierks Line aus +unserem Dorf hat im dritten Jahr schon fünfundsechzig.« + +»Und 'n lüttjen Vogel dazu, sagen die Jungens.« + +»Pah, was fragt die nach euch Jungens!« + +»Na, ich denk', freien will sie am Ende doch auch mal.« + +»Das kann sie in der Stadt grad so gut haben als hier. Ja, noch viel +besser! Rugens Beta hat 'n Schaffner an der Elektrischen gekriegt, und +Lachmunds Minna ihr Mann ist sogar Angestellter an der Eisenbahn.« + +»Dann ist er auch recht was. Mir ist ein Stellbesitzer, der seine +sechzig Morgen eigenen Grund und Boden unter den Füßen hat, zehnmal +so lieb wie einer, der den ganzen Tag auf der Elektrischen mit den +Groschen klötern oder auf dem Bahnhof die Eisenbahnräder schmieren +muß. Überhaupt, Deern, du kannst von der Stadt noch gar nicht +mitschnacken, hast ja von ihr noch nichts gesehen als die Türme, von +dem alten schiefen Fuhrenbaum aus. Ich bin wohl hundertmal in Bremen +gewesen, und jedesmal, wenn ich meinen Torf verkauft habe und mein +Schiff wieder aus dem Torfhafen hinausstaken kann, bin ich von Herzen +froh. Das Stadtleben ist für unsereinen nichts.« + +»Du könntest mich im Herbst wohl mal mitnehmen, zum Freimarkt.« + +»Hm, das will ich mir überlegen ... Ja, wenn du schön artig und +folgsam bist, und den Sommer über ordentlich fleißig, darfst du +mal mit,« sagte er etwas gönnerhaft. »Du sollst sehen, wie schnell +unsereinem die engen Straßen und die vielen Menschen über werden.« + +»Das wollen wir erst mal abwarten,« meinte sie. + +Zu Hause angelangt, fanden die Geschwister die Stube voller +Nachbarsleute, die zum Gratulieren gekommen waren. Die Frauen +benutzten zugleich die Gelegenheit, der Wöchnerin ihren pflichtmäßigen +Besuch abzustatten. Die üblichen Wochengeschenke an Butter, Gebäck +und Zucker hatten sie mitgebracht. + +Leidchen setzte sich still und sittsam, wie es einer neukonfirmierten +jungen Christin ziemt, auf einen Stuhl und gab sich Mühe, das Loch +in ihrem Ehrenkleide zu verbergen. Aber Meta Frerks hatte zu gralle +Augen, die entdeckten es bald, und es erhob sich ein großes Hallo. +Zuletzt sorgte Beta Rotermund für eine Ablenkung, indem sie ihres +Patenkindes Gedenkblatt herumreichte. Dieses zeigte in Schwarzdruck +das Bild des guten Hirten und in roten Buchstaben den Spruch Phil. +4, 8: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, was keusch, was +lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine Tugend, ist etwa ein Lob, dem +denket nach. + +Die Frauen fanden Bild und Spruch sehr schön, meinten, Leidchen sollte +man recht danach tun, und Tischler Kortjohann in Worpswede würde das +Gedenkblatt gut und billig einrahmen. + +Als die Nachbarn fort waren, kleideten Bruder und Schwester sich +schnell um, die Kühe zu melken. Ritterlich kroch Gerd unter die +schwierigsten Tiere, und in dem warmen, dämmerigen Dunst des Stalles +zischte die Milch unter gleichmäßigem Stripp-Strull in die Eimer. + + + + + 4. + + +Grau und bleich dämmert der Morgen auf Rosenbrocks Herddiele, wo die +junge Magd, verschlafen und herzhaft gähnend, im roten Schein des +flackernden Feuers steht und einen in mächtiger schmiedeiserner Pfanne +pretzelnden daumdicken Buchweizenpfannkuchen bewacht. Auf der fast +noch in nächtlichem Dunkel liegenden Viehdiele, von der Kettengeklirr +und der dumpfe Schall an die Stallbäume stoßender Hörner kommt, +wirft jemand, auf Holzschuhen hin und her gehend, den Kühen vor. Das +Hühnervolk ist auch schon wach. Zwei Hähne krähen in grobem Baß und +frechem Diskant gegeneinander an. + +Den langen Winter über hat diese Frühstunde Haus und Dorf in tiefstem +Schlaf gefunden. Aber gestern war der zweite Ostertag, und heute soll +die Torfernte beginnen. Da hat Feiern und Ruhen und langes Schlafen +erst mal ein Ende. + +Als die Sonne über die fernen Geesthöhen heraufkommt, sind Rosenbrocks +schon hinten im Moor. + +Leidchen, vom weißen Schleierhut umweht, in kurzärmeliger roter +Flanelljacke und kurzem dunkelblauen Beiderwandrock, ist dabei, mit +der Forke, deren Zinken im jungen Licht blitzen, eine abgetorfte +Fläche nachzuebnen und als Platte für den schwarzbraunen Riesenkuchen, +der hier gebacken werden soll, vollends herzurichten. Und schon kommt +auf eisenbeschlagenen Holzschienen das erste Wägelchen, hoch bepackt +mit dem klumpigen zähen Teig, den Jan drüben an der Hochmoorwand +losgestochen hat, hurtig angerollt, Gerd hemdärmelig im Laufschritt +hinter ihm her. + +So hat jeder seine Arbeit und wird sie auf Wochen hinaus behalten. +Jan, der Bauer, gräbt, Gerd, der Knecht, fährt und ladet die +Torfmasse auf und ab, Leidchen, die Magd, breitet sie, die Stücke +auseinanderschlagend, -zerrend, -tretend, in der Sonne aus. + +Nach drei Stunden wird im Schutz der Hochmoorwand, über die der +frische Frühlingswind hinstreicht, gefrühstückt: Brot, Butter, Sülze +nebst Kaffee aus der umwickelten Blechflasche. Jans Zähne mahlen +langsam und gründlich, und als sie ihre Arbeit getan haben, starren +seine Augen ein paar Minuten regungslos ins Leere. Gerd und Leidchen +sind inzwischen den Rand des Hochmoors hinaufgeklettert und halten, +die Hände beschattend über der Stirn, Ausschau. Drüben, jenseits des +Grenzgrabens, sind Rotermunds an der Arbeit, alle Mann hoch; nur Frau +Beta hütet das Haus. Hinter ihnen Wöltjens, dann Frerks, weiterhin +Böschens, und so weiter, wie sie in der Dorfreihe hintereinander +wohnen. Den schwarzen Grund zwischen grünem Ackerland und braunem +Heidemoor füllt ein buntes Gewimmel fleißig sich regender Menschen. +Überall blinken Spaten in der Sonne, glänzen Hemdsärmel, schimmern +bloße Mädchenarme, flattern Schleierhüte. In einer jungen Birke sitzt +eine Krähe und krächzt: »Torf, Torf, Torf!« Die alte Gevatterin weiß +Bescheid. »Torf, Torf, Torf« ist für ganz Brunsode bis gegen Pfingsten +Losung und Feldgeschrei. + +Schon wankt Jan wieder der Torfkuhle zu, und sein Jungvolk begibt sich +ebenfalls an seine Posten. + +Die Sonne ist dran, ihre Mittagshöhe zu erklimmen. Da sendet Leidchen, +je länger desto häufiger, verstohlene Blicke über die grünen Saaten +heimwärts, und zwar nach einer Stange, die hoch und kahl zwischen +Scheune und Griesbirnenbaum aufragt. Wenn die aus einem abgängigen +Mannshemd geschnittene weiße Flagge an ihr hochgeht, hat Trina, die +gestern wieder aufgestanden ist, das Mittagbrot fertig. + +Endlich erscheint das erwünschte Zeichen. »Mittag!« ruft Leidchen mit +heller, klingender Stimme den Brüdern zu. + +Jan stößt den Spaten in die Torfkuhle, Gerd läßt den Wagen auf den +Gleisen stehen, beide ziehen die Jacken über. Mit munteren Schritten +eilt Leidchen vorauf. Aber die Männer haben einmal ihren festen Tritt, +aus dem so leicht nichts sie herausbringt. + +Auch Knecht und Magd gebührt in der Zeit der Torfernte nach Mittag +eine Stunde Bettruhe. Kaum hat Leidchen den Kopf in ihr Kissen +gewuschelt, da ist sie auch schon weg; so hat die Frühjahrsluft die +jungen Glieder müde gemacht. Aber auf die Minute pünktlich packt Frau +Trina sie am Arm, schnell gibt's eine Tasse Kaffee, und wieder geht's +ins Moor hinaus. Und wieder gluckst und ächzt unter dem Spaten der +in tausendjähriger Ruhe gestörte feuchte Moosboden, wieder klappert +der Wagen über die Schienen, und weiter dehnt sich die an der Sonne +hingebreitete schwarzbraune Masse. + +Nach dem Vesperbrot machen sechs breite Holzschuhe sich über sie her, +trampelnd und tretend, peddend und knetend, kreuz und quer, von rechts +nach links und von links nach rechts, bis endlich schmale Schabeisen +den gut durchgearbeiteten Teig vollends eben und glatt machen. + +Und endlich, endlich -- das Abendrot ist stark am Verglühen, +Rotermunds haben schon vor einer Viertelstunde Feierabend gemacht -- +schleppen drei zum Umfallen müde Menschen ihre bleischweren Glieder +heimwärts. Den Augen, die den Tag über nichts gesehen haben als den +triefenden braunen Brei, tut der grüne Glanz der Felder wohl, und die +jüngeren senden über ihn hinweg auch wohl einmal einen Blick in die +Ferne, in die letzten roten Gluten des Tages, der Abschied genommen +hat. + +Gagel, Weide und Rosmarienheide blühen und verblühen. Die weißen +Schleier des Wollgrases wehen über den schwarzen Gründen und werden +von den Winden zerzaust. Das Birkengrün bricht mit Macht hervor, +leuchtet im schönsten Jugendschimmer über dem Braun des Hochmoors und +nimmt allmählich seinen matteren Sommerglanz an. Die Kiefern stecken +ihre Kerzen auf, und die Moorheide hängt die ersten Glöckchen aus. +Und noch immer sind die Menschen vom dämmernden Morgen bis in die +sinkende Nacht -- ach! und die Tage werden immer länger -- dabei, +den schwarzbraunen Kuchen auszudehnen, den halbgaren mit armlangen, +haarscharfen Messern zu zerschneiden, die Stücke auf- und umzusetzen, +damit die große Torfbäckerin, die Sonne, mit ihren Gesellen, den +Winden, von allen Seiten herankommen und sie durch und durch hart +und trocken backen kann. Regenschauer und Sonnenbrand, Stürme und +Gewitter lassen sie geduldig über sich ergehen, werden heiß und kalt, +naß und wieder trocken, nur auf das eine bedacht, den Schatz, den die +gütige Natur Jahrtausende hindurch in faulenden Sumpfmoosen angelegt +und aufgespeichert hat, zu heben und in das liebe tägliche Brot zu +verwandeln. + +Wenn jemand zur Winterszeit hinter dem warmen Ofen vom +Frischgeschlachteten ein bescheidenes Fettschichtchen angesetzt hat +-- du liebe Güte! wo ist das geblieben? Die gebräunten Gesichter, +in deren Furchen sich der Torfstaub eingenistet hat, erscheinen +wie gemeißelt. Die Augen sind stumpfer und leerer geworden. Hier +und da fühlt einer, der schon etwas in die Jahre gekommen ist, ein +verdächtiges Reißen in den Gliedern und denkt mit heimlicher Furcht +daran, ob die Zukunft ihn nicht auch wie den kaum fünfzig Jahre alten +Jan Ebbers Nr. 14 gichtisch verkrümmt und arbeitsunfähig im Liegestuhl +finden wird. Das Moor ist nicht so freundlich entgegenkommend wie die +rindernährende Marsch oder auch nur wie die angrenzende Geest. Billig +gibt es seinen Kindern das tägliche Brot nicht her. + +Es ist ein stiller, warmer Sommerabend Anfang Juni. Der Mond, der +voll und schön am wolkenlosen Himmel steht, läßt die Wiesennebel und, +von ihnen umhüllt, zwei schlanke, weiße Mädchenleiber blausilbern +aufleuchten, die in einem Graben spaddelnd und planschend, unter +Lachen und Scherzen, den Staub und Schweiß der Torfbackezeit gründlich +abspülen. Dem Wasser entstiegen, springen sie in der Wiese umher wie +ein paar junge Füllen. Wie vom Dorf her eine Handharmonika erklingt, +umfangen sich die beiden zu einem Tänzchen. Leicht und graziös +hüpfen die Füßchen, die so lange in den schweren Brettholzschuhen +gesteckt und Torf geknetet haben, über den glänzenden Plan. Von Kopf +bis zu Fuß frisch und sauber gekleidet, das gebündelte Arbeitszeug +in der Hand, schlendern die jungen Dinger dann endlich plaudernd, +Arm in Arm, der Dorfreihe zu. Auf der Eichenbohle über Rosenbrocks +und Rotermunds Grenzgraben bleiben sie, an die Leitstange gelehnt, +stehen, der benachbarten Gehöfte junge Mägde, schauen in den Glanz des +Nachtgestirnes und seines Spiegelbildes in dem ruhenden Gewässer und +lauschen der Nachtigall, die wie alljährlich um diese Zeit drüben im +Birkengebüsch um Wöltjens Backofen ihre süßen Lieder singt. + + * * * * * + +Es wird Zeit, das schwarze Erntefeld mit dem grünen zu vertauschen. +Denn die liebe Sonne backt nicht nur Torf; gleichzeitig hat sie auf +den Wiesen süße, saftige Gräser und Kräuter in reichlicher Fülle +hervorgelockt. + +Was die Brunsoder an Grünland dem Moor abgewonnen haben, gibt +einstweilen nicht viel mehr her, als bei der sommerlichen +Grünfütterung draufgeht. Der Heuvorrat für den Winter muß an der +Hamme geerntet werden. Dieser westliche Grenzfluß des Moorgebiets, +der die Schiffgräben der Dörfer aufnimmt und, durch Kanäle mit Bremen +verbunden, die wichtigste Verkehrsader der Gegend darstellt, fließt +durch ein breites Wiesental, das den Winterbedarf der Moordörfer +weithin deckt. Jan Rosenbrock hat dort, drei Wegstunden von seinem +Gehöft entfernt, fünf Tagwerk Wiesen gepachtet. + +Als nach einer Regen- und Gewitterwoche das Wetterglas endlich wieder +anfing zu steigen, machten Gerd und Leidchen sich eines Morgens vor +Tau und Tag auf den Weg, um mit der Heuernte zu beginnen. Jan wollte +am nächsten Tage nachkommen. + +Auf dem schmalen Leinpfad gehend, schob Gerd hemdärmelig mit dem +eingestemmten Stangenruder sein Schiff den Graben hinab vor sich her. +Geräuschlos glitt es durch den Schatten der Hofbrücken, mit Gebrause +schoß es über die beweglichen Stauklappen, die man alle paar hundert +Meter angebracht hat, um den Graben schiffbar zu erhalten und das Land +nicht gar zu stark zu entwässern. Leidchen schritt in Schleierhut +und hellblauem langen Sommerkleid munter vor dem Bruder her und sah +nach links zu den Gehöften hinüber, die teils noch schliefen, teils +eben für den neuen Arbeitstag erwachten. Hier und da rüstete man +gleichfalls zur Fahrt ins Heu. + +Das letzte Gehöft in der Reihe war das des Müllers. In einem leidlich +gepflegten Garten mit altem Baumbestand lag das stattliche, massive +Wohnhaus. Ein größeres Rosenbeet stand gerade in voller Blüte. Die +aufgehende Sonne, die eben ihre ersten Strahlen durch das sommerliche +Grünen und Blühen sandte, ließ eine große Glaskugel farbig aufleuchten. + +»Ein feiner Platz,« sagte Leidchen bewundernd. + +»Wenn einer sich 'ne reiche Bauerndeern von der Geest freit,« meinte +Gerd brummend, »ist es keine Kunst, seinen Kram in Schick zu haben. +Aber die Leute sagen, das Geld wär' bald wieder alle. Na, bis dahin +ist Hermann ja wohl so weit und kann wieder so 'ne fette Geestkuh +einschlachten, oder eine noch fettere Marschkuh.« + +»Pst!« machte Leidchen. + +Im Garten, der bis hart an den Schiffgraben reichte, war ein Räuspern, +Husten und Spucken laut geworden, und gleich darauf tauchte ein +untersetzter Mann aus dem Gebüsch, dessen rotes Gesicht mit einiger +Sicherheit auf eine Vorliebe für starke Getränke schließen ließ. Er +schlarrte in großblumigen Filzpantoffeln über die mit weißgestrichenem +Geländer versehene Hofbrücke der Mühle zu, die jenseits des Dammes +ihre mächtigen Flügel im Morgenwind drehte. + +Der Müller bemerkte die beiden Heufahrer wohl, schenkte ihnen aber +so wenig Beachtung, daß diese es nicht für nötig hielten, ihm die +Tageszeit zu bieten. + +»Das ist ja 'ne ganz schlimme Gegend,« sagte Leidchen beinah ängstlich. + +Kaum war er in der Mühle verschwunden, so unterbrach die Morgenstille +ein polterndes Schelten. Was der Müllergesell zu seiner Verteidigung +vorbrachte, machte die Aufregung seines revidierenden Herrn nur noch +schlimmer. Indes Gerd und Leidchen nach dem Wortwechsel hinhorchten, +kam von der Gartenseite her eine starke Tigerdogge an den Graben +gesprungen, die heiser bellend und die Zähne fletschend das Schiff +eine Strecke begleitete. + +Gerd lachte kurz und trocken auf: »Ja, der Müller und sein Packan, die +sind einer des andern wert.« + +»Stolz, glaub' ich, ist der Mann auch. Er hat uns knapp angekuckt.« + +Gerd machte ein Gesicht wie einer, der Welt und Menschen kennt, und +sagte: »Die Geldsäcke sind alle so.« + +Eine gute Stunde später traten die Geschwister in das Schiff, das +jetzt aus dem schmalen Graben in den Hammefluß hinausglitt. Während +Leidchen sich vorn auf dem Verdeck der Koje niederließ, legte Gerd, +nachdem er den Mast gerichtet und das braune Segel freigemacht hatte, +sich hinten an das eingehängte Steuerruder, froh, daß der Wind ihm +verstattete, seine Kraft für die Arbeit des Tages zu sparen. + +Leidchen hatte bislang während der Heuernte zu Hause Kinder +hüten müssen. Zum erstenmal sah sie den glitzernden, flimmernden +Wasserspiegel, das weite grüne Wiesental, die wogenden Schilfwälder +des Ufers, die Flug- und Kampfspiele des Sumpfgevögels und blickte +mit frohen, hellen Augen um sich. Die Fragen, deren sie eine über die +andere stellte, beantwortete der Bruder, sein Pfeifchen rauchend, mit +der gelassenen Ruhe des in der Welt sich auskennenden Mannes und mit +seinem Element vertrauten Schiffers. Das Gefühl der Überlegenheit, +das dem lebhaften und geistig regen Mädchen gegenüber zu behaupten +ihm nicht immer leicht wurde, konnte er hier einmal nach Herzenslust +auskosten, und das versetzte ihn in die allerbeste Laune, so daß er +die Rede auch auf die größere Fahrt brachte, die er ihr für den Herbst +versprochen hatte. Auf dem Bremer Freimarkt, ja, da würde sie erst +Augen machen! Und sie stützte die Arme auf die Knie und das Kinn in +die Hände und lauschte wie ein Kind, dem das schönste Märchen erzählt +wird, wie er von Puppenspielern, Zirkusreitern, Meerjungfrauen, +Riesenweibern, dressierten Flöhen und anderen Weltwundern berichtete, +die er ihr dort zeigen würde. + +»Nun wollen wir erst mal frühstücken,« sagte er dann, indem er die +totgesogene Pfeife weglegte. Leidchen ließ sich neben ihm nieder, +hielt den straff gepackten Lederholster, den sie der Koje entnommen +hatte, auf dem Schoß und packte aus. Inzwischen hatte Gerd das +Steuerruder herumgerissen, und das Schiff lief, während sie wacker +schmausten, einen breiteren Wiesengraben aufwärts. Als sie wieder +einpackten, waren sie am Ziele. + +Und nun machten sie sich hurtig und munter an ihr Tagewerk. Auch +Leidchen griff zur Sense, die sie, an das Kuhfuttermähen von früh +an gewöhnt, nicht übel handhabte. Jedoch in dem Bestreben, mit dem +Bruder Schritt zu halten, ermüdete sie schnell und nahm bald die +ihrem Geschlecht und Alter mehr angemessene Harke zur Hand, um aber +zwischendurch immer wieder ein paarmal auf und ab zu mähen. Nach dem +wochenlangen Wühlen in feuchten, schwarzen Torfgründen machte ihr die +Arbeit auf der sonnbeglänzten grünen Blumenwiese mit dem heute so +gutgelaunten Bruder und ohne den meist einsilbig mürrischen Halbbruder +und Dienstherrn Freude und Spaß. + +Der Morgenwind ging bald zur Ruhe, und immer heißer brannte die +Sonne auf den grünen Plan. Mehr als einmal wurde die im Uferschilf +geborgene Blechkanne herausgezogen und der trockene Gaumen durch einen +Schluck kalten Kaffees angefeuchtet. Als die Sonne ihre Mittagshöhe +erreichte, stellten sie, da Bäume nicht in der Nähe waren, das braune +Segel schräg gegen ihre Glutstrahlen, um im Schatten ihr Mittagbrot +verzehren und eine Stunde ruhen zu können. + +Am Abend, nachdem sie das welkende Gras in Haufen gemacht hatten, +schlenderten sie wohlig müde der sinkenden Sonne nach einem Gehöft +zu, das eine tüchtige Viertelstunde entfernt unter hohen Bäumen auf +einer Wurt lag. Es gehörte dem Grasbauern Harm Tietjen, von dem die +Rosenbrocks seit Jahrzehnten das Wiesenland in Pacht hatten, und bei +dem sie während der Heuzeit auf dem Boden oder in der Scheune zu +nächtigen pflegten. + +Frau Tietjen, die noch auf den altmodischen und aussterbenden Namen +Tibcke hörte, empfing die Ankömmlinge freundlicher, als Gerd von ihr +gewohnt war. Von der vornehmen Zurückhaltung, die sie als reiche +Wiesenbäuerin so kleinen Leuten aus dem Moor gegenüber sonst sich +schuldig zu sein glaubte, war diesmal nicht viel zu bemerken. Man +wurde in die Wohnstube genötigt und bewirtet, und auf Frau Tibckes +breitem, glänzendem Gesicht malte sich immer mehr ein mütterliches +Wohlgefallen an dem schönen Kinde, das höflich bescheiden und +unbefangen frisch alle Fragen der großen Frau beantwortete. Als +Bettgehenszeit wurde, hatte Leidchen deren Herz bereits so umstrickt, +daß sie eingeladen wurde, für die Nacht im Anderthalbschläfer +ihrer Tochter mit unterzukriechen, wozu diese, nachdem sie die ihr +zudiktierte Bettgenossin von Kopf bis zu Fuß gemustert hatte, zögernd +und ein wenig säuerlich ihre Einwilligung gab. + +Das Dutzend Jahre, das Fräulein Hermine Tietjen vor dem Kind des +Moores voraus hatte, war nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Einen +oberen Vorderzahn hatte es genommen, die ersten Krähenfüßchen um +die Augen ihr gebracht. Eine Schönheit war sie mit dem zu breiten +Mund, den zu kleinen Augen und den zahllosen Sommersprossen wohl nie +gewesen. Aber dem Spiegel an der Wand, wenn er einmal Anwandlungen +von Ehrlichkeit hatte, glaubte sie nicht, weil er ein Buckelchen und +ein Bläschen hatte. Um nun dem lebendigen Spiegel jungmädchenhafter +Lieblichkeit und Frische, den sie bei sich in der Kammer hatte, +nicht glauben zu müssen, suchte sie an ihm mit Luchsaugen nach einem +Buckelchen oder Bläschen. Aber die jugendlich schlanke Gestalt, die +sich vor ihr entkleidete, war leider von herrlichstem Ebenmaß; an +Reinheit und Zartheit der rosig durchschimmernden Haut ließ sich mit +dem besten Willen nichts tadeln; den Augen, Mund, Nase und Haar, den +Ohren, ja sogar den Füßen, mußte auch der Neid lassen, sie konnten gar +nicht wohlgebildeter sein, als sie waren. Und schon wollte sie das +vergebliche Suchen aufgeben, als plötzlich ihre kleinen grünlichen +Augen in der Freude des Findens schillerten. + +»Ih! Was hast du denn da?« rief sie, mit spitzem Finger und ebenfalls +gespitzter Nase zufahrend. + +Leidchen legte harmlos ein Muttermal über dem Ansatz ihrer linken +Brust frei, daß die andere es in Ruhe betrachten konnte. Die machte +ein Gesicht, als ob ihr eine Kröte in den Schuh gekrochen wäre. + +»Igittegitt, wie sieht das aus?« + +»Och, das kriegt ja kein Mensch zu sehen.« + +»Willst du dir das nicht wegoperieren lassen?« + +»Warum? Das hat Zeit genug, da zu sitzen.« + +»Aber Deern, schämst du dich denn gar nicht?« + +»Weshalb?« + +»Daß du da so'n Ding hast!« + +Jetzt wurde es Leidchen zu viel. Gutmütig spottend sagte sie: »Meinst +du, daß ich mit deinen Sommersprossen tausche?« + +Hermine zuckte wie unter einem Nadelstich zusammen. Sie war schon +auf mehr als eine Anpreisung in der Zeitung, die sie von diesem +Schönheitsfehler zu befreien versprach, hineingefallen. + +»Ach ja,« seufzte sie, »es ist ein Leiden, wenn man einen gar zu +feinen Teint hat.« Sie sprach das Wort, wie man's schreibt; denn sie +war ein Jahr in der Benehmigung gewesen und hielt es so für gebildeter. + +Leidchen entgegnete darauf nichts, aber ihr harmloses Lachen klang +etwas ungläubig und verwundete die andere noch mehr. + +Rachedürstend trat sie an ihre messingbeschlagene Eichenholzkommode +und zog die oberste Schublade auf, in der sie eine Anzahl Kästchen und +Schächtelchen öffnete. + +»Darf ich mich hinlegen?« fragte Leidchen bescheiden, zum Einsteigen +bereit vor dem Bett stehend. + +»Nein,« sagte Hermine, die gerade dabei war, ein Licht anzuzünden, +kurz und schroff, »ich will dir erst noch mal was zeigen. Komm +hierher!« + +Ein bewunderndes Ah und Oh nach dem anderen sprang von den Lippen des +Moorkindes vor all den im Kerzenglanz funkelnden Broschen, Ringen, +Ketten und Armbändern. + +Die große Bauerntochter nahm die einzelnen Stücke in die Hand, wandte +sie im Licht hin und her, daß sie blitzten, hielt sie dorthin, wo +sie ihren kargen Reizen zu Hilfe zu kommen pflegten, und nannte mit +boshaftem Behagen die stark nach oben abgerundeten Preise. Die kleine +Moordeern stand jetzt sprachlos mit gefalteten Händen neben ihr und +konnte sich nicht satt sehen. Noch nie waren ihr die Herrlichkeiten +der Welt so verlockend gezeigt worden. + +Aber die andere war mit diesem Triumph noch nicht zufrieden. Sie +schloß einen zweitürigen Schrank in Nußbaumimitation und Muschelstil +auf und sagte: »Hier siehst du all meine Kleider. Dies weiße trag' ich +auf dem Ball, in diesem schwarzen geh' ich zum Abendmahl, die beiden +da sind für die gewöhnlichen Sonn- und Festtage. Und dies himmelblaue +hab' ich zur Hochzeit meiner Schwester gekriegt, es ist ganz von prima +Seide. Kuck doch bloß mal, wie's glänzt! Und wie es sich anfühlt! Du +darfst dreist mal anfassen.« + +Leidchen machte von dieser gnädigen Erlaubnis Gebrauch. Scheu +liebkosend fuhr ihre Hand an dem schimmernden Stoff hinunter. »Ganz +von Seide ...« wiederholte sie, andächtig versunken. + +»Ja, und kostet dreißig Taler.« + +»Das ist nicht wahr!« + +»So gewiß, als ich hier stehe! Soll ich dir die Quittung zeigen?« + +»Dreis--sig Ta--ler ...« + +»Wenn du dir so'n Kleid kaufen wolltest, müßtest du ein Jahr dafür +dienen, nicht wahr?« + +»So eins möchte ich nicht geschenkt. So viel Geld für ein einziges +Kleid? Das ist, glaub' ich, Sünde.« + +»Du liebe Unschuld du,« sagte Fräulein Hermine Tietjen mitleidig +lächelnd, indem sie ihren Kleiderschrank abschloß. »So, nun steig' man +hinein. Du kriegst den Platz an der Wand.« + +»Was ist das?« fragte Leidchen ein wenig erschrocken, als es unter +ihrem Gewicht verdächtig krachte und knackte. + +»Patentmatratze,« erklärte stolz die ihr nachsteigende +Betteigentümerin, »auf Stroh schlafen wir längst nicht mehr. Aber du +mußt dich nicht so breit machen, als ob du hier zu Hause wärest. Und +nun hör' zu, was ich sonst noch alles habe oder einmal kriege.« + +Sie begann mit ihrem Schatz an Leinenzeug. Dann kam die Leibwäsche +an die Reihe. Zuletzt verriet sie, was sie an barem Gelde einmal +mitbekommen würde. Das war eine Summe, über deren Höhe ihrer gespannt +lauschenden Zuhörerin der Mund aufging und der Kopf schwindelte. Zwei +Brunsoder Moorstellen hätte man bequem dafür kaufen können. + +»Willst du denn noch heiraten?« fragte Leidchen unschuldig. + +»Noch? Noch? Was ist das für'n dummer Schnack! Als ob ich nicht schon +fünf Männer hätte haben können! Aber wir sind anders als ihr im Moor. +Ihr kommt zusammen und wißt manchmal selber nicht wie, und wiegt schon +Kinder, wenn ihr hinter den Ohren knapp trocken seid. Wir halten mehr +auf uns und sind nicht so'n Prachervolk wie -- na, ich hätte beinah' +was gesagt. Nun wollen wir schlafen. Gute Nacht, schlaf süß!« + +Sie war schnell eingeschlafen, aber Leidchen, obgleich sie beim +Eintreten zum Umfallen müde gewesen war, lag, an ihre Wand gedrückt, +noch lange mit wachen Augen. + +Zum erstenmal in ihrem jungen Leben war sie mit ihrem Lose unzufrieden. + +In Schule und Konfirmandenunterricht, auf der Nachbarschaft und +im Dorfe hatte sie immer etwas gegolten, ja, man hatte sie sogar +etwas verwöhnt. Jetzt, wo sie zum erstenmal über die Grenzen ihres +Kirchspiels hinauskam, bemerkte sie mit Schmerzen, daß sie nichts war +als eine arme, kleine, dumme Deern aus dem Torf. + +Sie dachte an den Inhalt ihrer Lade daheim. Das meiste davon stammte +aus mütterlichem Erbe, allerlei Kleinigkeiten hatten die Brüder, +Schwägerin und Patentante ihr im Lauf der Jahre geschenkt. Wie manches +liebe Mal hatte sie an diesen Habseligkeiten, die sie in peinlicher +Ordnung hielt, ihre Freude gehabt! Jetzt, nachdem sie einen Blick in +Hermine Tietjens Kommode und Kleiderschrank geworfen hatte, erschienen +sie ihr auf einmal so armselig und nichtig, daß sie überzeugt war, +sie würde sich niemals wieder an ihnen freuen können. + +Es war in der Welt doch verkehrt eingerichtet. Die einen wühlten ihr +lebelang im Moor, die anderen in Gold und Seide, und kein Mensch +konnte sagen, womit sie diese Bevorzugung eigentlich verdient hatten. + +Aber war denn gar keine Möglichkeit, daß auch sie einmal zu diesen +anderen gehörte? War nicht Nachbar Rotermunds jüngerer Bruder als +Junge mit nichts nach drüben gegangen, und als er vor Jahren seine +alte Heimat wieder besuchte, konnte er mit dem Geld nur so um sich +werfen, und gegen seine dicken Ketten und Ringe aus purem Gold war +Hermine Tietjens Goldgeschirr nichts als Klöterkram. Aber wenn ein +anschlägiger Junge es in Amerika auch zu was Rechtem bringen konnte, +was sollte ein armes Mädchen im Torf machen, mit einem Jahreslohn, der +für andere kaum zu einem einzigen Kleide reichte? + +Das einzige wäre am Ende -- eine reiche Heirat. + +Aber wenn nur die reichen Jungens nicht immer gerade die reichen +Deerns nähmen, nach dem Wort: Geld muß zu Geld kommen! Zum Beispiel, +solange die Mühle in Brunsode stand, war noch keine Tochter des Dorfs +als junge Frau auf ihr eingezogen. Hermann holte sich natürlich auch +wieder eine mit viel Geld von auswärts, und die armen Mädchen mußten +mit einem armen Knecht oder Häusling vorliebnehmen und quälten sich in +ein paar Jahren zuschanden. + +Todmüde, wie sie war, und doch nicht imstande, einzuschlafen, fühlte +sie beinahe etwas wie Haß gegen die vom Glück so verzogene, sanft +schnarchende Bettgenossin, bis endlich der Schlaf sich ihrer erbarmte +und die junge Seele von allen bösen und bitteren Gedanken erlöste. + +Als der Morgen graute, erwachte sie von einem leisen Klopfen gegen +die Fensterscheiben. Es war Gerd, der sie für den neuen Arbeitstag +weckte. Draußen riefen schon die Kiebitze, und die Hofenten machten +ein Heidengeschnatter. Indes sie vorsichtig über die reiche Erbin +hinwegstieg, riß sie auf einmal die Augen weit auf. Was? Saßen der +die Haare nicht fest am Kopf? Mit spitzen Fingern langte sie zu und +hielt den schönsten kastanienbraunen Zopf in der Hand. Sie war über +ihren Fund so glücklich, daß sie, ihn um sich schwingend, auf bloßen +Füßen und im Hemde ein Solotänzchen durch das dämmerige jungfräuliche +Schlafgemach ausführte. Endlich wollte sie das Ding vorsichtig wieder +an seinen Platz legen. Aber auf einmal sagte sie sich: Sie hat dich +so geärgert, ärgere sie mal ein bißchen wieder, und indem tausend +Teufelchen aus ihren Augen sprühten, brachte sie den Zopf hübsch +gefällig über dem Spiegel an. Dabei konnte sie es nicht vermeiden, in +diesen hineinzublicken, und ihr sagte er trotz Buckel und Bläschen +nichts Unangenehmes. Sie wandte sich nach der holden Schläferin um, +machte ihr eine allerliebste lange Nase zu und flüsterte: »Mit dir +tausch' ich nicht, und wenn du zehn Kommoden voll Gold und hundert +Schränke voll Seide hättest.« Dann flog sie hurtig in ihre Kleidung, +und nach wenigen Minuten schritt sie mit Gerd, der draußen auf sie +gewartet hatte, munter durch die tauglitzernden Wiesen der Sonne +entgegen, die auch heute wacker grünes Gras in duftendes Heu zu +verwandeln versprach. + +Bald kam Jan auf seinem Rad angefahren. Auch Rotermunds begannen mit +der Heuernte, und Wellbrocks von Nr. 24. Alle krochen für die Nacht +bei Tietjens unter. Leidchen zog es vor, mit den Frauen und Mädchen +ihres Dorfes sich in einen Rest vorjährigen Heus zu packen. Die +Gastfreundschaft in Hermine Tietjens Anderthalbschläfer wurde ihr +übrigens auch nicht wieder angeboten. + +Die sengende Gluthitze der nächsten Tage förderte die Arbeit im +Hammetal aufs beste, forderte aber auch ein Opfer. Nicht weit von +Rosenbrocks Wiesen brach Cord Mehrtens aus Hasenwede beim Mähen +lautlos zusammen. Man spannte das Torfsegel über ihn zum Schutz +gegen die Sonnenstrahlen. Nach drei Stunden kam endlich der Arzt, +der die Achseln zuckte und keine Hoffnung gab. Eine Stunde nach +Sonnenuntergang trugen die beiden Söhne den Entseelten in sein Schiff, +deckten ihn mit dem Segel zu und stakten durch die schöne warme +Sommernacht heim zu Muttern. + +In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag arbeiteten die drei Rosenbrocks +sich mit der ersten Ladung Heu den Graben vor Brunsode aufwärts. Das +Schiff war so hoch bepackt, daß es, die Hofbrücken anstreifend, nur +mit knapper Not passieren konnte. Wenn es ein Klappstau hinaufging, +rief Jan, der mit dem Stangenruder schob, »Hei -- djup!« und Gerd und +Leidchen, die in quer über die Brust gehenden breiten Seilen liegend +das Schiff schleppten, legten sich mit doppelter Kraft ins Zeug, +um den Höhenunterschied und den Widerstand des entgegenströmenden +Stauwassers zu überwinden. Schwer fielen sie in die lang entbehrten +Betten und verschliefen die Nacht und, mit kurzen Unterbrechungen für +das Essen und die notwendigsten Arbeiten, den Sonntag und noch eine +Nacht. Die Frühsonne des Montags fand sie schon wieder auf dem Wege zu +den Hammewiesen. + +Dem grünen Erntefeld drängte das goldig gelbe nach. Auf diesem zu +arbeiten war dann aber wirklich eine Lust. Es lag so bequem nahe +beim Hause, dehnte sich nicht gar zu weit aus, und die schlimmste +Hitze des Jahres war vorüber. Als Trina das erste Brot von jungem +Roggen herauszog, umstand die ganze Familie den Backofen. Man besah +und beroch's, probierte, bedächtig kauend, nickte befriedigt und war +fröhlich und guter Dinge. + +Das Kartoffelauskriegen war auch mehr Spaß als Arbeit. Man half +einander nachbarlich, lag in langen Reihen auf den Feldern, und der +gemütliche Klöhnschnack riß den ganzen Tag kaum ab. + +Zwischendurch mußten Gerd und Leidchen sich auch mal vor die Egge +spannen und sie über das weiche, gepflügte Moorland ziehen, das in der +herbstlichen Regenzeit für Pferde nicht recht gangbar war. Das war +wohl ein saurer Tag, aber der tiefe, gesunde Schlaf der Jugend machte +in einer Nacht alles wieder gut. + + * * * * * + +Ob irgendwo in deutschen Landen so schwer und anhaltend gearbeitet +wird wie in dem Lande, wo dem schwarzbraunen Moor die weiße Birke +entsteigt? In den Marschen und auf den Heiden der nordwestdeutschen +Tiefebene jedenfalls nicht. Dort haben sie zwischen den Zeiten, wo die +Arbeit auf den Nägeln brennt, Wochen oder wohl auch Monate, in denen +sie es sachter angehen lassen können. Im Moor werden diese Atempausen +durch Backen, Schneiden und Ringeln des Torfs ausgefüllt, und nicht +einmal Spätherbst und Winter bringen wirkliche Ruhe. Denn dann muß +das Landesprodukt in die Stadt geschafft und in Bargeld umgesetzt +werden. Da knarren durch Sturm- und Regennächte die schweren geeichten +Kumpwagen die Birkenchausseen entlang, und auf den Wasserwegen ziehen +die torfbepackten Schiffe. Das kostet wieder saure Arbeit und bringt +schlaflose Nächte ungezählt. Und wer kein Raubbauer auf Torf sein, +sondern durch Urbarmachen der abgetorften Flächen das Kulturland ins +Moor vorschieben will, muß sich auch in der stilleren Jahreszeit +dranhalten. Nur wenn der Frost das Land wie in eiserne Bande +geschlagen hat, hat's der Moorbauer kommodiger und kann die harten +Arbeitshände mal in den Schoß legen. + +Kein Wunder, daß in diesem Lande die schönen Mädchen nicht auf den +Bäumen wachsen und jugendliche Frische früh verblüht. Kein Wunder, +daß die Königliche Aushebungskommission unter den Söhnen des Moores +nicht gar zu viele Rekruten für die Potsdamer Garde findet, ja, daß +sie manchen sonst ganz gesunden Jungburschen kaum dem obskursten +Regiment an der russischen Grenze zumuten mag. Laßt's nur gut sein! +Ihre Urgroßväter, die ersten Ansiedler, erhielten Befreiung vom +Militärdienst, um im Frieden, Spaten und Hacke in der Hand, für König +und Vaterland eine neue Provinz zu erobern. Dieses Werk setzen die +Enkel mit echt niederdeutscher Zähigkeit wacker und unverdrossen fort, +und sie und ihre Kinder werden nicht ruhen, bis es zu Ende geführt +ist. Der »Jan vom Moor«, den die von der Natur mehr gehätschelten +Nachbarn nicht recht für voll nehmen wollen, und über den die Bremer +dummen Jungs ihre Witze reißen, wird aussterben, und wo er einst mit +schweren Holzstiefeln in der glucksenden, triefenden Torfkuhle stand, +da werden seine Urenkel als niederdeutsche Kleinbauern auf freier, +grüner Scholle sich eines bescheidenen, aber sicheren Wohlstandes +erfreuen. + + + + + 5. + + +In den hinterzu gelegenen Moordörfern sitzt manch' brave Ehefrau und +Mutter, die das Jahr hindurch kaum je über die Grenzen des Kirchspiels +und den engen Kreis ihrer Pflichten hinauskommt. Sie trägt auch gar +kein Verlangen danach und überläßt die Strapazen des Reisens gern +ihrem Jan. Aber um die Zeit, wenn die Kartoffeln heraus sind, wenn die +Ratten das lustige Leben an den Grabenrändern aufgeben und sich auf +die Gehöfte zurückziehen, wenn die silbernen Birken ihr herbstliches +Gold streuen, packt auch die häuslichste aller Frauen eine merkwürdige +Unruhe. Es ist die Zaubermacht des Bremer Freimarkts, die auch die +seßhafteste und solideste einmal von Haus und Hof, Kindern und Vieh +hinwegzieht. + +Wenn drüben in der alten Hansestadt um Sankt Petri ehrwürdigen Dom +über Nacht die leichte, luftige Zelt- und Budenstadt aus dem Pflaster +geschossen ist und zu Füßen des starr verwundert blickenden Riesen +Roland alle Spezialitäten, Raritäten, Abnormitäten des Kontinents +sich ein Stelldichein geben, dann sagt Gesche zu ihrem Klaus, und +Dele zu ihrem Peter, und Meta zu ihrem Jan: »Du, nach'm Freimarkt +möcht' ich auch mal mit.« Und Jan, Peter, Klaus, einerlei, ob er das +Recht des Holzpantoffels über sich anerkennt oder ob er die Hosen +anbehalten hat, macht keine Sperenzien, »tiert« mit seiner Gesche, +Dele, Meta zur Stadt, zeigt ihr die Herrlichkeiten und Wunder des +Freimarkts, högt sich, wenn sie Augen macht wie Wagenräder, kauft ihr +Honigkuchen, Spielsachen für die Kinder, Geschirr für den Haushalt und +wonach sonst ihr Sinn steht, in verschwenderischer Laune, und ist den +ganzen Tag der liebenswürdigste, zuvorkommendste Ehemann der Welt. +Wenn die beiden dann nach endloser Wasser- oder Wagenfahrt durch die +Annehmlichkeiten einer Herbstnacht endlich unter ihr Strohdach treten, +sinkt sie auf den ersten besten Stuhl zusammen, läßt die Hände schlaff +an den Seiten herunterhängen und verschwört sich stöhnend: »Ich hab'r +genug von für mein Leben.« Ist aber ein Jahr herum und das Birkenlaub +küselt aufs neue zur Erde, fängt sie doch wieder an: »Och, diesmal +möchte ich wohl noch mal mit. Wer weiß, ob ich's nächstes Jahr noch +erleb'.« + +Wenn in hillster Zeit die Arbeit auf den Nägeln brennt und gar zu +viel Überstunden gemacht werden müssen, so daß die Augen verdrossen +blicken, und die Kräfte zu versagen drohen, bringt der kluge Bauer +die Rede wohl so beiwegelang auf den Freimarkt und läßt durchblicken, +daß es ihm auf ein anständiges Marktgeld für den fleißigen Knecht, +die unermüdliche Magd nicht ankommen soll, und es müßte schon gar zu +schlimm sein, wenn das nicht mehr verfinge. + +Sechzig Drehorgeln dudelten und leierten wieder einmal auf den Straßen +und Plätzen Bremens den lieben langen Tag ihr Repertoire herunter, +von: »Ich bete an die Macht der Liebe« bis »Mutter, der Mann mit dem +Koks ist da,« das eben seinen Siegeslauf durch die Welt antrat. +Einige dreißig waren von der kunstverständigen Polizeikommission beim +Probespielen mit Rücksicht auf die durch höherwertige musikalische +Genüsse verwöhnten städtischen Ohren zurückgewiesen worden. Aber sie +gingen der guten Sache deshalb nicht verloren. Mit ihrer verstimmten +Töne Gewalt erfüllten sie die Umgebung der Stadt und trugen die +fröhliche Botschaft vom Freimarkt auf die Dörfer. + +Es war der bösartigste aller Leierkasten, der Brunsode beglückte. +Als Herr Timmermann mitten in der Weltgeschichtsstunde seine Klänge +vernahm, legte er das Gesicht in Leidensfalten; die Kinder aber +reckten die Hälse, horchten mit leuchtenden Augen und hatten für die +unerhörtesten Weltbegebenheiten kein Ohr. Tönnjes Miesner, der älteste +Altenteiler des Dorfes, der vor seiner Haustür in der Herbstsonne +saß, winkte den Orgelmann heran, hielt sich die großen zitterigen +Hände als Schalltrichter vor die torfverstaubten Ohren und dachte voll +Wehmut daran, wie er einst mit den Genossen seiner Jugend, die jetzt +alle dahin waren, im Freimarktsübermut fünf solcher verwegenen Kerls +gemietet und hinter der tollen Musik her, mit ein paar hundert Kindern +im Gefolge, das Torfhafenviertel durchzogen hatte. Damals konnte +einer, der schlau und flink war und Glück hatte, noch mal schnell +mit Schmuggelei ein gutes Stück Geld verdienen und etwas draufgehen +lassen. Dem Alten fielen ein paar große blanke Tränen wehmütiger +Erinnerung aus den Augen, indem er in der Tiefe seiner Hosentasche +nach dem Groschen Spielmannslohn grub. -- Die Schmuggelzeit ist das +romantische Mittelalter in der Geschichte der Moorkolonien, und wenn +winterabends um den Herd oder in der Stube um den warmen Ofen das +Erzählen beginnt, fängt es bei den Alten gar oft an: »Damals, als die +Schmuggelei noch im Gang war ...« + +Leidchen Rosenbrock saß gerade, den Melkeimer zwischen den Knien, +unter der Rotbunten, als es draußen auf dem Hof erklang: »Im +Grunewald, im Grunewald ist Holzauktion.« Sie hielt, die weichen +Euterstriche zwischen den Fingern, im Melken inne, lauschte, trällerte +die Weise mit, rückte unruhig auf dem Schemel, und ließ dann hurtiger +und lustiger als zuvor die weißen Quellen in den Eimer strullen. Noch +drei Stunden, und es ging nach Bremen zum Freimarkt! Den ganzen Sommer +hatte sie sich darauf gefreut, seit Wochen zählte sie die Tage, und +seit gestern in jugendlicher Ungeduld sogar die Stunden. + +Aber noch stand vor dem Vergnügen ein tüchtiges Stück Arbeit. Leidchen +mußte hinten im Moor auf der Karre einen Korb Backtorf nach dem +anderen an den Grabenrand schieben, und Gerd stand unten im Schiff, +ihn kunstgerecht zu verpacken, bis er die volle Ladung, einen halben +Hunt, d. i. sechs Kubikmeter, beieinander hatte. Ein Viertel des +Erlöses war ihnen von Jan als Marktgroschen zugestanden. + +Nachdem sie sich gründlich von der staubigen Arbeit gewaschen und +die eingepackte Festkleidung verstaut hatten, brachen sie in später +Nachmittagsstunde auf. + +Als sie die Hamme erreichten und das Schiff, das sie bis dahin vom +Leinpfad aus geschleppt und geschoben hatten, bestiegen, war die +Sonne bereits hinter eine breite Wolkenbank gesunken, deren Ränder +in allen Farbentönen, vom tiefsten Violett bis zum zartesten Rosa, +spielten. Der Duft und Glanz eines schönen Herbstabends füllte das +weite Wiesental. Der durch herbstlich raschelnde Schilfwälder sich +hinschlängelnde Fluß schimmerte weithin wie Perlmutter. Wo sein Lauf +sich dem Auge entzog, bezeichneten ihn bis zur Horizontlinie die +schwarz gegen den Himmel stehenden Rechtecke der heraufkommenden +Segel. Die ein gutes Dutzend Moorkolonien mit der Welt verbindende +Wasserstraße war zur Zeit des Torfverschiffens und des Freimarktes +sehr belebt. Die Schiffer kannten sich fast alle, wenn auch meist nur +nach Gesicht und Vornamen, und die üblichen Zurufe flogen zwischen den +einander Begegnenden hin und her: »Geht's 'nauf, Gerd?« »Ja, Jan.« +-- »Geht's 'nunter, August?« »Ja, Gerd.« -- »Na, wie war's auf'm +Freimarkt, Meta?« »Wunderschön, Gerd. Ist recht, daß du Leidchen auch +mal mitnimmst. Deern was wirst du für Augen machen!« + +Als sie an einer Reihe von Schiffen vorüber waren und die glänzende +Bahn auf eine gute Strecke frei vor ihnen lag, hub Leidchen, die vorn +auf der mit braunem Laken bedeckten Ladung saß, an zu singen. Gerd, +der hinten im Schiff stand und die schwere eisenbewehrte Eichenstange +gleichmäßig einstemmte und nachzog, fiel sogleich mit der zweiten +Stimme ein, auf dem träge ziehenden Moorfluß deutsche Rheinromantik +aufleben zu lassen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß ich so +traurig bin,« klang es rein und getragen über die herbstabendstillen +Wasser. + +Als ein kälterer Hauch durch das Tal wehte, vor dem Leidchen fröstelnd +die Schultern zusammenzog, stieg Gerd über die Torfladung nach vorn, +hob den Deckel der Koje und sagte mit einladender Handbewegung: »So, +lüttje Maus, nun wühl' dich hier warm ins frische Stroh und schlaf +süß, daß du mir morgen früh hübsch munter bist.« Sie hob das rechte +Füßchen, zog das linke nach, sank in die Knie und ließ sich in das +knisternde Stroh sinken. Noch einen lächelnden Blick tauschten +sie, dann schloß er behutsam über der Schwester das wellengewiegte +Schlafkämmerchen. + +Auch der Wind legte sich allgemach schlafen. Nur leichte Wellen kamen +noch den Fluß herauf und schlugen leise an die Wände des kleinen +Schiffes, auf dessen mattglänzende Bahn sich leichte Nebelschleier +legten. Am Himmel zogen sterndurchfunkelte grauweiße Wolken. + +Vom Ufer her warf ein ruhig brennendes Licht seinen zitternden +Widerschein über das Wasser. Es kam aus Cord Rugens Hammehütte, die +hart am Flusse auf einer Wurt lag, und in der während der Monate +regeren Wasserverkehrs eine Wirtschaft für Schiffer gehalten wurde. +Gerd, der eigentlich vorüberfahren wollte, entschloß sich im letzten +Augenblick doch zum Einkehren. Wenn er ein Stündchen schlief, war er +am nächsten Tage frischer. + +Er legte sein Boot nicht in die Reihe der übrigen, da die vor ihm +aufbrechenden Schiffer seinen Fahrgast dann leicht hätten stören +und erschrecken können, sondern ließ es ein wenig flußabwärts sacht +ins Uferschilf gleiten. Nachdem er, über die Koje gebeugt, durch die +ruhigen und tiefen, aus dem Stroh heraufkommenden Atemzüge sich hatte +sagen lassen, daß seine Schwester fest schlief, stieg er ans Land. + +Die kümmerlich erleuchtete, aber gut durchwärmte Hütte füllte ein +reichliches Dutzend Torfschiffer, die sich hier von den Anstrengungen +der nächtlichen Fahrt erholten, die einen schlafend und schnarchend, +die anderen trinkend und Solo spielend. + +Gerd ließ sich einen Klaren geben, schob das Gläschen, nachdem er +es bis zur Hälfte geleert, zurück, legte die Arme auf dem Tisch +ineinander und barg den Kopf hinein. Eine halbe Minute lang hörte +er noch das Gesäge eines Nachbarn und die auftrumpfenden Fäuste der +Spieler, dann nichts mehr. Auf solche Weise sich ein wenig nächtlichen +Schlafes zu stehlen, war er seit Jahren gewöhnt. + +Zweimal hatte der große Zeiger der Wanduhr die sein Zifferblatt +umrankenden grellbunten Blumen umwandelt, da hob der junge Schiffer +den Kopf, trank seinen Klaren vollends aus, legte die Zeche von einem +halben Groschen daneben und trat gähnend in die Nacht hinaus, die +Fahrt fortzusetzen. -- + +Die Wiesen des Blocklandes deckt das graue Meer der Oktobernebel, aus +dem hier und da der Kopf oder die Rückenlinie einer Kuh wunderlich +gespenstig hervorragt. Auf dem schnurgeraden Kanal gleitet ein +Torfschiff durch den feuchten Dunst, von dem auf den Leinpfad +vornübergebeugt nebenhergehenden Schiffer mit dem eingestemmten +Stangenruder geschoben. Plötzlich umfließt diesen silbernes Licht, er +richtet sich auf und erblickt über die Nebelmassen weg den im letzten +Herbst- und ersten Morgengold leuchtenden Bürgerpark, und dahinter die +Stadt mit ihren Türmen, im Glanz des schönsten Herbstmorgens. + +Da hebt er die Stange und stößt mit ihrer eisenbeschlagenen Spitze +gegen die Koje vorn im Schiff. + +Der Deckel hebt sich. Helles Haar schimmert im Silberlicht der Frühe, +zwei junge Augen zwinkern verschlafen, ein rosiger kleiner Mund gähnt +mit ansteckender Herzhaftigkeit, und aus dem engen dumpfen Kasten +steigt das schönste Kind des Moores, sich schüttelnd und Strohteilchen +mit der Hand von Haar und Kleidung streifend, schlägt den Deckel +krachend zu, springt leichtfüßig hinauf, reckt die schlanken Glieder +in der Sonne und schaut mit großen, glänzenden Augen verwundert und +inbrünstig in den strahlenden jungen Tag. Zugleich schüttelt auch +der junge Schiffersmann die letzte Dumpfheit der Nacht von sich und +schreitet wacker aus, das Ziel zu erreichen. + +Als das Schiff im Torfhafen sich in die Reihe der anderen legte, die +in den Morgenstunden auf den verschiedenen Wasserwegen angelangt +waren, fand sich schnell ein Händler herzu, der Gerds Ware auf Schwere +und Trockenheit untersuchte und ein Gebot abgab. Gerd nannte gelassen, +beide Hände tief in die Hosentaschen vergraben, seinen Preis, der den +Mann veranlaßte, ein Schiff weiter zu gehen. Auch mit einem zweiten +und dritten wurde er nicht handelseins. Leidchen, die auf dem groben +Kaipflaster hin und her ging, wollte schon ungeduldig werden und +drängte ihn, die Ladung loszuschlagen. Aber ohne auf sie zu hören, +steckte er sich die Pfeife an und wartete ruhig, bis jemand ihm auf +eine halbe Mark entgegen kam. Dem verkaufte er seinen Torf. Während +dessen Kumpwagen vorfuhr und die herandrängenden Brockelweiber mit dem +Umladen begannen, zählte er mit großer Sorgfalt sein Geld, um dann +noch jedes einzelne Stück auf seine Echtheit zu prüfen. Dies hatte er +sich zur Gewohnheit gemacht, seit er einmal mit einem österreichischen +Gulden angeführt war. + +Darauf rechnete er aus, was der Schwester und ihm als Marktgeld +gehörte. Es ergaben sich sechs Mark und vierzig Pfennig, die er in +die linke Hosentasche versenkte, während er die größere Summe in der +rechten verstaute. + +»Ich will mein Geld selbst tragen,« erklärte Leidchen und streckte die +Hand aus. + +»Bei mir ist es sicherer,« sagte er. »Auf dem Freimarkt gibt's viele +Taschendiebe.« + +»Schadet nichts. Gib her, drei Mark und zwanzig Pfennig.« Sie stieß +mit dem Hacken des linken Fußes energisch auf das Straßenpflaster und +ließ ein billiges Portemonnaie hungrig auf und zu schnappen. + +»Du bist wohl albern?« rief Gerd verwundert. »Das Marktgeld richtet +sich nach dem Lohn. Da! Hier hast du zwei Mark fufzig, damit kannst du +dicke zufrieden sein.« + +Sie zog das Mäulchen erst ein wenig schief, wusselte dann aber das +geschwollene Geldtäschchen vergnügt in ihre Rocktasche. + +Nachdem sie in einer nahen Gastwirtschaft ihren Morgenkaffee getrunken +und sich festtäglich gekleidet hatten, machten sie sich auf den Weg in +die Stadt. + +An der nächsten Straßenecke begann gerade ein junger, tirolermäßig +aufgeputzter Orgeldreher sein Tagewerk mit: »Freut euch des Lebens, +weil noch das Lämpchen glüht.« Leidchen blieb stehen und hatte ihren +Spaß an der lustigen Weise, und an den lustigen Augen des flotten +Kerls auch wohl ein wenig. Als er seinen Hahnenfederhut hinhielt, +warf sie ihm einen ganzen Groschen hinein, worauf der Leiermann sich +ritterlich verbeugte und sagte: »Küss' die Hand, schönes Fräulein.« + +Freudig errötend schielte Leidchen nach ihrem Bruder hinüber, um zu +sehen, welchen Eindruck diese Anrede auf ihn machte. Der aber lächelte +spöttisch und brummte: »Darauf brauchst du dir gar nichts einzubilden. +Das sagt so'n Lümmel zu jedem alten Schrubber ... Was ich aber noch +sagen wollte, wenn du jedem solchen Tagedieb einen Groschen gibst, +bist du blank, ehe wir zum Marktplatz kommen.« + +Er begann jetzt, sie auf allerhand Dinge, die es in Brunsode nicht +gab, erklärend aufmerksam zu machen, und hatte seine Freude an ihren +verwunderten Augen und den Ausrufen des Staunens, die immer wieder +über ihre Lippen kamen. + +So erreichten sie die Budenstadt, die Marktplatz und +Liebfrauenkirchhof, Domshof und Domshaide bedeckte, und durchstreiften +ihre Gassen in die Kreuz und Quer. Aber der Freimarkt schlief noch. +Die Kuchentanten gähnten und kramten hinter ihren Süßigkeiten, die +Schaubuden zeigten nur ihre grellbunten Lockbilder, die Karussellgäule +schienen wie im Trab oder Galopp erstarrt. Nur wenig Menschen, +meist vom Lande, bewegten sich, dem Anschein nach ohne sonderliches +Vergnügen, zwischen den Budenreihen. + +Als sie sich die Beine müde gelaufen und die Augen satt gesehen, +auch Honigkuchen, warme Würstchen, gefüllte Schokolade, Schmuddaal +und andere gute Dinge genug gegessen hatten, stiegen sie, um endlich +einmal von den Füßen zu kommen, in einen Keller hinab, in dem es nach +Tabak, Bouillon und Harzkäse roch. Gerd bestellte für sich einen +Bittern, für die Schwester einen Süßen. Auf dem rissigen Wachstuchsofa +eines dämmerigen Winkels hockten sie vor ihren Gläsern, und Leidchen +meinte, sie hätte sich den Freimarkt doch etwas anders vorgestellt. +Aber Gerd vertröstete sie auf den Nachmittag, wo viel mehr los sein +würde. Einstweilen lehnten sie sich in ihre Sofaecken und drusselten +ein. + +Nach anderthalb Stunden, die sie zwischen Wachen und Schlafen ziemlich +unbehaglich zugebracht hatten, erklärte der Wirt, mit der geringen +Zeche unzufrieden, sein Lokal wäre kein Asyl für Obdachlose, und sie +stiegen wieder zur Oberwelt empor. + +Sie waren noch keine hundert Schritt gegangen, als ein quer gehaltener +Spazierstock ihnen den Weg versperrte und eine lustige Stimme rief: +»Kinder und Leute, nun kuck mal einer an!« + +Es war Müllers Hermann, der mit lachenden Augen die Dorfgenossen +und Schulkameraden anhielt und begrüßte, und dann umdrehte und sich +zwischen sie schob. + +»Na, Leidchen, hast du denn schon ordentlich was gesehen?« wandte +er sich an das Mädchen, ihr frisches, hübsches Gesicht verwundert +betrachtend. + +»Och nee,« antwortete sie gelangweilt, »es ist hier nicht ganz viel +los. Oder Gerd weiß nicht recht Bescheid.« + +»Na, denn muß ich wohl mal die Führung übernehmen,« sagte der Müller +großartig. + +Sie kamen in eine belebtere Straße, in der nicht drei auf dem +Bürgersteig nebeneinander Platz fanden. Da weder Hermann noch Leidchen +Anstalt machten, aus der Reihe zu treten, mußte Gerd es tun, und über +die ungebetene Gesellschaft nichts weniger als erfreut, trottete er +hinter den beiden her. + +Auf dem Liebfrauenkirchhof wollte ein prächtiges Riesenkarussell sich +soeben in Bewegung setzen. Der Motor arbeitete und das Läutewerk +mahnte zu schleunigem Platznehmen. »Schnell, schnell,« rief Hermann, +packte seine Begleiterin an der Hand und flog mit ihr die Rampe +hinauf. Gerd beschleunigte seinen Schritt zwar auch, erreichte +den Anschluß aber nicht mehr. Mit langem Gesicht sah er den unter +rauschender Musik ihm Davonfahrenden nach. + +Als sie wieder erschienen, galoppierten sie auf zwei Schimmeln +nebeneinander vor ihm vorüber. Leidchen, die den Damensitz schnell +einem vor ihr dahersprengenden Ladenfräulein abgeguckt hatte, strahlte +über das ganze Gesicht und nickte dem Bruder freundlich zu, während +Hermann in lässig vornehmer Haltung mit der Hand leichthin und, wie es +Gerd wenigstens schien, ein wenig spöttisch grüßte. + +Das nächste Mal waren die beiden Reiter so lebhaft miteinander im +Gespräch, daß sie für den unten Stehenden kein Auge hatten. Gerd +ärgerte sich wie ein Hund und trat einer Töchterschülerin auf die +Zehen, die ihn anfauchte wie eine Katze. + +Als das Karussell hielt, wandte Leidchen sich glückstrahlend um und +rief: »Junge, Junge, das geht aber schön! Komm doch und reit auch'n +bißchen mit.« + +Er kletterte etwas ungelenk auf den Rappen, der hinter dem Schimmel +seiner Schwester lief. Aber rechten Spaß machte ihm die Sache nicht. +Die beiden beachteten ihn kaum, nur Leidchen drehte sich einmal um und +lachte ihn an. Er kam sich als der Reitknecht des Pärchens vor, und +als das Karussell stillstand, trat er zwei Schritt vor und sagte: »So, +Leidchen, nun komm' man, jetzt ist's erst mal genug.« + +»Genug?« fragte sie erstaunt. »Mensch, wir fangen ja erst an.« + +»Du mußt dich noch ein bißchen gedulden,« erklärte ihr Ritter, »ich +habe gleich ein Dutzendbillet genommen, daß wir erst mal in Stimmung +kommen. Stimmung, weißt du, Gerd, ist auf dem Freimarkt alles. Steig +auch man wieder 'rauf!« + +»Dafür ist mir mein Geld zu schade,« sagte er, verließ das Karussell +und stellte sich unter die Zuschauer an das Geländer der Rampe. + +Als die beiden zum erstenmal wieder vorbeiritten, sahen sie ihm ins +Gesicht und lachten in einer Weise, die ihm den Verdacht erweckte, der +Müller hätte einen Witz über ihn gemacht. Da wandte er sich ab und +tauchte in dem Gewühl einer Budengasse unter. + +Wie hatte er sich darauf gefreut, Leidchen die Wunder des Freimarktes +zu zeigen! Nun kam auf einmal dieser Windmüller und verdarb ihm den +ganzen Spaß, ja drängte ihn einfach beiseite. + +Er hatte nicht übel Lust, für den Rest des Tages den Gekränkten zu +spielen, auf baldige Rückfahrt zu drängen und dem Freimarktsvergnügen +ein schnelles Ende zu bereiten. + +Aber nein, das durfte er der Schwester doch nicht antun. Sie hatte +sich zu lange auf diesen Tag gefreut. Vielleicht war es ja auch +möglich, den Müller auf irgendeine Weise loszuwerden. + +»Echte Similibrillantringe, von fünfzig Pfennig an,« rief ein +Budenfräulein, die Dinger glitzerten ihm in die Augen, und schnell +entschlossen trat er heran, der Schwester ein Ringlein zu kaufen. Dann +kehrte er langsam zum Karussell zurück. + +Er entdeckte Leidchen auf der Rampe, wie sie mit ängstlichen Augen die +hin und her wogende Menge absuchte. Als sie seiner ansichtig wurde, +kam sie schnell und froh auf ihn zu und rief: »Oh, ich war schon +bange, wir hätten uns verloren. Ein Glück, daß du wieder da bist.« + +»Ist Hermann weggegangen?« fragte Gerd schnell. + +»Er ist hin und sucht dich. Ich sollte hier auf euch warten.« + +»Ach so ... Leidchen, ich will dir mal was sagen. Was sollen wir den +ganzen Tag den fremden Menschen mit uns herumschleppen? Komm schnell, +ich zeige dir alles, was du sehen willst!« + +»Och nee, zu dreien macht es mehr Spaß.« + +»Deern, ich schenk dir auch was. Guck mal, dies hab' ich für dich +gekauft!« + +Er ließ seinen Brillanten funkeln und schob ihr den Ring auf den +Finger. + +»Ei, ei!« rief sie bewundernd. + +»Nun komm aber auch!« + +»Gerd, ich hab' versprochen ...« + +»Ich geb' dir auch noch fünf Groschen von meinem Marktgeld ab. Dann +hast du beinah ebensoviel wie ich, und wenn du den Ring mitrechnest, +sogar mehr. Komm!« + +»Endlich hab' ich euch wieder!« rief der Müller, sich durch das +Menschengewühl auf die Geschwister zuschiebend. + +Gerd biß sich voll Grimm auf die Unterlippe. Leidchen hielt dem +Ankömmling ihre geschmückte Hand vor das Gesicht: »Guck mal, was Gerd +mir geschenkt hat!« + +»Mädchen, hast du aber Glück!« sagte dieser lachend und wickelte aus +einem Stückchen rosa Seidenpapiers ebenfalls einen Ring, den er ihr an +den Ringfinger der anderen Hand steckte. Gerd sah zu seinem großen +Verdruß, daß er drei Brillanten trug und auch feiner gearbeitet war +als der seine. + +Und dann wurde er von einer Schaubude zur anderen geschleppt. +Ein Jammer war's, wie das schöne Geld in der linken Hosentasche +zusammenschmolz. Bald mußte er schweren Herzens gar eine Anleihe in +der rechten machen. + +Endlich erklärte er, nun wär's aber wirklich genug, und sie +müßten nach Hause. Doch die beiden nahmen ihn in die Mitte, +Leidchen schmeichelte und streichelte, der Müller bot seine ganze +Liebenswürdigkeit auf, und schließlich willigte er noch in einen +Besuch des Zirkus auf dem Grünen Kamp. Hermann bezahlte auch für ihn +die Eintrittskarte. + +Als die Vorstellung aus war, sagte er: »Nun ist's aber allerhöchste +Zeit; marsch zum Torfhafen!« Aber Leidchen erklärte, sie wäre sehr +hungrig, und da Hermann zu einem Abendimbiß einlud, gab er wieder +nach. Vor der anstrengenden nächtlichen Fahrt etwas Solides zu essen, +konnte ja nicht schaden. + +Sie kamen an mehreren Restaurationen vorüber, aber keine war dem +Müller gut genug. Endlich, als sie wieder auf dem Markt angelangt +waren, wies er auf eine nach unten führende Treppe, indem er sagte: +»Nun man hinein ins Vergnügen!« + +»Mensch, das ist ja der Ratskeller!« rief Gerd erschrocken und blieb +stehen. »Das ist nichts für unserer Art Leute.« + +Aber Leidchen sagte freudig erregt: »Vom Ratskeller hab' ich schon in +der Schule gehört,« und stieg munter die Stufen hinab. Ihrem Bruder +blieb wieder einmal nichts übrig, als hinterdrein zu trotten. + +Sie schoben sich langsam durch das Menschengewühl der von Weindunst, +Zigarrenqualm, Stimmengewirr und Konzertmusik erfüllten Säle, Gänge +und Kellerräume und fanden endlich ein freies Tischchen, an dem sie +sich niederließen. Der Kellner mußte eine Flasche Rüdesheimer bringen. + +Als Hermann eingeschenkt hatte, erhob er seinen Römer und sagte: »Auf +unsere alte Freundschaft!« + +Leidchen ließ hell ihr Glas erklingen, Gerd dagegen kam mit seinem +schräg von unten herauf, daß es hart klappte, und brummte: »Die ist +nie dick gewesen.« + +Hermann schob sein Glas vor und legte sich behaglich über den Tisch: +»Na ja, wir haben uns auch wohl mal in den Haaren gelegen, wie sich +das bei ein paar richtigen Jungens von selbst versteht, aber schön +war's doch, vor allem, als der alte Krischan Lenz noch in seinem +Armstuhl saß. Weißt du noch, unsere Schneeballschlachten? Und wenn +wir auf dem Schiffgraben Schlittschuh liefen und über die Klappstaue +sprangen ... oder durch die Hammewiesen und das St. Jürgensfeld +sausten und Schmuggler und Kontrolleur spielten? Aber trinkt auch mal, +der Tropfen ist nicht schlecht, prosit! ... Ach ja, die schöne Zeit +kommt nicht wieder. Ihr mögt mir's glauben oder nicht, manchmal habe +ich ordentlich Sehnsucht nach unserm Moor. Früher haben die Leute +es ja verachtet, aber jetzt wird's auf einmal hoch geehrt. Neulich +schrieben sie in den ›Nachrichten‹ viel von den Männekens, die seit +ein paar Jahren auf dem Weiher Berg sitzen und pinseln. Wir sehen +sie ja auch oft genug in unserm Dorf herumstehen und umschichtig +zwischen der Natur und ihrem Stück Leinwand hin und her glotzen. Ihre +Bilder waren hier in der Ausstellung zu sehen, und als ich zufällig +vorbeikam, ging ich eben mal hinein. Da hingen unsere Torfgräben und +Moorlöcher und Heuschiffe ganz natürlich abkonterfeit in goldenen +Rahmen an der Wand, und die Leute machten ein Leben davon, als ob sie +nicht recht klug wären. Auch Möschemeyers Anntrin ihre Erdhütte, die +neulich eingefallen ist, war da zu sehen, und das alte Bettelweib +guckte mit ihren roten Hexenaugen aus der Türluke, und 'ne feine +Dame, ganz in blauer Seide, stand davor, hielt sich 'ne Brille mit'm +Stiel über die Nase und schwögte in einem fort: ›Wie malerisch, wie +entzückend, wie reizend!‹ Prost, Kinder, unser Düwelsmoor soll leben!« + +Sie stießen an, und diesmal gaben alle drei Gläser guten Klang. +Dann bestellte Hermann zu essen, und sie ließen es sich schmecken. +Leidchen, die mit Freuden bemerkte, daß die Laune ihres Bruders sich +verbesserte, erzählte lustige Geschichten aus den Kindertagen, in +denen er eine Rolle spielte, und tat alles, was sie konnte, um die +beiden alten Gegner voreinander in das beste Licht zu setzen, wobei +der Ratskellerwein ihr nicht wenig half. + +Als sie gesättigt waren, traten sie einen Rundgang durch die +Kellerräume an. Dem Freimarkt zu Ehren waren sie alle geöffnet, +auch die, welche sonst der Kellner mit dem Schlüsselbund nur gegen +Entgelt zu zeigen pflegt. Leidchen in der Mitte, Arm in Arm, um in +dem ausgelassenen weinfröhlichen Treiben einander nicht zu verlieren, +schoben sie sich durch das Gedränge. + +»Guck an, Jan vom Moor, da bist du ja auch!« rief ein junger Mensch +und klopfte Gerd vertraulich auf die Schulter. + +»Ich kenn' dich nicht,« brummte er mit finsterm Gesicht. + +»Was? Du kennst mich nicht? Ich bin doch der Hinnerk aus der +Lammer-Lammerstrat Nr. 13, drei Treppen hoch links um die Eck' herum, +grade aus, dritte Tür rechts. Junge, Jan, was hast du da für 'ne +hübsche Trina am Arm!« + +Ehe Gerd dazu kam, etwas zu entgegnen, hatte das Gedränge ihn von dem +Bruder Lustig getrennt. »Wenn Freimarkt ist, sind sie alle verrückt,« +sagte Hermann lachend. + +Nachdem die drei Bacchus, Frau Rose und den zwölf Aposteln, die auch +alle ein sehr vergnügtes Gesicht machten, ihren Besuch abgestattet +hatten, kehrten sie an ihren Tisch zurück und begannen mit der zweiten +Flasche. »Leidchen, Leidchen,« sagte Gerd mit bösem Gewissen, »wir +müssen nach Hause.« + +»Wenn wir diesen Buddel leer haben,« antwortete der Müller, »könnt ihr +meinetwegen reisen ... Ich beneide euch um die schöne Fahrt.« + +»Du kannst ja ein bißchen mitfahren,« rief Leidchen. + +»Deern, das ist'n Gedanke ...« + +»Unsinn!« knurrte Gerd, »du mußt morgen früh auf deiner Mühle sein.« + +»Das ist nicht so ängstlich, zur Freimarktszeit lassen die Leute sich +was gefallen. Hab' meine Alten doch lange nicht gesehen. Zum Kuckuck, +ich fahr' mit euch!« + +»Du weißt ja gar nicht, ob wir dich mitnehmen.« + +»Oh, das tut ihr doch wohl sacht. Nicht wahr, Leidchen?« + +»Ja, gern.« + +»Ha, die Deern kann wohl ja sagen, ich hab' die Quälerei davon. Es +geht flußaufwärts.« + +»Wenn anders nichts ist ... ich löse dich mal ab. Also abgemacht, ich +fahr' mit euch.« + +Gerd brummte noch etwas, aber man konnte es schon als Zustimmung +nehmen. + +»Das wird ein Spaß,« sagte Leidchen und trommelte mit den Fingern auf +den Tisch. -- -- + +Die Nacht war still, kühl und voll funkelnder Sterne. Das Schiff zog +unter leisem Wellengeplätscher seine nebelverschleierte, mattglänzende +Bahn, Gerd stand und handhabte das Stangenruder. + +Seine Fahrgäste saßen vor ihm auf der Segelbank. Was hatten die beiden +in den drei Stunden, seit sie den Torfhafen verlassen, nicht alles +zusammengeschwatzt! Es war rein zum Verwundern, wo sie noch immer +wieder Stoff hernahmen, und was sie aus den nichtigsten Dingen zu +machen wußten. Es hörte sich ganz nett an, und die Stunden waren ihm +beim Zuhören kurzweilig hingestrichen. Endlich schien es aber doch, +als ob den Plappermühlen der Wind ausgehen wollte. Und seit einigen +Sekunden standen sie wirklich still. + +Plötzlich richtete Gerd sich auf, um mit angehaltenem Ruder vor sich +durch das Dunkel zu horchen und zu spähen. War das da drüben nicht ein +Geflüster? Und wo war Hermanns Hand geblieben, die vor kurzem noch auf +seinem Knie lag? + +»Hermann!« + +»Was ist los?« + +»Hier hast du das Ruder. Komm und löse mich mal ab.« + +»Ach Gerd, ich habe im Staken keine rechte Übung.« + +»Was hast du mir versprochen? Oder willst du lieber hier in den Wiesen +aussteigen?« + +»Man nicht gleich so grob,« brummte der Müller, sich langsam und +widerwillig erhebend. + +Kaum hatte er den Platz des Schiffers eingenommen, als das Boot +seine Richtung verlor, dem Ufer zuschoß und sich in den raschelnden +Schilfwald bohrte. Bei den ungeschickten Versuchen, es loszubringen, +verfuhr es sich nur noch mehr. Im Schlaf aufgeschrecktes Sumpfgevögel +erhob sich mit schrillem Gekreisch und Flügelgeklapper, um klatschend +irgendwo wieder einzufallen. + +Gerd, der neben seiner Schwester saß, rieb sich voll ingrimmiger +Schadenfreude die Hände zwischen den Knien und spottete: »Mich soll +bloß wundern, wo dieser Windmüller mit uns hin will.« + +Leidchen stieß ihn an und sagte: »Er sitzt fest, hilf ihm doch wieder +heraus.« + +»So war er schon in der Schule,« fuhr Gerd fort zu höhnen, »immer ein +Wort wie'n Bein dick, aber wenn man genauer zusah, nichts als Wind vor +der Hoftür.« + +Endlich warf Hermann, der vergeblichen Anstrengungen müde, die schwere +Eichenstange in das Schiff, daß es dumpf durch die Nacht klang, und +setzte sich abgerackert und pustend auf den Bordrand. + +»Wie so'n Mutterjunge gleich zusammenklappt!« spottete Gerd. + +Leidchen gab ihm einen kräftigeren Stoß mit dem Ellbogen: »Zu! Stak' +du doch wieder!« + +Da er keine Anstalt machte, stand sie selbst auf, nahm ein kürzeres +Handruder und sagte: »Komm, Hermann, ich helf' dir. Ich glaub', wir +sitzen auf einem Pfahl. Stemm' die Stange tüchtig ein, so ist's recht. +Eins -- zwei -- drei! Es hat sich schon bewegt. Noch einmal, feste. +Eins -- zwei --« + +Auf drei wurde das Schiff frei, fiel Leidchen auf ihren Bruder, +stürzte der Müller über Bord. Es gab einen großen Plumps. + +Gerd lachte schallend, dröhnend. »So ist's recht,« rief er, »ein +bißchen Abkühlung tut dir gut nach dem Freimarktsdusel.« + +Als er seinem prustenden, klatschnassen Fahrgast aus dem sumpfigen +Schilfwasser ins Schiff zurückgeholfen hatte, fischte er auch das +Stangenruder heraus und brachte das Fahrzeug mit ein paar Stößen +wieder auf die Mitte des Flusses. + +Leidchen kam mit dem Torflaken, das zum Schutz gegen Regen über die +Ladung gebreitet wird, um den Durchnäßten abzutrocknen. Dieser ließ +sich solche Fürsorge gern gefallen, gewann seine gute Laune schnell +zurück, und bald saß er, von Kopf zu Fuß in das Laken gehüllt, wieder +auf der Segelbank neben ihr und machte einen Witz über den anderen. + +»Es wird kälter,« sagte Gerd, »leg' dich in die Koje, Leidchen, und +schlaf!« + +»Mich friert gar nicht.« + +»Hast du mich verstanden?« + +»Ich lege mir noch ein Tuch um.« + +»Du sollst verschwinden, hast du mich verstanden?« + +»Aber Gerd,« mischte sich der Dritte ein, »wenn sie lieber ...« + +»Wer ist hier Herr im Schiff? Leidchen, wird's bald?« + +Er hob drohend das Stangenruder. + +Da stand sie auf und ging trotzig aufstampfend nach vorn. Hermann, der +sich gleichfalls erhoben hatte, hielt ihr den Kojendeckel, bis sie +sich im knisternden Stroh zurecht gelegt hatte, wünschte Gute Nacht +und schloß behutsam über ihr. Dann legte er sich, in das Torflaken +gehüllt, auf den Boden des Schiffes. Gerd riet ihm, das Segel ein +wenig zu lösen und sich hineinzudrehen, was er sich nicht zweimal +sagen ließ; denn die nassen Kleider und die Kühle der Herbstnacht +machten sich unangenehm genug bemerkbar. + +»Endlich Ruhe im Schiff,« murmelte Gerd und gab sich seinerseits dem +gewohnten, halbschlafähnlichen Dösen hin, mit dem er die Nachtstunden +auf der Hamme zu kürzen pflegte. -- -- + +»Guten Morgen, Gerd!« + +»Guten Morgen. Schön geschlafen?« + +»Prrr! Eine schändliche Kälte!« + +»Das hast du dafür. Warum bleibst du nicht, wo du hingehörst?« + +Nach einer Weile richtete der Fahrgast sich etwas auf und begann, +gegen die Segelbank gelehnt, von neuem: + +»Gerd, ich möchte wohl mal ein vernünftiges Wort mit dir reden.« + +»Da bin ich begierig.« + +»Ich kümmere mich nicht gern um anderer Leute Sachen.« + +»Mag auch ebensogut sein. Jeder hat genug mit seinen eigenen zu tun.« + +»Ja, aber wenn des Nachbars Haus brennt, kann einer das doch nicht +ruhig mit ansehen.« + +»Aber Mensch, nun sag', was du zu sagen hast!« + +»Wenn ich meine ehrliche Meinung sagen soll, du fängst das mit +Leidchen nicht richtig an.« + +»Nun hör' mal einer an!« + +»Wenn du mir nicht zuhören willst, kann ich ja auch den Mund halten.« + +Nachdem Gerd eine Strecke schweigend sein Schiff gestakt hatte, sagte +er zögernd: »Hermann, meinetwegen sprich dich mal rein aus.« + +»Gerd,« begann der Müller, »ich hab' dich gestern immer wieder +angucken müssen. Auf dem Freimarkt werden sonst alte Brummpeter sogar +wieder lustig, aber du hast den ganzen Tag ein Gesicht gemacht, wie +ein Pott Sauermilch ... als ob du Leidchen das bißchen Vergnügen nicht +gönntest ... als ob sie dich jedesmal um Erlaubnis fragen müßte, wenn +sie mal lachen will. Wenn sie mich nicht gehabt hätte, hätte sie +ebensogut zu Hause bleiben können. Und vorhin hast du sie in die Koje +geschickt, wie ich unsern Hund nicht in seine Hütte jage. So könnte +man's vielleicht mit einer Schlafmütze von Deern machen, die knapp +weiß, daß sie lebt. Aber, glaube mir, ein Mädchen wie deine Schwester +läßt sich solche Behandlung auf die Dauer nicht gefallen. Wenn der +Fuhrmann die Zügel gar zu scharf anzieht, schlägt ein edles Pferd, das +Blut und Feuer in sich hat, über die Stränge.« + +Gerd schwieg eine Weile, etwas betroffen. Dann sagte er: »Leidchen +weiß ganz gut, wie ich's meine.« + +»Gewiß meinst du es gut,« fuhr der andere fort, »aber es geht nirgends +bunter her, als in der Welt, und die gute Meinung allein tut's da +nicht. Sieh, Leidchen hat Temperament und Rasse, und du bist von Natur +ruhig und solide. Da kannst du doch unmöglich verlangen, daß sie +genau so sein soll wie du bist. Das ist nicht jedem gegeben, mir zum +Beispiel auch nicht, aber darum kann unsereins doch ein ordentlicher +und anständiger Mensch sein.« + +»Wie kommst du dazu, dies alles herzukriegen?« + +»Das will ich dir ganz genau sagen: Leidchen ist 'ne kleine nette +Deern, die feinste in unserm ganzen Dorf. Es hat mir Spaß gemacht, ihr +mal den Freimarkt zu zeigen. Da tut es mir nun weh, daß immer so'n +Buhmann und Landgendarm hinter ihr her sitzt.« + +»Hoho! Wenn sonst keiner hinter ihr her sitzt, soll's schon gehen.« + +»Nichts für ungut, Gerd. Du wolltest ja, ich sollte mich rein +aussprechen. Du kannst deshalb doch machen, was du willst. Aber ich +wollte dies doch gesagt haben, weil ich es gut mit euch beiden meine.« + +»Wir müssen jetzt aussteigen,« sagte Gerd, der inzwischen das Schiff +in den Graben gelenkt hatte und vor dem ersten Klappstau anlegte, »du +kannst Leidchen auch wecken.« + +Hermann öffnete die Koje und rief sie beim Namen. Als sie langsam +hochkam, sagte er: »Deern, Deern, du kannst dich freuen, daß du den +warmen Unterschlupf gehabt hast. Mich hat jämmerlich gefroren.« + +Sie sandte durch das dämmernde Grau der Frühe dem Bruder einen bösen +Blick zu, aber der andere fuhr fort: »Ein Bruder, der so fürsorglich +ist und an alles denkt, wie Gerd, ist gar nicht mit Geld zu bezahlen.« +Dann legte er sich vorne ins Tau und half kräftig, das Schiff die +vielen Staue hinaufzubringen. + +Als sie bei der Mühle ankamen, legte er Leidchen das Seil über +die Schultern, gab den Geschwistern die Hand, man bedankte sich +gegenseitig, und er schritt seinem stattlichen Elternhause zu, indes +die beiden ihre Fahrt fortsetzten, sie in der Leine und ziehend, er +mit dem Ruder das Schiff vom Ufer haltend und schiebend. + +Als sie eine Stunde später das Fahrzeug im Schauer geborgen hatten und +dem Hause zu gingen, sagte Gerd, mit einiger Überwindung: »Ich glaube, +ich bin ein bißchen unfreundlich und verdrießlich gewesen.« + +»So? Wenn du das nur einsiehst!« + +»Es wär' besser gewesen, wir wären unter uns geblieben.« + +»Nun soll natürlich Hermann die Schuld haben!« + +»Aber Mädchen, ich hab' ja kein Wort gegen ihn gesagt. Ich glaube +jetzt sogar, daß er im Grunde besser ist, als ich früher meinte. Das +heißt, so ganz traue ich ihm immer noch nicht ...« + +Polli, der gelbe Fixköter, kam aus dem Hühnerloch neben der großen Tür +gekrochen und begrüßte die heimkehrenden Freimarktsfahrer mit Gebell, +Schwanzwedeln und Anspringen. + + + + + 6. + + +An der Peperschen Stelle Nr. 18 haftete seit alten Zeiten die +Schankgerechtigkeit. + +Klaus Hinrich Peper hatte sich aus dieser all seine Lebtage nicht viel +gemacht. Es war oft genug vorgekommen, daß er halbwüchsige Burschen +nach dem zweiten Glas heimschickte, weil sie nun genug hätten, und +daß die geistigen Getränke ihm gerade dann ausgingen, wenn die Gäste +anfingen, mit der Faust auf den Tisch zu schlagen. Die ungebührlich +vorgehende Wanduhr führte die Polizeistunde stets viel zu früh herauf, +und doch wurde sie aufs pünktlichste innegehalten. + +Dieses Unikum von Wirt war vor zwei Jahren Todes verblichen, und +sein Sohn und Erbe Heini hatte mit einem derart rückständigen und +unzeitgemäßen Betriebe des Wirtsgewerbes sofort gründlich gebrochen. +Es dauerte kein halbes Jahr, so war die große Lehmdiele mit glattem +Holzfußboden versehen, und die Polizeibehörde wurde mit Gesuchen um +Erlaubnis von Tanzbelustigungen bestürmt. + +Aber der Herr Landrat machte neuerdings Schwierigkeiten, nachdem auf +der letzten Synode nicht nur die Geistlichkeit über die zunehmende +Vergnügungssucht im Bezirk geklagt, sondern auch ein alter Bauer +mit mächtiger Hakennase seine derbe, plattdeutsche Rede in den Ruf +hatte ausklingen lassen: »Landrat, werde hart!« Um sich an der +Kirche zu rächen, beschloß Heini, nicht mehr zum Abendmahl zu gehen, +und den Staat, der mit jener unter einer Decke spielte, wollte +er sein Mißfallen durch einen roten Stimmzettel bei der nächsten +Reichstagswahl fühlen lassen. + +Was blieb einem strebsamen Wirt unter diesen Umständen anders übrig, +als Vereine zu gründen? + +Aber damit bewies Pepers Heini -- der Kindername war ihm bis in sein +Mannesalter treugeblieben -- anfangs keine glückliche Hand. Die +Mitglieder des Kegelklubs »Gut Holz« waren halbwüchsige Bengels, +die viel Radau machten, aber leider sehr wenig verzehrten. Der +Radfahrerverein »Pfeil« entführte seine Leute in die Umgegend zur +Konkurrenz. Der Patriotismus wollte sich nicht auf Heinis Mühle leiten +lassen, weil die Krieger von Brunsode und Umgegend um seiner schönen +Augen willen das Miteigentumsrecht an dem Vermögen des Kriegervereins +im Kirchdorf nicht aufgeben wollten. + +So saß Heini denn eines Abends mit seiner Frau Adeline, die +ebensowenig Lust zur Arbeit hatte wie er, aber um so lieber sich +putzte und mit den Gästen schön tat, wieder mal beratschlagend in der +Gaststube, als er sich plötzlich aufs Knie schlug und rief: »Deern, +wir versuchen's mal mit einem Gesangverein!« Sie redeten darüber hin +und her, wurden gutes Muts dabei und tranken auf das Wohl des neuen +Vereins: Frau Adeline einen Pfeffermünz, Heini zwei Klare und einen +Magenbitter. + +Zwei Tage später war das Bauernmal vom Gemeindevorsteher entboten, +den Damm im unteren Dorf frisch zu besanden, wie es von Zeit zu Zeit +nötig ist, wenn Pferdebeine und Wagenräder nicht in dem moorigen +Dammkern versinken sollen. Ein Teil der Mannschaften grub den Sand +oben auf Stelle Nr. 19, wo er ziemlich hoch unter der Moorschicht saß, +andere schafften ihn in Torfbooten an den Damm, woselbst die übrigen +ihn auf Karren auseinanderschoben und mit Schaufeln ausbreiteten. +Dabei wurde mancher Mundvoll geschnackt, wie es bei Arbeiten für +die Gemeinde üblich ist. Harm Mehrtens, der Vorsteher, saß auf dem +Geländer einer Hofbrücke, schmökte seine Pfeife und führte die +Aufsicht. + +Gerd Rosenbrock hatte gerad' seine Karre wieder einmal umgekippt, als +August Stelljes, der junge Bauer von Nr. 16, ihn ansprach: + +»Gerd, sag' mal: hast du Begabung zum Singen?« + +Der Gefragte stellte seine Karre hin: »Oh ... in der Schule hab' ich +die zweite Stimme ganz gut halten können.« + +»Was meinst du, wenn wir hier auch so 'nen Männergesangverein +gründeten, wie sie ihn in Hasenwede und Grünmoor und Meinsdorf schon +lange haben?« + +»Das wär'!« rief Gerd überrascht und erfreut. »Ich tret' auf der +Stelle bei.« + +»Die Sache wird sich wohl machen, Pepers Heini hat gestern schon mit +dem Schullehrer gesprochen, und der hat auch wohl Lust,« fuhr August +fort. »Wer von euch im oberen Dorf mag wohl noch mittun?« + +Gerd dachte nach und nannte einige Namen, versprach auch, mit diesem +und jenem darüber zu reden. Dabei schnackten sie sich so fest, daß +der Gemeindevorsteher zuletzt mit dem Mundstück seiner Pfeife auf +ihre Karren deuten mußte, damit sie ihre Arbeitspflicht der Gemeinde +gegenüber nicht ganz und gar vergäßen. + +Niemand war über Heinis neuesten Plan glücklicher als Gerd Rosenbrock, +und er beschloß, alles aufzubieten, daß aus der Sache etwas würde. +Es kamen ja nun wieder die langen Winterabende. Für einen, der keine +Lust hatte, sich herumzutreiben, waren sie über die Maßen langweilig. +Da hockten sie in der Stube beieinander: Jan lag mit dem Kopf auf dem +Tisch und schlief, Trina flickte Kinderzeug, Leidchen spann, und er +selbst, Gerd, strickte Strümpfe oder schnitzte Wurststicken. Gegähnt +wurde viel, gesagt wenig und meist nur solches, was ebensogut ungesagt +hätte bleiben können. Jeder freute sich, wenn die Uhr endlich so weit +war, daß man mit Anstand ins Bett steigen konnte. Wenn da nun jede +Woche mal so einen Singeabend brächte ... Junge, Junge, das wäre fein! +Und sofort begann er zu werben, und alle, die er haben wollte, gewann +er auch für die Sache. Denn was er einmal betrieb, das betrieb er mit +einem Nachdruck, dem der Erfolg nicht leicht fehlen konnte. + +Drei Tage später wurden von Nr. 18 aus Laufzettel die Dorfreihe +hinauf- und hinabgeschickt, die zur Gründungsversammlung eines +Männergesangvereins einluden und unterzeichnet waren: »Der +Einberufer.« Solche meist in köstlicher Orthographie abgefaßte +Oktavblättchen, die der Nachbar zum Nachbarn weiterzubefördern +gehalten ist, sind in Brunsode die ortsübliche Bekanntmachung. + +Zu der auf dem Laufzettel angegebenen Stunde füllten an die dreißig +Stellbesitzer, Haussöhne und Knechte -- trennende soziale Unterschiede +kennt das Kleinbauerntum des Moores kaum -- Heini Pepers Gaststube +bis auf den letzten Platz und qualmten, priemten, spuckten für +Gewalt. Frau Adeline, hochbusig, von einem ölig glänzenden Haartempel +überragt, ein kokettes Lächeln im Gesicht, bediente den kürzlich +angeschafften Kohlensäureapparat, während ihr Heini, der sich so recht +in seinem Elemente fühlte, mit den Biergläsern sprang. + +Endlich erscheint auch Herr Timmermann, bei dessen Eintritt die +ohnehin nicht sehr lebhafte Unterhaltung plötzlich wie abgeschnitten +ist. Er hat nämlich mit den Brunsodern noch keinen Scheffel Salz +gegessen. Nachdem man sich daran gewöhnt hat, daß er Urlaub nur in +Notfällen gibt und auf ruhm- und trostreiche Leichenpredigten als +nicht zu seinem Amt gehörig sich überhaupt nicht einläßt, gilt er der +Mehrheit aber doch schon als ein »anständiger Junge«, und einige, +denen es lieb ist, daß er die Jugend »schärfer lernt« als der selige +Lenz, halten ihn bereits gar für einen »alten ehrlichen Burschen«. Und +mehr kann einer wirklich nicht verlangen, der erst vor vier Jahren von +der Wasserkante her als Fremdling ins Land kam. + +Auf Heini Pepers Ersuchen nimmt Herr Timmermann bald das Wort. Indem +er mit der langen, schmalen Hand die auf ihn zuwogenden braungelben +Tabakswolken zur Seite lenkt, spricht er seine Freude darüber aus, +daß der edle deutsche Volksgesang, diese wunderbare Blüte, aus der +Tiefe der deutschen Volksseele emporgeblüht, nun auch in Brunsode +eine Pflegstätte finden soll. Als ganz junger Lehrer würde er das +noch viel schöner und poetischer gesagt haben; die vier Jahre unter +den Bauern hatten ihn doch schon ein gut Teil sachlich schlichter +gemacht und seine Ausdrucksweise dem höheren Aufsatzstil entfremdet. +Er schloß seine Ausführungen damit, daß er sich bereit erklärte, +die musikalische Leitung des zu gründenden Vereins zu übernehmen, +allerdings unter der Voraussetzung und Bedingung, daß die regelmäßigen +Übungen in der Schule stattfänden. + +Heini, der vorhin mehrere Male Bravo gerufen hatte, machte ein +langes Gesicht und sah seine Frau an, die ein dummes zur Schau trug. +Dann zwinkerte er mit seinen Fuchsaugen Freund August Stelljes zu. +Aber der war kein Redner und getraute sich nicht. Es blieb ihm also +nichts übrig, als selbst das Wort zu ergreifen. Was so die echte, +rechte deutsche Gemütlichkeit wäre, begann er, die käme in so einem +Schulzimmer mit seinen peinlichen Erinnerungen nicht auf, womit er +natürlich nichts gegen die Schule an sich oder den Herrn Lehrer +gesagt haben wolle. Aber die alten Deutschen hätten immer noch eins +getrunken, und die jungen Deutschen liebten einen guten Tropfen frisch +vom Faß ebenfalls, und das brauche er wohl kaum zu erwähnen, wie +leicht gerade beim Singen die Leber trocken würde. + +August Stelljes und noch einige lachten, nickten und riefen Bravo, +Herr Timmermann zuckte die Achseln. + +Eine ganze Weile sagte niemand etwas, nur im Flüsterton wurde hier +und da an den Tischen beraten, bis endlich Wilhelm Behnken Nr. 22, +den das Vertrauen des Dorfes zum Schulvorsteher, Beigeordneten des +Gemeindevorstehers und Kanalgeschworenen gemacht hatte, sich räusperte +und trocken erklärte, er stimme auch für die Schulstube; denn in einem +Gesangverein wäre nach seiner Ansicht das Singen die Hauptsache. + +Jetzt war die Zeit gekommen, das Eisen zu schmieden, fiel es wie +eine Erleuchtung über Herrn Timmermann, er schnellte in die Höhe +und fragte: »Ist jemand gegen den Antrag des Herrn Schulvorstehers +Behnken?« Es erhob sich wohl ein Brummen, aber kein Finger. »Also +einstimmig angenommen. Wie wollen wir uns nennen? Ich schlage vor: +Männergesangverein Feierabend. Das klingt bescheiden und traulich +zugleich. Ich sehe, daß alle einverstanden sind. Wir schreiten nunmehr +zur Vorstandswahl. Ich erlaube mir vorzuschlagen: Herrn Wilhelm +Behnken als Präsidenten, Herrn Heini, pardon, Heinrich Peper als +Vizepräsidenten, meine Wenigkeit zum Dirigenten und Schriftführer. +Ferner Herrn Johann Segelken als Kassenwart, und endlich, damit auch +die jüngere Generation vertreten ist, was ich für wünschenswert halte, +Herrn Gerd Rosenbrock als Beigeordneten. Ist jemand gegen diese +Liste? ... Ich stelle fest, daß dies nicht der Fall ist und frage die +genannten Herren, ob sie die Wahl annehmen.« + +»Zur Geschäftsordnung!« rief Heini Peper, mit ausgestrecktem Finger +vorspringend. + +»Bedaure sehr, Herr Peper, eine Geschäftsordnung besitzen wir +noch nicht, können aber im Vorstand mal eine machen. Ich darf +wohl die Erklärung abgeben, daß der gesamte Vorstand, für das ihm +bewiesene Vertrauen dankend, die Wahl annimmt, und lasse jetzt +die Mitgliederliste herumgehen, in die ich Namen und Hausnummer +einzutragen bitte.« + +Neunzehn der Anwesenden zeichneten sich sofort ein. Einige, denen als +Leuten mit etwas langer Leitung die Sache gar zu fix gegangen war, +wollten sich noch besinnen, andere hielten es für besser, erst ihre +Frauen zu fragen. + +Die Ansichten über Lehrer Timmermann gingen diesen Abend auseinander. +Heini Peper meinte, er hätte die Leute wie Schulkinder behandelt, +und man wäre dumm genug, daß man sich so was gefallen ließe. Karsten +Brammer, der Dorfpolitikus, kratzte sich hinterm Ohr und sagte: +»Donnerschlag! Wenn der Reichstag solchen Präsidenten hätte, könnte +er was beschicken.« Gerd Rosenbrock war dem Lehrer für die ihm so +unerwartet zugeschanzte Ehre dankbar und mußte sich die nächsten Tage +öfter selbst warnen, daß er den Kopf nicht zu hoch trug. -- -- + +Einmal hatte Herr Timmermann den Vorstand zu einer Sitzung eingeladen, +und während die übrigen auf sich warten ließen, war Gerd auf die +Minute pünktlich erschienen. Da kamen die beiden ins Gespräch, und +es machte sich so, daß der Lehrer seinen Gast fragte, wie er seine +Abende zubrächte. Darauf konnte dieser nichts Rechtes sagen. Ob er +nicht Lust hätte, mal ein gutes Buch zu lesen, fragte der andere +weiter. Och ja, meinte Gerd, wenn er eins für ihn wüßte. Herr +Timmermann langte nach seinem Bücherbord und nahm einen Band heraus, +den er in ein Zeitungsblatt wickelte und, um freundliche Schonung +bittend, für den jungen Sangesbruder bereit legte. Gerd wunderte +sich wieder einmal über das Interesse, das der Lehrer seiner Person +entgegenbrachte, zumal er sich nie um den Mann gekümmert hatte und ihm +seit der Schulzeit eigentlich ganz aus der Kunde gewachsen war. + +Das Buch, das er mit nach Hause trug und gleich nach Feierabend des +nächsten Tages zu lesen begann, hieß »Uli der Knecht«. Es machte ihm +anfangs einige Schwierigkeit, hineinzukommen. Aber bald schlug die +Geschichte des jungen Bauernknechts, der aus dumpfem, liederlichem +Leben sich langsam heraufgearbeitet, ihn in Bann. Und es dauerte nicht +lange, so fing er von vorne an und las das Buch seiner Schwester +vor. Auch Jan und Trina fanden bald am Zuhören Freude. Man hörte +auf, nach dem Bett zu gähnen, und blieb manchmal bis gegen halb zehn +beisammen. Und es waren schöne Abendstunden, wenn der Bauernfamilie +des niederdeutschen Moores sich das Bild oberdeutschen Bauernlebens +entrollte, wie der Pfarrer von Lützelflüh es in seinem Buche so +wundervoll farbig und kraftvoll gemalt hat. Man las und hörte die +Geschichte nicht bloß, man lebte sie mit, und jeder wählte sich einen +Helden, für den er gegen die anderen Partei ergriff. Jan hielt es als +Stellbesitzer mit seinem Namensvetter, dem Meister Johannes, während +er über Joggeli, den Bauern der Glungge, oftmals den Kopf schüttelte. +Trina trat für die gute Meisterin ein. Gerd stand natürlich auf seiten +seines Mitknechts Uli, dessen Torheiten er schmerzlich empfand, indes +sein langsames Aufsteigen ihn mit frohester Teilnahme erfüllte. +Leidchen paßten alle die Trinis, Ürsis, Stinis, Käthis, Elisis gar +nicht. Als aber das liebe Vreneli auf der Bildfläche erschien, fühlte +sie sich mit ihrer Heldin der ganzen Tischrunde überlegen und lachte +ihren Bruder aus oder machte Ätsch, wenn es sich wieder einmal zeigte, +daß Vreneli seinem Uli über war. + +Und als sie mit »Uli dem Knecht« fertig waren, lieh Herr Timmermann +auch »Uli den Pächter« her. + + * * * * * + +Als der Verein im nächsten Herbst nach einer langen Sommerpause die +Übungen wieder aufnahm, stellte Heini Peper den Dringlichkeitsantrag, +schleunigst das erste Stiftungsfest zu feiern und die benachbarten +Vereine dazu einzuladen. Aber Herr Timmermann sprach mit +Entschiedenheit dagegen. Die Sänger könnten sich vor Fremden noch +nicht hören lassen, und ehe er sich mit dem Verein blamiere, würde +er lieber austreten. Man solle sich für dieses Jahr lieber mit +einer bescheideneren Feier begnügen; eine Christfeier zum Beispiel +würde im Dorf gewiß rechten Anklang finden. Die Abstimmung ergab +Stimmengleichheit für beide Anträge, so daß satzungsgemäß das Votum +des Präsidenten entscheiden mußte, das zugunsten des Lehrers fiel. +Zugleich stellte jener seine Diele als die geräumigste am Ort zur +Verfügung. + +Es wurde nun wacker geübt, und der Eifer und die Begeisterung des +Dirigenten riß auch die anfangs Widerwilligen mit fort. Da der Lehrer +auch den Schulchor heranziehen wollte, um den Abend reicher zu +gestalten, war kaum ein Haus im Dorf, das nicht den einen oder anderen +Mitwirkenden stellte, und überall sah man der Feier mit freudiger +Erwartung entgegen. + +Am Nachmittag des zweiten Advent waren die Töchter und Schwestern der +Sangesbrüder ins Schulhaus geladen, um unter Mariechen Timmermanns +Leitung Rosen und Lilien für den Christbaum anzufertigen. Als Leidchen +am Abend nach Hause kam, glühte sie selbst wie eine dunkelrote +Christrose. »Gerd,« rief sie freudig erregt, »ich und der Lehrer +wollen Weihnachtsabend ganz allein ein Lied zusammen singen, immer +umschichtig, 'n Duett nennt er das,« und sie sang ihm den Anfang ihres +Parts vor. »Deern, Deern,« sagte er ängstlich und doch auch erfreut, +»das willst du auf dich nehmen?« + +Gerd, der es übernommen hatte, den Christbaum zu besorgen, mußte +mehrere Stellen, auf denen Sangesbrüder hausten, absuchen, bis er bei +der Stütze des zweiten Basses einen fand, der ihm schön und schlank +genug war. Wie er ihn die Dorfreihe entlang zu Wilhelm Behnken trug, +hatte er bald zwei Dutzend Kinder hinter sich. Auf Bitten des Lehrers +halfen er und Leidchen auch beim Schmücken des Baumes, und die beiden +Geschwisterpaare waren sehr vergnügt dabei. + +Endlich war der von alt und jung ersehnte 24. Dezember da, es +schien aber, als hätten die Moorgründe sich gegen das Vorhaben der +Brunsoder verschworen. Denn die graugelben Nebel, die sie den ganzen +Tag heraufsandten, waren dick und zähe, und legten sich schwer auf +das Land und die Lungen. Wer mit Husten zu tun hatte, tat heute ein +übriges. Wer nachmittags um drei auf dem Brunsoder Damm ging, sah von +der Dorfreihe nichts und entdeckte die ihn säumenden Birken erst, wenn +er fast mit der Nase draufstieß. Aber um die Leute im Hause und der +Feier fern zu halten, hätten die Moornebel noch dreimal so dick und +schwer sein müssen. + +Gegen halb vier fingen allerhand wunderliche Gestalten an, sich durch +den feuchtkalten grauen Dunst zu arbeiten, mit viel Gestöhne und +Gehuste, das zuweilen von einer kurzen Unterhaltung aus zahnlosem +Munde unterbrochen wurde. Es waren die Ältesten des Dorfes, gebückte +und verkrümmte Männlein und Weiblein, die ihren Torf seit Jahrzehnten +heraus hatten und ihre Tage hinter dem Ofen verdämmerten. Viele von +ihnen hatten noch nie einen brennenden Christbaum gesehen; denn in +die Häuser fand er erst neuerdings Eingang, und eine kirchliche +Christvesper, wie sie in den Geestdörfern üblich war, wurde in der +über Quadratmeilen zerstreuten Moorgemeinde nicht abgehalten. Da +wollten sie nun heute die gute Gelegenheit wahrnehmen, und bereits +eine gute Stunde vor Beginn der Feier wankten sie an Stöcken und +Krücken, zum Teil auch mit glimmenden Feuerkieken zur Erwärmung der +Füße versehen, Behnkens Diele zu, um ihrer hart gewordenen Ohren und +schwachen Augen wegen die vordersten Bankreihen zu besetzen. + +Bald darauf koppelte sich die Schuljugend auf dem Damm. Die Eltern +hatten das unruhige Völkchen gern vor der Zeit hinausgeschickt, um bei +dem letzten Rüsten auf die Festtage die Füße frei zu haben. Fröhlich +klangen die jungen Stimmen durch den Nebel. Ein paar übermütige +Jungens machten sich einen Spaß daraus, plötzlich aus der Dunsthülle +hervorzuspringen und die Mädchen zu erschrecken, die dann hell +aufkreischten, lachten oder schimpften, je nach Gemütsart. + +Was in den rüstigen Arbeitsjahren zwischen goldener Kinderlust und +silbernem Greisenschmuck stand, stellte sich erst kurz vor fünf Uhr +ein, als schon der Abend die Nebelmassen dunkelte. Väter und Mütter +trugen ihre Jüngsten auf dem Arm oder ließen sie neben sich her +puddeln. Die Sangesbrüder waren als die Helden des Tages leicht an dem +festen, selbstbewußten Schritt zu erkennen. + +Vor drei Jahren, als Behnkens Jan einheiratete und über hundert Haus +zur Hochzeit geladen waren, hat die große Diele viel Gäste gesehen, +aber heute sind's sicher noch weit mehr. Ein paar Bettlägerige und die +Allerkleinsten mit ihren Wärtern abgerechnet, ist das ganze Moordorf +beieinander und wartet der kommenden Dinge. Man sitzt auf Brettern, +die über hochgekippte Torfgleise gelegt sind. Für die Bejahrtesten +sind Stühle gestellt, damit sie die schwachen Rücken anlehnen können. +Die halbwüchsige männliche Jugend hat die Hillen über den Kuhställen +erstiegen und läßt zwischen den Hühnernestern die allzeit unruhigen +Beine herunterbaumeln. Die Sänger nehmen das Flett ein: rechts der +Verein »Feierabend«, links der Kinderchor. Zwischen ihnen, über der +ehemaligen Herdstelle -- vor der letzten Hochzeit ist eine Küche mit +Sparherd eingebaut worden -- ragt der Christbaum bis dicht unter die +rußgeschwärzte sodglänzende Decke, noch von Dämmerdunkel umwoben, aber +mit verheißungsvollem Funkeln im Gezweige. Die Nebelschwaden, die +mit den Menschen eindringen, irren umher, ballen sich zusammen und +umziehen drohend die paar Hängelampen, die hier und da kläglich durch +den Dunst glimmen. + +Aber mögen die Moornebel heut' noch so mächtig sein, hier drinnen +sollen sie nicht zur Herrschaft gelangen. Ein Licht flammt auf, noch +eins, und viele, und mit ihnen erglühen Rosen und Lilien ohne Zahl in +den Zweigen des zu seiner vollen Pracht erblühenden Wunderbaumes. Da +werden Hunderte von Augen weit und groß, alte und junge, helle und +trübe, kalte und warme Augen; Augen, die von nichts wissen als von +stumpf machender Mühe und Sorge, und Augen, die einem verborgenen +Leben des inwendigen Menschen leise Zeugnis geben und heimlich in eine +andere Welt zu schauen gelernt haben. Ein Paar solcher Augen hat die +achtzigjährige Anntrin Gerken, vorn rechts im Lehnstuhl. Zum Sehen +sind sie nicht mehr viel wert, aber schauen -- das können sie besser +denn je, und wohl am besten von all den Augen, in denen sich heut' +abend der Lichterbaum spiegelt. + +»Tack, tack, tack.« Herr Timmermann, in schwarzem Gehrock und weißer +Binde, schlägt mit seinem Stöckchen gegen eine Stuhllehne. Die Männer +erheben sich wie ein Mann, mit Räuspern die Liederkehlen nachputzend +und Atem auf Vorrat schöpfend. Das Stöckchen wippt, steigt, senkt +sich, da bricht es los mit Donnergewalt: »Es ist ein Ros entsprungen, +aus einer Wurzel zart.« Herr Timmermann hebt beschwörend die Hände, +sendet drohende und flehende Blicke, zischt: +piano!+ -- es +hilft alles nichts. Das Lampenfieber vor dem ersten öffentlichen +Auftreten weicht nur der Gewalt, und so braust das zarteste aller +Weihnachtslieder daher wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und +Wogenprall. -- Das Fortissimo hat aber auch sein Gutes. Selbst die +Taubsten in den vorderen Reihen, die ihre großen Handmuscheln als +Schalltrichter hinter die Ohren gesteckt haben, bekommen etwas zu +hören. + +Herr Timmermann tritt vor dem Christbaum zu seiner jungen Schar +hinüber, die ihn mit hellen, frohen Augen ansieht, und rein und süß +erklingt es: »Ihr Kinderlein, kommet, o kommet doch all.« -- Der +Pastor in Grünmoor kann morgen noch so schön predigen, die Brunsoder +Frauen und Mütter wird er doch nicht so erbauen, wie's dieser Gesang +ihrer Kinder tut. + +So wechselt Lied um Lied aus Männerkehlen und Kindermund, bis +Herr Timmermann mit dem Stöckchen klopft und verkündigt: »Keine +Weihnachtsfeier ohne die liebe, alte Weihnachtsgeschichte. Hannchen, +das jüngste Kind unseres Präsidenten und freundlichen Gastgebers, wird +sie uns erzählen.« + +Ein Alter auf der ersten Bank faltet die zitterigen Hände und +erhebt sich, nach und nach folgt die ganze Versammlung seinem +Beispiel. Inzwischen ist Hannchen, eine dralle Dickersche, mit +kugelrunden braunroten Backen und geölt glänzendem Blondhaar, auf +einen Binsenstuhl geklettert, setzt dem Dorf ein artiges Knickschen +hin und beginnt, indes hinten in Vaters Stall eine Kuh brüllt, die +Geschichte vom Stall zu Bethlehem. Sie macht ihre Sache sehr brav, +und Mutter Behnken wischt sich Freudentränen aus den Augen. Vor zwölf +Jahren, als Hannchen so gar spät hinter den Geschwistern ankam, +und Jan, auf Weihnachtsurlaub zu Hause erscheinend, beim Anblick +dieser unerwarteten Christbescherung sein Gesicht lang zog, hat sie +sich ihrer ein wenig geschämt. Aber heute ist sie stolz auf ihr +Nesthäkchen, und ihrem Ältesten, der selbst schon ein Kindchen auf dem +Arm hat, sieht sie es an, daß er's auch ist. + +Als Hannchen vom Stuhl zur Erde gesprungen ist, tritt Vater Behnken +vor, einen tuchbedeckten länglichen Gegenstand im Arm, dem sich alle +Hälse entgegenrecken. Die Hülle fällt, ein Regulator funkelt im +Weihnachtslicht und wird dem verwundert dreinblickenden Lehrer auf +die Arme gelegt. Der steht erst einen Augenblick starr, um dann seine +Stimme zu erheben: »Meine lieben Sangesbrüder! Ich weiß nicht, was +ich sagen soll. So haben Sie mich mit Ihrem prachtvollen Geschenk +überrascht und erfreut. Wie soll ich das nur wieder gutmachen? ... +Nun, ich verspreche Ihnen hier unter dem brennenden Christbaum, daß +ich mit erneuter Freudigkeit meines Amtes als Ihr Dirigent walten +werde, und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß unser Männergesangverein +›Feierabend‹ je mehr und mehr sich als eine wirkliche Bereicherung +unseres dörflichen Lebens erweisen wird und dem Dorf noch manche +schöne Stunden, wie die heutigen, schenken möge. In diesem Sinne nehme +ich die Gabe mit herzlichem Danke an. Aber nun fahren wir mit unserer +Feier fort. Bitte, der Männerchor!« + +Endlich kommt auch die Reihe an Leidchen Rosenbrock. Sie sitzt +wohlgeborgen zwischen ihren Freundinnen, aber ums Herz herum ist +ihr bänglich und beberig wie nie zuvor, nicht einmal vor der +Konfirmandenprüfung vor bald zwei Jahren. Herr Timmermann gibt ihr ein +Zeichen mit den Augen, und wie das nicht hilft, mit der Hand. Da rafft +sie allen Mut zusammen und tritt vor, verwundert, daß die Beine, die +sich wie Stöcker fühlen, sie tragen. + +Nun steht sie unter dem Tannenbaum, spürt die würzige Wärme auf ihren +glühenden Wangen, läßt ihre flimmernden Augen über das Köpfemeer vor +sich irren, fühlt das Herzchen bis in den Hals hinauf klopfen. Wird +sie überhaupt einen Ton über die Lippen bringen? + +Ihr Partner blickt sie ermutigend an und singt ihr seine Frage zu. Und +sie bleibt ihm die Antwort nicht schuldig. Zwar kommt sie ein wenig +hastig und stoßweise, aber sie kommt. Das nächste Mal klingt's schon +freier. Und im Wechselgesang geht's zwischen den beiden hin und her, +immer froher, immer jubelnder, bis auf einmal Herr Timmermann sich +herumwirft, beide Hände hoch erhoben, und nun die beiden Chöre mit +einem »Ehre sei Gott in der Höhe« einfallen. + +Leidchen hat ihren alten Platz wieder eingenommen. Die Nachbarin links +krault ihr das Knie, die zur Rechten streichelt ihren Arm, eine Frau +klopft ihr von hinten auf die Schulter. Wie sie aufblickt, sind die +Augen fast aller Sangesbrüder auf sie gerichtet. Mariechen Timmermann +nickt ihr zu. All diese Huldigung geht ihr ein wie feuriger, süßer +Wein. Es kommt wie ein Freudenrausch über sie ... + +Die letzten Lieder verklingen, indes die Lichter sacht niederbrennen +und flackernd erlöschen, und die Türen öffnen sich in die stickdunkle +Nebelnacht hinaus. + +Leidchen wollte eben das Haus verlassen, als jemand sie am Arm +festhielt. Es war Mariechen Timmermann, die ihr zuflüsterte, es wäre +mit Gerd abgemacht, daß sie beide noch für eine Viertelstunde mit +hinübergingen. Und schon hatte das zierliche Persönchen sich in ihren +Arm gehängt und zog sie mit sich fort. + +Als Gerd und der Lehrer ihnen nach einer Weile ins Schulhaus folgten, +war der Tisch schon gedeckt, und bald saßen die vier beim Abendbrot, +das aus mancherlei Wurst vom selbstgemästeten Schwein bestand, wozu +eine Kaffeekanne süß duftende Schokolade spendete. Leidchens feine +Nasenflügel flogen; denn sie liebte Schokolade sehr, hatte aber noch +nie welche in flüssigem Zustande zu sich genommen. + +»Genötigt wird bei uns nicht,« erklärte das Hausmütterchen +nachdrücklich, aber die Gastgeber mußten sich doch bald zu des Landes +Brauch bequemen. Denn wenn Leidchen auch ungebeten ganz wacker +zulangte, so machte Gerd um so größere Schwierigkeiten und gab der +Schwester mit den Augen heimlich Zeichen, daß sie nicht gar so frei +und frech sein sollte. Er schämte sich ihrer fast ein wenig. + +Als sie ihre Tasse hinhielt, um sie zum drittenmal füllen zu lassen, +griff er kurz entschlossen über den Tisch, stülpte sie um und sagte: +»Besten Dank, sie hat nun wohl genug.« + +Mariechen sah ihn groß an. + +»Kälber und Kinder Maß müssen alte Leute wissen,« erklärte er trocken. + +»Hören Sie mal, Rosenbrock,« rief Mariechen verwundert, »Sie treiben +Ihre Vormundschaft aber etwas weit.« + +»Ja, ja,« stimmte Leidchen aus vollem Herzen zu, »ist gut, daß Sie ihm +das auch mal sagen. Mir glaubt er's ja doch nicht.« + +»Zur Strafe trinken Sie auch noch eine Tasse,« verfügte Mariechen, und +es war schon zu spät, das Unglück noch zu wenden. Arg mußte er sich +mit dem für seinen Geschmack viel zu süßen Zeug quälen. + +Als die Lehrersleute dann auf einmal verschwunden waren, meinte Gerd, +sie müßten nun wohl nach Hause gehen. Aber seine Schwester lachte ihn +aus und sagte: »Mensch, es fängt doch erst an! Hör', wie die beiden da +nebenan es wichtig haben!« + +Er seufzte und wünschte sich lebhaft nach Hause. Das Ungewohnte +bedrückte ihn. + +Plötzlich erklang im anderen Zimmer ein Klavier, die Tür öffnete sich, +und der Lichtglanz eines bunt geschmückten Christbaumes funkelte +ihnen entgegen. Und schon hatte Mariechen ihre Gäste am Arm genommen +und schob sie vor sich her in die Weihnachtsstube, wo man sich um +das Tafelförmige stellte und zu seinem etwas blechernen Klang »O du +fröhliche« anstimmte. + +Nachdem der Lehrer und seine Schwester die gegenseitigen kleinen +Geschenke besehen und bewundert hatten, machten sie sich voll +freudiger Erwartung über das Paket aus dem Elternhause her. Da gab's +erst lauten Jubel, und dann saßen die beiden eng aneinandergeschmiegt +und lasen, sich umschlungen haltend, die Weihnachtsbriefe. + +Gerd saß indessen stocksteif und regungslos vor dem Teller, den man +für ihn mit Äpfeln und Nüssen gefüllt hatte, und sah ernst vor sich +hin. Da nahm Leidchen auf einmal seine Hand, und als er aufblickte, +verriet ihm ein feuchtes Schimmern in ihren Augen, daß ihre Gedanken +denselben Weg genommen hatten wie die seinen. Darüber war er sehr +froh, und drückte mit Wärme ihre Hand, ließ sie dann aber schnell los, +um den anderen seine Gefühle nicht zu verraten. + +Als diese mit dem Auspacken und Brieflesen fertig waren, wandten +sie sich wieder an ihre Gäste, wobei sie eine Liebenswürdigkeit +entwickelten, bei der dem jungen Moorbauernknecht schwül und bange +wurde. Er wußte nicht, was er sagen und wohin er sehen sollte, während +seine Schwester sich schnell in die Situation fand, ihr Silberlachen +klingen ließ und durch ihre freudeverklärte, jugendfrische +Lieblichkeit immer wieder die Augen auf sich zog. Die echte +Herzlichkeit, die man ihnen entgegenbrachte, bewirkte jedoch, daß +endlich auch Gerd anfing sich freier zu fühlen, und zuletzt lächelte +er gar leise vor sich hin, wie er nur tat, wenn ihm so recht von innen +her wohl war. + +Mariechen Timmermann war groß in hübschen Einfällen, die ihr plötzlich +zu kommen pflegten und dann sofort ausgeführt werden mußten. »Wollen +mal einen Weihnachtsreigen machen,« rief sie auf einmal, gab Gerd und +Leidchen die Hände, ihr Bruder schloß den Ring, und so umschritten die +vier den Tannenbaum, indem sie dazu sangen: »O Tannebaum, o Tannebaum, +wie grün sind deine Blätter!« Als das Lied aus war und der Reigen sich +auflöste, nahm der Hausherr sein Schwesterchen in den Arm und gab ihm +einen schallenden Kuß. Gerd erschrak und sah diskret zur Seite; denn +solche Zärtlichkeit berührte sein Empfinden fremd und peinlich. Aber +auf einmal drängte ein junges, warmes Ding sich an ihn, und ehe er +etwas dagegen tun konnte, hatten ein paar frische rote Lippen sich +auch auf seinen Mund gedrückt. »Aber Leidchen!« murmelte er entsetzt +und suchte sie beiseite zu schieben, es half ihm alles nichts, sie +schmiegte sich um so fester in seine Arme und lächelte übermütig das +andere Pärchen an, und Mariechen rief: »Rosenbrock, Sie alter Bär, +machen Sie doch nicht ein Gesicht, als ob der Ziegenbock Sie gestoßen +hätte, seien Sie mal'n bißchen nett mit Ihrer kleinen Schwester!« Da +überwand er sich, zu lächeln. + +»Was meinen Sie, Gerd,« fragte Timmermann, »ob wir unsere süßen Deerns +noch lange behalten? Oder ob schon bald so'n Schlingel kommt und sie +uns aus den Armen wegholt?« + +»Das hat wohl noch gute Weile,« meinte er. + +»Nee, nee,« rief Mariechen, »er soll bald kommen, ich bin schon +vierundzwanzig.« + +»Hm, hm. Dann wird's freilich bei kleinem Zeit, ich hab' auch bloß an +Leidchen gedacht; denn im Durchschnitt wird hier im Moor viel zu früh +geheiratet.« + +»Ach was, jung gefreit, hat noch niemand gereut.« + +»Das hat schon manchen gereut,« versetzte Gerd ernsthaft und schickte +sich an, Beispiele zu bringen. + +Aber seine gralläugige Widersacherin lachte ihm ins Gesicht: +»Rosenbrock, Sie reden ja genau wie'n Pastor,« und Leidchen klatschte +in die Hände und jubelte: »Das ist recht, daß Sie's ihm heut' abend +mal ordentlich sagen. Mir glaubt er ja doch nicht.« + +»Na, Otto,« rief Mariechen, die sich nicht gern zu lange bei einer +Sache aufhielt, »nun spiel' uns mal einen Walzer, ich will mal eben +mit Leidchen herumtanzen.« Er setzte sich vor das Klavier und begann +zu hämmern, und die beiden Mädchen schwebten zärtlich verschlungen +mit lachenden Augen durch den etwas engen Raum, indes die Brüder mit +freudigem Stolz ihren Bewegungen folgten und frohe Blicke wechselten. +Dann trat Mariechen mit zierlicher Verbeugung vor Gerd hin, ihn +zu einem Tänzchen auffordernd. Er schüttelte den Kopf, wurde rot, +wollte böse werden, aber sie ließ nicht locker, und so mußte er +schließlich mit, und sogar als Dame, wobei er einen Stuhl umriß, +während Leidchen, die Hände in den Seiten, über den hölzernen Tänzer, +der so verzweifelte Gesichter schnitt, sich totlachen wollte. Darauf +drängelte Mariechen ihren Bruder vom Klavierbock, begann selbst auf +die Tasten zu trommeln, und er mußte mit Leidchen antreten. Das gab +ein schmuckeres Paar, und sie tanzten auch ein Weilchen länger als die +vorigen. + +Und dann saßen die beiden Geschwisterpaare wieder um den Tisch, +knackten Nüsse, aßen Vielliebchen, rieten Scherzrätsel, spielten +Dichterquartett, der Hausherr las ein hübsches Weihnachtsgeschichtchen +vor, das er irgendwo gefunden hatte, und so enteilten die Stunden aufs +angenehmste. Gerd, der nachgerade völlig aufgetaut war, wußte dem +kleinen Racker, der es nicht lassen konnte, ihn aufzuziehen, jetzt +ganz gut zu dienen und hatte öfters die Lacher auf seiner Seite. + +Mitternacht war längst vorüber, als die beiden Gäste endlich +losgelassen wurden und den Heimweg antraten. Leidchen hing sich in den +Arm des Bruders und sagte, indem sie den Damm dahinschritten: »Junge, +Junge, heut' haben wir mal Weihnachten gefeiert! So vergnügt hab' ich +dich noch nie gesehen. Von den beiden kannst du lernen, wie Bruder und +Schwester miteinander umgehen sollen.« + +Gerd antwortete nichts darauf. + +Nach einer Weile legte er den Arm fest um sie und sagte: »Leidchen, +mit Worten und Zärtlichkeiten kann unsereins nicht so kramen wie +solche Leute. Aber nicht wahr? Wir wissen auch so, was wir aneinander +haben. Meinst du nicht auch?« + +»Ach ja, das wohl ...« + +»Und das ist die Hauptsache, Kind. Aber ich will dir gern zugeben, von +den beiden kann einer auch in solchen Dingen allerlei lernen. Bloß +nachmachen darf unsereins ihre Art nicht. Der Bauer muß Bauer bleiben, +sonst ist er überhaupt nichts.« + +»Fängst du schon wieder an zu predigen?« rief sie und kniff ihn leicht +in den Arm. + +Sie schwiegen jetzt beide und schritten, still gewordener Freude voll, +Arm in Arm und einer der Nähe des andern in tiefster Seele froh, +langsam durch die Stille, in die nur zuweilen das Rieseln des nimmer +ruhenden Wassers um ein Klappstau leise hineingluckerte, durch die +heilige Weihnacht, die den Atem anzuhalten schien, wie um aus seligen +Fernen raunender Botschaft zu lauschen. + + + + + 7. + + +Nachdem die Brunsoder wieder einmal Torf, Heu, Roggen und Kartoffeln +geerntet, sieben Dorfgenossen zu Grabe und neun zur Taufe geleitet, +vier grüne Hochzeiten nebst zwei silbernen und einer goldenen gefeiert +hatten, war wieder ein Jahr herum. + +Es war ein Abend zwischen Weihnachten und Neujahr, Rosenbrocks +saßen in der Stube beieinander, Jan las die neueste Nummer der +Hamme-Zeitung, die er soeben dem Kästchen an der Hofbrücke entnommen +hatte, in die der Austräger sie zu stecken pflegte. Er begann +regelmäßig mit den Ferkeln, Faselschweinen, Quenen, Starken und +anderem Hausgetier, das auf den letzten Seiten sein Wesen trieb; +auch ins Lokale warf er wohl mal einen Blick, zum Politischen und +Allgemeinen drang er selten vor. + +Plötzlich fing er an zu knurren und brummte vor sich hin: »Die +vermuckten Jungens!« + +Die anderen blickten neugierig auf, er aber schob die Zeitung zu +Leidchen hinüber, indem er mit dem Finger in die untere Ecke der +dritten Seite deutete. + +Sie beugte sich hastig über das Blatt, und indem sie las, färbte eine +lebhafte Röte ihr die Wangen, und der Atem ging schneller. Gerd, der +auf der anderen Seite des Tisches saß und aus Zigarrenholz einen +Kammkasten schnitzte, beobachtete sie verwundert, fragte aber in +gleichgültigstem Tone: »Was hast du da?« »Rat' mal!« + +»Da geb' ich meinen Kopf nicht zu her.« + +»Ich steh' hier gedruckt!« rief sie mit glänzenden Augen. + +»So? Lies mal vor!« + +Sie schob die Ellbogen auf den Tisch, hielt das Blatt unter die +Hängelampe und las, langsam, in geziertem, feierlichem Ton: + + + »Fräulein Leidchen Rosenbrock, der feinsten Deern im Dorf, zu + ihrem am 29. Dezember stattfindenden siebzehnjährigen Wiegenfeste + ein donnerndes Lebehoch, daß die Birken sich biegen und die ganze + Dorfreihe wackelt. Wir stellen uns alle ein. Ob sie sich wohl was + merken läßt? + Die böbersten Brunsoder Jungs.« + + +»Die könnten ihr Geld auch besser anwenden als zu solchem Narrenkram!« +brummte Gerd, und der Bauer und die Frau nickten zustimmend. Aber das +durch das Inserat geehrte Geburtstagskind zog die schwellenden roten +Lippen kraus und sagte schnippisch: »Für'n guten Spaß muß auch mal'n +Groschen übrig sein. Morgen geh' ich hin und lad' mir die Spinners +ein, bin ja doch an der Reihe. Und was ich für die Jungs brauche, +bring' ich gleich mit. Jan, gib mir fünf Mark von meinem Lohn!« + +»Aber Deern!« rief Gerd erschrocken. + +Sie blickte ihn fest und entschlossen an. »Was sein muß, das muß sein. +Die Jungs sollen bei mir ebensogut ihr Recht haben wie anderswo. Ich +komm' übermorgen schon in mein achtzehntes und bin kein Kind mehr. +Jan, her mit dem Geld!« + +Jan zögerte noch. + +»Wem gehört das Geld, das ich mir verdient habe?« fragte sie spitz, +»mir oder dir?« + +Endlich rückte er mit einem Taler heraus, und da auch die anderen +erklärten, das wäre überleidig genug, gab sie sich zufrieden. + +Das Glückwunschinserat schnitt sie aus und klebte es mit Mehlkleister +fein säuberlich in ihr Poesiealbum. + + * * * * * + +Leidchen, die seit kurzem mit zum Spinnen ging und heute, an ihrem +Geburtstag, das Koppel zum erstenmal bei sich haben sollte, hatte die +Stube geschrubbt, zurecht gekramt und mit feinem weißen Sand gestreut. +Nun saß sie am Fenster und erwartete die Mädchen. Vor ihr stand das +Spinnrad, auf dem schon ihre Mutter als junges Mädchen gesponnen +hatte. Es war kürzlich für sie aufrepariert und in frischem Rot +gestrichen; das grüne Wockenblatt trug die Inschrift: »Schönes Mädchen +mit dem Rädchen, spinn um mich das Liebesfädchen.« + +Sie hatte das Reich heute allein. Jan und Trina waren nach Mittag, um +dem jungen Volk aus dem Wege zu gehen, zum Besuch der Freundschaft +nach Meinsdorf aufgebrochen, Gerd machte eine Schlittschuhfahrt über +Land, und die Kinder spielten auf der Nachbarschaft. + +Die Spinnerinnen ließen auf sich warten, und voll Ungeduld trat sie +auf den Hof hinaus, um den Fußpfad, der sie herführen sollte, entlang +zu spähen. Da hörte sie Stimmen, sah die hoch in den Armen getragenen +Spinnräder über dem Buschwerk schwanken, und huschte wie ein Wiesel +ins Haus zurück. + +Die Mädchen reinigten ihre Füße auf dem ausgedienten Handmühlstein, +der als Tritt vor der Seitentür lag, und traten dann auf das Flett, wo +das Geburtstagskind sie empfing und ihre Gratulationen entgegennahm. +Und bald saßen die Spinnerinnen, ihrer acht, im Halbkreis vor den +roten, bunt gekrönten Rädern, die sofort ein lustiges Schnarren +begannen, mit dem die Mundwerke, als sie erst einmal im Gang waren, +erfolgreich wetteiferten. + +Die meisten hatten am zweiten Weihnachtstag bei Heini Peper getanzt, +und da war nicht viel los gewesen. Aber um so mehr wußten Anna +Schnackenberg und Minna Siedenburg zu erzählen, die den Weihnachtsball +im Kirchdorf mitgemacht hatten, wo's mal wieder hoch hergegangen war. +Ein Besendorfer hatte einem Hasenweder auf den Fuß getreten, und +da hatte es sofort eine tolle Schlägerei zwischen den Jungens der +seit alters verfeindeten Dörfer gegeben, wobei die aus den anderen +Ortschaften teils diesen, teils jenen beigesprungen waren. Die +Mädchen hatten sich kreischend auf Tische und Stühle geflüchtet, dem +Gendarm, der Frieden stiften wollte, war ein Bierseidel hart am Kopf +vorbeigeflogen, er hatte aber eine ganze Menge aufgeschrieben, die +nun gewiß nach Verden mußten, und der Doktor hatte in der Nacht drei +flicken müssen. + +Es war Minna Siedenburg, die als Augenzeugin hiervon berichtete und +mit dem Seufzer schloß: »Die Jungens sind auch gar zu wild und hitzig.« + +»Und dein Jakob ist der allerschlimmste,« sagte Anna Schnackenberg. +Minna lächelte stolz verschämt und duldete es gern, daß Anna ihres +Jakob Heldentaten ins helle Licht stellte, was selbst zu tun ihr die +Bescheidenheit nicht erlaubt hatte. + +Von diesem Weihnachtsvergnügen kam das Gespräch auf die Söhne des +Dorfes, die zurzeit den bunten Rock trugen. Zwei standen bei den +Fünfundsiebzigern in Bremen. Der eine, Jan Monsees, gehörte mit +zum Koppel, und man erwartete ihn diesen Abend mit den anderen +Jungens. Der andere, Müllers Hermann, war erst im Herbst eingetreten +und jetzt zum erstenmal auf Urlaub. Er wäre der hübscheste und +strammste Jungkerl im Dorf, wollte jemand behaupten, aber es wurde +auch lebhafter Widerspruch dagegen laut, und man sprach von ihm als +von einem, der eigentlich zum Jungvolk des Dorfes nicht recht mit +dazu gehörte, da er eben der Sohn des reichen Müllers war und die +Jahre seit der Schulentlassung in der Fremde zugebracht hatte. -- +Drei Brunsoder verteidigten fern im Osten die Reichsgrenze gegen +die Russen, die Ärmsten hatten diesmal keinen Urlaub bekommen. Man +bedauerte sie und schalt auf die Heeresverwaltung. Thyra Kück, die +Tochter des Schriftführers im Verein »Junghannover«, meinte, zu +hannoverschen Zeiten hätten die Soldaten die Heimat näher gehabt, +Deutschland wäre jetzt viel zu groß, woraufhin Dele Meyerdierks, +deren Vater zum Kriegerverein gehörte und nationalliberal wählte, +es für ihre Pflicht hielt, für des Vaterlandes Größe eine Lanze zu +brechen. Als die Festung Thorn genannt wurde, kam Leben in Beta +Mohlbrock, die sonst nicht viel sagte. Sie hatte dort einen Cousin, +einen Luftikus und Aufschneider, dessen Windbeuteleien außer ihr +kein Mensch ernst nahm. »In Thorn«, begann sie, sich wie vor Frost +schüttelnd, »ist es beinah so kalt wie am Nordpol. Auf Wache ziehen +sie immer drei Mäntel übereinander an, und doch finden sie am anderen +Morgen oft genug welche totgefroren auf ihrem Posten. Zuweilen brechen +auch Rudel ausgehungerter Wölfe über die russische Grenze, oder ein +Bär kommt leise auf den einsamen Wachtposten zugeschlichen, und wehe +dem Mann, der da nicht ruhig Blut behält und schlecht schießt. Aber +Georg hat die Schützenschnur, und an seiner Uhrkette trägt er den +blankpolierten Backenzahn von einer alten Bärenmutter, die er mitten +in der Nacht, als sie ihn gerade in die Arme nehmen wollte, mitten +durchs Herz getroffen hat« -- Minna Siedenburg machte huh -- »Es ist +aber ganz gewiß wahr, Minna, Georg hat's mir selbst erzählt, und ich +hab' den Zahn in der Hand gehabt. Ist man gut, daß seine Zeit bald +herum ist. Das Essen ist auch man zeitlich in Thorn. Georg sagt, +die Bauern in der Umgegend, wo auch viel Moorland ist, wie bei uns, +nähren sich von Buttermilch, Torf und Talglichtern. Aber das kann +ich mir nicht recht denken, das hat er sich wohl bloß vorschnacken +lassen. Alles darf man auch nicht glauben.« Die andern sahen sich +lachend an, und eine mitleidige Seele sagte: »Na, Beta, wenn Georg +nächsten Herbst reinkommt, kannst du den armen Kerl man ordentlich +herausfüttern und ihn recht fest in den Arm nehmen, daß er warm wird.« +Beta steckte sich rot an und lächelte beglückt und hoffnungsselig vor +sich hin. + +Wie um diesem Thema einen würdigen Schluß zu geben, stimmte Meta +Windeler, die eine scharfe, schneidende Stimme hatte, das Lied vom +Soldatenabschied an: »Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von +hier.« Der fernen Jungens gedachte man besonders noch mal bei dem +Verse: + + + »Soldatenleben, das heißt nicht lustig sein. + Wenn andere Leute schlafen, da muß man wachen, + Muß Schildwach' stehn, Patrouille gehn.« + + +Und nun folgte Lied auf Lied: Ist alles dunkel, ist alles trübe -- Es +wollt' ein Mädchen früh aufstehn, dreiviertel Stund vor Tag -- Leise +tönt die Abendglocke -- In des Gartens dunkler Laube -- Es welken alle +Blätter und fallen alle ab. Einmal schlug Leidchen vor: Am Brunnen +vor dem Tore, aber da wurde sie ausgelacht: »Deern, das ist doch ein +Schullied!« Und sie errötete, weil sie etwas sehr Dummes gesagt hatte. + +Ob der Inhalt der Lieder derb, neckisch oder wehmütig, die Weise +munter oder sentimental war, das machte für den Vortrag weiter keinen +Unterschied: der behielt seine epische Ruhe und seinen Leierton gerade +so, wie die Augen gleich ernst auf dem durch die Finger gleitenden +Faden ruhten und die Räder gleichmäßig schnurrten. + +Da machte es sich nun recht unliebsam bemerkbar, daß in dem Gesang +der jüngsten Spinnerin sich hier und da etwas Lyrisches, der Ausdruck +eigenen Empfindens, hervorwagen wollte. Nachdem Leidchen deswegen +schon einige verwarnende Blicke bekommen hatte, sagte Meta Windeler, +die wegen ihrer schrillen Stimme als Gesangsmeisterin anerkannt wurde, +unwirsch und verweisend: »Leidchen, was hast du da für 'ne wunderliche +Singerei vor?« + +Die etwas boshafte Anna Schnackenberg nahm ihr die Antwort ab: »Du +mußt wissen, Meta, das soll was extra Feines sein. Sie singt ja immer +mit dem Schullehrer.« + +Leidchen blitzte die Spötterin zornig an: »Du lügst, Anna. Du weißt +ganz gut, ich hab' nur das eine Mal, voriges Jahr zu Weihnachten, mit +ihm gesungen.« + +»So--o? Aber neulich war er doch erst wieder bei euch.« + +»Ja, um Gerd zu besuchen.« + +»Haha, das kennt man ... Warum besucht er denn die andern Jungens +nicht?« + +»Bei denen wird er wohl nichts zu suchen haben.« + +»Nun hör' mal einer die Deern an! Sie trägt den Kopf bald ebenso hoch +wie ihr Bruder, der unsereins überhaupt nicht mehr ankuckt!« + +Leidchen stoppte ihr Rad, stieß es mit dem Fuß ein wenig von sich und +sagte: »Anna, wenn du noch länger so'n dummes Zeug schnackst, werd' +ich dir ganz böse.« + +»Aber Deern,« lenkte diese ein, »du gehst ja nun in dein achtzehntes +und mußt es bald lernen, daß du Spaß vertragen kannst.« + +»Ich will erst den Kaffee aufgießen,« sagte Leidchen und ging +ärgerlich hinaus. Minna Siedenburg, als die älteste des Koppels teilte +einen Verweis aus: »Anna, du mußt ein bißchen mehr zu deinen Worten +sehen. Das von Gerd und dem Schullehrer gehörte hier gar nicht her.« + +Bald sammelte die Geburtstagsgesellschaft sich friedlich um ein +braunes Wachstuch, das mit der Schlacht bei Gravelotte bedruckt war, +um sich den Kaffeefreuden hinzugeben. Leidchen schenkte ein, und Anna +Schnackenberg bekam zur Strafe die letzte Tasse. In der Mitte des +Tisches stand ein Teller, der hoch mit weihnachtlichem Butterkuchen +bepackt war. + +Als dann die Räder wieder liefen, wollte die Unterhaltung nicht recht +wieder in Gang kommen. Es lag wie erwartungsvolle Spannung auf dem +Kreise, alle Augenblick wandte sich ein Kopf herum und dem Fenster +zu. Aber draußen war einstweilen nichts zu sehen, als die schmale +silberne Mondsichel, die ein schwaches Licht auf kahle Baumgerippe und +lückenhaften Altschnee warf. + +»Da kommen schon welche!« rief Beta Wöltjen, und alle Köpfe wandten +sich wie am Faden gezogen dem Fenster zu. Richtig, da kamen zwei +angeschlendert, die Hände fast bis an die Ellbogen in den Hosentaschen +vergraben. Sie lehnten sich faul gegen die Brunnenumfassung, man sah +den Tabak, wenn sie ansogen, in ihren Pfeifenköpfen glühen und die +Rauchwolken im Mondlicht schimmern. + +»Soll ich sie hereinholen?« fragte Leidchen aufgeregt. + +»Immer sinnig, das hat noch Zeit,« sagte Minna, die als älteste die +Verpflichtung fühlte, über dem guten Ton zu wachen, und auch ihren +Jakob noch vermißte. + +Die Spinnräder machten jetzt beträchtlich weniger Umdrehungen in der +Minute, immer häufiger spazierten die Augen zum Fenster hinaus. + +Endlich wurden draußen drei weitere Gestalten sichtbar, die langsam +dem Brunnen zu bummelten und sich zu den anderen stellten. Hin und +wieder flog von dorten auch ein Blick zum Hause hinüber. + +In der Stube fand es im stillen jede an der Zeit, die Jungens nicht +länger am Brunnen frieren zu lassen, sondern in die Wärme zu holen. +Aber keine wollte das als die erste vom Munde geben, und so währte +es noch eine geraume Weile, bis Minna Siedenburg aufstand, Leidchen +am Arm nahm und sagte: »Komm Deern, wir beide wollen sie holen. Von +alleine kommen sie doch nicht.« + +Die sechs im Gang bleibenden Räder spannen jetzt wie wild. + +Nach kaum zwei Minuten erschien Minna wieder in der Tür, ihren im +Bewußtsein seines Heldentums stolz lächelnden Jakob am Jackenknopf +hinter sich herziehend. Leidchen hatte Klaus Rietbrock am Knopfloch, +der, wie sie selbst, erst seit kurzem zum Koppel gehörte und seine +Verlegenheit dadurch zu verbergen suchte, daß er die Beine trotzig +verquer stellte und ein Gesicht machte, als ob er ein ganz schlimmer +wäre. Die anderen drei folgten von selbst. + +»Daß ihr erst mal warm werdet,« sagte Leidchen und kam mit einer +Flasche, aus der sie jedem der Burschen das dicke Gläschen einmal +füllte, die »Prost, Leidchen!« riefen und es auf einen Zug leerten. +Dann setzten sie sich auf die Wandbänke, hinter die ein wenig mehr +unter der Hängelampe zusammenrückenden Mädchen. Die Räder schnurrten +und die Pfeifen qualmten. + +»Au, er ist mir doch noch bannig steif,« stöhnte Jakob Kück, seinen +Arm, wie es schien, mit Mühe ausstreckend. + +»Wovon?« fragte Minna, die vor ihm saß und die Gelegenheit, sich +schnell mal nach ihrem Liebsten umzusehen, wahrnahm. + +Nun konnte Jakob erzählen. Seine Tat erschien nach seiner eigenen +Darstellung noch erheblich heldenhafter und bewundernswürdiger, als +nach dem Bericht der Augenzeuginnen, die doch auch kein Interesse +daran gehabt hatten, sie zu verkleinern. Der Hauptspaß wäre, daß der +Gendarm ihn nicht gefaßt hätte. Denn wenn einer nachher für solchen +Spaß einige Monate Häcksel fressen müßte, das wäre nichts Genaues. + +Jakob war noch im besten Gange, als auf dem Flett Schritte laut +wurden, die offenbar nicht von Holzschuhen, sondern von Kommißstiefeln +stammten, und Jan Monsees, der Weihnachtsurlauber, trat in die Stube. +Aber nicht allein. Dem untersetzten, in schlotteriger Kommißkleidung +steckenden Kriegsmann folgte auf dem Fuße ein Kamerad, dessen +schlanke, ebenmäßige Gestalt eine gut sitzende funkelneue Extrauniform +umgab. + +Die Burschen, allen voran der in seinem Bericht unterbrochene +Weihnachtsballheld, empfingen den zweiten der Ankömmlinge mit +verwunderten und befremdeten Blicken. Aber Jan Monsees sagte: »Müllers +Hermann, mein Kompagniekamerad, war gerade bei mir zum Besuch, da +hab' ich ihn ein bißchen mitgebracht. Es wird wohl keiner was dagegen +haben.« Inzwischen war dieser mit den knarrenden Extrastiefeln auf +Leidchen zugeschritten, gab ihr, die Hacken zusammenschlagend, die +Hand und sagte: »Ich hab' in der Zeitung gelesen, daß du heute +Geburtstag hast, und wollte dir auch eben gern gratulieren. Darf ich +'ne halbe Stunde mit schnacken?« + +»Von Herzen gern,« sagte Leidchen, durch den unerwarteten Besuch nicht +wenig geschmeichelt, und sah sich nach einem Platz für ihn um. Da die +Bänke ziemlich besetzt waren und die anderen keine Anstalt machten, +zusammenzurücken, holte sie schnell einen Stuhl und bat, ihn halblinks +hinter sich stellend, Hermann, damit vorlieb zu nehmen. Dann kredenzte +sie ihm und seinem Kameraden den Bewillkommnungsschluck. Auch die +übrigen bekamen der Reihe nach wieder ein Gläschen. + +Jakob Kück fing noch einmal von seinem Weihnachtsball an, fand aber +keine rechte Aufmerksamkeit mehr. Er ärgerte sich nicht wenig, daß +er sein Pulver zu früh verschossen hatte. Um so leichter wurde es +dem Eindringling, sich im Handumdrehen zum Helden der Situation zu +machen. Er steckte von oben bis unten voll von Unteroffiziersanekdoten +und Kasernenhofblüten, die er natürlich alle selbst erlebt haben +wollte und geschickt vorzubringen wußte. Je lebhafter seine +Zuhörerinnen Beifall spendeten, desto launiger und witziger wurde +sein Erzählen. Den Stuhl noch ein wenig vorziehend, saß er bald an +Leidchens Seite und im Kreise der Mädchen, die immer wieder von ihren +Fädchen aufblickten und in das frische, lachende Gesicht des jungen +Kriegers sahen, der nach jedem Geschichtchen selbstgefällig seinen +unwiderstehlichen Schnurrbart drehte. Die Jungens auf den Bänken +im Hintergrund fühlten sich sehr an die Wand gedrückt. Jakob Kück, +der beim ersten Garderegiment gedient hatte und den Rekruten der +Fünfundsiebziger von Grund seiner Seele verachtete, versuchte einige +Male, ihm einen Knüppel zwischen die Beine zu werfen. Aber der wußte +ihn jedesmal so geschickt zu parieren und zurückzugeben, daß er selbst +darüber stolperte und von den Mädchen ausgelacht wurde. Und sogar +Minna Siedenburg lachte mit. Müllers Hermann war und blieb erster und +einziger Hahn im Korbe. Krischan Wedderkopp ging bald heimlich hin und +stibitzte die nach dem letzten Umtrunk wieder gefüllte Flasche, an der +man sich schadlos hielt. + +Endlich schien Hermanns Anekdotenschatz erschöpft zu sein, und Meta +Windeler schlug vor, mal eins zu singen. Das geschah denn auch, und +dabei konnten auch die an der Wand sich mal wieder hören lassen. Die +meisten sangen »groff«, das heißt, eine Oktave tiefer als die Mädchen, +einige versuchten aber auch etwas wie die zweite Stimme. Krischan +Wedderkopp befand sich schon in dem Stadium, wo das Singen zum Gröhlen +wird. -- + +Gerd, den die unsicheren Eisverhältnisse der Hamme zu Umwegen +gezwungen hatten, kehrte später zurück, als in seiner Absicht lag. +Er fand eine ziemlich fortgeschrittene Stimmung vor. Er nickte den +gerade wieder Singenden grüßend zu und schritt durch die Stube, um das +einzige Fenster, das zum Öffnen eingerichtet war, aufzumachen. Denn +die Luft war in dem niedrigen tabaksqualmerfüllten Raum so heiß und +dick, daß es einem, der von draußen kam, schier den Atem versetzen +wollte. Dann begab er sich in die Ecke hinter den Ofen. + +Als das Lied aus war, kam Müllers Hermann zu ihm, begrüßte ihn durch +Handschlag und erzählte, auf welche Weise er hier unter das Koppel +verschlagen wäre. Nachdem er noch einige Worte mit ihm gewechselt +hatte, begab er sich an seinen Platz zurück. Die andern nahmen +weiter keine Notiz von dem Ankömmling. Er galt ihnen nun einmal als +Sonderling und Drögepeter, den man am besten sich selbst überließ. +Doch schien es, als ob seine Anwesenheit auf die ausgelassene +Lustigkeit lähmend wirkte. + +Aber Krischan Wedderkopp ließ sich das weiter nicht anfechten, er +hatte mehr getrunken als die anderen und war nun einmal in der Fahrt. +Nachdem er schon allerhand Unfug gemacht hatte, brach er durch die +Reihe der Spinnerinnen und näherte ein angebranntes Streichholz der +Hängelampe, wie um es über ihr neu zu entzünden. Doch plötzlich +knipste er es fort, hielt die flache Hand schräg hinter das Glas und +blies scharf dagegen. Die Lampe erlosch, die Gesellschaft befand +sich im Dunkeln, und das Kreischen der Mädchen verriet, daß einige +Burschen sich sofort kleine Freiheiten erlaubten. Es drohte ein tolles +Durcheinander zu werden. + +Da donnerte es aus der Ofenecke: »Steckt das Licht wieder an!« Aber +niemand gehorchte. + +Gerd fand Schwefelhölzer in seiner Westentasche und riß eins an der +warmen Ofenplatte in Brand. Aber ehe die bläulich schwelende Flamme +das Holz recht ergriff, wurde es ihm in der Hand ausgeblasen. + +Ein zweites hatte das gleiche Schicksal. + +»Nehmt euch in acht!« rief Gerd, ein drittes in den hohlen Händen +schützend. Eben wollte er es zur Lampe emporheben, als es wieder +erlosch. + +Es fing an, in ihm zu kochen, und als auch das vierte Zündholz, +das er, unter der Lampe stehend, am Hosenboden angerissen hatte, +ausgeblasen wurde, schnellte er die rechte Hand scharf zur Seite und +traf jemanden nicht eben sanft auf den Mund und Backe. Es gab einen +dumpfen Klapp und gleich darauf ein wildes Gejohle. + +Mit dem fünften Streichholz brachte er unter dem Schutz seiner +geballten Faust die Lampe glücklich in Brand. + +Die Mädchen strichen sich die verwirrten Haare glatt, banden die +aufgelösten Schürzenbänder zu und setzten sich ehrbar wieder an ihre +Spinnräder. + +»Muß mir doch mal die Schnuten ankucken, wen's getroffen hat,« sagte +Krischan Wedderkopp und sah mit seinem Faungesicht den einzelnen +scharf auf den Mund, bis er vor dem Müller stehen blieb und mit +schadenfrohem Lachen rief: »Hier hat's eingeschlagen!« + +Hermann leugnete und stellte eine unbefangene Miene zur Schau. Aber +die gerötete Backe verriet ihn. + +Es erhob sich ein helles Gelächter, in das auch die Mädchen mit +einstimmten. Hermann fühlte, daß er etwas tun mußte, um seine schwer +gefährdete Soldaten- und Burschenehre zu retten. + +Er trat vor Gerd hin, der sich in seinen Winkel zurückgezogen hatte +und lässig gegen den Ofen lehnte. + +»Gerd, du hast mich geschlagen!« + +»Warum hältst du deinen Schnabel hin?« fragte der gelassen. + +Die Burschen zogen eine Mauer um die beiden. Die Mädchen, sich im +Hintergrund haltend, sahen ängstlich und neugierig zwischen ihnen +durch; die kleineren waren auf Stühle gestiegen. Jan Monsees suchte +den Kameraden mit gütlicher Zusprache zu beruhigen, während Krischan +Wedderkopp hetzte: »Hiß, hiß! Wer sich aufs Maul schlagen läßt, ist +kein Kerl.« + +»Ich verlange, daß du auf der Stelle Abbitte tust,« stieß der Müller +in heiserer Stimme heraus. + +Gerd schwieg und verharrte in seiner lässigen Haltung. + +Da langte der Kriegsmann, sich hoch aufrichtend, mit großer Gebärde +nach dem Seitengewehr. Jedoch bevor er es ziehen konnte, war Gerd +zugesprungen, hatte ihn mit Untergriff gepackt und streckte den langen +Menschen der Länge nach in den Streusand des Fußbodens. Dann ließ +er ihn aber sofort los, steckte beide Hände in die Hosentaschen und +lehnte sich wieder gegen den Ofen. + +Die helle Wut im Gesicht, sprang der andere auf die Füße, zog +blitzschnell seine Waffe und wollte auf den Gegner eindringen. +Aber Leidchen, die Kette der Burschen durchbrechend, warf sich ihm +mit einem gellenden Schrei entgegen, und zugleich packten ein paar +kräftige Arme den Rasenden. »Was? Der will uns mit seinem Käsemesser +zu Fell?« »Was hat der großschnauzige Kerl überhaupt in unserem Koppel +zu suchen?« »Raus mit ihm!« schrie es durcheinander, und obgleich Jan +Monsees kameradschaftlich Einspruch erhob und Leidchen bat und flehte, +beförderten die erhitzten, eifersüchtigen Burschen den ungebetenen +Gast, so sehr er sich mit Händen und Füßen wehrte, erbarmungslos zur +Stube und zum Hause hinaus. + +Mit dem Spinnen war es jetzt natürlich vorbei, obgleich Leidchen +dringend bat, wieder Platz zu nehmen. Eine Weile stand ihre +Geburtstagsgesellschaft noch in der Stube durcheinander, das +Vorgefallene leidenschaftlich besprechend, dann nahmen die Mädchen +ihre Spinnräder in den Arm, und das Koppel zog aufgeregt zum Hause +hinaus. + +Gerd hatte schon vor den anderen die Stube verlassen und sich hinten +auf der Diele bei dem Vieh zu schaffen gemacht. + +Als er auf das Flett zurückkam, begegnete ihm Leidchen, die soeben +ihre Gäste zur Seitentür hinausgeleitet hatte. + +»Na, sind wir das rüde Volk endlich aus dem Hause los?« fragte er +arglos. + +Wie eine fauchende Katze, als ob sie ihm an den Kopf wollte, kam sie +auf ihn zugefahren, ihre Augen schossen Blitze, der ganze Körper +zitterte vor Erregung, und mit zornerstickter Stimme rief sie: + +»Das vergess' ich dir mein Lebtag nicht, was du mir heut' abend +angetan hast!« + +»Ich? Dir?« fragte er verwundert. + +»Nun stell' dich auch noch dumm! Du hast mir meinen ganzen Geburtstag +ausgeschändet. Wir waren alle so vergnügt und lustig ... bis du kamst. +Da war's mit einemmal vorbei. Du gönnst mir ja keinen Spaß, das weiß +ich schon lange.« + +»Leidchen!« + +»Ich hatte mich so gefreut, daß Müllers Hermann sich auch mal bei uns +sehen ließ. Denn das war eine große Ehre für mich; und er hat uns so +spaßige Geschichten erzählt. Und nun muß er so aus dem Hause kommen! +Schämen muß'n sich vor den Leuten wegen so 'nem Bruder!« + +»Wenn du dich wegen sonst nichts zu schämen brauchst, dann sei froh. +Ja, schämen solltet ihr euch wirklich, ihr großen Mädchen, so im +Dunkeln mit den Jungens herumzutoben! Daß eine, wie Anna Rickers, +dazu Lust hat, nimmt mich nicht wunder. Aber daß dir das Spaß macht, +Leidchen, das tut mir in der Seele weh ... Pfui, sich von einem Kerl, +wie Krischan Wedderkopp, anfassen zu lassen!« + +»Mich hat kein Krischan angefaßt! Nur die Schleife vom Schürzenband +hat mir einer aufgezogen, und was ist da groß bei? Aber so bist du +schon immer gewesen: aus der Mücke machst du einen Elefanten und aus +einem kleinen Spaß gleich 'ne große Sünde. Mit jedem Tag wirst du +ducknackiger, das sagen die anderen auch. Ich glaube, das kommt davon, +daß du so viel mit dem Schulmeister läufst, worüber alle Leute sich +wundern. Von dem lernst du wohl das Schulmeistern und Aufpassen. Aber +ich lasse mir das nicht länger gefallen, ich hab's jetzt gründlich +satt ... Was du mir heut' abend angetan hast, das vergess' ich dir so +leicht nicht. Warte, ich spiel' dir noch mal einen Streich, daß du +auch dran denken sollst!« + +Sie hatte die Hand zur Faust geballt und sie drohend gegen ihn erhoben. + +»Man sachte, man sachte!« klang es begütigend von der Seitentür her, +durch die Jan und Trina soeben eingetreten waren. »Deern, was hast du +denn bloß?« fragte die letztere, »du bist ja wohl nicht recht klug.« + +Leidchen war jäh verstummt und mit einem feindseligen Blick auf den +Bruder ging sie in ihre Kammer. + +»Was hat sie denn?« fragte Trina, ihr Kopftuch lösend und von dem +langen Weg ermüdet auf einen Stuhl sinkend. + +»Nichts Besonderes,« sagte Gerd, »die Deerns kriegen manchmal so ihren +Rappel.« + +Damit wandte er sich und suchte seine Schlafkammer auf, die an der +Großen Diele lag. + + + + + 8. + + +Als Gerd am nächsten Morgen erwachte, hoffte er, Leidchen würde ihn +wegen ihrer häßlichen Ausfälle vom gestrigen Abend um Verzeihung +bitten, oder doch auf irgendeine Weise merken lassen, daß sie ihr leid +täten. Aber in dieser Erwartung täuschte er sich. Sie tat den ganzen +Tag, als ob er nicht vorhanden wäre, und sah auch bei Tisch, wo sie +sich gegenüber saßen, geflissentlich an ihm vorbei. + +Beim Mittagessen machte die Schwägerin den Versuch, die Geschwister zu +versöhnen, wurde aber von Leidchen schroff zurückgewiesen. Jan, der +abends vorm Kuhstall dasselbe versuchte, erging es nicht besser. + +Wenn sie ohne ihn fertig werden könnte, sagte sich Gerd, so könnte +er es ohne sie erst recht. Allerlei Magdarbeiten, die er ihr bislang +abgenommen hatte, weil sie größere Körperkraft verlangten, ließ er +fortan sie selbst verrichten, und sie kam ihnen mit einer Art Trotz +nach, aber doch so, daß die Ausführung zu Tadel keinen Anlaß bot. +Überhaupt schien sie ihre Ehre darein zu setzen, ihm zu zeigen, daß +sie auf eigenen Füßen stehen konnte und seiner Hilfe und Aufsicht +nicht mehr bedurfte. + +Gerd empfand diesen Zustand aber doch bald als drückend und fing an zu +erwägen, ob er nicht seinerseits Schritte zum Frieden tun sollte. Aber +er schob das immer wieder hinaus, in der Hoffnung, daß sie eines Tages +ihr Unrecht einsehen und ihm wenigstens einen kleinen Schritt entgegen +tun würde. + +So liefen einige Wochen ins Land. + +Die Gräben, die eine längere Frostzeit von Mitte Dezember an +verschlossen gehalten hatte, wurden Ende Januar von Tauwind und +Landregen schnellstens aufgeschlossen, und man rüstete eiligst die +Schiffe, um nicht das in dem kalten Winter flott gehende Torfgeschäft +ganz den Pferdebauern zu überlassen, die mit den braunen Kumpwagen bei +jeder Witterung zur Stadt fahren konnten. + +Als Gerd an einem Spätnachmittag von der ersten Bremerfahrt des neuen +Jahres nach Hause kam, bemerkte er sofort, daß Leidchens böse Laune +umgeschlagen war. Sie bot ihm die Tageszeit, trug ein reichliches +und gutes Vesperbrot auf und setzte sich mit an den Tisch, um ihm +Gesellschaft zu leisten. Er hatte aber das Gefühl, daß hinter dieser +Freundlichkeit etwas weniger Erfreuliches lauerte und nahm sich vor, +möglichst einsilbig zu sein, in der Erwartung, daß es dann am ehesten +ans Licht kommen würde. So aß er denn und schwieg. + +Nach einer Weile sagte sie: »Du bist ja so still heute, Gerd.« + +Er zuckte die Achseln. + +»Weißt du das Neueste?« + +Er verriet nicht das geringste Interesse, es zu erfahren. + +»Georg Marwede, der in der Bremer Neustadt das große Milchgeschäft +hat, ist heute hier gewesen und hat auf unsere Rotbunte gehandelt.« + +»Hm.« + +»Aber Jan ist nicht eins mit ihm geworden.« + +»Hm.« + +»Aber ich bin mit ihm eins geworden.« + +»Diese Sülze schmeckt gut.« + +Sie sah verwundert zu ihm hinüber, der mit vollen Backen kaute. + +»Du sollst dich wundern! ... Ich hab' mich ihm nämlich auf den Herbst +als Fräulein für die Küche und die Kinder vermietet.« + +»So ...« + +»Nicht wahr, darüber freust du dich doch auch?« + +»Mir ist das alles eins. Meinetwegen hättest du dich auch nach Hamburg +oder Berlin vermieten können.« + +Leidchen hatte das Gefühl einer großen Enttäuschung. Als am Vormittag +der Bremer Milchmann, zuerst im Scherz, ihr die Stelle in seinem +Hause angeboten hatte, war ihr erster Gedanke gewesen, das wäre eine +gute Gelegenheit, Gerd einmal recht tüchtig zu ärgern. Den ganzen Tag +hatte sie sich dann auf den Augenblick gefreut, wo sie ihn mit der +unangenehmen Neuigkeit überraschen könnte. Und nun nahm der Mensch das +so auf! + +Sie glaubte noch immer, er heuchle nur Gleichgültigkeit und müsse +gleich auf die Angelegenheit zurückkommen. Aber er nahm sich noch ein +Stück Sülze, aß und schwieg. + +Da erschrak sie vor der plötzlichen Erkenntnis, wie weit sie und ihr +Bruder auseinander gekommen waren. Das hatte sie ja gar nicht gewollt. +Sie hatte ihn für die Störung ihrer Geburtstagsfeier bestrafen und +sich bei dieser Gelegenheit größere Freiheit erringen wollen, aber +nie daran gedacht, ihn ernstlich von sich zu stoßen. Denn wenn er ihr +auch manchmal unbequem war, eigentlich war sie dem so treu um sie +besorgten Bruder doch stets in schwesterlicher Liebe zugetan gewesen. +Im Grunde war es ihr auch recht, daß er anders war als die übrigen, +daß er anderen Umgang und andere Erholung suchte als Jakob Kück und +Krischan Wedderkopp. + +Gerd war mit seinem Vesperbrot fertig und stemmte die Hände auf den +Tisch, um sich zu erheben, als Leidchen auf einmal fragte: »Bist du +noch immer böse auf mich?« + +»Du gehst deinen Weg, ich geh' meinen,« sagte er trocken. »Schiedlich, +friedlich, dabei stehen wir uns beide am besten.« + +»Nein, Gerd, nein! Das halt' ich nicht länger aus. Bitte, sei wieder +gut mit mir!« + +Sie streckte ihm bittend die Hand über den Tisch entgegen. Einen +Augenblick zögerte er, dann nahm er sie, indem er befreit aufatmete, +sie mit frohen Augen ansah und freudig bewegt rief: »Leidchen, glaub' +mir, mir ist es auch lieber so.« + +»Was meinst du zu der Stelle, die ich angenommen habe?« fragte sie, +vor Ungeduld brennend, die Rede auf das zu bringen, was sie den Tag +über beschäftigt hatte. + +»Hm. Wieviel Lohn gibt's?« + +»Lohn nicht, aber etwas Gehalt.« + +»Der Name tut nichts zur Sache. Wieviel?« + +»Für den Anfang fünfundzwanzig Taler.« + +»Deern, du bist wohl nicht recht bei Trost! Hier bist du bald nach +fünfzig hin, und gehst in die Stadt für fünfundzwanzig?« + +»Dafür bin ich aber auch Fräulein.« + +Er zuckte verächtlich mit den Achseln. + +»Ich esse mit der Herrschaft am Tisch ...« + +»Das heißt, du kannst ihre Krabben füttern und ihnen die Schnäbel +abwischen.« + +»Und für die groben Arbeiten wird ein Dienstmädchen gehalten.« + +»Ach so, du bist auf einmal zu fein, den Besen in die Hand zu nehmen.« + +»Kuck', nun fängst du schon wieder an!« + +»Was sagen denn Jan und Trina dazu?« + +»Die wollen mich zum Herbst ganz gern ziehen lassen. Sie können es ja +genug mit einem kleinen Mädchen für weniger Lohn tun.« + +»Ach, Leidchen, hättest du mich doch vorher gefragt! Wir kennen die +Leute ja gar nicht. Ich hätte mich mal in der Stadt nach ihnen umhören +können ... Läßt sich die Sache nicht noch rückgängig machen?« + +»Nein, ich habe den Mietstaler schon angenommen.« + +Gerd sah bekümmert und ratlos vor sich hin. Aber plötzlich schlug er +mit der Faust auf den Tisch und rief erfreut: »Daß ich daran nicht +gleich gedacht habe! Deern, du bist noch nicht volljährig. Wenn dein +Vormund nein sagt, gilt der Taler nicht. Sonntag nachmittag geh' ich +hin und bringe die Sache in Ordnung.« + +»Du kannst mich mitnehmen,« sagte Leidchen, »und dann überlegen wir +drei uns das mal ganz vernünftig. Du magst recht haben, ich hab' +die Sache etwas übers Knie gebrochen ... Ich will mich auch noch mal +besinnen ...« + + * * * * * + +Kord Rosenbrock war der älteste Sohn des Rosenbrockschen Hauses +gewesen, hatte aber das väterliche Erbe seinem Bruder Jan +überlassen und mit einer kinderlosen Witwe eine achtzig Morgen +große hypothekenfreie Stelle in Tunkendorf auf der Südseite des +Kirchspiels erheiratet. Da die Ehe kinderlos geblieben war, hatte +er sich bald gesagt, es würde eine Dummheit sein, sich für seiner +Frau Schwesterkinder abzurackern. So schonte er denn das Torfmoor +für kommende Geschlechter und ließ das Schiff im Graben verfaulen. +Ein Paar glatter Dänen nebst Kutschwagen, sowie die Pachtung der +Dorfjagd kostete allerhand Geld, aber das von seinen Vorwesern tüchtig +heraufgearbeitete Besitztum konnte schon einige Hypotheken tragen. Ein +stattlicher Vollbart und ein rundliches Bäuchlein unterschieden den +Mann außerdem noch von den meist glatt rasierten und hager sehnigen +Männern des Landes. Sein Stolz aber war die ausgedehnte Rechtskunde, +die er sich aus Gesetzsammlungen und volkstümlichen Kommentaren +zusammengelesen hatte. Um sie auch praktisch zu verwerten, hatte er +meistens ein Prozeßchen in Gang, wozu die etwas verwickelten Stau- und +Rieselrechtsverhältnisse von Tunkendorf bequeme Gelegenheit boten. + +Gerd und Leidchen, die am Sonntag vormittag in Grünmoor die Kirche +besucht hatten, kamen gerade zur rechten Zeit an. Sie fanden Onkel +und Tante bei der angenehmen Beschäftigung, einen sauber gespickten +und hübsch braun gebratenen Moorhasen zu verzehren, und wurden +eingeladen, mitzuhalten. + +Nach der Mahlzeit, während Tante Beta den Tisch abräumte, lehnte Onkel +Cord sich im Sofa zurück, faltete die Hände über dem Magen und fragte: +»Na, Kinder, was führt euch denn her?« + +»Wir kommen in Vormundschaftssachen,« sagte Gerd. »Es handelt sich um +Leidchen.« + +Der Vormund betrachtete sein schmuckes Mündel mit Wohlgefallen: »Was +ist denn mit dir, Kind? Du willst doch nicht schon heiraten? Ich +könnte mir denken, daß sich bald einer fände, der dazu Lust hätte.« + +Leidchen schüttelte lächelnd den Kopf. Gerd aber runzelte die Stirn +und sagte: »Es handelt sich um eine ernste Sache. Das Mädchen hat +sich leichtsinnig nach Bremen vermietet und mich vorher nicht einmal +gefragt.« + +»Dazu ist sie nach den Gesetzen auch nicht verpflichtet,« erklärte der +Onkel. + +»Aber Euch als Vormund hat sie auch nicht gefragt,« rief Gerd, +ärgerlich über dessen Weise, die Angelegenheit zu behandeln. + +»Ich denke, dazu ist sie jetzt eben gekommen,« versetzte Cord +Rosenbrock, dem hitzige Menschen unangenehm waren, die Daumen +umeinander drehend. »Na, Deern, warum möchtest du denn gern nach der +Stadt?« + +Leidchen war um Gründe nicht verlegen. Sie wollte sich gern mal +verändern, bei der Schwägerin könne sie doch nichts mehr lernen. Sie +möchte auch versuchen, wie ihr die feine Arbeit gefiele. Denn ob sie +Lust hätte, das ganze Leben Torf zu backen, das stünde noch dahin. + +Der Vormund nickte und meinte, das ließe sich hören. Die Rosenbrocks, +die von dem großen Geesthof Trommsloh stammten, hätten von jeher in +die Höhe gestrebt, weshalb er selbst zum Beispiel es auch zu einem +Hof gebracht habe, der doppelt so viel wert sei, als seine väterliche +Stelle in Brunsode. »Es freut mich,« schloß er, »daß dieser Trieb auch +in dir ist. Und was hast du dagegen, Gerd?« + +»Erstens mal,« begann dieser mit verhaltenem Zorn, »ist es eine +Schande, wenn ein so großes, starkes Mädchen nicht mehr verdient als +fünfundzwanzig Taler. Fürs Vorwärtskommen bin ich ganz gewiß auch. +Aber dazu gehört nicht, daß unsereins den feinen Herrn spielt und so' +ne dumme Deern sich Fräulein nennt. Was die richtigen Fräuleins sind, +die machen sich ja doch bloß über so eine lustig. Was Leidchen fürs +Leben braucht, das kann sie hier auf dem Lande genug lernen, wenn sie +nur die Augen aufmacht. Wenn sie nach Bremen ginge, könnte ich keine +ruhige Stunde mehr haben. Denn sie ist wohl von Herzen gut, aber ein +bißchen leicht. Ihr lacht, Onkel? Da ist wirklich nichts zu lachen! +Ihr habt Euch die Vormundschaft ziemlich leicht gemacht, und wir beide +haben uns selbst geholfen. Aber in dieser Sache müßt Ihr mal zum +Rechten sehen, und ich bitte Euch, sprecht ein strammes Nein!« + +Cord Rosenbrock hatte sich aus der behaglichen Lässigkeit eines +Mannes, dem es gut geschmeckt hat, aufgerafft und sah den mit großem +Ernst und Nachdruck sprechenden Brudersohn aus weiten, runden Augen +an. Als der fertig war, holte er Atem, um ihm geziemend zu antworten. +Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er gleich sein Mittagsschläfchen +halten wollte, und daß Erregung des Gemüts diesem nicht zuträglich +zu sein pflegte. So wandte er sich lieber an Leidchen und sagte: »Du +arme Deern, was hast du wohl unter solch einem Obervormund zu leiden +gehabt! Ich verlange jetzt, daß du die Stelle in Bremen annimmst, und +spreche dich ein für allemal von Gerds angemaßter Vormundschaft frei.« + +Gerd saß starr und steif und blickte unter gesträubten Augenbrauen +weg den Onkel feindselig an. »Angemaßt,« sagte er mit dumpfer Stimme, +»habe ich mir gar nichts. Was ich für Leidchen getan habe, das hab' +ich ihrer Mutter auf dem Sterbebett geloben müssen.« + +Onkel Cord hob die Beine auf das Sofa und sagte, er müßte nun +schlafen. Wenn sie wollten, könnten sie sich noch etwas in Haus und +Hof umsehen. Gerd aber drängte zum Aufbruch, und Leidchen erhob keinen +Widerspruch. + +Sie gingen auf dem Rückweg stumm nebeneinander her, indem er an seinem +Ärger würgte und sie im stillen ihren Triumph auskostete. + +Am nächsten Tag traf Gerd zufällig Herrn Timmermann, der nach der +Schule mit seinem Hündchen auf dem Damm spazierte, um die Abendröte zu +genießen, und sie gingen eine Strecke miteinander. + +Nachdem sie eine Weile über dies und das gesprochen hatten, faßte er +sich Mut und schüttete sein Herz aus. + +Er hoffte natürlich, der Lehrer würde seine Partei ergreifen. Aber +darin irrte er sich sehr. Der Mann schalt ihn einen Schwarzseher, +sprach seine Freude über Leidchens Entschluß aus und meinte, ein +bißchen Umlernen würde ihr sehr gut tun. Er hätte eigentlich schon +immer dazu raten wollen. + +»Aber sie hätte mich doch wenigstens fragen können,« versetzte Gerd +enttäuscht. + +»Vielleicht wäre dann nichts daraus geworden,« sagte der andere +lächelnd. + +»Ich finde das undankbar von ihr, eine so wichtige Sache hinter meinem +Rücken abzumachen.« + +»So recht dankbar,« meinte der Lehrer nachdenklich, »möcht' ich +beinah' glauben, ist die liebe Jugend nie. Wenn ich meinen früheren +Schülern, an denen ich jahrelang mein Bestes getan habe, mal wieder +begegne, sehen sie mich meist fremd und mißtrauisch, ja nicht selten +feindselig an. Soll ich deshalb mein Angesicht verhüllen und über die +Undankbarkeit der Welt jammern? Ich meine, ein anständiger Mensch soll +überhaupt nicht nach Lohn und Dank schielen, sondern seine Pflicht tun +... Aufrichtig gesagt, Gerd, im Grunde freue ich mich, daß Leidchen +Ihnen aus der Schule laufen will. Denn -- nehmen Sie mir das nicht +übel -- Sie haben reichlich viel vom Schulmeister Ihrer Schwester +gegenüber.« + +»Was?« + +»Wenn ein Schulmeister Ihnen das sogar sagt, können Sie's ruhig +glauben. Und gerade für Leidchen, glaub' ich, ist das nicht gut. Es +gibt Kinder, die dumme Streiche nicht aus Schlechtigkeit machen, +sondern um ihren Lehrer mal tüchtig zu ärgern. Und das sind meist +nicht die schlechtesten!« + +»Also Sie meinen, ich soll sie ruhig ziehen lassen?« + +»Ja, was denn sonst?« + +»Aber es hat doch gar keinen Zweck für eine, die ihr Leben durch Torf +backen soll.« + +»Können Sie wissen, wie das Leben Ihrer Schwester sich einmal +gestalten wird?« + +Als die beiden sich getrennt hatten und Gerd eine Strecke in Gedanken +dahingeschritten war, blieb er auf einmal stehen und legte den +Zeigefinger lang an die Nase. + +Hm hm. Der Mann hatte ihn vorhin so wunderlich angesehen, und hatte +schon länger raten wollen, Leidchen mal in die Stadt zu geben? Sollte +er vielleicht seine Gründe dazu haben? + +Zum Kuckuck! Das wäre eine feine Sache, wenn Leidchen mal im +Schulhause unterkommen könnte, bei einem Mann, wie er ihn sich besser +ja gar nicht zum Schwager wünschen konnte. Und warum sollte das nicht +möglich sein? Eine Deern, wie Leidchen? Da hatten doch schon ganz +andere ihr Glück mit einem Lehrer gemacht ... + +Ja! Dann lag die Sache freilich anders! Dann war's ja ein Glück, daß +Leidchen im Herbst erst mal nach Bremen ging. Denn direkt aus der +Torfkuhle holte so'n Lehrer sich die Frau am Ende doch nicht gern ... + +Als Gerd nach Hause kam, zeigte er seiner Schwester ein sehr +vergnügtes Gesicht. Bei nächster Gelegenheit kaufte er ihr von einem +Hausierer ein hübsches Schultertuch, und ohne sich aufzudrängen, +pflegte er doch die Freundschaft mit dem Schulhause nach Möglichkeit. + + * * * * * + +Da Gerd seine Erzieherneigungen fortan möglichst im Zaum hielt und +Leidchen ihm auch wenig Anlaß gab, sie zu betätigen, lebten und +arbeiteten die Geschwister den Frühling und Sommer über in hübscher +Eintracht. + +Als der September ins Land kam, meinte sie einmal, es wäre schade, +daß er nicht immer so nett mit ihr gewesen wie die letzte Zeit; sie +hätte sonst ebensogut in Brunsode bleiben können. Aber er schüttelte +bedeutungsvoll den Kopf und sagte: »Leidchen, ich glaube doch, es ist +besser, daß du dich erst mal in anderen Verhältnissen umkuckst. Man +kann ja auch gar nicht wissen, was der liebe Gott noch alles mit dir +im Sinn hat.« Sie sah ihn fragend an. Aber er zuckte die Achseln und +sagte noch einmal: »Man kann nie wissen.« + +Anfangs Oktober traf er den kürzlich zur Reserve entlassenen Jan +Monsees, der allerlei zu erzählen wußte, unter anderm auch, Müllers +Hermann wäre Bursche bei einem nach Spandau kommandierten Hauptmann +geworden. Da er gerade eine Zigarre in der Tasche hatte, schenkte er +sie dem Überbringer dieser ihm sehr angenehmen Nachricht. + + * * * * * + +Es war eine windstille Herbstnacht, als Gerd wieder einmal die +Hamme hinunterfuhr. Sein Schiff war diesmal aber nicht mit Torf +beladen, sondern trug zwanzig Viertel Kartoffeln, einige Weidenkörbe +mit Winteräpfeln und in einer Kommode aus Tannenholz die Habe der +Schwester, die vor kurzem vorn in der Koje sich schlafen gelegt hatte. + +Gerd dämmerte in solchen Nächten meist gedankenlos zwischen Schlafen +und Wachen vor sich hin. Es konnte aber auch geschehen, daß er auf +einmal wunderlich wach wurde, wacher, als je am hellichten Tage. +Meist war es irgendeine Geringfügigkeit, die ihn plötzlich in diesen +merkwürdigen Zustand versetzte, eine Sternschnuppe, das Tinkeln +eines Sterns, der Schrei eines Vogels oder dergleichen. Eine solche +Stunde erlebte er auch in dieser Nacht. Er sah den Blechbeschlag von +Leidchens Kommode und den Porzellangriff ihres an dieselbe gelehnten +Regenschirms durch die Dunkelheit schimmern -- und auf einmal begann +sein Geist Pfade der Erinnerung zu wandeln, und die Vergangenheit, um +die er sonst, vom Tag und der Stunde genügend in Atem gehalten, sich +nicht eben viel kümmerte, wurde ihm plötzlich wunderlich lebendig und +gegenwärtig. + +Tief aus einem rosafarbenen Steckkissen blinzelt ein rotes +Gesichtchen. Das kleine Ding ist eben auf die Welt gekommen und hat +dem Bruder eine große Tute voll Süßigkeiten mitgebracht. + +Er trägt die Zweijährige auf dem Arm, gleitet über einer +Kartoffelschale aus, schützt im Fall seine Pflegebefohlene, daß ihr +nichts geschieht, und schlägt sich selbst an dem scharfen Rand des +Blecheimers eine klaffende Wunde in den Kopf. Er fühlt mit der Hand +nach der linken Schläfe, wo die Narbe heute noch sitzt, und freut sich +ihrer. + +Sie stehen beide vor dem Bett der todkranken Mutter, die Hände in +ihrer abgezehrten, fieberheißen ... »Gerd, sie hat sonst keinen als +dich.« + +Sie kniet als Konfirmandin vor dem Altar der heimatlichen Kirche, +und er schaut von der Empore in tiefer Bewegung auf sie herab. +Frühlingsglanz flutet durch die Chorfenster herein und liegt warm auf +dem lieben, feinen Gesichte. + +Die Tage gemeinsamer Arbeit im Moor und auf den Wiesen werden +lebendig, und die traulichen Winterabende, wo sie wegen fremder +Schicksale, die ihnen aus Büchern auf einmal so nah und gegenwärtig +wurden, miteinander bangten und hofften, sich betrübten und freuten. + +Sie steht auf Behnkens Diele unter dem Christbaum und singt, daß die +Menschen mit verwunderten Gesichtern atemlos lauschen. Und der Tanz um +den Christbaum im Schulhause, der Kuß von ihren roten Lippen -- er ist +der einzige geblieben in all den Jahren seit der frühesten Kinderzeit +-- und der stillfrohe Heimweg Arm in Arm durch die Weihnachtsnacht. -- +-- -- + +Merkwürdig, all diese Stunden, in denen ihr Bild mit schimmerte, +waren für ihn zugleich Stunden des Aufatmens vom Druck des Werktags +gewesen; Stunden, wo er das Leben als etwas Großes, Geheimnisvolles, +Heiliges empfunden hatte. Er versuchte, die Schwester aus seinem Leben +wegzudenken. Was da übrigblieb, das wollte ihm kaum wert erscheinen, +gelebt zu werden. Sie hatte ihn durch ihr Wesen, das so ganz anders +war als das seine, ja oft genug geärgert. Aber gerade dies ihr +Wesen, ihre Ursprünglichkeit, ihre unmittelbare Lebendigkeit und +Lebensglut, hatte ihn doch auch immer wieder geweckt und befeuert. +Wenn er sich sagen durfte, daß sein Leben im ganzen doch wohl in +aufsteigender Linie sich bewegte, daß es je länger desto mehr sich +innerlich bereichert hatte, so hatte er das doch wohl in erster Linie +der Schwester zu verdanken ... oder -- ein Stern funkelte über den +Flußlauf und zog seine Gedanken aufwärts -- vielmehr dem, der Mensch +zum Menschen gesellt und mit unsichtbaren Händen die zarten Fäden +zwischen ihnen knüpft ... + +So zog es leise, nicht in klarer Gedankenfolge, aber als lebendiges +Gefühl durch seine zu nachtschlafender Zeit seltsam wache und sich auf +ihre Tiefen besinnende Seele. Und daß alles dies, was bislang seines +Lebens wertvollsten Inhalt ausgemacht hatte, nun ein Ende finden +sollte, erfüllte ihn mit schmerzlicher Wehmut, indes das Schiff leise +plätschernd durch die dunkle Nacht seine mattglänzende Bahn zog. + +Im Torfhafen angelangt, gab er einem Gelegenheitsarbeiter den Auftrag, +sich einen Handwagen zu leihen und die Kommode in die Stadt zu fahren. +Er selbst ging mit seiner Schwester auf dem Bürgersteig nebenher. Es +war gegen halb neun, als sie ihr Ziel erreichten. + +Das Haus des Milchhändlers Marwede befand sich in einer +Geschäftsstraße der »Neustadt«, wie der am linken Weserufer gelegene +Stadtteil heißt, und machte schon von außen einen sauberen Eindruck. +Drinnen aber blitzte alles von Sauberkeit, und die Frau mittleren +Alters, die in dem Laden gleich links vom Eingang hantierte, war +in dem frischgewaschenen rosafarbenen Hauskleid, der blütenweißen +Schürze, und vor allem mit ihrer abgerundeten, strahlenden +Körperlichkeit eine lebendige Reklame für fette Vollmilch und prima +Molkereibutter, wie ein Milchgeschäft in der saubersten aller +deutschen Städte sie sich nicht besser wünschen kann. Sie gab den +Ankömmlingen ihre Hand, eine dicke, weiche, warme Patschhand, sah +Leidchen prüfend ins Gesicht, nickte befriedigt und bat, näher zu +treten. + +Als sie die beiden im Zimmer allein ließ, um einen Imbiß zu besorgen, +blickte Leidchen ihren Bruder froh an und sagte: »Die mag ich leiden; +mit der will ich wohl fertig werden.« »Ja,« sagte Gerd, »sie hat ein +gutes Gesicht. Wenn sie bloß nicht zu grausam auf die Reinlichkeit ist +...« »Das schadet nicht,« meinte Leidchen, »Trina ihre Schlurigkeit +habe ich gründlich satt. Ich fühl' mich hier schon bannig wohl.« + +Frau Marwede deckte den Tisch, und sie mußten die Butter dick +streichen und den Flottkäse noch dicker drauflegen. »Wir haben das ja +alles im Hause,« sagte die wohlwollend lächelnde Wirtin, die, beide +Hände in die Seiten gestemmt, vor ihnen stand. Nach dem Frühstück +besahen sie Leidchens Kammer und darauf den Kuhstall, den Stolz des +Hauses. »Er entspricht allen Anforderungen der neuzeitlichen Hygiene,« +erklärte die Frau mit Stolz, und Gerd freute sich der fünfzehn sauber +aufgestallten glatten Tiere. »So viel so schöne Beester hab' ich +noch nicht in einem Stall zusammen gesehen,« sagte er in ehrlicher +Bewunderung. Den Hausherrn fand er nicht vor. Er war noch mit dem +Wagen unterwegs, die Stadtkundschaft zu bedienen. + +»Na, Frau Marwede,« sagte Gerd plötzlich und unvermittelt, »denn +lernen Sie meine Schwester man gut an, und du, Leidchen, sei folgsam +und ordentlich,« gab beiden die Hand und schritt zum Hause hinaus. Bis +zur nächsten Straßenecke ging er mit einer gewissen Hast, dann setzte +er in seinem gewöhnlichen, vom federnden Moorboden her etwas wiegenden +Schritt seinen Weg fort. + +Auf der großen Weserbrücke blieb er eine halbe Minute stehen, sah auf +den breiten, glänzenden Strom hinab und dachte an das Dahinfließen des +menschlichen Lebens. + +Als er durch die innere Stadt ging, zog ein Bild im Schaufenster eines +Buchladens seine Aufmerksamkeit an sich. Wogende Kornfelder prangten +im Goldgelb der Reife, und er freute sich des vertrauten Anblicks im +Gewühl der engen Straße. + +Nach dem Bilde faßte er auch die Titel der Bücherauslagen ins Auge, +und bald haftete sein Blick auf einem broschierten Bande, der den +Aufdruck trug: »Lehrbuch der Moorkultur.« + +Es lagen gerade allerhand Verbesserungen der Moorbewirtschaftung in +der Luft, wenn der Knecht eines am alten Schlendrian festhaltenden +Torfbauern, wie Jan Rosenbrock einer war, auch noch nicht viel davon +merkte. Aber er hatte doch schon von moderner Hochmoorkultur und von +dem Wert der künstlichen Dungmittel gerade für das Moor munkeln hören. +Und plötzlich wandelte ihn die Lust an, sich aus dem Buche über alle +diese Dinge zu unterrichten. Aber das war gewiß sehr teuer, kostete +am Ende gar zwei Mark. Nein, das konnte er nicht anwenden. Schweren +Herzens riß er sich von dem Schaufenster los. + +Aber er war noch keine zwanzig Schritt gegangen, da kehrte er um, trat +entschlossen in den Laden und fragte nach dem Preise des Buches, das +es ihm angetan hatte. + +»Broschiert vier, gebunden fünf Mark,« gab der Buchhändler zur Antwort. + +Gerd wäre beinah vor Schreck erstarrt, blätterte aber doch in dem ihm +vorgelegten broschierten Exemplar, dessen Kapitelüberschriften ihm das +Buch nur noch begehrenswerter machten. + +»Drei Mark will ich anwenden,« sagte er endlich mit starker +Selbstüberwindung und zog seinen Geldbeutel. + +Der Ladeninhaber lächelte: »Sie meinen wohl, das geht hier zu wie bei +Ihrem Torf- und Schweinehandel? Ich verkaufe nur zu festen Preisen.« + +Gerd steckte den Geldbeutel wieder ein und griff nach seiner Mütze, um +zu gehen. Aber plötzlich fuhr er noch einmal in die Tasche, ließ einen +Taler hart auf den Tisch klappen, legte zögernd eine Mark daneben, +klemmte das Buch unter den linken Arm und schob eiligst ab. + +Als sein Schiff vor günstigem Winde die Hamme hinauf segelte, lag +er, die Pfeife im Mund, am Steuer, hatte seinen so teuer erworbenen +Schatz auf den Knien und las und las. Er bereute seinen Kauf nicht. +Was in dem Buch alles drinstand: von der Entstehung der Moore, von +Geschichte, gegenwärtigem Stand und Zukunft der Moorkultur und so +weiter, das war am Ende doch seine vier Mark wert. + +Wenn er nur etwas Eigenes hätte, um die Lehren des Buches praktisch +zu erproben! Noch niemals war die Sehnsucht nach eigenem Besitz so +lebendig in ihm gewesen. Jetzt, wo Leidchen fort war, noch lange dem +Halbbruder als Knecht zu dienen, spürte er wenig Lust. + +Er fing an zu rechnen. Von der Mutter her besaß er einige hundert +Taler, und mit seinem Lohn war er stets sparsam umgegangen. Aber es +langte doch nicht, eine wenn auch bescheidene Anbauerstelle zu kaufen. +Und nach einer Braut hatte er sich ja auch noch nicht umgesehen. Ja, +vielleicht mußte er sogar noch Soldat spielen. Im nächsten Sommer +hatte er sich zum letztenmal zu stellen. + +Aber das nahm er sich fest vor: eine eigene Stelle wollte er +einmal haben, und deshalb fortan noch sparsamer sein als bisher. +Die ausgegebenen vier Mark taten ihm jetzt wieder weh, er tröstete +sich aber mit der Hoffnung, sie später nach Anleitung seines Buches +hundertfältig herauszuwirtschaften. + + + + + 9. + + +Leidchen stand in ihrer Dachkammer und sah sich zwischen ihren vier +Wänden um. Diese waren freundlich gestrichen und von der Vorgängerin +mit bunten Bildchen geschmückt, aber eins fehlte ihnen. Sie hatten +nämlich kein Fenster. Ein solches saß vielmehr einen Arm hoch über +ihrem Kopf schräg in dem verschalten Dach, wo ein Eisenkreuz ein +viereckiges Stück grauen Novemberhimmels vierteilte. Als sie auf ihren +Stuhl stieg, den einzigen des Kämmerchens, erblickte sie die kahle +Spitze eines Baumes, und indem sie sich auf den Zehen emporreckte, +noch dazu eine Flucht von Dachfirsten und Schornsteinen. Die Aussicht +wäre auf dem Lande eigentlich ebensogut, dachte sie. + +Wo sie wohl das Myrtenbäumchen hinstellte, das ihre Patentante Beta +Rotermund ihr vor Jahren geschenkt hatte? Auf der Kommode war es zu +dunkel, auf dem Waschtisch auch. Es erschien ihr am besten, durch eine +künstliche Hängevorrichtung es dicht unter dem Fenster anzubringen, +wo es Licht und Sonnenwärme genug haben würde. Der in der Wand +hochgehende Schornstein schützte es im Winter wohl vorm Erfrieren. +Einstweilen aber machte sie sich ans Auspacken ihrer Kommode. + +Während sie dabei war, kam Frau Marwede die knarrende Treppe herauf +und brachte ihr ein Kind von zwei bis drei Jahren. »Dies ist unsere +Olga,« sagte sie, »die kann dir ein bißchen zukucken.« + +Das kleine Mädchen sah der neuen Hausgenossin mit Interesse zu, und +als diese sich einmal auf den Stuhl setzte, kletterte es ihr auf den +Schoß und küßte sie auf Mund und Wangen, unter der Versicherung: »Ogga +mag Tante leiden.« Die Kinder in der Stadt, dachte Leidchen, sind +nicht so blöde und fremd wie unsere zu Hause, und erwiderte die ihr +dargebrachten Zärtlichkeiten. + +Am Mittagstisch sah Leidchen zuerst die Familie Marwede vollzählig +beieinander. Es waren noch drei Kinder da, Jungens im Alter von sieben +bis vierzehn Jahren, alle wohlgenährt und mit einem gesunden Appetit +begabt. Die Stimmung des Hausherrn schien anfangs nicht die beste, +da eine vor zwei Tagen eingestellte Milchkuh nicht ganz das hergab, +was man von ihr erwartete, und für zwei Stadtkunden, die zum heutigen +Ersten des Monats gekündigt hatten, nur ein neuer eingetreten war. +Doch heiterte die Feststellung, daß das Ladengeschäft des Vormittags +nichts zu wünschen übriggelassen habe, ihn zusehends auf, und er +erkundigte sich bei der neuen Hausgenossin teilnehmend, wie viel +milchende Kühe ihr Bruder Jan augenblicklich im Stall hätte und ob das +Kälbermästen gut ginge. Über die Sphäre von Milch, Butter und Käse +verirrte das Tischgespräch sich keine Minute lang hinaus. Leidchen +dachte, etwas gebildeter hätte sie sich Stadtleute doch vorgestellt. + +Nach dem Mittagessen weihte Frau Rosalie Marwede ihr Fräulein +in die Grundsätze des Hauses ein. Deren erster und alle anderen +beherrschender lautete: »Reinlichkeit ist die Seele vons +Milchgeschäft,« und er galt nicht nur in Stall, Keller und Laden, +sondern ebensosehr in Küche und Kinderstube und den übrigen +Wohnräumen, wo Leidchen ihr Reich hatte. Wenn Trinas Unordentlichkeit +ihr öfters leise Seufzer abgelockt hatte, so wurden ihr solche +in der Folgezeit nicht selten von Frau Marwedes Ordnungs- und +Sauberkeitsfanatismus abgepreßt. Aber im ganzen fand sie sich ganz gut +in diesen hinein, da ihr Wesen im Grunde doch auch auf die von ihrer +Herrin übertriebenen häuslichen Tugenden gestellt war. + +Den ersten freien Sonntagnachmittag benutzte sie, um Meta Stelljes, +eine Cousine ihrer Schwägerin Trina, zu besuchen, die ein Jahr +vor ihr konfirmiert war und am Osterdeich bei einem Großkaufmann +in Zigarren diente. Sie mußte allen Mut zusammennehmen, indem +sie durch einen peinlich gepflegten Garten mit Teppichbeeten und +fremdartigem Buschwerk auf die schloßartige, mit unzähligen Erkern +und Türmchen verzierte Villa zuschritt, und als sie die breite Treppe +hinanstieg, klopfte ihr das Herz nicht schlecht. Als aber ein feiner, +glattrasierter Herr in langem blauen Rock mit silbernen Knöpfen auf +ihre bescheidene Frage nach Meta Stelljes sie strafend ansah und +stirnrunzelnd ihr bedeutete, die Freitreppe wäre nur für Herrschaften, +da wäre sie am liebsten in den Boden gesunken. Aber der feine Herr +war dann doch ganz nett und brachte sie zu Meta Stelljes. Es traf +sich gut, daß diese auch gerade Ausgehsonntag hatte und ihr fertig +angezogen entgegentrat. + +So spazierten die beiden Kinder des Moors denn bald auf dem +Osterdeich dahin, plauderten von daheim, und kamen dann auch auf +ihre gegenwärtigen Dienstverhältnisse. Meta fühlte eigentlich das +Bedürfnis, mal ordentlich zu klagen und zu stöhnen. Als sie aber +hörte, daß Leidchen eine Stellung als Stütze und Fräulein hatte, lobte +sie den Reichtum ihrer Herrschaft, die Eleganz der Wohnung, die Güte +des Essens bis ins Aschgraue und erhöhte ihren Lohn eigenmächtig um +zwanzig, den Jahresdurchschnitt der Trinkgelder um hundert Prozent. + +»Mit so was kann ich nicht prahlen,« sagte Leidchen kleinlaut, als +Meta mit ihrer Aufschneiderei fertig war, »aber Marwedes sind sehr +ordentliche, saubere Leute, und denn ist da auch 'ne kleine Deern, die +heißt Olga ...« + +»Was? Auch noch Kinder?« + +»Warum denn nicht?« + +»In ein Haus, wo kleine Kinder sind, würde ich überhaupt nicht gehn.« + +»Warum nicht, Mädchen?« + +»Da sieht man, wie grün du noch bist,« sagte Meta mitleidig lächelnd. +»In ein Haus mit Kindern geht heutzutage nur Personal zweiter Klasse. +Übrigens Leidchen, kuck mal her, du mußt dein Kleid ein bißchen +aufraffen, so wie ich.« + +»Warum?« + +»Immer mit deinem Warum, du dumme Deern! Soll uns denn jeder anmerken, +daß wir aus dem Torf sind?« + +»Ach so,« sagte Leidchen und beeilte sich, ihrer Begleiterin den +rechten Kleiderraffgriff abzusehen. + +Als sie an einigen Soldaten vorüber waren, begann sie: »Aus unserm +Dorf hat das letzte Jahr auch einer hier gedient, aber Anfang Oktober +haben seine Obersten ihn nach Spandau geschickt.« + +»Weiß schon Bescheid,« unterbrach Meta, »eurem Müller sein Jung, hab' +mal mit ihm getanzt. Ein schneidiger Kerl! Und hat auch wohl Geld?« + +»Geld? Wie Heu! Als seine Mutter Hochzeit machte, haben sie ihr +die blanken Taler scheffelweise zugemessen. Sein Vater muß beinahe +ebensoviel Steuern bezahlen, wie das ganze obere Dorf zusammen.« + +So unterhielten sich die Mädchen, musterten die Toiletten ihrer +Geschlechtsgenossinnen, schielten hin und wieder verstohlen nach +einem schmucken Mannsbild und waren lustig und guter Dinge. Leidchen, +die nun schon fünf Tage in der Häuserenge der Neustadt und auf ihrem +Kämmerchen mit Oberlicht gesessen hatte, ließ froh den Blick über den +blau glitzernden Strom und die grünen Weiden in die Ferne wandern und +war glücklich, daß sie einmal von Milch, Butter und Käse nichts zu +sehen, zu riechen und zu hören brauchte. + +Als sie Abschied voneinander nahmen, sagte Meta: »Was meine beste +Freundin war, die hat sich letzte Woche verlobt. Wenn du Lust hast, +kannst du in ihren Platz eintreten.« + +»O ja!« rief Leidchen hocherfreut, ergriff ihre Hand, und die +Freundschaft war geschlossen. + +Leidchen war überglücklich. Indem sie durch die von Menschen +wimmelnden, hell erleuchteten Straßen ging, dachte sie an die +einsamen, dunklen Moordämme daheim. Was war das dagegen hier für +ein Glanz und Leben! Auf der Großen Weserbrücke, als sie auf den +blinkenden, lichterspiegelnden, von hohen Lagerhäusern begleiteten +Strom hinabblickte, kam ihr auf einmal ein Gefühl für die Größe der +alten Hansestadt, sie fühlte sich mit Stolz als ein kleines Rädchen in +dem großen, bunten Getriebe, und war von Herzen froh, der Stille und +Enge ihres Dorfes entflohen zu sein. + +Bald aber traten Milch, Butter und Käse wieder in ihre Rechte, und +das Leben ging mit Kochen, Wischen, Fegen, Waschen und Plätten seinen +alltäglichen Gang. Da kam ihr wohl abends in der Schummerzeit mal +der Wunsch: wenn du jetzt dein Spinnrad in den Arm nehmen und ein +bißchen auf die Nachbarschaft gehen könntest! Dann wollte es ihr fast +scheinen, als lebe man in der großen Stadt mit den vielen tausend +Menschen im Grund viel einsamer als zu Hause mit den paar hundert. + +Als Anfang September ihr Bruder sie zum erstenmal besuchte, konnte sie +sich nicht genug tun mit Versicherungen, wie gut es ihr in der Stadt +gefiele. Die kleine Olga mußte er auf den Schoß nehmen und sich von +ihr eien lassen. Meta Stelljes wurde ihm angepriesen als aller Mädchen +Krone und für einen glücklichen Ehestand angelegentlichst empfohlen. +Aber er sagte, er brauche noch lange keine Frau. + +Am Sonntag darauf stäubte sie morgens Frau Marwedes Salonmöbeln ab, +als auf einmal durch die geöffneten Fenster feierlicher Glockenklang +an ihr Ohr schlug. Da fiel ihr ein, daß heute schon der erste +Advent war, und sie sah im Geist, wie daheim an der schimmernden +Birkenreihe des Kirchdammes entlang die schwarzgekleideten Menschen +in Trupps auf Grünmoor zupilgerten. Sie blickte auf die Straße, sie +bot das gewohnte alltägliche Bild. Ob denn hier niemand an die Kirche +dachte? Halt, da kam ein altes Mütterchen angewankt, Gesangbuch und +Taschentuch in der Hand. Leidchen bog sich zwischen den Blumenstöcken +aus dem Salonfenster hinaus, um einen Blick in das verrunzelte +Gesicht zu gewinnen, und da huschte es ganz leise sonntäglich und +vorweihnachtlich durch ihr Gemüt. + +Am nächsten Sonnabend fragte sie Frau Marwede, ob sie mal in die +Kirche gehen dürfte. Die stemmte die Hände in die Seiten, machte +ein maßlos erstauntes Gesicht und sagte: »Aber Kind, hast du denn +soviel Sünden getan?« Da wurde sie rot und sagte nichts weiter. Am +Sonntagnachmittag aber, als sie ohne Meta Stelljes, die nicht abkommen +konnte, einen Gang durch die innere Stadt machte, hörte sie auf einmal +die mächtigen Domglocken, und die hohen bunten Fenster schimmerten in +die hereinbrechende Dämmerung. Da sie sich so nicht getraute, fragte +sie einen vertrauenerweckenden älteren Herrn, ob sie da hinein gehen +dürfte. Dem zuckte es schalkhaft um die Mundwinkel, indem er sagte: +»Gern, wenn Fräuleinchen ein Billett hat.« Da ging sie betrübt ihrer +Wege und dachte, auf dem Lande wär' das doch besser eingerichtet, wo +man mit einem Pfennig für den Klingelbeutel frei käme und auch noch +nicken könnte. + +Bei nächster Gelegenheit sprach sie mit ihrer Freundin über das +Kirchengehen. »Ja, Leidchen,« sagte Meta Stelljes, »anfangs paßt +einem das nicht, aber man gewöhnt sich schneller daran, als man +denkt, wo's hier einmal keine Mode mehr ist. Aber du hast recht, der +Mensch will mal was anderes als das Alltägliche. Deshalb haben wir +Hausangestellten in unserer Villa einen Leseklub gegründet, und wenn +du jede Woche einen Groschen ausgibst, kannst du dir so viel schöne +Geschichten von uns leihen, als du Lust hast zu lesen.« + +»Och ja,« meinte Leidchen, »zu Hause haben wir uns auch immer +vorgelesen. Gerd holte die Bücher immer vom Lehrer.« + +»Ha,« rief Meta verächtlich, »du wirst sehen, unsere Geschichten +sind viel interessanter. Wer damit erst einmal angefangen hat, kommt +überhaupt nicht wieder davon los.« + +Leidchen hinterlegte bei dem Mann im blauen Rock mit silbernen Knöpfen +statutengemäß eine Sicherheit von fünfzig Pfennig, zahlte einen +Groschen als Wochenbeitrag und trug einen Packen arg zerlesener bunter +Hefte mit heim. Abends im Bett las sie darin, bis nach zwölf, und ein +Schauer nach dem anderen lief ihr über den Leib. + +So kam Weihnachten heran, aber recht weihnachtlich wollte es dem +Landkind nicht werden. Am Christabend brannte in Frau Marwedes Salon +ein prächtiger Tannenbaum, über und über mit dicken Glaskugeln +behängt, eine Spieluhr spielte abwechselnd »O du fröhliche« und +»Stille Nacht«, und Leidchen war reicher beschenkt worden als sie +erwartet hatte. Aber ein rechter Weihnachtsabend war es doch nicht. +Die Menschen kamen einander um keine Handbreit näher, Milch, Butter +und Käse spukten auch um den Lichterbaum, eine kranke Kuh im Stall +machte Sorge. Nachher im Bett las Leidchen noch lange mit glühenden +Wangen in den bunten Heften, von denen sie sich längst eine zweite +Serie geholt hatte. Sie tischten gerade mal wieder eine grausliche +Mordgeschichte auf. + +Am Abend des ersten Festtages hatte sie allein mit der kleinen Olga +das Haus zu hüten. Das Kind auf dem Schoß, saß sie in der dunklen +Bescherungsstube unter dem Baum, an dem einige Glaskugeln in dem Licht +glänzten, das von der Straßenlaterne gegenüber in das Fenster fiel. +Da bat die Kleine auf einmal um eine Geschichte. Leidchen dachte +an das, was sie in der letzten Zeit gelesen hatte, aber davon war +nichts zu gebrauchen. Sie mußte also in ihren Erinnerungen weiter +zurückgreifen. Und bald fing sie an: »Es war einmal ein großer, +großer Kaiser, der hieß Augustus,« und erzählte von einem Stall, in +dem nicht fünfzehn Milchkühe gestanden hätten wie in Papa seinem, +sondern nur ein Ochs und ein Esel, und in diesem kleinen Stall wäre +ein kleines, ganz kleines Kindlein geboren, an dem hätten seine +Eltern, und die beiden Tiere, und die frommen Hirten, und die heiligen +Engel, und der liebe Gott und alle guten Menschen ihre Freude gehabt. +Dann sang sie dem Kinde, das sich warm an ihren Busen schmiegte, +auch einige Weihnachtslieder, und als sie aufstand, um es zu Bett zu +bringen, sagte sie: »So, Olga, nun haben wir erst richtig Weihnachten +gefeiert.« -- + +Mitte Februar konnte Meta Stelljes keine bunten Hefte mehr liefern, +Leidchen hatte die Bibliothek des erst seit einem Jahre bestehenden +Klubs durchgelesen. Das plötzliche Aufhören des gewohnten Reizes der +Spannung empfand sie mit peinlichem Unbehagen, und sie war in dieser +Zeit öfters mit sich selbst und der Welt höchst unzufrieden. Warum +konnten andere Mädchen, die Heldinnen jener Geschichten, so große +unerhörte Dinge erleben, mit Revolvern sich durch allerhand Abenteuer +kämpfen, reiche Grafen mit marmornen Schlössern heiraten, indes +ihr bei solchem Milchmann mit Fegen, Wischen und Kochen ein Tag so +eintönig und zum Sterben langweilig wie der andere dahinkroch! + +Eines Spätnachmittags, als sie ihr Kämmerchen betrat, hörte sie +einen Vogel singen. Zu Hause, wo's die vielen Vögel gab, würde ihr +das nicht weiter aufgefallen sein, aber hier in der Stadt war's +was Besonderes. Sie stieg auf ihren Stuhl und sah zum Dachfenster +hinaus. Da wurde der kahle Baumwipfel sichtbar, und in ihm saß ein +Amselmännchen, den gelben Schnabel schräg aufwärts gerichtet, die +Flügel gesenkt, unbeweglich, und sang und sang. Du liebe Zeit, wie +konnte der kleine Kerl singen! Lust, Wehmut, Sehnsucht erfüllten +die Brust der Lauscherin. Sie hob sich auf die Zehen. Da erschienen +Giebel und Schornsteine, aber über sie hinweg zogen die Wolken der +verheißungsvoll lockenden, dämmernden Ferne zu. Ach wer da mit könnte! +Wie war doch die Welt so weit und die Dachkammer so eng! + + * * * * * + +Der Frühling, der seinen kleinen schwarzen Herold vorausgesandt hatte, +brachte in Leidchens Leben ein paar große Veränderungen. + +Meta Stelljes zeigte eines Nachmittags, als ihre Freundin sie abholte, +ein merkwürdig aufgeregtes Wesen, und schon nach zwei Minuten hatte +sie ihr gestanden, sie hätte seit zwei Tagen einen Bräutigam. Zwar +einstweilen wär' es nur so'n lüttjer Handbräutigam, aber es würde wohl +Ernst draus werden, denn ihr Stanislaus Kaminski wäre ein ordentlicher +Mensch und Beamter, nämlich Hilfsbremser an der Königlichen Eisenbahn, +und katholisch, und die Katholiken wären, wie bekannt, ja alle sehr +fromm. + +Als sie einige hundert Schritt miteinander gegangen waren, blieb +Meta stehen, zeigte auf eine nach links abzweigende Straße und sagte +hastig: »Ich muß hier abbiegen, mein Bräutigam wartet auf mich. Adjüs.« + +»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Leidchen, die Hand der Freundin +festhaltend. + +»Weiß ich noch nicht, wird wohl nicht oft mehr sein. Sieh auch man zu, +daß du bald so was findest, das ist in diesem armen Leben immer noch +das Beste. Adjüs, lebe wohl!« + +Und hin ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Verlassene +blickte ihr traurig nach. -- + +Als Leidchen nach Hause kam, bat Frau Marwede sie, gleich mal zu der +kleinen Olga zu gehen, die nicht recht wohl wäre. Sie fand das Kind +mit Fieber im Bett. + +Marwedes hatten einen starken Glauben an die Heilkraft gesunder +Vollmilch, und man holte solche bei jedem Melken warm von der besten +Kuh im Stall. Aber die Patientin weigerte sich, diese Medizin zu +nehmen. + +Am nächsten Tage rief man den Arzt, der ein bedenkliches Gesicht +machte. + +Als er das Krankenzimmer verlassen hatte, sagte die Mutter, an ihrer +Unterlippe nagend: »Und dabei ist das Kind noch nicht mal getauft.« + +Leidchen starrte sie entsetzt an, indes der Milchmann geringschätzig +die Achseln zuckte. + +Dieser ging bald zu seinen Kühen. Da sagte die Frau: »Was meinst du, +Mädchen? Ob's nicht am Ende doch besser wäre ...?« + +»O ja,« rief Leidchen, die helle Angst im Gesicht, »bitte, bitte! +Denken Sie sich, sie stürbe uns weg, drei Jahre alt und ungetauft! Wir +könnten ja keine ruhige Stunde wieder haben.« + +»Na na, Marwede und ich sind ziemlich aufgeklärte Leute ... Aber wenn +du hinlaufen und den Pastor holen willst, soll's mir recht sein. Er +wohnt dicht bei der Kirche, sag' ihm aber, er möchte sich ein bißchen +beeilen.« + +Leidchen traf den Pastor nicht zu Hause, seine Frau sagte aber, sie +würde ihn schicken, sobald er zurückgekehrt wäre. + +Er kam eher, als man hiernach ihn glaubte erwarten zu können. Da +Frau Marwede noch in ihrem Schlafzimmer beim Umkleiden war, traf er +nur Leidchen bei dem Täufling, und als er ihr die Herzensangst und +Traurigkeit aus dem Gesicht las, sagte er teilnehmend: »Es ist wohl +Ihr erstes und einziges, liebe junge Frau?« Leidchen wurde purpurrot +und stamerte, sie wäre hier nur das Fräulein. Während jener seinen +Irrtum mit großer Kurzsichtigkeit entschuldigte und die Brille putzte, +kam die wirkliche Mutter in ihrem Schwarzseidenen hereingerauscht und +begrüßte den Geistlichen mit achtungsvoller Verbeugung. Leidchen wurde +als Patin angeschrieben, und als das Köpfchen des Kindes mit Wasser +besprengt wurde, hob sie es in den Kissen an. + +»Was hat der Onkel eben gemacht?« fragte die kleine Olga, während ihre +Mutter den Pastor hinausgeleitete. + +»Oh,« sagte Leidchen, sich über sie neigend, »das war ein ganz lieber +Onkel. Du bist nun dem lieben Gott sein Kind geworden, und er hat dich +ganz furchtbar lieb, noch lieber als Tante Leidchen.« + +Von Stund' an fühlte sie sich dem Kinde noch enger verbunden als +bisher. Die alte Anschauung, daß Patenschaft eine Art Verwandtschaft +begründet, wirkte dabei mit, noch mehr aber wohl die Erinnerung an +das viele Gute, das sie selbst von ihrer Patentante Beta Rotermund +empfangen hatte und nun weiterzugeben Gelegenheit fand. Sie wurde +erfinderisch, ihrem Patenkinde Liebes zu erweisen, und dieses hatte +sie lieber um sich als seine Mutter, die, was sie in Jahren als stark +in Anspruch genommene Geschäftsfrau an Zärtlichkeit versäumt haben +mochte, jetzt in wenigen Tagen nachholen wollte, wobei sie dann des +Guten leicht etwas zu viel tat. + +Einmal sollte Leidchen auch wieder erzählen. Als sie nachsann, fiel +ihr Doktor Luthers Brief an seinen Sohn Hänsichen ein, den sie aus +dem Schullesebuch kannte, und zugleich dachte sie an daheim, wie dort +nun bald wieder Frühling und Sommer Einzug hielten. Und sie erzählte +von einem wunderschönen Garten, da blühten die Äpfel- und Birnbäume +über und über weiß wie Schnee, und die Früchte wurden dick und +kriegten rote Backen, und bunte Vögel sangen süß in den Zweigen, und +die herrlichsten Schmetterlinge gaukelten durch die blaue Luft, und +silberweiße Birken ließen ihre lichtgrünen Schleier wehen, und unter +ihnen auf grünem Rasen spielte das Christkind mit all den artigen und +frommen Kindlein, die hier aus der ganzen Welt zusammen kamen. + +So malte sie der Kranken ein leuchtendes Bild mit den Farben ihres +Kinderparadieses, und das kleine Stadtkind, das solche holden Wunder +nie mit eigenen Augen geschaut hatte, hörte mit offenem Munde und mit +sehnsuchtsvollen Blicken an ihren Lippen hängend zu. + +In der Nacht darauf übernahm sie gegen ein Uhr die Krankenwache. Sie +mochte etwa eine Stunde am Bett gesessen haben, als das Kind anfing, +sich in den Kissen zu werfen. Mit leisen, begütigenden Worten redete +sie ihm zu und wischte die Schweißtropfen, die ihm auf die Stirn +traten, sanft hinweg. Auf einmal streckte sich der kleine Leib lang, +ganz lang. Da packte tödliche Angst die Wärterin, sie riß ihn an ihren +jungen lebenswarmen Busen, sie hauchte ihren Odem auf den schon still +stehenden Mund. Als sie aber die blicklos starren Augen sah, ließ sie +den Körper in das Bett zurücksinken und preßte sich beide Hände auf +das Herz; denn sie fühlte ein Schwert durch ihre Seele schneiden, zum +erstenmal in ihrem jungen Leben. + +Sie weckte die nebenan schlafenden Eltern. Die Mutter kam im +Nachtgewand angestürzt und warf sich schreiend über die kleine Leiche. +Der Vater folgte notdürftig bekleidet und stand stumm daneben. Nach +einer Weile sagte er: »Aber Rosalie, nun faß dich. Wir haben unsere +Pflicht getan. Denk' doch bloß an all die schöne Milch, die das Kind +die Jahre getrunken hat ...« + +Der kahle Baumgipfel unter Leidchens Dachfenster begrünte sich nach +und nach, und spät nachmittags und abends saß die Amsel darin und +sang und sang. Und die Gedanken der Einsamen eilten immer und immer +wieder in das Land des schwarzen Moors und der weißen Birken, wo sie +jetzt vom dämmernden Morgen bis in die sinkende Nacht im Torf standen +und sich tüchtig ausarbeiteten. Wenn doch einmal in der Frühe jemand +an ihr Bett getreten wäre und sie geweckt hätte zum Torfbacken im +herbstfrischen Frühlingswind! Aber sie mußte Tag für Tag kochen, +aufwaschen und fegen, im Dunstkreis von Milch, Butter und Käse, und +obgleich die Arbeit nichts weniger als schwer war, fühlte sie sich oft +todmüde und war manchmal des Lebens fast überdrüssig. + + + + + 10. + + +Eines Nachmittags, als nach einer regenreichen, dunklen Aprilwoche die +Sonne wieder schien, stand Leidchen auf, machte eine Bewegung, als ob +sie etwas abschüttelte, und ließ sich ein neues Sommerkleid anmessen. +»Für ein Fräulein von so schlankem, ebenmäßigen Wuchs zu arbeiten, ist +mir ein Vergnügen,« sagte die Schneiderin. + +Erst das letzte Drittel des Wonnemonds brachte einen lachenden, +leuchtenden Sonntag, an dem das nach Urteil der Nadelkünstlerin +»äußerst schick und tadellos« sitzende Himmelblaue den Menschen +gezeigt werden konnte. Leidchen trug es natürlich in den Bürgerpark, +in dem die Menschheit heute ein Stelldichein verabredet zu haben +schien, und der auch selbst sein allerschönstes Kleid angezogen hatte, +nämlich das aus lichtem, blütendurchwirktem Grün. + +Das schmucke Kind freute sich des warmen Sonnenscheins und der jungen +Frühlingspracht, sah nach den fröhlichen geputzten Menschen und dachte +so in ihrem Sinn, ganz zu verachten wäre das Leben eigentlich doch +nicht. + +Als sie über eine der Brücken kam, die das ausgedehnte Grabennetz +der Anlagen überspannen, blieb sie stehen und sah belustigt einem +ungeschickten Ruderer zu, der sein Boot nicht in der Gewalt +hatte, indes das hinten sitzende Mädchen durch gute Ratschläge, +überflüssiges Gekreisch und verkehrtes Steuern die Sache noch +schlimmer machte. + +Da hörte sie nahe Schritte und wandte sich um. + +»Guten Tag, Leidchen Rosenbrock,« rief eine froh verwunderte Stimme. + +»Hermann!?« + +»Ja, mein Deern, ich bin's selbst. Aber nun gib mir erst mal die Hand.« + +Er nahm sie sich und drückte sie tüchtig, über das ganze Gesicht +lachend. + +»Mensch, wo kommst du denn bloß auf einmal her? Ich meinte, du wärst +in Spandau.« + +»Spandau ist abgemacht. Wir sind vorige Woche zum Regiment +zurückkommandiert. Schön, daß ich dich treffe. Wollen wir uns mal die +Affen bei der Meierei ansehen, und die Känguruhs? Oder soll ich dich +lieber ein bißchen rudern?« + +Leidchen hatte sich inzwischen von ihrer Überraschung erholt und +fragte schelmisch, indem sie auf den hemdärmelig sich abrackernden +Jüngling zeigte, dessen Boot noch immer von einem Ufer zum anderen +schoß: »Kannst du's ebensogut, wie der da?« + +Er warf sich in die Brust. »Ich? Wie der erste Sportsmann meistere ich +mein Boot.« + +»Na, na? Wenn ich an die Nacht auf der Hamme denk' ...« + +»Ach so ... na ja, bei der Torfschipperei bin ich nicht groß geworden. +Aber daß ich rudern kann, will ich dir bald zeigen, komm!« + +Sie machte ein paar Schritte, blieb dann aber wieder stehen: »Ich +weiß nicht recht ... Wenn uns einer sähe ...« + +»Wir beide können uns überall sehen lassen,« rief er lachend. »Komm!« + +»Aber ...« + +»Ach was. Wir sind hier nicht in unserem Dorf, wo die alten Weiber +gleich die Köpfe zusammenstecken, wenn zwei junge Leute mal auf dem +Damm miteinander gehen. Hier kann jeder nach seiner Fasson selig +werden, das ist ja gerade das Schöne an so 'ner Stadt. Komm!« + +Er wollte ihren Arm nehmen, doch sie litt es nicht. Als er +aber entschlossen die Richtung nach der nicht weit entfernten +Bootvermietungsstelle einschlug, folgte sie langsam. + +Der Hafen war bei dem herrlichen Wetter bereits ausvermietet. Hermann +machte ein langes Gesicht, Leidchen sagte: »Es ist so ebensogut, ich +muß doch bald nach Hause.« + +Aber schon kam ein frischgestrichenes, schlankes Ruderboot um die +Ecke, an dessen Bordwand der Name »Adelheid« zu lesen war. »Das +schickt sich ja prächtig,« rief Hermann, und kaum waren die beiden +Gymnasiasten, die ihre Fahrt beendet hatten, ausgestiegen, so war +er auch schon hineingesprungen und reichte ihr zum Einsteigen die +Hand. Dann legte er schnell Koppel nebst Seitengewehr ab, streifte +die Handschuhe von den Händen, ergriff die Riemen, und das Boot glitt +leicht und sicher zum Hafen hinaus. + +»Nun erzähl' mal, wie es dir all die Zeit gegangen ist,« sagte +Hermann, indem er quer über einen kleinen See auf einen von lichtem +Buchengrün überwölbten Wasserlauf zuhielt. + +Leidchen war froh, daß sie sich endlich einmal vor einem Bekannten +über die Erlebnisse der letzten Zeit aussprechen konnte. + +Sie begann mit der Geschichte ihrer Freundschaft und bedauerte, daß +diese nun ein Ende gefunden hätte. Als er wissen wollte, wodurch sie +auseinander gekommen wären, und sie, etwas verlegen, ihm den Grund +angab, zwinkerte er verständnisvoll mit den Augen und sagte: »Ja so +geht's in der Welt.« + +Leidchen errötete flüchtig und fing schnell an, von der kleinen Olga +zu erzählen, wie artig, klug und anhänglich sie gewesen wäre. Als +sie von Krankheit und Hingang des Kindes berichtete, war ein Zittern +in ihrer Stimme, und zuletzt liefen ihr die blanken Tränen über die +Backen. + +»Na nu!« sagte er verwundert, »so tief darfst du das bei einem fremden +Kind nicht nehmen.« + +Mit großen Augen, fast ein wenig empört, sah sie ihn an: »Aber wenn +ich sie doch so lieb gehabt habe ...« + +»Na ja, aber es ist Gottes Wille einmal so gewesen, was willst du +dagegen machen? Den Weg müssen wir alle, der eine früh, der andere +spät ... Aber nun laß uns lieber von was anderem sprechen. Wie geht's +deinem Bruder?« + +»Als ich nicht anders weiß, gut ... Du bist ihm doch nicht mehr böse?« + +»Warum sollt' ich ihm böse sein?« + +»Och, damals, als mein Geburtstag war ...« + +»Du liebe Zeit, das hab' ich längst vergessen. Es war gut, daß die +Jungens mir damals in den Arm fielen. Wegen solcher Kleinigkeiten +dürfen wir Soldaten nämlich unsere Waffe nicht ziehen, das wird +streng bestraft. Wenn damals was passiert wäre, wär' ich heut' nicht +Gefreiter und hätte nicht die blanken Adlerknöpfe hier an meinem +Kragen.« + +»Gefreiter ... ist das mehr als Leutnant?« + +»Mehr wohl gerade nicht, aber durchaus nicht zu verachten! Soweit ich +denken kann, hat's aus unserem Dorf noch keiner so weit gebracht. +Nur die strammsten und zuverlässigsten Leute werden zu Gefreiten +befördert.« + +»Ach so ...« + +»Gerd muß diesen Sommer schon zur Generalmusterung. Schade, daß er nun +wohl ganz ums Soldatspielen herumkommt.« + +»Warum ist das schade?« + +»Gerade ihm hätte ich's von Herzen gegönnt, daß der preußische +Unteroffizier ihn mal zwischen die Finger gekriegt hätte.« + +»Warum?« + +»Weißt du, Leidchen, Gerd ist ein herzensguter Mensch, ich will gewiß +nichts Böses über ihn sagen. Aber er hat etwas dickes Blut. Und er +denkt zu viel.« + +»Pah, das wird nichts schaden, wenn einer sich seine Gedanken macht.« + +»Aber es kann zu viel des Guten werden. Zum Unglück ist er auch noch +diesem langbeinigen Schulmeister in die Hände gefallen und liest seine +ganzen Bücher durch, wie sie mir Weihnachten zu Hause erzählt haben.« + +»Wenn's ihm Spaß macht, laß ihn doch! Er kommt euch allen weit vorbei.« + +»Aber Leidchen, verstell dich doch nicht so. Ich weiß ja ganz gut, du +hast unter seiner Wunderlichkeit am meisten leiden müssen.« + +»Ich? Wer sagt das? Das war gar nicht schlimm, er hat es immer gut +gemeint. Überhaupt ist er einer von denen, auf deren Wort man Häuser +bauen kann. So sind lange nicht alle, die ein glattes Gesicht haben +und glatt schnacken können.« + +»Deern! ... Wenn du dich ein bißchen aufregst, bist du gleich noch mal +so hübsch.« + +»Och Hermann ...« + +»Nun bist du rot angelaufen und noch viel hübscher geworden.« + +»Hermann!« + +»Ich hab' mich früher schon immer gewundert, wie es möglich war, daß +bei uns im Moor eine so feine kleine Deern herumlief. Die Backen +hat unser gnädiges Fräulein nicht zarter und rosiger. Was würde die +gnädigste Frau ausgeben, wenn sie dein Seidenhaar hätte! Und die +Augen, Kind, deine Augen ...« + +»Wenn du nicht gleich aufhörst, steig' ich aus.« + +»Das wär' schade, dann machst du dir die Strümpfe naß, und dein +schönes blaues Kleid dazu. Hat Wippelmanns Lena das gemacht?« + +»Och, Junge, das kannst du doch wohl sehen!« + +»Ja, es sitzt gut.« + +»Und kostet sechs Taler, und 'ne feine Stadtschneiderin hat's gemacht, +nach der neuesten Mode.« + +Sie schob die Füße ein wenig nach vorn, um dem Rock einen glatteren +Fall zu geben. + +»Die Hauptsache ist,« meinte er, sie ziemlich dreist musternd, »daß +eine in so'n Kleid ordentlich was hineinzustecken hat. Du bist ganz +gut durch den Winter gekommen.« + +»Rat' mal, wieviel Pfund ich jetzt wiege!« + +»Hundertundzwanzig?« + +»Mußt noch'n Zehnpfundstück auf die Wage tun.« + +»Ach ja, wenn eine bei so 'nem Milchmann mit süßer Vollmilch gebörnt +wird.« + +Das Boot, das eine Strecke lang prangende Parkwiesen zur Seite gehabt +hatte, glitt in diesem Augenblick unter das herabhängende Gezweige +einer Linde. Hier kam es zur Ruhe, indem Hermann die Riemen einzog +und sich an einem Zweig festhielt. Unter dem Blätterdach, das von der +Sonne durchleuchtet und vom stillen Wasser gespiegelt wurde, umfloß +die beiden ein gedämpftes grünes Licht und angenehm schattige Kühle. +»Hier ist's wunderschön,« sagte Leidchen und blickte mit frohen Augen +um sich und zu dem hohen Gewölbe empor. + +Plötzlich fing eine Nachtigall an zu singen. Das junge Mädchen reckte +suchend den Kopf, und bald hatte sie das Vögelchen entdeckt. Es saß +ganz nahe, sie konnte die gesträubten Federchen der liedgeschwellten +Kehle unterscheiden. Andächtig lauschte sie dem süßen Sang, der +in der grünen Halle, vom Wasser zurückgeworfen, seltsam voll und +eindringlich klang. + +Als die Sängerin nach einer Weile davonflog, sagte sie aufatmend: +»Die kann's noch besser als unsere zu Hause, die immer bei Wöltjens +Backofen nistet.« + +»Das macht, die Konkurrenz ist hier größer,« erklärte Hermann. »Das +kleine Ding muß bis über beide Ohren verliebt sein.« + +»Och ...« + +»Ja, die Liebe macht glücklich, macht selig.« + +»Och du ...« + +»Wart' man, du erfährst das auch noch mal.« + +Sie zog kräftig an einem Lindenzweig, und das Boot glitt unter dem +Baumschatten hinweg und ins Freie. + +Hermann warf sich jetzt wieder mit aller Gewalt in die Riemen, daß sie +knarrten und jankten. Rauschend flog das Boot dahin, durch Sonnenglanz +und Baumschatten, vorbei an duftenden Blütensträuchern und hübschen +Parkhäuschen, belebte Promenadenwege entlang und wieder durch grüne +Einsamkeiten. + +Leidchen nahm all die freundlichen, bunten Bilder in sich auf, und +wenn der sich kraftvoll vor- und zurückschnellende schmucke junge Mann +nicht gerade her sah, mußte sie öfters heimlich zu ihm hinüberblicken. +Diese Fahrt war ein schöneres Vergnügen, als mit Meta Stelljes +durch die Straßen zu bummeln, Schaufenster zu besehen und über die +Herrschaften zu klatschen. Viel zu schnell erreichte das Boot seinen +Hafen, am liebsten hätte sie die Rundfahrt noch einmal gemacht. + +»So,« sagte Hermann, als sie an Land gestiegen waren, »nun setzen wir +uns hier in den Kaffeegarten und essen gemütlich zu Abend.« + +Ihre schwachen Einwendungen, daß es schon spät wäre und sie nach Hause +müßte, fanden keine Beachtung, und bald saßen sie unter einer Rotbuche +hart am Ufer des kleinen Sees, von dem das Kaffeehaus den Namen +führte. Der Kellner brachte Butterbrote und zwei Glas Bier. + +Sie plauderten über dies und das, und zuletzt kam Hermann auch auf +seine Stellung im Hause seines Hauptmanns zu sprechen. Sein Herr +hielte große Stücke auf ihn, die gnädige Frau nicht minder, und die +Gören wären rein in ihn vernarrt. Aber den meisten Anfall hätte er von +der Köchin, die ihn partout heiraten wollte. Und sie wär' ja auch eine +blitzsaubere Person, das müsse ihr selbst der Neid lassen. + +Leidchen spähte bestürzt durch die vorgeschrittene Dämmerung nach +seinem Gesicht. + +Merkwürdig wär's, fuhr er nach einer Weile fort, wie schlecht Mädchen, +die anderswo geboren wären, sich als Frauen im Moor gewöhnten. Das +könnte man zum Beispiel auch an seiner Mutter sehen. Die hätte bis auf +den heutigen Tag nicht vergessen, daß sie von der Geest stammte, und +schimpfte noch immer über das braune Moorwasser. + +Drüben vor den Buchengruppen, denen der Abend ihr lichtes Grün +gegen ein mattes Grau umgetauscht hatte, flammten Laternen auf +und warfen lange, ruhige Lichtstreifen über den See, die nur im +Wellenschlag eines heimkehrenden Bootes zuweilen eine Zeitlang +tanzten und zitterten. Fledermäuse huschten jagend hin und her. Die +reiche Vogelwelt des Parks war verstummt, bis auf die zahlreichen +Nachtigallen, die um so lauter schlugen. Ein einzelner Schwan zog +langsam und träumerisch seine Bahn. Die meisten Tische waren leer, nur +selten klang ein Ton gedämpfter Unterhaltung herüber. Irgendwo in der +Ferne spielte eine Militärkapelle. + +Hermann nahm Leidchens Hand. Aber nach einigen Sekunden zog sie diese +zurück und rückte mit dem Stuhl ein wenig zur Seite. »Ich muß nun aber +wirklich bald nach Hause,« sagte sie. + +»Ich auch,« sagte er, die Uhr ziehend, »ich habe nämlich keinen +Urlaub. Aber hinbringen kann ich dich noch.« + +Als sie aufgestanden waren, bot er ihr seinen Arm. Sie zögerte, den +ihren hineinzulegen. + +»Deern, du bist aber auch noch gar zu albern,« rief er etwas +ärgerlich. »Wie sieht das aus, wenn wir so wie'n Paar Bauern +nebeneinander her toffeln! Unsere Köchin brauchte ich gar nicht erst +zu bitten.« + +Da hakte sie scheu und zaghaft ein. + +Sie schritten auf einem breiten, von Bäumen überdunkelten und von +Laternen erhellten Parkweg. + +Auf einer Bank, die etwas zurück in schattigem Dunkel stand, +saß ein Soldat, der sein Mädchen im Arm hielt. Gerade als die +beiden vorübergingen, unterbrach ein Ton die Stille, über dessen +Entstehungsursache kein Zweifel bestehen konnte. + +»Die verstehn's,« raunte Hermann seiner Begleiterin zu. + +Sie erbebte leise. Wenn er nur sich so was nicht auch beikommen ließe! + +Endlich langten sie vor ihrem Hause an. Hermann ergriff schnell ihre +Hand, drückte sie, daß sie hätte aufkreischen mögen, und ging mit +strammen Schritten davon. + +Ein wenig enttäuscht blickte sie ihm nach. Ganz im stillen hatte sie +sich den Abschied doch etwas anders gedacht. + +Langsam stieg sie die Treppe hinauf. + +Nein, es war doch besser, daß er sie zum Abschied nicht geküßt hatte. +Daran konnte man sehen, daß er keiner von den Frechen war, gegen deren +Zudringlichkeit ein anständiges Mädchen sich wehren muß. Mit einem so +ruhigen, ordentlichen Menschen durfte sie getrost ausgehen. Dagegen +würde selbst Gerd nichts haben. Und wenn er sie dann auch eines Tages +mal küßte ... nun ja, ein Küßchen in Ehren soll niemand verwehren. + +Unter solchen Gedanken hatte sie sich entkleidet und dabei öfters zu +dem Stück Nachthimmel über ihrem Dachfenster aufgeblickt. Das war von +tiefem Schwarzblau, und die Krone des hängenden Myrtenbäumchens, das +in diesen Wochen auch frisch getrieben hatte, hob sich scharf dagegen +ab. + +Als sie sich hingelegt hatte, kam ihr des Hauptmanns Köchin in den +Sinn. Ob er die nicht doch ganz gern hatte? Ach was! Die Köchinnen, +die sie auf dem Wochenmarkt gesehen hatte, waren beinah alle alt, +dick und häßlich ... + +Mit diesem Trost schlief sie ein. + + * * * * * + +Am andern Morgen kam ganz unerwartet Gerd, der auf dem Schlachthof ein +fettes Kalb abgeliefert hatte. + +»Deern,« sagte er verwundert, »du siehst famos aus.« + +»Es geht mir auch gar nicht schlecht,« gab sie mit lachenden Augen zur +Antwort. + +Sie bewirtete den Bruder in der Küche mit einem Frühstück und saß ihm, +Kartoffeln schälend, gegenüber. Die Geschwister hatten sich längere +Zeit nicht gesehen, und sie berichtete, was inzwischen geschehen. + +Fast mit den gleichen Worten wie gestern nachmittag im Ruderboot +erzählte sie von Krankheit und Tod des Kindes und schloß mit den +Worten: »Wie schrecklich nahe mir das gegangen ist, kannst du dir gar +nicht denken.« + +Er blickte sie verwundert an, und als sie fertig war, sagte er +trocken: »Das wird wohl nicht so schlimm gewesen sein, du siehst mir +viel zu lustig dabei aus. Das Wischen an den Augen laß auch man sein, +Tränen bringst du doch nicht heraus.« + +Leidchen erschrak. + +Ja, sie hatte das alles nur so mit dem Munde hingeschwatzt, ohne das +geringste dabei zu fühlen. Sonst hatte sie jeden Morgen die kleine +Olga neu vermißt, aber heute bis eben, wo sie Gerd von ihr erzählte, +noch mit keinem Gedanken ihrer gedacht. Es war ihr auf einmal, als +hätte sie die traurige Geschichte vor zehn Jahren erlebt, oder als +wäre sie ihr nur als Kunde aus fremdem Mund zugekommen. So fern, so +gleichgültig war ihr über Nacht geworden, was gestern nachmittag noch +ihr Herz mit tiefem Schmerz und ihre Augen mit echten Tränen gefüllt +hatte. Sie schämte sich ein wenig vor sich selbst. + +Als sie ihm dann vom Ende ihrer Freundschaft mit Meta Stelljes +erzählte, sprach er die Hoffnung aus, daß diese es mit einem +ordentlichen, ernsthaften Menschen zu tun haben möchte, und nicht mit +einem von den vielen, die so ein Mädchen nur zum besten hätten. + +Leidchen stieß mit der Spitze ihres Pantoffels ärgerlich gegen seine +Transtiefel und sagte: »Du bist gar nicht zu bessern. Immer mußt du +von allen Menschen das Schlechteste denken.« + +Er zuckte die Achseln: »Ich kenne die Welt.« + +Nach einer Weile sah sie ihm neugierig und schalkhaft in die Augen. +»Du! Sag' mal, denkst du denn eigentlich noch gar nicht ans Heiraten?« + +Er machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung: »Erst will +ich ordentlich was hinter mich bringen ... Bei uns im Moor wird +durchschnittlich viel zu früh geheiratet.« + +»Mensch, schnack doch nicht so gräßlich weise!« rief sie lachend. + +»Neulich,« fuhr er fort, »wurde wieder mal so'n Paar aufgeboten. +Er achtzehn Jahr, muß nächstes Jahr zum erstenmal zur Musterung. +Der Vorsteher hat's erst nach dem Minister wegschreiben müssen. Sie +fünfundzwanzig. Und was hatte er? Ein Rad. Und sie? Auch ein Rad. +Und sie fuhren hin und verkloppten die Dinger. Da langte es eben, daß +sie sich ein Bett kaufen konnten, alles andere mußten sie auf Borg +nehmen. Wenn er dann später beim Kommiß schwitzen muß, sitzt sie da +mit zwei oder drei Kindern, und zu etwas bringen kann's es niemals, +so'n Prachervolk!« + +»Ach Gerd, du darfst in solchen Dingen nicht so hart sein. Wenn die +beiden sich wirklich liebhaben ...« + +»Ich danke für solche Liebe. Nach der Tanzmusik, als er halb dun war, +hat sie ihn mitgeschleppt. Bezahlen kann er nicht, so mußte er das +Mensch heiraten.« + +Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann sagte Gerd, geheimnisvoll lächelnd: +»Ich hab' auch noch einen Gruß für dich. Rat' mal, von wem?« + +Nachdem sie einige Male vergeblich hin und her geraten hatte, kam er +selbst damit heraus: »Von Lehrer Timmermann.« + +»Ach so ... Danke.« + +»Denkst du dir gar nichts dabei?« fragte er lächelnd. + +»Was soll ich mir groß dabei denken?« fragte sie gleichgültig zurück. + +»Och, ich meinte man ... Soll ich ihn wieder grüßen?« + +»Das kann ich dir nicht verbieten.« + +»So'n bißchen von Herzen? ...« + +Sie hielt plötzlich im Kartoffelschälen inne, sah ihn groß an und rief +lachend: »Junge, hat er dich wohl als Freiwerber geschickt?« + +Gerd schlug sich die Mütze, die er bislang zwischen den Händen gedreht +hatte, über das rechte Knie und sagte ärgerlich: »Deern, du bist wohl +nicht recht klug.« + +Sie weidete sich an seiner Verlegenheit und lachte ihm lustig ins +Gesicht. + +Auf einmal richtete er sich auf und sagte, sie voll ansehend, mit +ernsthaftem Gesicht: »Leidchen ... laß uns da vernünftig über +sprechen. Wenn Timmermann dich nähme ...« + +»Pah! Fragt sich, ob ich ihn will.« + +»Aber Leidchen!« + +»Aber Gerd, du hast ja eben noch gesagt, wir sollten nicht so früh ans +Heiraten denken.« + +»Oh ...« sagte er gedehnt, »mit euch Mädchen ist das was anderes. Ihr +seid leicht alt genug, und es ist gut, wenn ihr einem erst anständig +unter den Füßen weg seid.« + +»Kuck' einer an! So'n alter Pharisäer!« + +»Nein, Leidchen, wir wollen ernst bleiben. Was so'n Lehrer ist, der +hat sein Festes. Ich glaub', unserer kriegt jetzt beinah' schon +tausend Mark, und kommt wohl bis aufs doppelte. Bedenk' doch bloß, +Leidchen: Was für'n Haufen Geld! Und das schöne neue Haus mit Garten, +und fünfzehn Morgen Land, und ein Tagwerk Grünland. Da könnt ihr euch +ordentlich ausarbeiten, und zwei Kühe halten, und ein halb Dutzend +Schweine zum Verkauf fett machen.« + +»Und wenn ich die Kühe gemolken und die Schweine gefüttert habe, kann +ich in seinen dicken Büchern lesen ...« + +»Ja ... das auch ...« + +»Ujeh« + +»Wa--as?« + +»Gerd, ich will dir mal was sagen, zu solch einem Leben bin ich nicht +gemacht. Von dem vielen Lesen und Studieren wird einer ganz dwatsch im +Kopf.« + +»Wer hat dir denn das vorgeschnackt?« + +Über ihre Wangen flog eine leichte Röte: »Das hab' ich an mir selbst +ausprobiert. Ich habe nämlich diesen Winter auch viel zu viel gelesen. +Es waren ja alles ganz schöne Geschichten, aber auf die Dauer bekommt +es doch nicht gut. Ich glaube, was die Bücherschreiber sind, die lügen +alle zusammen.« + +»Leidchen, Leidchen, wie schnackst du da nun wieder hin!« sagte +er kopfschüttelnd. »Was ist bloß mit dir los? Du bist heute so +wunderlich, so aufgeregt und übermütig ... Sag' mal, du hast in der +Schule doch auch Schillers Glocke gelernt.« + +Mit dem Pantoffel taktierend begann sie: + + + »Festgemauert in der Erden + Steht die Form, aus Lehm gebrannt.« + + +»Halt!« rief er, »du sollst mir das ganze Ding nicht herunterbeten. +Ich mein' die Worte: ›Das ist's ja, was den Menschen zieret‹.« + +Sie fiel ein: + + + »Und dazu ward ihm der Verstand, + Daß er im innern Herzen spüret, + Was er erschafft mit seiner Hand.« + + +»Siehst du, Leidchen, das ist's. Es ist 'ne traurige Sache, wenn einer +durch das Leben bloß so hindusselt und hindöst, wie bei uns auf dem +Lande die meisten noch tun. Das Leben wird viel schöner, wenn einer +anfängt, so'n bißchen nachzudenken, und wenn er dann seine Arbeit +nicht einfach so tut, wie er's anderen Leuten abgekuckt hat, sondern +mit eigenen Gedanken, und nicht bloß mit der Hand, sondern auch mit +dem Kopf und dem Herzen. Soweit bin ich jetzt, und Timmermann hat mir +ein bißchen mit dazu geholfen ... Also ich soll ihn herzlich von dir +wieder grüßen. Und wenn er eines Tages kommt und bei dir anfragt -- +ich weiß ja noch gar nichts Bestimmtes, hab' nur so meine Ahnung -- +dann sagst du in Gottes Namen fröhlich ja. Nicht wahr?« + +»Ich kann mir den Fall ja überlegen. ›Drum prüfe, wer sich ewig +bindet,‹ sagt Schiller ja auch wohl, ›ob sich nicht noch was Bess'res +findet.‹« + +»Leidchen, Leidchen, du bist jetzt achtzehn Jahr und mußt bald +wirklich ein bißchen ernster werden. Es heißt doch, ›ob sich das Herz +zum Herzen findet‹. Und ich bin fest überzeugt, es gibt keine zwei +Herzen, die so gut zueinander passen.« + +»So--o? Na ja, die Hauptsache ist ja auch, daß du das erst mal weißt +...« + +»Was ich noch fragen wollte: hast du schon eine Freundin wieder für +Meta Stelljes?« + +»Was brauch' ich 'ne Freundin, wenn ich auch ~so~ vergnügt bin?« + +»Nein, Leidchen, es ist besser.« + +»Na, denn sei man ruhig, hier auf der Nachbarschaft ist ein Fräulein +von meinem Alter, ich kann ja mal sehen, ob ich mit der etwas in Gang +komme.« + +»Das tu bitte, das heißt natürlich, wenn es ein ordentliches Mädchen +ist. Ich bin dann ruhiger.« + +»Willst du nicht lieber selbst hier bleiben und aufpassen?« + +»Dumme Deern, heut' ist überhaupt nicht vernünftig mit dir zu +sprechen.« + +Er war aufgestanden. Sie warf die letzte Kartoffel in den Wassereimer, +daß die Tropfen hoch aufspritzten, und erhob sich ebenfalls. In voller +Jugendblüte prangend, stand sie vor ihm, er mußte sie still verwundert +ansehen. + +»Was kuckst du, Junge?« + +»Darf ich dich nicht ankucken?« + +Ihre braunen Augen blitzten vor Übermut. »Weißt du, was ich möchte?« + +»Na?« + +»Dir mal'n Kuß geben.« + +»Aber Deern!« + +»Magst du keinen?« Sie spitzte das Mündchen ganz allerliebst. + +»Oh ...« + +Dreimal drückten sich ihre warmen roten Lippen auf die seinen. + +»Deern, Deern, was kannst du küssen!« rief er lachend, indem er sich +ihrer Umarmung entwand und mit dem Handrücken über den Mund wischte. +»Schade, daß ich Timmermann keine Probe davon mitnehmen kann. Ich +glaube, der käm' gleich morgen angereist und holte sich mehr von der +Sorte.« + +»Hohoho, der kann sich auf den Kopf stellen, er kriegt doch keinen.« + +»Das wollen wir ruhig abwarten ... Na, Leidchen, ich freu' mich, daß +du so fein auf dem Damm bist. Denn bleib' schön munter, adjüs!« + +»Wart', ich geh ein paar Schritt mit dir.« Und schon hatte sie die +Küchenschürze abgeworfen. + +Als sie auf der Straße waren, fragte Leidchen: »Weißt du keinen guten +Platz für mich zum Herbst? In unserm Dorf oder auf der Nachbarschaft, +das ist einerlei.« + +Er blieb stehen und fragte verwundert: »Was? Du willst hier wieder +weg?« + +»Ja,« sagte sie, »es gefällt mir auf dem Lande doch ebensogut.« + +»Siehst du? Hab' ich dir das nicht gleich gesagt?« triumphierte er. +»Aber zum Winter? ... Das wird schwer halten, hm. Halt, auf der Mühle +suchen sie ein Mädchen in der Zeitung. Willst du da hin?« + +Sie machte ein bestürztes Gesicht. »Nee,« sagte sie kurz. + +»Das wollt' ich dir auch nicht raten. Kein Mädchen hält es da lange +aus.« + +»Ist die Frau wirklich so schlimm?« + +»Allzusammen sind sie dem Teufel aus der Kiepe gesprungen. Im Herbst +kommt auch Hermann wieder nach Haus, der jetzt Hauptmannsbursche ist, +in Spandau.« + +»Wir sind hier an der Ecke,« sagte Leidchen hastig, »ich muß machen, +daß ich wieder in die Küche komme.« + +Sie gab ihm eilig die Hand und wandte sich zum Gehen. Indem sie +langsam dem Hause zuschritt, suchte sie eines unangenehmen Gefühles +Herr zu werden. Als sie wieder in der Küche anlangte, war ihr das +auch schon gelungen. Sie hielt die beiden Arme gestreckt vor sich, +und in ihr jubelte es: An jeder Hand einen Freiersmann! Und was für +welche! Den gebildetsten jungen Mann im Dorf, und den schmucksten und +reichsten dazu. Wenn Meta Stelljes davon eine Ahnung hätte! Die mit +ihrem Hilfsbremser! Und die Freundinnen zu Hause! + +Den ganzen Tag war sie vor Freude rein närrisch. Erst gegen Abend kam +eine ruhigere, besinnlichere Stimmung über sie. »Wer die Wahl hat,« +dachte sie, »hat die Qual.« + +Von jeher waren die Rosenbrocks gute Rechner gewesen, und auch +Leidchen hatte davon ihr Teil bekommen, wenn auch nicht ein so großes, +wie ihr Bruder. So fing sie denn, als die Tagesarbeit getan und es +stiller in ihr geworden war, an zu rechnen. + +Lehrerfrau zu werden ... der Gedanke hatte viel Verlockendes. Daheim +in ihrem Dorf war sicher kein Mädchen, das da nicht mit beiden Händen +zugegriffen hätte. Das Haus war neu und groß. Noch heute schalten die +Bauern, so teuer zu bauen wär' gar nicht nötig gewesen, und stöhnten +über die Höhe der Schulsteuer, die infolge des Neubaues auf 250 +Prozent der Staatssteuern, einschließlich der fingierten, gestiegen +war. In solchem Hause zu wohnen und als Frau zu schalten, das war +gewiß nichts Geringes. + +Aber die Mühle war auch nicht zu verachten. Sie hatte drei +Mahlgänge und galt als eine der stärksten im ganzen Moor. Leidchen +erinnerte sich, wenn sie als Kind mit der Karre einen Sack Mehl oder +Gerstenschrot holen mußte, wie sie da verwundert und ein bißchen +ängstlich zu den fauchend herumsausenden Flügeln aufgeschaut und +drinnen sich die Ohren zugehalten hatte vor dem tollen Geklapper, das +der weißbepuderte Mann gelassen regierte wie ein Kinderspielzeug. Und +das Wohnhaus war wohl altmodisch, noch mit Strohdach, aber doch das +stattlichste Gebäude im ganzen Dorf, und hatte gewiß wunderschöne, +große Zimmer ... + +Bei Gastereien wurde die Lehrersfrau stets ins Sofa genötigt. Und die +Müllersfrau? Nun, die jetzige ließ sich selten sehen, weil sie den +Geestbauernstolz gegenüber den Moorleuten nicht überwinden konnte. +Wenn eine aber war, wie sich's gehörte, ehrte man sie gewiß nicht +weniger als die Schulmeisterin ... Was würden die Leute für Augen +machen, wenn eine aus ihrem Dorf als junge Frau auf der Mühle Einzug +hielte! Das war nicht geschehen, solange Mühle und Dorf standen. +Die Müller wollten immer mehr sein als andere Leute und holten +sich die Frauen von anderen Mühlen oder aus den reichen Geest- und +Wiesendörfern ... + +Lehrer Timmermann war ein guter Mensch; schon seine sanften blauen +Augen sagten, daß nichts Arges in ihm wohnte. Sie erinnerte sich jenes +Weihnachtsabends im Schulhause, wo sie alle vier so kindlich vergnügt +gewesen waren. Aber es fiel ihr auch von der Schulzeit her ein, daß er +alles sehr genau nahm. Vielleicht entlief sie, wenn sie ihn nahm, nur +dem einen Schulmeister, um dem anderen in die Hände zu fallen, oder +mußte sich gar, da die beiden fest zusammenhielten, unter zwei ducken +... Wenn sie sich einen Kuß von ihm vorstellte ... da konnte sie +ebensogut ihren Bruder küssen, das kam so ungefähr auf dasselbe heraus. + +Dagegen Hermann? ... Das Herz klopfte ihr und das Blut schoß ihr in +die Wangen, wenn sie nur daran dachte, daß er sie einmal in den Arm +nehmen und küssen konnte ... + +Plötzlich erschrak sie. Sie hatte eben so fest mit den beiden +gerechnet, aber wollten die sie denn überhaupt? + +Nach kurzem Nachdenken glaubte sie des Lehrers sicher zu sein. Wenn +Gerd von der Sache angefangen hatte, so war anzunehmen, daß er sich +irgend etwas hatte merken lassen. Und wenn er auch nur die geringste +Andeutung gemacht hatte, dann war kein Zweifel, daß er sich mit +ernsten Absichten trug. + +Dagegen Hermann? ... Der war ein Luftikus und Windbeutel. Was er ihr +gestern Schmeichelhaftes gesagt hatte, das hatten am Ende auch schon +andere von ihm zu hören bekommen. Häuser durfte man auf dessen Wort +nicht bauen. Überhaupt mußte man sich mit einem seiner Art in acht +nehmen ... Aber es hatte doch wieder einen besonderen Reiz, gerade so +einen sich zu gewinnen ... + +Einen großen Vorzug hatte das Schulhaus. Dort hatte die junge Frau von +vornherein freie Hand. In der Mühle dagegen bekam sie für die ersten +Jahre gewiß ein böses Tun mit den beiden Alten. Aber was wollten die +schließlich machen, wenn die jungen Leute treu zusammenhielten? Und +war sie denn nicht noch immer mit allen Menschen gut fertig geworden? +Das müßte doch wunderlich zugehen, wenn sie die alten Brummbären nicht +schließlich zahm kriegte. Und ewig lebten die am Ende ja auch nicht ... + +Leidchen war entschlossen, einen von den beiden auf jeden Fall sich zu +erobern. Wen? das mußte die Zeit ausweisen. + +Frau Marwede war ausgegangen. Sie schlich sich leise in ihren Salon +und stellte sich vor den großen geschliffenen Spiegel. Ja, ihre Augen +hatten einen schönen Glanz, und die Haare einen seidigen Schimmer. Die +Grübchen saßen niedlich in den rosigen Backen, und mit dem kleinen +Finger versuchte sie sie noch zu vertiefen. Sie dachte ihre schlanke +Gestalt in das Himmelblaue hinein und beschloß, Frau Marwede um einen +kleinen Vorschuß auf ihr Gehalt zu bitten, damit sie sich auch noch +einen passenden neuen Hut dazu kaufen könnte. + +Als sie sich vom Spiegel abwandte, sah sie auf dem Eckbort, wo die +Nippsachen standen, ein Püppchen lehnen, mit dem die kleine Olga so +oft gespielt hatte. Sie nahm das Ding in den Arm, ließ sich in einen +roten Plüschsessel fallen und weinte blanke Tränen in ihren Schoß. Das +war ihr in dem so plötzlich über sie gekommenen Glück auf einmal ein +seelisches Bedürfnis. + + + + + 11. + + +Auf dem Neustadtsbahnhof hielt ein Zug der Großherzoglich +Oldenburgischen Eisenbahn. Alles, was den schönen Sonntagnachmittag im +Wald- und Heidegebiet des Nachbarländchens verleben wollte, strömte +herzu, vereins-, familien- oder paarweise, je nach Lebensumständen +oder Neigungen. + +Schon hatte der Mann mit der roten Tasche die Flöte am Munde, da kam +noch ein Pärchen in langen Sätzen über den Bahnsteig dahergesprungen. + +»Dritter?« + +»Jawohl.« + +»Alles besetzt, hier einsteigen!« + +Sie warfen sich, einander gegenüber, in die grauen Polster eines +unbesetzten Abteils zweiter Klasse und rangen mit allen Kräften ihrer +Lungen nach Luft, die ihnen beim Dauerlauf knapp geworden war. + +Bald war Leidchen so weit, daß sie ihr Spiegelbild im Fenster suchen +und vor ihm ihren neuen Hut -- weißes Stroh mit Klatschmohn -- +zurechtrücken konnte. + +Dann wandte sie das glühende Gesicht ihrem Gegenüber zu und sagte: +»Mal'n bißchen in der Eisenbahn zu fahren, macht doch wirklich Spaß.« + +»Du hast wohl noch nicht ganz oft drin gesessen?« fragte Hermann. + +»Es ist heute das erstemal in meinem Leben.« + +»Ist ja wohl nicht möglich, Deern!« + +»Ganz gewiß. Meta Stelljes wollte immer mal mit mir nach Vegesack, +aber dann ist ihre Verlobung dazwischen gekommen. Oh, kuck mal, wie +die Telegraphendrähte immer auf und ab wogen! Und wie 'r das durch +geht! Wir fahren schneller, als die Krähe da fliegen kann.« + +Hermann lächelte über ihre naive Freude und sah ihr verwundert in die +großen braunen Kinderaugen. »Und dabei ist dies noch der gemütlichste +Zug in ganz Deutschland,« sagte er, »er darf nicht schneller, sonst +fährt er die Oldenburger Ochsen und Kühe tot. Weißt du, was die +Buchstaben hier auf der Fensterstrippe zu bedeuten haben?« + +»G. O. E.? Nee.« + +»Gänzlich ohne Eile.« + +»Ach so, dies ist also nur erst ein Bummelzug.« + +Die Zielstation, der ein nahes Forsthaus den Namen gegeben hatte, war +unter solcherlei Gesprächen bald erreicht. Zuletzt hatten sie sich +über die Klassenunterschiede auf der Eisenbahn unterhalten, und als +sie ausstiegen, sahen sie nach den Fahrgästen, die aus der dritten +geklettert kamen, mit einiger Geringschätzung, und für die Reisenden +vierter Güte hatten sie überhaupt kein Auge. + +Um nicht in die Vereine und Familien hineinzugeraten, schlugen sie +ein schlankes Tempo an. Arm in Arm und im Geschwindschritt ging's die +sonnige Landstraße entlang, Hermann pfiff eine muntere Marschweise. +Erst als ein Fußweg sie nach rechts in einen Buchenforst führte, +wurden sie langsamer. + +Das Kind aus dem Lande der Birken legte das Köpfchen in den Nacken und +staunte zu den lichten grünen Hallen des Hochwaldes empor: »Junge, +Junge, hier ist's so schön wie in der Kirche!« »Viel schöner, Deern, +als in der Kirche!« rief er lachend. Als sie von ungefähr einmal zu +Boden blickte, schlug das bewundernde Staunen plötzlich in helles +Entzücken um. Sie bückte sich zu einer Kolonie lieblicher Maiglöckchen +und pflückte ein Sträußchen, das sie dann in zwei Hälften teilte, um +die eine ihrem Begleiter zu überreichen, der die schenkende Hand ein +paar Sekunden mit zärtlichem Druck festhielt. + +Der Wald wurde lichter, und an seinem Saum lud eine ländliche +Wirtschaft zum Rasten ein. Das Pärchen setzte sich in eine +Kletterrosenlaube, die über und über mit schwellenden und schon +rot durchschimmernden Knospen bedeckt war, und bald stand eine +Portionskanne Kaffee nebst einem Teller mit dreierlei Kuchen vor ihnen +auf dem Tisch. Leidchen hatte zu Mittag vor freudiger Erwartung nicht +viel essen können, aber jetzt langte sie wacker zu. Ihr Begleiter, der +ihr die besten und zuckerigsten Stücke überließ, erzählte dazu eine +lustige Geschichte nach der anderen, daß sie immer wieder mit Essen +innehalten und sich erst mal auslachen mußte. + +Bald wurde es in dem nahen Walde lebendig, und der Garten füllte sich +schnell mit Ausflüglern, die großen Kaffeedurst und viel Spektakel +mitbrachten. Die Rosenlaube erschien einer kinderreichen Familie +begehrenswert, deren stattlich dicke Mutter den im Wege sitzenden +jungen Leuten aus puterrot erhitztem Gesicht einen feindseligen Blick +zuwarf, wie die Gluckhenne den jungen Hähnen und Hühnern, wenn sie für +ihre Brut Platz schaffen will. Bald waren die beiden fest eingekeilt, +und verschiedene Backfische und Bengels machten ein Gesicht, als ob +sie sagen wollten: »Habt ihr unsere Mama nicht verstanden?« + +»Ich glaube, die Herrschaften sind lieber unter sich,« sagte Hermann +denn auch bald, zahlte und bot Leidchen den Arm. + +Sie folgten einer Landstraße, die durch Korn- und Kartoffelfelder in +der Richtung auf eine mit jungen forstlichen Anlagen bedeckte Höhe +führte. Diese stiegen sie auf einem Fußpfad hinan, bis eine mächtige +vorgeschichtliche Steinsetzung, von einer sturmzerzausten Eiche +überragt, vor ihnen lag. + +Mit gewandtem Sprung hob Hermann sich auf die riesige Deckplatte, um +dann auch seiner Begleiterin hinauf zu helfen. + +Vom Rand des Steines bot sich ein freier Blick weit ins Land hinaus. +Im Vordergrunde leuchtete die Junipracht üppiger Felder, über denen +die Lerchen sangen. Um sie legte sich ein Kranz heller Buchen- und +dunkler Nadelwälder, hinter diesen verdämmerte die unbestimmte Ferne. +Es war angenehm sommerlich warm. + +»Oh,« rief Leidchen, der die Augen weit wurden, »wie lange hab' ich +so was nicht mehr gesehen! Wir hatten zu Hause auf unserm Moor eine +Föhre, von der konnte man auch so weit ins Land kucken.« + +Eine Weile standen sie schweigend und freuten sich der schönen +Aussicht. Dann legte er leise die Hand um ihre Hüfte. Bald zog er sie +fester an sich und küßte sie. + +Mit geschlossenen Augen lag sie ein Weilchen still an seiner Brust. +Als ein leises Erbeben über ihren Körper lief, wurde er stürmischer, +und sie schlug die Arme um ihn und erwiderte seine Küsse mit +Leidenschaft. + +Aber plötzlich riß sie sich gewaltsam los, wich zurück und sah ihn mit +großen, starren Augen an. + +Er wollte sie aufs neue umarmen. Da sprang sie von der Steinplatte zur +Erde. + +Er ihr nach. Aber sie hob abwehrend die Hände: »Bitte, nicht mehr!« + +Da ließ er die Arme sinken. + +Unten in den Anlagen wurden Stimmen laut, und sie schritten +hintereinander die Anhöhe hinab. + +Als sie wieder auf der Straße waren, bot er ihr seinen Arm, aber +sie wollte ihn nicht nehmen. Es lag ihr noch immer lähmend in allen +Gliedern. So war sie vorhin erschrocken, vor ihm und vor sich selbst. + +Er erzählte von Spandau und Berlin. Sie hörte nur mit halbem Ohr hin. + +Er pfiff: »Auf in den Kampf, Torero.« Sie ärgerte sich über die kecke +Weise und faßte ihren Sonnenschirm fester. + +Als der Fußweg in den Buchenwald abbog, sagte sie kurz und +entschieden: »Ich bleibe auf der Chaussee.« + +Auf dem Bahnhof standen schon viele Menschen mit abgerissenen +Blätter- und Blütenzweigen, und die beiden schoben sich in die den +Zug erwartende Menge hinein. Als sie ein paarmal auf und ab gegangen +waren, nahm Leidchen auf einmal Hermanns Hand und sagte: »Ich danke +dir auch schön, daß du mich mal mitgenommen hast.« »Das kannst du noch +öfter haben, mein' Deern,« antwortete er, indem er ihre Hand festhielt +und mit zärtlichem Blick ihr tief in die Augen sah. »Wenn's dir recht +ist, bringen wir alle unsere freien Sonntage miteinander zu. Dann +kriegst du wenigstens etwas von der Welt zu sehen. Wollen wir das +nächste Mal mit dem Dampfschiff nach Fegebeutel?« »Bitte ja,« rief +sie mit frohen Augen, sich an seine Schulter schmiegend und zu ihm +aufblickend. + +Als der Zug einlief, schielten sie nach den Abteilen zweiter Klasse, +in deren Polster es ihnen ganz gut gefallen hatte, inzwischen wurde +die dritte besetzt, und zuletzt, unmittelbar vorm Abfahren, schob ein +bärbeißiger Schaffner sie in einen Wagen vierter Klasse, mitten in +einen schwitzenden, schmökenden, schwadronierenden Vorstadtskegelklub +hinein. Der halb ausrangierte und nur sommersonntags noch laufende +Wagen schwankte und stieß wie eine alte Postkutsche und warf die +auf engste Stehplätze Angewiesenen bald aneinander, bald gegen +wohlbeleibte Kegelbrüder. -- + +Am Abend des folgenden Tages erhielt Leidchen eine Ansichtskarte mit +dem Poststempel Worpswede. Weißstämmige Birken mit herbstlich gelbem +Laub spiegelten sich in einem dunklen Moorgraben, und darunter stand, +wie gestochen: + + + »Von einem von schönstem Wetter begünstigten Ausflug auf den Weiher + Berg sendet beste Grüße + + Otto Timmermann, Lehrer.« + + +Eine weniger federgeübte Hand hatte mit steilen und steifen +Schriftzügen hinzugefügt: + + + »Schade, daß Du nicht auch hier bist. + + Dein Bruder Gerd.« + + +Die Empfängerin dieses Kartengrußes fing wieder an zu wägen und zu +rechnen. Aber das wollte nicht mehr recht gehen. Das Blut sprach jetzt +mit. -- + + * * * * * + +Es kam die Zeit der Roggenernte. Hermann hatte diese als Vorwand +genommen, um vor dem Manöver noch schnell ein paar Tage Urlaub +herauszuschlagen, der nachts um zwölf von Sonntag auf Montag ablief. +Aber schon gegen acht war er zurückgekehrt und schritt dem Bürgerpark +zu, wo er mit Leidchen ein Stelldichein verabredet hatte. + +Sie trat ihm hastig mit der Frage entgegen: »Was haben deine Eltern +gesagt?« + +»Aber Kind,« rief er, »was ist denn das für ein Empfang? Erst gibst du +mir mal die Hand, und dann einen Kuß ... So, und nun setzen wir uns +hier auf die Bank und bereden ruhig das Weitere.« + +»Was sagen deine Eltern?« wiederholte sie, als sie sich niedergelassen +hatten. + +Er räusperte verlegen und legte den Arm um sie: »Hm, Leidchen, ich +hab's ihnen diesmal doch noch nicht sagen können.« + +»Warum nicht?« rief sie im Tone bitterer Enttäuschung. + +»Och ... mein Vater hatte gerade mal wieder seine schlimmen Tage, du +weißt ja Bescheid. Dann darf man ihm mit so wichtigen Sachen nicht +kommen.« + +»Aber deine Mutter ...« + +»Wenn der Vater das so kriegt, muß man sie auch schonen. Dann ist sie +viel zu nervös und aufgeregt.« + +»Was soll denn aber nun werden?« + +»Ob sie's acht Tage früher oder später erfahren, das kommt doch wohl +auf eins hinaus ... Ist Gerd bei dir gewesen?« + +»Ja.« + +»Und was sagt der?« + +»Ich ... ich hab's ihm auch noch nicht sagen können.« + +»Warum nicht?« + +»Ach, er hatte keine rechte Zeit ... Und er ist auch ein so eigener +Mensch, man weiß nie, wie man mit ihm dran ist ... Und er hat mir ja +auch gar nichts zu sagen! Aber mit deinen Eltern ist das was anderes. +Oh, wenn du doch bloß mit ihnen gesprochen hättest! Ich hatte mich so +fest darauf verlassen.« + +»Wirklich, bestes Kind, es ging nicht.« + +»Mir ist manchmal so bange. Ich bin ja so über alle Maßen glücklich, +daß ich dich habe, aber dann packt mich auf einmal wieder die Angst.« + +»Ach Deern, das sind bloß so Stimmungen!« + +»Diese Nacht habe ich auch erst wieder geträumt. Ich hatte mich +verirrt, mitten im großen Tennstedter Moor, wo nichts zu sehen war +als Porst und Heide und schwarze Wasserlöcher, und stickdüster war's +auch noch. Da rief ich nach dir, laut und immer lauter, aber es kam +keine Antwort. Nur ein Heister flog über mir weg, und es klang gerade +so, als ob er mich auslachte. Davon wachte ich auf.« + +»Uh, Deern, du könntest einen ja beinahe gruseln machen.« + +»Wenn du doch bloß mit deinen Eltern gesprochen hättest! ... Hermann, +sag mir mal ehrlich und aufrichtig: glaubst du wirklich, daß sie mich +wollen, daß sie uns nichts in den Weg legen?« + +»Leidchen, ich will ganz offen mit dir darüber sprechen. Ich hab' +mich diese letzten Jahre mit Vater nicht gut gestanden. Wenn Mutter +mir nicht immer was von ihrem Zugebrachten, wovon sie einen Teil für +sich behalten hat, zugesteckt hätte, wär's mir böse gegangen. Vor +einem Vierteljahr wußte ich noch nicht, ob ich diesen Herbst nach +Hause wollte oder mir lieber in der Fremde mein eigen Brot verdienen +sollte. Aber ich habe nun zu Hause noch wieder gesehen: es geht nicht +so weiter, sie werden ohne mich nicht länger fertig. Vater paßt nicht +ordentlich mehr auf, und auf den Gesellen ist auch kein rechter +Verlaß. Es sind wieder mehrere alte Kunden abgesprungen. Da hilft +alles nichts, ich muß hin und tüchtig zupacken, daß ich den Karren +wieder aus dem Dreck herauskriege. Und ich habe jetzt auch guten Mut +dazu. Und weißt du warum? -- Weil du mir helfen willst, Leidchen. +Sieh, damals, als wir uns hier im Bürgerpark trafen, dachte ich: das +ist 'ne lüttje nette Deern, mit der kannst du mal'n bißchen vergnügt +sein. Und heute weiß ich, daß du vielmehr als das, daß du mein guter +Engel bist, und wenn es überhaupt eine gibt, die mit meinen beiden +Alten auskommt, dann bist du das. Du hast so was Liebes und Fröhliches +in deinem Wesen, ich glaube, der böseste Mensch kann dir auf die +Dauer nicht böse sein ... Meine Mutter hat ihre hohe Herkunft nicht +vergessen können und Vater nicht immer richtig behandelt. Aber ich +glaube, wenn eine so fein sanft und still um ihn herum wäre, müßte +ganz gut mit ihm zu leben sein. Denn das mit dem Trinken kriegt er +nur zeitweise, und fast immer, wenn er mit Mutter etwas gehabt hat. +Leidchen, ich möchte glauben, es dauert nicht lange, so wickelst du +ihn um den Finger und hast meine Mutter unter dem Pantoffel ... Wenn +wir dich da nur erst hineinhaben! ...« + +»Ja, das ist es ja man gerade! ...« + +»Ja, das wird noch einen harten Kampf kosten ... Und wir müssen es +am Ende machen wie so viele, und sie zwingen. Du brauchst davor gar +nicht so zu erschrecken. Wenn zu jeder Heirat erst Väter, Mütter, +Brüder und Gevattern ihren Segen geben müßten, kämen wohl nicht ganz +viele zustande. Nein, da steh ich auf einem anderen Standpunkt. Wenn +zwei Menschen sich so lieb haben, wie wir beide uns haben, ist es eine +Sünde, wenn einer sich zwischen sie stellt, und wenn die Menschen +ihnen das nicht geben wollen, was ihnen nach dem Recht der Natur +gehört, dürfen sie sich's auch so nehmen.« + +»Aber ... du hast ja noch gar nicht ... mit deinen Eltern gesprochen.« + +»Das weiß ich schon so, freiwillig lassen sie sich doch auf nichts +ein.« + +»Hermann, wenn du mir das doch gleich im Anfang gesagt hättest, daß +dein Vater und Mutter so sind! ... Oh, hätte ich doch wenigstens mit +meinem Bruder gesprochen!« + +»Den alten Drögepeter laß man lieber aus dem Spiel. Wenn's auf den +ankäme, müßtest du barmherzige Schwester werden.« + +»Das ist nicht wahr! Er hat sogar schon einen Freiersmann für mich.« + +»So--o? Wohl seinen Schulmeister? ... Hahaha, das sieht ihm ähnlich.« + +»Dabei ist ganz und gar nichts zu lachen.« + +»Nee, gewiß nicht. Die Herren Lehrer sind heutzutage obenauf. Wo +in einem Dorf 'ne feine Deern ist, da kommt sicher einer von der +Zunft und schnappt sie weg, und wir dummen Bauernjungens haben das +Nachsehen. Leidchen, ich gratulier' dir von Herzen. Einmal eins ist +eins, zweimal zwei ist vier.« + +»Hermann ...« + +»Ich bin deinem Herrn Lehrer heute morgen noch begegnet. Er hatte sein +Gesangbuch unterm Arm und pilgerte zur Kirche. Ein bißchen käsig ist +er ja, aber sonst ganz schmuck.« + +»Hör' auf, Mensch! Oder ich steh sofort auf und gehe nach Hause.« + +»Aber, Kind, so geh doch! Wer hält dich denn? Kuck, ich hab' dich +schon losgelassen. Bist du noch nicht weg?« + +»Hermann ... Du bist ein schrecklicher Mensch ... Ich weiß wirklich +nicht mehr, was ich von dir denken soll.« + +»Denn will ich es dir sagen, mein' Deern. Ich bin rasend eifersüchtig, +ich könnte diesen Timmermann durchprügeln, bloß weil Gerd dich ihm +zugedacht hat, ich möchte ...« + +In diesem Augenblick gingen zwei Unteroffiziere vorüber, von denen der +jüngere den Gefreiten scharf ansah. Dieser erhob sich und nahm die +vorgeschriebene Haltung ein. + +Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, als schon wieder Uniformknöpfe +die Allee daher schimmerten. + +»Die Kerls haben hier herum wohl einen Kommers oder was Ähnliches,« +sagte er ärgerlich, »komm, Leidchen, wir müssen uns einen stilleren +Platz aussuchen.« + +Er war schon aufgestanden, sie erhob sich jetzt auch und sagte hastig: +»Wir haben morgen große Wäsche, ich möchte gern früher nach Hause.« + +Mit dem Fuß auf den Kies stampfend, flüsterte er leidenschaftlich, +indem die Worte sich jagten und überstürzten: »Da kann man sehn, wie +lieb du einen hast. Deinetwegen komme ich so früh zurück, und nun läßt +du mich hier mit meinem Urlaub sitzen! Gut! Komm, ich bring' dich nach +Hause, aber den Hauptweg da geh' ich nicht, ich will nicht all den +Leuteschindern in den Hals laufen, komm schnell, sonst muß ich erst +wieder stramm stehen.« + +Er legte den Arm um sie und zog die widerstrebende mit sich auf einen +Seitenweg, der von der erleuchteten Allee in das nächtliche Parkdunkel +führte. -- + +Es war den ganzen Tag schwül und drückend gewesen, und eine Stunde +vor Mitternacht brach das Gewitter, das so lange in der Luft gelegen +hatte, mit großer Gewalt los. Schnell hatte der Bürgerpark bei den +ernster werdenden Anzeichen sich seiner Besucher entleert. Als der +Regen schon in dicken Strähnen zur Erde prasselte, eilten noch zwei +Menschen mit fliegender Hast der Stadt zu. Das Mädchen hielt mit ihrem +Begleiter nur mühsam Schritt, und jedesmal, wenn die feurige Lohe vom +Himmel fuhr und die Donner krachten, zuckte sie zusammen. + + + + + 12. + + +Zum letzten Male präsentierte Gerd Rosenbrock so, wie der Herrgott ihn +geschaffen hatte, sich den Augen einer Königlichen Kommission, der ein +alter weißbärtiger General vorstand, und die Entscheidung lautete: +Ersatzreserve. + +Er war sehr froh darüber. Hätten sie ihn im ersten oder zweiten Jahre +genommen, wär's ihm recht gewesen. Aber es würde ihm hart angekommen +sein, jetzt noch den bunten Rock anzuziehen, wo manche seiner +Altersgenossen ihn schon wieder ausgezogen hatten, und andere nahe +daran waren, es zu tun. + +Die Zukunft lag nun also frei vor ihm, und er konnte Pläne machen. +Daß er bei seinem Halbbruder Jan auf keinen Fall länger als bis +nächste Ostern bleiben wollte, stand ihm seit Monaten fest. Den +alten Schlendrian, in dem hier die Wirtschaft auf der ganzen Linie +verharrte, hatte er gründlich satt. + +Bei dem Mangel an ländlichen Arbeitskräften sprach es sich bald +herum, daß Gerd sich seinem Bruder nicht wieder vermietet hatte, +und es waren Stellbesitzer genug, die ihn gern genommen hätten. Man +bot ihm einen Lohn, wie er in Brunsode noch nicht bezahlt war. Aber +er wollte sich nicht vorschnell binden. Als jedoch eines Tages ein +Mann von der anderen Seite des Kirchspiels, der als tüchtiger und +vorwärts strebender Landwirt sich weithin eines guten Rufes erfreute, +angeradelt kam und hundert Taler Lohn bot, hätte er den Mietstaler +beinahe genommen. Erst im letzten Augenblick zuckte er die schon +ausgestreckte Hand zurück und bat sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus. + +Am Sonntag darauf fiel er zwei älteren Schulkameraden in die Hände, +die vor Jahren nach Bremen gezogen und dort Industriearbeiter geworden +waren. Sie setzten ihm hart zu, es wie sie zu machen und auch +landflüchtig zu werden. Mit großer Genauigkeit rechneten sie ihm vor, +was er bei seinem Knechtslohn und bei der Länge der Arbeitstage im +Moor für die Stunde bekäme, und stellten ihren Stundenlohn, der mehr +als das Doppelte betrug, dagegen. Das blieb nicht ohne Eindruck auf +Gerd; einen tieferen machte es aber noch, als sie ihm schilderten, +was alles in den Vereinen und Gewerkschaften für die Fortbildung +des Arbeiterstandes geschähe, durch reichhaltige Bibliotheken, +Vorträge, Diskussionsabende und dergleichen. Daß sie sich unumwunden +zur Sozialdemokratie bekannten, wunderte Gerd nicht wenig. Er hatte +bislang geglaubt, wenn einer zu dieser Partei gehöre, hielte er das +sorgfältig verborgen wie eine Sache, deren er sich im Grunde schämte. +Diese aber waren stolz auf ihre Zugehörigkeit zur »Umsturzpartei« +und sprachen hoffnungsvoll und begeistert von einer neuen herrlichen +Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, die an Stelle der alten +verrotteten und überlebten treten und so etwas wie den Himmel auf die +Erde bringen würde. Gerd versuchte natürlich, ihnen Opposition zu +machen und sie eines besseren zu belehren. Aber da kam er schön an. +Die beiden waren ihm an Mundfertigkeit sowohl wie an Sachkunde weit +überlegen und drängten ihn Schritt um Schritt zurück, so daß er ihnen +zuletzt unter anderem halbwegs zugeben mußte, es ginge am Ende auch +ohne einen Kaiser und König. Gerd erinnerte sich nicht, daß jene in +der Schule, die sie vier oder fünf Jahre vor ihm verlassen hatten, +sich irgendwie hervorgetan hätten. Die ihm so peinlich fühlbare +Überlegenheit mußte also die Stadt ihnen gegeben haben. + +Ja, wie wär's denn, wenn auch er dem Moor den Rücken kehrte und in die +Stadt ginge, wie jene und wie so viele aus den Moordörfern? + +Was bot ihm denn sein Dorf? + +Mit dem Jungvolk hatte er nur noch wenig Verbindung. Dessen Art und +Interessen paßten ihm ebensowenig wie jenem die seinen. + +Die Männer quälten sich nach alter Weise so durch und waren froh, +wenn sie ihre Zinsen bezahlen konnten. Einige riefen im Kriegerverein +hurra, andere redeten im Klub »Junghannover« vom Recht, die meisten +kümmerten sich um nichts, was nicht unmittelbar mit Moor und Torf, +Kälbern und Schweinen zusammenhing. Einige Alte waren auch noch da, +die in jungen Jahren von Ludwig Harms einen Stoß bekommen hatten. Das +waren ganze Männer, vor denen man Respekt haben mußte, aber die Art +war im Aussterben. Das sah man an ihren Söhnen, die meist schon wieder +ganz anders waren, mochten sie äußerlich die Sitten ihrer Väter auch +noch aufrecht halten. + +Blieb also eigentlich niemand als der Lehrer. Aber wie leicht konnte +der sich versetzen lassen! Er hatte schon öfter davon gesprochen. Und +wenn man sich auch ganz nett mit ihm verstand, eine Kluft zwischen +Schulmann und Bauernknecht blieb natürlich doch bestehen. Und gerade +der Verkehr mit jenem brachte ihm oft unangenehm zum Bewußtsein, wie +sehr er bereits dem Durchschnitt seiner Dorfgenossen entfremdet war. + +So überlegte er in bitterer Stimmung, die leicht ungerecht macht, hin +und her, und mehrmals faßte er den Entschluß, in Bremen Arbeit und +Anschluß an strebsame Menschen zu suchen und zu sehen, was noch aus +ihm werden könnte. Aber dann wurde er doch immer wieder wankelmütig +und wußte nirgends recht mit sich hin. + +So wurde es wieder Sonntag, und am Abend stakte er sein Schiff mit +Erstlingstorf die Hamme hinunter. Den Tag über war es sehr schwül +gewesen, und der Abend hatte die ersehnte Abkühlung nicht gebracht. + +Gegen elf wurde drüben die Stadt von grellem, schwefelgelbem Feuer +sekundenlang überlichtet. Der einsame Schiffer sah sämtliche Blitze +zur Erde fahren und die Türme umzucken, und dachte mit Schrecken an +den Schaden, den sie etwa anrichten mochten. + +Das Gewitter kam schnell herüber. Bald rollten die Donner über dem +Hammetal, und immer hastiger folgte das Krachen dem Leuchten. + +Als Gerd zwischen beiden nicht mehr bis sechs zählen konnte, machte er +das Schiff am Ufer fest und legte sich vorn in die Koje. So ließ er +das Unwetter über sich hinwegrasen. Im Schilf heulte und pfiff der +Sturm, der Regen prasselte auf das Verdeck, die Vorderkette ächzte und +jankte, wild bewegte Wellen warfen das Schiff hin und her, durch eine +Ritze am Deckel lohte grelles Licht in den engen Kasten, dessen Wände +unter der Gewalt des Donners erbebten. + +Als er endlich seinen Zufluchtsort verlassen konnte, war die Luft +wunderbar erfrischt. Am Himmel tinkelten die Sterne, der wieder +beruhigte Fluß zog seine schimmernde Bahn durch das weite Wiesental. + +Da dachte er von ungefähr an das, was ihn die ganze Woche beschäftigt +hatte. Und plötzlich, wie vom hellsten aller Blitze erleuchtet, lag +sein Weg klar vor ihm. Er hatte auf einmal ein unmittelbares Gefühl +für die in seinem innersten Wesen begründete Richtung seines Lebens, +und dies Gefühl sagte ihm, daß er nirgends anders hingehörte als aufs +Land und in das Moor seiner Väter. + +In der Stadt sich recht einzuleben, das hatte er plötzlich mit größter +Deutlichkeit erkannt, war er zu schwerfällig und auch wohl schon zu +alt. Als ungelernter Arbeiter würde er es dort nie zu etwas Rechtem +bringen und wohl zeitlebens ein Mitläufer bleiben. Auf dem Lande +dagegen konnte er ein Eigener werden, und war vielleicht schon auf dem +Wege dazu. + +Aber freilich, dann mußte er es bald zu etwas Eigenem bringen. Die +eigene Scholle macht erst den Mann. + +Ob er versuchen sollte, irgendwo auf einer Moorstelle einzuheiraten? +Er kam ja nicht mit leeren Händen. Die 700 Taler, die er teils von der +Mutter geerbt, teils mit seinen Händen verdient und durch Sparsamkeit +zusammengehalten hatte, waren auf den hypothekarisch stark belasteten +Kolonaten -- und das waren die meisten -- gute Freiwerber. + +Aber die in Frage kommenden Erbtöchter von Brunsode und Umgegend +paßten ihm die eine so wenig wie die andere. Eine entstammte einer +schwindsüchtigen Familie, die zweite war ihm zu wild, eine dritte, zu +der er sich am Ende wohl hätte entschließen können, stand gerade im +Begriff, sich anderweitig zu verloben. + +Also damit war es nichts. Es blieb nichts übrig, als eine zum Verkauf +stehende Stelle zu suchen. Und dann eine passende Frau dazu. Oder erst +die Frau, und dann, je nach dem was sie mitbrachte, die Stelle? ... +Nein, lieber erst die Stelle. Das war solider. Es gab mehr Mädchen, +die Lust zum Heiraten hatten, als Stellen, die zu kaufen waren. + +In der Brunsoder Hauptreihe war nichts zu machen. Hier befand sich +aller Besitz in festen Händen, und Stelle Nr. 7, die wahrscheinlich im +Spätherbst unter den Hammer kam, wurde sicher zu hoch hinaufgetrieben. + +Aber am Achterdamm, hm ... + +Im Abstand von einem guten Kilometer lief mit der Brunsoder Hauptreihe +der sogenannte Achterdamm parallel, an dem eine kleine Siedlung von +acht Feuerstellen unter dem Namen Neu-Brunsode entstanden war. Die +einzelnen Anwesen, die je fünfzehn bis zwanzig Morgen umfaßten, waren +früher einmal von den Brunsoder Hauptstellen abgetrennt und an jüngere +Söhne vergeben, oder auch, wenn das Geld gerade knapp war, verkauft +worden. Hier war etwas zu haben, nämlich Nr. 1 +a+, einst von +Nr. 1, der Mühlenstelle, genommen. Das kleine Besitztum hatte vor +einigen Monaten der Kaufmann Nolte in Grünmoor, um seine Hypothek zu +retten, im Zwangsverkauf erwerben müssen, und der war es gewiß gern +bald wieder los. Übermäßig teuer konnte der Besitz nicht werden, da +der Vorbesitzer, ein fauler Strick und Trunkenbold, ihn arg hatte +verlottern lassen. Mit Fleiß und Tüchtigkeit war aus der achtzehn +Morgen großen Stelle aber wohl etwas zu machen. + +Als Haussohn der Hauptreihe hatte Gerd bislang für den Achterdamm eine +gewisse Geringschätzung gehabt. Denn die Achterdammschen, wie sie im +alten Dorf hießen, oder Neu-Brunsoder, wie sie sich selbst nannten, +galten den Alteingesessenen als kleine Leute, die man zum Unterschied +von den Stellbesitzern nur als Anbauer bezeichnete. Aber ihm schien es +jetzt: lieber Anbauer und eigener Herr am Achterdamm, als Knecht oder +Häusling in der Hauptreihe, und so beschloß er denn, sich nach dem +Preise des kleinen Anwesens zu erkundigen. + +Ja, aber dann die Frau ... Er war jetzt dreiundzwanzig. Hm, ja, wohl +noch ein bißchen jung. Aber du liebe Zeit, wenn andere schon mit +achtzehn heirateten! ... + +Er machte sich also in Gedanken auf die Freite, gleich im ersten +Nachbarhause beginnend. Bei Rotermunds diente nämlich eine Anna Siems, +die er jeden Tag haben konnte. Sie hatte ihm schon manchen verliebten +Blick zugeworfen und war ja auch so weit ganz glatt. Aber sie besaß +wohl nicht mehr, als was sie auf dem Leibe trug. Das war also nichts. + +So setzte er seine Suche die Dorfreihe hinunter fort. Mädchen saßen +da mehr als genug, die nach einem Mann ausschauten, Haustöchter wie +Dienstmägde. Aber bei der einen fehlte dies, bei der andern das. Die +einen paßten ihm nicht, und bei den anderen durfte er mit Sicherheit +auf einen Korb rechnen. + +So war er fast bis ans Ende des Dorfes gekommen, als er in Nr. 4 den +ersten ernstlichen Aufenthalt nahm. Bei Jan Wiechels diente seit +Ostern vorm Jahr eine Becka Wischhusen aus Webersdorf von der Südseite +des Kirchspiels. Man hörte nicht viel von ihr und sah sie nicht oft. +Aber das war am Ende gerade gut. Im Juni hatte sie auf den Hammewiesen +nicht weit von ihm geheut, und da war ihm aufgefallen, daß sie die +Arbeit ordentlich anzupacken verstand. Ihr Lachen hatte zuweilen +frisch und hell zu ihm herübergeklungen und ihn an die lustigsten +Arbeitstage mit Leidchen erinnert. Es fiel ihm jetzt auch wieder ein, +daß ihm damals für einen flüchtigen Augenblick der Gedanke gekommen +war, ungefähr von solcher Art müßte die sein, die er einmal zur Frau +nehmen möchte. Wenn er sie ab und an auf dem Wege zur Kirche gesehen +hatte, war sie ihm stets als ein stilles, sinniges Mädchen erschienen. + +Unter all diesen Erwägungen, die bei seiner bedächtig langsamen und +gründlichen Art eine gute Zeit in Anspruch nahmen, war das Schiff vor +seinem Schieberuder her ruhig und gleichmäßig vorangeglitten, und +er wunderte sich beinahe, als es auf einmal in den Bremer Torfhafen +einlief. + +Vorerst galt es, an die Abwicklung des Geschäfts zu denken. Aber er +war dabei, noch immer mit seinen eigenen Angelegenheiten innerlich +beschäftigt, so zerstreut, daß die Ladung um eine Mark zu billig +wegging, was ihn diesmal aber nicht sonderlich betrübte. + +Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, seine Schwester heute zu +besuchen. Aber jetzt empfand er auf einmal das Verlangen, ein halbes +Stündchen mit ihr zu plaudern, und machte sich auf den Weg. + +Seine Gedanken kehrten zu Becka Wischhusen zurück. + +Ob sie auch wohl schon etwas hinter sich gebracht hatte? Wenn sie +zur rechten Zeit angefangen hatte zu sparen, konnte sie jetzt an +die hundertundfünfzig Taler haben, und allerhand Leinenzeug dazu. +Das machte mit seinem Sparkassenguthaben etwa achthundertundfünfzig +Taler. Rechnete man davon gut dreihundert auf die Aussteuer und die +ersten Anschaffungen an landwirtschaftlichem Gerät und Vieh, so +blieben fünfhundert als Anzahlung an den Kaufmann Nolte. Damit war +dessen Hypothekenforderung mehr als gedeckt, und das übrige ließ die +Sparkasse gewiß gern stehen, zumal einem so sicheren Käufer, der sich +ihr schon in jungen Jahren als eifriger Sparer ausgewiesen hatte. + +Ja, die Rechnung klappte und alles war gut -- wenn sie nur wollte. + +Aber warum sollte sie nicht wollen? Siebenhundert Taler und ... + +»Dreimal täglich frische Milch« lasen seine Augen über Marwedes +Milchgeschäft, und eine Kundin, die aus dem Hause kam, ließ ihm die +Tür gleich offen. + +Frau Marwede sah ihn hinter ihrem Ladentisch weg etwas verwundert +an und sagte, nicht eben unfreundlich, aber doch mit einem leisen +Vorwurf: »Lassen Sie sich auch schon mal wieder sehen?« + +»Ich ... ich habe was Wichtiges mit Leidchen zu besprechen,« +antwortete er mit einiger Verlegenheit. »Wenn es paßt ... sonst ...« + +»Gehen Sie da nur in die Stube hinein. Ich schicke Ihnen Ihre +Schwester, sie hilft mit bei der großen Wäsche. Allzulange dauert es +ja wohl nicht?« + +»Nein, Frau Marwede, in zehn Minuten kann ich fertig sein, oder auch +schon in fünf, wenn's sein muß.« + +Gerd trat in die ihm angewiesene Stube und setzte sich wartend auf +einen Stuhl unweit der Tür. Sollte er sie ins Vertrauen ziehen? Dafür +war die Sache eigentlich noch kaum weit genug gediehen. Aber so leise +Andeutungen konnten am Ende doch nichts schaden. Sie war ja seine +Schwester, mit der er noch immer alles geteilt hatte. Was sie wohl für +Augen machte ... + +Leidchen erschien in der Tür. + +»Deern,« rief er verwundert, »du hast ja'n Kopf, als ob du eben aus +dem Backofen gezogen wärest.« + +Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht: »In der Waschküche ist's +so schrecklich heiß, und dann der Qualm ...« + +»Ja,« sagte er, »bei uns zu Hause waschen sie im Sommer draußen, das +ist viel gesunder. Wie geht's dir denn sonst noch?« + +»Gut. Mir fehlt nichts.« + +»Diese Nacht war ein schreckliches Gewitter. Aber da lagst du wohl +schon im Bett. Weißt du, ob's in der Stadt Schaden getan hat?« + +»Ich habe nichts davon gehört.« + +Er saß ein wenig vornübergebeugt, den Blick schräg auf den bunten +Linoleumteppich gerichtet. Um seine Züge schien ein leises Lächeln zu +spielen. + +Sie atmete heimlich auf und sagte: »Frau Marwede hat mich gerufen, du +hättest was mit mir zu besprechen. Zu doch! Ich hab' nicht lange Zeit.« + +»Na na, für so'n Fräulein, das beinahe schlicht um schlicht dient, +wird wohl mal 'ne Viertelstunde übrig sein ... Leidchen, ich wollte +dir erzählen, daß ich mir wahrscheinlich was kaufen will ... eine +Anbauerstelle ... Nr. 1 +a+ am Achterdamm ... Das Land ist früher +mal von der Mühlstelle genommen ... weißt du, das kleine nette Haus, +das erste vom Kirchdamm aus, das Jan Tunkenburg gehabt und versoffen +hat.« + +»Mensch, wie kommst du auf einmal auf so was?« + +»Oh ... Soldat brauch' ich nicht zu werden, und das Knechtspielen hab' +ich satt. Ich bin alt genug und will die Füße unter meinen eigenen +Tisch stecken.« + +»Aber Junge, hast du denn schon eine Braut?« + +»Das ist man eben der Haken dabei. Die muß ich mir denn wohl bei +kleinem anschaffen ... Leidchen, du kennst die Deerns ja besser als +ich. Weißt du keine, die für mich paßt?« + +»Hm, Junge, du bist ein apartiger Mensch ... Das ist nicht so leicht.« + +»Na, man pflegt wohl zu sagen: ›Es ist kein Pott so schief, daß nicht +ein Deckel drauf paßt.‹« + +»Hm, muß mal überlegen ... In unserm Spinnkoppel? ... Nee, da ist +keine zwischen ... Minna Entelmann? ... Ach nee, das ist auch nicht +die rechte ... Aber Beta Kahrs? Ja, Junge, die hol' dir! Da tust du +einen guten Griff.« + +Er blickte sie lächelnd und kopfschüttelnd an: »Deern, Deern, du bist +doch noch immer die alte. Die kriegt ja über tausend Taler.« + +»Ist das so'n großer Fehler?« + +»Närrische Deern du!« + +»Gerd, ich will dir mal was sagen. Du bist ein guter Junge, und auch +ein fixer, tüchtiger Kerl. Aber einen großen Fehler hast du. Du bist +viel zu bescheiden, du hast kein rechtes Zutrauen zu dir. Ich sollte +an deiner Stelle sein! Das feinste und reichste Mädchen der ganzen +Gemeinde suchte ich mir aus, das heißt, wenn ich sie wirklich gern +leiden möchte, und es müßte wunderlich zugehen, wenn ich sie nicht +herumkriegte. Und wenn ihre Eltern und ihre ganze Freundschaft sich +auf den Kopf stellten! In einer Kate am Achterdamm wollt' ich mich +gewiß auch nicht verkriechen ...« + +»Deern, was red'st du da nun wieder für dummes Zeug!« + +»Junge, man muß mal was riskieren im Leben! Wer nichts wagt, nichts +gewinnt. Meta Stelljes, die früher meine Freundin war, hat mal in +der Lotterie gespielt. Eine Mark hat sie bloß eingesetzt und zwanzig +gewonnen.« + +»Da hat sie Schlump gehabt. Mehrstenteils geht der Einsatz flöten, und +über den Gewinn lachen sich andere Leute ins Fäustchen. Nee Leidchen, +in diesem Stück bin ich anders als du. Nicht so fürs Weitläufige +und Flutterige, das wunder nach was aussieht, und nachher steckt +nichts dahinter. Ich bin fürs Sichere und Solide, fürs Reelle und +Ordentliche. Das gibt denn keine großen Überraschungen, aber der +Mensch führt sich dabei auch nicht selber an. Sieh, Leidchen, das sind +so meine Grundsätze, und mit ihnen bin ich so weit gekommen, daß ich +mir schon bald was Eigenes kaufen kann. Das soll mir erst mal einer +nachmachen, so jung wie ich noch bin. Nr. 1 +a+ ist mein, wenn +die Braut auch nur anderthalbhundert Taler zubringt ... Und die wird +sie ja wohl haben.« + +»Wer? Hast du schon eine auf dem Kieker?« + +Er lächelte geheimnisvoll und nickte. + +»Welche soll's denn sein?« forschte sie. + +»Hm, ich kann dir das eigentlich noch nicht verraten. Die Sache ist +noch nicht ganz so weit.« + +»Ach was, ich bin doch deine Schwester. Zu! Ganz leise, ins Ohr, ich +sag's gewiß keinem wieder.« + +Sie näherte ihr Ohr seinem Munde, er schob sie aber sanft zurück und +fragte: »Kennst du Becka Wischhusen?« + +»Die bei Jan Wiechels dient?« + +»Ja, kennst du die?« + +»Och ja. Sie ist zwei Jahr vor mir aus der Schule gekommen und +aus Webersdorf gebürtig. Sie hat eine Zwillingsschwester, Sine; +wer die beiden nicht ganz genau kennt, kann sie überhaupt nicht +unterscheiden.« + +»So? Das wußte ich noch gar nicht mal. Na, was meinst du zu der Deern?« + +»Och ... ich weiß nicht recht.« + +»Ist sie kein nettes Mädchen? Weißt du was Schlechtes über sie?« + +»Das nicht ... Ihr Vater macht Holzschuhe ...« + +»Das will nichts schaden ... Deern, Deern, was hast du für Grappen! +Wird höchste Zeit, daß du wieder aufs Land kommst, ehe sie dir hier in +der Stadt den Kopf ganz verdrehen. Ich muß mich wirklich wundern.« + +»... Gerd, hast du Becka schon was gesagt?« + +»Nee. Es ist mir diese Nacht erst eingefallen, daß sie wohl die +richtige sein könnte.« + +»Denn will ich dir einen guten Rat geben, Gerd. Überleg' dir die Sache +erst noch mal ganz gründlich! Manchmal meint man, man mag einen, und +nachher mag man ihn doch nicht. Freierei ist kein Pferdehandel.« + +»Das weiß ich selbst.« + +»So was darf nicht übers Knie gebrochen werden.« + +»Daran denk ich auch nicht. Wir brauchen ja nicht morgen Hochzeit zu +halten.« + +»Und dann vergiß nicht, daß unser Vater 'ne ganze Stelle gehabt hat, +und daß wir von einem großen Geesthof stammen. Der Mensch ist seiner +Familie auch was schuldig ... Gerd, wenn du dir bloß Zeit nehmen +wolltest, ich glaube, du findest wohl noch was Besseres.« + +»Du dumme Deern! Nun hör' aber auf mit deinem unklugen Schnack! In +solche Sache laß ich mir von keinem hineinreden, und von dir am +allerwenigsten. Ich dachte, du solltest dich mit mir freuen, und +deshalb bin ich bloß gekommen. Und nun kommst du mir so und willst +mich zweifelmütig machen. Aber warum halt' ich Schafskopf auch nicht +meinen Mund? So was muß einer ganz mit sich allein abmachen.« + +»Ganz meine Meinung!« rief Leidchen, in die Hände klatschend und +lebhaft zustimmend. »Nimm, wen du willst; ich sag' keinen Ton mehr +dagegen. Aber wenn ich mir nun mal einen aussuch', wie er mir nach der +Mütze ist, dann sollst du mir auch nicht dazwischen kommen. Willst du +mir das versprechen?« + +»Hm ... der Fall liegt ein bißchen anders ...« + +»Ganz und gar nicht! Was dem einen recht ist, das ist dem anderen +billig.« + +»Nee, Mannsleute und Frauensleute, das ist nicht ganz dasselbe ... +Aber, na ja, du wirst ja wohl vernünftig und vorsichtig sein.« + +Sie klopfte ihm die Schulter, streichelte seine Backen und sagte: +»Kuck mal an! Endlich bist du zu der Einsicht gekommen, daß ich keinen +Vormund mehr brauche. Es wurde aber auch höchste Zeit.« + +»Na na, nun man sinnig,« brummte er, ihre Zärtlichkeiten, die ihn +nicht gerade angenehm berührten, abwehrend. + +»Wenn du erst am Achterdamm wohnst,« nahm sie wieder das Wort, »bist +du ja auch Nachbar der Mühle ...« + +»Das ist's, was mir am wenigsten bei der Sache gefällt,« entgegnete er +stirnrunzelnd. + +»Oh, ich denk', ihr werdet noch mal gute Nachbarn ..« + +»Darauf leg' ich ganz und gar keinen Wert. Wir sind ja auch nur +Landnachbarn, die Häuser liegen eine Viertelstunde auseinander, und +ein gut Stück Hochmoor ist zwischen uns. Da kann man sich leicht aus +dem Wege gehen ... Aber ich hör' draußen die Marwedesche, wie sie +aufstampft. Das gilt mir. Adjüs, Leidchen, und halt' dich munter!« + +Er gab ihr schnell die Hand und ging. »Nichts für ungut, wenn's +ein paar Minuten länger gedauert hat,« rief er, am Laden +vorüberschreitend, Frau Marwede zu, die gerade ein Pfund Käse abwog +und an ihrem Kunden vorbei ihm einen strafenden Blick nachsandte. + +Als er draußen war, biß er sich auf die Unterlippe. Es ärgerte ihn, +daß er die Schwester ins Vertrauen gezogen hatte. Ihre Bedenken und +Einwürfe hatten doch tieferen Eindruck auf ihn gemacht, als er vor +sich selber wahr haben wollte, und es währte eine ganze Weile, bis +er sie überwunden hatte. Erst auf dem Leinpfad neben dem Bürgerpark +schreitend und das auf dem Torfkanal laufende Schiff vor sich her +schiebend, war er endlich so weit, daß er die Zähne aufeinander beißen +und zwischen ihnen hindurch murmeln konnte: »Es bleibt dabei!« + +Als er mit seiner Sache im reinen war, fiel ihm auf einmal +nachträglich auf, daß Leidchen doch heute ein ganz wunderlich Wesen an +den Tag gelegt hatte. Sie hatte so keck und dreist hingeredet, wie es +sonst eigentlich ihre Art nicht war. Aber wenn Mädchen vom Heiraten +hören, dachte er, werden sie alle zappelig. Er machte sich Vorwürfe, +daß er mit keinem Wort die Rede auf seine Gedanken und Hoffnungen für +ihre Zukunft gebracht hatte. Heut' hatte er eben nur an sich selbst +gedacht. + + + + + 13. + + +Gerd schlief wie ein Bär, und als er am anderen Morgen im Bett, +nachdem er ins Frührot geblinzelt, in sich selbst hineinsah, hatte die +Sache ihr Gesicht ganz und gar nicht verändert. + +Der Tag wurde ihm sehr lang. In Gedanken arbeitete er schon immer auf +eigenem Grund und Boden und setzte sich mit Becka zu Tisch in Haus 1 ++a+ am Achterdamm. + +Endlich war Feierabend, und er machte sich auf den schicksalsschweren +Weg, Holzschuhe an den Füßen, Pfeife im Munde, Hände in den +Hosentaschen, mit schläfrigen, wiegenden Schritten -- alles, um keinen +Verdacht zu erwecken. Die Tage wurden bereits merklich kürzer. Gegen +acht war es auf dem an den Häusern hinlaufenden umwachsenen Fußpfad +schon recht dämmerig, wo Tannen ihn säumten, fast dunkel. Zuweilen +fragte ihn jemand: »Wo willst du hin?« oder: »Wo soll's denn so +spät noch auf zu gehen?« Dann antwortete er leichthin: »Oh ... mal +eben unten ins Dorf.« Auf Klöhnschnack, wie er sich nach Feierabend +gern anspinnen will, ließ er sich nicht ein. Denn es war keine +Viertelstunde zu verlieren, da um diese Jahreszeit auf Feierabend +Bettgehen gar bald zu folgen pflegt. + +Als er, auf schmaler Eichenbohle den Grenzgraben überschreitend, +die Gerechtsame von Jan Wiechels betrat, klopfte ihm das Herz, er +warf aber, obgleich der Pfad dicht unter den Fenstern des Hauses hin +führte, keinen Blick zur Seite. Erst als er die hundert Meter der +Gehöftsbreite fast abgeschritten hatte, wandte er sich langsam und +wie zufällig herum, und als ein schneller Blick ihn überzeugt, daß +kein Auge auf ihn gerichtet war, trat er hastig einige Schritte vom +Fußpfad abseits in die Lücke eines geschorenen Tannendickichts, das +quadratisch um den Komposthaufen angepflanzt war. Von hier aus, wo er +sich vor unerwünschter Entdeckung sicher fühlte, faßte er die Ausgänge +des Hauses ins Auge wie der Kater ein paar benachbarte Mauselöcher. + +Wenn doch ein freundliches Geschick es fügen wollte, daß sie noch +einige Küchenabfälle zum Komposthaufen tragen müßte! Er spähte durch +die Dämmerung, als ob er sie hergucken könnte. Er sog an seiner +Pfeife, wie wenn er Hoffnung haben dürfte, sie herzusaugen. Er gab +einer Fledermaus, die zwischen Tannengebüsch und Dielentor immer hin +und her flog, Botschaft mit, aber das graue Tierchen wollte nicht +sein Liebesbote sein. Es half ihm alles nichts, er bekam diesen Abend +niemand anders zu sehen als Wiechels Opa, der vorm Zubettgehen nach +seiner Gewohnheit noch eben mal vor die Türe trat. Nach einer halben +Stunde gab er das Warten als für heute zwecklos auf und trat ein wenig +enttäuscht den Rückweg an. Er tröstete sich aber mit dem Gedanken, man +könne unmöglich verlangen, daß eine so große Sache gleich auf Anhieb +gelänge. + +Am nächsten Abend machte er sicherheitshalber den Umweg über den +Fahrdamm und gewann seinen Beobachtungsposten von Stelle Nr. 3 aus. +Er hatte noch keine Viertelstunde gestanden, als die Erwartete vom +Hause über den Hof in die Scheune huschte. Aber ehe er sich das +Herz faßte, vorzutreten, um sie abzufangen, war sie schon wieder im +Wohnhause verschwunden. »Eine vermuckt gralle Deern, mächtig flink +auf den Patten,« stellte er bei sich fest, halb ärgerlich, aber +auch nicht ohne Wohlgefallen. Gleich darauf wurde ein Kammerfenster +zugezogen, und dabei ließ sich für zwei Sekunden ein kurzer runder Arm +sehen. Sollte er hingehen und anklopfen? ... Nein, lieber nicht. Das +konnte sie vor den Kopf stoßen und seine Absichten in ein falsches +Licht rücken. Mit dem Ergebnis dieses zweiten Abends im Grunde nicht +unzufrieden, schlenderte er mit frisch angesteckter Pfeife heimwärts. + +Am dritten Abend fand seine Beharrlichkeit ihren Lohn. Er hatte noch +keine fünf Minuten gestanden, da kam sie mit einem Korb am Arm aus dem +Hause und schritt feierabendgemächlich dem Damm zu. + +Schnell eilte er auf Stelle Nr. 5 hinüber, folgte dem Fußweg, der von +hier zum Damm führte, und wußte sich so einzurichten, daß er gerade an +der Hofbrücke mit ihr zusammentraf. + +»Na, Becka, noch'n bißchen einkaufen?« + +»Muß wohl ... Ach sieh, das bist du ja, Gerd.« + +»Ich hab' zufällig denselben Weg wie du.« + +»Das paßt schön. Denn komm man her.« + +Er ging schweigend neben ihr und kaute auf dem Mundstück seiner Pfeife. + +»Wo willst du denn heut' abend noch auf zu?« fragte sie nach einer +Weile. + +»Oh,« sagte er gedehnt, »mir geht diese Tage allerhand im Kopf rundum. +Ich hab' so halberlei vor, mir eine Stelle zu kaufen ... Nr. 1 ++a+, am Achterdamm.« + +»Du kannst wohl lachen, wenn du das schon machen kannst.« + +»Hm ... So ungefähr zweihundert Taler fehlen mir noch ...« + +»Na, die wird die Sparkasse sacht hergeben.« + +»Das wohl. Aber gleich mit zu schweren Lasten anzufangen, ist nicht +recht nach meinem Sinn.« + +»Dann mußt du am Ende noch ein paar Jahr warten.« + +»Ja, das sagst du wohl. Aber dann ist die Stelle sicher weg; Nolte +will schnell verkaufen, hab' ich gehört. Und wer weiß, ob sich so +leicht was Passendes wieder findet ... Becka, du hast gewiß auch schon +allerlei auf der hohen Kante?« + +»Hm ja ...« + +»So'n hundert Taler? ...« + +»Ha, das wär schlimm! Ich krieg nächstes Jahr die zweihundert voll.« + +»Mensch! Deern! Das ist ja wohl nicht möglich!« + +»Warum nicht? Heutzutage bei den hohen Löhnen und wenn einer zur +rechten Zeit mit Sparen anfängt?« + +»Das hätt' ich nicht gedacht, daß es noch solche Mädchen gäbe ... Hm, +Becka, was meinst du ... wenn wir unsere Groschens zusammenschmissen? +...« + +»Hihi, dann hätten wir'n schönes Bißchen auf dem Klump.« + +»Deern, woll'n wir? Hast du Lust?« + +Er war stehengeblieben und griff nach ihrer Hand. Aber sie entzog ihm +diese und sah ihn erschrocken an: »Ach so--o ... so meinst du's ...« + +»Ja, schon drei Abende hab' ich bei den Tannen auf dich gelauert ...« + +»Mensch ... ich kann nicht begreifen ... ich weiß nicht ... Wenn ich +nun aber so halberlei schon einen hätte?« + +»Was? 'n Bräutigam?« + +»Ja.« + +»Davon hat man doch nichts gehört!« + +»Alles braucht man den Leuten auch nicht auf die Zähne zu hängen.« + +»Becka, ich weiß nicht ... Du machst doch wohl nur Spaß ... Ist das +wirklich wahr? Du nickst ... Das wär' doch rein zu doll ... Ist da +denn gar nichts mehr an zu machen ... ich meine, kannst du dir das +nicht noch anders überlegen?« + +»Abers Menschenkind! Wir sind doch richtig versprochen und wollen nur +mit der Hochzeit noch ein paar Jahr warten, bis wir mal was pachten +oder kaufen können.« + +»Wenn ich davon doch bloß eine Ahnung gehabt hätte! Adjüs, Becka, und +nichts für ungut.« + +Er wandte sich hastig zum Gehen. Aber noch keine zwanzig Schritt hatte +er gemacht, als er seinen Namen rufen hörte. + +»Was soll ich?« fragte er tonlos, sich halb herumwendend. + +»Komm noch eben mal her.« + +»Hat ja keinen Zweck.« + +»Doch, doch, komm! Ich hab' mir was anderes überlegt.« + +Langsam begab er sich wieder zu ihr. Sie empfing ihn mit lachenden +Augen: »Gerd, daß mir das auch nicht gleich eingefallen ist! Du kannst +ja meine Schwester Sine nehmen.« + +»Deern, bist du nicht recht klug? Die kenn' ich ja gar nicht.« + +Sie machte ein ernsthaftes Gesicht: »Wenn du mich leiden magst, +gefällt Sine dir ganz gewiß auch. Wir sind nämlich Zwillingsschwestern +und einander so ähnlich, daß unsere eigene Mutter Last hat, uns zu +unterscheiden. Als wir zur Konfirmandenstunde gingen, hat der Pastor +uns den ganzen Winter durcheinandergeschmissen und zuletzt noch mich +als Sine und Sine als Becka eingesegnet, und nicht mal unser Vater hat +das gemerkt. Was jetzt mein Bräutigam ist, der hat erst lange nicht +gewußt, wen von uns beiden er nehmen sollte. Zuletzt bin ich's ja denn +geworden, ich glaube mehr zufällig, und das tut mir wegen Sine leid. +Und sie ist seit der Zeit noch immer ein bißchen böse auf mich, weil +sie doch die älteste ist, weißt du, und sich immer was darauf zugute +getan hat. Aber was kann ich armes Ding dafür? In solchen Dingen ist +doch jeder sich selbst der Nächste. Wenn ich ihr nun einen guten +Bräutigam anstellen könnte, wie zum Beispiel dich, dann wäre alles +wieder gut. Junge, Gerd, das wär' fein! Was meinst du?« + +Gerd, der wieder neben ihr ging, blieb stehen. »Becka,« sagte er, »die +Sache kommt mir ganz putzwunderlich vor.« + +»Das ist sie auch,« versetzte das Mädchen mit Eifer. »Unser +Schullehrer hat mal gesagt, wir beiden könnten uns auf dem Freimarkt +als Weltwunder sehen lassen.« + +»...Sag' mal, bist du Sonntag vor acht Tagen zur Kirche gewesen?« + +»Nee, das muß Sine gewesen sein.« + +»Kuck an, dann hab' ich sie ja schon mal gesehen.« + +»Nicht wahr? Auch 'ne lüttje glatte Deern.« + +»Och ja ...« + +»Gerd, für allzu starkes Zureden in solchen Dingen bin ich gar nicht +... der Mensch muß selber wissen, was er will. Aber du solltest Sine +man nehmen.« + +»Och, Menschenskind ... das kommt mir so unverhofft...« + +»Aber du wolltest ~mich~ doch. Ob du mich kriegst oder Sine, das +ist ja alles ein Pott und ein Löffel.« + +»Das sagst du wohl ...« + +»Mit der einen bist du so wenig angeführt als mit der anderen, hahaha.« + +»... Sag' mal, ist Sine eben so 'ne lüttje vergnügte Deern wie du?« + +»~Die?~ Ha, die steckt mich noch in den Sack, wenn's drauf +ankommt!« + +»Und auch nicht fürs Wilde und Weitläufige?« + +»Hee wat! Immer vergnügt, und dabei doch sinnig und ernsthaft für sich +weg.« + +»Hm ... Die Sorte hab' ich eigentlich am liebsten.« + +»'s ist auch die beste, Gerd.« + +»Sie hat doch auch wohl etwas auf der Sparkasse?« + +»Das wollt ich meinen.« + +»Wieviel wohl ungefähr? ...« + +»Pfui, danach gleich zu fragen! Willst du sie von wegen dem Geld +heiraten?« + +»Das nicht; aber es ist gut, wenn man auch in diesem Stück gleich klar +sieht.« + +»Wart ein bißchen, ich muß hier eben in den Laden und grüne Seife +holen, wir wollen morgen waschen. Bin gleich wieder bei dir.« + +Und schon war sie in dem Hause des Hökers, das unmittelbar am Damm +lag, verschwunden. + +Im Laden wurde eine Hängelampe angezündet, und Gerd spähte zwischen +Stärkeschachteln, Seifenpyramiden und anderen Schaufensterauslagen +hinein. Schönere rote Backen, als wie der Lampenschein sie dort +beleuchtete, konnte es auf der Welt nicht geben, und lustigere Augen +erst recht nicht. Als sie, mit der Hökerfrau scherzend, lachte, lachte +ihm das Herz im Leibe mit. + +Schade, daß er da zu spät gekommen war. + +Aber wenn es noch eine genau so eine gab? Dann war die Sache am Ende +doch nicht so schlimm. Und warum sollte das nicht möglich sein? Man +hatte ja sogar von Zwillingen gehört, die zusammengewachsen waren. +Dann konnte es auch wohl welche geben, die sich so gleich waren, daß +man getrost die eine für die andere heiraten konnte. + +»Na Junge, hast du dir's überlegt?« fragte Becka munter, als sie +wieder draußen war. + +»Hm, ankucken möchte ich mir Sine wohl mal.« + +»Ist recht. Dann will ich sie einladen. Paßt es dir Sonntag über acht +Tage?« + +»Geht's nicht schon diesen Sonntag?« + +Becka schüttelte den Kopf: »Diesen Sonntag muß ich erst hin und ihr +Bescheid sagen.« + +»Das kannst du doch schriftlich abmachen.« + +»Nee, mit der Feder kann ich nicht recht mehr umgehen. Also anderen +Sonntag, nachmittags drei Uhr, treffen wir uns auf Rodenburgs Damm. +Dort im Großen Moor stört uns keiner, und ihr könnt euch in Tennstedt +bei Uhrmacher Sauerhering gleich die Ringe kaufen.« + +»Stopp, mein' Deern, so weit sind wir noch nicht ... Weißt du gewiß, +daß es mir bei Sine nicht grad so geht als bei dir ... ich meine, daß +sie nicht auch schon vergeben ist?« + +»Vor drei Wochen hatte sie noch keinen Bräutigam. Aber so was kommt +manchmal schnell.« + +»Ja, das ist wahr. Vor einer Woche dachte ich auch noch nicht an +solche Geschichten ... Wann kommst du Sonntagabend wieder?« + +»So zwischen neun und zehn Uhr. Warum?« + +»Oh ... ich werd' dir auf dem Kirchdamm aufpassen, damit ich bald zu +wissen krieg', woran ich bin. Willst du mir nicht doch sagen, wieviel +Sine auf der Sparkasse hat?« + +»Nee, du Neugier! Das kann sie dir selbst sagen.« + +Sie waren bei Wiechels' Hofbrücke angelangt. Becka gab ihm die Hand +und sagte lustig: »Gute Nacht, Schwager.« Er griff schnell zu und +kniff sie in die runde, pralle Backe: »Schade, daß ~du~ nicht +mehr zu haben bist. Dann wär' die Sache viel einfacher ... Becka, +könnt ihr beiden nicht tauschen?« + +»Nicht um tausend Taler! Und wenn du mir'n großen Geesthof +zubrächtest!« + +»Aber Deern, wo ihr beide so ganz und gar auf denselben Leisten +gearbeitet seid, ist das doch ganz egal.« + +»Wenn du noch einmal so dumm hinschnackst, sag' ich zu Sine, daß du'n +schlimmer Kerl bist. Dann nimmt sie dich auch nicht, ätsch! und du +stehst da mit'm dicken Kopf. Nun mach, daß du nach Hause kommst, und +träum von Sine!« + +Mit munteren Schritten eilte sie dem Gehöft zu. Gerd, der ihr, an das +Brückengeländer gelehnt, nachsah, schüttelte langsam den Kopf: »'ne +schnaksche Sache ... ne wunderliche Geschichte ...« Dann aber nickte +er eifrig, schlug mit der flachen Hand schallend auf seinen linken +Schenkel und murmelte vor sich hin: »Die rechte Sorte ist's ... kernig +und gesund wie das blühende Leben ... fleißig und sparsam ... vergnügt +wie ein Katheker, und doch nicht weitläufig und wild, mehr so in sich +selbst vergnügt ... justemente die richtige Sorte ...Schade, daß sie +schon versagt ist, jammerschade ... Aber ein Glück, daß es zwei von +dem Schlag gibt ... Wenn die ältere nur nicht gar zu sehr gegen die +jüngere abfällt ... wie Lea gegen Rahel! ... Na, das muß mit Ruhe und +Vertrauen abgewartet werden.« + +Er hatte sich das Geländer hinaufgeschoben, umschlang mit dem linken +Bein den Pfosten und ließ das rechte vergnüglich baumeln. + +Es war ein warmer, stiller Sommerabend, so recht moje und alle Sinne +umschmeichelnd. Die Birkenstämme blinkten im Vollmondglanz und +spiegelten sich klar und schön in der dunklen Tiefe des Grabens. +Zur Linken auf den lichtüberfluteten Wiesen mit dem schimmernden +Wassergeäder lagen aus feinstem Nebel gewobene Silberschleier. Rechts +barg sich in mondbeglänztem Busch- und Baumwerk die Dorfreihe, +verraten nur durch die Reihe der Brücken, die vom Damm hinüberführten, +und durch ein einziges Licht, dessen freundlicher Schein sich durch +das Laub hindurchstahl. Am nahen Klappstau rieselte ein Wässerchen, +funkelte wie flüssiges Gold und schwätzte lustig, weil es seinen Weg +gefunden. + +Der junge Freiersmann sah mit großen Träumeraugen um sich. Es wurde +ihm so wohl, daß er bald beide Beine baumeln ließ, in tiefem, +ruhevollem Behagen. -- + +Plötzlich hob er sich und sprang auf die Füße. Er war mit seinen +schweifenden Gedanken am Achterdamm angekommen und hatte sich schnell +entschlossen, sein künftiges Heim und Nest noch eben mal zu besuchen. + +Weit ausgreifend schritt er den Damm hinunter, um hinter der Mühle im +rechten Winkel nach links auf den Kirchdamm abzubiegen. Bald ragten +die beiden hohen Tannen, das Wahrzeichen der Stelle 1 +a+, über +den Birkenanflug des Hochmoors. Und es dauerte nicht lange, so stand +er vor dem Häuschen. Aber da kam das Gefühl einer großen Enttäuschung +über ihn. Das moosige Strohdach war von Ratten zerfressen, der Kitt +in den Fensterfüllungen abgebröckelt, eine zerbrochene Scheibe durch +eine Nummer der Hammezeitung ersetzt. Und, was ihm das unangenehmste +war, die Legen, auf denen die Fachwerkmauern ruhten, erwiesen sich +als stark angemorscht. Aber bald tröstete er sich mit dem Gedanken, +er würde das Haus um so billiger erstehen, und einige hundert Mark +könnten da gründlich Wandel schaffen. + +Drinnen, in der ausgeräumten und leidlich besenrein verlassenen, von +weichem Mondlicht angefüllten Stube gefiel es ihm gar nicht übel. +Und als er, in Ermangelung sonstiger Sitzgelegenheit, sich in die +Öffnung der künftigen Ehebutze setzte und den Raum mit Beckas, nein +Sines Aussteuer ausmöblierte, wurde es sogar ganz gemütlich. Um das +häusliche Behagen noch zu erhöhen, stopfte er sich eine frische Pfeife +und blies große, graue Wolken vor sich hin, die im Strahl des Mondes +einen silbernen Schimmer annahmen. + +So saß er eine gute Weile und vergnügte sich damit, Zukunftsbilder +zu malen, als er plötzlich aus dieser angenehmen Beschäftigung +aufschreckte und etwas wie Gespenstergrauen über seinen Rücken +kriechen fühlte, indem etwas Weiches vor seinen Schienbeinen +hinstrich. Es war aber nur ein weißes Kätzchen, das sich auf +Sammetpfötchen lautlos und unbemerkt in die Stube geschlichen hatte. + +Gerd streichelte den gekrümmten Rücken des Tieres und sagte zärtlich: +»Ist nett von dir, Musch, daß du hier einhütest. Halt das Unzeug man +ordentlich kurz, Sine soll dich später dafür tüchtig herausfüttern.« + +Musch machte kläglich Miau, als ob sie sagen wollte, das wär' noch +lange hin. + +Gerd suchte in seinen Taschen und war so glücklich, ein +Rotwurstzipfelchen vom letzten Frühstück auf dem Felde zu finden, das +er für den Hund beigesteckt hatte. + +Die Verlassene machte sich gierig darüber her, und als sie den +Leckerbissen weggeputzt hatte, fing sie behaglich an zu schnurren. +Dann ging sie der Tür zu, sich öfters umsehend, als ob sie ihn +einladen wollte, ihr zu folgen. + +»Ach so, Musch, du willst mich führen,« sagte Gerd, indem er +sich erhob. Und sie durchwanderten alle Räume des Hauses, in die +Mondeshelle und Schatten der Nacht sich geteilt hatten, wobei die +wackere Einhüterin sich treu zu ihrem künftigen Herrn hielt. + +Auf der offenen Feuerstelle lag noch die Asche vom letzten +Kaffeekochen des Vorbesitzers. Die ersten Jahre mußte Sine sich mit +ihr behelfen, später sollte sie einen Sparherd haben, der in Bremen +gewiß mal billig für alt zu kaufen war. + +Die Stallungen fanden Gerds Beifall. Es war Platz für drei Kühe, zwei +Kälber und ein halbes Dutzend Schweine. Für den Anfang genügte das, +nach einigen Jahren mußte natürlich angebaut werden. + +Er stieg die Bodenleiter hinauf. Das blausilberne Mondlicht, das durch +die Eulenlöcher der beiden Giebel einfiel, zeigte ihm einen Raum, +der einstweilen Vorrat an Heu und Stroh zur Genüge fassen konnte. Die +morschen, unsicheren Dielen bedurften freilich dringend der Erneuerung. + +Nachdem er sich alles gründlich angesehen hatte, verließ er das Haus +auf demselben Wege, auf dem er es betreten hatte. Musch sprang hinter +ihm drein. + +Nun besichtigten sie miteinander den Grundbesitz der Stelle, mit dem +Garten beginnend. Die Obstbäume erwiesen sich als alt und abgängig. +Es mußten sofort neue gepflanzt werden, und zwar Sorten, die in +der Stadt einen guten Marktwert hatten, wie Prinzenäpfel, Berliner +Reinetten und dergleichen. Das Gemüseland war zwar bestellt, aber hier +wie auch auf dem Felde zeigten sich überall die deutlichen Spuren +der Lotterwirtschaft des früheren Besitzers: die Stücke schlecht in +Düngung, Kartoffeln und Steckrüben nicht angehäufelt, das Unkraut +überall in üppigster Blüte. Gerd erboste sich über den Menschen, +der um des verfluchten Branntweins willen seiner Väter Erbe hatte +verludern lassen, und konnte es sich nicht versagen, einige gar +zu protzige Saudisteln und Nachtschatten auszureißen. Drei Jahre +angestrengter Arbeit rechnete er wenigstens, bis er die Ländereien +so in Schick haben würde, daß ein anständiger Mensch halbwegs seine +Freude daran haben könnte. + +Als er an das zur Stelle gehörige Moor- und Heideland kam, ballte +seine Hand sich zur Faust. Wüst und planlos war hier nach Torf +gestochen, so daß es aussah, als ob wilde Schweine den kostbaren +Boden umgewühlt hätten. Nichts war eingeebnet, vom Urbarmachen +der abgetorften Fläche gar nicht zu reden. Der gewissenlose Kerl, +dachte Gerd, müßte über einen Torfkarren gelegt werden und mit jungen +Birkenreisern fünfundzwanzig oder mehr hinten aufgezählt kriegen. +Übrigens waren die Torfverhältnisse sonst nicht schlecht. Der »weiße« +Torf, die lose, lockere Oberschicht unverwester Moose, war nur gering, +dagegen der »schwarze«, die dunklere, feuchte, speckige Backtorfmasse, +gut einen Meter stark und versprach ein Produkt erster Güte. + +Das Endergebnis der gesamten Besichtigung war, daß Gerd sich sagte, +er dürfte auf keinen Fall mehr als neunhundert Taler für den ganzen +Besitz zahlen. Hundert müßten sogleich aufgewendet werden, um das +Haus bewohnbar zu machen, zweihundert rechnete er für die erste +Anschaffung an lebendem und leblosem Inventar -- kurz und gut, mit +einer jungen Frau, die gesund, arbeitsfroh und sparsam war, konnte +er die Sache wagen. Er blickte von der Höhe einer Hochmoorbank über +das mondlichtüberglänzte Rechteck hin; es erschien ihm, mit Sine +Wischhusen, als aller Wünsche Ziel, und zugleich in ihrem Namen +ergriff er mit der Seele endgültig von ihm Besitz. Drüben, wo die zwei +in den Silberglanz der Mondnacht ragenden Tannen das moosige Strohdach +beschirmten, wollte er Beckas Zwillingsschwester und Ebenbild als +junges Weib umarmen, dort auf dem Felde und hier im Moorgrunde +wollten sie arbeiten im Schweiß ihres Angesichtes, und dieses Stück +Heimaterde, achtzehn Morgen groß, wollte er einst seinem ältesten +Jungen als freies Erbe hinterlassen. »Und dann,« so murmelte er, die +Zähne aufeinander beißend, mit Entschlossenheit vor sich hin, »soll es +hier anders aussehen als heute -- so wahr mir Gott helfe!« + +Musch war noch immer bei ihm, er hatte sie aber länger nicht mehr +beachtet. Jetzt brachte sie sich durch Miauen wieder in Erinnerung. +Da sah er, wie dem schnöde zurückgelassenen Tier die Rippen durch das +Fell standen, und das arme Ding tat ihm leid. »Musch,« sagte er, sie +an sich lockend und ihr den Rücken streichelnd, »hör' mal, ich nehm' +dich als Pfand mit. Sonst verhungerst du mir oder kommst auf schlechte +Wege. Nächstes Frühjahr halten wir hier zusammen unseren Einzug, mit +Sine.« + +Musch rieb sich zärtlich und vertrauensvoll an seinem Bein, und ihr +Miau klang wie Zustimmung. Da hob er sie auf und richtete ihr ein Asyl +unter seiner Jacke ein. + +Dann trat er den Rückweg an. + +Als er bald das Mühlgehöft behäbig und stattlich vor sich liegen sah, +fing er an zu vergleichen. Hermanns Erbe war mehr als dreimal so groß +wie das seine und hatte mit den großen, gut im Stande gehaltenen +Gebäuden und der Mühle mindestens den zwölffachen Wert. Da wollte +etwas wie Unzufriedenheit in ihm aufsteigen, aber schnell hatte er +sie unterdrückt. Mehr als leben konnte einer ja auch von reichstem +Gut nicht, und war es denkbar, daß jemand an einem Erbe, in das +er ohne sein Verdienst hineingeboren ward, je solche Freude hatte +wie ein anderer an dem auch noch so kleinen Besitz, den er seiner +eigenen Hände Arbeit verdankte? Nein, nein, er wollte gewiß nicht +mit Hermann tauschen. Ihm wurde so vergnügt zu Sinne, daß er anfing, +laut zu pfeifen. Als er, dem Fußpfad folgend, über Stelle Nr. 4 kam, +verlangsamte er seinen Schritt und pfiff mit Kraft und Inbrunst: Die +Liebe macht glücklich, macht selig. Er bemühte sich, dabei an Sine +zu denken. Aber die war ihm noch nicht recht gegenständlich und ja +auch ein bißchen weit weg. So hielten seine zärtlichen Gedanken sich +einstweilen mehr an die nahe, deren herzfrohes Lachen ihm noch im Ohre +klang. Es war das ja aber auch einerlei bei Zwillingsschwestern, die +zur Unterscheidung kaum etwas hatten als die verschiedenen Namen. Das +weiße Kätzchen drückte er dabei ein wenig fester an sich. + + + + + 14. + + +Gerd lag in der blühenden Heide, die den Rodenburger Damm säumte, +unter einer Birke und hinter einem Weidenbusch. Die Birke hatte +Saftfluß, und prächtige Trauermäntel waren bei ihr zu Gaste. + +Um den Hals herum war's ihm etwas eng und unbequem. Er trug nämlich +zum erstenmal in seinem Leben einen Kragen. Kaufmann Nolte hatte +gesagt, das Ding wär' von Gummi, und er könnte es beliebig oft +abwaschen und unter Umständen bis an seinen Tod damit langen. Das +Vorhemdchen hatte Leidchen ihm mal aus der goldgestickten Strickmütze +seiner Großmutter gemacht, und er hatte es heute ebenfalls zum +erstenmal vorgebunden. Es war bunt genug, weshalb er keinen Schlips +brauchte. + +Von der Beengtheit des Halses abgesehen, war ihm aber sehr wohl +zumute. Sine hatte eingewilligt, mit ihm und Becka heut einen +Spaziergang durch das Große Moor nach Tennstedt zu machen, und er sah +diesem Unternehmen mit frohen Hoffnungen und angenehmen Erwartungen +entgegen. Geld hatte er beigesteckt, um, wenn alles gut ginge, gleich +die Ringe kaufen zu können. + +Er spähte wieder einmal um den Weidenbusch den Damm hinunter und +entdeckte in der Ferne, etwa dort, wo die Schule liegen mußte, zwei +schwarze Punkte von gleicher Größe. Das konnten sie sein. + +Eine Weile sah er dem feierlichen Schweben der bunten Buttervögel zu, +und ihrem gierigen Trinken am Birkensaftquell. + +Die beiden Punkte hatten sich inzwischen vergrößert und waren bei +keiner der zahlreichen Hofbrücken abgeschwenkt. Es wurde immer +wahrscheinlicher, daß es die Erwarteten waren. + +Die Punkte schienen unten breiter als oben, es waren also Frauensleute. + +Nun hatten die beiden Frauensleute das Dorf hinter sich, und ein +Zweifel war nicht mehr möglich. + +Sie machten beide dieselben kurzen, munteren Schritte und wandten +sich alle Augenblicke nach dem Dorf um, was den Beobachter hinter dem +Weidenbusch jedesmal bannig högte und zum Schmunzeln brachte. + +Nee, aber so was! So 'ne Ähnlichkeit! Er wollte sich die Augen aus dem +Kopf gucken und konnte doch nicht erkennen, wer Becka und wer Sine +wäre. + +Als die beiden auf zwanzig Schritt herangekommen waren, sah er, daß +die eine so recht behaglich vor sich hinlachte, während die andere +etwas Unruhiges, Unsicheres in Gesicht und Auftreten hatte. Da wußte +er Bescheid. + +»Becka, wenn er nun mal nicht käme ...« + +»Ach was, Deern, den hab' ich viel zu fest in der Schlinge. Er ist +auch einer von den Ehrenfesten und Zuverlässigen.« + +»Ich glaub', bei diesem Weidenbusch warten wir man ... Uch!« + +»Den Deuker, da ist er ja!« + +»Guten Tag, Deerns. Na, habt ihr euch eingestellt? Das ist man gut.« + +Gerd, der sich langsam erhoben hatte, gab erst Becka die Hand, +dann Sine, der er dabei schnell in das von einer Blutwelle purpurn +übergossene Gesicht sah. + +»Hm.« + +»Na? Was nun?« + +»Ich denk', wir gehn weiter.« + +»Dann komm, wir nehmen dich in die Mitte. Zwischen zwei Schwestern, +das soll Glück bringen.« + +Sie setzten zu dritt die Wanderung fort. Indem einer auf den anderen +wartete, sagte keiner etwas. + +Aber lange hielt Becka dieses Schweigen nicht aus. Sie gab Gerd einen +Rippenstoß: »Zu, sag' mal was, Junge!« + +Nachdem er leise aufgeseufzt hatte, begann er: »Schön Wetter heut'. +Pepers Heini wird bei seinem Ernteball den Saal wohl tüchtig voll +haben.« + +»Was geht uns Pepers Heini sein Ernteball an?« fragte Becka kichernd. + +Gerd griff nach seinem Gummikragen und bereute, daß er ihn nicht eine +Nummer weiter genommen hatte. + +»Wir müssen zur rechten Zeit wieder zu Hause sein,« setzte er von +neuem an. »Ich muß diese Nacht noch mit dem Schiff nach der Stadt ... +der Torf ist gerade gut im Preise. Für den besten bezahlen sie ...« + +Becka warf schnell den Kopf herum und unterbrach ihn: »Wir sind nicht +gekommen, um mit dir über deinen Backtorf zu schnacken. Sag', was du +vorhast! Raus damit!« + +»Man nicht so glupsch, Deern,« stamerte er verlegen und ärgerlich. +»Immer langsam und mit Sinnen.« Dann, nach der anderen Seite gewendet: +»Sine, ich hab' so halb und halb vor, mir was zu kaufen.« + +»Das hat Becka mir schon gesagt,« versetzte sie leise. + +»Wie weit bist du mit dem Kauf?« fiel die Schwester ein. + +»Hab' die Stelle an der Hand.« + +»Nicht zu teuer?« + +»Nee, hab' heruntergehandelt bis auf den Preis, den ich mir gesetzt +hatte.« + +»Na, Kinder, dann seht bloß zu, daß ihr miteinander klar werdet.« + +»Becka,« sagte Gerd in vorwurfsvollem Tone, »ich mag dich heute gar +nicht leiden, so naseweis wie du bist.« Darauf wandte er sich nach +rechts, blieb stehen und sagte: »... Sine, was meinst du?« + +Sie stand in der Dammrichtung, die Augen züchtig gesenkt, und sagte: +»Gerd, ich kenne dich ja noch nicht ganz lange. Aber meine Schwester +hat mir soviel Gutes von dir erzählt ... ich glaub', ich kann's wohl +riskieren ...« + +»Vater und Mutter,« krähte Becka dazwischen, »sind auch einverstanden, +ich hab' sie letzten Sonntag gleich gefragt. Aber Kinder, wollt ihr +euch denn nicht die Hand geben?« + +Aus vier Augen wurden ihr böse Blicke zum Lohn, aber man tat doch nach +ihrem Rat. + +»Und ein lüttjer Kuß gehört auch dazu!« verfügte sie weiter. + +Nun wurde es Sine denn doch zuviel. Sie trat mit empörten Augen vor +die Schwester hin: »Becka! Ich will dir mal was sagen, und merk dir's: +Du hast uns beiden ganz und gar nichts zu kommandieren. Wir sind +mündig und wissen selbst, was wir zu tun und zu lassen haben. Du mußt +dir bloß nicht einbilden, daß du hier heute die Hauptperson bist.« + +Die Strafrede hätte wohl noch länger gedauert, aber Gerd fiel +sanftmütig ein: »Sine, reg' dich man nicht auf; Becka hat's ja ganz +gut gemeint ... Wir können uns auch dreist mal küssen.« + +»Nein, nun grade nicht! Was zuviel ist, das ist zuviel. Ich bin die +Älteste von uns beiden, und Becka hat das auch immer anerkannt. Bloß +von dem Augenblick an, wo sie sich verlobt hatte, bildete sie sich auf +einmal ein, sie wär' mehr als ich, und wurde frech. Aber jetzt laß ich +mir das nicht mehr gefallen. Denn was du bist, das bin ich all lange, +du!« + +»Uijeh!« rief Becka in geheucheltem Entsetzen, »da hab' ich mir schön +was eingebrockt, daß ich dir'n Bräutigam verschafft habe. Nun kann ich +mich wieder unter dich ducken. Na, lüttje Schwester, sei man still, +ich tu's ganz gern. Soll ich 'n bißchen zurückbleiben, damit ihr euch +ungestört besprechen könnt?« + +»Nee, geh' lieber hundert Schritt vorauf!« + +»Auch gut,« sagte Becka, und schritt wacker fürbaß. + +»Nun ist's Zeit,« flüsterte Sine, und hielt ihren roten Mund hin. Und +Gerd drückte einen kernigen Kuß darauf. Dann nahm er sie so fest in +die Arme, daß ein zartes, zimperliches Ding laut aufgekreischt haben +würde. Aber von der Sorte war Sine Wischhusen nicht. + +Becka war so diskret, sich nur einmal umzusehen. Sie paßte aber just +den richtigen Augenblick ab und bedauerte, daß sie ihren Jan nicht da +hatte, ihr ein Gleiches zu tun. + +Als Gerd seine Braut freigelassen hatte, sagte er fröhlich: »So, nun +gehen wir nach Tennstedt und kaufen uns die Ringe ... Aber Deern, wir +kriegen am Ende heut gar keine!« + +»Warum nicht?« + +»Von wegen der Sonntagsruhe.« + +»Ach was, das sind Liebeswerke, und die sind auch am Sonntag erlaubt.« + +Gerd lachte und legte den Arm um sie. So schritten sie glückselig +durch den leuchtenden Sommertag, eine gute Weile schweigend. Es war +jetzt die Einsamkeit des wilden Heidemoores um sie. Kein Mensch +oder menschliche Wohnung weit und breit zu sehen, nur hier und da +eine verlorene Plaggenhütte, als Unterschlupf für Heidhauer und +Torfgräber in die Einöde gesetzt. Die herrliche Bläue des Himmels, +an dem weiße Schäfchenwolken ihr Wesen trieben, hob sich wundervoll +ab gegen das von weißen Birkenstämmchen durchblitzte Blütenrot der +üppig wuchernden Moorlandsheide. Die Luft war voll Honigduft und +Bienengesumm. Schnurgerade zog sich der Damm durch das blühende Land, +ihm treu zur Seite der blinkende Wasserlauf. Es hatte lange nicht mehr +geregnet, und der Sand mahlte stark. Aber davon merkten die beiden +rüstigen jungen Menschenkinder nichts. Auch der Gummikragen bedrückte +Gerd jetzt nicht mehr, wie er so hochaufgerichtet und frei atmend +dahinschritt. + +»Wollen wir jetzt Becka nicht rufen, daß sie wieder mit uns geht?« +fragte er endlich. + +»Och ja,« sagte Sine schnell, »allein wird es ihr leicht zu +langweilig. Sie ist im Grunde gar keine schlechte Deern.« + +»Nee, gewiß nicht,« stimmte Gerd bei. »Eigentlich wollte ich sie ja +auch heiraten.« + +»Ich weiß ...« + +»Wir beide, Sine, passen aber doch noch besser zusammen, glaub' ich.« + +»Das wollen wir hoffen ... Becka!« + +Becka wandte sich sofort herum und erwartete die beiden. + +»Na, alles klipp und klar?« + +»Ja, du kannst jetzt wieder mit uns gehen.« + +»Ist dankenswert,« sagte Becka, und nahm ihren alten Platz an Gerds +grüner Seite wieder ein. + +»Ich freu' mich bannig, Gerd,« begann Sine nach einem Weilchen, »daß +wir beide gleich ein eigenes Dach über den Kopf kriegen. Jan und Becka +wollen sich die ersten Jahre was pachten.« + +»So--o?« fragte die Schwester spitz, »weißt du das so gewiß? Kann +sein, daß wir noch eher zum Kauf kommen als ihr.« + +»Aber Kinder, so vertragt euch doch,« legte Gerd sich lächelnd ins +Mittel. »Sine, wir könnten nun wohl mal zusammenrechnen, was wir +beide parat haben. Ich fang' an.« + +Und er begann aufzuzählen: was er von der Mutter geerbt, was er in +den einzelnen Jahren verdient, wie wenig er verbraucht und wieviel +auf die Sparkasse getragen, und was es dort an Zinsen gebracht +hatte. Zur Stunde beliefe sich sein Vermögen, ohne die Zinsen des +laufenden Vierteljahres, auf sechshundertsiebenundachtzig Taler und +dreiundzwanzig Groschen, das Geld im Portemonnaie noch nicht mal +mitgerechnet. + +»Junge, Junge!« rief Sine, von der Höhe der Summe freudig überrascht, +und warf an ihm vorbei einen triumphierenden Blick nach ihrer +Schwester hinüber. Die machte ein etwas verdutztes Gesicht; denn da +kam ihr Jan doch nicht ganz mit. + +»Na, Sine, denn red' du mal!« sagte Gerd gespannt. + +Sie fing an aufzuzählen: ein Dutzend Hemden, die Hälfte noch gar +nicht gebraucht, zwei bessere Kleider und drei für die Arbeit, drei +Unterröcke, ein zweischläfernes Bett, und zweimal es zu überziehen, +fünf Stück Leinen, eine Kommode, ein Spinnrad, sieben Schürzen ... + +Sie verlor sich zuletzt so in Kleinigkeiten, daß er ungeduldig wurde +und sie unterbrach: »Und Bargeld?« + +»Ungefähr hundertundsechzig Taler.« + +»Hm.« + +»Ist dir das nicht genug?« + +»Hm ... denn hat Becka ja doch 'n bißchen mehr.« + +»Ja, die hat auch immer viel Geschenke von ihrer Dienstherrschaft +gekriegt. Aber mit Zeug ist sie lange nicht so gut ausstaffiert +als ich. Die ersten Jahre brauch' ich überhaupt kein neues Kleid, +ausgenommen natürlich das zur Hochzeit.« + +»Hast du noch was von deinen Eltern zu erwarten?« + +»Das wohl nicht. Wir sind unser zu viele.« + +»Na, Sine, das soll alles nichts schaden ... dann lassen wir die erste +Hypothek von dreihundertundfünfzig Talern auf der Stelle stehen. Was +meinst du, bis wann können wir die wohl heruntergearbeitet haben?« + +»Oh ... wenn der liebe Gott Leben und Gesundheit schenkt, in 'n Jahrer +sechs ... oder sieben ...« + +»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern! Ich hatte an neun bis +zehn Jahre gedacht; denn wir müssen ans Haus allerhand anwenden, +und auch tüchtig was in den Boden hineinstecken. Der Kram ist bös +heruntergekommen.« + +»Schadet nichts. Das wollen wir beiden wohl kriegen. Wir sind ja +keine, die vor der Arbeit weglaufen.« + +»Deern, Deern, was bin ich froh!« rief er. »Ich glaube, der liebe Gott +hat dich extra für mich gemacht.« + +»Ist möglich, so soll das in 'm richtigen Ehestand ja auch wohl sein.« + +Der schnurgerade Damm wurde am Rande der Geest zu einem gewöhnlichen +Sandwege, der mit einer kleinen Biegung in das wohlhabend behäbige +Bauerndorf Tennstedt einmündete. + +»Feine Höfe,« sagte Gerd, auf ein stattliches Bauerngut mit altem +Eichenbestand hinweisend. + +»Ich möcht' auf der Geest nicht sein,« versetzte Sine. »Wir können auf +unserer Anbauerstelle am Achterdamm ebenso gemütlich leben.« + +»Das ist gewiß!« sagte Gerd und legte mal schnell wieder den Arm um +sie. + +Herr Sauerhering, der Uhren flickte und zugleich mit Gold- und +Silbergeschirr handelte, wurde glücklich zu Hause getroffen, und es +bedurfte nicht langer Bitten, ihn zu dem gewünschten Liebesdienst +willig zu machen. Nachdem er dem Pärchen artig zu seinem Vorhaben +gratuliert hatte, breitete er einen großen, flachen Kasten voll der +ewig bindenden Dinger vor ihm aus. Sine hielt ihre Hand hin, und Gerd +verpaßte ihrem kurzen, dicken Ringfinger einen Goldreif. Darauf suchte +Sine auch einen für ihn aus, wobei Becka ihr half. Das Anstecken +besorgte sie aber allein. + +»Was kostet das?« fragte Gerd und griff in die Tasche. + +»Fünfzehn Mark,« sagte der Mann. + +Gerd erschrak. »Gibt's keine billigere Sorte?« fragte er kleinlaut. +»Solche Ringe müssen echt sein,« erklärte Herr Sauerhering ernst. +»Sonst ist das eheliche Glück nachher auch nicht echt und von Bestand. +Es ist ja auch nur eine einmalige Ausgabe.« + +»Wir nehmen aber doch gleich zwei auf einmal. Da können Sie's wohl für +zwölf Mark tun.« + +»Diese Art verkaufe ich überhaupt nur paarweise,« erklärte Herr +Sauerhering, und die Mädchen lachten. »Überhaupt ist das Handeln bei +solchem Kauf keine Mode.« + +Gerd legte mit schwerem Herzen ein Zwanzigmarkstück auf den Tisch. Als +er die fünf Mark, die ihm zurückgegeben wurden, einstecken wollte, +fragte Becka keck: »Was krieg' ich denn als Freiwerberlohn?« + +»Vielleicht eine hübsche Brosche?« fragte Herr Sauerhering süß +lächelnd, indem er eine andere Schublade herauszog und auf den Tisch +stellte. + +Becka musterte die glitzernden Schmuckstücke und hob eins heraus. + +»Glaube, Liebe, Hoffnung,« sagte sie, »diese möcht' ich wohl leiden. +Kostet?« + +»Zwei Mark fufzig.« + +Die beiden Mädchen sahen Gerd erwartungsvoll an. + +»Na, denn man zu!« sagte er mit tapferer Selbstüberwindung und warf +das Geld auf den Tisch. Becka steckte sich Kreuz, Herz und Anker +sogleich vor. + +Die drei Goldgeschmückten gingen darauf schräg über die Straße in eine +Gastwirtschaft, die mit Bäckerei verbunden war. Hier bestellten sie +sich zwei Portionen Kaffee nebst einem Teller Butterkuchen, und aßen +und tranken nach Herzenslust. »Und wenn die zwanzig Mark heut' ganz +draufgehen!« dachte Gerd, und ließ den schnell geleerten Teller noch +einmal füllen. + +»Schade, daß ich meinen Jan nicht herbestellt habe ...,« seufzte +Becka. »Wir wollen ihm mal eine bunte Karte schicken,« sagte Gerd und +ging hin, sich eine zu holen. Er wählte die mit dem Gasthaus, in dem +sie ihre Verlobung feierten. + +Während er saß und schrieb, fragte Becka: »Wann wollt ihr denn +eigentlich Hochzeit machen, Sine?« + +Sine gab die Frage weiter: »Was meinst du, Gerd?« + +»Nächstes Frühjahr natürlich, gleich nach Ostern,« erklärte er. + +»So früh schon?« rief Becka erschrocken. »Wir wollten eigentlich noch +ein Jahr warten.« + +»Ja, Kinder, das könnt ihr ja auch ruhig tun,« meinte die ältere +Schwester. + +»Nein, Sine, nein, das geht nicht,« rief Becka mit Nachdruck. +»Voranlassen dürfen wir euch auf keinen Fall. Wir beide sind an +demselben Tag geboren, aus einem Wasser getauft und Seite an Seite +konfirmiert. Da hilft alles nichts, wir müssen auch miteinander +Hochzeit halten. Ob Jan will oder nicht, er muß. Gerd, schreib' man +gleich mit an meinen Jan, nächstes Frühjahr gäb's eine vergnügte +Doppelhochzeit.« + +Er nickte. »Gut,« sagte er, »ich will das bemerken.« + +»Halt!« rief Sine, »dabei hab' ich doch auch wohl noch ein Wort +mitzureden. Ich bin gegen die Doppelhochzeit.« + +»Warum?« fragte Gerd, von seinem Schreibwerk aufblickend. + +»Oh ... bei 'ner Doppelhochzeit lohnt es nicht so mit den Gaben. Für +zwei auf einmal ordentlich was zu schenken, das wird den Leuten leicht +zu viel.« + +»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern. Daran habe ich noch gar nicht +einmal gedacht. Du magst wohl recht haben ...« + +»Da hört sich doch alles auf!« rief Becka empört, machte ihre +grallsten Augen und legte die Arme vor sich auf den Tisch, »nun +spielt ihr mir schon unter einer Decke. Aber das will ich euch man +sagen, wenn ihr nicht für die Doppelhochzeit stimmt, ist unsere +Freundschaft aus, ich stehe nicht bei euch Gevatter und besuche +euch auch nicht. Das waren Meta und Metta Rodenburg in unserm Dorf, +die auf einen Tag Hochzeit machten und nicht viel kriegten. Aber +warum? Die Leute mochten sie und die ganze Familie nicht leiden, und +schickten gar keinen, oder Knecht und Magd und Kinder, und da schaffte +es natürlich nicht mit den Gaben. Aber das hat bei uns nichts zu +bedeuten. Ich glaub', Sine, ich kann ruhig sagen, wir beide sind ganz +beliebt, und auch unsern Vater haben sie gern in allen Häusern, wo er +Hollschen macht. Denk' dir doch, Deern, wie schön das wird, wenn wir +beide so im Myrtenkranz und Schleier da auf unserer Diele beieinander +stehen, ich mit meinem Jan, du mit deinem Gerd; und unser guter alter +Pastor gibt uns alle vier zusammen in den heiligen Ehestand, aber +diesmal soll er's richtig machen, und nicht so Kuddelmuddel wie bei +der Konfirmation. Ich glaube, dann kann ich vor Weinen knapp ja sagen. +Denn du mußt wissen, Gerd, ich bin ein bißchen weich und hab' mich +nicht so in der Gewalt wie Sine.« + +»Was meinst du, Gerd, wollen wir ihr den Gefallen tun?« fragte Sine. + +»Ja, man zu,« antwortete er lächelnd, »wir sind ihr ja auch etwas Dank +schuldig, ohne sie hätten wir uns ja nie gekriegt.« + +»Na gut,« wandte die ältere sich an die eine halbe Stunde jüngere, +»denn kannst du mit uns Hochzeit halten. Das heißt, wenn Jan +einverstanden ist.« + +»Der?« rief Becka. »Der ist jetzt überstimmt: Drei gegen einen. Ob er +will oder nicht, er muß!« -- -- + +Als die drei den Heimweg angetreten hatten und aus dem Eichenschatten +des Dorfes ins Freie kamen, mußten sie auf der Höhe der Geestdüne +stehenbleiben. Denn der Himmel stand über ihrer Moorheimat in +flammenden Gluten, so stark und tief in den Farben, daß selbst der +Blick dieser Leutchen, die an die prächtigen Sonnenuntergänge über +ihrem wasserdunstgeschwängerten Lande von Kind an gewöhnt waren, +gebannt wurde. Ein leuchtendes Rot von Heideblüten und Abendglanz lag +über dem weiten wilden Moor, der Wasserzug neben dem Rodenburger Damm +lief wie eine Straße von funkelndem Gold zu den fernen Dörfern, deren +baumumhegte Reihen klar und scharf gegen den purpurnen Himmelsgrund +standen. + +»Könnt ihr singen?« fragte Gerd, als sie eine Weile schweigend +hingeschaut hatten. + +»Oh, ein bißchen wohl,« sagte Sine. + +Er schob die Hände unter die Arme seiner beiden Begleiterinnen und +stimmte an: »Goldne Abendsonne, wie bist du schön.« Als die Mädchen +einfielen, ging er schnell in die zweite Stimme über. Sie konnten +nicht bloß den ersten Vers, sondern die anderen auch. + +Als das Lied verklungen war, drückte er die beiden runden Mädchenarme +an sich und rief hocherfreut: »Deerns, das geht ja fein. Ihr könnt's +beinahe so schön, wie meine Schwester Leidchen. Schade, daß die heute +nicht hier ist.« + +»Und mein Jan,« fügte Becka hinzu. + +Sie setzten ihren Weg fort und schritten in das Moor hinunter, über +dem die Farbenpracht inzwischen stark verglüht war. Es währte nicht +lange, so begann er: »Die Liebe macht glücklich, macht selig,« und die +Mädchen jubelten mit: »Die Liebe macht arm und reich, die Liebe macht +Bettler zum König, die Liebe macht alles gleich.« »Juhuhuh!« juchzte +er, als das Liedchen aus war, packte zu und schwenkte sein zappelndes, +kreischendes Sinchen mit starken Armen hoch in die Luft. + +»Becka meinte, du wärst einer von den Sinnigen,« sagte sie, sich die +Kleidung zurecht zupfend, »du bist ja ein ganz Wilder.« + +»Du kannst alle Jungens in Brunsode fragen,« rief er lachend, »die +werden dir sagen, daß ich ein ducknackiger Drögepeter bin.« + +»Na, die kennen dich aber schlecht.« + +»Ist möglich.« + +Und wieder klang ein Lied: + + + »Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten, + Schön ist die Jugend, ja, sie kommt nicht mehr. + Sie kommt nicht mehr, nicht mehr, + Kehrt niemals wieder her, + Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. + + Ich hatt' einen Weinstock, und der trug Reben, + Und aus den Reben floß süßer Wein. + Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja, + Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. + + Ich hatt' einen Rosenstock, und der trug Rosen, + Und aus den Rosen floß süßer Duft. + Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja, + Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr. + + Man liebt die Mädchen bei frohen Zeiten, + Man liebt sie nur zum Zeitvertreib. + Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja, + Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.« + + +»Man liebt euch Mädchen bei frohen Zeiten, man liebt euch nur zum +Zeitvertreib!« rief Gerd. »Wißt ihr was, Deerns? Am liebsten heiratete +ich euch alle beide!« + +»Pfui, so'n Türke!« sagte Becka und gab ihm einen Stoß in die Rippen. + +Er aber hob die Arme, schlug den linken um Beckas, den rechten um +Sines Nacken, riß ihre Köpfe zusammen und küßte beide wahllos ab. +Kreischend und lachend suchten sie sich ihm zu entwinden, aber seine +stählernen Arme ließen nicht locker. + +Als er sie endlich freiließ, sagte Becka, sich die zerzausten Haare +ordnend: »Du bist ja 'n ganz Schlimmer. Sine, so einen nähm' ich +nicht, um kein Geld!« + +»Hast du noch nicht genug, lüttjer Satan?« rief er, auf sie +zuspringend. + +»Ja, Ja!« schrie sie, ihm entschlüpfend. + +»Du kriegst'n paar überher,« sagte er, Sine in die Arme schließend. +Es wurde aber noch ein halbes Dutzend draus. + +»Wart' man,« drohte Becka mit der zur Faust geballten kleinen Hand, +»wenn ich das meinem Jan sage, kommt der dir aufs Fell.« + +»Haha,« lachte Gerd, »in der Familie darf man das so genau nicht +nehmen. Er kann mein Sinchen dafür mal wieder küssen.« + +»Ich wollt' ihm!« rief Becka. »Das hätt' ich bloß ahnen sollen, daß +du so'n böser Bruder bist! Sine, willst du ihm seinen Ring nicht +wiedergeben?« + +»Werd' mich hüten!« kicherte sie und schmiegte sich zärtlich an ihn. +»Es ist mir so lieber, als wenn er ein alter Drögbäcker wär'.« -- + +Sine wollte für die Nacht bei der Schwester mit unterkriechen und +Gerd begleitete die beiden bis vor Beckas Haustür. Nach einer letzten +Umarmung, bei der Becka jetzt aber leer ausging, schritt er eilig +auf dem Fußpfad über die Gehöfte heimwärts, um zur Bremerfahrt zu +rüsten. Nur vor dem weitgeöffneten Tor von Heini Pepers Tanzdiele +blieb er einen Augenblick unter den halbwüchsigen Gaffern, die noch +nicht hinein durften, stehen. Der Ernteball war in vollem Gange, die +Musikanten strichen und bliesen für Gewalt, und die Mädchen des Dorfes +und der Nachbarkolonien flogen schön geputzt und mit glühenden Wangen +in den Armen ihrer Tänzer an ihm vorüber. Alles, was Lust zum Freien +hat, dachte Gerd bei sich, ist hier versammelt. Ob nicht vielleicht +eine drunter ist, die du am Ende doch lieber genommen hättest? Die +Hände in den Hosentaschen vergraben, fragte er sich bei jeder, die +vorüberwalzte, ob er sie gemocht hätte. Aber jedesmal hieß es in ihm +Nee, das eine Mal leiser, das andere Mal lauter, und ein paarmal +hätte er beinahe ausgespuckt. Seine Wahl bestand diese Probe auf +das glänzendste, und sehr befriedigt wandte er Heinis Ernteball den +Rücken. -- + +Drei Stunden später befand er sich auf der Hamme, die sich unter +bewölktem Himmel mattgrau durch die Nacht wand. Wenn man aber genauer +hinsah, zogen leichte Wellen über ihren Spiegel. So war es auch in der +Seele des jungen Schiffers wie ein leises Wellenatmen, aber zuweilen +gingen auch hohe Wogen, und dann faßte er die schwere Eichenstange +fester, und stieß und schob, daß sein Schiff rauschend dahinflog. Und +als endlich das schlafähnliche Dösen über ihn kam, blieb ganz in der +Tiefe etwas wach. Das war die Freude. Sie war jetzt still geworden, +ganz still, aber ganz einschlafen konnte sie nicht. -- + + * * * * * + +Wie hätte Gerd es an diesem Montag aushalten können, der Schwester +so nahe zu sein und sie nicht zu besuchen! Wenn Mutter Marwede auch +brummte, da machte man eben ein dickes Fell. + +Er hatte sich das so schön vorgestellt, Leidchen den gestrigen +Nachmittag zu schildern und dabei alles noch einmal wieder zu +durchleben. Als er aber in der Küche vor ihr saß, wollten ihm die +rechten Worte nicht auf die Lippen, und mit Stocken und Drucksen kam +nur ein ziemlich farbloser Bericht zustande. + +Aber die Schwester kannte den Bruder. + +»Lieber Junge, du bist wohl sehr glücklich ...« sagte sie bewegt. + +Da blickte er auf, und all das, was in die Worte nicht hatte hinein +wollen, strahlte und jubelte ihm aus den grauen Augen. Und er sprang +auf die Füße, schloß sie in seine Arme und küßte sie. + +»Nicht wahr, Leidchen, du freust dich mit mir?« rief er, indem er sie +losließ. »Aber Deern, was ist das? Du weinst? Was ist dabei denn zu +weinen? ... Gönnst du mir das nicht?« + +»Oh, von Herzen,« schluchzte sie, das Gesicht in der Schürze bergend. + +»Aber was heulst du denn? Aha, du denkst: wenn ich man auch erst so +weit wär'! Aber Deern, du bist ja noch so jung ... Nun laß das Weinen +aber und spar deine Tränen, bis du sie nötiger brauchst ... Ich denk', +lang' wird er dich auch nicht mehr zappeln lassen. Bei Gelegenheit +will ich ihm mal 'n kleinen Wink geben.« + +Leidchen stampfte mit dem Fuße auf und rief leidenschaftlich: »Um +Gottes Willen, Gerd, komm mir nicht immer mit der alten Geschichte! +Ich werd' dir sonst wirklich böse.« + +Er lachte über das ganze Gesicht. + +»Ihr Frauensleute seid ein wunderlich Volk. Ihr stellt euch immer, als +ob ihr uns Mannskerls nicht ausstehen könntet. Und doch tut ihr nichts +als auskucken, ob wir noch nicht kommen. Laß ihn nur erst ernsthaft +kommen! Ich seh' schon, wie meine lüttje widerhaarige Schwester sich +ihm an den Hals wirft und ruft: ›O wie gern! O wie gern!‹« + +»Gerd!« stieß sie gequält heraus. + +»Du weißt, Leidchen,« fuhr er fort, »ich bin ein ruhiger Mensch, ein +Drögepeter, wie du früher manchmal sagtest. Ich hätte niemals gedacht, +daß es mich so packen und unterkriegen könnte. Ich weiß wirklich +nicht: ist die Welt auf den Kopf gestellt, oder bin ich's, oder sind +wir beide umgekrempelt? Wie es eigentlich ist, kann ich dir überhaupt +nicht beschreiben. Na, du lernst das ja auch wohl noch mal kennen. +Wenn's erst über dich kommt, Leidchen -- da mag ich überhaupt nicht an +denken. Du hast viel mehr Lebenslust als ich und viel hitzigeres Blut. +Wie es dir gleich in die Backen schießt! Aber wir wollen den Teufel +lieber nicht an die Wand malen.« + +Er hatte sich wieder gesetzt und erzählte, vor sich hinsehend, +wie er sein künftiges Heim gefunden, was es kosten sollte, welche +Aufwendungen er machen müßte, um es leidlich instand zu setzen, und +was für Arbeiten die dringendsten wären. Nach Ostern sollte es dann +eine Doppelhochzeit geben, nicht allzu groß, aber sehr gemütlich. +Ein gewisser Jemand, der flott tanzen könne, würde natürlich auch +eingeladen, fügte er, mit den Augen plinkernd, noch hinzu. + +Als er sich darauf erhoben hatte, um zu gehen, hielt Leidchen ihn an +der Jacke fest und bat, er möchte noch einen Augenblick bleiben. + +»Wozu?« fragte er, sie verwundert ansehend. + +Sie wich seinem Blick aus. + +»Deern, du machst ein Gesicht, als ob du mir noch was sagen wolltest. +Denn man heraus damit! Ich komm fürs erste doch wohl nicht wieder.« + +»Och geh man. Es ist nichts Besonderes.« + +»Na denn adjüs, Leidchen!« Er hatte ihre Hand genommen, die er kräftig +drückte, und sagte, unter behaglich breitem, herzfrohem Lachen: +»Leidchen, sonst warst du von uns beiden immer die vergnügteste. Es +scheint, nun bin ich erst mal an der Reihe, und das ist ja auch nicht +mehr als recht und billig. Aber darüber brauchst du dir keine graue +Haare wachsen lassen. Das kommt auch noch mal wieder herum. Bleib +hübsch munter.« + +Als er, nach einem langen zärtlichen Blick, zur Tür hinaus war, lief +ein Zittern über ihre Gestalt. Sie sank auf einen Stuhl und starrte +ein paar Sekunden vor sich hin. Dann raffte sie sich auf, fuhr mit der +Hand über das Gesicht und ging an ihre Arbeit. + + * * * * * + +Am nächsten Tage nach Feierabend ging Gerd in das Schulhaus, wo er +die Geschwister in der Wohnstube fand und sich zu ihnen an den Tisch +setzte. + +Er begann mit dem Wetter, sprach dann vom Wasserstand der Hamme und +von dem Unglück in einem Nachbardorf, wo ein Knecht die Hand in die +Häckselmaschine gekriegt hatte, und sagte endlich auch so beiwegelang, +er hätte sich vor zwei Tagen verlobt. Da wurden von beiden seine Hände +gepackt und tüchtig gedrückt, und als er Sine Wischhusen nannte, +ging's noch mal wieder los; denn Mariechen Timmermann kannte ihre +Schwester Becka und schätzte sie sehr. + +Als er endlich sein Teil empfangen hatte, sagte Herr Timmermann +lächelnd: »Du kannst uns auch gratulieren.« + +Gerd machte ein erschrockenes Gesicht und fragte: »Auch zur Verlobung?« + +Der Lehrer nickte: »Ja, meine Schwester hat sich Sonntag mit dem +Kollegen Brinkmeyer in Asendorf verlobt.« + +»Ach so ... denn gratulier' ich auch viel-, vielmals,« sagte Gerd, die +kleine Hand der glücklichen Braut zwischen beide Pranken nehmend. + +Der andere hatte sich erhoben. »Solche Doppelverlobung muß würdig +gefeiert werden,« rief er, »wir wollen unseren Weinkeller austrinken.« + +»Weinkeller ... wie das großartig klingt!« lachte hinter dem +Hinausgehenden die Schwester. »Der gute Junge hat mal als Seminarist +in Bederkesa dem unbegabten Sohn eines Kaufmanns Rechenstunden +gegeben, fünf Groschen die Stunde, und zum Abschied hat der dankbare +Vater ihm drei Flaschen Mosel geschenkt. Davon ist noch eine übrig +geblieben.« + +Sie stand auf und holte drei dicke Wassergläser, die sie mit den +Worten auf den Tisch stellte: »Richtige Weingläser muß die Aussteuer +erst bringen.« + +Bald klappten dieselben auf das Wohl der beiden Brautpaare hart +und klanglos gegeneinander. Und alle drei schmeckten andächtig zu, +machten Gesichter, als ob sie alte Weinkenner wären und nickten sich +wohlgefällig an. »Ein guter Tropfen,« lobte der Spender. + +Der Wein war stark sprithaltig, und es dauerte nicht lange, so hatten +sie alle drei rote Köpfe. + +Da bekam Gerd auf einmal Courage und fragte, zu Fräulein Mariechen +gewandt: »Will Ihr Bruder denn nicht auch bald Anstalt machen?« + +Sie lachte: »Nun, wo ich mich verlobt habe, soll er wohl müssen. +Wissen Sie keine für ihn?« + +Er wurde noch roter und stamerte: »Das ist nicht so leicht. Für 'ne +Lehrerfrau paßt sich längst nicht jedes Mädchen.« + +»Ich wüßte wohl eine,« sagte sie, und der Schelm lachte ihr aus den +Augen. + +»Daß du mir reinen Mund hältst!« rief ihr Bruder, mit aufgehobenem +Finger drohend. + +»Ach Otto, warum sollen wir Gerd nicht ins Vertrauen ziehen? Die Sache +muß ja doch endlich mal in Fluß kommen.« + +Da er sich drein zu ergeben schien, wandte sie sich wieder zu Gerd und +sagte flüsternd, die Hand schräg gegen den Mund haltend: »Mein Bruder +hat Ihre kleine Schwester gern, und ich kann mir auch keine nettere +Frau für ihn denken. Was meinen Sie, könnte daraus wohl etwas werden?« + +Gerd strahlte über das ganze Gesicht. + +»Von Herzen gern.« + +»Und Leidchen?« + +»Oh, so ganz von gestern bin ich auch nicht. Ich hab' schon länger +Mäuse gemerkt und sie sogar mit ihm aufgezogen.« + +»Und sie?« + +»Och, sie ist noch'n bißchen jung und hat für die Liebe noch keinen +rechten Sinn. Aber wenn er Ernst macht, sagt sie gewiß nicht nein. +Dazu ist sie viel zu vernünftig ... Soll ich sie mal 'n bißchen +vorbereiten?« + +»Um alles nicht!« rief Herr Timmermann entsetzt. + +»Na ja, es ist am Ende auch am besten, ihr macht die Sache unter euch +ab. Leidchen ist 'ne ganz komische Deern, wie ich noch keine getroffen +habe. Wenn ich etwas von ihr will, tut sie meist just das Gegenteil. +Sie wär' imstande und sagte nein, bloß um mir'n Tort anzutun.« + +»Ja, ja, das kommt davon. Du hast sie zu lange unter der Fuchtel +gehalten ... Kommt sie wohl bald mal nach Hause?« + +»Was ich weiß, nein.« + +»Nun, dann reise ich im Lauf der nächsten Wochen vielleicht mal hin.« + +Gerd rieb sich vor Freude die Hände. »Wenn's kommt, kommt's auf den +Haufen, und diesmal ist's das Glück. Ich glaube, jetzt stoßen wir auch +noch auf das dritte Brautpaar an.« + +»Halt, so weit sind wir noch nicht.« + +»Vivat hoch!« rief Gerd, und die Gläser klappten zusammen. »Daß die +Sache wird,« meinte er großartig, »dafür kann ich garantieren.« »... +Glaub' ich wenigstens,« fügte er dann etwas bescheidener doch hinzu. +»Die Deern müßte ja doll und dumm sein, wenn sie nicht mit beiden +Händen zugriffe.« + + + + + 15. + + +Die Fünfundsiebziger waren ins Holsteinische gefahren, zu den großen +Herbstübungen. + +Leidchen entführte abends die Zeitungen auf ihre Dachkammer und las +die spaltenlangen Manöverberichte nebst strategischen Betrachtungen +mit Sorgfalt und Gründlichkeit. Dann nahm sie auch wohl eine +Photographie aus der Kommode, auf der ein schmuckes Pärchen zu sehen +war. Sie hatten das Bild einmal von einem ländlichen Schützenfest +mitgebracht. Auch zwei Postkarten betrachtete und las sie oft genug; +denn sie sandten ihr »1000 Gr. u. K.« Die eine zeigte eine hübsche +ostholsteinische See- und Waldlandschaft. Die andere gefiel ihr +weniger gut. Da drückte ein Mädchen mit der linken Hand die Schürze +vor die weinenden Augen, während sie mit der rechten einen Soldaten +zu halten suchte, der sich mit lachenden Augen und, wie es schien, +leichten Herzens losmachte, um den Kameraden nachzueilen, die schon +die Straßen hinabzogen. Bei diesem Bilde fühlte sie bald etwas +wie Eifersucht, bald auch wunderliches Mißbehagen, über das sich +Rechenschaft zu geben sie vermied. + +Hermann hatte ihr vor dem Ausrücken ins Manöver versprochen, +wenigstens jeden zweiten Tag zu schreiben, so daß sie eigentlich vom +Morgen bis zum Abend in Erwartung des Briefboten lebte, der dreimal +des Tags die Runde machte. Aber nur zwei Karten waren in vierzehn +Tagen eingetroffen. Wenn die Hoffnung auf ein Lebenszeichen sie wieder +einmal getäuscht hatte, war sie auf den Wortbrüchigen beinah etwas +böse. Aber sie entschuldigte ihn jedesmal schnell. Er hatte ihr ja +erzählt, wie's in so einem Manöver herging, und die Zeitung berichtete +von langen Märschen bei Tag und bei Nacht und von großer Ermüdung der +Truppen. + +Eines Abends nahm sie ihr Myrtenbäumchen vom Fenster und stellte es +vor sich auf die Kommode. Als sie die Blätter genauer betrachtete, +machte sie auf einmal große erschrockene Augen. Die glänzend grünen +Blättchen waren zusammengeschrumpft und gekräuselt, das Bäumchen +schien dem Tode verfallen. Mit schmerzlichem Gesicht begoß sie es +reichlich, um es dann schnell wieder an seinen Platz zu stellen und +sich von dem vorwurfsvollen Anblick ihres vernachlässigten Pfleglings +zu befreien. + +Dann setzte sie sich auf den Bettrand und blickte starr vor sich hin. + +Auf einmal kam eine angstvolle Unruhe über sie. Sie faltete und rang +die Hände, streckte sie von sich und preßte sie gegen die Brust, fuhr +steil in die Höhe und wanderte das Zimmer auf und ab, öffnete das +Dachfenster und stieg auf ihren Stuhl, um die hereindringende frische +Herbstluft an der Quelle zu schöpfen. + +Wenn sie doch nur seine Adresse wüßte! Dann hätte sie sich hinsetzen +und in einem Brief ihm ihr Herz ausschütten können ... + +Plötzlich trat ein Ausdruck von Entschlossenheit in ihre Züge, sie +wollte an seine Eltern schreiben, und in blitzschneller Folge drängten +sich ihr die Gedanken und Sätze auf. Sie nahm einen Briefbogen, +den sie sorgfältig mit Ort, Straße, Hausnummer und Datum versah. +Aber schon die Anrede ließ sie scheitern. Wie sollte sie schreiben? +»Geehrter Herr Vogt und Frau«? Das klang so kalt. »Liebe Eltern«? das +ging doch auch nicht gut, solange Hermann nicht mit ihnen gesprochen +hatte. Nächsten Montag wurde er ja zur Reserve entlassen, und dann +mußte er das sofort tun. + +Sie stützte den Kopf in die Hände, Sorgen und quälende Gedanken +umdüsterten ihre weiße Stirn. Auf einmal heiterte ihr Gesicht sich +auf, sie griff schnell zur Feder und schrieb: + + + »Lieber Bruder! + + Als Du das letztemal hier warst, habe ich mich sehr gewundert. Du + warst knapp wiederzuerkennen, so hattest Du Dich verändert. Ja, mit + der Liebe ist das ein wunderlich Ding. + + Du denkst nun natürlich: Was weiß die dumme Deern davon? Lieber + Bruder, ich weiß mehr davon als Du denkst. Denn auch meine Stunde + hat geschlagen. + + Du wirst dich sehr wundern, aber ich bitte Dich, behalte ruhig Blut + und sei mir nicht böse. Vergiß nicht, was Du mir versprochen hast: + in diesem Stück wollten wir uns beide ganz und gar zufrieden lassen. + Ich freue mich mit Dir, freu Du Dich mit mir! + + Du wirst nun gerne wissen wollen, wer es ist. Als ich im Sommer mal + im Bürgerpark spazieren ging, traf ich unseren alten Schulkameraden + Hermann wieder, und wir beide sind eins geworden, daß wir ein Paar + werden wollen. Die Hochzeit soll noch vor Weihnachten sein, denn + wir sind ja beide alt genug, er über dreiundzwanzig und ich bald + neunzehn, und jung gefreit hat noch niemand gereut. + + Du hast von Kindesbeinen an einen Pik auf Hermann gehabt, und das + ist beinah das einzige, was ich nie an Dir leiden mochte. Du kannst + doch nicht verlangen, daß alle Menschen genau so sind wie Du. Glaub + mir, Gerd, ich kenne ihn besser als Du und weiß auch, daß er seine + Fehler hat, gerade so wie ich und Du und alle Menschen. Aber im + Grunde ist er nicht unrecht, und die Hauptsache ist, er hat mich + schrecklich lieb, und ich ihn desgleichen. Wir beide haben uns + gerade so lieb, wie Du und Sine euch habt, und darum darfst Du nun + auch keine Widerworte machen. Lieber Bruder, Du hast mir viel Gutes + getan und sozusagen Vater- und Mutterstelle an mir vertreten. Nun + tu mir auch die Liebe an, daß Du mir hierzu Deinen Segen gibst. Ich + kann nicht eher wieder ruhig werden, als bis Du mir geschrieben hast. + + Ich freue mich so, daß Du Dir die Stelle am Achterdamm gekauft hast. + Sie ist ja von unserer abgeteilt und hat vor vierzig Jahren noch + dazu gehört, wie Hermann mir erzählt hat. Wie schön ist das, daß wir + beide, die wir immer so treu zusammengehalten haben, wie man es bei + Geschwistern nicht häufig findet, nun für das ganze Leben Nachbarn + werden sollen! Und ich denke, wir wollen die beste Nachbarschaft + halten. Dein Sinchen will ich tüchtig lieb haben, und wenn die beiden + Alten mich mal ärgern, wutsche ich schnell zu Euch hinüber, und Ihr + tröstet mich. Aber das wird wohl gar nicht nötig sein, ich gehöre + nicht zu denen, die immer gleich den Kopf hängen lassen, ich will die + alten Brummbären wohl zahm kriegen. + + Hermann spricht immer sehr nett und lieb von Dir und trägt Dir gar + nichts nach. Ihr müßt noch die besten Freunde werden, eher laß ich + Euch keine Ruhe. Jetzt ist er im Manöver und hat mir schon zweimal + geschrieben. + + Schreibe bald wieder, oder noch besser ist's, Du kuckst mal vor, + wo Du jetzt gewiß doch oft mit Torf in die Stadt kommst. Vor Frau + Marwede brauchst Du keine Bange zu haben, die hat mich die längste + Zeit geärgert. Die wird schöne Augen machen, wenn sie erst Bescheid + weiß! + + Es grüßt Dich in Liebe + + Deine Schwester Leidchen.« + + +Beim Schreiben wurde ihr leicht und froh ums Herz, und als sie den +Brief noch einmal durchflog, gefiel er ihr sehr gut. Wehmütig lächelnd +dachte sie daran, wie einst in der Schule Lehrer Timmermann, wenn er +allerlei erdachte Fälle in Briefen behandeln ließ, unter die ihren +fast immer eine schöne rote 1 setzen mußte. + +Sie beschloß, den Brief, nachdem sie ihn mit Umschlag und Adresse +versehen hatte, noch in den nächsten Postkasten zu stecken, und machte +sich auf den Weg. + +Aber auf der Straße kamen ihr Bedenken. Gerd hatte ja seine +besonderen Pläne mit ihr, und sein Widerwille gegen Hermann war tief +eingewurzelt. Wenn er sich zwischen sie und ihn steckte, konnte er das +größte Unheil anrichten. + +Ach was, sagte sie sich dann wieder, er weiß jetzt ja selbst, wie's +verliebten Leuten ums Herz ist, und muß endlich wissen, wie die Dinge +liegen, und schob den Brief in den Schlitz des blauen Kastens. + +Aber auf einmal zog sie ihn wieder heraus. Es war am Ende doch besser, +mit dem Absenden bis morgen zu warten. + +Der Brief wurde aber am nächsten Tage nicht abgeschickt und auch die +folgenden nicht. Es erschien ihr nun auf einmal wieder leichter und +vorteilhafter, die Angelegenheit mündlich mit dem Bruder abzumachen. +Er konnte ja jeden Tag mal wieder bei ihr vorsprechen, und so wartete +sie fortan auch auf ihn. + + * * * * * + +Der schöne, warme Herbstsonntag hatte Scharen von Menschen ins Freie +gelockt. Wie eine Völkerwanderung wogte es die breite Allee dahin, +Schüler, Liebespärchen, junge Eheleute, ihren Erstling zwischen sich +oder im Wägelchen schiebend, behäbige Bürgerfamilien mit allerlei +Anhang, alles in behaglichster Sonntagnachmittagstimmung. + +Da, wo die Allee den Bürgerpark erreicht, stand ein junges Mädchen +mit suchenden Augen und ließ den Strom an sich vorüberziehen. + +Hinter einer breit watschelnden Madam blitzten Uniformknöpfe auf. +Die Wartende trat hastig ein paar Schritte vor, blieb dann aber +enttäuscht stehen. Es war ein Fremder, der mit seinem glücklich zu ihm +aufschauenden Mädchen daherkam. + +Die Uhren in der Stadt schlugen halb. Es war töricht, jetzt schon so +angestrengt zu warten. Sie hatten vor dem Manöver ja verabredet, sich +um vier am Holler See zu treffen. Vor der ausgemachten Zeit war er nie +gekommen, aber stets militärisch pünktlich auf die Minute. + +Leidchen setzte sich auf eine Bank, die eben frei wurde, von der aus +sie den Menschenstrom im Auge behielt. So oft eine Uniform auftauchte, +klopfte ihr das Herz. + +Ein bejahrtes Ehepaar kam angewandelt und ließ sich freundlich nickend +zu ihr auf der Bank nieder. + +»Sie warten wohl auf jemand, liebes Fräulein?« fragte der alte Herr +nach einer Weile. + +Leidchen sah in ein vertrauenerweckendes, gütiges Großvatergesicht, +das ein kurzgeschnittener silberner Backenbart umrahmte. »Ja,« sagte +sie erleichtert aufatmend, »mein Bräutigam muß jeden Augenblick +kommen.« + +Der alte Mann lächelte fein, wie aus glücklicher Erinnerung heraus, +legte seiner greisen Lebensgefährtin die Hand aufs Knie und trällerte +leise: »Im Rosengarten will ich deiner warten, im grünen Klee, im +weißen Schnee.« Und in den umschleierten, tief in Falten eingebetteten +Augen der würdigen Matrone erschien das gleiche erinnerungsselige, +stille Lächeln. Es war Leidchen, als müßte sie die beiden Leutchen +sehr lieb haben. + +Vier Uhr schlug's von den Türmen, und sie sandte einen langen Blick +die Allee hinunter. + +»Ihr Schatz scheint nicht recht pünktlich zu sein,« sagte der alte +Herr, seine Uhr ziehend. »Als ich noch jung und schön war, hab' ich +mein Lieb nicht so lange warten lassen. Nicht wahr, Oma?« + +»Er ist Bursche bei einem Hauptmann,« sagte Leidchen, den Säumigen +entschuldigend, »der hat ihn wohl nicht früh genug laufen lassen.« + +»Ach so ... ja, ja ... und überhaupt die Herren Soldaten ...« + +Sie unterbrach ihn schnell: »Wir beide sind aus einem Dorf und haben +uns schon von der Schulbank her gern. Mein Bräutigam ist der Sohn von +unserm Müller und erbt mal die Mühle, eine große, starke Windmühle, +und eine Stelle von sechzig Morgen dazu.« + +»Das ist was anderes,« sagte der Alte achtungsvoll. + +»Und die Hochzeit,« fuhr Leidchen fort, »soll noch vor Weihnachten +sein. Ich freu' mich mächtig, daß ich wieder in unser Moor komme, hier +in der Stadt mag ich gar nicht sein.« + +»Aber ich bitt' Sie, liebes Kind, unser Bremen! ...« + +»Nee, nee, bei uns im Moor ist's viel schöner, zehnmal so schön!« Und +sie berichtete vom Torfbacken daheim und vom Heuen an der Hamme und +von der Spinnstube winternachmittags. Als sie mit klagender Stimme +erzählte, daß beide Eltern ihr früh gestorben wären, sah die alte Dame +sie mitleidig an, und da begann sie, ihrem Bruder Gerd ein Loblied zu +singen. Er wäre so ganz anders als die anderen jungen Leute im Dorf, +läse viel in Büchern, auch in sehr schweren; was er an ihr getan +hätte, in kindlichen Jahren und auch später, das könnte sie niemals +wieder gut machen. Jetzt wäre er auch verlobt und hätte sich vom +Ersparten eine kleine Stelle von achtzehn Morgen gekauft. So plauderte +sie drauflos, wie das Rieselwasser am Klappstau; denn wenn sie +aufhörte, fürchtete sie, würden die beiden aufstehen und weitergehen, +und ihr war doch lange nicht so wohl gewesen wie unter dem stillen +Blick der gütigen alten Augen, und sie empfand es überaus wohltuend, +daß sie sich nach den einsamen drei Wochen endlich einmal aussprechen +konnte. Und die lieben alten Menschen lächelten, nickten, stellten +Fragen, machten kleine Scherze und hatten viel Geduld, ihr zuzuhören. + +Zuletzt war diese aber doch wohl zu Ende, sie erhoben sich, drückten +ihr herzlich die Hand, wünschten vergnügte Hochzeit und glücklichen +Ehestand und gingen. Leidchen sandte ihnen warme Blicke nach, bis sie +um eine Rhododendrongruppe verschwanden, und dachte: wenn sie statt zu +Marwedes zu solchen Leuten ins Haus gekommen wäre! + +Da schlug's schon halb fünf! Warum in aller Welt mochte Hermann so +lange auf sich warten lassen? + +Sollte sie sich in Ort und Zeit geirrt haben? Unmöglich! Sie hatte +sich beide ja fast stündlich wiederholt. + +Und er konnte die Verabredung doch auch nicht falsch verstanden oder +vergessen haben. Dann verdiente er ja ... + +Vielleicht konnte er nicht abkommen, weil sein Hauptmann wieder +mal Gesellschaft gab, wodurch früher einmal eine Verabredung +hinfällig geworden war. Aber am Tag nach dem Manöver? Das war sehr +unwahrscheinlich. + +Oder? ... + +Sie erschrak vor diesem Oder und taumelte davor zurück wie vor einem +Abgrund. + +Nein, und abermals nein, und tausendmal nein! + +Lieber glauben, daß in einer Viertelstunde die Welt untergeht, als +dies! + +Warum hatte er aber sein Versprechen, jeden zweiten Tag einen Gruß zu +schicken, so schlecht gehalten? + +Und war er die letzten Wochen vorm Manöver nicht manchmal so ganz +anders gegen sie gewesen wie im Anfang, gleichgültiger, kälter? + +Ach nein, das schien ihr jetzt gewiß nur so, und er hatte ja damals +auch alle Hände voll zu tun gehabt. Beim Abschied, wie hatte er sie da +wieder geküßt und an sich gedrückt ... + +Aber warum ließ er sie denn jetzt so warten, warum kam er nicht? + +Die Turmuhren verkündeten eine Viertelstunde nach der anderen. Die +wilden Tauben flogen zu ihren Schlafplätzen, auf dem Teich, der im +Widerschein rosiger Abendwolken glänzte, zogen Schwäne ruhevoll ihre +schimmernde Bahn. Die Mehrzahl der Spaziergänger war jetzt stadtwärts +gewendet. + +Ein junger Mann blieb fade lächelnd vor ihr stehen, drehte seinen +Schnurrbart, lobte das hübsche Wetter und die weißen Schwäne und +wollte sich vertraulich zu ihr setzen. + +Da stand sie auf und befand sich bald in dem bunten Strom, der sich +der Stadt zu bewegte. + +Vor ihr pilgerten zwei tagenbarne Bürgerfamilien, die sich eben erst +getroffen haben mochten und ihre Unterhaltung recht laut führten, wie +Leute, die ihrer Gesinnungstüchtigkeit, Steuerkraft und sonstigen +Bedeutung für das Gemeinwesen sich voll bewußt sind. Leidchen hörte +zuerst nicht hin, bis der dickere der Väter, ein Mann mit rotem +Gesicht und gutmütigen Kulpsaugen, bedauernd sagte: »Das arme Ding, es +kann einem herzlich leid tun,« und eine blecherne Stimme, die unter +einer spitzen weiblichen Nase hervorkreischte, entgegnete: »Sie ist +selber schuld daran, sie hat's nicht besser haben wollen.« + +Diese Worte brannten sich ihr wie glühendes Eisen in die Seele, es +war, als wollten die Füße ihren Dienst versagen. + +Hinter der Bahnunterführung teilte sich die Menge hierhin und dorthin. + +Jetzt nach Hause? Mit der qualvollen Ungewißheit auf die enge +Dachkammer, der langen Nacht entgegen? + +Um alles nicht! Sich zusammenraffend schlug sie mit entschlossenen +Schritten die Richtung nach dem südöstlichen Stadtviertel ein, wo +in einer der Straßen, die rechtwinklig auf den Weserdeich stoßen, +Hermanns Hauptmann seine Wohnung hatte. Er selbst hatte sie ihr einmal +gezeigt. + +Als sie nach längerem Suchen das Haus gefunden hatte, flog ihr Blick +zu dem Fenster seines Mansardenstübchens hinauf, das geöffnet war. +Dort oben war er heute nachmittag sicher nicht. + +Im Kellergeschoß lag die schon erleuchtete Küche, durch einen +dünnen Gazevorhang konnte man hineinsehen. Die Köchin stand am Herd +und summte eine fremde Weise. Der Späherin schaffte es eine leise +Genugtuung, daß die Person dick und häßlich war. Von dieser Seite +drohte gewiß keine Gefahr. + +Leidchen zweifelte nicht daran, daß Hermann in die Stadt gegangen +war, und beschloß zu warten, bis er nach Hause käme. Morgen wurden +die alten Mannschaften entlassen, und vorher wollte und mußte sie ihn +sprechen, wenn sie auch die ganze Nacht hier warten sollte. + +Sie schritt die vornehm ruhige Straße auf und ab, Bedacht nehmend, +daß sie sich nicht weiter als drei oder vier Häuser von dem, dessen +Tür sie bewachte, entfernte. Wenn einmal ein Schritt durch die Stille +klang, blieb sie stehen und spähte in die Richtung, woher er kam. Eine +Weile horchte sie, an ein Eisengitter gelehnt, auf das Klavier, das in +einem der Nachbarhäuser mit großer Fertigkeit gespielt wurde und ihr +leichter über eine halbe Stunde Wartens hinweghalf. Einmal stieg sie +den nahen Osterdeich hinan, und der kühle Hauch, der von drüben wehte, +der Blick auf den in der Tiefe ziehenden Strom und zum jenseitigen +Ufer hinüber, wo auf den Weiden Kühe im Nebel ruhten, taten wohl und +belebten ein wenig ihr Hoffen. + +Die Uhr der nicht weit entfernten Friedenskirche rief die Stunden aus. +Eine Haustür nach der anderen wurde abgeschlossen. Fenster um Fenster +verdunkelte sich. Ein Schutzmann ging vorüber und sah der Wartenden +prüfend scharf ins Gesicht. Die Straße wurde immer einsamer und +stiller. + +Vom Stehen und Gehen, von Hunger und Durst, von der stets neu +aufflackernden Hoffnung, wenn ein Schritt erschallte, und den darauf +folgenden Enttäuschungen wurde sie zuletzt so müde, daß sie sich kaum +noch auf den Füßen halten konnte. Durch das fiebernde Hirn jagten sich +Erinnerungen und Bilder: Die Bootfahrt durch die lichtgrünen Hallen +... das Hünengrab ... die schwüle Gewitternacht im Bürgerpark ... +die gütigen alten Augen vom Holler See ... die blecherne Stimme: sie +hat's nicht anders gewollt ... bis endlich eine große Öde und bleierne +Müdigkeit über sie kam und sie nach nichts mehr verlangte als nach +körperlicher Ruhe. Langsam, auf wehen, schwankenden Füßen, verließ sie +ihren Posten. + +Aber die nächste Straßenecke hatte sie noch nicht erreicht, als +sie zusammenzuckte, stehenblieb und vornübergeneigt horchte. +Schwere Schritte klangen laut durch die mitternächtliche Stille. Im +Schein einer Laterne blitzen Uniformknöpfe und der Beschlag eines +Seitengewehrs. + +Sie vertrat dem Ankommenden den Weg. + +»Hermann!« + +»L..l... leidchen, du hier?« + +»Darüber wunderst du dich? Von halb vier an hab' ich auf dich +gewartet.« + +»Pst, schrei doch nicht so, hier wohnen überall L... leute.« + +»Gleich sagst du mir, wo du gewesen bist!« + +»Pst, Deern, man sinnig, immer ruhig Blut. Du weißt doch, es ist heut' +der letzte Tag, daß ich Soldat bin. Morgen reisen meine Kameraden +in alle Welt auseinander. Da haben wir natürlich ein bißchen A... +abschied gefeiert.« + +»Und du hast so viel getrunken, daß du kaum sprechen kannst.« + +»Was? So'n kleines Vergnügen gönnst du einem nicht mal und lauerst mir +hier die halbe Nacht auf, um mich auszuschimpfen?« + +»Oh, Hermann, wenn du wüßtest, wie ich mich nach dir gesehnt habe!« + +»Das ist alles ganz gut und schön, aber jetzt mußt du mich +vorbeilassen. Es ist schon über die Zeit, ich fliege sonst zu guter +Letzt noch drei Tage in den Kasten.« + +Sie gab ihm aber den Weg nicht frei. »Hermann ... ich muß dir ... noch +was sagen,« kam es abgerissen und stoßweise über ihre bebenden Lippen. + +»Denn raus damit, aber fix!« + +Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte hastig ein paar Worte. + +Er lachte heiser auf: »Deern, du glaubst wohl, daß altes Militär sich +noch ins Bockshorn jagen läßt?« + +Ihre Augen wurden groß und starr: »Es ist so gewiß wahr, als ich hier +vor dir stehe.« + +Sein nägelbeschlagener Stiefelabsatz schlug auf die Steinfliesen, daß +der Schall die Straße hinabsprang und von einer Ecke zurückgeworfen +den gleichen Weg noch einmal machte. »Verdammte Bescherung!« knirschte +er zwischen den Zähnen und stieß sie unsanft von sich. Sie taumelte, +tastete nach dem Eisengitter und brach vor seinen Füßen zusammen. + +Entsetzt und plötzlich ernüchtert beugte er sich zu der am Boden +Liegenden: »Aber Leidchen ... was machst du für Geschichten ... steh' +doch auf ... wenn jemand käme!« + +Da sie kein Lebenszeichen von sich gab, ließ er sich zu ihr auf die +Steine nieder, hob ihren Kopf auf sein Knie, streichelte ihr Stirn und +Schläfen und rief sie beim Namen. + +Nach einer Minute erwachte sie aus der Ohnmacht und schlug die Augen +auf. + +»Aber Leidchen, mein liebes, süßes Leidchen, was hast du mich verjagt! +Vergib mir tausendmal, du mußt bedenken, das viele Bier ... die +Verführung ist zu groß in der Welt. Aber nun steh' auf ... wenn uns +einer hier sähe ... ich helf' dir. So--o ... siehste, es geht schon +wieder, stütz dich man fest auf mich, ich steh' jetzt schon wieder +ganz fest auf den Füßen und bringe dich nach Hause. Wir gehen über den +Osterdeich, da weht immer ein frischer Wind, der wird dir gut tun ... +Und was du mir da erst gesagt hast, bleib' ruhig, Kind, das ist ja +gar nichts Schlimmes, und ich bin darüber nur so erschrocken, weil es +so unverhofft kam, und weil ich ein bißchen zuviel getrunken habe. +Dann weiß der Mensch nicht, was er sagt und tut ... Ah! die frische +Luft von der Weser her ... nicht wahr, Kind, die tut dir wohl? ... Mir +auch, woll'n mal den Brustkasten ordentlich voll nehmen ... Kuck mal, +da fährt noch ein kleiner Dampfer, hat zwei Schleppkähne hinter sich, +kommen wohl von Minden, oder auch schon von Hameln ... Morgen früh +geht's ja nach Hause, das heißt, wenn ich nicht erst noch drei Tage zu +Vater Philipp muß, aber werd' man nicht bange, es hat ja noch immer, +immer gut gegangen. Was blinkt so freundlich in der Ferne? Es ist +das liebe Elternhaus. Sie werden sich erst wohl ein bißchen sperren, +aber das kann ihnen nun alles nichts mehr helfen. Weißt du, was so 'n +richtiger alter preußischer Militärsoldat ist, der steht auf seinem +Stück: Vorwärts mit Gott für König und Vaterland! Anders gibt's da +nichts, und wird nicht mit der Wimper gezuckt.« + +»Hermann, Hermann, du machst so schrecklich viele Worte.« + +»So? Ja, aber du hast mich auch zu schlimm verjagt. Ich hatte dich +doch man eben angetippt und pardauz lagst du da. Wenn das einer +gesehen hätte!« + +»Und wann willst du mit deinen Eltern sprechen?« + +»Natürlich gleich morgen abend.« + +»Dann mußt du mir aber gleich schreiben.« + +»Versteht sich. Oder ich komm' per Rad. Wie's gerade paßt.« + +»Oder soll ich lieber übermorgen nachgereist kommen?« + +»Nee, Leidchen, lieber nicht, mach' bloß keine Geschichten! Du bist +viel zu hitzig, und die Sache mit meinen Alten, weißte, die muß fein +eingefädelt werden, das muß einer kennen.« + +»Und dann könntest du auch wohl gleich zu meinem Bruder gehen.« + +»Ja, ja, wird gemacht.« + +»Aber du sagst ihm bloß, daß wir uns verlobt haben und bald Hochzeit +halten wollen ... Alles braucht er nicht zu wissen.« + +»Das mein' ich auch. Was er nicht weiß, das macht ihn nicht heiß.« + +»Und wann soll die Hochzeit sein?« + +»Wenn Vater und Mutter nur erst ja gesagt haben, kann die Sache gleich +vorwärts gehen. Ich denk', im November, oder sonst im Dezember. Das +ist ja wohl noch früh genug. Dann kannst du bei der Trauung auch noch +dreist 'n Kranz aufsetzen ...« + +»... Was meinst du zu der Aussteuer? Bei uns im Moor sind in diesen +Monaten so viel Hochzeiten, und die Handwerksleute kommen nicht +dagegen an. Ich glaube, wir kaufen sie am besten fertig, im Kloster +oder auf dem Weiher Berg.« + +»Wie du schon an alles gedacht hast!« + +»Woran hat unsereins denn sonst zu denken? ... Beinahe dreihundert +Taler hab' ich von Mutter selig geerbt. Dafür ist schon allerhand zu +haben. Und einen Schrank voll Leinen hab' ich auch, von Mutterseite +her, und was ich mir selbst dazu gewebt habe.« + +»Ja, das ist 'ne ganze Masse.« + +»Viel ist's ja nicht für Leute, wie ihr seid, aber du hast ja immer +gesagt, ich brächte sonst allerlei mit, was für kein Geld zu kaufen +wäre. Sag' deinen Eltern, ich würde ihnen jeden Wunsch an den Augen +ablesen. Und du mußt auch immer nett gegen sie sein, Hermann, mußt +auch mal nachgeben und nicht immer mit dem Kopf durch die Wand wollen. +Es gibt nichts Schrecklicheres, als wenn in einem Hause die Alten +und Jungen nicht miteinander auskommen können, und dies Trauerspiel +wollen wir nicht aufführen ... Wenn du heut' nachmittag gekommen +wärst, hätten wir das alles viel ruhiger und gründlicher durchsprechen +können. Jetzt sind wir beide zu aufgeregt, ich von dem schrecklichen +Warten, und du? ... ach, es ist ja einerlei ...« + +Sie war stehengeblieben und fuhr fort: »So, nun kann ich allein nach +Hause gehen.« + +»Soll ich dich doch nicht lieber ganz hinbringen?« fragte er unsicher. + +»Nein, du kannst gleich umkehren, meinetwegen sollst du nicht in +Arrest. Aber komm hier noch eben mit unter diese Laterne ... ich +möchte dir gern mal in die Augen sehen ... So ... Ach wenn ich dir +doch bloß ins Herz kucken könnte! ... Hermann, wenn du in deinem +Herzen beschlossen hast, mich in meiner Not zu verlassen, dann bitt +ich dich nur um eins: mach' gleich ganze Arbeit. Hier bei der Großen +Weserbrücke haben sie vorige Woche ein armes Mädchen aus dem Wasser +gezogen, das hatte auch ein schlechter treuloser Mensch in den Tod +getrieben. Hermann, wenn du deine Eidschwüre nicht halten willst ... +hier steh' ich und wehr' mich nicht, nimm das Messer, das du da an der +Seite hängen hast, und stich mich durchs Herz und wirf mich da hinein!« + +»Leidchen, Leidchen,« rief er in fast weinerlichem Tone, »was +schnackst du da von Totstechen! Wie kannst du bloß so was von mir +denken? So bist du doch sonst nicht gewesen.« + +»Nein, ~du~ bist sonst nicht so gewesen ...« sagte sie traurig. +»Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen, und du hast mich noch nicht +mal geküßt.« + +»Och Leidchen, das hab' ich ganz vergessen.« + +»Ja, das hast du ganz vergessen ...« + +»Aber wir können das ja nun zum Abschied nachholen.« + +Sie schüttelte den Kopf: »Ach, laß man.« + +»Leidchen, kannst du nicht vergeben? Hast du mich gar nicht mehr lieb?« + +Da warf sie sich ihm stürmisch an die Brust und küßte ihn +leidenschaftlich. Dann sahen sie sich noch einmal mit langem Blick in +die Augen, ihre ineinander verschlungenen Hände lösten sich, und jeder +ging seinen Weg. Er in der Richtung, aus der sie gekommen waren, sie +über die Große Weserbrücke und den glitzernden Strom der Neustadt zu. + + + + + 16. + + +Frau Marwede vermied bei ihrem respektabeln Doppelzentnergewicht das +Treppensteigen nach Möglichkeit. Als das Fräulein aber gar nicht +erscheinen wollte und das Dienstmädchen auf ihr Rufen nicht kam, +arbeitete sie sich doch einmal, mit der rechten Hand am Geländer sich +emporziehend und mit der linken abwechselnd die Knie verstärkend, +in das Dachgeschoß hinauf. Sie wäre wohl mit lautem Morgensegen und +großem Hallo in Leidchens Kammer gebrochen, wenn der Atemmangel sie +nicht gezwungen hätte, erst mal erschöpft und hachpachend auf den +Stuhl vor ihrem Bett zu sacken. Inzwischen verrauchte ihr Zorn, nicht +ohne Wohlgefallen betrachtete sie das schöne Kind und besorgte das +Wecken durch zärtliches Kneifen in den auf der Decke liegenden Arm. + +Leidchen fuhr in die Höhe und fragte erschrocken: »Wieviel ist die +Uhr?« + +»Gleich acht, du Langschläferin,« gab Frau Marwede zur Antwort. Dann +hob sie warnend die dicke Hand mit dem kurzen Zeigefinger: »Mädchen, +Mädchen, du bist diese Nacht wieder so spät nach Hause gekommen. +Ich hab nach der Uhr gesehen, es war bald eins. Ich gönne dir dein +Vergnügen ja von Herzen, aber nimm dich in acht. Du bist jung und +unerfahren, und wenn eine denn auch noch so hübsch ist ...« + +Leidchen war rot geworden. »Frau Marwede, Sie brauchen nichts +Schlechtes von mir zu denken. Ich war mit einem aus meinem Dorf +zusammen, wir beiden haben uns schon lange gern.« + +»Und wollt euch heiraten?« + +»Versteht sich.« + +»Mädchen, du hättest man noch warten sollen. Eine wie du hätte mit der +Zeit auch wohl einen in der Stadt gefunden.« + +Leidchen versetzte eifrig: »Oh, Sie müssen nicht denken, daß mein +Bräutigam ein gewöhnlicher ›Jan vom Moor‹ ist, wie man hier in Bremen +sagt. Er bekommt mal die große Windmühle in unserm Dorf, er ist dem +Müller sein einziger Sohn, und seine Mutter hat viel Geld gehabt.« + +Frau Marwede zog die Augenbrauen hoch: »Ach so, das ist was anderes. +Dann kannst du wohl lachen, und ich gratuliere dir vielmals. Aber nun +rappel dich auf und mach', daß du an deine Arbeit kommst.« + +Als die Frau gegangen war, blieb Leidchen noch einige Minuten, die +Hände unter dem Kopf, liegen. + +Da trafen Pfeifen- und Trommelklänge ihr Ohr. »Muß i denn, muß i denn +zum Städtele hinaus,« kam es von den nicht weit entfernten Kasernen +herüber. Also jetzt wurden die Reservisten zum Bahnhof geführt. Und +Hermann stieg wohl bald auf sein Rad. In zwei bis drei Stunden konnte +er zu Hause sein. Und heut' abend wollte er mit seinen Eltern sprechen +... In bangem Atmen hob und senkte sich ihre Brust über dem klopfenden +Herzen. + +Den Tag über wollten öfters bittere Gedanken gegen Hermann in ihr +aufsteigen, die sie jedoch mit Gewalt niederzuhalten suchte. Die +Hauptschuld hatten gewiß seine Kameraden. Ein bißchen leichtsinnig +mochte freilich er auch wohl sein, das lag am Ende schon vom Vater her +in ihm. Um so mehr brauchte er eine Frau, die ihn zu nehmen wußte. + +Frau Marwede begegnete heute ihrem Fräulein, als künftiger +Mühlenbesitzersfrau, mit einer gewissen Achtung. Auch +gab sie Ratschläge für einen jungen Hausstand und nannte +Ausstattungsgeschäfte, in denen man nicht nur billig, sondern auch gut +kaufe. + +Als Leidchen am Nachmittag in der Stadt einiges zu besorgen hatte, +beeilte sie sich möglichst, um eine Viertelstunde zu erübrigen, und +trat in eins der ihr empfohlenen Geschäfte, wo das Ladenfräulein ihr +vieles zeigen mußte. Den Stein ihres Ringes verbarg sie so in der +Hand, daß man ihn für einen Verlobungsreif halten konnte, und beim +Fortgehen versprach sie, nächstens mit ihrem Verlobten wiederzukommen. + +Nach dem Abendbrot lud Frau Marwede sie ein, sich mit ihrer Handarbeit +zu ihr zu setzen. Aber sie schützte Kopfweh vor und suchte ihre Kammer +auf. + +Jetzt eben sprach gewiß Hermann mit seinen Eltern. Der Gedanke +verursachte ihr starkes Herzklopfen, und Angstwellen liefen ihr +durch den ganzen Körper. Als die Unruhe immer größer wurde, dachte +sie auf einmal an den lieben Gott. Sie war ihm bislang mit ihren +Liebesangelegenheiten noch nicht gekommen. Zum letztenmal hatte sie +am Bett der kleinen Olga ernsthaft seiner gedacht. Aber jetzt bat sie +ihn mit gefalteten Händen und geschlossenen Augen, er möchte ihr doch +nicht böse sein und alles zum Besten wenden. Da sie merkte, daß sie +dabei ruhiger wurde, nahm sie nach einer Weile ihr Gesangbuch aus der +Kommode. Das in Leder gebundene und mit Goldschnitt versehene Buch +war ein Geschenk ihres Bruders zur Konfirmation, und vorn hatte er +hineingeschrieben: Dein Lebelang habe Gott vor Augen und im Herzen, +und hüte dich, daß du in keine Sünde willigest, noch tust wider Gottes +Gebot. Wie jetzt ihr Blick auf diese Worte fiel, warf sie das Buch +ärgerlich hin und schalt den Bruder einen alten Schulmeister. + +Aber die innere Unruhe schwoll aufs neue an, und sie nahm es wieder +zur Hand, um die »Kreuz- und Trostlieder« aufzuschlagen. Sie las deren +einige, die sich ihr durch die Anfangsworte empfahlen: Sei stille, +müd' gequältes Herz ... Gib dich zufrieden und sei stille ... Wer nur +den lieben Gott läßt walten ... Hei, diesen Gesang spielten daheim die +Musikanten immer, wenn im Dämmer der Großen Diele die Brautleute vor +dem blumengeschmückten, lichterbeglänzten Trautisch standen! ... + + * * * * * + +Am nächsten Morgen fing sie an, auf den Briefträger zu warten, +obgleich sie sich sagte, daß unmöglich schon Nachricht kommen +konnte. Und sie wartete den ganzen Tag. Und so den Mittwoch, und den +Donnerstag, mit wachsender Ungeduld und Spannung. + +Ob er wegen des Zuspätkommens am Sonntag doch vielleicht noch drei +Tage eingesperrt war? + +Oder hatte der Höker, der zu Hause die Posthilfsstelle verwaltete, den +Brief liegen lassen? Rechter Verlaß war auf den Mann nicht. + +Oder sollten die Müllersleute wirklich noch Schwierigkeiten machen? + +Wenn die Briefbestellungszeit vorüber war, horchte sie, so oft die +Ladentür klingelte, ob unten nicht jemand nach ihr fragte. Er hatte ja +gesagt, vielleicht käme er auch selbst herüber. + +Am Freitag, als sie gerade vor der Haustür fegte, ging der Postbote +nicht wie gewöhnlich vorüber, sondern rief verheißungsvoll: »Fräulein +Leidchen Rosenbrock.« Sie riß ihm den Brief aus der Hand und flog +klopfenden Herzens damit die Treppe hinauf. + +Auf ihrer Dachkammer angekommen, zerriß sie mit zitternden Fingern den +Umschlag und las: + + + Liebe Schwester! + +Sie stutzte und sah nach der Unterschrift. Ach so--o, der Brief war +nur von ihrem Bruder. Bitter enttäuscht ließ sie sich auf den Stuhl +sinken. + +Was mochte der ihr denn zu schreiben haben ... + + »Eigentlich wollte ich heute nach Bremen und Dich auch besuchen, aber + es ist was dazwischen gekommen. Nun muß ich Dir schreiben, was ich + Dir bestellen soll. Sei nächsten Sonntag um vier Uhr am Holler See, + vornan im Bürgerpark, die Stelle wirst Du wohl wissen, aber pünktlich! + Hoffentlich geht alles gut. + + Mit Gruß in Eile + + Dein Bruder Gerd.« + + +Ein froher Glanz überstrahlte ihr Gesicht, tief aufatmend ließ sie die +Hand mit dem Papier in ihren Schoß fallen. + +Also mit Gerd hatte Hermann sogar auch schon gesprochen! Das war +sicher ein gutes Zeichen. Und wie ruhig der die Sache nahm! + +Warum er wohl nicht selbst geschrieben hatte? Nun, Gerd hatte ihm +gewiß gesagt, daß er zur Stadt müßte und die Bestellung mitnehmen +könnte. + +Den Platz am Holler See hatte er natürlich gewählt, um es wieder gut +zu machen, daß er sie am letzten Sonntag dort vergeblich hatte warten +lassen. + +Sie war überglücklich, schob den Brief in ihren Busen und las die +kurzen Zeilen den Tag über wohl zehnmal. -- + +Der Sonntag kam und mit ihm ein anhaltender Landregen. Wie mit Mollen +goß es vom Himmel, und es war ein Wetter, daß man keinen Hund zum +Hause hinaus jagen mochte. + +Als Leidchen am Nachmittag Frau Marwede fragte, ob sie ein bißchen +ausgehen dürfte, sah diese sie mit maßlos erstaunten Augen an. + +»Mädchen, bist du nicht recht klug? Bei ~dem~ Wetter?« + +»Gerd hat mir geschrieben, ich muß ... Mein Bräutigam ist da.« + +»Ach so, das ist was anderes. Aber sag' ihm, daß er ein andermal +hierherkommt. Dieses dumme Versteckspielen hat jetzt doch keinen Zweck +mehr. Nimm meinem Mann seinen alten Regenschirm mit, er ist größer als +deiner und hält eher etwas aus.« + +Es traf sich gut, daß sie an der nächsten Straßenecke auf die +Elektrische stieß, die sie quer durch die Stadt an ihr Ziel brachte. + +Und da stand er auch schon, unter einem Regenschirm, an dem das +Wasser in blanken Bächen herunterlief. Sie sprang mit bebenden Füßen +von dem noch nicht ganz haltenden Wagen und eilte, unter Marwedes +Familienschirm geduckt, auf ihn zu. + +Der andere Schirm hob sich. Sie prallte zurück. + +»Guten Tag, Fräulein Rosenbrock ...« + +»Guten Tag ...« + +»Wie geht's Ihnen?« + +»Oh ... gut ... Wie kommen Sie bei solchem Regen hierher?« + +»Was einer sich vorgenommen hat, muß er auch ausführen ... Ich soll +Sie auch vielmals grüßen.« + +»Von wem?« + +»Von Ihrem Bruder Gerd.« + +»Ach so ... Danke.« + +»Gehen wir vielleicht ein bißchen im Bürgerpark spazieren?« + +»Bei solchem Wetter?« + +»Hm, es gibt ja Schutzhütten, und wir könnten auch am Emmasee eine +Tasse Kaffee trinken, oder auf der Meierei, wo Sie am liebsten wollen.« + +»Herr Timmermann, mir ist ganz wirr im Kopf ... ich begreif' nicht ... +Ich muß hierbleiben ... ich warte hier auf jemand.« + +»Nicht auf mich?« + +»Auf Sie?« + +»Ja, hat Gerd Ihnen denn nichts davon geschrieben?« + +»Daß Sie hierher kommen wollten? Nein ... Ach, nun geht mir ein Licht +auf ... Nichts für ungut, hier liegt ein Mißverständnis vor ... Gerd +ist an allem schuld, da hält gerade die Elektrische, ich will lieber +gleich mit in die Stadt fahren, es tut mir leid, aber es regnet +wirklich schlimm. Adieu!« + +Sie hatte den Wagen für sich allein und lief zweimal von einem Ende +bis zum anderen, ehe sie sich niederließ. + +Sie ballte die Hand zur Faust. Wenn sie den Bruder hier hätte! Was +hatte der nun wieder für Unfug angerichtet, mit seiner unglücklichen +Sucht, ihr Leben zu bestimmen. Mit den schönen Hoffnungen der letzten +beiden Tage war's also mal wieder nichts gewesen. Morgen wurde es eine +Woche, daß Hermann zu Hause war, und noch hatte er nicht das geringste +Lebenszeichen gegeben. Es mußten sich da doch wohl Schwierigkeiten +erhoben haben. + +Die Frage des Schaffners: »Umsteigen?« stellte sie vor die +Entscheidung, wie sie den Nachmittag zubringen sollte. Da die +Elektrische gerade an einem Café vorüberfuhr, das sie früher einige +Male mit Meta Stelljes besucht hatte, stieg sie an der nächsten +Haltestelle aus, ging die kurze Strecke zurück und trat in das noch +ziemlich leere Lokal, wo sie sich in ein Ecksofa warf. Der Kellner, +bei dem sie eine Tasse Kaffee bestellt hatte, stellte auch den Aufsatz +mit allerlei Gebäck vor sie auf das Marmortischchen. + +Die Hände im Schoß, grübelte sie dumpf vor sich hin. Nach einer Weile +fing sie auch an zu essen, fast ohne sich dessen bewußt zu werden. Der +Magen, der am Mittag nicht zu seinem Recht gekommen war, ließ sich +jetzt einfach durch die Hände zuführen, was er bedurfte. + +Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, das Café füllte sich schnell +mit lustigen Leuten, Männlein und Weiblein, die sich die gute Laune +nicht hatten verregnen lassen. Auf dem Podium in der Mitte fand sich +eine Kapelle zusammen, der sehr jugendliche Direktor trug lange +schwarze Künstlerlocken und nahm sich ungeheuer wichtig. + +Als die Musikanten ein ausgelassenes Operettenpotpourri spielten, kam +auf einmal das Gefühl grenzenloser Verlassenheit und Einsamkeit über +sie. Sie hielt es in diesem Getriebe nicht länger aus, klingelte mit +dem Löffelchen den Kellner herbei, zahlte und ging. + +Es hatte aufgehört zu regnen. Die Laternen brannten schon, ihr Licht +spiegelte sich in dem feuchten Glanz der Straßen. Die Luft war voll +Regendunst, die tief ziehenden Wolken schienen sich wie unförmige +Säcke dicht über den Häusern hinzuwälzen. + +Als sie eine Strecke gegangen war, trafen Glockenklänge ihr Ohr. Sie +ging dem Schall nach und stand bald vor einer hohen alten Kirche mit +bunten erleuchteten Fenstern. Nach kurzem Schwanken trat sie ein. + +Vom Widerhall der eigenen Schritte erschreckt, drückte sie sich +schnell in eine der ersten Bänke und hielt Umschau. Die Kronleuchter +strahlten helles Licht aus, in den Wölbungen und Winkeln und auf dem +Altarchor herrschte trotzdem Dämmerung. + +Die Orgel setzte voll ein, und sie warf ihre ermattete Seele in das +brausende Meer der Töne. Dann sang sie wacker mit, aus dem Gesangbuch, +das der Kirchendiener ihr überreicht hatte. + +Als der Pastor auf der schön geschnitzten Kanzel erschien, wartete +sie, wie sie es von den gottesdienstlichen Feiern in Grünmoor her +gewöhnt war, auf den Bibeltext. Es wurde jedoch keiner verlesen, +was sie nicht wenig befremdete. Dann wartete sie, daß der Herrgott +oder der Herr Christus einmal mit Namen erwähnt werden möchte, aber +vergeblich. Von dem, was der Prediger, unter reichlicher Anwendung +von Goethesprüchen, über Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung +vortrug, verstand sie nicht das mindeste, sodaß sie das Hinhören bald +aufgab und die quälenden Gedanken in ihr wieder die Oberhand gewannen. +Als sie aber die Kirche verließ, grüßte aus einem dämmerigen Winkel +eine vertraute Gestalt, in Stein gebildet, herüber, und das Wort: +»Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid« huschte +wie ein erquickender Lichtstrahl durch ihre im Dunkeln zagende Seele. + +Des Abends auf ihrer einsamen Dachkammer fühlte sie plötzlich den +Zwang in sich, in ihrer Sache irgend etwas zu tun. Nach einigem +Hinundherüberlegen erbrach sie den Brief, den sie vor anderthalb +Wochen an ihren Bruder geschrieben hatte, und nachdem sie ihn +gelesen, beschloß sie, einen neuen zu schreiben. Sie schob das +Zierdeckchen auf ihrer Kommode zurück und begann: + + + Lieber Bruder! + + Du hast mir mal wieder einen schönen Streich gespielt. Schreibst mir + da einen Brief, aus dem kein Mensch klug werden kann, ich bin so dumm + und geh hin, und Du schickst mir so mir nichts dir nichts den Lehrer + über den Hals. Er ist dadurch in große Ungelegenheit gekommen, wofür + er sich bei Dir bedanken kann. Hab' ich Dir nicht hundertmal gesagt, + daß ich nichts von ihm wissen will? Warum glaubst Du mir denn nicht? + Kannst Du Dich denn gar nicht daran gewöhnen, daß ich keinen Vormund + mehr brauche? + + Ich habe immer gedacht, Du kucktest mal bei mir vor; denn Du kommst in + dieser Zeit doch gewiß oft mit Torf in die Stadt. Aber jetzt, wo Du + 'ne Braut hast, bin ich natürlich Nebensache. + + Als Du vor fünf Wochen hier warst, wollte ich Dir etwas sagen. Aber + Du hattest keine Zeit und gingst zu früh weg. Weil Du nun gar nicht + kommst, kann ich es Dir meinetwegen ja auch schreiben. Du mußt nämlich + wissen, daß ich auch verlobt bin, und zwar mit Müllers Hermann. Weißt + Du noch, auf dem Freimarkt? Damals habe ich ihn schon gern gehabt; ja, + ich glaub' beinahe, sogar schon in der Schule. Diesen Sommer haben + wir uns zufällig wieder getroffen und verlobt. Die Hochzeit soll noch + vor Weihnachten sein, und ich will Dir auch ehrlich gestehen, daß wir + nicht länger warten dürfen. Nun wirst Du natürlich wieder böse und + fängst an zu schimpfen, und hast ja auch wohl ein bißchen Grund dazu, + und mir ist es selbst nicht ganz recht, wie das alles gekommen ist. + Aber die Liebe ist stark und das Fleisch schwach, und was geschehen + ist, ist nun mal geschehen. Wir sind alle Menschen und fehlen + mannigfaltig. Darum behalt Deine Strafrede man für Dich und sieh + lieber zu, wie Du mir helfen kannst. Du mußt nämlich wissen, daß ich + augenblicklich in ziemlicher Angst und Sorge bin. Hermann ist letzten + Montag nach Hause gereist und wollte gleich am selbigen Abend mit + seinen Eltern sprechen und mir dann sofort schreiben. Aber bis jetzt + ist sein Brief nicht gekommen. Es kann ja sein, daß er irgendwo liegen + geblieben ist, was ich beinah glaube; dann kommt er am Ende morgen + früh, denn heute war nur einmal Bestellung, wegen der Sonntagsruhe. + Es kann aber auch einen anderen Grund haben, nämlich den, daß die + alten Müllers erst noch Sperenzien machen. Hermann sagt freilich, + es hülfe ihnen alles nichts, sie müßten einfach. Aber er nimmt den + Mund manchmal etwas voll. Er ist ein grundguter, treuherziger Mensch, + aber wohl ein bißchen leicht, und nicht ganz so ehrenfest wie Du -- + das darf ich ja ruhig schreiben, so lieb ich ihn auch habe. Heute + nachmittag kam mir sogar mal der Gedanke, es wäre nicht unmöglich, + daß nicht er die Eltern, sondern die Eltern ihn herumkriegten. Auf so + dumme Ideen kann der Mensch kommen, wenn er sich allein überlassen + ist, jetzt lache ich natürlich schon wieder darüber. Weißt Du, was ich + mir da nun gedacht habe? Wenn Du mal hingingst und mit ihm sprächest + und ihm den Rücken ein bißchen steif machtest -- ich glaube, das + könnte er brauchen. Du darfst ihn aber ja und ja nicht merken lassen, + daß ich Dich hierum gebeten habe. Daß ich überhaupt schon einmal daran + gedacht habe, er könnte mich sitzen lassen, das darf er um Gottes + willen nicht wissen. Lieber Gerd, nimm's mir nicht übel, daß ich dies + alles ... + +Der Bogen war voll, sie las ihn durch, nickte befriedigt, korrigierte +einige Schreibfehler und nahm einen zweiten, auf dem sie fortfuhr: + + + Dir so schreibe. Aber ich hab' ja sonst keinen als Dich, und wenn + der Mensch in guten Tagen seine besten Freunde auch manchmal gering + achtet, in den bösen erkennt er, was er an ihnen hat. Du brauchst vor + Hermann gar nicht bange zu sein, er trägt Dir nichts nach, er hat + immer anständig von Dir gesprochen und hält große Stücke auf Deinen + Charakter. Überhaupt ist er ein lieber Mensch, und ihr müßt noch mal + dicke Freunde werden, eher laß ich Euch beiden keine Ruhe. Wenn Du + mir den Gefallen tust, werd ich Dir in alle Ewigkeit dankbar sein. + Wir sind hoffentlich bald Nachbarn, und dann wird sich wohl eine + Gelegenheit finden, das wieder gut zu machen. Ich habe neulich schon + einen Brief geschrieben, hab' ihn aber nicht abgeschickt. Denk' Dir, + ich hatte auf einmal Angst vor Dir. Ist das nicht komisch, Angst zu + haben vor einem so lieben Bruder, wie Du bist? Aber in der Einsamkeit + kommt der Mensch leicht auf allerhand dumme Grappen. Du sollst den + ersten Brief auch haben, ich lege ihn bei, wenn ich dann auch zwanzig + Pfennig aufbacken muß. Heute nachmittag bin ich auch mal in der + Kirche gewesen, es war da sonst sehr schön, aber sie predigen hier zu + hochstudiert, und unsereins hat nicht ganz viel davon. Ich freue mich, + wenn ich erst in Grünmoor wieder hin kann, denn es gehört doch so 'n + bißchen mit dazu, wir werden wohl meistens fahren, und Du und Sine + könnt dann mit aufsteigen. Grüße Hermann herzlich von mir und schilt + ihn aus, daß er mir noch nicht geschrieben hat, aber mach's auch nicht + zu schlimm. Und dann komm bald mal vor, daß wir mal vernünftig über + alles sprechen können. Mit Dir kann man doch immer noch am meisten + anfangen. + + + Es grüßt Dich + + Deine Schwester Leidchen. + + +Als sie den Doppelbrief in den Postkasten fallen hörte, atmete sie +erleichtert auf und sagte sich, nun wäre ihre Sache in den besten +Händen. + + + + + 17. + + +Am Dienstagvormittag stand Leidchen auf der Plättkammer, die neben +ihrem Stübchen im Dachgeschoß des Hauses lag und ließ das heiße Eisen +über die Leibwäsche der Marwedeschen Kinder gleiten. Sie hatte Tür und +Fenster geöffnet, denn die giftigen Kohlengase verursachten ihr leicht +Kopfweh. + +Eben dachte sie daran, daß um diese Stunde der Postbote in Brunsode +die Briefe bestellt, als unten auf der Treppe ein Männerschritt laut +wurde. Sie mußte das schwere Plätteisen schnell auf den Untersatz +stellen und beide Hände auf den Tisch stemmen, um nicht in die Knie zu +sinken. Als aber die Schritte näher kamen, fuhr sie sich mit der Hand +über das Gesicht, ergriff das Eisen wieder und stieß es hastig über +das Hemd, das sie gerade in Arbeit hatte. + +Gerds schmales Gesicht tauchte aus dem Treppenhause auf, seine +stahlblauen Augen blickten hart und streng, die Lippen hatte er fest +aufeinander gepreßt. Er trat ohne Gruß ein. + +»Leidchen, was hast du vorgestern mit Timmermann gehabt?« + +Obgleich der Schreck ihr in allen Gliedern saß, machte sie ein +schnippisches Gesicht: »Was soll ich mit dem gehabt haben?« + +»Gestern mittag war ich bei ihm, um mich zu erkundigen. Aus dem Zeug, +was er redete, konnte ich nicht klug werden. Aber soviel hab' ich +verstanden: Du hast ihn stehen lassen wie einen dummen Jungen und +bist mit der Elektrischen weggefahren.« + +»Ich möchte wissen, wer mir das verbieten will.« + +»Men--schens--kind! Wie kommst du dazu?« + +»Wie kommst ~du~ dazu, mir den Menschen auf den Hals zu hetzen?« + +»Leidchen!« + +»Hab' ich dir nicht oft und deutlich genug gesagt, daß ich nichts mit +ihm zu tun haben will?« + +»Aber du bist auf meinen Brief doch hingegangen.« + +»Das war ein Mißverständnis.« + +»Leidchen ... ich weiß nun bald wirklich nicht mehr, was ich von dir +denken soll. Der beste und treuherzigste Mensch, der ganz andere +Mädchen kriegen kann als dich, macht sich bei dem fürchterlichen +Wetter auf die Beine und bietet dir seine Hand; ich sitze zu Hause +und kann mir vor Freude nicht helfen, kucke nach der Uhr: jetzt ist's +vier, jetzt haben sie sich, jetzt hat auch Leidchen ihr Glück, und +ein so großes, wie wir's uns früher nicht haben träumen lassen, und +derweilen machst du's so, stößt eine solche Hand zurück wie ein Stück +Holz.« + +Sie stand indessen über den Tisch gebeugt und plättete mit heftigen, +klirrenden Stößen. + +Als er schwieg, sagte sie stoßweise: »Ich hab' dir einen langen Brief +geschrieben. Jetzt wirst du ihn wohl haben ... Da steht alles drin.« + +»So? Ich denke doch, jetzt wo ich einmal hier bin, machen wir die +Sache mündlich ab.« Er zog einen Stuhl heran und ließ sich nieder. + +»Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen.« + +»Dann nimm hundert, ich habe Zeit genug.« + +Sie hatte die Lippen trotzig geschürzt und schwieg. + +»Mit so einer fang' einer was an,« seufzte er und sah sie befremdet +und ratlos an. »Leidchen, hast du denn alles Vertrauen zu mir +verloren? Was hab' ich dir bloß getan? Du schüttelst den Kopf. Also +nichts. Dann sei aber auch nicht so albern und komm heraus damit ... +Du machst ja beinah ein Gesicht, als ob du ein böses Gewissen hättest.« + +»Das Eisen ist kalt geworden,« sagte sie hastig, nachdem sie es mit +angefeuchteten Fingerspitzen geprüft hatte. »Wart' einen Augenblick, +ich bin gleich wieder da.« + +Seinen Blick meidend, stolperte sie an ihm vorüber. Er sah ihr +kopfschüttelnd nach und murmelte vor sich hin: »Das ist doch rein zu +doll mit solchen Frauensleuten. Ob Sine auch so sein kann? Nee, ganz +gewiß nicht. Sonst müßt' einer sich die Sache wahrhaftig noch mal +überlegen.« + +Leidchen erschien wieder, und nachdem sie die Tür hinter sich +zugemacht und das Eisen auf den Untersatz gestellt hatte, nahm sie die +Hand ihres Bruders. »Gerd,« sagte sie mit weicher, einschmeichelnder +Stimme, »wir haben uns noch gar nicht mal guten Tag gesagt.« + +»Süh, das ist auch wahr. Guten Tag, Leidchen.« + +Er hielt ihre Hand mit der Rechten und streichelte sie mit der Linken. +»Wie das kleine Pfötchen zittert und bebt!« sagte er zärtlich. »Was +hast du denn bloß, lüttje Deern?« + +»Bleib ruhig, ich will dir alles erzählen, du sollst alles wissen.« + +Sie trat hinter den Tisch, prüfte das Eisen, das jetzt zischte, und +begann wieder zu plätten. + +»Weißt du noch, letztes Frühjahr, wie Meta Stelljes sich verlobte und +die kleine Olga starb?« + +»Ja, daran erinner' ich mich ganz gut.« + +»Ein paar Wochen später war mal ein schöner Sonntag, und ich ging ein +bißchen im Bürgerpark spazieren. Denn für unsereine, die tagelang +nicht aus dem Hause kommt, ist so 'n bißchen frische Luft sehr gesund. +Du kannst dir das gar nicht so denken, weil ihr auf dem Lande immer +die gute Luft habt.« + +»Aber Deern, nun werd' bloß nicht weitläufig.« + +»Nun rat' mal, wen ich da im Bürgerpark traf.« + +»Nach Rätselraten ist mir heute wirklich nicht zu Sinn.« + +»Denk dir: Müllers Hermann!« + +»Mül--lers Her--mann?« wiederholte er langsam und gedehnt. + +»Du mußt's mir versprechen, daß du ganz ruhig bleiben willst,« bat sie +mit einem schnellen, flimmernden Blick in seine Augen, »sonst kann ich +dir nichts erzählen.« + +»Aber Mädchen, ich höre dir ja ganz ruhig zu.« + +»Hermann war gerade eben aus Spandau wiedergekommen. Er freute sich +nicht wenig, als er mich zu sehen kriegte, und ich freute mich +natürlich auch. Denn meine Freundschaft mit Meta Stelljes war aus und +die kleine Olga tot, so hatte ich damals keinen Menschen.« + +»Weiß ich, nun man weiter.« + +»Und so ganz allein in der Welt, das hält nicht jeder aus, und auch +meine Natur ist nicht danach ...« + +»Aber nun vorwärts, Deern, du vertüterst dich ja ganz.« + +»Also wir fuhren zusammen im Kahn spazieren und haben uns dann öfters +getroffen und hatten uns bald so lieb, daß wir nicht mehr voneinander +lassen konnten. Und zuletzt haben wir uns richtig verlobt.« + +»Hmhm ... Und was soll nun werden?« + +»Das ist mal 'ne dumme Frage. Wir halten nächstens Hochzeit. Hermann +ist jetzt eben hin und spricht mit seinen Eltern.« + +»Deern, kuck mich mal an! ... Nee, nicht so halb an mir vorbei, +ordentlich frei ins Gesicht! Sag' mal, bist du wirklich so von allen +guten Geistern verlassen, daß du dir einbilden kannst, die nehmen eine +wie dich als Tochter ins Haus?« + +»Warum nicht?« + +»Dumme Deern, darum verlier' ich überhaupt keine Worte.« + +»Hermann sagt ...« + +»Ach was: Hermann sagt! Was Hermann sagt, ist für die Katz.« + +»Gerd, überleg dir, was du sagst und von wem du sprichst!« + +»Gut, Leidchen, wir wollen uns in der Sache gar nicht weiter aufregen. +Wenn die alten Müllers dir ihren Segen geben, hast du meinen auch. Wir +feiern dann eine große vergnügte Hochzeit, und du siehst zu, wie du +mit den Leuten auskommst. Es mag ja sein, daß Hermann im Grunde gar +nicht so übel ist, wie ich früher dachte. So ganz schlimm muß er ja +wohl nicht sein, sonst hättest du ihn gewiß bald laufen lassen ... +Bist du nun zufrieden?« + +Sie kam um den Tisch herumgefahren, schlug die Arme stürmisch um +seinen Hals und rief: »Lieber, bester Bruder, was bist du gut!« + +Er wehrte sie etwas unsanft ab und fuhr fort: »Wir sind noch nicht +ganz fertig, mein' Deern. Wenn die Müllersleute nun mal nicht wollen +... was dann?« + +Leidchen, die an ihren Platz zurückgetreten war, sah ihn mit +erschrockenen Augen an. + +»Sie müssen!« sagte sie, die Zähne zusammenbeißend. + +»Ha, als ob du sie zwingen könntest!« + +»Hermann ...« + +»Kann sie auch nicht zwingen ... Was dann?« + +Sie sah ihn ratlos an. + +»Ich will's dir sagen, Leidchen, dann ist noch gar nichts verloren, im +Gegenteil! Dann nimmst du einfach den anderen.« + +»Aber Gerd ...« + +»Was machst du für'n Gesicht? Das passiert öfters, daß der Mensch +mit seiner Liebe erst mal an den Verkehrten kommt, aber der wird +vergessen, sobald der Richtige sich sehen läßt.« + +»Gerd!« + +»Sieh, er weiß von der Geschichte nichts und braucht auch nichts davon +zu wissen. Du hast ihm vorgestern nichts gesagt, ich bin stumm wie +das Grab, und Müllers werden auch wohl dicht halten, ich will Hermann +noch eigens darum bitten. Wahrscheinlich hat er seinen Eltern auch gar +nichts davon gesagt und läßt die kleine Soldatenliebschaft von selbst +einschlafen, wie's die meisten tun, nach der Melodie: Aus den Augen, +aus dem Sinn.« + +»Gerd! Gerd!« + +»Ja, ja, Leidchen, verliebte Leute machen sich gern selbst was vor. +Da ist es gut für sie, daß andere klaren Kopf behalten und die Dinge +sehen, wie sie in Wirklichkeit sind. Ich möchte diesen Timmermann ja +gern zum Schwager haben, denn er ist ein prächtiger Mensch, und wir +sind gute Freunde. Aber zwingen will ich dich nicht. Kannst du auf die +Mühle kommen, in Gottes Namen man zu! Du bist eine, die am Ende auch +da fertig wird. Wenn aber nicht, auch gut. Dann gehst du einfach ein +paar Häuser weiter.« + +Sie hatte sich auf einen hoch angefüllten Wäschekorb sinken lassen, +barg das Gesicht in den Händen und stieß unter wildem Schluchzen +heraus: »Es geht ... nicht mehr ... es ist ... zu spät ...« + +»Was?« rief er zusammenzuckend. + +»Was!?« schrie er und sprang in die Höhe. + +Mit geballter Faust schritt er auf sie zu. Sie hob die Arme zur Abwehr. + +Er ließ die Faust sinken und spreizte die fünf Finger von sich: »Dich +prügeln? Fällt mir nicht im Traum ein. Das bist du mir gar nicht mehr +wert, dafür bist du mir viel zu schlecht. Pfui!« Er spie vor ihr aus +und rief noch einmal »Pfui!« Dann drehte er sich um, riß die Tür auf +und stieg mit harten, polternden Schritten die Treppe hinunter. Es +dröhnte durchs ganze Haus, wie er unten die Haustür ins Schloß warf. + +Eine Weile saß Leidchen in sich zusammengesunken und schluchzte, daß +es ihren ganzen Körper schüttelte. + +Dann hob sie den Kopf und starrte eine Zeitlang mit den verweinten, +entgeisteten Augen in die rote Kohlenglut des Plätteisens. + +Auf einmal schoß sie steil in die Höhe, lief in ihre Kammer hinüber, +zog das Jackett an, setzte den Hut auf, nahm den Schirm zur Hand und +schlich leise die Treppe hinunter. An Frau Marwede, die gerade eine +Kundin bediente, stürzte sie vorbei, ohne zur Seite zu sehen. Auf der +Straße setzte sie sich in Laufschritt, und als sie ihre Herrin hinter +sich rufen hörte, stürmte sie noch schneller voran. An der Ecke sprang +sie auf einen Wagen der Elektrischen, der dort gerade hielt. Da sie +in der Eile kein Geld beigesteckt hatte, mußte der Schaffner ihr den +Groschen für die Fahrt leihen. + +Als sie am Torfhafen ankam, fand sie Gerd in seinem Schiff, zur +Abfahrt rüstend. + +Sie trat an die Uferböschung und rief seinen Namen. Er sah und hörte +nicht. + +Er hob das Schieberuder, und das Boot glitt zum Hafen hinaus in den +Kanal. Sie ging auf dem Leinpfad nebenher und bat einmal über das +andere, er möchte sie doch nur einmal noch anhören. + +Er lenkte das Schiff auf die andere Seite und fuhr hart am +jenseitigen Ufer dahin. Sie sah sich um, und als sie sich überzeugt +hatte, daß niemand in der Nähe war, rief sie ihm durch die hohlen +Hände zu: »Gerd, wenn du so von mir weggehst, spring' ich in die +Weser.« + +Er stieß das Fahrzeug mit der ganzen Kraft seiner Arme vorwärts, so +daß sie not hatte, mit ihm Schritt zu halten. + +Verweiflungsvoll schrie sie hinüber: »Gerd, hast du ganz vergessen, +was du unserer Mutter selig auf ihrem letzten Lager versprochen hast?« + +Zum ersten Male warf er einen schnellen Blick zur Seite. + +Nach einer Weile verlangsamte das Schiff seine Fahrt, und dann kam es +schräg über den Kanal und legte sich ans Ufer. Nachdem er ausgestiegen +war und es an der Vorderkette festgemacht hatte, trat er vor die +Schwester hin. Die Hände nach unten gestreckt, sagte er, sie mit +todtraurigen Augen ansehend: »Oh, Leidchen ... Leidchen!« Sie stand +da, glutübergossen, den Blick auf den Boden geheftet, und stach mit +der Spitze ihres Schirmes ein spätes Blümchen in den Grund. + +»Denn komm,« sagte er tonlos und schritt an ihr vorüber auf einen +Promenadenweg zu, der in den am Torfkanal sich entlang ziehenden +Bürgerpark führte. Sie folgte ihm in einer Entfernung von zwei bis +drei Schritten. Vor einer einsamen Bank machte er halt, ließ sich +seufzend niederfallen und gab der Schwester stumm ein Zeichen, sich +neben ihn zu setzen. + +Lange verharrten sie in Schweigen. Er hatte die Arme auf die +Knie gestemmt, den Kopf in die Hände gestützt, die Finger in die +Augen gedrückt. Sie blickte von Zeit zu Zeit scheu zur Seite und +wagte nicht, ihn anzureden. Denn auf seiner Schläfe war eine +dickgeschwollene, wie ein Blitz gezackte Ader, durch die das Blut +stoßweise dahinschoß. + +Plötzlich verdeckte er die Augen mit ganzen Händen und fing bitterlich +an zu weinen. Er wollte das Schluchzen gewaltsam unterdrücken, um so +mehr erschütterte es seinen Körper. Endlich begann er mit gebrochener +Stimme zu reden. + +»Leidchen, Leidchen, wie gut hättest du es haben können ... so gut +wie keine in unserm Dorf und im ganzen Moor ... Und nun machst du +selbst dir alles durch deinen Leichtsinn zuschanden ... Hab' ich dich +so angelernt und aufgezogen? ... Hab' ich dich nicht immer vermahnt +und zum Rechten angehalten? Hab' ich nicht gesagt, du solltest bei +uns auf dem Lande bleiben? Aber du mußtest natürlich mit aller Gewalt +in die Stadt, bloß um dem, der's immer so gut mit dir gemeint hat, +unter den Augen wegzukommen und in dein Unglück zu rennen ... Wie bin +ich immer stolz auf dich gewesen ... du warst das feinste Mädchen im +Dorf. Wenn du einen so fröhlich ankucktest, war's, als wenn einem die +liebe Sonne so recht hell und warm ins Herz lachte ... Wenn du im +Moor oder auf den Wiesen dich so munter regtest, wurde die schwerste +Arbeit einem zur Lust ... Und nun machst du's so, nun mußt du dasitzen +mit niedergeschlagenen Augen, wie ein Klumpen Unglück ... Es ist ein +Jammer sondergleichen ...« + +Sie saß auf ihren Schirm gestützt, starrte zur Erde und ließ alles +ruhig über sich ergehen. + +Sein Gesicht nahm auf einmal den Ausdruck großer Bitterkeit an: »Sieh +bloß zu, daß du's gut bezahlt kriegst!« + +Wie von einer Natter gestochen fuhr sie in die Höhe und sah ihn mit +blitzenden Augen an: »Gerd, ich rat' dir, geh nicht zu weit! Alles laß +ich mir auch von dir nicht gefallen.« + +»Ja, nun bist du auf einmal stolz, nun, wo's zu spät ist ...« + +Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Dann fragte sie leise und +zaghaft: »Gerd, darf ich nun auch mal ein Wort sagen?« + +Er sagte nicht ja und nicht nein. + +»Bitte, lieber Bruder, laß uns nicht immer über das reden, was nun +einmal nicht mehr zu ändern ist ... Ich hab' dir einen langen Brief +geschrieben, da steht alles in ... Ich hab' dir vorhin schon gesagt: +Hermann ist ein grundguter Mensch, bloß ein bißchen leicht, nicht ganz +so ehrenfest wie du; jeder hat ja seine Fehler, du auch. Daß er mich +von Herzen lieb hat, das weiß ich ebenso gewiß wie das andere, daß +du es gut mit mir meinst. Sein Vater und Mutter mögen erst ja wohl +gegen mich sein, aber er hält fest und treu zu mir. Wenn ich das nicht +ganz gewiß wüßte, was bliebe mir denn noch übrig! Aber, wie ich schon +gesagt habe, er ist ein bißchen leicht ... Deshalb braucht er einen, +der ihn mal an seine Pflicht erinnert und ihm den Rücken steif macht, +damit er fest seinen Mann stehen kann. Und da möchte ich dich nun +bitten, lieber Bruder, geh' doch mal hin und sprich mit ihm!« + +»So, dafür bin ich gut genug ... Als ihr miteinander anfingt, du wurde +ich nicht um Rat gefragt.« + +»Ach, ich wollte es dir jedesmal sagen, wenn du hier warst, aber ...« + +»Du hieltest deinen Mund, weil du von Anfang an kein gutes Gewissen +bei der Sache hattest.« + +»Bitte, Gerd, laß uns davon doch nicht immer wieder anfangen ... Nicht +wahr? du tust deiner kleinen Schwester die Liebe an, daß du bald mal +hingehst. Bitte, bitte.« + +Sie berührte mit der Hand leise streichelnd seinen Arm und sah ihn +flehend an. + +Er saß lange Zeit vornübergebeugt, mit dem linken Hacken ein Loch in +den Kies bohrend, schweigend und manchmal seufzend. + +Endlich richtete er sich auf und sagte entschlossen: »Ja, ich will's +tun. Und er soll was von mir zu hören kriegen, das wird er sich nicht +hinter den Spiegel stecken!« + +Sie hob erschreckt und wie beschwörend die Hand: »Um Gottes willen, +Gerd, bloß das nicht! Damit machst du die Sache nur schlimmer. Die +Schuld will ich gern auf mich nehmen. Nein, du mußt freundlich, ruhig +und ernsthaft mit ihm sprechen, wie du das so schön kannst. Du mußt +ihn daran erinnern, was er mir schuldig ist, und auch seiner eigenen +Ehre.« + +»Ha! Ein schöner Bräutigam, den ein anderer daran erst erinnern muß.« + +»Ach Gerd ... Du mußt mich auch ein bißchen anpreisen und ihm sagen, +daß er mit mir nicht betrogen wird. Das weiß er ja auch schon so, aber +es kann doch nicht schaden, wenn's ihm auch ein anderer noch mal sagt, +und auf deinen Charakter hält er große Stücke, das hat er mir öfters +gesagt.« + +»Wirklich? Das ist ja nett, und dankenswert, hahaha ... Aber gut, +morgen abend, nach Feierabend, geh' ich hin. Wenn Wind ist, werd' ich +ihn wohl allein auf der Mühle treffen, den Gesellen haben sie neulich +laufen lassen.« + +»Oh Gerd,« rief sie, erleichtert aufatmend, »wie soll ich das bloß +wieder gut machen?« + +Sie ergriff seine Hand, die sie drückte und liebkosend gegen ihre +Wangen preßte. + +Er zog dieselbe bald zurück und sagte: »Ob's was helfen wird? Ich +verspreche mir soviel wie nichts davon. Die Alten, die Alten ...« + +»Oh Gerd, wenn wir drei Jungen fest zusammenhalten ...« + +»Deern, du bist jung und unerfahren, du kennst das Leben und die +Menschen nicht. ~Die~ Sorte hat noch keinem etwas zuliebe getan.« + +»Könntest du mit ihnen nicht auch mal sprechen, wenn's nötig ist? Oder +graust du dich davor?« + +»Gut, ich werde auch ihnen ins Gewissen reden, wenn's nötig ist.« + +»Bitte, Gerd, tu' das. Du kannst das ja so schön. Aber mach's bitte +recht vorsichtig und gelinde, daß du sie nicht gegen mich erzürnst. Du +mußt immer bedenken, ich soll mit ihnen leben.« + +»Und wenn sie sich auf nichts einlassen wollen, was dann?« + +»Darüber wollen wir noch nicht sprechen.« + +»Das wollen wir doch, und erst recht! Dann werd' ich Hermann die +Pistole auf die Brust setzen, daß er's macht wie vor zwei Jahren +Joostens Jan, als seine Eltern seine Braut nicht aufnehmen wollten. +Dann muß er hier in Bremen mit dir einen Hausstand gründen. Arbeit +findet er überall, und wenn du später etwa mit zuverdienst, als +Aufwartefrau oder so, könnt ihr ganz gut leben.« + +»Ob er das wohl täte?« + +»Wenn er dich wirklich lieb hat und ein ehrlicher Kerl ist, kann er +gar nicht anders.« + +»Wie du gleich an alles denkst, Gerd! Ja, das wäre immer noch ein +Ausweg. Später müßten wir die Mühle ja doch kriegen, nicht wahr? Denn +da möcht' ich doch lieber wohnen.« + +»Das glaub' ich dir.« + +Sie erhoben sich von der Bank und schritten langsam den Parkweg +zurück, dem Torfkanal zu. + +»Ach Leidchen,« begann er noch einmal, »hätt' ich von dem allen +nur eine Ahnung gehabt! Ich hätte dich mit Gewalt von dem Menschen +losgerissen, ehe es zu spät war.« + +»Das hättest du nicht fertig gebracht,« rief sie leidenschaftlich. +»Wenn die Liebe einen mal gepackt hat, dann kommt nichts in der Welt +dagegen auf.« + +»Ich kenne die Liebe auch,« sagte er leise, und seine traurig ernsten +Augen leuchteten auf. + +»Du bist in allen Dingen anders als ich ... Oh, Gerd, wie freu' ich +mich, daß du gekommen bist und ich das alles vom Herzen los bin! Ich +kann dir gar nicht sagen, wie leicht mir jetzt ist. Nun ist meine +Sache in den besten Händen. Heute seh' ich erst ein, was ich an dir +habe. Nicht wahr, du glaubst doch auch, daß noch alles gut wird?« Sie +hatte seine Hand ergriffen und sah ihm in die Augen. + +Er blickte sie an, nicht sonderlich hoffnungsfreudig, und sagte: »Wir +wollen unser Möglichstes versuchen.« + +Er hatte die Vorderkette seines Schiffes gelöst, warf sie auf die +Koje, daß es einen scharfen, dumpf nachhallenden Eisenklang gab, und +stemmte das Ruder ein. + +»Wann krieg' ich Nachricht?« fragte sie. + +»Sobald es angeht,« sagte er gelassen, legte sich gegen die Stange und +brachte das Schiff in Gang. Sie sah ihm lange nach und wartete, er +sollte sich noch einmal umwenden. Aber das tat er nicht, sondern mit +seinen lang ausgreifenden, etwas wiegenden Schritten ging er neben dem +auf dem schnurgeraden Wasserlauf gleitenden Schiff den schmalen Pfad +dahin. + +Endlich wandte auch sie sich und ging langsam nach der Stadt zurück. + + + + + 18. + + +Brunsode hatte Feierabend gemacht, auf allen Gehöften ziemlich +gleichzeitig. Nur die Windmühle, deren Arbeits- und Ruhestunden +zuzeiten nicht durch Tag und Nacht, sondern von Wind und Wetter +bestimmt werden, drehte sich langsam vor einem schwachen West, und die +kleinen Fenster waren erleuchtet. + +Das bemerkte Gerd mit Genugtuung, als er mit festen Schritten den +Birkendamm daherkam. Er trug Sonntagskleidung und Lederstiefeln. Im +Munde hing ihm die Pfeife, die er jedoch nicht in Brand gesetzt hatte. +Als er vom Damm abbog, schob er sie in die innere Rocktasche. + +Er warf einen Blick in die offen stehende Tür der Mühle und sah in +dem schwachen Licht einer Petroleumlampe den Gesuchten beschäftigt, +einen Kornsack in den Mahltrichter zu entleeren. Eintretend rief er +ihm durch das betäubende Geklapper die Tageszeit zu. »Wart' einen +Augenblick, ich komme gleich,« wurde ihm hastig geantwortet. + +Er setzte sich auf einen prallen Kornsack und sah auf einen Fleck. Als +er nach einer Weile aufblickte, ob der Erwartete noch nicht käme, sah +er ihn, die mehlbepuderte Mütze im Nacken, eine Treppe hinaufsteigen +und in dem Kopf der Mühle verschwinden. »Das macht das böse Gewissen,« +murmelte er bitter lächelnd vor sich hin. + +Nachdem er eine gute Weile geduldig gewartet hatte, erhob er sich und +stieg eine kurze Treppe von zehn Stufen hinauf. Gerade wollte er auf +der höher führenden Leiter dem Verschwundenen nachsteigen, als dieser +oben sichtbar wurde und langsam herunterkam. + +»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander sprechen?« rief er ihm +entgegen. + +Der Müller öffnete eine Tür und ließ ihn auf den Umgang hinaustreten. +Als er hinter sich zugemacht hatte, klang der Lärm des Mahlwerks +gedämpft, und man hörte die gespenstisch durch das Dunkel fahrenden +Flügel wie Riesenschwerter fauchen. + +»Du kommst wegen Leidchen,« begann der Müller. + +»Allerdings,« sagte Gerd, ein wenig überrascht. + +»Hast du sie besucht? Wie geht es ihr?« + +»Wie soll es ihr gehen ...« + +»Sie hat wohl stark nach einem Brief von mir ausgesehen?« + +»Das soll wohl sein.« + +»Aber ich konnte ihr wirklich noch nichts schreiben.« + +»Hermann, ich bin nicht gekommen, um ein bißchen mit dir zu schnacken. +Erst mal eine Frage! Sag mal, hast du Leidchen bloß zum besten gehabt, +ich meine, hast du bloß so deinen Spaß mit ihr haben wollen?« + +»Gerd, das traust du mir doch wohl nicht zu.« + +»Ich weiß nicht ... So genau kenne ich dich nicht. Also du hast ihr +wirklich die Ehe versprochen?« + +»Ja.« + +»Gut, daß ich das nun erst mal weiß. Sonst, beim wahrhaftigen Gott, +könnte ich dich packen und da in die sausenden Flügel hineinstoßen.« + +»Hoho, man nicht so hitzig! Dabei hätt' ich auch noch ein Wort +mitzureden.« + +»Und wann soll die Hochzeit sein?« + +»Wir hatten an November oder Dezember gedacht ... aber ...« + +»Was aber?« + +»Die beiden Alten haben dabei auch ein Wort mitzureden.« + +»Ach nee! Und was sagen die?« + +»Gerd, wenn man in der Fremde ist und vergnügt in den Tag hineinlebt, +denkt man wohl: mit den Alten wirst du leicht fertig, die müssen, wie +du willst, die werden einfach nicht gefragt. Bist du dann aber wieder +zu Hause und streckst die Füße jeden Tag mit ihnen unter denselben +Tisch, dann macht sich die Sache doch etwas anders.« + +»Ach nee! ... Hast du schon ernsthaft mit ihnen wegen Leidchen +gesprochen?« + +»Versteht sich. Den ersten Abend ging's nicht gut, Vater war, ich +denk', aus Freude, daß er mich wieder hat, so 'n bißchen aufgeheitert +... Aber Dienstag, so in der Schummerzeit, geh' ich hin und fädele die +Sache nach meiner Meinung sehr fein ein. Aber Vater erklärt rundweg, +von den kleinen Kötterdeerns wär' noch nie eine als junge Frau auf die +Mühle gezogen, und solange er die Augen offen habe, bliebe das auch +so, daß der Mühlerbe sich von anderswoher seinesgleichen hole.« + +»Hast du ihm gesagt, was du meiner Schwester schuldig bist?« + +»Ja. Da zuckte er aber nur die Achseln.« + +»Und was soll nun werden?« + +»Wenn ich das nur erst wüßte ... Die ganzen Tage zergrübele ich mir +darüber den Kopf. Leidchen tut mir in der Seele weh, sie nimmt die +Sache so schrecklich ernst.« + +»Den Deubel auch! Darüber wunderst du dich?« + +»Nein, nein, Gerd, ich wollte nur sagen, sie ist so furchtbar hitzig +... Sag' mal, kennst du Harm Tietjen, den Grasbauern an der Hamme?« + +»Ja, wir haben Grünland von ihm in Pacht.« + +»Kennst du auch seine Tochter Hermine?« + +»O ja, sie muß so an die Dreißig sein, hat mehr Sommersprossen +im Gesicht als Haare auf dem Kopf, und ist schon stark in Saat +geschossen.« + +»Denk' dir, Gerd, die soll ich mit Gewalt heiraten!« + +»Junge! Seid ihr denn ganz des ...? Kennst du das Mensch?« + +»Nein. Ist sie wirklich so schlimm?« + +»Ich würde lieber die Wackelstine aus dem Armenhaus nehmen als die. +Drei Jahre ist sie mit einem Postschreiber aus Bremen herumgezockelt, +dann hat der sie laufen lassen. Da, wo sie zu Hause ist, nimmt jetzt +der ärmste Knecht sie nicht mehr geschenkt. Wie können deine Eltern +bloß so blind und so grausam sein!« + +Hermann seufzte. »Vater hat die letzten Jahre schlecht aufgepaßt, +und der Gesell, den wir nun weggejagt haben, hat sich das zunutze +gemacht. Prozesse haben allerhand gekostet, die Mühle in Blankenmoor +macht uns scharf Konkurrenz, und ich habe als Soldat auch ziemlich +viel gebraucht; denn ich dachte, das Geld, das Mutter zugebracht hat, +könnte gar nicht alle werden ... Wir brauchen notwendig Geld.« + +»Und du willst dich verkaufen lassen?« + +»Gerd, wie kannst du so was denken ... Ich sträube mich ja mit Händen +und Füßen. Wenn mir nur einer da heraushülfe!« + +»Selbst ist der Mann! Tritt doch vor die alten Seelenverkäufer +hin, schlag mit der geballten Faust auf den Tisch, daß die Platte +auseinanderspringt, und sag': Entweder ihr gebt mir Leidchen zur Frau +oder ich nehm meinen Stock und geh meiner Wege!« + +»So wird's auch wohl noch kommen, ich hab' mir das auch schon gedacht.« + +»Hermann, wir beiden sind niemals gut Freund miteinander gewesen. +Du warst mir immer zu leicht und zu großspurig. Aber für einen +anständigen Kerl hab' ich dich im Grunde doch immer gehalten. Nun +beweise, daß ich mich in dir nicht getäuscht habe. Komm, wir gehen +zu deinen Eltern und sprechen mal ein ernstes Wort mit ihnen. Zeig +ihnen die Zähne und laß sehen, ob du ein Kerl bist, der Ehre im Leibe +und Muck in den Knochen hat und mehr kann, als unerfahrene Mädchen +übertölpeln. Komm!« + +»Gerd, ich kann die Mühle nicht allein lassen.« + +»Stell sie ab, es schafft doch nicht mehr bei der Mütze voll Wind.« + +Hermann sah prüfend nach den Flügeln, deren Umdrehungen sich noch +mehr verlangsamt hatten. Er trat von einem Fuß auf den anderen, riß +die Mütze vom Kopf, wühlte mit der Hand in seinen Haaren und sagte +endlich: »Geh vorauf, ich komme gleich nach.« + +Gerd schritt auf dem Fahrdamm, der Mühle und Wohnhaus trennte, unruhig +hin und her. Nach einer Weile kamen die Flügel unter Knarren zum +Stehen, und bald war Hermann an seiner Seite. + +»Sag' aber um Gottes willen nichts von Hermine Tietjen,« bat er, indem +sie dem Hause zuschritten, »davon weiß sonst noch kein Mensch, und das +würde den Alten fuchsteufelswild machen.« + +»Laß mich man gewähren und steh du deinen Mann,« sagte Gerd. + +Sie gingen über eine geräumige, gegen das Viehhaus abgeschorene +Diele, die von einer roten Ampel beleuchtet wurde, und traten in die +Wohnstube, wo die Müllersleute um eine grünbeschirmte Lampe saßen, +die Frau mit einem Strickstrumpf, der Mann über seinen Zeitungen, ein +dampfendes Glas Grog neben sich. + +»Warum bist du nicht in der Mühle?« herrschte der Vater den Sohn an. + +»Der Wind ist alle geworden, ich hab' Feierabend gemacht,« sagte +Hermann und ließ sich auf einen Stuhl unweit der Tür nieder. + +»Was willst ~du~ denn?« wandte der Müller sich darauf an den +Besucher. + +»Mit Verlaub,« sagte dieser gelassen, »ich darf mich wohl erst mal +setzen.« Er zog einen Stuhl heran und pflanzte sich recht mitten in +die Stube, den beiden am Tisch gegenüber, den Sohn halbrechts hinter +sich. Die ein wenig in den Nacken geschobene Mütze behielt er nach +Landessitte auf dem Kopf. Auch spuckte er, wie es so Brauch war, +einmal zwischen seinen Knien hindurch auf den Fußboden. Das war sonst +gerade nicht mehr seine Art, seit Freund Timmermann es sich einmal +verbeten hatte, aber heute kam es ihm darauf an, dem stiernackigen +Mann mit dem roten, höhnischen Gesicht zu zeigen, daß er dessen +Anspruch, eine höhere Art Mensch zu sein als die anderen Moorbauern, +nicht anerkannte. + +Der Müller riß die Augen weit auf und wollte etwas sagen. + +Aber Gerd kam ihm zuvor. »Ich bin gekommen,« begann er, den Blick +seinem Gegenüber voll zuwendend, »um mit Euch wegen meiner Schwester +Leidchen zu sprechen.« + +»Was scheren mich deine Familienangelegenheiten!« polterte der andere. + +»Es sind ebensosehr die Euren. Hermann hat meiner Schwester in Bremen +die Ehe versprochen. Nicht wahr, Hermann, so ist es doch?« wandte er +sich nach diesem um. + +Der nickte. + +»Und nun wollte ich anfragen, wann die Hochzeit sein soll. Ihr wißt, +die Sache hat Eile.« + +»Hohoho,« lachte der Müller, indem er mit der einen Hand die Zeitungen +zurückschob und sich mit der anderen auf das Knie schlug, »du bist ein +famoser Kerl, der gleich auf das Ganze geht.« + +In Gerds Gesicht zuckte es. »Zum Lachen ist bei so ernsten Dingen +ganz und gar keine Ursache,« sagte er, finster blickend, mit mühsam +gebändigter, bebender Stimme. »Es handelt sich nicht bloß um uns. Es +handelt sich ebensoviel und beinah noch mehr darum, daß Euer Hermann +nicht als meineidiger Schuft Schande über Eure Familie bringt.« + +»Für die Ehre unserer Familie zu sorgen, kannst du getrost uns +überlassen, dazu brauchen wir dich nicht,« gab der Müller mit +spöttischem Lächeln zur Antwort. »Was Hermann in Bremen für dumme +Streiche gemacht hat, weiß ich nicht und will ich auch nicht wissen. +Was so 'n Mädchen in ihrem Leichtsinn sich einbrockt, muß sie auch +ausessen.« + +»Müllers Vater, Ihr sprecht von Leichtsinn und Dummheiten, und ich +will die beiden gewiß nicht in Schutz nehmen. Ein Sohn, der seinen +Eltern eine Tochter ins Haus bringen will, soll sie früh genug fragen, +ob die, auf die er sein Auge geworfen hat, ihnen paßt, und überhaupt +soll alles ordentlich und ehrlich zugehen. Ich kann das begreifen, daß +Ihr böse seid, und habe selbst gestern meiner Schwester gehörig den +Text gelesen. Aber nun wollen wir uns doch auch sagen: Was geschehen +ist, das ist geschehen, auch der beste Mensch kann von einem Fehl +übereilet werden; denn wir sind allzumal Sünder. Die Hauptsache ist, +daß die beiden sich wirklich von Herzen lieb haben. Für Leidchen kann +ich garantieren, und Hermann hat es mir eben erst draußen versichert. +Wenn Ihr sie jetzt noch auseinanderreißen wolltet, tätet Ihr eine +viel größere Sünde als die ist, die sie begangen haben. Bitte, seid so +gut und laßt mich ausreden! Wenn Ihr meine Schwester kenntet, würdet +Ihr keine andere als Schwiegertochter haben wollen. Laßt sie erst acht +Tage in Eurem Hause sein, Ihr sollt sehen, dann mögt Ihr sie um kein +Geld mehr missen. Sie ist eins von den Menschenkindern, denen alle +Herzen zufliegen. Fragt auf unserer Nachbarschaft, bei Rotermunds, bei +Frerks, bei Böschens und bei allen, und Ihr werdet euch wundern, wie +alle sie lieb haben. Geld bringt sie ja leider nur an die dreihundert +Taler mit, aber einen fröhlichen Sinn und Gesundheit und Lust zur +Arbeit, und ich meine, das sind alles Dinge, die auch etwas wert sind. +Die Leute sagen, Ihr hättet jetzt schwere Zeiten mit Eurer Mühle, aber +die gehen vorüber, wo der Gesell, der Euch viel Schaden getan hat, weg +ist und Hermann sich der Sache annimmt, der ja lange genug gelernt +hat und seinen Kram gewiß gut versteht. Manche Kunden, die jetzt in +Blankenmoor mahlen lassen, werden Euch wiederkommen; mit einigen, die +ich besser kenne, will ich selbst sprechen, und die anderen folgen +dann wohl nach, denn wenn sie selbst keinen Schaden dabei haben, sind +die Leute dafür, daß das Geld im Dorfe bleibt. Und Leidchen ist für +das Sparen und Zusammenhalten, dazu hab' ich selbst sie von klein auf +angelernt. Für jüngere Kinder habt Ihr nicht zu sorgen, deshalb könnt +Ihr Eurem einzigen Sohn gut zu Willen sein. Eine so große und starke +Mühle mit drei Mahlgängen, die wenig Reparaturen kostet, nährt leicht +mit Euch Alten die Jungen, und auch noch einen guten Trupp Kinder. +Wir sind ja gegen Euch wohl kleine Leute, aber eine Hergelaufene ist +Leidchen doch auch nicht. Wir Rosenbrocks stammen von einem großen +Geesthof und haben uns unter den ersten hier angesiedelt. Und was +unserem Großvater sein Bruder war, der hat als Knecht in Hangstedt +einen Bauernhof von vierhundert Morgen befreit ... Müllers Vater und +Ihr, Müllers Mutter -- ich weiß, Ihr habt Euren Hermann lieb, und +Ihr seid doch auch mal 'ne junge Deern gewesen -- Ihr solltet man +ein Einsehen haben und den beiden helfen, daß sie bald im heiligen +Ehestand zusammenkommen.« + +Der Müller hatte aufmerksam zugehört und einige Male sogar genickt. +Daraus hatte Gerd Hoffnung geschöpft und sich deshalb in einen immer +wärmeren Ton hineingeredet. Jetzt wagte er es sogar, ihm seine Hand +entgegenzustrecken. + +»Bist du nun fertig?« fragte der Mann. + +»Ja. Ich wüßte nicht, was sonst noch zu sagen wäre.« + +Der andere sah ihm mit einer gewissen Achtung und nicht ohne +Wohlgefallen in das schmale, scharfgeschnittene Gesicht. »Gerd,« +begann er, »du bist soweit ein ganz fixer Mensch. Schade, daß du nicht +als Advokat studiert hast, aus dir hätte was werden können. Aber, +weißt du, hierzu langt deine Kunst noch lange nicht.« Und wieder +spielte ihm das böse Lächeln um den sinnlichen Mund. + +Gerd sah ein, daß hier jedes weitere Wort verschwendet war. Er setzte +die Mütze, die er vor einer Weile abgenommen und über das linke Knie +gezogen hatte, wieder auf den Kopf, fuhr steil in die Höhe und sagte: +»Gut, denn verkauft Euren einzigen Sohn an die alte gelbsüchtige +Trudje, die da, wo sie bekannt ist, der kümmerlichste Knecht nicht +geschenkt nimmt.« + +Der Müller sah dem kühnen jungen Menschen bestürzt ins Gesicht. + +»Die Leute,« fuhr dieser fort, »reden viel Böses über Euch. Aber was +für einer Ihr in Wirklichkeit seid, davon haben sie noch gar keine +Ahnung. Wo andere das Herz haben, da habt Ihr einen Mühlstein.« + +»Packan!« kreischte der Müller, heiser vor Wut. + +Eine mächtige Dogge kam verschlafen unter dem Tisch hervor und reckte +laut gähnend die ungeschlachten Glieder. + +»Soll der hier dich auf den Weg bringen, du unverschämter Lümmel?« + +»Ich gehe schon von selbst,« sagte Gerd, mit einem etwas unsicheren +Blick nach dem Hund, unter dessen blutunterlaufenen Augen sein Rückzug +nicht eben heldenhaft ausfiel. Sobald er aber zur Stube hinaus war, +riß er die Tür mit donnerndem Krach hinter sich ins Schloß. + +Als er draußen war, sagte er sich, es würde gut sein, wenn er Hermann +noch spräche. Vielleicht kam dieser ihm bald nach, oder er ging +noch einmal zur Mühle hinüber. Er lehnte sich an das Geländer der +Hofbrücke, um ihn zu erwarten. + +Es währte auch nicht lange, bis sein weißes Müllerkleid durch das +Dunkel schimmerte. Gerd trat ihm einige Schritt entgegen. + +»Du hast ja doch was von der anderen gesagt,« warf Hermann ihm mit +kläglicher Stimme vor. + +»Das ist mir in der Wut so herausgefahren,« versetzte Gerd ärgerlich. +»Es ist ja auch einerlei.« + +»Es ist längst nicht einerlei. Ich hätte deswegen beinah noch Prügel +gekriegt.« + +»Hermann! Du willst ein Mann sein und läßt dir solche Behandlung +gefallen? Hast du denn gar keine Ehre mehr im Leibe?« + +»Was soll ich machen?« + +»Es gibt nur eine Rettung. Du mußt bei Nacht und Nebel ausrücken. +Je eher, desto besser, am besten gleich diese Nacht! Wenn du hier +bleibst, bist du verloren. Gegen den anzukommen, dazu gehört ein ganz +anderer Kerl, als du bist. Hermann, entschließ dich!« + +»Ich habe diese Tage auch schon öfters daran gedacht ... Aber leicht +ist es nicht, ein so schönes Vatererbe zu verlaufen, es hängt einem +doch mächtig an ... Wenn ich ihm zu Willen bin, zieht er aufs +Altenteil, und ich bin hier Herr.« + +»Mensch, laß dich nicht auslachen! Du Herr, solange der noch einen +kleinen Finger rühren kann? Du Herr, wenn Hermine Tietjen hier ihren +Einzug hält? Die zieht sich sofort die Hosen an, und du kriegst die +Nachtmütze auf .. Wenn du jetzt auch gehst, dein Erbe bleibt dir ja.« + +»Oder auch nur das Pflichtteil.« + +»Ach was. Du hast ja keine Geschwister. Wer weiß, wie bald sie Euch +wieder holen!« + +»Aber wenn Hof und Mühle unter den Hammer kämen?« + +»Ach was, solch ein Besitztum hält erst was aus. Weg mit so kleinen +Bedenklichkeiten!« + +»Das sagst du wohl ... Heute wurde in unserer Fachzeitung für die +Mühle in Langwedel bei Verden ein Gesell gesucht.« + +»Mensch, greif zu! Schreib noch heute abend, telegraphiere gleich +morgen früh!« + +»Hat wohl keinen Zweck. Es melden sich gewiß Unverheiratete genug, und +die haben den Vorzug.« + +»Aber du kannst's doch versuchen.« + +»Will mal sehen ... Vielleicht findet sich auch noch was Besseres, in +jeder Nummer stehen Annoncen, kann ja um mehrere Stellen schreiben ... +Leicht wird's einem ja nicht, noch wieder als Gesell anzufangen.« + +»Aber wenn's nicht anders ist? Hermann, um eine Frau wie Leidchen kann +ein rechter Kerl wohl etwas tun und auch ein kleines Opfer bringen.« + +»Hm, ja ... Das wohl.« + +»Junge, das Herz im Leibe muß dir hüpfen und springen, wenn du bloß an +sie denkst. Wenn es nicht so gekommen wäre, glaub ja nicht, daß du sie +gekriegt hättest!« + +»Hm, bin ich dir nicht gut genug für sie?« + +»Wo du so direkt danach fragst ... nein, eigentlich nicht. Aber ich +bin ja nun einmal übertölpelt und jetzt mit allem zufrieden. Hermann, +ich hab' mich diese Tage öfters gefragt, sollt' ich dich hassen oder +von Grund aus verachten. Jetzt, wo ich mit dir gesprochen und deinem +Alten mal den Puls gefühlt habe, tust du mir von Herzen leid. Aber +an dem Tage, wo du dich hier losreißest, da will ich Respekt vor +dir haben. Grad weil ich nun weiß, wie fest sie dich knebeln ... Ich +schreibe heut' abend noch an Leidchen. Was soll ich ihr bestellen?« + +»Grüß sie vielmals und schreib ihr, sie möchte vor allem den Kopf +hochhalten, es würde noch alles gut. Und sie sollte nicht erschrecken, +wenn ich eines guten Tages auf einmal vor ihr stände.« + +»Bravo, Hermann! Nun bloß nicht aufschieben, das macht nur schwächer. +Jetzt kannst du dich mit einem starken Ruck noch losreißen. Legst du +dich aufs Warten, geht's dir wie der Fliege im Spinngewebe. Du wirst +so eingewickelt, daß du dich nicht rütteln und rühren kannst. Gut' +Nacht!« + +Nachdem er die weiche, mehlstaubtrockene Hand des Müllers kräftig +gedrückt und geschüttelt hatte, ging er. Die in ihm wogende Erregung +zu meistern, steckte er jetzt das gestopfte Pfeifchen an, und als er +ein Dutzend Züge getan hatte, waren die anfangs so kurzen, stoßartigen +Schritte fast wieder so lang und wiegend wie gewöhnlich. + + * * * * * + +Am nächsten Abend erhielt Leidchen mit der letzten Bestellung +folgenden Brief: + + + Liebe Schwester! + + + Es wird mir beinahe schwer, Dich noch so anzureden, denn lieb und + gut bist Du durchaus nicht gewesen; aber ich will darauf heute abend + nicht weiter eingehen, denn es ist schon nach zehn Uhr. + + Der Müller hat mir mit seinem Packan gedroht und hätte ihn sicher + auf mich gehetzt, wenn ich nicht von selbst gegangen wäre. + + Hermann hat Dich doch wohl ein bißchen lieb, und er gefällt mir + jetzt besser als früher. Er scheint mir nicht mehr so großspurig zu + sein, was ich immer am wenigsten bei ihm leiden konnte. + + Wir haben abgemacht, daß er sich aus seinem Müllerblatt einen Platz + als Gesell sucht, und daß Ihr darauf dann heiratet. Ob er den guten + Worten und Vorsätzen die Tat folgen läßt, muß die Zeit ausweisen. Du + schreibst, er wäre ein bißchen leicht und wankelmütig. Das stimmt + ganz genau. + + Was er mir für Dich gesagt hat, schreibe ich wörtlich hierher: Grüße + Leidchen vielmals und schreib ihr, sie sollte den Kopf hochhalten, + es würde noch alles gut. Und Du solltest Dich nicht verjagen, wenn + er eines Tages auf einmal vor Dir stände. + + Du kannst also vorderhand nichts tun, als Dich gedulden, und ich + kann auch nicht mehr tun. Es kann aber sein, daß ich nach ein paar + Tagen mal wieder hingehe und so 'n bißchen nachstökere. Das kann + jedenfalls nicht schaden. + + Mit Gruß + + Gerd Rosenbrock. + + + + + 19. + + +Es war wieder die Hauptzeit des Torfverschiffens. Auf der Hamme, +ihren Lauf durch das breite Tal meilenweit bezeichnend, zogen die +braunen Segel. Die heimkehrenden Dorfgenossen taten sich zusammen und +koppelten ihre Schiffe in Reihen hintereinander, um sie, vornüber +gebeugt an langem Tau gehend, mit vereinten Kräften die Klappstaue +der Gräben hinaufzuschleppen. Aus den Kolonien, die gepflasterte +Straßen in der Nähe hatten und in denen die mühsame Schiffahrt der +bequemeren Fuhrwerkerei zu weichen begann, rumpelten um Mitternacht +die schweren, auf sechs Kubikmeter geeichten Kumpwagen, indem die +gespenstigen Schattenbilder der Vorderräder, zwischen denen die +Windlaterne schaukelte, sich an den Birkenreihen entlang drehten. Auf +der Lilienthaler Chaussee und dem Breiten Weg bildeten sich, zumal in +den Nächten vor Montag und Donnerstag, den Haupttagen des Torfhandels, +oft Wagenreihen von mehreren hundert Metern Länge. Die Gäule trotteten +ihren ebenen Tritt, und von ihren Lenkern gab sich manch einer, +vornüber gesunken, dem Schlaf hin, der aber hier und da einem teuer +zu stehen kam. Denn weder auf der preußischen noch auf der bremischen +Seite war die Polizei einer derartigen Nachtruhe hold. + +Auch Gerd kam um diese Zeit zwei- oder dreimal die Woche mit seinem +Schiff in die Stadt. Die Schwester zu besuchen, konnte er sich aber +längere Zeit nicht entschließen. Neues in ihrer Sache gab es nicht zu +berichten. Hermann hatte zwar einige Male um eine Stelle geschrieben, +bislang aber nichts Passendes gefunden. + +Endlich, im letzten Drittel des Oktober, machte er sich einmal wieder +auf den Weg, sie zu besuchen, veranlaßt durch einen Brief, in dem sie +gar herzlich und dringend darum bat. + +Als er das Haus betrat, winkte Frau Marwede, die im Laden beschäftigt +war, ihn in eine anstoßende kleine Stube, eine Art Kontor. Er mußte +Platz nehmen, und sie stellte sich, die Hände in die Seiten gestemmt, +breit vor ihn hin. + +»Rosenbrock,« begann sie, »ich weiß nicht, was das in der letzten Zeit +mit Ihrer Schwester ist. Sie ist so vergeßlich und träge und zu nichts +recht zu gebrauchen. Ich habe da nun leider eine schlimme Vermutung. +Als ich neulich aber mal so was andeutete, tat sie sehr empört und +beleidigt. Deshalb wollte ich einmal mit Ihnen darüber sprechen.« + +Gerd seufzte. »Sie werden wohl recht haben, Frau Marwede.« + +Die Frau schlug die Hände zusammen. »Wirklich? Oh, wie mir das leid +tut! Wir haben das Mädchen so gern gehabt. Wie lieb sie mit unserer +seligen kleinen Olga war, das werden wir ihr nie vergessen. Da haben +wir sie erst recht kennen gelernt und ins Herz geschlossen. Oh, der +Leichtsinn bei der Jugend von heutzutage, und die Verführung! Ich hab' +sie doch neulich noch so ernstlich gewarnt ... Es tut mir furchtbar +leid, Rosenbrock; aber unter diesen Umständen nehmen Sie sie zum +ersten November doch wohl lieber wieder mit.« + +»Frau Marwede, wollen Sie nicht so gut sein und sie noch ein paar +Wochen behalten? Wir hoffen, daß es noch vor Weihnachten zur Hochzeit +kommt.« + +»So gern ich es täte, es geht nicht, schon wegen der Kinder. Unsere +beiden Ältesten sind schon höllischen aufgeklärt. Und bei ihrer +jetzigen Gemütsverfassung haben wir ja auch so gut wie nichts mehr von +ihr.« + +»Wie Sie meinen ...« + +»Gehen Sie nur auf ihre Kammer, ich schicke sie Ihnen gleich, sie ist +augenblicklich im Keller.« + +Gerd stieg langsam die Treppe zum Bodengeschoß hinauf und setzte sich +in ihrem Stübchen auf den einzigen Stuhl. + +Bald hörte er ihren eilenden Tritt. Sie erschien in der Tür und sah +ihn mit großen fragenden Augen an. + +»Bringst du was Neues?« fragte sie atemlos. + +Er schüttelte langsam den Kopf. + +Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn Hermann ernstlich will, sollte man +denken, müßte er doch was finden können.« + +Er zuckte die Achseln: »Ja, die Sache zieht sich gar zu sehr in die +Länge ... Vielleicht nimmt er zuletzt doch die andere.« + +»Welche andere?« + +»Hab' ich dir das nicht geschrieben?« + +»Nein. Mensch, welche andere?« + +»Sein Vater hat ihm die Tochter von unserm Grasbauern zugedacht.« + +»Hermine?« + +Gerd nickte. + +»Aber die hatte ja schon damals, als ich eben erst konfirmiert war, +vor fünf Jahren, keine eigenen Haare mehr!« + +»So eine nimmt man ja auch nicht ihrer Haare, sondern ihres Geldes +wegen.« + +»Gerd! ...« + +»Leidchen ...« + +»Ich weiß gewiß, wenn er die bloß sieht, nimmt er Reißaus. Dazu kenn' +ich meinen Hermann zu genau. Nein, wegen der kann ich ganz ruhig sein.« + +Er zuckte die Achseln ... + +»Was soll nun werden?« fragte er nach einer Weile. + +Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und sah ihn an wie ein +hilfloses Kind. + +»Du mußt nämlich wissen, Frau Marwede hat eben zum ersten November +gekündigt,« fuhr er fort. + +Sie erschrak. »Hast du ihr was gesagt?« + +»Sie redete mich darauf an, und lügen wollte ich deswegen nicht.« + +»Wo soll ich denn aber so lange hin?« + +»Ja, das möchte ich auch wissen ... Bei uns ist jetzt, wo die Kinder +größer werden, nicht recht Platz ... Und überhaupt ...« + +»Zu Trina möcht' ich auch nicht, die ist so schrecklich selbstgerecht +... und dann die ganze Nachbarschaft ...« + +»Geh doch zu deinem Vormund. Er hat dich gegen meinen Willen hier +hergeschickt und kann dir nun auch helfen, die Suppe auszuessen.« + +»Ach Gerd, die Leute haben nie Kinder gehabt und denken bloß an sich +... Weißt du keinen besseren Rat?« + +»Ja, nun heißt's: Gerd, du mußt Rat schaffen. Früher, als es noch Zeit +war, wurde mein Wort für nichts geachtet.« + +»Aber ich muß doch irgendwo bleiben!« + +»Ja, ja. Da ist guter Rat teuer.« + +Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und sah lange nachdenklich +zu Boden. Endlich richtete er sich auf, sein Gesicht hatte einen +lebhafteren Ausdruck angenommen: »Hm. Das wäre vielleicht was ...« + +Sie sah gespannt und erwartungsvoll zu ihm hinüber. + +»Hm, wenn wir den Torf erst zur Stadt haben, könnte Jan mich für den +Winter wohl entbehren. Dann wär' es am Ende möglich, daß ich schon +bald in mein Haus zöge und anfinge, die Stelle tüchtig zu bearbeiten. +Sie hat es ja bitter nötig ... Dann käm' ich nächstes Frühjahr +mit Sine gleich besser in Gang ... Und wenn du mitgingest und mir +haushieltest ...« + +Sie sprang vom Bettrand auf, ergriff seine Hand und rief mit +glänzenden Augen: »Oh, wie gern tu' ich das! Ja, Gerd, so geht es +fein. Man zu, bitte, bitte!« + +Er schüttelte den Kopf: »Eigentlich ist es ja Unsinn. Und ob Jan seine +Zustimmung gibt? Und ob's Sine recht ist?« + +»Oh, Gerd,« rief Leidchen, »die kriegst du leicht herum. Bedenk doch, +dann bin ich auch näher bei Hermann. Wenn ich so weit von ihm weg +bin, ist es mir manchmal, als ob ich die Gewalt über ihn verlöre. Er +ist einer von denen, die man immer im Auge behalten muß.« + +Gerd zuckte mit der Schulter. »Wie machen wir's nur mit dem Hausrat? +Das ist noch das Schlimmste.« + +»Oh, wenn's anders nichts ist! Ich hab' ja mein eigenes Bett, und du +kannst das, worin du jetzt schläfst, bis Ostern wohl von Trina leihen, +eher nehmen sie ja doch keinen Knecht wieder. Bettstellen brauchen +wir nicht, denn da ist gewiß an jeder Stube eine Butze. Den Tisch und +ein paar Stühle gibt Trina auch wohl her, oder sonst Tante Rotermund. +Die Küchengerätschaften, Messer und Gabeln, Teller und Tassen will +ich gern kaufen. Ich muß ja doch welche haben, für meine Aussteuer. +Du mußt aber mit Jan abmachen, daß er dich wieder nimmt, wenn ich +Hochzeit mache.« + +Sie sprachen noch eine Weile über den Plan hin und her, und Leidchen, +die auf einmal wie neu belebt war, hatte dabei die besten und +praktischsten Gedanken. Zuletzt wurde abgemacht, wenn Gerd keine +andere Nachricht gäbe, sollte er am ersten November kommen und die +Schwester holen, die dann alles zur Abreise fertig haben wollte. + +Als Gerd nach Hause kam, trug er Jan und Trina seinen Plan, und was +diesen veranlaßte, vor. Sie waren über Leidchen weidlich entrüstet +und gaben schließlich ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß Gerd +seinen Torf noch in die Stadt zu schaffen habe, je nach der Zeit, wann +die Kunden ihn verlangten. + +Sine weinte blanke Tränen, als Gerd ihr von Leidchen erzählte, und war +sogleich bereit, einige Stücke ihrer Aussteuer schon jetzt herzugeben. +Er freute sich ihres guten Herzens, und sie dachte, ein so treuer +Bruder würde auch einen trefflichen Ehemann abgeben. + +Um den Weg von Nr. 40 nach Nr. 1 +a+, für den ein Fußgänger fast +dreiviertel Stunden gebrauchte, schneller zurücklegen zu können, +kaufte Gerd sich ein Fahrrad für alt und machte sich mit Eifer +daran, die Wohnung instand zu setzen. Er versuchte sich mit einem +Geschick, über das er sich selbst wunderte, als Maurer, Zimmermann +und Dachdecker, und brauchte Handwerker nur für wenige Tage zu Hilfe +zu nehmen. Ende Oktober war das Haus soweit hergerichtet und mit +Gerät, Feuerung und Lebensmitteln versehen, daß zwei Menschen zur Not +in ihm ein paar Wintermonate überstehen konnten. Am Vormittag des +Einunddreißigsten tat er das Kätzchen, das sich in seinem Asyl hübsch +herausgemacht hatte, in ein Beutelchen, das er an die Lenkstange +seines Rades hängte, und fuhr es in die alte Heimat zurück, wo es +sofort auf die Herdstelle sprang und behaglich zu schnurren begann. + +Am Nachmittag fuhr er nach Bremen, um die Schwester zu holen. + +Nach schnellem, ungerührtem Abschied von den Milchhändlersleuten +folgten die Geschwister einem Torfwagen, der zufällig des Weges kam +und Leidchens Siebensachen zum Torfhafen mitnahm. Als sie aber die +Große Weserbrücke überschritten hatten, trennten sie sich von ihm, +um den Weg durch die innere Stadt zu nehmen und auf dem Freimarkt, +der eben wieder im Gange war, noch einige Einkäufe für ihren jungen +Hausstand zu machen. Zu Füßen des Riesen Roland erstanden sie ein paar +Blechsachen, auf der Domsheide etwas irdenes Geschirr. + +Als sie durch eine der Zeltreihen des Domhofes gingen, blieb Leidchen +vor einer Kuchenbude stehen. »So was gibt's heute nicht,« sagte Gerd +mit strengem Gesicht und ging weiter, aber sie hörte nicht darauf, und +als sie bald nachkam, überreichte sie ihm ein großes rotes Kuchenherz. +Er wollte schelten, als er aber das aufgeklebte Verschen las, schwieg +er und sagte kurz: »Danke.« Die Inschrift des schmalen weißen +Zettelchens lautete: »Ein getreues Herze wissen, ist des höchsten +Glückes Preis.« + +Langsam schlenderten sie die Budengasse hinunter. + +Vor einem Karussell, auf dem allerlei Jungvolk vom Lande sich +belustigte, blieb Leidchen wieder stehen. Als Gerd von der Seite ihr +Gesicht beobachtete, sah er in ihren Augen ein feuchtes Schimmern. Da +fiel ihm ein: hier war's gewesen, wo sie vor Jahren mit dem, der nun +ihr Verhängnis geworden war, fröhlich lachend ihm davonfuhr und er ihr +verdutzt und ärgerlich nachblickte. + +Da Leidchen noch immer stand und alles um sich her vergessen zu haben +schien, zupfte er sie leise am Ärmel. Sie fuhr wie aus einem Traum +empor und folgte ihm langsam. Als sie aus dem Marktgedränge heraus +waren, schlugen sie einen schnelleren Schritt an, der sie in kurzem +zum Torfhafen brachte. + +Sie trugen die Kommode und die anderen Sachen, die der Fuhrmann auf +das Kaipflaster gestellt hatte, ins Schiff und machten alles zur +Abfahrt fertig. + +Als Gerd das Schieberuder nahm, fragte sie: »Soll ich an der Leine +gehen und ziehen?« »Danke,« gab er zur Antwort, »hier auf dem Kanal +kann ich's gut allein.« + +Er schob an, und das Schiff setzte sich in Bewegung. Sie ging auf dem +Leinpfad hinter ihm her. Eine Drehorgel spielte ihnen zum Abschied: +Freut euch des Lebens. Die Klänge wurden schwächer und schwächer und +gingen zuletzt in dem Brausen des Herbstwindes unter, der die Bäume +des Bürgerparks schüttelte und entblätterte. + +Der Wasserlauf machte eine Biegung nach links und zog sich in das +freie, unter Wasser stehende Blocklander Feld hinauf, über das der +Wind in langen Stößen hinfegte. Einmal wandte Leidchen sich um. Die +Stadt, unter grauem Wolkenhimmel mit Regenstreifen, lag schon ein +gutes Stück zurück. Sie zerdrückte eine Träne in den Augen. Von hier +aus hatte sie das Ziel ihrer jugendlichen Wünsche und Träume vor vier +Jahren im Goldglanz der Herbstmorgenfrühe geschaut. + +Als sie die Hamme erreichten, brach der Abend herein. Der Himmel hing +voll grauer, tiefziehender Wolken, die ein böiger Wind trieb, der +zuweilen fast zum Sturm wurde. Leidchen zog sich bald in die Koje +zurück. Gerd hatte mit seinem Stangenruder angestrengt zu arbeiten, +denn der Wind kam scharf von der Seite und trieb das Schiff zum +anderen Ufer hinüber. + +Endlich machte der Fluß eine Biegung, und er konnte den Mast +aufrichten und das Segel entfalten. + +Da infolge der Regengüsse der letzten Woche die Hamme aus den Ufern +getreten war und ihr Tal einen weiten See bildete, durfte er es wagen, +quer durch die überschwemmten Wiesen segelnd einige Krümmungen des +Flußlaufs abzuschneiden. Er lag am Steuerruder und hatte das Segeltau +nicht wie gewöhnlich am Tauhaken festgemacht, sondern mehrmals um +seinen Arm gewunden, mit dessen sehniger Kraft Sturm und Wellen zu +meistern ihm Freude machte. In solchen Nächten bekam die eintönige, +mühselige Moorflußschiffahrt, zum Kampf mit den entfesselten Elementen +werdend, eine gewisse Größe und brachte eine Aufrüttlung des inneren +Menschen, die der junge Schiffer wohltuend empfand. + +Für Augenblicke verbreitete der volle Mond, freiwerdend, Tageshelle +und warf sein glitzerndes Licht über das Wellengewoge, um dann wieder +von dunklen Wolkenungeheuern verschlungen zu werden, deren Schatten +wie riesige Gespenster über die aufgeregten Wasser tanzten. In den +pfeifenden, sausenden Schilfwäldern schnarrten die Enten, aus der Höhe +kamen die Schreie der Wildgänse und schrille Wandervogelrufe. + +Die Wogen planschten so stark gegen die dünnen Schiffsplanken, daß +man jeden Schlag durch sie hin fühlte. Wenn der Sturm sich mit +erneuter Kraft in das schwarze Segel warf, ächzte der Mastbaum in +der Segelbank, und Gerd, der scharf und hell in das wilde Wesen +hineinpfiff, fürchtete einige Male fast, er würde umknicken. + +Plötzlich gab es einen Stoß und Krach, als ob das kleine Fahrzeug +mitten entzwei bräche. Es saß fest, neigte zur Seite, eine Welle +spritzte über Bord. Mit einem gellenden Schrei kam Leidchen aus der +Koje gefahren; das Segel, das Gerd, um nicht zu kentern, schnell hatte +flattern lassen, schlug ihr klatschend um das Gesicht. Unter ihm sich +duckend, ging sie auf den Knien in die Mitte des Schiffs und sah den +Bruder mit entsetzten Augen an. + +»Keine Bange, mein Deern,« sagte er gelassen, indem er bereits mit dem +Schieberuder arbeitete, »ich krieg' uns schon los.« + +Nach einer Minute war das Schiff denn auch wieder frei. »Das Segel +will ich doch lieber einholen,« fuhr er fort, »der Wind bringt uns zu +weit aus der Kehr.« + +Als er das wild sich gebärdende Tuch geborgen hatte, begann er mit dem +Stangenruder zu arbeiten. Leidchen kauerte vor ihrer Kommode nieder +und sagte schuddernd: »Eine schreckliche Fahrt!« + +»Eine herrliche Fahrt!« gab er zurück, und es war ein den Sturm +übertönendes Jauchzen in seiner Stimme. »Es wär' ein Jammer, wenn's +nicht auch so was gäbe, zumal in so bedrückten Zeiten!« + +Nach einer Weile hob sie sich ein wenig; der Mond, eben wieder aus +dem Gewölk tretend, beleuchtete scharf ihr von einem schwarzen +Umschlagetuch teilweise verhülltes Gesicht und verlieh den großen, +tief in ihren Höhlen liegenden Augen einen fremdartigen Glanz: »Gerd, +ich will dich mal was fragen.« + +»Was denn, Kind?« + +»Du darfst mir aber nichts vorschnacken, du sollst reden, wie es deine +Überzeugung ist ... Glaubst du wirklich noch, daß Hermann sein Wort +hält?« + +Er schwieg. + +»Gerd, gib mir Antwort!« + +»... Ich habe keine Hoffnung mehr.« + +Da schlug sie die Hände vor das Gesicht, sank in sich zusammen und +wimmerte: »Dann wollt' ich, ich läge unten auf dem Grund der Hamme und +wäre tot.« + +Es dauerte nicht lange, so beugte er sich zu ihr nieder und rief leise +ihren Namen. + +»Leidchen,« rief er etwas lauter. + +»Was soll ich?« + +»Ein getreues Herze wissen ...« + +Sie kam auf dem Boden des Schiffes herangekrochen und umschlang +schluchzend seine Knie. Und er bückte sich, ihr wie einem kranken +Kinde mit der harten Arbeitshand die weichen Wangen zu streicheln: +»Liebes Leidchen, nun sei man still. Wir beide halten treu zusammen +... Es kommt auch wohl noch mal die Zeit, wo du wieder durchgrünst ... +unser Herrgott wird dich ganz gewiß nicht verlassen ...« + +Das Licht einer Hammehütte, das ihm als Richtepunkt diente, wollte +und wollte nicht näher kommen, es gab ein schweres Arbeiten. Als er +endlich vor der kleinen Herberge anlangte, war er wie in Schweiß +gebadet und erklärte, er müsse sich ausruhen. »Willst du dich so +lange in die Koje legen?« fragte er die Schwester. Sie schüttelte sich +und sah ihn erschrocken an: »Allein graut mir.« Da legte er brüderlich +den Arm um sie und schritt mit ihr der Hütte zu. + +Eine gute Stunde saßen sie in der heißen, tabaksqualmerfüllten +Schifferherberge. Gerd hatte nach seiner Gewohnheit den Kopf in die +auf dem Tisch verschränkten Arme gelegt und war schnell eingeschlafen. +Leidchen saß steif auf ihrem Schemel und blickte in das fremdartige +Treiben. Die ankommenden Schiffer machten ihre Bemerkungen über +Wind und Wasser, und ließen sich von dem Wirt, der ein mürrisch +verschlafenes Gesicht zeigte, bedienen. An einem Tisch, wo junge +Burschen Karten spielten, wurde gotteslästerlich geflucht, und einer +von ihnen sah öfters zu Leidchen hinüber, mit frech vertraulichen +Blicken. Sie war nur froh, daß sie keinen aus ihrem Dorf entdeckte. +Bald schloß auch sie die Augen, aber ohne Schlaf und Vergessen zu +finden. + +Das erste Grau stand im Osten, als sie in den Brunsoder Schiffgraben +einliefen und ausstiegen. + +»Soll ich mich in die Leine legen?« fragte Leidchen. + +»Nein,« sagte Gerd, »ich will das Schiff wohl ziehen, du kannst es mit +der Stange vom Ufer halten.« + +So arbeiteten sie sich langsam durch die Morgendämmerung die Reihe der +Klappstaue hinauf. + +Dicht vor der Mühle zweigte der Achterdammsgraben ab, in den Gerd sein +Schiff hineinlenkte. + +Klopfenden Herzens suchte Leidchen mit den Augen das stattliche +Mühlgehöft ab, entdeckte aber nichts Lebendes außer dem großen Hund, +der vor seiner Hütte lag und sich kratzte. Er schien noch nicht in der +Stimmung zu sein, Schiffer anzubellen. + +Die Wolken des östlichen Himmels zeigten jetzt goldige Säume. + +»Da kuckt mein Busch über das Moor,« sagte Gerd, mit der Hand nach +vorn weisend. »Wenn du scharf zusiehst, kannst du auch schon das +Hausdach erkennen. Siehst du's?« + +Leidchen nickte. + +Nach einer Weile zeigte er auf einen durch üppig wucherndes Heidekraut +blinkenden, tiefen und schmalen Graben und sagte mit frohem Stolz: +»Dies ist die Grenze, hier fängt meine Gerechtsame an.« + +Nach hundert weiteren Schritten hielt er den Kopf ein wenig schief und +sagte: »Nicht wahr, ein feines Besitztum? Wie schön machen sich die +beiden hohen Tannen rechts und links vom Hause, beinah wie ein Paar +Schildwachen! Du kannst jetzt auch schon die gelben Flicken im Dach +sehen, die ich selbst eingesetzt habe.« + +Er blickte sich fragend um. Sie nickte mit erzwungenem Lächeln und +sagte: »Ja, Junge, du kannst wohl lachen, wenn andere Leute weinen.« + +Einige Minuten später führte Gerd von dem halb eingesunkenen +Schiffschauer, wo sie angelegt hatten, seine Schwester an der Hand dem +Hause zu. + +Ehe sie durch die Große Tür eintraten, blieb er stehen und sagte, +zur Oberschwelle aufblickend, indem er den Arm um ihre Hüfte legte: +»Unsern Eingang segne Gott.« + +»Unsern Ausgang gleichermaßen,« ergänzte sie leise mit zager Stimme. + +So hatte der Erbauer des Hauses es in den Eichenbalken graben lassen. + +Auf dem Flett kam ihnen das Kätzchen entgegengesprungen, rieb sich an +Gerds Schienbeinen und wuschelte sich in Leidchens Rock. + +»Kuck an,« rief er munter, »etwas Lebiges ist auch schon da,« und sie +bückte sich froh überrascht und streichelte dem Tierchen das seidige +Fell. + +Als sie alle Räume besehen und darauf die Kommode und übrigen Sachen +hereingeholt hatten, rieb der Hausherr sich behaglich die Hände und +sagte: »So mein' Deern, nun koch' uns mal 'n schönen Kaffee. Da in dem +Kasten findest du Kaffee und Zichorien. Einen Gasherd hab' ich hier +nicht, mußt sehn, wie du mit so 'ner altmodischen Feuerstelle fertig +wirst.« + +Das unter dem berußten Kessel bereitliegende Sprickerholz knisterte +und rauchte, flammte auf, die Funken sprangen, das Wasser begann zu +singen, dampfte, brodelte, und es dauerte nicht lange, so saßen die +Geschwister und schlürften mit spitzem, vorsichtigem Munde den heißen +Trank, der ihnen nach der rauhen Sturmnacht wohltat. »Wir müssen +ihn diesmal noch schwarz trinken,« sagte Gerd, »die Ziege hol' ich +heute nachmittag.« Dazu aßen sie Schwarzbrot mit Butter und Schinken, +die Gerd einem unbehobelten Kasten entnahm, der einstweilen den +Vorratsschrank ersetzte. Er schlug eine wackere Klinge und nötigte, +mit vollem Munde kauend, immer wieder: »Zu, Leidchen! Lang' dreist +zu! Du kannst so viel essen wie du magst ... Hier auf dem Lande muß +der Mensch ordentlich essen ... So kommodig wie in der Stadt mit dem +bißchen Fegen und Wischen kriegst du's bei mir nicht, das mußt du +dir ja nicht einbilden. Hier wird gearbeitet! ... Nimm dir man noch +'n ordentliches Stück Schinken, den Speck kannst du mir geben, wenn +er dir zu fettig ist ... Ach, im eigenen Hause schmeckt's einem doch +zehnmal so schön, als an anderer Leute Tisch ... Kuck mal, da kommt +auch schon Besuch!« + +»Wer?« fragte Leidchen erschrocken, indem sie mit hastigen Blicken das +Gesichtsfeld vor dem Fenster absuchte. + +»Die liebe Sonne,« sagte er lächelnd, und fügte mit Paul Gerhardt +hinzu: »Voll Freud' und Wonne.« + +Das freundliche Himmelslicht hatte sich siegreich durch die Wolken +gekämpft und strahlte hell durch die bleigefaßten grünlichen Scheiben +auf den rotgestrichenen Tisch. + +»Nun geht sie schon wieder weg,« sagte Leidchen, als eine Wolke das +Sonnenlächeln schnell auslöschte. + +»Sie kommt bald wieder,« tröstete Gerd. + +Dann reichte er der Schwester über den Tisch die Hand und sagte: »So +Leidchen, wenn du satt bist, gehst du erst in die andere Stube und +kriechst in deine Butze. Bis Mittag kannst du ordentlich ausschlafen, +dann weck' ich dich, und du machst uns eine Pfanne Eierbutter.« + +Sie nickte, stand auf und ging. + +Auch er gedachte ein wenig zu ruhen. Aber vorerst steckte er sich +ein Pfeifchen an, um ein paar Züge zu tun, und ging, mit Genuß die +graubraunen Wolken vor sich her blasend, noch einmal durch alle +Räume seines Hauses. Dann trat er auf den Hof hinaus und ließ die +stillfrohen Augen über sein kleines Königreich wandern. Die Sonne +brach gerade einmal wieder durch. Da lehnte er sich an den Türpfosten, +schlug das eine Bein über das andere und blinzelte und paffte, seiner +Sine gedenkend, in das gelbe Licht des Herbstmorgens. + + + + + 20. + + +»Hier bring' ich dir unsere Zickmarie,« rief Gerd am Nachmittag +frohgelaunt, als er der Schwester eine pfeffer- und salzfarbene, +hörnerlose, langbärtige Ziege vorführte. »Was meinst du, ist sie sechs +Taler wert?« + +Leidchen sah dem Tiere nach dem Euter und sagte: »Och ja, das will ich +nicht sagen ...« + +»Du könntest sie wohl gleich mal melken, Deern.« + +Während sie ein Gefäß holen ging, führte er die neue Hausgenossin mit +freundlichen Willkommsworten in den Stall. + +Bald strullte die Milch in die irdene Schale. »Wie schön weiß sie +ist!« rief Gerd in der Freude an dem ersten eigenen Stück Vieh +bewundernd, und Leidchen lächelte zu ihm hinauf: »Wie soll Milch denn +anders aussehen?« + +»Daß ich es nicht vergesse,« sagte Gerd nach einer Weile. »Ich soll +dich auch grüßen.« + +»Von wem?« + +»Von Hermann.« + +Sie sah erschrocken zu ihm auf und hielt, das Melken unterbrechend, +den Euterstrich zwischen den zitternden Fingern. + +»Hast du ihn gesprochen?« + +»Ja.« + +»Ich soll dich grüßen.« + +»Sonst nichts?« + +»Er würde dir bald mal guten Tag sagen, aber heut' hätte er noch keine +Zeit, der Wind wär' zu günstig. Wind geht solchem Windmüller ja über +alles ... Aber nun vergiß das Melken nicht ganz, das Tier wird schon +ungeduldig.« + +Die Milch zischte zweimal an der Schale vorbei und fand dann erst +wieder den richtigen Weg. + + * * * * * + +Als Gerd am nächsten Mittag von der Arbeit im Freien zu Tisch kam, +machte er große Augen. Leidchen hatte in Bremen einige Holzschnitte +und bunte Bilder aus einer abgängigen Zeitschrift gerettet und nun +die kahlen, getünchten Wände der Wohnstube damit geschmückt. »Wie +ihr Racker von Frauensleuten einem das Haus gleich wohnlich und +gemütlich machen könnt!« rief er froh verwundert, und sie führte ihn +mit glücklichem Lächeln durch ihre kleine Galerie: »Das ist Barry, +der berühmte Bernhardinerhund, wie er einen Verunglückten im Schnee +findet ... hier schießen sie den treuen Andreas Hofer tot ... und +hier spielen feine Damen Schäferin ... und dies ist die Schlacht bei +Gravelotte ... und hier feiert Luther mit seiner Familie Weihnachten, +dies ist seine Frau Käthe, das da wird wohl Magdalenchen sein, und der +Mann mit dem Bart ist, glaub' ich, Philipp Melanchthon.« »Kuck bloß +mal einer an, was bei uns nun alles zu sehen ist!« rief Gerd, über +ihre Freude an den Bildern noch mehr erfreut als über diese selbst. +»Sollst mal sehen, es wird ein gemütlicher Winter,« fügte er hinzu. +Aber da trübte sich ihr Blick auf einmal, und sie schlug die Augen zu +Boden. + +Am Tage darauf sollte Gerd wieder für Jan eine Ladung Torf nach +Bremen schaffen. Nachdem er die Schwester ermahnt hatte, auf alles +gut zu passen und der reisenden Handwerksburschen wegen die Türen +verschlossen zu halten, fuhr er auf seinem Rade davon. + +Leidchen setzte sich in die Wohnstube vor das Fenster und nahm +des Bruders blaue Arbeitshose vor, um vor dem rechten Knie einen +Flicken einzusetzen. Die Flügel der Mühle, die von hier aus über dem +Birkenanflug des Hochmoores sichtbar waren, drehten sich noch immer, +aber, wie es ihr wenigstens scheinen wollte, langsamer als die beiden +letzten Tage, wo sie so oft nach ihnen ausgeschaut hatte. Richtig, der +Wind hatte nachgelassen. Und sie wurden noch langsamer, und zuletzt +standen sie still. + +Da legte sie die Arbeit zur Seite, machte sich das Haar, zog ein +besseres Kleid an und nahm voller Erwartung ihren Platz am Fenster +wieder ein. Zum Flicken hatte sie keine Ruhe mehr, sie nahm einen +angefangenen Strumpf und ließ die Stahlsticken mechanisch klirren. + +Als die Dämmerung hereinbrach, stellte sie die Küchenlampe auf den +Tisch, so, daß ihr lockender Schein zum Fenster hinausfiel. + +Es wurde schnell dunkel, bald war draußen nichts mehr zu erkennen. Da +ließ sie das Strickzeug in den Schoß sinken und begann zu horchen und +zu lauschen. + +Und sie hörte die Stille, die tiefe, lautlose Stille nächtlicher +Mooreinsamkeit. Und sie erschrak vor ihr, wurde von ihr wie gebannt +und gelähmt. Als endlich eine Fliege um die Lampe summte, empfand sie +den Ton wie eine Erlösung und atmete befreit auf. + +Plötzlich stand sie auf, hüllte sich in ihr Umschlagetuch, trat +ins Freie und folgte dem Pfad, der durch Gerds Äcker zu seiner +Hochmoorbank hinauflief. Bald stand sie vor dem schmalen Grenzgraben, +der seinen Besitz von der Mühlstelle trennte. Mit Herzklopfen trat sie +hinüber. Der Pfad führte hier durch junge Kiefern und Birkenanflug +weiter. Scharf spähte sie ihn entlang und behielt auch den parallel +laufenden Damm zur Linken im Auge, den der Erwartete ja ebensogut +wählen konnte. Am Rande des Hochmoors blieb sie stehen. Jenseits der +schwarzen Torfgründe schimmerte die junge Wintersaat durch das Dunkel, +weiterhin waren die Umrisse des Mühlgehöftes zu erkennen, mit den +erleuchteten Fenstern des Wohnhauses. + +Drüben auf dem Damm ging jemand. Mit klopfendem Herzen eilte sie den +Weg zurück, den sie gekommen war. Das Licht im Fenster blinkte ihr +hell entgegen. + +Sie stellte sich hinter das Schiffschauer und spähte zu dem nahe +vorüberführenden Kirchdamm hinüber. Wenn die Gestalt, die langsam auf +ihm dahergeschritten kam, doch zum Achterdamm abbiegen wollte! ... + +Aber sie ging vorüber. + +Die bitter Enttäuschte kehrte ins Haus zurück und nahm ihren Platz am +Fenster wieder ein. Und wieder war die fürchterliche Stille um sie. Da +rief sie das Kätzchen in die Stube, um etwas Lebendiges bei sich zu +haben, und war dankbar, wenn es einmal schnurrte oder miaute. + +Endlich ging sie in die andere Stube hinüber, um sich zur Ruhe zu +begeben. Sie zog sich aber nicht aus, sondern stieg angekleidet in +ihre Butze. + +Sie hatte lange Zeit gelegen, erst horchend, dann grübelnd, zuletzt +in einer Art Halbschlaf, als sie plötzlich in die Höhe fuhr und rief: +»Ich komme!« + +Auf den rechten Arm gestützt, horchte sie, mit angehaltenem Atem. + +Sie hörte das wilde Klopfen des eigenen Herzens. Sonst war nichts um +sie als tiefste Stille. + +»Es hat doch geklopft,« murmelte sie, »ich hab's ja ganz deutlich +gehört.« Und sie stand auf, öffnete das Fenster und lehnte sich +spähend hinaus. + +Der eben aufgehende Mond hing wie eine brandrote Scheibe in den +Moorbirken. Mitternacht mußte längst vorüber sein. + +Sie schloß das Fenster, warf schnell ihre Kleider ab und legte sich +wieder in die Butze, deren Schiebetür sie jetzt fest hinter sich zuzog. + + * * * * * + +Gerd brachte von der Stadt einen kurzbeinigen, langschwänzigen, +braungelben kleinen Köter mit, der auf den Namen »Lustig« hörte. Er +hatte ihn von einem Torfkunden geschenkt bekommen, der wegen des +Tierchens mit seinem Hauswirt Ungelegenheiten gehabt hatte. »Ich +dachte,« sagte er, als er ihn Leidchen vorstellte, »ich wollte ihn man +nehmen, wo wir so einsam wohnen und ich dich oft allein lassen muß. +Er frißt sich wohl sacht mit durch. Mit 'm Hund, das ist doch immer +geselliger als mit 'ner Katze.« + +»Junge, wie du doch an alles denkst!« sagte Leidchen verwundert und +bewillkommnete den neuen Hausgenossen mit einem Teller verdünnter +Ziegenmilch. + +Musch und Lustig konnten sich anfangs nicht gut riechen. Als aber +beide ihre Tracht Prügel weg hatten, kam schnell eine Art Einvernehmen +zustande, korrekt, wenn auch ohne Herzlichkeit. + + * * * * * + +Am Sonntagnachmittag war Gerd eben mal ins Dorf gegangen, während +Leidchen nach dem Aufwaschen des Geschirrs auf dem Flett saß und die +bei Tisch gebrauchten Messer und Gabeln putzte, wie sie es bei Frau +Marwede gelernt hatte. + +Da ging die Große Tür auf, ein Mädchen kam über die Diele und +mit kurzen munteren Schritten gerade auf Leidchen zu. Ihre Hand +nehmend, sagte sie, indem die kleinen runden Augen etwas verlegen +dreinschauten: »Guten Tag, Leidchen, ich bin Sine. Ist Gerd zu Hause?« + +Leidchen warf schnell einen prüfenden Blick auf die Schwägerin und +sagte, ihr Bruder wäre eben ins Dorf gegangen, würde aber in einer +Viertelstunde wohl wieder da sein. Sine möchte nur ablegen und näher +treten. + +Mit einer kurzen, lebhaften Bewegung nahm Sine die dunkelrote +Wollkappe vom Kopf, strich sich mit den Händen glättend über das Haar +und trat vor Leidchen in die Stube. + +Hier nahmen die beiden Mädchen sich gegenüber Platz und musterten +einander abwechselnd. Wenn die eine hinsah, blickte die andere weg. + +Leidchen wunderte sich im stillen, daß so eine das Herz ihres Bruders +hatte erobern können. Nach seinen Schilderungen und dem Maß seiner +Verliebtheit hatte sie sich die Braut viel stattlicher und hübscher +vorgestellt. Die war ja einen guten Kopf kleiner als sie selbst; ein +»Buttaars«, wie die Leute zu sagen pflegten. Ihr Gesicht strotzte +wohl von Gesundheit, aber für ihren Geschmack war es etwas zu rot und +viel zu rund. Die Augen guckten ja wohl ganz grall, waren aber weder +schwarz noch braun, sondern graublau, wie die meisten Augen. Daß die +Deern niemals aus dem Moor herausgekommen war, verriet schon der +Schnitt ihrer Kleidung. + +Als Leidchen dies alles, nicht ohne eine gewisse Genugtuung darüber +zu empfinden, festgestellt hatte, nahm sie der künftigen Schwägerin +gegenüber etwas damenhaft Geziertes an, wie sie es einst ihrer +Freundin Meta Stelljes abgeguckt hatte. Zur zweiten Natur, wie dieser, +hatte es ihr aber in dem einen Jahre noch nicht werden können, sie +mußte es von Fall zu Fall, wenn sie es nötig zu haben glaubte, +annehmen. + +»Bist du zu Fuß gekommen?« brach sie das allmählich drückend werdende +Schweigen. + +Sine zog ihr rundes Gesicht in die Breite und lachte: »Jaha, meinst +du, es wär' ein Kutschwagen vorgefahren und hätte mich abgeholt?« + +»Du könntest ja auch per Rad gekommen sein. Viele Fräuleins haben +heutzutage ein Damenrad.« + +»Ha, für so'n neumodischen Spielkram hab' ich kein Geld übrig. Wo ich +was zu suchen hab', kann ich genug zu Fuß hinkommen.« + +»Bist du mal in der Stadt in Stellung gewesen?« + +»Nee. Ich bin mein Lebtag nicht aus dem Kuhstall herausgekommen.« + +»Hm, das ist eigentlich schade.« + +»Warum?« + +»Es ist für unsereins ganz gut, wenn er mal ein bißchen umlernt.« + +»Warum? So wie ich's hier gelernt hab', soll ich's ja doch mein +Lebenlang gebrauchen.« + +»Na ja, aber es schadet doch nichts ...« + +»Ha, das ist nun zu spät. Die Hauptsache ist, daß ich 'n ordentlichen +Bräutigam gekriegt hab'.« + +Leidchen blickte peinlich berührt zur Seite. + +Nach einer Weile begann sie wieder: »Ich hatte dich mir eigentlich +größer vorgestellt.« + +Sine lachte lustig auf: »Das kommt wohl davon, weil ich und Becka +Zwillinge sind. Da mußten wir beide uns in die richtige Länge teilen, +und dabei ist für jede nicht so viel geblieben. Aber ich bin groß +genug, die meiste Arbeit ist für unsereins ja doch an der Erde.« + +Auf der Diele wurden Schritte laut. + +»Verrat mich nicht!« rief Sine und huschte hurtig wie ein Kathekerchen +hinter den Ofen. + +Gerd trat ein, die Sonntagspfeife im Munde, und setzte sich an den +Tisch, um eine Zeitung zu lesen, die er sich aus dem Dorf mitgebracht +hatte. Er interessierte sich für das, was in der Welt vorging, an +müßigen Winterabenden sogar für die Reden, die zum Fenster des +Reichstags hinaus gehalten wurden, hatte sich selbst aber noch kein +Blatt bestellt, weil das Vierteljahr schon zu weit vorgeschritten war. + +Plötzlich wurden ihm beide Augen von hinten zugehalten. + +»Laß den Unsinn, Leidchen!« rief er unwillig, und packte die Hände. Da +merkte er, daß sie für die Schwester zu kurz und dick waren, sprang +auf und drückte seine Sine so fest an sich, daß sie kreischte. Er +hatte sich nämlich im stillen den ganzen Tag nach ihr gesehnt und sich +vorgenommen, wenn er sich in den Weltbegebenheiten umgesehen hätte, +schnell auf das Rad zu steigen und sie noch zu besuchen. + +Als er sie losgelassen hatte, sahen die Brautleute einander +glückstrahlend in die Augen. »Sie ist doch gar nicht häßlich,« mußte +Leidchen sich jetzt gestehen. + +Diese fühlte bald, daß sie hier überflüssig war. Denn die beiden +fingen an, von der Zukunft zu plaudern, und es schien ihr, als ob sie +sich ihretwegen dabei einen gewissen Zwang auferlegten. + +Sie stand auf und ging in die ungeheizte andere Stube, wo sie sich auf +den Stuhl, der außer ihrer Kommode hier die ganze Ausstattung bildete +und nachts ihre Kleider trug, an das Fenster setzte. + +Was die beiden da drüben für ein Leben machten! Man sollte nicht +glauben, daß Gerd, der auf einmal so lachen konnte, derselbe Gerd war, +den sie von kindauf kannte. + +Nach einer Weile ließ Sines muntere Stimme sich auf dem Flett hören. +Leidchen hob horchend den Kopf. + +»Da kocht sie sogar schon Kaffee!« brummte sie ärgerlich vor sich hin. +»Na, meinetwegen gern. Ich bin hier ja doch bloß geduldet. Ich wollt', +ich wär' überhaupt nicht erst hergekommen.« + +Bald rief's hell von draußen: »Leidchen! Kaffee trinken!« + +Leidchen rührte sich nicht vom Fleck und sah finster nach der Tür. + +Da wurde diese aufgerissen, und Sine steckte ihr lachendes Gesicht +herein. »Huh, was für 'ne leere Stube! Und wie kalt! Hast du nicht +gehört? Ich hab' dich zum Kaffee gerufen.« + +»Och, trinkt man immerzu ... Ihr seid doch wohl lieber allein.« + +»Was schnackst du da für dummes Zeug?« rief die andere verwundert, +kam hereingesprungen, legte den Arm schwesterlich um die Schwägerin +und ließ ihr mit Bitten und Drängen keine Ruhe, bis sie aufstand und +sich in die Wohnstube an den gedeckten Kaffeetisch führen ließ. Sine +spielte die Wirtin und schenkte ein. Etwas Butterkuchen hatte sie +auch mitgebracht, für jeden zwei Streifen. Sie war in der frohesten +Laune und erzählte ein lustiges Stückchen nach dem andern. Gerd +lächelte glücklich vor sich hin und sah immer wieder seine Schwester +an, als wollte er sagen: »Nicht wahr? Das ist eine!« Und diese war +liebenswürdig genug, sich zusammenzunehmen und zuweilen gequält +mitzulächeln. + +Nach solchem Plauderstündchen um die Kaffeekanne gingen die beiden +Liebesleute ins Freie, wo Gerd der Braut seinen Bepflanzungsplan für +das kommende Frühjahr darlegen wollte. Leidchen hielt sich zurück und +wurde auch nicht zum Mitgehen aufgefordert. + +Als sie die Kaffeetassen aufgewaschen und sich in der Wohnstube ans +Fenster gesetzt hatte, sah sie die beiden jenseits der Felder zum +Hochmoor hinansteigen. Die Gestalten hoben sich scharf gegen den +grauen Novemberhimmel ab, Gerd nach seiner Art ein wenig vornüber +gebeugt, und an seiner Seite das kurze, dicke End, das ihm kaum an die +Schultern reichte. Sie trieben keine Zärtlichkeiten, gaben sich weder +den Arm noch die Hand, aber die Einsame am Fenster empfand: das war +ein Paar, das in herzlicher Zuneigung für gute und böse Tage sich treu +und unzertrennlich verbunden fühlte. + +Und gerade hinter den beiden drehten sich die Flügel der Mühle. + +Ein bitteres Gefühl des Neides stieg in ihr auf, und sie empfand die +eigene Lage schmerzlich weher denn je. Verzweifelt rang sie die Hände +im Schoß. + +Aber auf einmal biß sie die Zähne aufeinander, und ihre Züge nahmen +den Ausdruck fast wilder Entschlossenheit an. Und ihr Gesicht hielt +diesen noch fest, als sie bald darauf sich erhob, die Ziege besorgte +und das Abendbrot richtete. + +Als die beiden wiederkamen, streckte Sine Leidchen die Hand hin, +um Abschied zu nehmen. Aber diese lud bestimmt und freundlich zum +Abendbrot ein, und auch Gerd bestand darauf, daß sie nicht ungegessen +fortginge. + +»Graut dir nicht manchmal?« begann Sine, als sie um den Tisch saßen, +zu Leidchen gewendet. + +»Warum?« fragte diese leichthin. + +»Oh, ich meine, wenn Gerd tagelang weg ist ... Bis zum nächsten +Nachbarn sind's doch beinahe zehn Minuten.« + +Leidchen hob die Schultern ein wenig. + +»Du dumme Deern,« fiel Gerd ein, »das fehlt grad' noch, daß du mir das +Kind bange machst. Du mußt's später auch allein hier aushalten, wenn +ich über Land bin.« + +»Oh,« sagte Sine, »wenn man verheiratet ist, ist das was anderes.« + +Leidchen nagte an ihrer Unterlippe. Gerd warf seiner Braut einen +strafenden Blick zu, den sie auch verstand, worauf sie mit den Augen +um Verzeihung bat. + +Als es anfing zu dämmern, machte Sine sich auf den Weg. Gerd +wollte sie ein Stück begleiten und dann, ohne zu Hause noch wieder +anzukehren, nach Nr. 40 fahren, um in der Nacht ein Schiff Torf zur +Stadt zu bringen. Er hatte sich zu dem Zweck schon in sein Arbeitszeug +gesteckt und schob das Rad neben sich her. + +Eine Stunde, nachdem die beiden das Haus verlassen hatten, hüllte +Leidchen sich in ihr Umschlagetuch und schlug mit festen Schritten den +Fußpfad nach dem Dorfe ein. Ohne sich zu besinnen, trat sie über den +Grenzgraben, und ohne Schwanken stieg sie vom Hochmoor in das bebaute +Land hinab. Die Mühle wuchs immer größer vor ihr auf. Bald hörte sie +auch das Sausen und Knarren der Flügel. Da blieb sie stehen und preßte +die Hand auf das ungestüm pochende Herz. + +Auf einmal sprang etwas an ihr auf, sie erschrak und stieß einen +leisen Schrei aus. Es war Lustig, der den Ziegelstein, den sie vor +das Hühnerloch gelegt hatte, wohl mit den Pfoten zur Seite gearbeitet +hatte und ihr nachgelaufen kam. + +Sie versuchte mehrmals, das Hündchen zurückzuscheuchen, aber wenn sie +sich eben gewandt hatte, war es immer wieder bei ihr. Sie überlegte, +ob sie es nach Hause bringen sollte. Aber schließlich sagte sie: +»Meinetwegen komm mit,« und setzte ihren Weg fort. + +Sie schlich jetzt auf den Zehen und näherte sich, das Wohnhaus im +Bogen umgehend und links liegen lassend, der Mühle. + +Plötzlich schrie Lustig gellend auf, ein großes dunkles Etwas hatte +sich auf ihn gestürzt. Es gelang dem Kleinen aber, sich frei zu machen +und unter einen Haufen Gerümpel zu flüchten. + +»Wer da?« klang es soldatisch kurz von der Tür der Mühle her. + +Da trat Leidchen schnell vor und in den Lichtschein, der von dort in +das Dunkel fiel. + +»Du hier, Leidchen?« + +»Ja, ~du~ kommst ja nicht, ich hab' lange genug gewartet.« + +»Ich habe wirklich noch keine Zeit gehabt. Aber wart', ich will erst +die Bestie zur Ruhe bringen.« + +Er packte die Dogge am Halsband und zerrte sie, mit Fußtritten +nachhelfend, in die Mühle, deren Tür er hinter ihr schloß. + +»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander sprechen?« fragte +Leidchen, als er wieder zu ihr trat. + +»Wir machen wohl am besten ein paar Schritte durch das Feld,« gab er +zur Antwort. »Da sind wir am sichersten.« + +Er schlug die Richtung ein, aus der Leidchen gekommen war. Vorsichtig +schlichen sie am Hause vorüber. + +Als sie dieses an die hundert Meter hinter sich hatten, blieb Leidchen +stehen und tat einen tiefen Seufzer. + +»Hermann ... Hermann ...« + +»Ach ja, Leidchen ...« sagte er kleinlaut. + +»Warum hast du mir nicht geschrieben? ...« + +»Was sollte ich schreiben?« + +»Und warum bist du nicht gekommen? Du hast es Gerd doch versprochen.« + +»Es hat sich immer noch nicht recht gepaßt.« + +»Tag und Nacht hab' ich auf dich gewartet.« + +»Das tut mir wirklich leid. Wenn du wüßtest, was ich diese Zeit +durchgemacht habe ...« + +»~Du?~ Wenn ~ich~ das sagte! ...« + +»... Es tut mir alles so furchtbar leid.« + +»Was?« + +»Daß wir so leichtsinnig gewesen sind.« + +»So redest du nun? Weißt du nicht mehr, was du mir früher gesagt hast?« + +»Ach ja. Das war eben mein Leichtsinn. Ich hab' die Verhältnisse nicht +bedacht.« + +»Hermann ...« + +»Ja, du hast allen Grund, böse auf mich zu sein.« + +»Ich böse? ... Ich hab' dich noch immer lieb.« + +Sie griff mit beiden Händen leidenschaftlich nach seiner Rechten, die +er ihr nur widerstrebend überließ. + +»Ich habe mehr als einmal um eine Stelle geschrieben,« begann er, +»aber es ist nicht geglückt ... Und nun weiß ich, ich kann hier +überhaupt nicht weg. Laß mich ausreden! Vater hat mir alles schwarz +auf weiß gezeigt: Wenn ich fortmache, kommt die Mühle unter den Hammer +... und wenn ich dich nehme, ist's dasselbe.« + +»Aber eure Mühle ist doch bloß ein totes Ding, da hängt das Glück und +die Seligkeit nicht von ab.« + +»Sie ist altes Familienerbe.« + +»Wie oft kommt das vor, daß Menschen das aufgeben müssen und werden +doch wieder glücklich und zufrieden! Dorten steht der Lichterschein +von Bremen am Himmel. Da finden viele Tausende ihr ehrliches Brot, +die nicht halb so gesund und stark sind als wir beiden. Hier bist du +noch lange ein Knecht, dort vom ersten Tage an ein freier Mann. Reiß +dich los, mach dich frei! Du sollst es nicht bereuen. Weißt du nicht +mehr, wie wir letzten Sommer so glücklich waren ... als wir uns trafen +im Bürgerpark und in dem Kahn saßen ... und in dem schönen Buchenwald +... und ... und ... Das kommt dann alles, alles wieder und wird noch +viel, viel schöner ... Was hattest du damals für ein frohes, lachendes +Gesicht! Es ist zu dunkel jetzt, ich kann dein Gesicht nicht sehen, +aber das weiß ich so: jetzt sieht es aus wie das böse Gewissen. Komm, +du sollst dein gutes Gewissen und deine lachenden Augen wieder haben. +Komm, wir wandern die Nacht durch. Aber so komm doch!« + +Sie hatte aufs neue seine Hand ergriffen und zog mit Gewalt an ihr, +aber sie brachte ihn keinen Schritt vorwärts. + +»Leidchen,« sagte er, »nicht so furchtbar hitzig! Laß doch los, du +reißt mir ja den Arm aus. Was du da eben gesagt hast, das hab' ich +selbst mir alles ja schon hundertmal überlegt ... Aber es geht nicht.« + +»Du brauchst bloß zu wollen, dann geht es auch.« + +»Es ist unmöglich ... Ich kann nicht ... Und ich will auch nicht ...« + +»Sooo ... Du willst nicht ... Das ist was anderes ... So so so ... Du +willst Tietjens Hermine nehmen.« + +»Die Verhältnisse sind manchmal stärker als wir Menschen.« + +»Die keine Haare mehr auf dem Kopf hat.« + +»Woher weißt du das?« + +»Ich hab' mal in der Heuzeit mit in ihrem Bett geschlafen. Aber sie +hat die ganze Kommode voll Gold- und Silbergeschirr, und den Schrank +voll seidener Kleider und viel, viel Geld. Ha, du kannst wohl lachen.« + +»Leidchen, du glaubst doch wohl selbst nicht, daß ich es gern tue! Muß +ist eine bittere Nuß.« + +»Ja, ja, es ist 'ne wunderliche Welt. Ich kenn mich bald nicht mehr in +ihr aus ... Was soll denn nun aus mir werden?« + +»Du kannst mir glauben, es tut mir in der Seele weh ... Aber, +Leidchen, du bist jung und von leichtem, frohem Gemüt. Du kommst da +wohl über hinweg.« + +»Ja, ich komm' ... da wohl ... über hinweg ...« + +»Und ich will tun, was ich kann, und mehr, als die Gesetze verlangen, +und alles freiwillig ...« + +»Ach, kuck mal einer an! Das ist ja nett, daß wir uns nicht erst vor +dem Amt gegenüberzustehen brauchen. Wieviel denkt ihr denn ungefähr, +daß ihr anlegen wollt?« + +»Das können wir später sehen, die Sache soll jedenfalls auf das +nobelste geregelt werden. Es freut mich, Leidchen, daß du so +vernünftig bist und so ruhig über den Fall denkst. Das ist ja auch das +beste. So'n kleines Malheur hat manche, und wer jung und hübsch ist, +findet immer noch eine anständige Unterkunft, vor allem, wenn auch +etwas Geld da ist. Und hier bei uns im Moor wird so was ja auch nicht +so genau genommen.« + +»So! Nun endlich kenn' ich dich! Und da spuck' ich hin! Pfui, was du +für ein schlechter, niederträchtiger Kerl bist! Pfui, pfui!« + +Sie wandte sich, schlug ihr Tuch um den Kopf und rannte den Pfad dahin +wie ein gehetztes Wild. Lustig humpelte auf drei Beinen hinterher. + +Nach einer Weile drehte sie sich um, und noch einmal gellte es durch +die Nacht: »Pfui, pfui, pfui!« + + + + + 21. + + +Gerd war in der Nacht auf Dienstag zurückgekehrt. + +Als Leidchen die Frühkost in die Wohnstube trug, war er noch dabei, +sich anzukleiden. Sie nickte ihm stumm zu, und er wunderte sich, daß +sie keine Frage stellte wie: »Na, bist du wieder da?« oder so ähnlich, +wie ein Bremenfahrer das eigentlich doch verlangen kann. + +Als sie am Tisch saßen, sah er ihr schärfer ins Gesicht. »Bist du +krank?« fragte er nach einer Weile. + +Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen. + +»Ist jemand hier gewesen?« + +Sie schüttelte wieder den Kopf. + +Er wunderte sich über ihr sonderbares Benehmen, drang aber nicht +weiter in sie ein und ging bald an seine Arbeit, die verschlammten +Berieselungsgräben der Wiesen, Grüppen genannt, mit dem Spaten zu +öffnen. + +Beim zweiten Frühstück fiel es ihm auf, daß ihre Augen etwas Starres, +an den Dingen vorbei Sehendes hatten. Da sie mit der Hausarbeit +fertig war, nahm er sie mit auf die Wiese; denn es war milde, von +leichtem Frost geklärte Luft. Sie tat die Arbeit, die er ihr anwies, +wie eine Maschine, ohne die geringste Teilnahme. Wenn er sie einmal +ansprach, hörte sie entweder gar nicht, oder er mußte seine Worte +lauter wiederholen, und es wollte ihm scheinen, als müßte sie ihre +Gedanken jedesmal erst aus der Ferne herbeirufen. Einmal, als er sie +von der Seite heimlich beobachtete, erschrak er über den ins Ziellose +irrenden Blick ihrer Augen. Doch er tröstete sich, das wären so +Stimmungen, die bei den Frauensleuten kämen und gingen. + +Aber dieser merkwürdige Zustand hielt die nächsten Tage an. Sie +wandelte wie im Traum und erfüllte ihre Obliegenheiten fast wie ein +Automat. + +Gerd versuchte alles mögliche, sie aus diesem wunderlichen Zustand zu +erwecken. + +So brachte er eines Abends das Gespräch auf gemeinsame +Jugenderlebnisse heiterer Art und lachte dabei mehr als sonst seine +Weise war. Aber es gelang ihm nicht, ihr auch nur das leiseste Lächeln +abzugewinnen. Wenn er, um sie zur Teilnahme zu zwingen, zwischendurch +fragte: »Wie war dies, wie war das noch?« antwortete sie jedesmal in +dem gleichen müden Tone: »Das weiß ich nicht mehr.« + +Er kam auf allerlei Menschen ihres Bekanntenkreises zu sprechen +und stellte über diesen und jenen Behauptungen auf, die zum +Widerspruch reizen mußten. Aber sie, die ihm all ihre Lebtage so gern +widersprochen hatte, ließ ihm jetzt auch das Törichtste hingehen. + +Endlich fuhr er sein schwerstes Geschütz auf und fing von der Mühle +und von Hermann an, ihr Gesicht heimlich dabei beobachtend. Aber in +diesem veränderte sich keine Miene. Nicht einmal, als er erzählte, +Tietjens wären Ende letzter Woche dort zu Besuch gewesen. + +Da war er mit seinem Latein zu Ende, und es wurde ihm angst und bange. + +In seiner Ratlosigkeit ging er zu Beta Rotermund, der treuen Nachbarin +seines Elternhauses, und klagte ihr, wie er mit der Schwester zu +Schick käme. Die gute Frau, die ihr Patenkind gleich in den ersten +Tagen schon besucht hatte, versprach gern, noch einmal zu ihr zu gehen. + +Als Gerd sich bei ihr erkundigte, was sie ausgerichtet hätte, sagte +sie unter vielem Seufzen: »Leidchen war sehr verschlossen, ich konnte +nicht viel aus ihr herausbringen. Aber ich glaube, sie hat kürzlich +eine Aussprache mit Müllers Hermann gehabt und weiß nun, daß von ihm +nichts mehr zu hoffen ist. Da muß sie sich erst hineinfinden, und +das wird ihr nicht leicht werden, wo sie letzte Woche noch so voller +Hoffnung war. Wir können ihr dabei nicht helfen, so was muß der Mensch +allein mit sich und seinem Gott abmachen ... Ich hab' sie eingeladen, +sie sollte mich mal besuchen und überhaupt mehr unter Menschen gehen. +Aber da schüttelte sie nur den Kopf. Sie macht ganz den Eindruck, als +ob in ihr etwas gestorben wäre.« + +»Und was soll ich nun dabei tun, Rotermunds Mutter?« fragte Gerd. + +»Hab' immer ein Auge auf sie, und sieh zu, daß sie genug zu tun hat +und nicht zu viel grübelt. Vor allem aber mach' ihr keine Vorwürfe. +Die macht sie sich selbst genug, und mehr als gut ist. Und sei immer +freundlich und lieb mit ihr, das ist die Hauptsache.« + +Gerd nickte und sagte: »Es paßt sich gut, daß wir den Torf so ziemlich +los sind. Ich kann diese Zeit mehr bei Hause bleiben und brauche sie +nicht so lange allein zu lassen.« + +»Ja, das ist gut,« sagte Frau Rotermund. + +Gerd widmete sich in den nächsten Wochen mit Eifer der Verbesserung +seines arg verwahrlosten Besitzes, indem er die Entwässerungsgräben +der Äcker reinigte und das Land mit der Hacke umriß, um es zu +entquecken. Er nutzte die immer kürzer werdenden Tage nach Kräften +aus, indem er, wenn es kaum tagte, mit der Arbeit anfing und sich erst +Feierabend gönnte, wenn er nichts mehr sehen konnte. + +Die Versuche, Leidchen umzustimmen und aufzuheitern, gab er, da einer +nach dem anderen ergebnislos verlief, bald auf, indem er sich sagte: +»Schließlich muß jeder seine Last selbst tragen.« + +Einige Abende ließ er sich von ihr aus seinem Landwirtschaftsbuche +vorlesen, dessen Lehren er ja nun auf eigenem Grund in die Praxis +umsetzen wollte. Aber sie ging über Punkte und Kommas glatt hinweg, +hielt mitten in den Sätzen inne, daß er den Sinn nicht fassen konnte, +und las außerdem so eintönig, daß er, von der Arbeit im Freien +ermüdet, meist nach zehn Minuten eingeschlafen war. Als sie eines +Abends das Buch mechanisch wieder zur Hand nahm, sagte er: »Leg's man +weg, wir wollen das lieber aufgeben. Ich merke ja, es macht dir doch +keine Freude.« + +So lebten sie einige Wochen nebeneinander hin. Zuletzt sahen sie sich +fast nur noch bei den Mahlzeiten, die mit den abnehmenden Tagen immer +kürzer wurden, und bei denen manchmal keine drei Worte gewechselt +wurden. Gerd war, was das Schicksal der Schwester betraf, immer +mehr in einen Zustand der Gleichgültigkeit und Teilnahmlosigkeit +hineingeraten und sehnte die Zeit herbei, wo seine Hochzeit ihn von +einer so unfreundlichen und undankbaren Hausgenossin befreien würde. + + * * * * * + +Zwischen Freimarkt und Weihnachten drängt sich die Gemeinde Grünmoor +um den Abendmahlstisch. Das Brunsoder Jungvolk pflegt sich am zweiten +Advent einzufinden. + +Einige Abende vorher erinnerte Gerd seine Schwester daran und fragte, +ihr ernst in die Augen sehend: »Nicht wahr, du gehst doch auch mit?« + +Sie schüttelte stumm den Kopf. + +»Es ist schon so lange her,« gab er zu bedenken, »daß du nicht mehr +hingewesen bist.« + +Leidchen schwieg. + +»Ich glaube,« begann er noch einmal, mit einem werbenden Blick in ihre +toten Augen, »es würde dir gut tun ... Und ich würde mich so freuen.« + +»Bitte, Gerd, laß mich in Frieden,« sagte sie erregt, indem sie sich +abwandte. + +Da ließ er sie seufzend gewähren. + +Am Sonntagmorgen trat er in seinem Abendmahlsrock vor sie hin und +fragte: »Bin ich so ordentlich?« + +Sie nahm mechanisch die Bürste vom Wandbrett und fuhr ihm damit einige +Male über die Kleidung. + +»Leidchen, noch wäre es Zeit ...« + +Sie erwiderte nichts. + +»Und wenn ich mal nicht lieb mit dir gewesen bin ...« + +»Du hast dir nichts vorzuwerfen,« unterbrach sie ihn kurz. + +Er ging. Sie setzte sich an das Fenster und blickte hinaus. + +Auf dem Kirchdamm, der Gerds Stelle im Westen begrenzte, und von dem +der Achterdamm und Hauptdamm rechtwinklig abzweigen, pilgerte die +Brunsoder Jugend dem Kirchdorf zu, bald ein Trupp Burschen, bald ein +Koppel Mädchen. Leidchen suchte ihre Schulkameradinnen, mit denen sie +eingesegnet war, heraus. Es fehlte auch nicht eine. Ein Brautpaar +hielt sich von den anderen gesondert. Als endlich noch jemand zu +Rad angefahren kam, wandte sie sich jäh vom Fenster ab und ging mit +erstarrtem Gesicht an häusliche Arbeiten. + +Nach einer halben Stunde setzte sie sich wieder in die Stube, legte +die Hände schlaff in den Schoß und sah wie abwesend vor sich hin. + +Als sie so wohl eine Viertelstunde gesessen hatte, stand sie auf und +holte sich aus der Kommode in der anderen Stube ihr Gesangbuch. + +Sie legte es vor sich auf den Tisch und schlug es, den Kopf in die +Hand gestützt, vorne auf. + +Dem Titel gegenüber befand sich ein Bildchen. Der Herr saß mit den +Elfen um den Tisch beim ersten Abendmahl. Judas ging eben zur Tür +hinaus. + +Sie hatte das Bild bisher kaum beachtet. Jetzt starrte sie es lange +mit großen Augen an. + +Dann schlug sie die Buß- und Beichtlieder auf und las ihrer eine ganze +Reihe. + +Alles, was in ihnen geklagt wurde von Sünde, Schuld und Strafe, wandte +sie mit grausamer Wollust auf sich an. Über alles, was zum Preise der +stärker sich erweisenden göttlichen Gnade und Vergebung gesagt und +gesungen wurde, las sie mit dumpfen Sinnen hinweg. + +Hin und wieder traf sie auf Verse, in denen eine aus dem Kerker +befreite, von schwerem Druck erlöste Seele gar zu hell und freudig +aufjubelte. Da war es ihr für Augenblicke, als wollte der Klang ein +leises Echo in ihrer Seele wecken, als sähe sie in der Ferne eine Tür +und schwaches Licht durch die Finsternis schimmern. Aber gewaltsam +verschloß sie ihre Augen dagegen. Sie wollte in der dumpfen Starre, +die seit Wochen, seit jener fürchterlichen Nacht, in der ihre letzte +Hoffnung zusammenbrach, auf ihr lag und ihre Seele lähmte, verharren. +Denn so war es am besten zu ertragen. + +Gerd kam erst gegen drei Uhr, zurück. Sie waren ihrer an die +fünfhundert Gäste um den Altar gewesen, und der bejahrte Pastor hatte +im Austeilen von Brot und Wein eine Pause machen müssen, weil seine +Kraft versagen wollte. + +Er befand sich in befreiter, gehobener Stimmung und trat der Schwester +mit warmer Herzlichkeit entgegen. Als er ihr aber in die kalten, toten +Augen sah, erschrak er. + +»Liebes Leidchen, so sag' mir doch endlich mal, was mit dir ist, ob +ich dir nicht helfen kann.« + +»Du kannst mir nicht helfen,« gab sie dumpf zur Antwort. + +»Ach wärst du doch heute morgen mit mir gegangen!« + +»Judas ging hinaus.« + +Er sah sie entsetzt an: »Aber Kind, du bist doch kein Judas.« + +»Kannst ~du~ das wissen?« + +»Hast du denn ganz vergessen, was du gelernt hast? Barmherzig und +gnädig ist der Herr, geduldig und von großer Güte und Treue.« + +»Es gibt eine Sünde, die kann nicht vergeben werden, weder in dieser +noch in der zukünftigen Welt.« + +»Aber Leidchen, Leidchen, was schnackst du da für schreckliches Zeug! +Das ist doch bloß die Sünde wider den heiligen Geist.« + +»Kannst du in mich hineinkucken? Kannst ~du~ wissen, ob ich die +begangen habe oder nicht?« + +»Oh, Leidchen, ich bitte dich, laß dir bloß nichts vorlügen vom bösen +Feind. Wühl' dich nicht in einen solch schaurigen Wahn hinein!« + +Er sah sie in heller Verzweiflung an. + +»Komm, Junge, das Essen wird kalt,« sagte sie kurz. + +Sie setzten sich an den Tisch. Gerd hatte einen tüchtigen Hunger +mitgebracht. Aber jetzt war er ihm zum guten Teil wieder vergangen. +Leidchen dagegen aß viel, und wie ihrem Bruder scheinen wollte, mit +einer Hast und Gier, die ihr früher fremd gewesen waren. + +Am Abend ging sie zeitig zu Bett. Gerd saß allein in der Stube, und +auf einmal gewannen bittere Gefühle über ihn die Herrschaft. Er fragte +sich, was er all die Jahre eigentlich von seiner Schwester gehabt +hätte, und gab sich die Antwort: nichts als Arbeit, Sorge, Angst, +Verdruß und Ärger. Als er sich dies mit Einzelheiten bewiesen hatte, +fiel ihm plötzlich ein Wort ein, das der Pastor am Vormittag in +seiner Beichtrede angeführt hatte: »Einer trage des anderen Last, so +werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen,« und er erneuerte die vor dem +Altar gefaßten Vorsätze, der Schwester fortan wieder freundlicher und +herzlicher zu begegnen, als in den letzten Wochen. + +Zwei Tage später fand im oberen Dorf, auf Stelle Nr. 11, eine +Zwangsversteigerung statt. Jan Brassen, ein Luftikus und Obenhinaus, +einer von Heini Pepers besten Kunden, hatte sich in einem plötzlichen +Anfall von Größenwahn ein Paar feuriger Rappen zugelegt und diese +dann in einem halben Jahr zuschanden gejagt. Inzwischen war auch der +Wechsel verfallen, und sein Hausrat sollte jetzt in die vier Winde +gehen. + +Gerd ging auch hin, in der Hoffnung, ein paar Stücke, deren Fehlen +sich im Haushalt unangenehm fühlbar machte, billig kaufen zu können. +An die hundert Menschen umstanden den Tisch des Auktionators, und da +es halbjährigen Kredit gab und Schnaps soviel jeder trinken wollte, +wurden wahnsinnige Summen geboten, für die man die meisten Sachen viel +besser neu hätte kaufen können. Gerd ärgerte sich über den Leichtsinn +der Leute und mußte im stillen dem Lehrer recht geben, der unter +seinem lebhaften Widerspruch einmal behauptet hatte, in manchen Dingen +wären die Moorleute noch die reinen Kinder, und die Unfertigkeit der +Verhältnisse in den Kolonien im Gegensatz zu der Solidität der alten +Geestdörfer träte oft erschreckend zutage. Er beteiligte sich deshalb +überhaupt nicht am Bieten. + +Ganz zuletzt hob der Ausrufer eine Handharmonika in die Höhe, und +um etwaige Kaufliebhaber zu überzeugen, daß noch Töne drin saßen, +spielte er schnell: »Ach du lieber Augustin, alles ist hin.« Die Leute +lachten, Gerd aber, der ein solches Instrument längst gern besessen +hätte, fing mit einem Taler an zu bieten, und bei fünf Mark wurde ihm +der Zuschlag erteilt. Er bezahlte sofort und zog sehr erfreut mit +seinem Schatz ab. + +Unterwegs fiel ihm aus der biblischen Geschichte der junge David ein, +wie der mit seinem Harfenspiel den bösen Geist von König Saul gejagt +hatte. So ein böser Geist hatte ja auch seine Schwester besessen. Ob +der am Ende vor dem Harmonikaspiel weichen würde? ... Das konnte ganz +gut sein und wäre ja herrlich. Er zog schnell ein paar Akkorde und +hatte mit solcher Hoffnung im Herzen an seinem Instrument noch einmal +soviel Freude wie vorher. + +Als er die Dorfreihe hinter sich hatte, fing er im Gehen an zu üben +und wunderte sich, wie schnell die Töne sich unter seinen Händen zu +Melodien formten. Zu Hause angelangt, brachte er das Weihnachtslied »O +du fröhliche« schon fehlerfrei zustande und gab es seiner Schwester +zum besten, sie dabei still beobachtend, und als er fertig war, +fragte er: »Nicht wahr, es klingt doch schön?« Sie nickte, und dann +spielte und übte er den ganzen Abend. Als sie eine Stunde nach dem +Abendbrot aufstand, um zu Bett zu gehen, ärgerte er sich, daß sie +ihm nicht länger zuhören wollte. Aber er suchte Trost in der Musik, +indem er eine Elegie phantasierte und all seine Kümmernisse in den +Harmonikaakkorden ausströmen ließ. + +In der Nacht fiel Schnee und gleich so reichlich, daß er der Arbeit im +Freien ein Ende machte. Gerd war sehr verdrießlich, denn nun konnte er +bis Weihnachten nicht so weit kommen, wie er sich vorgenommen hatte. +Er mußte jetzt die Tage untätig im Hause sitzen, worunter seine Laune +sehr litt. + +Eines Abends ärgerte er sich über das wunderliche Wesen der Schwester +dermaßen, daß die Galle ihm überlief. Ich will doch mal sehen, ob es +nicht möglich ist, den einen Teufel durch den anderen auszutreiben, +sagte er zu sich, trat dicht vor sie hin, schlug mit der Faust +dröhnend auf den Tisch und schrie ihr zu: »Ich lasse mir dies nicht +länger so gefallen! Du häßliche, undankbare Deern, alles tue ich um +deinetwillen, und du machst den ganzen Tag ein Gesicht, daß es nicht +mehr anzusehen ist. Du hast es zehnmal besser, als du's verdienst. +Wenn dir das hier bei mir nicht paßt, kannst du meinetwegen hingehen, +wo du hergekommen bist, ich halte dich gewiß nicht. Was zu viel ist, +das ist zu viel!« + +Sie war zusammengezuckt, sah ihn mit großen entgeisteten Augen an und +ging zur Tür hinaus. + +Sein Zorn verrauchte so schnell, als er gekommen war, und die harten +Worte taten ihm bald leid. Er schlug sich mit der Hand vor den Kopf +und grübelte, auf einem Stuhl an den Tisch hingesunken, dumpf vor sich +hin. + +Nach einer Weile fuhr er plötzlich in die Höhe. War da nicht eben die +Seitentür gegangen? + +Er lief über die Diele und riß sie auf. + +Wahrhaftig, da hob eine vermummte Gestalt sich gegen den Schnee ab. + +Er rief: »Leidchen! Leidchen!« + +Sie wandte sich nicht um. + +Er hinter ihr drein. Sie am Arm fassend, rief er: »Aber Kind, wo +willst du denn hin?« + +»Ich soll ja gehen, hast du gesagt,« klang es tonlos aus dem +Umschlagetuch, das ihr Gesicht verhüllte. »Ich will Tante Beta fragen, +ob sie mich haben will.« + +»Aber so hab' ich das ja gar nicht gemeint, es ist mir nur der Kopf +mal verglippt, vergib mir die bösen Worte, du weißt doch, wie gut ich +es mit dir meine. Nun komm doch.« + +Er legte den Arm um sie und führte sie mit sanfter Gewalt in das Haus +zurück. + +Als sie in der Wohnstube anlangten, wo Leidchen sich auf einen Stuhl +fallen ließ, stellte er sich vor sie hin und bat: »Bitte, liebe +Schwester, kuck mir mal in die Augen!« + +Sie hielt den Blick gesenkt. + +»Sag' mal, kannst du denn gar nicht ein bißchen wieder vergnügt sein?« + +»Ich kann mich nicht anders machen als ich bin. Du solltest mich man +gehen lassen. Dann brauchst du dich nicht mehr über mich zu ärgern.« + +»Davon ist keine Rede, wir beiden halten treu zusammen. Wenn es gar +nicht anders geht, muß ich schließlich auch so zufrieden sein,« sagte +er seufzend. »Vergiß das von vorhin. Du sollst kein böses Wort wieder +von mir zu hören kriegen.« + +So kam Weihnachten heran. Gerd hatte nicht daran gedacht, das Fest, +dem die Stimmung in seinem Hause so gar nicht entgegenkam, besonders +zu feiern. Aber in einer stillen, weichen Stunde beschloß er doch, der +Schwester eine Ueberraschung zu bereiten, und kaufte kleine Geschenke. +Und als er auf seinem Hochmoor zufällig ein schneebelastetes Tännchen +entdeckte, hieß er es mitgehen. Am Spätnachmittag vor dem Heiligen +Abend ging er ins Dorf, um vom Höker die nötigen Lichte zu holen. + +Als er, seiner Heimlichkeit froh, nach Hause kam, suchte er die +Schwester überall und fand sie endlich in ihrer Butze. + +»Was, Deern? Du bist schon ins Bett gekrochen?« + +»Ja.« + +»Aber es ist doch Christabend. Da hilft dir alles nichts, du mußt +wieder heraus.« + +»Ach, Gerd, laß mich.« + +»Zehn Minuten geb' ich dir noch, aber dann mußt du hoch sein.« + +Und schon war er hinaus. + +Er holte das Bäumchen, das er hinter dem Hause im Buschwerk verborgen +hatte, steckte den Fuß in einen quadratisch ausgestochenen Soden +Moostorf und stellte es in der Wohnstube auf den Tisch. Ein paar Äpfel +und Kringel hatte er schnell in die Zweige gehängt und das Dutzend +roter, grüner und weißer Lichte hineingesteckt. Seine Geschenke +breitete er unter der Tanne aus: eine Brosche von derselben Art, +wie er seiner Schwägerin Becka am Verlobungstag eine hatte schenken +müssen, eine schwarze Schürze, einen Kamm, in die Haare zu stecken, +und einen Teller mit Äpfeln und Nüssen. Von Herzen froh überblickte er +seine Gaben und rieb sich die Hände. + +Dann nahm er ein Licht, das er zurückbehalten hatte, und zündete die +anderen damit an. Öfters trat er einen Schritt zurück, um sich an dem +immer heller werdenden Glanz, der sein bescheidenes Stübchen erfüllte, +zu erfreuen. + +Als das volle Dutzend brannte, bog er ein Zweiglein mit der Spitze zu +einer der Flammen, daß es knisternd und zischend den niedrigen Raum +mit süßem Weihnachtsdunst durchräucherte, den er voll tiefen Behagens +einsog. + +Darauf nahm er die Harmonika von der Wand und schritt spielend über +das Flett. In der anderen Stube war es noch dunkel. »Was?« rief er +enttäuscht, »du liegst noch immer im Bett? Nun aber 'raus! Christkind +ist da!« + +»Ach Gerd, nicht für mich,« kam es müde aus der Butze. + +»Für wen denn sonst? Grade für dich. Grade du hast es so nötig. Hu, +hier ist's so düster und kalt, und drüben so warm und hell. Deern, was +wirst du für Augen machen!« + +»Gerd, bitte ... laß mich liegen.« + +»Das wär' noch schöner!« rief er. Er holte ihre Hand unter der Decke +hervor. »Wenn du nicht willig kommst, zieh' ich dich mit Gewalt +heraus, und du mußt, wie du da liegst, im Hemde, mit. Leidchen, ich +hab' mich so lange auf diesen Abend gefreut, du willst mir doch nicht +die ganze Freude verderben? Nun komm aber schnell, die Lichter brennen +sonst herunter.« + +»Was für Lichter?« + +»Die an unserem Christbaum natürlich.« + +»Was? Du hast einen Baum?« + +»Ja, für dich.« + +»So--o? ... hm ... dann muß ich wohl kommen ...« + +Er ging auf das Flett hinaus, setzte sich an den Herd und spielte +Weihnachtslieder, den Blick träumerisch der geöffneten Wohnstube +zugekehrt, aus der es weihnachtlich herüberglänzte. + +Es dauerte nicht lange, so erschien die Schwester. Er legte den Arm +leicht um sie und führte sie dem Lichterglanz entgegen. In der Tür +blieben sie eine Weile schweigend stehen. Dann geleitete er sie an den +Gabentisch. + +»Hier hab' ich auch schöne Geschenke für dich,« sagte er froh. »Erst +mal hier eine Brosche. Das Kreuz, weißt du, was das zu bedeuten hat?« + +»Ja.« + +»Und das Herz?« + +»Natürlich weiß ich das.« + +»Und der Anker?« + +»Och, Gerd, wie sollte ich das nicht wissen?« + +»Dann vergiß es auch nicht und denke immer daran: Ohne Glauben, Liebe, +Hoffnung, kann kein Mensch das Leben zwingen. Halt her, ich stecke +sie dir an ... Macht sich sehr fein, kuck mal in den Spiegel ... Oder +magst du sie nicht leiden?« + +Sie nickte traurig: »Doch, sie ist wunderhübsch.« + +»Und dann ist hier eine Schürze. Kaufmann Nolte sagt, es wär' was +extra Feines. Soll ich sie dir vorbinden?« + +»Nein, danke, das kann ich selbst.« + +»Und dann ist hier noch ein Kamm. Komm, ich steck' ihn dir selbst +ins Haar ... Er sitzt wie angegossen. Und wie deine Haare auf einmal +wieder glänzen ... wie gelbe Seide ... Und auch deine Augen haben +wieder ihren alten Glanz ...« + +»Das kommt wohl bloß von den Lichtern,« sagte Leidchen und wischte mit +der Hand über ihre Augen. + +»Laß es ruhig davon kommen, Deern, das schadet ja nichts ...« + +»... Du hast mir so viel geschenkt, und ich habe für dich gar nichts. +Ein Paar Strümpfe hatte ich angefangen, aber die letzten Wochen hab' +ich sie liegen lassen.« + +»Macht nichts. Wenn du dich bloß ein bißchen freuen willst, bin ich +zufrieden.« + +»Ja, das tu' ich ja auch ...« + +»Mußt's aber auch wirklich und ordentlich tun.« + +»Ach, Gerd, so mit Gewalt kann man das nicht. Das muß über einen +kommen.« + +»Ja, aber an diesem Abend, sollt' ich meinen, kommt es auch über jeden +ordentlichen Christenmenschen. Und du bist doch kein Heidenkind ... +Lang' mir erst mal unserer seligen Mutter ihre Bibel vom Wandbrett.« + +Sie reichte ihm das ehrwürdige Buch, und er las das +Weihnachtsevangelium, langsam und andächtig. Bei der Engelsbotschaft +von der Freude, die allem Volk widerfahren soll, hob er die Stimme. + +Eine Zeitlang schauten sie wieder still in das Lichtgeflimmer. + +Dann griff er zu seiner Harmonika und sagte: »Nun wollen wir auch mal +ein Lied singen. Welches möchtest du am liebsten?« + +»Es ist mir einerlei.« + +»Na, denn mal los: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende +Weihnachtszeit.« + +Er zog ein paar Akkorde und setzte dann kräftig mit der zweiten Stimme +ein. Aber die erste blieb aus. + +»Du sollst mitsingen,« sagte er ärgerlich, Gesang und Spiel +unterbrechend, »wir haben doch immer so schön zweistimmig gekonnt.« + +»Fang' bitte noch einmal an ...« + +Und nun stimmte sie mit ein, erst zag und leise, allmählich kräftiger +werdend, und sie sangen alle drei Verse. + +Wieder schauten sie schweigend in den Glanz der Kerzen, eine lange +Zeit ... + +Endlich fragte sie leise, den Blick zu Boden gesenkt: »Weißt du noch? +... heute vor drei Jahren? ...« + +Er sandte einen schnellen Blick zu ihr hinüber und sagte ebenso leise: +»Ja ... daran habe ich auch schon gedacht ...« + +Plötzlich barg sie ihr Gesicht in die Schürze und fing an zu weinen. +Bald warf ein wildes Schluchzen ihren Körper hin und her, das zuletzt +wieder in ein leises Weinen überging. + +In Gerds feucht schimmernden Augen war der Widerglanz einer großen, +stillen, tiefen Freude. + +Als sie endlich ihre Augen getrocknet hatte, begann er: + +»Liebe Schwester, ich habe mich oft gefreut, wenn du fröhlich +lachtest. Aber über dein Lachen habe ich mich niemals so gefreut, +wie eben über die Tränen, die du da geweint hast ... Ich hab' mal in +einem Buch gelesen, in der heiligen Weihnacht fingen Glocken, die mit +versunkenen Städten tief unten im Meer liegen, leise an zu klingen. +Das mag wohl sein ... Du sprachst vorhin von heute vor drei Jahren ... +Da wollen wir wieder anknüpfen, und was dazwischen liegt, als einen +bösen, häßlichen Traum ansehen ...« + +»Wenn das nur so ginge ...« + +»Es geht, Leidchen. Ganz gewiß, es geht! Ich meine doch, dazu ist +der Heiland ein Kind geworden, daß wir auch wieder Kinder werden +können. Nein, laß mich ruhig ausreden. ›Christ ist erschienen, uns +zu versühnen‹, haben wir vorhin gesungen. Und ich meine, das sollen +wir einfach glauben ... Du hast's diese Zeit mit Grübeln, Sorgen und +Grämen versucht. Und was ist dabei herausgekommen? Du hast dich damit +nur immer tiefer in dein Elend hineingearbeitet, und mir ist manchmal +angst und bange um dich gewesen. Nun versuch's doch mal auf die andere +Art. Glaub' ganz einfach dem Heiland, der zu einer, die es viel +schlimmer getrieben hatte, gesagt hat: ›Sei getrost, meine Tochter, +deine Sünden sind dir vergeben.‹ Das fasse tief in dein Herz, und dann +quäl' dich nicht länger, sondern fang' frisch von neuem an.« + +Sie wandte den Kopf nach dem Fenster, ihre Augen suchten das Dunkel. +Aber in den unverhangenen Glasscheiben spiegelte sich derselbe +Lichterbaum, den sie in Gerds Augen hatte glänzen sehen, und die +ganze Stube füllte er mit seinem wunderbaren Licht. Es war gar nicht +möglich, seinem Glanze auszuweichen. + +Nach einiger Zeit nahm sie des Bruders Hand und sagte: »Weißt du was, +Gerd? Ich glaube, es war gut, daß ich mal tüchtig geweint habe.« + +Er nickte: »Hab' ich's nicht gesagt?« + +»Das hab' ich nämlich lange nicht gekonnt. Es lag mir hier über dem +Herzen immer wie ein Mühlstein. Ich fühl' wohl noch, wo er so lange +gedrückt hat, aber ich glaube beinahe, jetzt ist er da nicht mehr. Es +ist mir auf einmal so leicht ...« + +»Gott sei Dank!« sagte er mit leuchtenden Augen, indem er selbst wie +von zentnerschwerem Druck befreit aufatmete. + +Nach einer Weile sprang er auf seine Füße, sah sie überglücklich an +und rief: + +»Weißt du, Leidchen, wozu ich beinah Lust hätte?« + +»Na?« + +»Noch einmal mit dir rund um den Baum zu tanzen, wie vor Jahren!« + +Sie lächelte trübe. »Das wollen wir doch lieber lassen.« + +»Na ja, man kann ja auch so vergnügt sein. Deern, ich bin jetzt beinah +fröhlicher als vor drei Jahren. Ich glaube, der Mensch muß erst mal +tief in die Hölle hinab, um zu wissen, was rechte Freude ist.« + +Er reckte und streckte die Arme von sich, und seine Augen glänzten, +nicht bloß vom Christbaum, so recht von innen her. + +»Aber Deern,« sagte er dann, »~einen~ Gefallen mußt du mir tun: +mir mal meine Pfeife stopfen!« + +Sie sprang auf und ging mit leichtem, schwebendem Schritt in die +Stubenecke, wo Pfeife und Tabaksbeutel hingen. Mit frohen, lächelnden +Augen sah er ihr zu, wie sie den Pfeifenkopf reinigte und füllte. + +Als sie ihm den fertigen Brösel brachte und ein schwelendes +Zündholz dazu, sagte er: »Das pust' man wieder aus. Dies ist 'ne +Friedenspfeife, 'ne Freudenpfeife, die steck' ich mir an unserem +Weihnachtsbaum an.« + +Bald mischte sich mit dem Tannen- und Kerzenduft der seines Knasters, +das Pfund zu fünf Groschen. Der Torf im Ofen glühte, die Lichter +strahlten Wärme, dem Munde des Schmökers entquollen braungelbe Wolken. +Das alles ergab eine Temperatur und Atmosphäre in dem niedrigen Raum, +die nicht ganz einwandfrei waren. Aber niemand dachte daran, Tür oder +Fenster zu öffnen. Grad' so war es sehr weihnachtlich und über die +Maßen gemütlich. + +Sie hatten längere Zeit geschwiegen, als Leidchen mit schmerzlicher +Wehmut sagte: »Gerd, wieviel hast du doch mein ganzes Leben durch an +mir getan ... Und von mir hast du nichts gehabt als Sorge und Mühe und +Verdruß ...« + +Er sog nachdenklich an seiner Pfeife. Seine Augen schauten zwar in den +Lichterglanz, schienen aber noch mehr nach innen geöffnet zu sein. + +»Das kannst du doch wohl nicht sagen,« begann er nach einer Weile. +»Was Menschen einander geben und voneinander nehmen, das kann man doch +wohl nicht so glatt ausrechnen wie ein Rechenexempel ... Das Beste, +was einer von dem anderen hat, glaub' ich, kennt er am Ende selbst am +wenigsten ...« + +Er stützte den Kopf über dem Tisch in die Hand und fuhr aus tiefem +Sinnen heraus fort: »Wenn ich so über mein Leben nachdenke ... es war +doch nicht bloß Torfbacken und Solospielen ... es war ein Zug in die +Höhe darin, glaub' ich ... Und ich möchte sagen: der Faden, der mich +führte und zog, der ging durch deine Hand ...« + +Sie sah ihn verwundert und ungläubig an. Er nahm ihre Hand und zog sie +sanft auf seine Knie herüber. + +Nach längerem Schweigen fuhr er mit seinem Lächeln fort: »Ja ja, ihr +Frauensleute! Was meine Sine ist, die hat mich sozusagen erst richtig +zu einem Menschen gemacht ... Aber als ich sie noch nicht kannte, da +hatte ich dich ... Wenn ich dich nicht gehabt hätte, ich glaube, dann +wäre nichts Rechtes aus mir geworden ... Für mich mußtest du wohl auch +gerade so sein, wie du warst und bist, und nicht anders ... Ich glaube +wirklich, ich habe viel mehr von dir gehabt als du von mir ...« + +Sie schüttelte lächelnd den Kopf und wollte etwas erwidern. Aber er +sagte, ihr tief in die Augen sehend: »Leidchen, darüber wollen wir uns +nicht weiter streiten. So was läßt sich wirklich nicht auf der Wage +abwiegen. Und es bleibt ja auch in der Familie.« + +Die Lichter brannten allmählich nieder, die größere Hälfte war schon +erloschen. + +Als wieder einmal eins sterben wollte, sagte Leidchen wie im Traum: +»Übers Jahr ... wie es dann hier wohl aussieht?« + +Gerd malte sich das Bild mit frohen, bunten Farben aus. Dann saß Sine +hier mit ihm unter dem Christbaum. Wenn die Lichter sich in ihren +grallen Augen spiegelten, das mußte eine Lust sein. Was er ihr wohl +schenken würde? Und sie ihm? ... Vielleicht um Weihnachten herum schon +so was ganz Liebes, das ein Jahr später dann mit süßen Äugelein in den +Lichterglanz blinzelte und mit runden Patschhändchen nach den Kringeln +langte, die Sine ihm in die Zweige gehängt hatte ... + +Plötzlich dachte er an seine Schwester und erschrak. + +Er sah zu ihr hinüber. + +Sie saß, die Hände im Schoß gefaltet, und ihre großen braunen Augen +schauten in das zuckende Licht. Aber sie schienen weit, weit darüber +hinaus zu irren. + +Er legte seine Hand zart und leicht auf die ihren. Sie schien es nicht +zu merken. + +Da zog er ihre Linke auf sein Knie und drückte sie, erst sanft, dann +etwas stärker. + +»Leidchen ...« sagte er mit großer Wärme und Innigkeit. + +Da wandte sie sich ihm zu und sah ihn groß an. + +»Lieber Bruder,« kam es wie ein Hauch von fernher über ihre Lippen. + +»Wo warst du eben?« + +»Ich? ... Ich weiß nicht ... Ich glaube, weit, weit weg ...« + + + + + 22. + + +Die Wintermonate gingen ihren stillen Gang. + +Das Wetter war, kürzere Frostperioden abgerechnet, Gerds Arbeiten +günstig, und er nützte die Zeit denn auch nach Kräften aus. Mit +leichtem, frohem Herzen stand er jetzt meistens bei seinem Tagewerk. +Denn wenn ihn auch manchmal eine tiefe, schmerzliche Trauer aus +Leidchens Augen anblickte, die dumpfe Starrheit war von ihrer Seele +gewichen, und Ausbrüche wilder Verzweiflung kehrten nicht wieder. Nie +kam ein Wort der Klage oder Bitterkeit über ihre Lippen. Still und +unverdrossen tat sie ihre Arbeit und wurde geradezu erfinderisch, +ihn durch kleine Überraschungen zu erfreuen. Seine Lieblingsgerichte +erschienen so oft auf dem Tisch, daß er, um nicht mit ihnen +überfüttert zu werden, bald andere Speisen dazu erklären mußte. Er +hatte es jetzt gänzlich aufgegeben, sie zu schulmeistern und zu +bevormunden. Die Art, wie sie ihr Schicksal trug, machte sie ihm +fast verehrungswürdig, und vor ihrer Mutterschaft empfand er etwas +wie heilige Scheu. Mit keinem Wort, ja kaum mit Gedanken, wagte er +daran zu rühren. Die Verantwortung, die er für die Schwester fühlte, +erstreckte sich auch schon auf das kleine Menschenwesen, das unter +ihrem Herzen wurde. + +Des Abends lasen sie sich meist abwechselnd vor. + +Auch das dicke Buch in gepreßtem Schweinsleder mit Messingbeschlag, +das die ersten Ansiedler von der Geest in die neue Heimat begleitet +hatte, nahmen sie nicht selten vom Wandbrett. »Erst wenn man etwas +durchgemacht hat,« sagte Gerd eines Abends, als er es schloß, »fängt +man an, dieses Buch zu verstehen und lieb zu haben.« Und Leidchen +nickte zustimmend. + + * * * * * + +Gerd brannte darauf, was er von der Wirkung künstlicher Düngemittel +in seinem Lehrbuch gelesen hatte, gleich im ersten Jahre als +selbständiger Landwirt zu erproben. So fuhr er denn Mitte Februar, +als die Wasserläufe eben wieder frei geworden waren, zur Stadt, um +sich eine Ladung zu holen, wie es für Moorland empfohlen wurde. Er +war stolz darauf, daß er, der jüngste Besitzer des Dorfs, hiermit +den Anfang machte. Im ganzen Kirchspiel war er der zweite; ein +vorwärtsstrebender Landwirt auf der Südseite hatte schon im letzten +Jahre mit Versuchen begonnen. Es hieß, daß die Moorversuchsstation in +Bremen demnächst in der Sache vorgehen und die Königliche Regierung +Beihilfen geben würde, um den vorsichtigen und mißtrauischen Bauern +Mut zu machen. Jenen zuvorzukommen, freute ihn noch ganz besonders. + +Als er seine Last den Schiffgraben hinaufschob, gesellte sich ein +alter Torfbauer zu ihm, Jan Barrenbrock mit Namen, den Gerd aber nur +als Barrenbrocks Opa kannte. Dieser pflegte sich zu rühmen, in seinem +Leben mehr Torf gemacht zu haben, als die Brunsoder alle. Wenn man ihn +ansah, konnte man das auch wohl glauben. Seine mittelgroße Gestalt +schien stark der Torfkuhle zugekrümmt, und an der linken Hand saßen +ihm taubeneigroße Gichtknoten. Daß er der weißen Rasse angehörte, +konnte fast zweifelhaft erscheinen, da die Farbe seines Gesichts +stark in die des wichtigsten Landesprodukts hinüberspielte. Spötter +meinten, der Torfstaub säße ihm in der Haut wie dem Neger die schwarze +Farbe; andere wollten wissen, der alte Wühler wüsche sich nur an den +großen Festtagen, und auch dann mit viel Schonung, weil er dafür +halte, die Schicht Torf um das Fell herum erspare ihn im Ofen. Ein +Worpsweder Maler, der einmal einen rechten, echten Jan vom Moor aus +der guten alten Zeit malen wollte, war glücklich, als er Barrenbrocks +Opa entdeckte, und der Alte pflegte mit seinem pfiffigsten Lächeln zu +erzählen, so leicht wie bei dem dummen Kerl hätte er in seinem Leben +kein Geld verdient: drei Groschen die Stunde, und Tabak, soviel als er +nur hatte schmöken können. + +Da Torfstaub die Menge, Wasser aber wohl nie den Weg in seine Ohren +gefunden hatte, war er recht schwerhörig und brüllte Gerd an, als ob +er einen Stocktauben vor sich hätte: + +»Was hast du da im Schiff?« + +»Künstlichen Dünger!« brüllte Gerd zurück. »Kainit und Thomasschlacke!« + +»Kainit? Kenn' ich nicht. Was noch?« + +»Thomasschlacke!« + +»Und damit willst du düngen?« + +»Ja, Opa!« + +»Ha! Da bin ich aber ein ungläubiger Thomas.« + +»Kann sein, daß Ihr noch mal ein gläubiger werdet!« + +»Ich? Na, da lauer' auf, mein Junge! Als du die ersten Windeln naß +machtest, hatt' ich bald meine tausend Hunt Torf herausgemacht.« + +»Das kann stimmen!« + +»Als ich so'n Bursch war, wie du nun bist, mußten wir ihn noch mit +bloßen Füßen pedden. Euch jungen Gästen heutzutage wird's schon in den +warmen Hollschen zu viel.« + +»Ja, Opa, die Welt ändert sich. Und hier bei uns im Moor wird sich +noch vieles ändern. Wir wollen nicht ewig Torfbauern bleiben, können's +auch gar nicht, denn der Torf wird bei kleinem alle. Wir wollen +rejalige Landwirte werden und das Hochmoor kultivieren und zusehen, +daß wir genug Grünland bei Hause kriegen und nicht die Tage und Nächte +auf der Hamme zu liegen brauchen. Das läßt sich jetzt alles machen, +denn mit dem künstlichen Dünger können wir größere Flächen in Kultur +nehmen als mit dem bißchen Kuh- und Schweinemist. Ihr sollt sehen, +Opa, wenn Ihr noch ein halb Stieg' Jahre kregel bleibt, es bricht eine +ganz neue Zeit für unsere Gegend an!« + +»Wo hast du die Weisheit her?« + +»Aus Büchern.« + +»Aus Büchern!« wiederholte der Alte in ehrlichster Verachtung und +spuckte in schönstem Bogen, wie ihn nur die ältere Generation noch +fertig bringt, in den Schiffgraben. + +»Besucht mich mal im Julimond, dann sollt Ihr was zu sehen kriegen!« + +»Hä, dazu tu' ich keinen Schritt aus dem Hause. Mit so 'nem +neumodischen Kram will ich nix nich zu tun haben, hähä.« + +Der Torfbauer alten Schlages ging höhnisch lachend und überlegen +kopfschüttelnd seiner Wege, indes der junge Moorbauer arbeits- und +hoffnungsfroh seinen Schatz, von dem er sich so große Dinge versprach, +seinem Besitztum zuschob. + +Die nächsten Tage fiel bei der Windstille ein weicher, warmer Regen. +Da schritt er, einen Sack vor sich, die zubereitete Hochmoorfläche auf +und ab, säte aus einem alten Fausthandschuh Kainit und Thomasschlacke +gemischt und sah im Geist die Zeit kommen, wo seine achtzehn Morgen, +von denen jetzt kaum der dritte Teil kultiviert war, in frischem Grün +prangten und reichen Ertrag brachten. Er selbst würde diesen Tag wohl +nicht mehr erleben, aber ihm für Kinder und Kindeskinder ein gut Stück +entgegenzuarbeiten, dafür wollte er alle Kraft einsetzen. + + * * * * * + +So rückte die Osterzeit heran. + +Am Sonnabend vor der stillen Woche trafen Gerd und Sine sich mit Becka +und ihrem Bräutigam in Grünmoor, um zusammen in das Pfarrhaus zu gehen +und das Aufgebot zu bestellen. Am Freitag der vollen Woche nach dem +Fest sollte die Doppelhochzeit gefeiert werden. + +Als der Pastor sich die nötigen Aufzeichnungen gemacht hatte, sagte er +lächelnd: »Hoffentlich mache ich bei der Trauung nicht wieder solchen +Kohl wie bei eurer Konfirmation.« + +»Das Unglück wäre so groß nicht,« meinte Gerd. »Wo die eine mit +gewaschen ist, da ist die andere mit abgetrocknet.« + +Sine gab ihm einen Stoß in die Rippen, weil er so was in der +Studierstube vom Herrn Pastor zu sagen wagte. Denn ihr hatte beim +Eintreten das Herz stark gepuckert. + +Der würdige Herr meinte gutgelaunt: »Na, wir wollen sehen, daß jeder +zu dem Seinen kommt. Es ist am Ende doch besser.« + +Als die vier gehen wollten, bat er Gerd, noch einen Augenblick zu +bleiben. + +»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte er, als sie allein waren. + +»Danke, Herr Pastor ... jetzt geht es ... Ich habe allerhand mit ihr +durchgemacht, aber jetzt hat sie mit Gottes Hilfe wohl das Schwerste +überstanden.« + +Der alte Mann sah ihm aufmerksam in die Augen. Er schien sich über den +jungen Menschen, den er lange nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte, +zu wundern. + +Mit leisem Aufseufzen fuhr er fort: »In einer so großen Gemeinde von +fast fünftausend Seelen erlebt man ja allerlei. Aber selten ist mir +etwas so nahegegangen ... Das liebe, schöne, hochbegabte Mädchen ...« + +Gerd blickte stumm zu Boden. + +»Was meinen Sie, wenn ich mal bei Ihnen vorspräche ...« + +»Nichts für ungut, Herr Pastor, aber wenn's Ihnen einerlei ist, +möcht' ich lieber, Sie besuchten mich mal, wenn ich erst verheiratet +bin.« + +»Hm ... ich meinte nur wegen Leidchen ...« + +»Ich glaube, die hat ein anderer in Pflege genommen, und wir tun am +besten, wenn wir den still gewähren lassen.« + +Der alte Herr sah den jungen Bauern mit seinen großen dunklen Augen +aufs höchste verwundert an. Und seine weißen, weichen Hände hielten +die braune harte Arbeitshand ein Weilchen mit warmem Druck fest, indem +er sagte: »Grüßen Sie Ihre Schwester herzlich von mir.« + +»Danke, Herr Pastor,« antwortete Gerd froh überrascht, »das will ich +gern tun, und Leidchen wird sich sehr darüber freuen.« + + * * * * * + +Am Nachmittag des zweiten Ostertages sprach Bruder Jan am Achterdamm +vor. + +»Gerd,« sagte er, »Bäcker Michaelis, unser bester Kunde, schreibt mir +eine Karte, daß er morgen notwendig einen halben Hunt Torf haben muß. +Ich hab' nicht mehr ganz so viel, aber Nachbar Rotermund will mir +zuleihen. Du bringst das Schiff diese Nacht wohl eben hin ...« + +Gerd brummte: »Mensch, heute ist doch noch Ostern.« + +Jan zuckte die Achseln: »Deine Dienstzeit bei mir geht erst Donnerstag +zu Ende. Ich bin dir doch auch oft zu Willen gewesen.« + +Der andere sagte zögernd: »Eigentlich geh' ich heute überhaupt nicht +gern aus dem Hause. Leidchen fühlt sich nicht ganz wohl.« + +»Meinetwegen kannst du gern fahren,« mischte sich die Schwester ein. +»Es ist bloß ein bißchen Kopfweh. Das hab' ich schon öfters gehabt.« + +»Du hast auch einen heißen Kopf.« + +Sie griff sich an die Backe: »Das kommt wohl davon, weil ich ein +bißchen stark eingeheizt habe.« + +»Deern,« sagte Jan, »Du kriegst doch nicht die Infallenzia? Die spukt +jetzt wieder im Dorf herum.« + +»Das wollen wir nicht hoffen,« rief Gerd erschrocken, die Schwester +besorgt ansehend. + +»Ach was,« sagte sie leichthin, den Kopf schüttelnd. »Heut abend vorm +Zubettgehen koch' ich mir eine Tasse Fliedertee, und morgen bin ich +fein wieder auf dem Damm.« + +»Na,« meinte Jan, »wir wollen das Schiff wohl laden; denn kommst du +also nachher.« + +Sie aßen noch zusammen Abendbrot. Gerd mußte die Schwester immer +wieder ansehen. Ihre zarten Wangen waren ein wenig gerötet, die großen +braunen Augen glänzten, und er dachte: Was hat sie doch einmal für ein +liebliches Gesicht! + +Sie stand vom Tisch auf und holte zwei dicke Äpfel. »Es sind die +letzten,« sagte sie, »ich habe sie für dich gespart, du kannst sie +unterwegs aufessen.« + +Er steckte den einen in die Tasche und nahm ihre Hand. Es war ihm auf +einmal so weich ums Herz, und er sagte zärtlich, sie warm anblickend: +»Leidchen ... es war eigentlich doch eine schöne Zeit, die wir beiden +hier allein miteinander gewirtschaftet haben. Es tut mir beinahe leid, +daß sie zu Ende geht.« + +»Na, na?« sagte sie lächelnd. »Wenn das man wahr ist ...« + +»Aber du sollst sehen, zu dreien wird es auch ganz gemütlich ... Weißt +du noch? Früher war das zwischen uns beiden immer wie zwischen Hund +und Katze.« + +»Ach ja.« + +»Das ist nun ganz anders ...« + +»Ja, wenn die Katze so zahm gemacht wird ...« + +»Ach nein, Leidchen, davon kommt das nicht allein. Wir haben beide +etwas zugelernt. Wir haben uns jetzt erst recht miteinander eingelebt +und verstehen einer den andern nun besser. Lieb gehabt haben wir uns +im Grunde ja immer, auch früher, als es manchmal nicht so wollte. +Nicht wahr?« + +»Ja natürlich.« + +»So können wir sagen: das Böse hat doch auch ein klein bißchen Gutes +im Gefolge gehabt ... Und das ist wohl meist so ... Diesen anderen +Apfel mußt du essen. Ich hab' an dem einen genug.« + +Als er aufbrechen wollte, sagte er: »Soll ich nicht lieber Trina +bitten, daß sie morgen früh mal nach dir sieht?« + +Sie schüttelte lebhaft den Kopf: »Ach nein, die möchte ich hier nicht +gern haben.« + +»Oder Tante Rotermund?« + +»Nein, nein, Gerd. Die ist so nicht die stärkste, und sie soll für +nichts und wieder nichts zweimal den weiten Weg laufen? Sei nicht +so albern, mir fehlt ja gar nichts. Mein Kopfweh ist schon weg, ich +brauch' mir gar keinen Fliedertee mehr zu kochen.« + +»Kind, noch immer der alte Leichtsinn? Das mußt du mir wenigstens +versprechen, daß du dir tüchtig Fliedertee machen willst. Mutter selig +half sich auch immer damit.« + +»Na denn man zu, ich koch' mir einen großen Topf voll, bloß dir zu +Gefallen.« + +Er hatte die Türklinke schon in der Hand. Aber noch einmal begann er: +»Nun geh auch gleich zu Bett und decke dich ordentlich zu. Du kannst +morgen alles liegen lassen und tüchtig ausschlafen. Ja, meinetwegen +kannst du den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn du nur zwischendurch +eben die Tiere versorgen willst. Schlaf schön, und gute Besserung! Auf +fröhliches Wiedersehen übermorgen früh. Ein bißchen zu essen kannst du +mir hinstellen, es wird wohl Mitternacht werden, bis ich heimkomme.« + +Er nahm ihre Hand. + +»Du, deine Hand ist ja ganz heiß.« + +»Aber Gerd, du machst es ja genau so wie die alten Weiber, die auch +immer und immer noch wieder stehenbleiben.« + +»Na, denn gute Nacht! Aber vergiß mir den Fliedertee nicht! Du mußt +ihn so heiß trinken, wie du ihn nur eben herunter bringen kannst.« + +»Kuck an! Du bist doch noch immer der gute alte Schulmeister und +strenge Vormund. Was einmal im Menschen drin steckt, das kommt auch +nicht heraus.« + +Er drohte ihr lächelnd mit dem Finger und ging nun wirklich. + + * * * * * + +Um sich die langen Stunden der nächtlichen Fahrt zu kürzen, stellte +Gerd allerhand Betrachtungen an. Er rechnete aus, daß er in seinen +Dienstjahren an die dreihundert Bremerfahrten für Jan gemacht hatte. +Die zurückgelegten Strecken reichten aneinandergefügt gewiß bis nach +Amerika. + +Wenn er nun wieder die Hamme hinabfuhr, ging es auf eigene Rechnung, +mit dem Torf, den er und Sine in den Honigwochen herausgemacht hatten +... Alle Wetter, das sollte ein lustiges Torfbacken werden! + +Leidchen paßte auf das Haus und bestellte das Gemüseland. Dann konnten +sie beide die Tage ordentlich ausnützen und es wohl auf fünfzehn bis +zwanzig Hunt bringen. Das brachte ein schönes Stück Geld, das dann +wieder in die Verbesserung der Ländereien hineingesteckt werden konnte. + +Später mußte die Huntzahl natürlich kleiner werden. Nur sich nicht von +dem alten Schlendrian des Raubbaus auf Torf unterkriegen lassen! Nur +ja keinen Betrieb wie der, auf den Barrenbrocks Opa stolz war! Aber +erst galt es einmal, in Gang zu kommen. Aller Anfang ist schwer. + +Im Bremer Torfhafen angelangt, wickelte er sein Geschäft so schnell +ab, als es möglich war. Nachdem er sich darauf eine Stunde Ruhe beim +Kaffee gegönnt hatte, trat er die Rückfahrt an. + +Sie war recht mühsam, denn Wind und Strom arbeiteten entgegen. Als +er den Giebel seines Häuschens gegen den blauen Himmel ragen sah, war +Mitternacht längst vorüber. + +Mit frohem Aufatmen trat er über die Schwelle. + +Da kam Lustig angelaufen und sprang winselnd an ihm empor. Und alsbald +meckerte die Ziege im Stall, und die Ferkel, die er vor kurzem gekauft +hatte, stießen grunzend und quieksend gegen ihre Tröge. + +Herr du mein Gott, die Tiere haben Hunger! + +Mit zitternden Knien wankt er über die Diele und öffnet die Tür zu +Leidchens Stube. Stehenbleibend horcht er mit angehaltenem Atem in die +Finsternis hinein. + +Von der Schlafbutze her kommt Stöhnen und wirres Reden. + +Er greift sich an die Taschen und sucht Schwefelhölzer, findet aber +keine. + +Er greift sich an den Kopf, um sich zu besinnen, wo er welche finden +kann. Mit bebenden Händen tastet er die Herdwand ab. + +Endlich kann er eine Lampe anzünden. + +Wie er sich der Butze nähert, gellt es ihm entgegen: »Weg, weg mit +dir, du schlechter Mensch!« + +Von Grausen gepackt, tritt er noch zwei Schritte vor. + +Ein Anblick bietet sich ihm, der ihn zurückprallen und das Blut in +seinen Adern erstarren läßt. Er muß mit beiden Händen zugreifen, um +die Lampe nicht fallen zu lassen. Zwei Sekunden steht er regungslos +starr. + +Dann wendet er sich, läuft über die Diele, reißt das Rad aus dem +Kuhstall, zündet die Laterne an. + +Eine halbe Minute später saust er schon den Kirchdamm entlang durch +die Nacht. + +Vor der Häuslingskate von Nr. 10 springt er ab und pocht stürmisch +an das Fenster. Gleich darauf wird dieses von einer jungen Frau in +Nachtkleidung geöffnet. + +»Ich bin ... nach der Stadt gewesen ... Leidchen hat ... ihre schwere +Stunde gehabt ... Komm so schnell ... du kannst.« + +»Ich komme auf der Stelle,« sagt die Frau und verschwindet. + +Zehn Minuten später hämmert er gegen Beta Rotermunds Kammerfenster. + +Die Frau kreischt hell durch die Nacht. Auch sie will sich sofort auf +den Weg machen. + +»Soll ich den Doktor holen?« + +»Wart' damit noch. Wir wollen erst sehen, ob es nötig ist.« + +»Aber Leidchen redet irre. Ich glaube, sie ist schwer krank.« + +»Dann ist es doch wohl besser ...« + +Die Birkenstämme des Dammes blitzen im Lichtschein der Laterne, die an +ihnen entlang rast. Der Fahrer liegt keuchend auf der Lenkstange. + +Der Arzt ist über Land geholt. + +Eine ganze Stunde muß Gerd warten. Erst sitzt er in dem Vorzimmer, +in das ein Dienstmädchen ihn gewiesen. Dann geht er hinaus und +schreitet die Straße vor dem Hause auf und ab. Im kühlen Hauch der +Vorfrühlingsnacht ist es erträglicher. + +Endlich Wagengerassel in der nächtlichen Stille. + +Das Gefährt hält. Gerd tritt an den Schlag und spricht mit dem Arzt. +Der murmelt einen Fluch und befiehlt dem Kutscher, die Pferde zu +wechseln. + +Gerd schwang sich wieder auf sein Rad. Er war jetzt ruhiger geworden +und fuhr ein mäßigeres Tempo. + +Als er zu Hause ankam, graute der Morgen. + +Auf dem Flett traf er Beta Rotermund. + +»Wie steht's?« fragte er mit Herzklopfen. + +»Oh ... ziemlich gut. Leidchen ist aber sehr schwach. Geh nur hinein +und sag' ihr Guten Morgen. Aber viel sprechen darfst du nicht.« + +»Redet sie auch nicht mehr irre?« + +»Nein, sie ist jetzt ganz vernünftig.« + +Er trat auf Zehenspitzen in die Stube. In einem Steckkissen zwischen +zwei Stühlen lag das Kind, das er mit einem schnellen Blick streifte. + +Sie lag mit geschlossenen Augen, das schmale, bleiche, schöne Gesicht +tief in den Kissen. + +»Liebe, liebe Schwester ...« + +Sie öffnete die Augen, sah zu ihm auf und hauchte: »Gerd ... Bruder +...« + +Wie er ihr die Hand reichte, hielt sie diese einige Augenblicke mit +leisem, warmem Druck fest. + +Dann trat er von ihrem Lager zurück und verließ die Stube, um das Vieh +zu versorgen. Den ersten Heißhunger der Tiere hatte Beta Rotermund +schon gestillt. + +Bald erschien auch der Arzt. Als er aus dem Zimmer der Kranken kam, +fing Gerd ihn auf der Diele ab. Er war ein Mann von wenig Worten +und murmelte, wie für sich, etwas von hochgradiger Herzschwäche, +Influenza, wobei er die Schultern anzog und fallen ließ. Das Kind +wäre gut einen Monat zu früh geboren, würde bei sorgfältiger Pflege +aber wohl durchkommen. + +Gerd wunderte sich über sich selbst, wie ruhig er die schlimme +Nachricht aufnahm. Nach der furchtbaren Erschütterung der letzten +Nacht konnte er einiges vertragen. + +Er stieg noch einmal auf sein Rad, um die Arznei von der Apotheke zu +holen. + + * * * * * + +Gegen Mittag war ganz Brunsode und Umgegend auf den Beinen. Eine +solche Riesenhochzeit, wie Müllers Hermann sie heute mit der reichen +Bauerntochter aus dem Hammetal feiern wollte, hatte Brunsode noch +nicht gesehen. Ein brautväterlicher Ochse und drei fette Schweine +bester Mühlenmast hatten ihr Leben lassen müssen. An die fünfzig +Butterkuchen waren gebacken, sechs Hektoliter Bier angefahren. Drei +Hochzeitsbitter hatten zu Rad die Gegend abgestreift und das ganze +Dorf und in den benachbarten Kolonien alles, was zur Kundschaft der +Mühle gehörte, zum Feste gebeten. Die beiderseitige Verwandtschaft +bis ins dritte und vierte Glied, die Müller des Moores, die Kaufleute +und Lieferanten, der Getreidehändler in Bremen, Pastor und Küster +waren durch gedruckte Karten mit Goldrand geladen. Man erwartete an +vierhundert Gäste. Über die Hofbrücke spannte sich eine Tannengirlande +mit einer Papptafel, die mit weißen Buchstaben auf rotem Grunde +»Willkommen zum frohen Feste« bot. Tür und Fenster der Mühle waren +frisch und hell gestrichen, die würdige Matrone sah munter drein, als +wollte sie den Festgästen zurufen: »Nun halte ich's erst mal wieder +eine gute Weile aus.« + +Um zwei Uhr fand auf der Großen Diele die Trauung statt. Die Leute, +die dicht gedrängt bis über das Einfahrtstor hinaus standen, sangen +tapfer zu den schmetternden Klängen einer zwölfköpfigen Musikkapelle: +»Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Der alte Pastor machte seine +Sache ziemlich kurz und so wenig rührend, daß die etwas angejahrten +Brautjungfern nicht einmal mit Schick die bereitgehaltenen Tränen los +wurden. Der beleibte Brautvater meinte nachher, etwas mehr könnte man +von einem studierten Mann für sein gutes Geld wohl verlangen. + +»Sing, bet und geh auf Gottes Wegen« sang die Hochzeitsgesellschaft, +und die Feier war beendet. Während das junge Paar die Glückwünsche +entgegennahm, trat der alte Müller mit unterwürfiger Miene auf den +Pastor zu und sagte: »Nicht wahr, Herr Pastor, Sie tun uns doch die +Ehre an und essen einen Teller Suppe mit uns?« + +»Ich danke,« sagte der Geistliche kurz, »es paßt mir heute nicht.« + +»Aber Sie können uns doch nicht die Unehre antun, daß Sie gleich +wieder wegfahren!« + +»Ehre und Schande, Herr Vogt, tut ein jeder sich selbst an, mein' +ich,« sagte der alte Mann ernst. + +Damit packte er seinen Chorrock in die Tasche und schritt durch die +sich bildende Gasse auf die Große Tür zu, vor der sein Wagen wartete. + +Als er am Achterdamm vorüberfuhr, stand Gerd Rosenbrock in schwarzer +Kleidung und mit traurig-ernstem Gesicht am Wege und bat ihn, in sein +Haus zu kommen und der Schwester Kind zu taufen. + +Während sie dem Hause zuschritten, fragte er: »Herr Pastor, Sie haben +wohl nicht zufällig Ihre Abendmahlssachen bei sich?« + +Der alte Herr nickte: »Die führe ich auf solchen Fahrten immer mit +mir, für alle Fälle.« + +»Das ist gut,« sagte Gerd erfreut, »meine Schwester wollte nämlich +auch gern das Heilige Abendmahl feiern. Aber sie ist sehr schwach ...« + +»Dann werden wir es ganz kurz machen,« versetzte der Pastor. + +»Darum wollte ich eben gebeten haben,« sagte Gerd. + +In dem sauber gekehrten und mit weißem Sand gestreuten Krankenzimmer +hielt Gerd das Kindchen über das weiße Schälchen mit braunem +Moorwasser. Außer ihm walteten als Paten Beta Rotermund und die junge +Hebamme. Der Täufling erhielt den Namen »Gerd«. + +Darauf wandte der Pastor sich der Mutter des Kindes zu. Mit leiser +Stimme richtete er an sie ein paar herzliche Worte, stellte eine +Frage, auf die sie ein Ja hauchte, sprach ein Vaterunser und die +Einsetzungsworte, reichte ihr Brot und Wein und hob die Hände über sie +zum Segen. + +Bald nachdem er das Zimmer verlassen hatte, fiel die Kranke in einen +Schlaf, der bis gegen Abend anhielt. + +Als sie erwachte, verlangte sie nach dem Kinde. + +»Wir dürfen es dir nicht geben, der Arzt hat es verboten.« + +»Aber sehen darf ich es doch ...« + +Da holten sie es aus der andern Stube, zeigten es ihr, und die Hebamme +erklärte mit Kennermiene, es wäre ein fixer und kerngesunder Junge. + +Als die Frauen ihn wieder wegbrachten, sagte die Kranke: »Bitte, +lieber Bruder, laßt das arme Kind nicht für seine Mutter büßen.« + +»Aber Leidchen, wie kannst du so was bloß denken ... Dein Kind ist +mein Kind ...« + +»O Gerd, was bist du gut, was bist du gut ... Ich habe aber noch etwas +auf dem Herzen.« + +»Was denn, Kind?« + +»Daß du kein Geld nimmst ...« + +»Och Leidchen ... ich weiß nicht recht ...« + +»Wenn du ~einen~ Groschen nimmst, muß ich mich im Grabe umdrehen.« + +»Aber Kind, doch nicht so hitzig!« + +»Sein Geld ist verflucht! Ich hab' ja noch dreihundert Taler, dafür +kriegst du das Kind wohl beinahe schon groß ... Gerd, du hast so viel +Gutes an mir getan. Nun erweise mir noch die eine große Liebe: gib mir +die Hand darauf, daß du keinen Pfennig annimmst.« + +Ein paar Sekunden zögerte er noch und sah ihr in die brennenden Augen. +Endlich reichte er ihr stumm die Hand. + +Die junge Frau ging nach Hause, Beta Rotermund wollte die Nacht über +wachen helfen. + +In den späten Abendstunden stellte sich Fieber ein. + +»Es ist hier so heiß wie in der Hölle,« stöhnte die Kranke. »Macht +doch mal ein Fenster auf.« + +»Es wird wohl nicht ziehen,« sagte Beta Rotermund. Da stand Gerd auf, +ihren Wunsch zu erfüllen. + +»Mir ist immer, ich höre Musik,« sagte Leidchen nach einer Weile, +»Gerd, spielst du da auf deiner Harmonika?« + +»Ach, Leidchen, wie kannst du so was denken ...« + +»Aber es ist ganz gewiß wahr, ich höre Musik.« + +»Deern, Deern, das bildest du dir wohl bloß ein,« sagte Beta Rotermund +beschwichtigend. »Das kommt einem manchmal so vor, und ist bloß ein +Sausen in den Ohren.« + +»Wenn ich es nicht ganz deutlich hörte! Seid ihr denn alle beide taub? +Da ist irgendwo Musik, ganz lustige Musik ... tralala hopsasa ... Man +könnte fein danach tanzen ... Gerd, tanz' doch mal ein bißchen, mit +Sine. Ich hab' heut' keine Lust. Und mit mir will auch keiner tanzen +... kein einziger ...« + +Die Kranke streckte die nackten Arme in die Höhe und warf sich dann +zur Wand herum. + + »'s ist alles dunkel, ist alles trübe, + Dieweil mein Schatz eine andre liebt. + Ich hab' gedacht, er liebet mich. + Aber nein, aber nein, + Aber nein, aber nein, + Er liebt mich nicht ...« + +»Das machen die Fieber,« flüsterte Beta Rotermund, Gerd starrte +entsetzt ins Leere. + +Die Kranke wälzte sich auf die andere Seite und ihre Augen suchten den +Bruder: »Ach, da bist du ja, Gerd. Das ist man gut ... Ich weiß jetzt +wohl, was das für Musik ist ... schweigt man stille ... jaja, ja, ja +... 's ist 'ne wunderliche Welt.« + +Nach einiger Zeit begann sie wieder: »Gerd, du hast mir immer so schön +was vorgespielt. Bitte, nimm deine Harmonika und spiel mir noch ein +einziges Mal ein bißchen vor, so schön wie du kannst ...« + +»Ach Leidchen ...« + +»Ich bitt' dich darum, den kleinen Gefallen kannst du mir wohl tun. +Setz' dich man draußen an den Herd, dann klingt es nicht so laut ... +Wie Christabend, als du mich zum Weihnachtsbaum holtest ...« + +»Ach Leidchen ...« + +»Ich möcht' gern ein bißchen Ruhe haben, und ich glaub', dabei kann +ich schön einschlafen.« + +Beta Rotermund bedeutete ihm mit den Augen, ihr zu Willen zu sein. Da +stand er auf und ging. + +Das Flett lag im Dunkel, und er zündete auch kein Licht an. Auf dem +Herd glühten noch ein paar Kohlen, in deren Schein die Metallteile +seines Instruments schimmerten. + +Und er spielte mit langgezogenen, weichen Akkorden: Stille Nacht, +heilige Nacht ... Nun sich der Tag geendet ... Wenn ich einmal soll +scheiden ... Und legte, wie nie zuvor, seine ganze Seele in das +einfache Spiel. + + * * * * * + +Die Stubentür ging auf, Beta Rotermund trat, mit der Lampe in der +Hand, auf die Diele. Sie sah so tiefernst aus, daß er jäh im Spielen +innehielt. Die Frage, die er über die Lippen zu bringen sich scheute, +legte er in seine Augen. Und sie nickte stumm. + +Er sprang in die Höhe. Aber sie sagte leise: »Laß uns lieber noch +etwas warten und ihr die Ruhe gönnen.« + +Da setzte er sich wieder hin, und die Frau zog sich einen Stuhl an den +Herd. So saßen sie und schauten regungslos in die verglühenden Kohlen, +wohl eine Viertelstunde lang. + +Endlich rührte sich Beta Rotermund, und Gerd fragte: »Was meint Ihr, +Mutter, soll ich hin und Euch jemand zur Hilfe holen?« + +Sie schüttelte den Kopf. »Laß nur, Gerd. Wen wolltest du holen? Sie +sind alle auf der Hochzeit. Und dann gibt es hier so'n Gekakel und +Geschnacke, das kann ich diese Nacht nicht gut haben. Ich bin allein +wohl Manns genug, mein Patenkind anzukleiden.« + +Die gute Frau machte sich an die Vorbereitungen, Gerd ging, nach einem +kurzen Besuch im Sterbezimmer, in die Wohnstube. + +Eine Weile starrte er mit den trockenen, rotumränderten Augen, die +tief in ihren Höhlen lagen, vor sich hin ... bis es sich in ihnen +löste und ein heißer Strom von Tränen sich über seine Wangen ergoß. + +Aus der Ferne klang das Gejohle und Gekreische angezechter +Hochzeitsgäste. + +Als der kleine Gerd in seinem Steckkissen anfing zu wimmern, stand der +große Gerd auf, machte ihm die Milchflasche zurecht, probierte und +steckte sie ihm ins Mündchen. -- + +Lehrer Timmermann, der gleich bei seinem Amtsantritt mit der +Gepflogenheit seines Vorgängers, bei den Begräbnisfeierlichkeiten +rührselige Reden zu halten, gebrochen hatte, ließ einen Choral singen +und las den neunzigsten Psalm. Warum seine Stimme heute so bedeckt und +rauh klang, das wußte in der großen Trauergemeinde nur ein einziger. + +Ein guter Teil von denen, die vor vier Tagen auf der Nachbarschaft die +seit Menschengedenken großartigste und lustigste Hochzeit gefeiert +hatten, weinten jetzt reichliche Tränen in die Sacktücher hinein. + +Unter dem herrlichsten Frühjahrshimmel wurde Leidchen Rosenbrock +zu Füßen des dunkelgrünen Wacholders, an der Seite des schon +eingesunkenen Grabhügels ihrer Mutter, zur Ruhe gebettet. Den +Gesang der Kinder und die Worte des Geistlichen übertönten fast die +Jubellieder der Lerchen hoch oben in der lichten Bläue. + +Gerd, Sine, Becka und ihr Bräutigam verließen zusammen den Friedhof. +Vor dem Tore blieben sie stehen, und Gerd sagte: »Wollen wir die +Hochzeit nicht lieber um ein paar Wochen hinausschieben?« + +»Das wird wohl nicht gehen, es ist schon zu viel vorgerichtet,« sagte +Becka. + +Und ihr Ebenbild, zu Gerd gewendet: »Wir beide können ja gleich nach +der Mahlzeit aufbrechen.« + +Da nickte er langsam und sagte nichts weiter dagegen. + +Es war nur eine Kaffeehochzeit mit knapp sechzig Gästen. Vor die +lange, aus Wagenbrettern gebildete, mit Hausmacherlinnen gedeckte +Festtafel hatte man quer einen Tisch gestellt, an dem die beiden +jungen Ehepaare nebeneinander saßen. Vor jedem brannte ein Paar +Lichter und stand ein Teller mit einem Zweipfundstück Butter, die aber +nicht angeschnitten wurde; denn es gab ja kein Butterbrot, sondern +Butterkuchen, ganze Berge. + +Sine hatte den würdigen Pfarrherrn zum Tischnachbarn. Der war heute +sehr aufgeräumt, trank erst drei Tassen Kaffee, dann ein Glas St. +Julien Fasson und brachte mit diesem sogar ein Hoch aus. Auch seine +Traurede hatte allgemein befriedigt. Es waren Tränen mehr als genug +vergossen, und die glücklichen Bräute hatten tüchtig geholfen. Alle +Frauen von Herz und Gemüt fanden es auch gar zu rührend, daß die guten +Kinder, die jedermann gern hatte, an einem Tag die Myrtenkrone trugen. + +Als die Tafel aufgehoben wurde, rüstete das eine Paar zum Aufbruch. + +»Bleibt noch eine Stunde,« bat der Brautvater. + +Aber Sine, mit einem Blick nach den Augen ihres Eheherrn, sagte: »Laßt +uns man reisen. Es ist meinem Mann so lieber.« + +Von der ganzen Hochzeitsgesellschaft begleitet, gingen sie zum +Nachbarhof hinüber, wo ein Einspännerwägelchen bereit stand. Als sie +aufgestiegen waren, drängte sich alles heran, ihnen noch die Hände +zu drücken. Indem das Jungvolk ein halbgedämpftes Juhuhu hören ließ, +ermunterte der Fuhrmann seinen Gaul zu einem Zuckeltrab, der sich +jedoch schnell zu einem sehr gemächlichen Schlenderschritt beruhigte. + +Als der Wagen nach zweistündiger Fahrt hielt, saß hoch oben in der +höchsten der beiden das Haus schirmenden Tannen eine Amsel und +begrüßte das Einzug haltende Pärchen mit dem süßesten Willkommenssang. +Ihr Besitztum, das sie sich durch Fleiß und Sparsamkeit erworben +hatten, lag im Glanz des schönsten Frühlingsabends vor ihnen. Ehe +sie durch die Große Tür eintraten, legte Gerd den Arm um sein Weib +und las, wie bei dem ersten Einzug, aber mit einem anderen Klang der +Stimme: »Unsern Eingang segne Gott.« + + * * * * * + +Damit die jungen Eheleute mit der Arbeit erst mal tüchtig in Gang +kämen, hatte Beta Rotermund den kleinen Gerd für den Sommer zu sich +genommen. Sie sagte, es machte ihr Freude, nach so langer Pause sich +mal wieder mit solch lüttjem Wurm abzuplagen. So 'ne alte Frau würde +dabei wieder ein bißchen jung mit. + +Auf keiner Stelle in Brunsode wurde diesen Frühling und Sommer +über so tüchtig, ernst und froh gearbeitet, wie auf der kleinen am +Achterdamm. Als die Jahreszeit fortschritt, erschienen viele Leute, +um Gerds Kulturerfolge zu bewundern. Auch Barrenbrocks Opa kam eines +Tages angetöffelt. Wie Gerd ihm das üppige, blaugrüne Kleefeld auf +seinem Hochmoor zeigte, brüllte er: »Du willst mir vorschnacken, der +Klewer kommt von dem Dreckzeug, das du um Lichtmessen in deinem Schiff +hattest? Dazu mußt du dir 'n Dümmeren suchen, hä hä.« Gerd lachte und +gab sich weiter keine Mühe, den alten Bock herumzukriegen. + +Nach der ersten Heuernte kamen zwei wackere Kühe in den Stall. Im +Laufe der Jahre ist der Viehbestand stetig gewachsen, zurzeit bis auf +sechs Kopf. + +Eine große Freude bereitete es Gerd, als er, kaum siebenundzwanzig +Jahre alt, zum Gemeindevorsteher von Brunsode gewählt wurde. Heini +Peper hatte stark gegen ihn agitiert, der junge Müller aber, worüber +viele sich wunderten, für ihn gestimmt. Seine Wahl war um so +bemerkenswerter, als er nicht in der Hauptreihe saß. + +Er hat es in seiner neuen Würde nicht nötig, sich wie sein Vorgänger +die Schriftstücke und Steuerberechnungen im Schulhause anfertigen +zu lassen. Aber mit dem Lehrer Timmermann, der eine Küstertochter +aus einem benachbarten Kirchspiel geheiratet hat und nicht daran +denkt, sich versetzen zu lassen, verbindet ihn nach wie vor treue +Freundschaft. Die Leute sagen: »Der Schulmeister und Vorsteher +regieren zusammen das Dorf.« Aber sie wissen auch, daß sie sich +dabei nicht schlecht stehen. Es wird auf Zucht und Ordnung gehalten, +Dämme und Wasserstraßen sind in bestem Stand, und wenn eine hohe +Staatsregierung mal etwas für die armen Moorgemeinden tun will und +Gelder flüssig macht, wissen die beiden so darum zu schreiben, daß für +Brunsode jedesmal ein erklecklicher »Bischuß« zu den Lasten abfällt. + +Vor dem Hause am Achterdamm, das längst durch Anbau vergrößert ist und +ein neues Strohdach, statt des von Ratten zernagten und geflickten, +bekommen hat, und hellblauen Fachwerkanstrich dazu, spielen sorglos +heiter ein stämmiger kleiner Gerd, ein süßes braunäugiges Leidchen, +ein dicker pummeliger Jan, ohne den eine Moorfamilie ja nicht +vollständig wäre, und noch ein paar blau- und braunäugige Flachsköpfe +... Bis das Leben auch sie an die Arbeit ruft und in den Kampf reißt. +Möchten sie dann sich wacker tummeln und glücklich zurechtkommen! + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76104 *** diff --git a/76104-h/76104-h.htm b/76104-h/76104-h.htm new file mode 100644 index 0000000..449a94a --- /dev/null +++ b/76104-h/76104-h.htm @@ -0,0 +1,15765 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> + <meta charset="UTF-8"> + <title> + Geschwister Rosenbrock | Project Gutenberg + </title> + <link rel="icon" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <style> + +body { + margin-left: 10%; + margin-right: 10%;} + + h1,h2 { + text-align: center; + clear: both; + font-weight: normal;} + +h1 {font-size: 220%} +h2,.s2 {font-size: 150%} + .s3 {font-size: 110%} + .s4 {font-size: 90%} + .s5 {font-size: 80%} + + +p { + margin-top: .51em; + text-align: justify; + margin-bottom: .49em; + text-indent: 1em;} + +.p0 {text-indent: 0em;} +.p2 {margin-top: 2em;} +.p4 {margin-top: 4em;} + +.mtop3 {margin-top: 3em;} + +.mbot3 {margin-bottom: 3em;} +.mbot4 {margin-bottom: 4em;} + +.padtop2 {padding-top: 2em;} + +hr { + width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 33.5%; + margin-right: 33.5%; + clear: both;} + +hr.chap { + width: 65%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: 17.5%; + margin-right: 17.5%; + clear: both;} + +hr.tb {width: 45%; margin-left: 27.5%; margin-right: 27.5%;} +hr.chap {width: 65%; margin-left: 17.5%; margin-right: 17.5%;} +@media print { hr.chap {display: none; visibility: hidden;} } +hr.full {width: 95%; margin-left: 2.5%; margin-right: 2.5%;} +hr.r5 {width: 5%; margin-top: 1em; margin-bottom: 1em; margin-left: 47.5%; margin-right: 47.5%;} + +div.chapter {page-break-before: always;} + +.break-before {page-break-before: always;} + +h2 { margin-top: 1.5em; + margin-bottom: 1.5em;} + +.pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 92%; + font-size: small; + text-align: right; + font-style: normal; + font-weight: normal; + font-variant: normal; + text-indent: 0;} + +.blockquot { + margin-left: 5%; + margin-right: 10%;} + +.center {text-align: center;} + +.mright5 {text-align: right; + margin-right: 5em;} + +.gesperrt { + letter-spacing: 0.2em; + margin-right: -0.2em;} + +em.gesperrt { + font-style: normal;} + +.antiqua { + font-style: italic } + +/* Images */ + +img { + max-width: 100%; + height: auto;} + +img.w100 {width: 100%;} + +.figcenter { + margin: auto; + text-align: center; + page-break-inside: avoid; + max-width: 100%;} + +/* Poetry */ +/* uncomment the next line for centered poetry */ +/* .poetry-container {display: flex; justify-content: center;} */ +.poetry-container {text-align: center;} +.poetry {text-align: left; margin-left: 5%; margin-right: 5%;} +.poetry .stanza {margin: 1em auto;} +.poetry .verse {text-indent: -3em; padding-left: 3em;} +.poetry .indent0 {text-indent: -3em;} +.poetry .indent1 {text-indent: -2.5em;} + + +/* Transcriber's notes */ +.transnote {background-color: #E6E6FA; + color: black; + font-size:small; + padding:0.5em; + margin-bottom:5em; + font-family:sans-serif, serif;} + +/* Illustration classes */ + +.illowe5 {width: 5em;} +.x-ebookmaker .illowe5 {width: 10%; margin: auto 45%; } +.illowp46 {width: 46%;} + + </style> +</head> +<body> +<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76104 ***</div> + +<div class="transnote"> +<p class="s3 center">Anmerkungen zur Transkription</p> +<p class="p0">Das Original ist in Fraktur gesetzt. Schreibweise und Interpunktion +des Originaltextes wurden übernommen; lediglich offensichtliche +Druckfehler sind stillschweigend korrigiert worden.</p> +<p class="p0">Um die Übersicht zu verbessern, sind vom Bearbeiter Kapitelzahlen +eingefügt worden.</p> +<p class="p0">Worte in Antiquaschrift sind "<i>kursiv</i>" dargestellt.</p> +</div> + +<figure class="figcenter illowp46 break-before x-ebookmaker-drop" id="cover"> + <img class="w100" src="images/cover.jpg" alt=""> +</figure> + +<p class="s3 mtop3 mbot3 center break-before">Geschwister Rosenbrock</p> + +<div class="chapter"> +<h1 class="padtop2 break-before">Geschwister<br> +Rosenbrock</h1> + +<p class="p2 center">Von</p><br> + +<p class="s2 center">Diedrich Speckmann</p> + +<figure class="figcenter padtop2 illowe5" id="illu-003"> + <img class="w100" src="images/illu-003.jpg" alt="signet"> +</figure> + </div> + +<div class="chapter"> +<p class="p4 s3 center">Berlin 1921<br> +Verlag von Martin Warneck</p> + +<p class="s4 p4 center">Erschienen 1911<br> +Der Gesamtauflage 62.-71. Tausend</p> + <hr class="r5"> + +<p class="s5 center">Alle Rechte vorbehalten</p> + +<p class="s5 p4 mbot4 center">Gedruckt in Stuttgart bei J. F. Steinkopf</p> +</div> + +<hr class="full"> + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">1.</h2> +<p><span class="pagenum" id="Seite_5">[S. 5]</span></p> +</div> + +<p>Die Schulkinder von Brunsode lagen, des Schönschreibens +beflissen, auf ihren Tischen. Oben +knarrte die Feder über holziges Papier, unten rieb der +Griffel knirschend in Schiefer. Ein lustiges Torffeuer, +das im gußeisernen Kanonenofen bullerte, hatte die +über Nacht erblühte Eisblumenherrlichkeit der Fenster +schon zerstört und auf den in greller Januarsonne +liegenden, von Eis- und Schneekristallen blitzenden +Schulhof den Blick frei gemacht.</p> + +<p>Diesen begrenzten auf zwei Seiten Doppelreihen +schlank aufgeschossener Tannen. Auf der dritten dagegen, +dem Schulhause gegenüber, lief ein gut zwei +Meter hoher Fahrdamm, der mit schimmernden Birken +bestanden und von einem dunklen Schiffgraben begleitet +in einer Länge von fast fünf Kilometern sich schnurgerade +vor den vierzig »Stellen« der Moorkolonie +Brunsode hinzog. Die Schule lag genau in der Mitte +des Dorfes und war durch den Damm von der Reihe +der Gehöfte getrennt.</p> + +<p>Für Herrn Christian Lenz, der seit mehr als drei +Jahrzehnten in Brunsode die Kinder lehrte und durch +seine Frau Engel, geborene Schnakenberg, sowie durch +seine Tochter Käthe, verheiratete Kück, mit dem halben +Dorf verschwägert und versippt war, bedeutete das von +den Tannenwänden abgeschnittene Stück Damm eine +recht angenehme Schaubühne, der er zuzeiten mehr +Aufmerksamkeit schenkte, als für den Unterricht gut +war.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_6">[S. 6]</span></p> + +<p>So saß er denn auch heute, während sein Völkchen +schön schrieb, mit übergeschlagenen Beinen auf dem +Katheder in seinem bequemen Binsenarmstuhl, spielte +mit dem Lineal und ließ den etwas müden Blick seiner +umschleierten Augen nach rechts zum Fenster hinauswandern.</p> + +<p>Eine winterlich verhüllte Frau ging vorüber, mit +einem großen, weidengeflochtenen Henkelkorb am Arm. +Hm, Lachmunds Minna macht Einkäufe für die große +Gasterei, die sie und ihr Jan heut' abend geben wollen. +Christian und Engel Lenz werden dabei nicht fehlen.</p> + +<p>Eine schwarzbunte Kuh, die über die Bühne getrieben +wurde, streckte den Kopf in die Luft und brüllte, daß die +ihr vom Maule fliegende weiße Atemwolke die in der +Januarsonne blitzenden Birkenstämme kreuzte. Und +schon hatte Herr Lenz ausgerechnet, wann Schwager +Augusts beste Milchgeberin das Kalb haben würde, das +er sich bereits zur Aufzucht gesichert hatte. Wenn's nur +kein Bullenkalb wurde!</p> + +<p>In den gefrorenen Gleisen drüben jankte ein gelber +zweiräderiger Wagen. Der Doktor? Wo mag der so +früh schon gewesen sein? ... Der alte Jan Helmke, +Nr. 23, ist auf Besserung ... Ach so, hm, Geschmargret +Rosenbrock, Nr. 40 ... ja, ja ...</p> + +<p>Herrn Lenzens Blick kehrte in das Schulzimmer +zurück und ruhte teilnehmend auf einem kleinen Mädchen +mit rosigzarten Bäckchen und seidigem, von einem +himmelblauen Band zusammengehaltenen Flachshaar, +das vornan auf der untersten Bank saß und, das +reizende Köpfchen ein wenig schief haltend, mit Hingebung<span class="pagenum" id="Seite_7">[S. 7]</span> +seine Tafel bemalte. Darauf wanderte sein +Auge nach rechts hinüber, zu einem etwa zehnjährigen +Jungen, der eben eine Pause im Schreiben gemacht +hatte und merkwürdig ernst vor sich hinblickte.</p> + +<p>Ein zu steil gehaltener Griffel kreischte ohrenzerreißend. +Herr Lenz schloß die Augen und machte ein +Märtyrergesicht. Dann aber raffte er sich auf, warf +einen energischen Blick in die Klasse und rief: »Köpfe +hoch, Finger gerade! Wie oft soll ich das noch sagen! ... +Ich muß wohl mal kommen.«</p> + +<p>Diese Drohung war jedoch leichter ausgesprochen als +ausgeführt. Das linke übergeschlagene Bein des guten +Schulmannes hatte nämlich die günstige Gelegenheit +benutzt, schnell ein bißchen einzuschlafen, und es dauerte +eine Weile, bis es sich richtig wieder auf den Zweck +seines Daseins besann.</p> + +<p>Als Herr Lenz endlich mit Vorsicht, da er jenem noch +immer nicht recht traute, von seinem Katheder heruntertrat, +schwenkten die Kleinen, um Beachtung ihres Geschreibsels +bittend, ihm die Schiefertafeln entgegen.</p> + +<p>Er nahm die jenes kleinen Mädchens, das er vorhin +still beobachtet hatte. Zwei große hellbraune Augen +schauten aus einem zarten, feinen Gesichtchen ehrfürchtig +und erwartungsvoll zu ihm auf und erglänzten freudig, +als er wohlgefällig nickte und die Tafel mit den Worten +zurückreichte: »Leidchen, du machst das kleine r wirklich +schon recht nett.« Darauf legte er die Hand väterlich +wohlwollend auf das weiche Haar des Kindes, dessen +Wangen unter so viel Anerkennung sanft erröteten.</p> + +<p>Nachdem er sodann den Mittelgang abgeschritten,<span class="pagenum" id="Seite_8">[S. 8]</span> +einige Ausstellungen gemacht, ein kleines r als Muster +an die Wandtafel geschrieben und drei Torfsoden in +die mit dem Rockschlippen geöffnete Ofentür geworfen +hatte, stieg er wieder auf das Katheder, wo er sich mit +dem angenehmen Gefühl erfüllter Pflicht in seinen +Armstuhl und die vorige Beschaulichkeit zurücksinken +ließ.</p> + +<p>Aber diesmal war die Ruhe nicht von Dauer. Auf +dem frostharten Schulhof klirrten Holzschuhe, und Herr +Lenz sah vom Damm her ein Mädchen eilig auf das +Haus zukommen, das er aber in der winterlichen Vermummung +nicht zu erkennen vermochte. Wahrscheinlich +eine neue Einladung. Das ganze Dorf wollte die +üblichen Gastereien bei dem harten Frost abmachen, +und es ging jetzt fast Abend für Abend.</p> + +<p>Er begab sich hinaus, um der Sache auf den Grund +zu gehen. Hinter ihm steckten die Deerns zu einem +kleinen Schwatz die Köpfe zusammen, während ein +paar Jungens eine Prügelei vom Zaun brachen.</p> + +<p>»Ruhe!« donnerte es plötzlich in den Lärm hinein, +und in der Tür stehend, rief Herr Lenz in die jäh +wiedergekehrte Stille: »Gerd! Leidchen! Ihr sollt nach +Hause kommen. Schnell, schnell!«</p> + +<p>Nach wenigen Sekunden stieg ein stillernst dreinblickender +Junge von etwa zehn Jahren aus seiner +Bank und schob, den Tornister schief auf dem Rücken, +durch die Schulstube. Der Schwester, die noch unter dem +Tisch packte, gab er im Vorbeigehen einen Stoß mit dem +Ellbogen, um sie zu größerer Eile anzuspornen.</p> + +<p>Draußen, auf dem Gang, half er ihr in die Winterjacke<span class="pagenum" id="Seite_9">[S. 9]</span> +hinein. Dann liefen die Kinder, so schnell ihre +Füße sie trugen, über den Schulhof und halblinks die +Dammböschung hinauf, bis sie die Magd eingeholt +hatten.</p> + +<p>»Was sollen wir?« fragte Gerd keuchend und seinen +Lauf hemmend.</p> + +<p>»Mutter verlangt nach euch,« sagte das Mädchen, +»macht, daß ihr heimkommt!«</p> + +<p>»Ich nehm' die Schlittschuh,« rief der Junge.</p> + +<p>Er hatte sie zu Weihnachten geschenkt bekommen +und benutzte die Schulwege, sich in ihrem Gebrauch zu +üben.</p> + +<p>Schon war er den Damm hinuntergesprungen und +hockte auf dem zwischen diesem und dem Schiffgraben +laufenden Leinpfad.</p> + +<p>Bald kratzte er, weitausgreifend und mit schlenkernden +Armen, die glatte, schwarze Eisbahn dahin, vorbei +an den Mündungen der schmäleren Gräben, die zwischen +den einzelnen Kolonaten sich ins Hochmoor hinaufzogen, +unter den vom Damm zu den Gehöften +führenden Holzbrücken hindurch, im Sprung die trotz +fortwährenden Wassergerinnsels fest umfrorenen Klappstaue +nehmend. Einmal fiel er dabei hin, aber noch im +Dahinrutschen kam er wieder auf die Beine. Nach +kaum fünf Minuten lief er, die klappernden Schlittschuhe +am Arm, über eine Obstwiese auf das hundert +Schritt vom Damm zurückliegende lange, niedrige +Strohdachhaus mit blaugestrichenem Fachwerk zu.</p> + +<p>Beta Rotermund von Nr. 39 leistete dem Nachbarhause +in seiner Not treulich Hilfe. Als sie den Jungen<span class="pagenum" id="Seite_10">[S. 10]</span> +über die Diele nach der Krankenstube stürzen sah, rief sie +ihm zu, er möchte sich erst wärmen, ehe er hineinginge.</p> + +<p>Mit ausgebreiteten Armen über das offene Herdfeuer +gebeugt, schüttelte er seine Kleidung, um die darin +gefangene Kälte gegen die von den glühenden Torfbrocken +aufsteigende Wärme auszutauschen. Dann +streifte er den Tornister ab und ging auf Zehen in die +Stube zur Linken.</p> + +<p>Als er vor der in die Wand gebauten Schlafbutze +stand, deren Tür zurückgeschoben war, rief er leise: +»Mutter!«</p> + +<p>Langsam öffneten sich die Augen in dem schmalen, +spitzen Gesicht und sahen ihn groß an. Aber dann irrte +ihr Blick suchend an ihm vorbei, und die fahlen Lippen +fragten leise: »Wo ist Leidchen?«</p> + +<p>Gerd sagte, sie würde gleich nachkommen, er wäre +nur auf Schlittschuhen vorangelaufen.</p> + +<p>Die Kranke machte eine Bewegung. Gerd, ihren +Wunsch erratend, nahm ihre heiße, trockene Hand, jedoch +ohne sie von der Bettdecke zu erheben.</p> + +<p>»Ich muß von euch ab, Kinder ... du hilfst dir wohl +sacht, Gerd ... aber Leidchen ... Ich glaub', du bist ein +guter, zuverlässiger Junge ... verlaß deine Schwester +nicht ... hab' ein Auge auf sie ... sie hat anders keinen +als dich ...«</p> + +<p>Mühsam rangen sich ihr die Worte von den Lippen, +und Gerd fühlte einen leisen Druck der kraftlosen Hand. +Diesen mit Schonung erwidernd, sagte er, indem er +einen Ausbruch seines Schmerzes gewaltsam zurückhielt: +»Mutter, darauf kannst du dich fest verlassen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_11">[S. 11]</span></p> + +<p>Die Kranke bekam einen ihrer qualvollen Anfälle. +Ihre Hand zurückziehend, wimmerte sie: »Kind, bet' +mal!«</p> + +<p>Gerd schaute verlegen drein.</p> + +<p>Sie wiederholte ihren Wunsch dringender.</p> + +<p>Da faltete er die Hände, ließ den Kopf auf die Brust +sinken und begann das Gesangbuchslied, das sie in der +Schule gerade lernten. Dieselben Worte, die er heut' +früh schrill dem Lehrer zugeschrien hatte, sprach er jetzt, +wo die Not des Lebens sie ihm abverlangte, langsam, +leise und andächtig: »Was Gott tut, das ist wohlgetan.« +Mit geschlossenen Augen, die Zähne aufeinander gebissen, +wiederholte die schwer Leidende: »... will ich ... +ihm ... halten stille ... halten ... stille!«</p> + +<p>Unterdessen trat das kleine Mädchen auf Socken in die +Stube und näherte sich zögernd der Bettstatt.</p> + +<p>»Mein lüttjes süßes Leidchen,« rief die Kranke, den +Blick erhebend, mit aufwallender Zärtlichkeit, »was hast +du für schöne rote Backen!« und ihre weit offenen fieberdurstigen +Augen schienen des Kindes Frische und Lieblichkeit +zu trinken.</p> + +<p>Gerd nahm das frostrote Händchen der Schwester, +rieb und drückte es warm und legte es zugleich mit +seiner Rechten in die welke Hand, die auf der rotkarierten +Decke lag. Krampfhaft umklammerte die +fieberheiße die von warmem jungen Leben durchpulsten +Kinderhände, wie um sie nimmer loszulassen. Doch bald +erschlaffte sie unter Zuckungen. Die Kinder sahen sich +hilflos an und zogen langsam die Hände zurück.</p> + +<p>Nach einer Weile trat Beta Rotermund in die Stube.<span class="pagenum" id="Seite_12">[S. 12]</span> +Auf Wunsch der Kranken, deren Schmerzen jetzt wieder +erträglicher waren, setzte sie sich dicht vor das Bett, +indem die Kinder ihr Platz machten.</p> + +<p>Und nun traf Geschmargret Rosenbrock an dem Ohr +der zu ihr herabgeneigten Nachbarin ihre letzten Anordnungen. +Seit vorhin der Arzt noch einmal bei ihr +gewesen, wußte sie ja, wie es um sie stand.</p> + +<p>Auf dem Leinenschrank läge ein geliehener Wollkratzer. +Dieser müßte der Eigentümerin, Meta Frerks, +Nr. 37, noch heute zurückgebracht werden.</p> + +<p>Bei ihrem letzten Kirchgang wäre sie dem Kaufmann +Nolte in Grünmoor eine Mark und fünfundsechzig +Pfennige schuldig geblieben. Frau Rotermund mußte +die Summe dem Geldtäschchen unter dem Kopfkissen der +Kranken entnehmen und sie bei nächster Gelegenheit zu +bezahlen versprechen.</p> + +<p>Bis ihr Stiefsohn Jan, der Stellerbe, sich verheiratete, +sollte die kürzlich verwitwete Häuslingsfrau Marie +Engelken ihm den Haushalt führen. Sie hatte diese +schon vor einigen Tagen an ihr Bett bitten lassen und +mit ihr darüber gesprochen. Die Nachbarin versprach, +die Augen offenzuhalten und vor allem achtzugeben, daß +Gerd und Leidchen ihr Recht bekämen.</p> + +<p>Das Totenhemd läge in der Eichenlade auf dem Flett +zu unterst ... Das rechts vom Herd hängende Stück vorjährigen +Rauchfleisches möchte beim Dodenbeer zuerst +mit aufgeschnitten werden ... In Leidchens Sonntagskleid +wäre eine Naht aufgegangen, die müßte vorher +noch genäht werden ...</p> + +<p>Frau Rotermund nickte, sobald sie einen dieser<span class="pagenum" id="Seite_13">[S. 13]</span> +Wünsche, welche die Kranke nur mit großer Anstrengung +verständlich machen konnte, halbwegs erraten +hatte, und versprach zu guter Letzt noch einmal, alles +aufs beste zu besorgen.</p> + +<p>Als die Uhr in der anderen Stube zwölf schlug, bat +die Kranke, die Nachbarin möchte mit den Kindern +zum Essen hinübergehen, die Magd würde das +Mittagbrot wohl auf dem Tische haben. Wie die Frau +noch einen Augenblick zögerte, wollte sie ungeduldig +werden. Da gab Beta Rotermund mit den Augen Gerd +und Leidchen einen Wink und schob die leise sich sträubenden +Kinder vor sich her zur Tür hinaus.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Es war kurz nach Mitternacht, als Frau Rotermund +sich in ihr wollenes Umschlagetuch hüllte, die Schultern +zusammenzog und, unter der niedrigen Seitentür sich +bückend, schuddernd in die sternklare, schneidend kalte +Winternacht hinaustrat.</p> + +<p>Dem nachbarlichen Verkehr dient in Brunsode +weniger der öffentliche, von der Häuserreihe etwas entfernte +Fahrdamm als ein Pfad, der durch die Grenz- +und Windschutzgehölze laufend und die trennenden +Gräben auf schmalen Eichenbohlen überschreitend eine +kürzere Verbindung zwischen den Gehöften herstellt.</p> + +<p>Diesem folgte die Frau, aber nicht, um beim eigenen +Hause abzubiegen, sondern, nachdem sie ihr Gehöft +überschritten hatte, machte sie erst vor den Stubenfenstern +von Nr. 38 halt. Hier trommelte sie mit dem +Knöchel des Mittelfingers gegen die Scheiben, daß es +hart und hell durch die nächtliche Stille klang. Es<span class="pagenum" id="Seite_14">[S. 14]</span> +dauerte nicht lange, so wurde von drinnen an den Eisblumen +gekratzt. Da rief Beta durch die hohlen Hände +gegen das Fenster: »Geschmargret ist eben eingeschlafen. +Kommt und helft sie bekleiden!«</p> + +<p>Die gleiche Ansage machte sie den beiden nächsten +Häusern in der Dorfreihe. Denn die vier »Nachbarn in +Not und Tod« sind durch das ungeschriebene Gesetz +altererbter Sitte zu solchem Dienst jede Tag- oder +Nachtstunde verpflichtet, wenn jemand sich zum letzten +Schlaf gestreckt hat.</p> + +<p>Als Beta Rotermund von ihrem Gange durch die +frostklingende Nacht zurückgekehrt war, nahm sie das +Abendmahlskleid der Verblichenen aus dem Schrank, +holte ihr Totenhemd aus der Tiefe der Eichenlade herauf +und legte ein paar Torfbrocken unter den Wasserkessel, +den die Magd auf ihr Geheiß zu Feuer gebracht +hatte. Darauf ging sie in die Wohnstube, um sich zu +wärmen und die Frauen zu erwarten.</p> + +<p>In dem niedrigen, mit dicker warmer Luft angefüllten +Raum, den eine Hängelampe vom mittleren +Deckbalken her nur schwach erleuchtete, hockte die +Familie beieinander. Jan, des verstorbenen Jan Rosenbrock +Sohn aus erster Ehe, hatte die Fäuste tief in den +Hosentaschen vergraben und machte, mit angezogenen +Füßen auf einem gegen die Wand gekippten Binsenstuhl +mehr liegend als sitzend, ein etwas verlegenes Gesicht, +als ob er nicht recht wüßte, wie er sich in diesem +Fall zu benehmen hätte. Das kleine Mädchen lehnte +schlafend in einer Ecke der Ofenbank, Gerd saß steif und +steil in der anderen, mit trockenen rotgeweinten Augen<span class="pagenum" id="Seite_15">[S. 15]</span> +auf einen Fleck starrend. Trina, die Magd, hatte sich +an den Tisch hingelehnt und kämpfte, häufig gähnend, +mit der Müdigkeit.</p> + +<p>»Kinder, es wäre besser für euch, ihr ginget zu Bett,« +mahnte Frau Rotermund mütterlich, indem sie sich einen +Stuhl an den Ofen zog und die verklammten Hände an +die warmen Gußplatten hielt. Aber niemand machte +Miene, dem Rat zu folgen.</p> + +<p>Draußen wurden Schritte laut, und gleich darauf trat +Meta Frerks von Nr. 37 in die Stube. Die rundliche +kleine Frau hatte von Natur ein Paar graue, schalkhafte +Augen, aber wenn Zeit und Gelegenheit es verlangten, +konnten diese auch leicht und ergiebig weinen. Die +blanken Tränen polterten ihr denn auch nur so über die +kugeligen roten Backen, wie sie die Hingeschiedene beklagte +und rühmte und die landläufigen Tröstungen +spendete. Darauf pflanzte sie sich zwischen die beiden +Kinder in die reichlich enge Bank, tätschelte mit der +Linken dem Jungen die Knie und strich mit der Rechten +dem erwachenden Mädchen die Haare aus den Augen, +um ihm dann liebkosend über die rosig verschlafenen +Bäckchen zu fahren. Das Kind hatte von solcher handgreiflichen +Zärtlichkeit schnell genug und hielt zum +Schutz beide Arme vor das Gesicht.</p> + +<p>Die bald darauf eintretende, bis auf die Nasenspitze +vermummte Gestalt enthüllte sich als eine hagere +Vierzigerin mit gelblichen, lederartigen Gesichtszügen +und kleinen, starren Augen. Anna Wöltjen und ihr +Klaus galten als die »dollsten Quäler« im ganzen Dorf, +kamen aber doch nicht recht vorwärts. Sie waren<span class="pagenum" id="Seite_16">[S. 16]</span> +Sklaven der Torfkuhle geworden; nicht einmal mehr +des Sonntags kam der Torfstaub rein aus den tiefen +Furchen ihrer stumpfen, abgearbeiteten Gesichter. Da +der Torf all ihr Sinnen erfüllte, verpaßten sie in der +Ackerwirtschaft meist die rechte Zeit und das gute Wetter, +und manches Stück Vieh hatten sie in die Erde +stecken müssen, weil sie es an sorgfältiger Pflege, vor +allem auch an der nötigen Sauberkeit fehlen ließen. +Anna Wöltjen murmelte ein paar Worte, die zu verstehen +sich niemand Mühe gab, und sackte auf dem +nächsten Stuhl nieder.</p> + +<p>»Daß Malwine Böschen noch gar nicht kommt!« sagte +Beta Rotermund nach einer Weile, etwas ungeduldig +zur Wanduhr aufblickend, »sie hat doch von uns allen +noch die jüngsten Beine.«</p> + +<p>»Wenn eine erst jung verheiratet ist ...« entschuldigte +die gutmütige Meta Frerks mit verstehendem Lächeln.</p> + +<p>»Na, ich sollt' meinen, aus den Honigwochen wären +sie heraus,« sagte Anna Wöltjen mit ihrer blechernen +Stimme.</p> + +<p>Meta Frerks hob horchend den Kopf: »Ich hör ihre +Hollschen all, sie geht grad' über den Steg. Was das +diese Nacht weit klingen tut!«</p> + +<p>Die schmucke, blühende Frau, die bald darauf eintrat, +sah trotz des Ganges durch die schneidende Kälte +ein wenig verschlafen aus und machte einen etwas verlegenen +Eindruck. Erst im letzten Herbst hatte sie in das +Dorf hineingeheiratet und sich noch nicht recht in der +Nachbarschaft eingelebt.</p> + +<p>Nachdem Beta Rotermund das junge Volk noch einmal<span class="pagenum" id="Seite_17">[S. 17]</span> +vermahnt hatte, endlich das nutzlose Herumsitzen +aufzugeben, führte sie die Frauen dahin, wo die traurige +Pflicht ihrer wartete.</p> + +<p>Diese warfen einen halb scheuen, halb neugierigen +Blick auf das spitze, wächserne Gesicht im Bettschrank, +hielten eine Vaterunserlänge die Köpfe auf die Brust gesenkt +und die Hände gefaltet, dann machten sie sich +schweigend an die Arbeit, indem sie durch Zeichen und +Flüstern sich leicht verständigten.</p> + +<p>Als nach Brauch und Herkommen alles besorgt, auch +das Zimmer gesäubert und der Fußboden mit weißem +Sand bestreut war, betrachteten sie ihr Werk nicht ohne +Befriedigung. Man fand, die gute Geschmargret sähe +nun aus wie eine sanft und friedlich Schlafende.</p> + +<p>»Wenn einer erst so weit wäre ...« seufzte Meta +Frerks, die lebenslustigste von allen, und sie fühlte in +diesem Augenblick auch so, wie sie sprach. Als aber Beta +Rotermund, die während der Aufräumungsarbeiten sich +draußen am Herde zu schaffen gemacht hatte, fragte, ob +sie jetzt in der andern Stube eine Tasse heißen Kaffee +trinken wollten, nickte sie sehr erfreut und war die erste, +die schnell und gern der Einladung folgte.</p> + +<p>Die Jugend des Hauses hatte sich inzwischen in ihre +Butzen und Kammern zurückgezogen, und die Frauen +waren froh, daß sie das Reich allein hatten. Nachdem +sie einige Torfbrocken im Ofen nachgelegt und den Tisch +dicht an diesen herangeschoben hatten, rückten sie so eng +als möglich um die dampfende Kaffeekanne zusammen, +die ihren duftenden braunen Labetrank in goldig umränderte +Tassen ergoß. Es waren die feinsten des Hauses,<span class="pagenum" id="Seite_18">[S. 18]</span> +die Meta Frerks der besonderen Gelegenheit wegen +dem Glasschrank entnommen und schnell mit der +Schürze ausgewischt hatte. Geschmargret Rosenbrock +hatte sie von ihr selbst einst zur Hochzeit geschenkt bekommen. +Mitten auf dem Tisch stand ein bunter Teller +mit Butterkuchen, den Vater Rotermund der kranken +Nachbarin gestern frisch von Worpswede mitgebracht +hatte. Die hatte nicht mehr von ihm gekostet, aber jetzt +fand das lockere, zuckerbestreute Gebäck seine Liebhaber, +und die kundigen Zungen schmeckten schnell heraus, daß +es vom Bäcker Soltmann stammte, der am schmackhaftesten +zu backen pflegte. Der Kaffee wurde mit behaglichem +Schlürfen getrunken. Nach Erfüllung der traurigen +Pflicht war ein Stündchen freundnachbarlicher +Geselligkeit gutes Recht und seelisches Bedürfnis. Man +war ja Nachbar nicht bloß für Not und Tod, sondern +gottlob auch für die angenehmeren Seiten des Daseins.</p> + +<p>Ach ja, das menschliche Leben ... Wer hätte gedacht, +daß die gute Geschmargret so früh dahin mußte. Nach +Ostern hatte sie noch im Torf geholfen und bei der +zweiten Heuernte noch mit abgeladen. Es wurden +mancherlei Erinnerungen wach: was sie bei dieser Gelegenheit +gesagt, bei jener getan, wie sie sich in ihre +Stellung als zweite Frau und Stiefmutter gefunden +hatte, und dergleichen. Die einzelnen Züge ergaben zusammen +das Bild einer schlichten, fleißigen, stets freundlich +hilfsbereiten, von allen wohlgelittenen Frau.</p> + +<p>Endlich sprang die Unterhaltung auf die Kinder des +Hauses über.</p> + +<p>Jan, der Erbe und jetzige Stellbesitzer ... Hmhm,<span class="pagenum" id="Seite_19">[S. 19]</span> +Kopfschütteln, bedenkliche Mienen. Man konnte sich nicht +verhehlen, daß er in den letzten Jahren, seit des Vaters +Tode, ein rechter Schleef geworden war. Die Stiefmutter +war ihm gegenüber vielleicht doch zu gut und +weich gewesen. Hoffentlich bekam er einmal die richtige +Frau, die noch einen ordentlichen Menschen aus ihm +machte. Ob er schon auf Freiersfüßen ging? Ernstlich +wohl noch nicht. Aber jetzt machte er gewiß bald Anstalten. +Das half ja auch nichts; eine Frau mußte wieder +ins Haus, die Haushälterin konnte nur für kurze +Zeit ein Notbehelf sein.</p> + +<p>Gerd und Leidchen ... Ach ja, die armen kleinen +Dinger ... Und so fixe, brave Kinder ... Gerd, über +seine Jahre verständig und ernsthaft, und so ein feines +kleines Mädchen wie Leidchen sollte man weit umher +suchen. Cord Rosenbrock, der Kinder Vatersbruder und +Vormund, wär' ein gar zu gleichgültiger Mensch, ein +rechter Liekeväl, und würde sich wohl nicht viel um sie +kümmern. Da müßten die Nachbarn fleißig zum Rechten +sehen, das verlange die Christenpflicht, und man wäre +es der guten Seligen auch schuldig. Ach ja, ja, ja ...</p> + +<p>Plötzlich horchten die Frauen erschrocken auf. In der +Butze nebenan regte sich etwas, und schon wurde die Tür +zurückgeschoben, und das kleine Mädchen kam herausgestiegen. +Zitternd stand es da in seinem kurzen Hemdchen, +sah die gestörte Kaffeegesellschaft mit den großen +braunen Augen an und fragte: »Was macht ihr hier?«</p> + +<p>»Wir haben deine Mutter fein angekleidet,« sagte +Beta Rotermund, das Kind an sich ziehend. »Nun trinken +wir 'ne Tasse Kaffee.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_20">[S. 20]</span></p> + +<p>»Komm mal 'n bißchen auf meinen Schoß, lüttje +Deern,« sagte Meta Frerks und hob sie auf ihre Knie. +Dann reichte sie ihr einen Streifen Butterkuchen, und +das Kind stopfte und kaute, denn Butterkuchen gab's +nicht jeden Tag. Darauf knabberten die kleinen Zähne +ein Stück Kandiszucker, das Malwine aus der Dose +schenkte. »Sososiso,« sagte Meta Frerks, »nun leg' ich +unser Herzenskind wieder ins Bett, und es schläft süß +die ganze Nacht. Huh, draußen ist's so kalt, und all die +kleinen Piepvögel müssen so frieren. Soso, nun mach' +ich die Tür zu, du brauchst gar nicht bange zu sein, mein' +Deern, die lieben Tanten sollen alle hier bleiben.«</p> + +<p>Ein Weilchen ruhte die Unterhaltung. Nur Seufzer +und traurige Blicke, von Kopfschütteln begleitet, gingen +hin und her.</p> + +<p>Als das Gespräch nach und nach wieder in Gang +kam, begann es freiere Bahnen zu wandeln. Der betrübende +Fall war ja nun nach allen Seiten hin erörtert +und erschöpft, da drängte das eigene Leben, mit +seinen Sorgen und Leiden, Freuden und Hoffnungen, +sich wieder vor. Auch des lieben Nächsten gedachte die +mitternächtliche Kaffeegesellschaft, im Guten wie im +Bösen. Meta Frerks, die am Tage vorher von einer +Gasterei im unteren Dorf einen ganzen Sack voll Neuigkeiten +mitgebracht hatte, fand für diese die aufmerksamsten +Ohren; zumal, als sie von einer Hochzeit berichtete, +die etwas plötzlich in Sicht gekommen war.</p> + +<p>So enteilten die Viertel-, halben und ganzen Stunden, +bis die Wanduhr auf einmal fünf kurze, klirrende +Schläge tat.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_21">[S. 21]</span></p> + +<p>»Kinners!« rief Beta Rotermund erschrocken, »wir +müssen nun aber bald Feierabend machen!«</p> + +<p>Aber niemand traf Anstalten, sich zu erheben. Über +den Schlaf war man doch einmal hinweg, es verlohnte +sich auch nicht mehr, noch wieder ins Bett zu steigen. +Draußen fror es Pickelsteine, um den warmen Ofen dagegen +hatte die Behaglichkeit stetig zugenommen. Die +Nähe der Toten störte diese durchaus nicht. Die gute +Geschmargert war ja von schwerem, unheilbarem Leiden +erlöst, man hatte seine Pflicht an ihr getan, und wenn +die Gedanken noch einmal zu ihr hinübereilten, freute +man sich im stillen, daß einem selber das liebe Leben +noch nicht entwichen war. Sogar Anna Wöltjen war +ganz menschlich geworden, und die junge Malwine +Böschen längst aufgetaut. Diese paar Stunden hatten +sie den Nachbarinnen näher gebracht, als die vier +Monate, die sie unter ihnen gelebt hatte, und sie verriet +ihnen, daß sie sich guter Hoffnung fühlte. Da sahen +alle drei sie schwesterlich teilnehmend an, und Beta +Rotermund sagte, nachdenklich vor sich hin nickend: +»Ja, ja, so geht's zu in der Welt: der eine geht, der +andere kommt.«</p> + +<p>Als sie endlich daran erinnerte, daß es Zeit würde +zum Melken, erhoben sich alle aus dem warmen, gemütlichen +Winkel. Man suchte die Umschlagetücher, schnackte +auf dem Flett ein Weilchen im Stehen, stattete der still +gewordenen Nachbarin noch einen stummen Besuch ab, +bei dem sich wieder einige Seufzer lösten, und machte +sich endlich auf den Heimweg. An den Leitstangen sich +haltend, schurrten die Frauen vorsichtig über die glattgefrorenen<span class="pagenum" id="Seite_22">[S. 22]</span> +schmalen Eichenbohlen der Gräben, und bei +jedem Hause schwenkte eine mit kurzem Gutenachtgruß +ab. Bei jedem Abschied noch einmal wieder stehenzubleiben, +verbot die gar zu grimmige Kälte.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Langsam und feierlich, den hohen Hut auf dem ergrauenden +Kopf und das Gesangbuch mit goldenem +Kreuz in der schwarzbeschuhten Rechten, kam Herr Lenz +von dem Fahrdamm auf das Trauerhaus zugeschritten.</p> + +<p>Was Geschmargret Rosenbrock die letzte Ehre erweisen +wollte, war schon vollzählig versammelt. Das +obere Dorf, bis zur Schule, war Haus für Haus vertreten, +aber auch das untere hatte eine stattliche Anzahl +zum Gefolge geschickt. Die Frauen saßen in den Stuben +und tranken Kaffee. Die Männer, die meist auf der +Herddiele umherstanden, ließen ein paar Flaschen kreisen. +Diese mußten öfter als gewöhnlich aus dem irdenen +Kruge von neuem gefüllt werden; denn die Kälte +hatte noch nicht im geringsten nachgelassen und nur +wenige waren im Besitz eines wärmenden Überziehers.</p> + +<p>Herr Lenz nahm in der Wohnstube ein Glas Grog +an, »wegen der schneidenden Luft,« wie er halb entschuldigend +bemerkte. Als er es geleert hatte, wechselte +er einen Blick mit Beta Rotermund, die heute im Haus +das Sagen hatte, strich sich den Bart und trat voll +Würde auf die große Diele hinaus, wo er am Kopfende +des über Stühlen aufgestellten Sarges Aufstellung +nahm. Die Singjungens sammelten sich ihm zur Linken, +den Platz an seiner Rechten wies er durch eine Handbewegung +den Hinterbliebenen an. Aber nur die beiden<span class="pagenum" id="Seite_23">[S. 23]</span> +Kinder kamen, Jan zog es vor, als weniger beteiligt, +sich etwas im Hintergrunde zu halten. Eine Kuh, die +brüllend den Kopf vorstreckte, bekam einen mißbilligenden +Blick, woraufhin einer der umstehenden Männer ihr +einen Stoß gegen den Hals gab.</p> + +<p>Und dann feierte Herr Lenz, nachdem er ein Sterbelied +hatte singen lassen, die stille Frau zwischen den mit +Sago beklebten schwarzlackierten Brettern als treue +Gattin, liebevolle Mutter, fleißige Arbeiterin und geduldige +Kreuzträgerin. Darauf wandte er sich halbrechts +zu ihren Kindern, malte mit grellen Farben das +Elend verlassener Waisen und tröstete, die Hand wie +segnend erhoben, Gott, der Witwen und Waisen Vater, +werde sie nicht verlassen noch versäumen.</p> + +<p>Herr Lenz liebte das große Wort und die feierliche +Gebärde, und die Brunsoder waren stolz darauf, daß +sie bei solchen Gelegenheiten keinem der fünfzehn Lehrer +des Kirchspiels so zu Gebote standen, wie ihrem guten +Lenz. Ja, nicht einmal der alte Pastor in Grünmoor +konnte es so rührend machen und die Tränen so locken +wie er. Diese flossen denn auch jetzt gar reichlich. In +diesem Lande, wo das Wasser überall rinnt und sickert, +sitzt es auch über den Augen recht lose.</p> + +<p>Gerd aber stand mit trockenen Augen, den Kopf auf +die Brust gesenkt und die Hände über der Mütze gefaltet. +Er hatte sich in der Stille der letzten Tage ausgeweint, +und daß er vom Lehrer, den er im Grunde +nicht liebte, zum Gegenstand des allgemeinen Mitleids +gemacht wurde, berührte ihn peinlich.</p> + +<p>Das kleine Mädchen verstand von all den schallenden<span class="pagenum" id="Seite_24">[S. 24]</span> +Worten so gut wie nichts. Das feierliche Gepränge an +der Stätte, wo sie zu Füßen der Mutter mit Polli, +Musch und Poppedeidei gespielt hatte, bedrückte und +verwirrte ihren kindlichen Geist. Im roten Sonntagskleidchen +stand sie an des Bruders Seite und sah aus +der dunkelblauen Wollkapuze, die ihr feines Gesichtchen +umrahmte, mit den großen, unschuldigen, lichtbraunen +Augen verwundert zu den schwarzen Menschen auf, die +so todernste Mienen zeigten oder sich im Gesicht herumwischten. +Eine Zeitlang lenkte ein schmaler Lichtstreif, +der hell und warm auf dem Kinde lag, manchen still +verwunderten Blick nach ihm hin. Denn solche Lieblichkeit +und Frische erblüht nur selten unter dem hart arbeitenden +Geschlecht des schwarzbraunen Moorlandes.</p> + +<p>Als der Wagen in den zerfahrenen und gefrorenen +Gleisen des Dammes knarrte, saß Leidchen eng und +warm verpackt zwischen zwei Frauen, und ihre Blicke +wanderten über den Sarg vor ihren Knien in die Welt +hinaus, die mit Hochmooren, Ackerbreiten, Wiesen und +Reihendörfern im schönsten Wintersonnenglanze sich vor +ihr dehnte. Es war ihre erste Fahrt, von der allerersten +im Steckkissen, zur Taufe, abgesehen. Gerd schritt indessen, +die frierenden Hände in den Jackentaschen vergraben, +als einziger unmittelbar hinter dem Wagen; +denn das Gefolge hatte sich schnell in Gruppen aufgelöst, +die nach und nach zurückblieben und den anderthalbstündigen +Weg durch Unterhaltung zu kürzen +suchten.</p> + +<p>Das ausgedehnte Kirchspiel Grünmoor hatte nur eine +einzige sandige Bodenerhebung, die es gestattet, den<span class="pagenum" id="Seite_25">[S. 25]</span> +Toten aus den achtzehn Kolonien trockene Ruhestätten +zu geben. Hier ist darum auch um das schlichte, den +ersten Ansiedlern vom Landesherrn geschenkte Gotteshaus +der geräumige Friedhof angelegt worden. In +seiner Anlage und Aufteilung zeigt er ein ziemlich +getreues Bild der Gemeinde im kleinen. Den langen +Reihendörfern entsprechen hier die Reihen der Erbbegräbnisse. +Die im Leben Nachbarn waren, werden es +im Tode wieder. Die Rosenbrocks, Rotermunds, Frerks, +Wöltjens und Böschens wohnen auch hier freundnachbarlich +beieinander.</p> + +<p>Die zunehmende Wohlhabenheit einzelner Moordörfer +zeigt sich hier und da in unschönen protzigen +Denkmälern aus Zementguß. Die Kolonisten der +ärmeren Dörfer, zu denen auch Brunsode gehört, setzen +wohl einmal ein Kreuz aus Tannenholz, das in wenig +Jahren zerfällt; im übrigen begnügen sie sich mit dem +grünen Schmuck, den die Natur ihren Ruhestätten verliehen +hat.</p> + +<p>Das Rosenbrocksche Erbbegräbnis bezeichnet ein +hochragender dunkelgrüner Wacholder. Der erste Brunsoder +Rosenbrock hatte den Baum, der heute als einer +der stattlichsten des Friedhofs in winterlichem Prachtgeschmeide +funkelte, vor mehr als hundert Jahren von +den Heiden seiner Geestheimat ins Moor herabgeholt, +um ihn seiner jung verstorbenen Frau zum Gedächtnis +zu pflanzen. Zu seinen Füßen hatte des Totengräbers +Hacke, Axt und Spaten in mehrstündiger Arbeit das +hart und tief gefrorene Erdreich geöffnet.</p> + +<p>Nachbar Wöltjen, der tappige Mensch, stach beim<span class="pagenum" id="Seite_26">[S. 26]</span> +Schließen des Grabes nicht wie die andern nach dem +losen Sande, sondern ließ die gefrorenen Erdklumpen +auf den Sargdeckel poltern. Da schmiegte sich die +Schwester unwillkürlich enger an den Bruder, und der +legte wie schützend den Arm um sie.</p> + +<p>So fand Geschmargret Rosenbrock ihre Ruhe, im +Schatten des ehrwürdigen Wacholderbaumes, dem +Staube der andern gesellt, die vor ihr in Brunsode auf +Stelle Nr. 40 sich müde gearbeitet und schlafen gelegt +hatten. Die Kinder aber, denen sie das Leben geschenkt, +sollten sich nun allein ihren Weg suchen. Den Weg +durch das bunte und schöne, wilde und wirre, ernste +und große Leben.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">2.</h2> +</div> + +<p>Vor<span class="pagenum" id="Seite_27">[S. 27]</span> der Brunsoder Schuljugend stand ein neuer +Mann. Er war an der Weserkante zu Hause, kam +frisch vom Seminar in Bederkesa, und die Kinder mußten +ihn Herr Timmermann nennen.</p> + +<p>Der junge Schulmann, noch in der ersten Begeisterung +für seinen Beruf glühend, strengte die Stimme +mehr als nötig an, war darauf bedacht, seine lang aufgeschossene +Gestalt straff zu halten und gab sich redliche +Mühe, aus den sanft blauen Augen energische Blicke +zu schießen. Der rote Binsenarmstuhl, den sein wegen +Kränklichkeit pensionierter Vorgänger schwarz und +blank gesessen hatte, war für ihn nicht vorhanden, und +dessen Schaubühne auf dem Fahrdamm hatte er noch +nicht einmal entdeckt.</p> + +<p>Aber heute ließ Herr Otto Timmermann doch des +öfteren den Blick halbrechts über die Kinderköpfe zum +Fenster hinausschweifen, jedoch weniger neugierig als +träumerisch froh. Denn dort draußen war etwas sehr +Hübsches zu sehen. Wo tagelang ein ödes, schweres +Nebelgrau gedrückt hatte, da war heute auf einmal ein +weißes, weiches, molliges Schweben. Der erste Schnee +kam sachte zur Erde nieder, in so großen Flocken, wie +der junge Mann sich nicht erinnerte, sie je gesehen zu +haben, und so wunderbar weiß, daß die schönen glatten +Birkenstämme drüben auf einmal schmutziggrau dagegen +erschienen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_28">[S. 28]</span></p> + +<p>Herr Timmermann rieb sich voll Behagen die Hände. +Nach den Jahren des kasernenartigen Seminarlebens +zum erstenmal im eigenen Heim einzuschneien, so recht +tief einzuschneien, mit dem Lieblingsschwesterchen, das +ihm Haus hielt, und mit seinen Kindern, an denen er +die mit redlichem Fleiß erworbenen pädagogischen +Künste erproben sollte — er war der Mann danach, um +so etwas zu schätzen.</p> + +<p>Es traf sich gut, daß er sein Völkchen gerade nicht +in allerhand Fernen und Höhen zu entführen brauchte. +Der Stundenplan, der, säuberlich geschrieben, unter +Glas und Rahmen an der Wand hing, schrieb nämlich +Heimatkunde vor, und der junge Lehrer hatte am Abend +vorher die Moorkolonie Brunsode, nachdem er ihre Belegenheit +auf nachmittäglichen Spaziergängen erkundet, +mit ihren Gehöften, Dämmen und Gräben fein rechtwinkelig +und geradlinig, wie der Königliche Moorkommissarius +Jürgen Christian Findorf sie vor vier +Menschenaltern angelegt hatte, auf die Wandtafel gezeichnet. +Dabei hatte er eigentlich nur an die jüngeren +Jahrgänge gedacht, aber auch die Großen zeigten für +das Kunstwerk seines Kreidestifts solches Interesse, daß +er sie gern teilnehmen ließ und die Gelegenheit benutzte, +ihnen den Unterschied zwischen den uralten, aus +sagenhaftem Dunkel herüberkommenden Siedelungen +der Geest und den jungen, künstlich und planmäßig angelegten +Moorkolonien klarzumachen. Während der +vier Wochen, die Herr Timmermann seines Schulamts +waltete, waren seine Kinder noch niemals so Auge und +Ohr gewesen, wie eben jetzt, und noch nie hatte ihm das<span class="pagenum" id="Seite_29">[S. 29]</span> +Unterrichten solche Freude gemacht. Zuletzt stimmte er +gar eine Art Hymnus auf das Moor an, das ihm nach +den Lern- und Wanderjahren, wie es schien, schnell zur +zweiten Heimat werden wollte. »Das Moor, liebe +Kinder,« rief er begeistert aus, »hat noch eine schöne +Zukunft. Wenn eure Urgroßväter, die als jüngere +Bauernsöhne oder arme Häuslinge es wagten, in das +wilde Sumpfland hinabzusteigen, einmal ihre Ruhekammern +auf dem Kirchhof in Grünmoor verlassen +könnten und die Dorfreihe mit den schmucken Häusern +und den grünen Feldern dahinter entlang wanderten, +was würden sie für Augen machen! Und wenn ihr +Jungen die Hände nicht in den Schoß legt, sondern +tüchtig weiter arbeitet, wird die Zeit kommen, wo das +ganze einst so schaurige und verrufene Teufelsmoor in +einen weiten, grünen, blühenden Gottesgarten umgewandelt +ist. Ihr, Knaben und Mädchen, habt die +schöne Lebensaufgabe, eure Heimat diesem Ziele näher +zu bringen.«</p> + +<p>»Das ist uns mal nett gelungen,« belobigte Herr +Timmermann sich selbst und blickte, sich eine Pause +gönnend, träumerisch in das Geschwebe der Schneeflocken, +die sich weiß und weich auf das so zukunftsreiche, +hoffnungsvolle Land legten.</p> + +<p>»Nun wollen wir mal sehen, was ihr behalten habt,« +begann Herr Timmermann, wieder zu den Kindern +gewendet, und fing an, Wiederholungsfragen zu stellen. +Aber da kam in die bislang so glatt und angenehm verlaufene +Unterrichtsstunde plötzlich eine Störung.</p> + +<p>»Adelheid, komm und zeig mir auf der Wandtafel<span class="pagenum" id="Seite_30">[S. 30]</span> +mal unsere Schule!« hatte Herr Timmermann, seiner +Zeichnung zugekehrt, gutgelaunt gerufen.</p> + +<p>Aber es erschien keine Adelheid.</p> + +<p>Sich herumwerfend, schoß er den schärfsten Pädagogenblick, +den seine Augen zu versenden hatten, nach +der dritten Mädchenbank hinüber: »Adelheid Rosenbrock! +Schläfst du?«</p> + +<p>Jetzt erhob sich, offenbar widerwillig, ein elfjähriges +Mädchen und kam, das Mäulchen schief ziehend und +die neuen Holzschuhe aus rotem Ellernholz über den +Boden schleifend, langsam den Mittelgang daher.</p> + +<p>»Zurück, marsch marsch, an deinen Platz! Ich will +dir Beine machen.«</p> + +<p>Trapp trapp — trapp trapp, machte das Ellernholz +auf den Tannendielen.</p> + +<p>»Wisch mir die ganze Schule nicht weg, du dumme +Deern!« rief Herr Timmermann ärgerlich und fuhr sogleich +mit der Kreide hinterdrein, um den Schaden, den +die tappigen Finger angerichtet hatten, wieder gut zu +machen. Dann sah er mit gestrenger Miene auf das vor +ihm stehende Mädchen herab und sagte: »Was, Adelheid? +Du willst dich hier auf den kleinen Trotzkopf +hinaus spielen? Damit kommst du bei mir aber an den +Verkehrten. Jetzt sagst du mir auf der Stelle, warum +du nicht gleich kamst, als ich dich rief!«</p> + +<p>»Weil ich überhaupt nicht Adelheid heiße!« stieß das +Mädchen heraus.</p> + +<p>Herr Timmermann hob die Hand mit dem Kreidestück +ein wenig, um sie sogleich seufzend wieder sinken +zu lassen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_31">[S. 31]</span></p> + +<p>»Ach, Mädchen, noch immer die alte Geschichte? Hast +du denn ganz vergessen, wie ich dir das schon vor drei +Wochen ausführlich erklärt habe? Leidchen ist überhaupt +kein Name, sondern nichts als eine sinnlose Verstümmelung +von Adelheid. ›Leidchen, Leid—chen‹, hör' doch +nur, wie das klingt! Dagegen ›A—del—heid‹ ... was +für ein Klang und Tonfall sitzt in diesem Wort! Und +ist ein edler, altdeutscher Name, den schon die Gemahlin +Kaiser Ottos des Großen führte, in der Geschichte bekannt +als ›die schöne Adelheid‹.«</p> + +<p>»Ich will aber doch Leidchen heißen,« erklärte das +Mädchen verstockt und hartnäckig.</p> + +<p>Der junge Schulmann zuckte ratlos die Achseln und +wandte sich zu dem zweitobersten Jungen, der schon +während seiner schönen Belehrung aufgezeigt hatte und +auch jetzt noch mit ruhig aufgehobenem Finger sich zum +Wort meldete.</p> + +<p>»Was willst denn <em class="gesperrt">du</em>, Gerd?«</p> + +<p>»Als unsere Eltern noch lebten,« begann der Gefragte, +der in Haltung und Auftreten etwas auffallend +Bestimmtes hatte, »haben sie meine Schwester immer +Leidchen gerufen. Auch der alte Lehrer hat sie nie anders +genannt. Und gestern nach der Konfirmandenstunde +hab' ich den Herrn Pastor gebeten, mal im Kirchenbuch +nachzusehen, da steht's auch so in.«</p> + +<p>Er blieb, eine Gegenäußerung erwartend, aufgerichtet +stehen.</p> + +<p>Bruder und Schwester, mit der gleich zu Beginn +des Winterhalbjahrs vorgenommenen Namensveredelung +durchaus nicht einverstanden, waren eins geworden,<span class="pagenum" id="Seite_32">[S. 32]</span> +heute die Sache zum Austrag zu bringen, und +schienen, nach dem Ausdruck ihrer Gesichter zu urteilen, +zum äußersten entschlossen. Die ganze Schuljugend befand +sich in gespanntester Erwartung, wie dies Ding +ablaufen würde.</p> + +<p>Herr Timmermann trat von einem Fuß auf den +andern, drehte die Kreide zwischen den Fingern, zupfte +an seiner Oberlippe, sah wie hilfesuchend hinaus in den +Schneeflockentanz. Endlich machte er hmhm, errötete +ein wenig und sagte mit gezwungenem Lächeln: »Na, +Leidchen, denn lauf' hin und bleib' meinetwegen, was +du bist!«</p> + +<p>Triumphierend klappten die Ellernholzschuhe bankwärts. +Der wackere Bundesgenosse bekam einen froh +dankbaren Blick. Die Nachbarinnen machten der siegreich +Zurückkehrenden achtungsvoll Platz, und eine +flüsterte ihr ins Ohr: »Leidchen, du bist 'n ganzen +Lork.«</p> + +<p>Von diesem Augenblick an waren die Geschwister +wie ausgewechselt. Sie meldeten sich zu den Antworten +mit einem Eifer, daß der Lehrer sich zusammennehmen +mußte, um sie auf Kosten der anderen nicht gar +zu häufig zu fragen. Hei, wie konnten die braunen +Augen der Deern blitzen! Und wenn bei einer Frage, +die tieferes Nachdenken erforderte, die anderen Gesichter +starr wurden, fing es in den ruhigen Zügen ihres +Bruders an zu arbeiten, und wenn er dann in seiner +sicheren Weise aufzeigte, traf er fast stets den Nagel auf +den Kopf.</p> + +<p>Neben Gerd Rosenbrock saß, als Erster der Schule,<span class="pagenum" id="Seite_33">[S. 33]</span> +Hermann Vogt, der einzige Sohn des Müllers auf +Nr. 1 unten im Dorf. Es war ein großer, wohlgenährter +Junge mit breitem, frischem Gesicht, das zu +dem scharfgeschnittenen, schmalen und farblosen seines +hageren Banknachbarn einen starken Gegensatz bildete. +Er trug eine graugrüne Joppe mit Hornknöpfen, und +statt der landesüblichen Holzschuhe Lederstiefel. Auch +besaß er schon eine Taschenuhr.</p> + +<p>Als er heimlich nach dieser sah, fuhr der Lehrer auf +ihn zu: »Ich hab dich jetzt oft genug gewarnt, die Uhr +ist mir für drei Tage verfallen, her damit!«</p> + +<p>Nach einigem Sträuben trennte der Junge sich von +seinem Stundenglas, und ein Blick auf dieses sagte +dem Lehrer zu seinem Schrecken, daß er wieder einmal +eine Stunde um zehn Minuten zu lang ausgedehnt +hatte. Er stellte noch schnell ein paar Schlußfragen, um +darauf die Kinder schnell zur Frühstückspause zu entlassen.</p> + +<p>Die schöne, weiche Schneedecke des Schulhofs wurde +von hundert Holzschuhen zerwühlt, indem die Kinder, +in Gruppen umherstehend und von einem Fuß auf +den andern tretend, hastig die Butterbrote hinunterstopften, +um möglichst schnell die Hände für den ersten +Schneeballkampf des Winters frei zu bekommen.</p> + +<p>Da näherte Leidchen Rosenbrock sich heimlich ihrem +Bruder, einen dicken rotbackigen Apfel in der Hand.</p> + +<p>»Schenk <em class="gesperrt">mir</em> den Apfel, schöne Adelheid!« rief Hermann +Vogt lachend, indem er ihr breitbeinig den Weg +vertrat.</p> + +<p>Die Umstehenden lachten. Das Mädchen stieß, halb<span class="pagenum" id="Seite_34">[S. 34]</span> +ärgerlich, halb belustigt, mit dem Ellbogen die ausgestreckte +Hand zurück. Gerd aber blickte grimmig von +unten auf und knurrte im Kauen: »Paß auf, Windmüller, +gleich auf dem Damm will ich dir die ›schöne +Adelheid‹ einreiben.«</p> + +<p>Der also Bedrohte erhob ein Gelächter, während Gerd +den letzten Bissen wegdrückte, den ihm geschenkten Apfel +in die Tasche steckte und sich bückte, um zwischen den +Knien den ersten Ball zu kneten.</p> + +<p>Eine Minute später standen die Kämpfer der beiden +Dorfhälften sich auf dem Birkendamm gegenüber, und +die Geschosse sausten scharf durch das ruhige Flockengeschwebe, +klatschten gegen die Birkenstämme, verfingen +sich im hängenden Gezweige, fehlten oder trafen ihr +Ziel. Unten kommandierte Hermann Vogt in seiner +lauten prahlerischen Weise, die vom oberen Dorf führte +Gerd Rosenbrock, der mit jedem Wurf auf jenen zielte. +Der aber wußte geschickt auszuweichen und quittierte +für jeden an ihm vorbeisausenden Ball mit höhnendem +Zuruf.</p> + +<p>»Laßt uns den großschnauzigen Müller mal waschen,« +raunte Gerd, des ergebnisarmen Fernkampfes müde, +seinen Getreuen zu, die dazu sogleich bereit waren. +Man sammelte in der Stille Munition, vorwärts +marsch! ertönte das Kommando, und im Sturmlauf +ging's mit wildem Kriegsgeschrei auf den Feind. Eine +Salve aus nächster Nähe brachte diesen zum Weichen, +nur der Führer hielt stand. Aber schon hatten feste +Fäuste ihn gepackt, die verzweifeltste Gegenwehr half +nichts, er mußte längelangs an den Boden, reichlicher<span class="pagenum" id="Seite_35">[S. 35]</span> +Schnee wurde ihm unsanft in Mund, Nase und Ohren +gerieben, in Nacken, Ärmellöcher und Hosenbeine gestopft, +und derbe Püffe gab's ungezählt überher. Es +war keiner im oberen Dorf, der den Müller leiden +mochte. Den ganzen Übermut der unteren wohlhabenderen +Dorfhälfte, die im Bauernmal ihre Väter oft genug +überstimmte, sahen sie in ihm verkörpert, und mit +wahrer Wollust besorgten sie es ihm bei dieser Gelegenheit +einmal gründlich.</p> + +<p>Als Herr Timmermann Freund und Feind wieder +friedfertig durcheinander vor sich auf den Bänken hatte, +wandte er sich, nicht ohne ein wenig boshaft zu lächeln, +an seinen Schulobersten, der prustend und triefend, mit +krebsrotem Gesicht und zerzaustem Haar auf seinem +Platz saß:</p> + +<p>»Na, Hermann, sie haben dich wohl ordentlich gehabt? +Ich glaube aber, es bekommt dir mal ganz gut.«</p> + +<p>Gerd, der sich gerade unter dem Pult mit dem Hochgefühl +des Siegers die Hände an den Hosen trocken +rieb, warf einen dankbaren Blick nach dem Lehrer und +einen triumphierenden auf seinen Widersacher, mit dem +er nicht erst seit heute auf gespanntem Fuße lebte. +Dieser hatte unter dem alten Lenz, der es mehr mit den +Reichen hielt, gute Tage gesehen, aber der Neue benutzte +zu Gerds Freude jede Gelegenheit, den übermütigen +Bengel zu ducken, und hatte sogar schon einmal gesagt: +»Eigentlich müßtet ihr beiden die Plätze tauschen; aber +wir wollen es das letzte halbe Jahr lieber beim alten +lassen.«</p> + +<p>Es war Mittag. Die Kinder bummelten heim, ein<span class="pagenum" id="Seite_36">[S. 36]</span> +schneedurchpflügendes Holzschuhpaar nach dem anderen +schwenkte nach rechts über die Hofbrücken ab. Zuletzt +befanden sich nur die Geschwister noch auf dem Damm. +Leidchen, die mit einer Freundin hinterher getrödelt +war, holte laufend den Bruder ein, hing sich zärtlich an +seinen Arm, und so stapften die beiden durch unbetretenen +Schnee ihrem Hause zu, das unter der tief herabgezogenen +weißen Kappe weg heute besonders lustig +und freundlich aus den blanken Fensteraugen in die +Welt guckte. —</p> + +<p>Die Familie Rosenbrock hatte sich in den vier +Jahren mehr als ergänzt, indem Jan bald nach dem +Tode der Stiefmutter Trina Grotheer aus Meinsdorf +als Frau ins Haus geholt und sich bereits zwei Kinder +von ihr hatte schenken lassen. So sammelten sich denn +jetzt ihrer sechs um den Mittagstisch. Jan, der Stammhalter, +langte mit seinem Zinnlöffel schon wacker in +die steife Bohnensuppe, während sein Schwesterchen +Minna noch in der Wiege lag und an der Milchflasche +sog.</p> + +<p>Beta Rotermund war mit Jans Wahl zufrieden. +Gerd und ihr Patenkind Leidchen wurden zwar bei der +Arbeit tüchtig mit herangenommen, aber so war's im +Moor überall, und das ging auch nicht anders. Wer +im Torf jung geworden ist, muß sich so ungefähr vom +achten Jahre an des Lebens Nahrung und Notdurft +selber verdienen. Jedenfalls wurden die Kinder nicht +unfreundlich behandelt, bekamen satt zu essen und behielten +Zeit für die Schularbeiten. Mehr konnte man +billigerweise nicht verlangen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_37">[S. 37]</span></p> + +<p>Es war schulfreier Mittwoch-Nachmittag, und +nach dem Essen erhielten die beiden den Auftrag, +mit dem Schiff einen Haufen Heidestreu vom Hochmoor +ans Haus zu schaffen, ehe er gar zu tief +einschneite.</p> + +<p>Das flache, braungeteerte Fahrzeug, das hauptsächlich +zur Verschiffung des wichtigsten Landesproduktes, +des Backtorfs, nach der Freien Reichs- und Hansestadt +Bremen diente, lag dreißig Schritt vom Hause in einem +kleinen Hafen, den ein auf Eichenpfählen ruhendes +Strohdach, das Schiffsschauer, gegen Regen und Sonnenbrand +schützte. Es hatte vorn eine Art Verdeck, Koje +genannt, die dem Schiffer zum Übernachten dienen +kann, und weiterhin eine feste, zur Aufnahme des +Segelbaums durchbohrte Bank. Meist lag jener jedoch, +mit dem torffarbigen Segeltuch umwickelt, samt dem +Steuer unten im Schiff, und dieses wurde mit dem +langen, schwertförmigen, eisenbewehrten Schieberuder +gestakt oder vom Leinpfad aus geschoben.</p> + +<p>Gerd lud Segel und Steuer, die von Jans letzter +Bremerfahrt her noch im Schiff lagen, aus und stieg +mit der Schwester hinein. Während sie unter einem +ausgedienten Regenschirm, dem der Griff fehlte und +zwei Rippen durch den altersgrünen Bezug starrten, +auf der Segelbank Platz nahm, handhabte er mit Kraft +und Sicherheit das Schieberuder, und das Schiff glitt +mit ziemlicher Schnelligkeit im Graben hinauf, der die +Grenze zwischen den Stellen 40 und 39 bildete und sich +schnurgerade zum Hochmoor hinzog.</p> + +<p>Den schwarzen Wasserlauf zwischen den weißen<span class="pagenum" id="Seite_38">[S. 38]</span> +Ufern, der die jetzt vor dem Winde lustig tanzenden +Schneeflocken unbarmherzig verschluckte, begleiteten anfangs +die beschneiten Felder der benachbarten Stellen, +um nach einer Weile tiefer liegenden, von schmalen +Gräben durchschnittenen Wiesen Platz zu machen. +Diesen folgten, wieder zu beiden Seiten, wüste abgetorfte +Flächen, aus denen schwarze Lachen gähnten +und regelrecht gesetzte Torfhaufen, an der Schlagseite +mit Strohschirmen geschützt, ebenfalls schwarz gegen +die weiße Umgebung sich erhoben. Dahinter stand in +anderthalb Mannshöhe die senkrecht abgestochene Wand +des Hochmoors, auf dem der Schnee in niedrigem +Birkenanflug, üppigem Heidekraut und sperrigem +Gagelgesträuch hing. Eine Gruppe älterer Föhren schloß +endlich die hintere Schmalseite des Rechtecks, das Jan +Rosenbrocks Stelle bildete, gegen die nächste Kolonie +hin ab. Sonst prangten sie in sattem Dunkelgrün, aber +heut' erschienen sie tiefschwarz, wie denn der Schnee +alles, was er nicht weiß machen konnte, schwarz gefärbt +hatte. Die winterliche Öde war wie ausgestorben. Nur +eine Elster schunkelte, hungrig schackernd, von einer +Föhre zu einer Birke. Auch sie, wie alles, weiß und +schwarz.</p> + +<p>Die Streuheide, die Jan Rosenbrock im Spätsommer +mit der Lee gehauen hatte, lagerte am Saum +des Föhrengehölzes. Auf Forken trugen die Kinder +sie, oftmals hin und her gehend, an den zwanzig Schritt +entfernten Graben, um ihre Last die steile Moorwand +hinab ins Schiff zu werfen.</p> + +<p>Als dieses beladen war, kletterten sie hinunter und<span class="pagenum" id="Seite_39">[S. 39]</span> +hockten zu kurzem Ausruhen unter Leidchens Regenschirm +aneinandergeschmiegt auf der Segelbank.</p> + +<p>Gerd war durstig geworden und nahm sich vom +Bordrand eine Prise Schnee.</p> + +<p>»Hast du den Apfel, den ich dir geschenkt habe, schon +aufgegessen?« fragte Leidchen, indem sie in seine Tasche +langte. »Nein, hier ist er noch!« rief sie erfreut und +brachte ihn zum Vorschein.</p> + +<p>Gerd holte sein Dreigroschenmesser aus der Hosentasche, +teilte die Frucht und reichte der Schwester die +größere Hälfte. Sie aßen auch das Kerngehäuse mit, +denn Äpfel gab's in diesem Jahr nicht viele, und es +war der letzte Prinzenapfel.</p> + +<p>Als er verschwunden war, griff Leidchen in ihre Rocktasche, +machte ein verheißungsvolles Gesicht und sagte: +»Ich hab' auch noch was Feines.«</p> + +<p>Ein Weilchen ließ sie seine Neugierde zappeln, dann +zog sie eine Tafel Schokolade heraus.</p> + +<p>— »Feine Gewürzschokolade, mit Zusatz von feinstem +Weizenmehl,« las sie lüstern, ihren Schatz sich unter das +Näschen haltend. Dann durfte auch der Bruder dran +riechen.</p> + +<p>»Wo hast du das her?« fragte dieser mit strenger +Miene.</p> + +<p>»Wird nicht verraten,« antwortete sie, geheimnisvoll +lächelnd.</p> + +<p>»Von Tante Beta?«</p> + +<p>»Nicht so neugierig, mein Junge! Da, nimm!«</p> + +<p>»Erst will ich wissen, wo das herkommt.«</p> + +<p>»Denn nicht,« sagte sie und führte das Stück, das sie<span class="pagenum" id="Seite_40">[S. 40]</span> +ihm angeboten hatte, zum eigenen Munde. Aber er +griff schnell zu und packte ihre Hand.</p> + +<p>»Laß mich los!« rief sie und suchte sich frei zu +machen.</p> + +<p>Aber seine Hand hielt die ihre wie ein Schraubstock +umklammert.</p> + +<p>»Wenn du nicht auf der Stelle losläßt, beiß' ich,« +schrie sie und zeigte ihre Zähne.</p> + +<p>Er lachte kurz und spöttisch auf. Aber im nächsten +Augenblick sprang er mit einem Schrei in die Höhe, das +Schirmdach mit sich emporreißend. Sie hatte die +kleinen Beißer recht herzhaft in seinen Daumenballen +geschlagen.</p> + +<p>»Du bist ja 'n ganzer Satan!« knirschte er und hob +die Hand zur vergeltenden Backpfeife. Da sie sich aber +schnell unter den Schirm duckte, stapfte er mit großen +Schritten über die Ladung weg auf die andere Seite +des Bootes und setzte es mit dem Schieberuder in Bewegung. +Er hatte sein bitterbösestes Gesicht aufgesteckt +und sah mit Ausdauer an der Schwester vorbei.</p> + +<p>Diese saß schmausend auf der Segelbank, lugte unter +ihrem graugrünen Dach hervor und liebäugelte nach +dem Bruder hinüber. Sie hätte jetzt gern wieder Frieden +gemacht.</p> + +<p>Das Schiff glitt seine Bahn dahin. Das Planschen +des Moorwassers gegen den Bug und die engen Ufer +war mit dem Reiben des Stangenruders an der Bordwand +das einzige Geräusch in der Stille der winterlichen +Welt.</p> + +<p>Als Leidchen einsah, daß sie mit Äugeln die Aufmerksamkeit<span class="pagenum" id="Seite_41">[S. 41]</span> +seines in die Schneelandschaft starrenden +Leichenbittergesichts nicht auf sich lenkte, kletterte sie +ebenfalls über die Streuheide und suchte, indem ihre +Augen ein verführerisches Lächeln spielen ließen, ihm +ein Stück Schokolade zwischen die Lippen zu schieben. +Aber er hielt diese fest geschlossen. Da kitzelte sie ihm +mit den Fingern der linken Hand unter dem Kinn. +Und plötzlich schnappte er zu. Doch sie hatte, dies erwartend, +die Hand blitzschnell zurückgezuckt und nur die +Schokolade blieb zwischen seinen Zähnen.</p> + +<p>Lustig sprang sie über die Heide zu ihrer Bank zurück, +streifte die Schneeflocken aus dem Haar und lugte +triumphierend unter dem wieder aufgenommenen +Schirm hervor.</p> + +<p>»Na, wie schmeckt's?«</p> + +<p>»Oh ... nicht schlecht ... Deern, du bist 'ne kleine +Hexe!«</p> + +<p>Dabei lächelte er und sah nicht mehr an ihren schalkhaften +Augen vorbei.</p> + +<p>»Gut, daß du wieder artig bist. Nun sollst du auch +wissen, wo die Schokolade herkommt. Müllers Hermann +hat mir die Tafel geschenkt.«</p> + +<p>»Müllers Hermann?« wiederholte Gerd gedehnt.</p> + +<p>»Ja, ja, dein Freund Hermann.«</p> + +<p>»Mein <em class="gesperrt">Freund</em>?«</p> + +<p>»Ja, meinetwegen auch dein Feind.«</p> + +<p>»Leidchen, das wundert mich, daß der dir Schokolade +schenkt. Und noch mehr, daß du sie annimmst.«</p> + +<p>»Hahaha, kneifst du die Hände zu, wenn dir einer +was schenken will?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_42">[S. 42]</span></p> + +<p>»Ja, das wär' möglich. Von jedeinem ließ' ich mir +nichts schenken ... Aber sag', wie kommt der dazu?«</p> + +<p>»Gestern abend mußte ich doch Sirup holen, weißt +du, für unsern Buchweizenpfannkuchen. In Bollmanns +Laden traf ich Hermann, und er hatte sich gerade +drei Tafeln Schokolade gekauft. Draußen gab er mir +dann eine ab und sagte, ich sollte es nicht weiter sagen. +Und ich sag's sonst auch zu keinem.«</p> + +<p>»Leidchen, ich wollte, du hättest das Geschenk nicht angenommen. +Ich hätte dir dafür gern zwei Tafeln gekauft.«</p> + +<p>»Haha, das kannst du jetzt leicht sagen. Du hast +mir überhaupt noch keine Schokolade geschenkt.«</p> + +<p>»Schokolade wohl noch nicht, aber hab' ich dir nicht +neulich erst von der Konfirmandenstunde 'ne dicke Apfelsine +mitgebracht? ... Drei Groschen auf einmal für +solche Schnökerei ... Wo er das viele Geld wohl her +hat?«</p> + +<p>»Der? Och Junge, das wissen doch alle Leute, daß +seine Eltern gräsig reich sind. Meta Kück hat mir erzählt, +als sie Hochzeit gemacht hätten, hätte der große +Tewesbauer von Drömstedt ihnen die harten Taler man +so scheffelweise zugemessen. Und Anna Meyerdierks +sagt, es gäbe nicht viele im Dorf, die dem Müller kein +Geld schuldig wären, und wenn der Gerichtsvollzieher +käme, hätte er ihn beinah immer kommen lassen.«</p> + +<p>»Die Leute schnacken allerhand dummes Zeug,« sagte +Gerd trocken, indem er mit der rechten Hand an den +Fingern der linken zog und ein bedenkliches Gesicht dazu +machte.</p> + +<p>Ihre braunen Augen blitzten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_43">[S. 43]</span></p> + +<p>»Willst du damit sagen, er hätte sich das Geld genommen?«</p> + +<p>Als er die Achseln zuckte, rief sie empört: »Du, das +finde ich gar nicht schön von dir, daß du anderen Leuten +so was Schlechtes zutraust!«</p> + +<p>»Müllers Hermann traue ich nicht von da bis da,« +sagte er, indem er mit der Hand von einem Ufer des +schmalen Grabens zum andern zeigte.</p> + +<p>»Ich glaube, du bist bloß neidisch, weil er über dir +sitzt,« meinte sie lauernd.</p> + +<p>Er schüttelte langsam den Kopf: »Das ist mir einerlei. +Es ist ja auch nur, weil er dem Müller sein Sohn ist. +Was der alte Lenz für einer war, das wissen wir doch +wohl ... Leidchen, glaub' mir, ich habe die ganzen +Schuljahre bei ihm gesessen und kenn' ihn: der Junge +ist nicht echt. Ja, den Leuten die Augen zu verblenden, +das versteht er. In der Konfirmandenstunde sitzt er so +andächtig da und macht so'n scheinheiliges Gesicht, daß +der Pastor ihn gewiß für den frömmsten von uns allen +hält. Na, der sollte bloß wissen, was er unterwegs +manchmal für Reden führt! ... Wir andern müssen +alle tüchtig mit an die Arbeit. Aber der? Die ganzen +Nachmittage läuft er mit der Vogelflinte herum und +schießt nach den kleinen Lerchen, wenn sie zum Himmel +aufsteigen wollen, und auch sonst nach allem Lebendigen, +was ihm in die Quere kommt. Sein Vater +kümmert sich um nichts, und die Mutter ist in ihr einziges +Kind rein vernarrt. Darum ist er auch so bodenlos +frech ... Ich freue mich, daß er's heut' morgen mal +ordentlich gekriegt hat.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_44">[S. 44]</span></p> + +<p>»Ihr habt es reichlich schlimm gemacht. So viele +auf einen, das ist auch nicht gerade nett.«</p> + +<p>»Warum haben die anderen ihm nicht geholfen! Er +soll dich nur noch einmal ›schöne Adelheid‹ schimpfen, +dann lernt er mich erst kennen. So was einem Mädchen +anzuhängen! ...«</p> + +<p>Sie lachte hell auf.</p> + +<p>»Wenn einer mir nichts Schlimmeres anhängt, als +das, bin ich zufrieden ... Kuck mal!«</p> + +<p>Aus dem Stanniol der Schokolade hatte sie sich +einen breiten Fingerreif gefaltet und gebogen und hielt +nun die Hand mit dem silberglänzenden Schmuck in +die Höhe.</p> + +<p>»Was ist an solchem Narrenkram zu kucken ...« +sagte er verdrossen, den Gegenstand ihres Entzückens +kaum eines halben Blickes würdigend, während sie, das +Köpfchen schief haltend, noch eine Weile mit ihm liebäugelte.</p> + +<p>Es wehte plötzlich ein kälterer Lufthauch über das +Land, der die spärlichen Schneeflocken, die noch fielen, +vor sich hertrieb. Das Mädchen schauerte leicht zusammen, +stand entschlossen auf und sprang von der Koje +auf das Ufer hinüber. »Wo willst du hin?« fragte +Gerd verwundert. »Es wird kalt, ich lauf',« sagte sie +kurz und lenkte durch einen kleinen Obstkamp dem +Hause zu.</p> + +<p>Gerd sah mit nachdenklichen Augen hinter ihr her. +Sie schritt wie eine, die ihren eigenen Weg gehen will +und nicht sonderlich geneigt ist, sich gängeln und leiten +zu lassen.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">3.</h2> +<p><span class="pagenum" id="Seite_45">[S. 45]</span></p> +</div> + +<p>Zum viertenmal schickte Herr Timmermann einen +Jahrgang Brunsoder Jugend zur Einsegnung nach +Grünmoor, und zwar einen guten, den er ungern aus +den Händen ließ. Freilich, mit dem starken Geschlecht +war kein Staat zu machen. Dessen einziger Vertreter, +Jan Kassen vom Achterdamm, hatte in seinem welken +Gesicht ein Paar starre, blöde Augen und war auch +als Konfirmand nicht über die dritte Bank hinausgeklettert. +Aber die Mädchen! Glatt und schier waren +sie alle fünf, die am Gründonnerstagmorgen unbedeckten +Hauptes, funkelneue Gesangbücher und gefaltete +weiße Taschentücher in den Händen, die ungewohnten +langen Festkleider hoch aufgerafft, an der schimmernden +Birkenreihe des Kirchdamms entlang auf Grünmoor zuschritten. +Und eine von ihnen war so rank und schlank +gewachsen, schaute aus schmalem, rosig durchscheinenden +Gesichtchen so frank und frei, hell und warm in die Welt, +daß ein alter Heide- und Moorläufer mit jungen +Augen und Beinen, den der Tag zur ersten Vorfrühlingswanderung +verlockt hatte, abends in Bremen +seiner Frau erzählte: »Du, heut' morgen bin ich +unter den Moorbirken dem leibhaftigen Frühling begegnet.«</p> + +<p>Die Kinder hätten sich für ihre Einsegnung keinen +schöneren Tag aussuchen können. Ein herbfrischer Märzwind +strich ihnen über die jungen Gesichter, spielte mit<span class="pagenum" id="Seite_46">[S. 46]</span> +den losen Härchen, die den ordnenden Kämmen und +Bändern entschlüpft waren, entführte die heut' nicht gesparten +Haaröldüfte und jagte grüne Wellen über die +junge Saat der Ackerbreiten. Die Luft war voll Sonnenglanz +und von Lerchenjubel wie gesättigt. Über dem +Dunkellila des Birkengezweiges lagen schon die zarten +Schleier von grüner Seide, im ernsten Braun des +Hochmoors loderten lichtbraune Inseln blühenden +Gagels, die bewaldeten Höhenrücken der Geest standen +in der Ferne tiefblau und scharfumrissen gegen die sanfte +Bläue des wolkenlosen Himmels. Die Welt schien so +groß und weit, und den Kindern war ein wenig eng +und ängstlich ums Herz, aber auch wieder feiertäglich +ernst und freiheitsfroh, standen sie nun doch vor der +Tür, die sie aus der Schulstube in das Leben hinausführen +wollte. Mochte dieses auch keinem von ihnen +Großes und Außerordentliches zu versprechen haben, +an solchem Tage macht es nun einmal jedem ein verheißungs- +und geheimnisvolles Gesicht.</p> + +<p>Eine halbe Stunde, nachdem Leidchen Rosenbrock das +Haus verlassen hatte, machte sich auch ihr Bruder auf +den Weg. Er trug die Weste hoch am Halse geschlossen +und auf dem Kopf eine Tuchmütze mit blankem Schirm. +Seine dunkelgrauen Augen blickten stetig und verweilend, +harte Arbeit hatte die Züge seines langen, +schmalen Gesichts, zumal um den strengen Mund herum, +scharf herausgemeißelt. Mit weit ausgreifenden wiegenden +Schritten folgte er anfangs einem wenig begangenen +federnden Moorpfad. An Gesellschaft und +Unterhaltung lag ihm heute nichts. Er war keiner<span class="pagenum" id="Seite_47">[S. 47]</span> +von denen, die der Einsamkeit aus dem Wege gehen, +und wollte die Schwester zum Abendmahlstisch geleiten.</p> + +<p>Wer hätte das sonst tun sollen? Der Vormund +wohnte in einem anderen Dorfe und kümmerte sich um +nichts. Bruder Jan ging nicht ohne seine Frau, und +die lag mit ihrem vierten Kinde im Bett. Beta Rotermund, +die gute Nachbarin und Leidchens Patentante, +hatte mit ihrer Frühjahrserkältung zu tun. »Sie hat +keinen als dich,« hatte einst die Mutter gesagt, als sie +sterben wollte, und so war's wirklich gekommen.</p> + +<p>Es machte sich ganz von selbst, daß er eine kleine +Rechnung darüber aufstellte, was er schon alles für +seine Schwester getan hatte.</p> + +<p>Einen angenehmeren und besser bezahlten Dienst, +der ihm angeboten war, hatte er ausgeschlagen, um als +Knecht des Bruders ihr nahe zu bleiben, ein Auge auf +sie zu haben und sie anzuleiten. Wie manche Arbeit +hatte er ihr abgenommen, damit sie ungestört die Schularbeiten +machen konnte!</p> + +<p>Ob sie am Palmsonntag bei der Konfirmandenprüfung +so gut bestanden und besonders gelobt worden +wäre, wenn er an den Abenden des letzten Winters ihr +nicht immer die Lektionen abgehört hätte?</p> + +<p>Warum hatte er sich mehr und mehr von der Wildbahn +zurückgezogen, so daß er den Erwachsenen mit +seinen achtzehn Jahren als der solideste und vernünftigste +Bursch des Dorfes, dem Jungvolk dagegen als +Duckmäuser und Drögepeter galt? Der Schwester +wegen! Um sie, die sehr lebenslustig war und mit ihrer<span class="pagenum" id="Seite_48">[S. 48]</span> +Ausgelassenheit ihn manchmal fast bange machte, vermahnen +zu dürfen und in Schranken halten zu können, +hatte er sich selbst je länger desto mehr in acht genommen +und zurückgehalten.</p> + +<p>Dafür hatte er nun aber auch so viel im Sparkassenbuch, +wie wohl keiner seiner Altersgenossen. Im +Grunde war das Solide doch wohl das Beste, wenn +einer sich nur erst daran gewöhnt hatte.</p> + +<p>Gerd nickte ein paarmal wohlgefällig, er war recht +mit sich zufrieden. Und der liebe Gott, bei dem er heute +zu Gast gehen wollte, war es gewiß auch.</p> + +<p>Der einsame Moorpfad mündete endlich auf den belebteren +Damm, der die Kirchgänger der nördlichen +Kolonien des Kirchspiels sammelte.</p> + +<p>Eine Strecke war Gerd auf diesem dahingeschritten, +als plötzlich eine Klingel hinter ihm schrillte. Er trat in +die Birkenreihe, um den Radfahrer, der sich auf solche +Weise bemerklich machte, vorbei zu lassen. Aber dieser +sprang neben ihm ab und sagte munter: »'n Morgen, +Gerd.«</p> + +<p>»Ach so, du bist das, Hermann ...«</p> + +<p>Gerd hatte den alten Schulkameraden, der seit Jahren +auf einer Windmühle vor den Toren Bremens arbeitete +und selten nach Hause kam, lange nicht mehr gesehen. +Er wunderte sich, wie der Mensch sich herausgemacht +hatte. Ein Paar übermütige Augen lachten ihm aus +dem frischen, gebräunten Gesicht, das sogar schon der +Anflug eines Schnurrbärtchens schmückte, und dem der +kecke grüne Hut mit dem Spiel eines Birkhahns vortrefflich +stand.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_49">[S. 49]</span></p> + +<p>Der junge Müller schritt, das Rad schiebend, an +Gerds Seite.</p> + +<p>»Wie die Zeit hinläuft! Wir beiden sind nun schon +vier Jahr aus der Schule und müssen nächstens zur +Musterung. Und euer lüttjes Kinkindiewelt wird auch +schon konfirmiert.«</p> + +<p>»Ja,« sagte Gerd kurz und trocken.</p> + +<p>»Die Leute sagen, sie wär' eine bannig schmucke +Deern geworden. Kann's mir wohl denken, daß aus +dem gralläugigen Leidchen mit den Jahren 'ne ›schöne +Adelheid‹ geworden ist. Weißt du noch?«</p> + +<p>»Hast du dein leeges Maul noch immer nicht abgelegt?«</p> + +<p>»Mensch, was machst du für ein Gesicht? ... Ach so, +du willst heute fromm sein. Na, denn will ich nicht länger +stören. Grüß Leidchen von mir, und ich gratulierte +ihr vielmals. Adjüs.«</p> + +<p>Er sprang lachend auf sein Rad, riß den Hut ein +wenig in den Nacken und fuhr in gemächlichem Bummeltempo, +die linke Hand in die Seite gestemmt, davon.</p> + +<p>Über das winzige Kirchdörfchen — nur aus Pfarre, +Schule, einigen Gastwirtschaften und Kaufläden, sowie +einem knappen Dutzend kleiner Anbauerstellen bestehend, +ist es eins der kleinsten des Landes, während +das Kirchspiel eins der größten ist — schaute die frischvergoldete +Turmuhr her und zeigte an, daß bis zum +Beginn des Gottesdienstes noch eine gute halbe Stunde +blieb, weshalb Gerd seinen Schritt verlangsamte. Aber +plötzlich schlug er ein sehr schlankes Tempo an, das ihn +nach wenigen Minuten ins Dorf brachte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_50">[S. 50]</span></p> + +<p>An den Gruppen von Konfirmanden, die auf der +Straße vorm Pfarrhause sich bereits gesammelt hatten, +hinschreitend, suchte er seine Schwester heraus und +winkte sie zu sich. Sie kam nur zögernd und, wie es +schien, widerwillig. Als er ihr aber einige Worte zuflüsterte, +nickte sie zustimmend, trat an seine Seite, und +sie gingen schweigend die Dorfstraße hinunter. Durch +ein eisernes Tor bogen sie nach rechts auf die Lindenallee +des Friedhofs ab, umschritten die Kirche und +folgten einem Nebenweg, der sie zu einem hochragenden +Wacholder führte. Vor dem halb eingesunkenen, von +dichter Grasnarbe überzogenen Hügel zu seinen Füßen +blieben sie stehen. Gerd zog seine Schirmmütze und +hielt sie vor die Brust. Leidchen hatte die in schwarzen +Wollhandschuhen steckenden Hände über dem Gesangbuch +gefaltet. So standen sie wohl eine Minute. Dann +setzte er räuspernd die Mütze wieder auf, sie fuhr sich +mit einem Zipfel des weißen Einsegnungstaschentuches +über beide Augen, und schweigend gingen sie den Weg +zurück, den sie gekommen waren.</p> + +<p>Die Holzschuhe der Läuter polterten auf den Treppen +des Turmes, und kaum war der zehnte Schlag der Uhr +verhallt, da setzte die kleine Glocke, etwas vorlaut, auch +schon ein, und bald ließ auch die große ihre tiefen, vollen +Klänge vernehmen.</p> + +<p>Aber die Menge, die den breiten Lindenweg vom +Friedhofstor bis zur Kirche besetzt hielt, hörte weniger +auf das Geläute, das aus der Höhe kam, als auf das +Singen, dessen Klang der Frühjahrswind vom Pfarrhause +herüberwehte, und das sich langsam näherte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_51">[S. 51]</span></p> + +<p>Nicht weit von Gerd Rosenbrock stand die eheverlassene +Trina Kassen vom Achterdamm, die mit Heidquesten +durch die Dörfer ging. Als ihr Jan mit dem +unförmlichen Kopf und dem welken Gesicht, die Augen +starr im Gesangbuch, in der letzten Knabenreihe vorüberstolperte, +schossen ihr die Tränen in die Augen, die +sie dann mit dem verrunzelten Handrücken in ihren +grüngrau verschossenen Rock wischte.</p> + +<p>Gerd hatte die Frau stets ehrlich verachtet. Denn +ihren kleinen Hausierhandel benutzte sie als Deckmantel +für eine recht unverschämte Bettelei, durch die sie dem +Dorf in der Umgegend Schande machte. Aber wie er +jetzt die Freudentränen aus ihren blöden Augen stürzen +sah, da wallte es warm in ihm auf. Und als er bald +darauf seine Schwester so ernst und lieblich in dem feierlichen +Zuge vorüberwallen sah, als er ihre klare, schöne +Stimme aus dem Gesang heraushörte, da lief es ihm +schnell hintereinander kalt und heiß über den Rücken, +und er mußte ein paarmal mit den Augenlidern zwinkern, +um etwas zwischen ihnen zu verdrücken.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Wenn die Brunsoder zweimal den weiten Kirchweg +gemacht haben, gehört es für sie mit zur rechten Sonntagsruhe, +daß sie sich nach dem Mittagessen ein Stündchen +lang legen.</p> + +<p>»Du willst dich jetzt wohl ein bißchen ausruhen?« +fragte Gerd seine Schwester, als sie vom Tisch aufstanden.</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf: »Ach was, ich bin nicht ein +Spierchen müde.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_52">[S. 52]</span></p> + +<p>»Dann schlage ich vor, wir machen ein paar Schritte +zusammen über Feld. Wir beide haben heut' noch keine +fünf Minuten miteinander gesprochen.«</p> + +<p>Leidchen war gern dazu bereit.</p> + +<p>Festlich umstrahlte Gerd das saubere Weiß der +Hemdsärmel, während von unten das Rot funkelneuer +Ellernholzschuhe heraufleuchtete. Die zur Feier des +Tages mit besserem Tabak gefüllte Sonntagspfeife, auf +deren Kopf eine lachende Sennerin himmelblaue Augen, +kirschrote Wangen und schneeweiße Zähne zeigte, ließ +er nicht, wie sonst wohl, faul im Munde hängen, sondern +so oft er ein paar Züge getan hatte, nahm er sie +heraus, um sie am Daumen in das Armloch seiner Weste +zu hängen.</p> + +<p>Leidchen hatte sich im Sonnenwinkel hinter der +Scheune ein Veilchensträußchen gepflückt und erfreute +sich bald an dem süßen Duft, bald an der lieblichen +Farbe. Das lange Einsegnungskleid, in dem das Gehen +ihr noch unbequem war, trug sie hoch aufgerafft, so daß +die blanken Schnürstiefelchen und ein gut Teil des rotgesäumten +weißen Flanellunterrocks frei wurden.</p> + +<p>So schlenderten sie feiertäglich gemächlich den Weg +dahin, der die Rosenbrocksche Stelle der Länge nach +durchschneidet.</p> + +<p>»Die Saat steht über Jahr gut. Eine Krähe kann sich +schon drin verstecken,« sagte Gerd mit einem Kennerblick +über die Roggenbreiten und mit dem Behagen des +Landmanns, der seiner Mühe schönen Lohn winken +sieht. Leidchen nickte und ließ den warmen Glanz ihrer +braunen Augen still und träumerisch auf dem leuchtenden<span class="pagenum" id="Seite_53">[S. 53]</span> +jungen Grün ruhen. Viel zu reden spürte sie keine +Lust. Die Eindrücke des Vormittags wirkten leise nach, +und eine leichte Abspannung und Mittagsmüdigkeit +machte sich doch auch geltend.</p> + +<p>Vom Ackerland senkte der Weg sich zu den abgetorften +Gründen, die zu einem Teile in Wiesen verwandelt +waren, zum größeren aber schwarz und öde in gelbem +vorjährigem Riedgras und spärlichem Birkenanflug +lagen.</p> + +<p>Gerd war stehen geblieben, tat ein paar nachdenkliche +Züge aus seiner Pfeife, beschrieb mit ihr in der Luft ein +Quadrat und sagte:</p> + +<p>»Ein schönes Loch, was unsere Vorweser da schon ins +Moor hineingewühlt haben ... Als der erste Rosenbrock +— er hieß auch Gerd, hat Großvater, den du nicht +mehr gekannt hast, mir erzählt — von der Geest hierher +kam und da, wo jetzt unser Haus steht, seine Erdhütte +hinsetzte, fing er mit einer Ziege und einem halben +Dutzend Hühnern an. Wir sind gut vorwärts gekommen. +Manche hundert Taler haben wir hier aus dem +Moor herausgequält.«</p> + +<p>»Wie manchen Tropfen Schweiß das wohl gekostet +hat ...« sagte Leidchen nachdenklich.</p> + +<p>»Tropfen? Ich sage dir, Deern, viele hundert Eimer +voll.«</p> + +<p>»Na, na!«</p> + +<p>»In hundertundzwanzig Jahren? Ganz gewiß!«</p> + +<p>Schweigend standen sie und schauten auf die Arbeitsstätte +ihres Geschlechts.</p> + +<p>»Weißt du noch,« fragte nach einer Weile das Mädchen<span class="pagenum" id="Seite_54">[S. 54]</span> +leise, »wo Vater und Mutter ihren Torf gemacht +haben?«</p> + +<p>Er maß die schwarze Fläche mit den Augen ab. Dann +zeigte er mit dem Mundstück seiner Pfeife schräglinks +hinüber:</p> + +<p>»Das muß daherum gewesen sein, wo der alte Kienstubben +liegt. Ich mußte bei dir bleiben und dir was +vormachen. Du warst ein schrecklich unruhiges Kröt. +Einmal bist du mir direktemang in einen Graben gelaufen, +und ich hatte Not, daß ich dich wieder herausfischte. +Puh, wie du da aussahst! ... Wenn du dich gar +nicht mehr zugeben wolltest, kam Mutter, setzte sich auf +die Schiebkarre oder auf einen Torfhaufen und gab dir +die Brust. Du nahmst sie noch, als du bald drei Jahr +alt warst. Deern, Deern, was konntest du lutschen! Man +wurde beinah selbst durstig vom Zusehen. Darum bist +du auch so groß und stark geworden. Ich muß mich ganz +gerade machen, sonst kuckst du schon über mich weg.«</p> + +<p>Er richtete seine Gestalt, die gewöhnlich ein klein +wenig dem Torf zu geneigt war, stramm auf und betrachtete +die Schwester an seiner Seite mit Wohlgefallen +und nicht ohne Stolz. Indem es wie ein Schatten +über sein herausgearbeitetes Gesicht flog, fuhr er +leise fort: »Wenn Mutter diesen Tag noch mit erlebt +hätte ... wenn sie uns hier so sehen könnte ...«</p> + +<p>Leidchen schaute still und ernst in die sonnigen +Weiten des Frühlingsnachmittags.</p> + +<p>»Wie hat Mutter eigentlich ausgesehen?« fragte sie +nach einer Weile. »Ich kann mich gar nicht recht mehr +besinnen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_55">[S. 55]</span></p> + +<p>»Das glaub' ich dir gern,« versetzte er. »Als sie von +uns ging, warst du noch zu klein und dumm ... Die +braunen Augen hast du von ihr ... die runden Kuhlen +in den Backen auch ... Aber sie war besinnlicher als du +und nicht so flüchtig. So in der ganzen Natur hab' ich +wohl mehr von ihr abgekriegt ...«</p> + +<p>Sie hatten den abgetorften Grund inzwischen durchschritten +und kamen an die senkrecht abgestochene, oben +hellbraune und nach unten zu allmählich in Schwarz +übergehende Wand des Hochmoors. Ein aus dieser vorspringendes +Rechteck war bereits von der Heidedecke +befreit und für den Abbau vorbereitet.</p> + +<p>»Hier wollen <em class="gesperrt">wir</em> nach dem Fest wohl Torf machen?« +fragte Leidchen.</p> + +<p>»Stimmt,« sagte Gerd, an seiner fast erloschenen +Pfeife jetzt wieder kräftig saugend, »und du mußt tüchtig +mit 'ran. Trina hat sich das mal wieder höllschen +schlau eingerichtet, daß sie grad jetzt im Bett sitzen geht, +wo's an den Torf soll. Du sollst sehn, du mußt für zwei +pedden.«</p> + +<p>Sie zertrat lächelnd einen im Wege liegenden aufgeweichten +Torfsoden.</p> + +<p>»Wenn das Torfpedden mit so lüttjen Füßen man +ordentlich schafft ...« meinte er bedenklich.</p> + +<p>Sie streckte den linken Fuß vor, und indem sie ihn +zierlich kokett um den Enkel drehte, fragte sie: »Nicht +wahr? Ich hab' niedliche Füße.«</p> + +<p>»Wie 'n Kind von zehn Jahren,« meinte er trocken, +ohne die geringste Bewunderung.</p> + +<p>»Kleine Füße sind aber was Feines.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_56">[S. 56]</span></p> + +<p>Er zuckte mit den Achseln: »In Bremen auf der +Sögestraße wohl. Aber hier ins Moor gehören feste, +breite Hüften und ein Paar reelle Füße. Diesen weichen +Weg zum Hochmoor hinauf kannst du mit solchen +Dingern, die in solchen Stiefeln stecken, zum Beispiel überhaupt +nicht gehn. Du bleibst einfach im Matsch stecken.«</p> + +<p>»Dann mußt du mich hinauftragen, in deinen breiten +Hollschen. Nach unseren Fuhren möcht' ich zu gern mal +wieder. Ich bin den ganzen Winter nicht hingekommen. +Bitte, pack' zu!«</p> + +<p>»Die Zeiten haben wir gehabt,« meinte er lächelnd.</p> + +<p>Aber sie drängte sich ihm lachend in die Arme, und +endlich tat er ihr zögernd den Willen. Tief sanken die +schönen roten Holzschuhe in den braunen Brei des steil +hinaufführenden Weges und rissen sich nur schwer unter +hohlem Glucksen wieder los.</p> + +<p>Als er seine Last oben auf festen Grund stellte, atmete +er tief auf: »Deern, ich hätte nicht gedacht, daß du so +klotzig schwer wärst.«</p> + +<p>»Hundertundsieben Pfund Lebendgewicht,« lachte sie, +wobei die Grübchen ihrer Wangen sich vertieften und +zwischen den frischroten Lippen die weiße Perlreihe +ihrer Zähne blitzte. »Du meintest wohl, ich wär' noch +immer ein Kind?«</p> + +<p>»Aus Kindern werden Leute,« sagte er gelassen und +sah sie an. Die knospenden jungfräulichen Formen, die er +gefühlt hatte, als sie eben in seinen Armen lag, verrieten +sich auch schon dem Auge.</p> + +<p>Erfreut beugte Leidchen sich zur Erde und pflückte zu +dem Veilchenstrauß in ihrer Hand einige Stengel der<span class="pagenum" id="Seite_57">[S. 57]</span> +eben aufblühenden Rosmarienheide, deren zartes Rosa +den Rand des Hochmoors schmückte. Ihrem Bruder +steckte sie ein Sträußchen in ein Knopfloch der Weste.</p> + +<p>Der Weg führte jetzt durch wucherndes Heidekraut, +blühenden Gagel, mit silbernen Kätzchen übersäte +Zwergweiden und grünumsponnenen Birkenanflug auf +eine waldartige Gruppe von Kiefern zu. Die Bäume +waren für ihre Art niedrig geblieben, weil der zähe +Moostorf keine Pfahlwurzeln aufnahm, hatten aber in +langsamem Wachstum starke Stämme, schön geformtes +rotes Astwerk und breite, reichbenadelte, dunkelgrüne +Kronen gebildet. Ein erfrischender Harzduft erfüllte in +ihrem Bereich die warm durchsonnte Luft, in der schon +allerhand kleines Getier fast sommerlich durcheinander +schwirrte.</p> + +<p>Die Geschwister schlenderten, vom Wege abbiegend, +in das Gehölz hinein und kamen bald zu einem Baum, +der vor Jahren vom Sturm geworfen war, aber bei +einem getreuen Nachbarn Halt und Stütze gefunden +hatte. Da der Moostorf ein gut Teil seiner Wurzeln +festhielt, war er grün geblieben, weshalb Axt und Säge +ihn einstweilen verschont hatten. Manches liebe Mal +war Leidchen den breiten schrägen Stamm, die Zweige +als Leitstangen benutzend, hinangestiegen und hatte von +einer Art grüner Kanzel aus, die beide Bäume in +einiger Höhe bildeten, in die weite, offene Landschaft +hinausgeschaut.</p> + +<p>Sie setzte den Fuß auf den Stamm, wiegte den +Oberkörper nach vorn und sah den Bruder schelmisch an: +»Soll ich?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_58">[S. 58]</span></p> + +<p>»Du bist kein Kind mehr,« sagte er trocken.</p> + +<p>»Aber auch lange noch keine alte Großmutter,« lachte +sie klingend. »Es ist so klare Luft; ich glaube, heut' kann +man oben die Türme von Bremen sehen.«</p> + +<p>Sie schwankte noch, ob sie hinaufsteigen sollte oder +nicht, und hätte sich wohl dagegen entschieden, wenn +Gerd ihr nicht mit vernünftigen Gründen, unter Erinnerung +an den Ernst des Tages und ihr schönes +schwarzes Kleid, vom Aufstieg abgeraten hätte. Das +aber gab der Sache den Reiz des Verbotenen, und sie +kletterte, mit der einen Hand sich an den Zweigen haltend, +mit der anderen ihr Kleid in acht nehmend, den +Stamm hinan.</p> + +<p>Als sie glücklich auf ihrem Luginsland angekommen +war, lachte sie mit übermütigen Augen auf den unten +Stehenden herab: »Steig mir doch nach, Junge! Hier +oben ist Platz für zwei.«</p> + +<p>Er stieß verdrießlich mit der Spitze seines Holzschuhs +gegen den Stamm und brummte irgend etwas.</p> + +<p>Leidchen richtete sich auf, um über einen Zweig, der +sich in Augenhöhe vorüberzog, hinweg den freien Ausblick +zu gewinnen.</p> + +<p>Plötzlich rief sie jauchzend: »Oh, oh! Die Türme von +Bremen! So groß und klar hab' ich sie von hier noch +nie gesehen.«</p> + +<p>Gerd schaute zu der schlanken, von grüngoldigem Licht +umflossenen Mädchengestalt auf, die sich schützend die +Hand über die Augen hielt und die Blicke wie sehnsüchtig +in die Ferne sandte.</p> + +<p>»Flieg mir bloß nicht weg, du da oben!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_59">[S. 59]</span></p> + +<p>»Oh, das möchte ich wohl!«</p> + +<p>Sie hob die Arme, als ob es Flügel wären.</p> + +<p>»Ein Glück, daß du keine richtigen Flünke hast,« +spottete er.</p> + +<p>»Schade, schade! Wenn ich ein Vöglein wär! ... Aber +in die Welt hinausfliegen kann einer auch ohne Flügel.«</p> + +<p>»Nun schnack man bloß kein dummes Zeug und komm +wieder 'runter!«</p> + +<p>Noch einmal durchmaßen ihre Augen die lichte, +lockende Ferne. Dann begann sie mit großer Vorsicht +den Abstieg.</p> + +<p>Gerd freute sich ihrer Schwierigkeiten und priesterte, +er hätte ja gleich gesagt, sie sollte unten bleiben, aber +sie hätte natürlich mal wieder nicht hören wollen.</p> + +<p>Bis über die Mitte des Stammes war die Sache gut +gegangen. Aber da glitt sie plötzlich aus und kam ins +Fallen. Gerd, mit schneller Geistesgegenwart hinzuspringend, +fing sie in seinen Armen auf, wurde aber +von der Wucht des Falles mit zu Boden gerissen.</p> + +<p>Keiner hatte sich Schaden getan, und als sie das festgestellt +hatten, lachte Leidchen auch schon wieder, bis +Gerd mit strengem Gesicht auf ihr Kleid hinzeigte: »Kuck +mal da!«</p> + +<p>Erschrocken hielt die die Ränder eines ansehnlichen +rechteckigen Risses gegeneinander.</p> + +<p>»Ja, so hat's gesessen,« spottete er, »du großes Mädchen +solltest dich tüchtig was schämen.«</p> + +<p>Ihre Augen füllten sich mit Tränen, während er noch +eine Weile fort moralisierte. Aber bald, als er sah, wie +ihr das Unglück zu Herzen ging, fing er an zu trösten.<span class="pagenum" id="Seite_60">[S. 60]</span> +Sie hätte im Handarbeitsunterricht bei Fräulein Timmermann +das Flicken und Stopfen ja gründlich gelernt +und letzten Winter ihm den Riß in seiner Sonntagshose +so fein zugemacht, daß man ihn überhaupt nicht wiederfinden +könnte.</p> + +<p>Aber ihre gute Laune war dahin. Den Blumenstrauß, +den sie vor der verunglückten Kletterei zur Seite gelegt +hatte, nahm sie nicht wieder auf, obgleich Gerd sie daran +erinnerte. Die Hand an dem Riß, trat sie mit +ärgerlichem Aufstampfen der kleinen Füße den Rückweg +an.</p> + +<p>Eine Strecke waren sie stumm nebeneinander geschritten, +da sagte sie verdrossen: »Das ist viel zu wenig, +was ihr mir als Lohn geben wollt.«</p> + +<p>Gerd fand fünfundzwanzig Taler für das erste Jahr +ganz anständig. Später müßte Jan natürlich auflegen +und würde es gewiß auch tun.</p> + +<p>»Später? Es soll nicht lange dauern, so geh' ich in +die Stadt.«</p> + +<p>»Wie kommst du mit einemmal auf solche Grappen?« +fragte er verwundert.</p> + +<p>»Von den Mädchen, die heute mit mir konfirmiert +sind, gehen sechs schon zum ersten Mai hin.«</p> + +<p>»So—o?«</p> + +<p>»Gerkens Minna aus Moorwede fängt mit vierzig +Talern an und braucht dafür bloß ein bißchen wischen +und fegen. Und Meyerdierks Line aus unserem Dorf +hat im dritten Jahr schon fünfundsechzig.«</p> + +<p>»Und 'n lüttjen Vogel dazu, sagen die Jungens.«</p> + +<p>»Pah, was fragt die nach euch Jungens!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_61">[S. 61]</span></p> + +<p>»Na, ich denk', freien will sie am Ende doch auch mal.«</p> + +<p>»Das kann sie in der Stadt grad so gut haben als hier. +Ja, noch viel besser! Rugens Beta hat 'n Schaffner an +der Elektrischen gekriegt, und Lachmunds Minna ihr +Mann ist sogar Angestellter an der Eisenbahn.«</p> + +<p>»Dann ist er auch recht was. Mir ist ein Stellbesitzer, +der seine sechzig Morgen eigenen Grund und Boden +unter den Füßen hat, zehnmal so lieb wie einer, der +den ganzen Tag auf der Elektrischen mit den Groschen +klötern oder auf dem Bahnhof die Eisenbahnräder +schmieren muß. Überhaupt, Deern, du kannst von der +Stadt noch gar nicht mitschnacken, hast ja von ihr noch +nichts gesehen als die Türme, von dem alten schiefen +Fuhrenbaum aus. Ich bin wohl hundertmal in Bremen +gewesen, und jedesmal, wenn ich meinen Torf verkauft +habe und mein Schiff wieder aus dem Torfhafen hinausstaken +kann, bin ich von Herzen froh. Das Stadtleben +ist für unsereinen nichts.«</p> + +<p>»Du könntest mich im Herbst wohl mal mitnehmen, +zum Freimarkt.«</p> + +<p>»Hm, das will ich mir überlegen ... Ja, wenn du +schön artig und folgsam bist, und den Sommer über +ordentlich fleißig, darfst du mal mit,« sagte er etwas +gönnerhaft. »Du sollst sehen, wie schnell unsereinem die +engen Straßen und die vielen Menschen über werden.«</p> + +<p>»Das wollen wir erst mal abwarten,« meinte sie.</p> + +<p>Zu Hause angelangt, fanden die Geschwister die +Stube voller Nachbarsleute, die zum Gratulieren gekommen +waren. Die Frauen benutzten zugleich die Gelegenheit, +der Wöchnerin ihren pflichtmäßigen Besuch<span class="pagenum" id="Seite_62">[S. 62]</span> +abzustatten. Die üblichen Wochengeschenke an Butter, +Gebäck und Zucker hatten sie mitgebracht.</p> + +<p>Leidchen setzte sich still und sittsam, wie es einer neukonfirmierten +jungen Christin ziemt, auf einen Stuhl +und gab sich Mühe, das Loch in ihrem Ehrenkleide zu +verbergen. Aber Meta Frerks hatte zu gralle Augen, +die entdeckten es bald, und es erhob sich ein großes +Hallo. Zuletzt sorgte Beta Rotermund für eine Ablenkung, +indem sie ihres Patenkindes Gedenkblatt herumreichte. +Dieses zeigte in Schwarzdruck das Bild des +guten Hirten und in roten Buchstaben den Spruch +Phil. 4, 8: Was wahrhaftig ist, was ehrbar, was gerecht, +was keusch, was lieblich, was wohl lautet, ist etwa eine +Tugend, ist etwa ein Lob, dem denket nach.</p> + +<p>Die Frauen fanden Bild und Spruch sehr schön, +meinten, Leidchen sollte man recht danach tun, und +Tischler Kortjohann in Worpswede würde das Gedenkblatt +gut und billig einrahmen.</p> + +<p>Als die Nachbarn fort waren, kleideten Bruder und +Schwester sich schnell um, die Kühe zu melken. Ritterlich +kroch Gerd unter die schwierigsten Tiere, und in dem +warmen, dämmerigen Dunst des Stalles zischte die +Milch unter gleichmäßigem Stripp-Strull in die Eimer.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">4.</h2> +<p><span class="pagenum" id="Seite_63">[S. 63]</span></p> +</div> + +<p>Grau und bleich dämmert der Morgen auf Rosenbrocks +Herddiele, wo die junge Magd, verschlafen +und herzhaft gähnend, im roten Schein des flackernden +Feuers steht und einen in mächtiger schmiedeiserner +Pfanne pretzelnden daumdicken Buchweizenpfannkuchen +bewacht. Auf der fast noch in nächtlichem Dunkel +liegenden Viehdiele, von der Kettengeklirr und der +dumpfe Schall an die Stallbäume stoßender Hörner +kommt, wirft jemand, auf Holzschuhen hin und her +gehend, den Kühen vor. Das Hühnervolk ist auch schon +wach. Zwei Hähne krähen in grobem Baß und frechem +Diskant gegeneinander an.</p> + + +<p>Den langen Winter über hat diese Frühstunde Haus +und Dorf in tiefstem Schlaf gefunden. Aber gestern war +der zweite Ostertag, und heute soll die Torfernte beginnen. +Da hat Feiern und Ruhen und langes Schlafen +erst mal ein Ende.</p> + +<p>Als die Sonne über die fernen Geesthöhen heraufkommt, +sind Rosenbrocks schon hinten im Moor.</p> + +<p>Leidchen, vom weißen Schleierhut umweht, in kurzärmeliger +roter Flanelljacke und kurzem dunkelblauen +Beiderwandrock, ist dabei, mit der Forke, deren Zinken +im jungen Licht blitzen, eine abgetorfte Fläche nachzuebnen +und als Platte für den schwarzbraunen Riesenkuchen, +der hier gebacken werden soll, vollends herzurichten. +Und schon kommt auf eisenbeschlagenen Holzschienen +das erste Wägelchen, hoch bepackt mit dem<span class="pagenum" id="Seite_64">[S. 64]</span> +klumpigen zähen Teig, den Jan drüben an der Hochmoorwand +losgestochen hat, hurtig angerollt, Gerd +hemdärmelig im Laufschritt hinter ihm her.</p> + +<p>So hat jeder seine Arbeit und wird sie auf Wochen +hinaus behalten. Jan, der Bauer, gräbt, Gerd, der +Knecht, fährt und ladet die Torfmasse auf und ab, Leidchen, +die Magd, breitet sie, die Stücke auseinanderschlagend, +-zerrend, -tretend, in der Sonne aus.</p> + +<p>Nach drei Stunden wird im Schutz der Hochmoorwand, +über die der frische Frühlingswind hinstreicht, +gefrühstückt: Brot, Butter, Sülze nebst Kaffee aus der +umwickelten Blechflasche. Jans Zähne mahlen langsam +und gründlich, und als sie ihre Arbeit getan haben, +starren seine Augen ein paar Minuten regungslos ins +Leere. Gerd und Leidchen sind inzwischen den Rand des +Hochmoors hinaufgeklettert und halten, die Hände beschattend +über der Stirn, Ausschau. Drüben, jenseits +des Grenzgrabens, sind Rotermunds an der Arbeit, alle +Mann hoch; nur Frau Beta hütet das Haus. Hinter +ihnen Wöltjens, dann Frerks, weiterhin Böschens, und +so weiter, wie sie in der Dorfreihe hintereinander +wohnen. Den schwarzen Grund zwischen grünem Ackerland +und braunem Heidemoor füllt ein buntes Gewimmel +fleißig sich regender Menschen. Überall blinken +Spaten in der Sonne, glänzen Hemdsärmel, schimmern +bloße Mädchenarme, flattern Schleierhüte. In einer +jungen Birke sitzt eine Krähe und krächzt: »Torf, Torf, +Torf!« Die alte Gevatterin weiß Bescheid. »Torf, Torf, +Torf« ist für ganz Brunsode bis gegen Pfingsten Losung +und Feldgeschrei.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_65">[S. 65]</span></p> + +<p>Schon wankt Jan wieder der Torfkuhle zu, und sein +Jungvolk begibt sich ebenfalls an seine Posten.</p> + +<p>Die Sonne ist dran, ihre Mittagshöhe zu erklimmen. +Da sendet Leidchen, je länger desto häufiger, verstohlene +Blicke über die grünen Saaten heimwärts, und zwar +nach einer Stange, die hoch und kahl zwischen Scheune +und Griesbirnenbaum aufragt. Wenn die aus einem +abgängigen Mannshemd geschnittene weiße Flagge an +ihr hochgeht, hat Trina, die gestern wieder aufgestanden +ist, das Mittagbrot fertig.</p> + +<p>Endlich erscheint das erwünschte Zeichen. »Mittag!« +ruft Leidchen mit heller, klingender Stimme den +Brüdern zu.</p> + +<p>Jan stößt den Spaten in die Torfkuhle, Gerd läßt den +Wagen auf den Gleisen stehen, beide ziehen die Jacken +über. Mit munteren Schritten eilt Leidchen vorauf. +Aber die Männer haben einmal ihren festen Tritt, aus +dem so leicht nichts sie herausbringt.</p> + +<p>Auch Knecht und Magd gebührt in der Zeit der +Torfernte nach Mittag eine Stunde Bettruhe. Kaum +hat Leidchen den Kopf in ihr Kissen gewuschelt, da ist sie +auch schon weg; so hat die Frühjahrsluft die jungen +Glieder müde gemacht. Aber auf die Minute pünktlich +packt Frau Trina sie am Arm, schnell gibt's eine Tasse +Kaffee, und wieder geht's ins Moor hinaus. Und wieder +gluckst und ächzt unter dem Spaten der in tausendjähriger +Ruhe gestörte feuchte Moosboden, wieder klappert +der Wagen über die Schienen, und weiter dehnt +sich die an der Sonne hingebreitete schwarzbraune +Masse.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_66">[S. 66]</span></p> + +<p>Nach dem Vesperbrot machen sechs breite Holzschuhe +sich über sie her, trampelnd und tretend, peddend und +knetend, kreuz und quer, von rechts nach links und von +links nach rechts, bis endlich schmale Schabeisen den gut +durchgearbeiteten Teig vollends eben und glatt machen.</p> + +<p>Und endlich, endlich — das Abendrot ist stark am +Verglühen, Rotermunds haben schon vor einer Viertelstunde +Feierabend gemacht — schleppen drei zum Umfallen +müde Menschen ihre bleischweren Glieder heimwärts. +Den Augen, die den Tag über nichts gesehen +haben als den triefenden braunen Brei, tut der grüne +Glanz der Felder wohl, und die jüngeren senden über +ihn hinweg auch wohl einmal einen Blick in die Ferne, +in die letzten roten Gluten des Tages, der Abschied genommen +hat.</p> + +<p>Gagel, Weide und Rosmarienheide blühen und verblühen. +Die weißen Schleier des Wollgrases wehen über +den schwarzen Gründen und werden von den Winden +zerzaust. Das Birkengrün bricht mit Macht hervor, +leuchtet im schönsten Jugendschimmer über dem Braun +des Hochmoors und nimmt allmählich seinen matteren +Sommerglanz an. Die Kiefern stecken ihre Kerzen auf, +und die Moorheide hängt die ersten Glöckchen aus. Und +noch immer sind die Menschen vom dämmernden Morgen +bis in die sinkende Nacht — ach! und die Tage +werden immer länger — dabei, den schwarzbraunen +Kuchen auszudehnen, den halbgaren mit armlangen, +haarscharfen Messern zu zerschneiden, die Stücke auf- +und umzusetzen, damit die große Torfbäckerin, die +Sonne, mit ihren Gesellen, den Winden, von allen<span class="pagenum" id="Seite_67">[S. 67]</span> +Seiten herankommen und sie durch und durch hart und +trocken backen kann. Regenschauer und Sonnenbrand, +Stürme und Gewitter lassen sie geduldig über sich ergehen, +werden heiß und kalt, naß und wieder trocken, +nur auf das eine bedacht, den Schatz, den die gütige +Natur Jahrtausende hindurch in faulenden Sumpfmoosen +angelegt und aufgespeichert hat, zu heben und +in das liebe tägliche Brot zu verwandeln.</p> + +<p>Wenn jemand zur Winterszeit hinter dem warmen +Ofen vom Frischgeschlachteten ein bescheidenes Fettschichtchen +angesetzt hat — du liebe Güte! wo ist das +geblieben? Die gebräunten Gesichter, in deren Furchen +sich der Torfstaub eingenistet hat, erscheinen wie gemeißelt. +Die Augen sind stumpfer und leerer geworden. +Hier und da fühlt einer, der schon etwas in die Jahre +gekommen ist, ein verdächtiges Reißen in den Gliedern +und denkt mit heimlicher Furcht daran, ob die Zukunft +ihn nicht auch wie den kaum fünfzig Jahre alten Jan +Ebbers Nr. 14 gichtisch verkrümmt und arbeitsunfähig +im Liegestuhl finden wird. Das Moor ist nicht so freundlich +entgegenkommend wie die rindernährende Marsch +oder auch nur wie die angrenzende Geest. Billig gibt es +seinen Kindern das tägliche Brot nicht her.</p> + +<p>Es ist ein stiller, warmer Sommerabend Anfang +Juni. Der Mond, der voll und schön am wolkenlosen +Himmel steht, läßt die Wiesennebel und, von ihnen umhüllt, +zwei schlanke, weiße Mädchenleiber blausilbern +aufleuchten, die in einem Graben spaddelnd und planschend, +unter Lachen und Scherzen, den Staub und +Schweiß der Torfbackezeit gründlich abspülen. Dem<span class="pagenum" id="Seite_68">[S. 68]</span> +Wasser entstiegen, springen sie in der Wiese umher wie +ein paar junge Füllen. Wie vom Dorf her eine Handharmonika +erklingt, umfangen sich die beiden zu einem +Tänzchen. Leicht und graziös hüpfen die Füßchen, die +so lange in den schweren Brettholzschuhen gesteckt und +Torf geknetet haben, über den glänzenden Plan. Von +Kopf bis zu Fuß frisch und sauber gekleidet, das gebündelte +Arbeitszeug in der Hand, schlendern die jungen +Dinger dann endlich plaudernd, Arm in Arm, der +Dorfreihe zu. Auf der Eichenbohle über Rosenbrocks und +Rotermunds Grenzgraben bleiben sie, an die Leitstange +gelehnt, stehen, der benachbarten Gehöfte junge Mägde, +schauen in den Glanz des Nachtgestirnes und seines +Spiegelbildes in dem ruhenden Gewässer und lauschen +der Nachtigall, die wie alljährlich um diese Zeit drüben +im Birkengebüsch um Wöltjens Backofen ihre süßen +Lieder singt.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Es wird Zeit, das schwarze Erntefeld mit dem grünen +zu vertauschen. Denn die liebe Sonne backt nicht nur +Torf; gleichzeitig hat sie auf den Wiesen süße, saftige +Gräser und Kräuter in reichlicher Fülle hervorgelockt.</p> + +<p>Was die Brunsoder an Grünland dem Moor abgewonnen +haben, gibt einstweilen nicht viel mehr her, +als bei der sommerlichen Grünfütterung draufgeht. Der +Heuvorrat für den Winter muß an der Hamme geerntet +werden. Dieser westliche Grenzfluß des Moorgebiets, +der die Schiffgräben der Dörfer aufnimmt und, durch +Kanäle mit Bremen verbunden, die wichtigste Verkehrsader +der Gegend darstellt, fließt durch ein breites<span class="pagenum" id="Seite_69">[S. 69]</span> +Wiesental, das den Winterbedarf der Moordörfer weithin +deckt. Jan Rosenbrock hat dort, drei Wegstunden von +seinem Gehöft entfernt, fünf Tagwerk Wiesen gepachtet.</p> + +<p>Als nach einer Regen- und Gewitterwoche das +Wetterglas endlich wieder anfing zu steigen, machten +Gerd und Leidchen sich eines Morgens vor Tau und +Tag auf den Weg, um mit der Heuernte zu beginnen. +Jan wollte am nächsten Tage nachkommen.</p> + +<p>Auf dem schmalen Leinpfad gehend, schob Gerd hemdärmelig +mit dem eingestemmten Stangenruder sein +Schiff den Graben hinab vor sich her. Geräuschlos glitt +es durch den Schatten der Hofbrücken, mit Gebrause +schoß es über die beweglichen Stauklappen, die man alle +paar hundert Meter angebracht hat, um den Graben +schiffbar zu erhalten und das Land nicht gar zu stark +zu entwässern. Leidchen schritt in Schleierhut und hellblauem +langen Sommerkleid munter vor dem Bruder +her und sah nach links zu den Gehöften hinüber, die +teils noch schliefen, teils eben für den neuen Arbeitstag +erwachten. Hier und da rüstete man gleichfalls zur +Fahrt ins Heu.</p> + +<p>Das letzte Gehöft in der Reihe war das des Müllers. +In einem leidlich gepflegten Garten mit altem Baumbestand +lag das stattliche, massive Wohnhaus. Ein +größeres Rosenbeet stand gerade in voller Blüte. Die +aufgehende Sonne, die eben ihre ersten Strahlen durch +das sommerliche Grünen und Blühen sandte, ließ eine +große Glaskugel farbig aufleuchten.</p> + +<p>»Ein feiner Platz,« sagte Leidchen bewundernd.</p> + +<p>»Wenn einer sich 'ne reiche Bauerndeern von der<span class="pagenum" id="Seite_70">[S. 70]</span> +Geest freit,« meinte Gerd brummend, »ist es keine +Kunst, seinen Kram in Schick zu haben. Aber die Leute +sagen, das Geld wär' bald wieder alle. Na, bis dahin +ist Hermann ja wohl so weit und kann wieder so 'ne +fette Geestkuh einschlachten, oder eine noch fettere +Marschkuh.«</p> + +<p>»Pst!« machte Leidchen.</p> + +<p>Im Garten, der bis hart an den Schiffgraben reichte, +war ein Räuspern, Husten und Spucken laut geworden, +und gleich darauf tauchte ein untersetzter Mann aus dem +Gebüsch, dessen rotes Gesicht mit einiger Sicherheit auf +eine Vorliebe für starke Getränke schließen ließ. Er +schlarrte in großblumigen Filzpantoffeln über die mit +weißgestrichenem Geländer versehene Hofbrücke der +Mühle zu, die jenseits des Dammes ihre mächtigen +Flügel im Morgenwind drehte.</p> + +<p>Der Müller bemerkte die beiden Heufahrer wohl, +schenkte ihnen aber so wenig Beachtung, daß diese es +nicht für nötig hielten, ihm die Tageszeit zu bieten.</p> + +<p>»Das ist ja 'ne ganz schlimme Gegend,« sagte Leidchen +beinah ängstlich.</p> + +<p>Kaum war er in der Mühle verschwunden, so unterbrach +die Morgenstille ein polterndes Schelten. Was +der Müllergesell zu seiner Verteidigung vorbrachte, +machte die Aufregung seines revidierenden Herrn nur +noch schlimmer. Indes Gerd und Leidchen nach dem +Wortwechsel hinhorchten, kam von der Gartenseite her +eine starke Tigerdogge an den Graben gesprungen, die +heiser bellend und die Zähne fletschend das Schiff eine +Strecke begleitete.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_71">[S. 71]</span></p> + +<p>Gerd lachte kurz und trocken auf: »Ja, der Müller +und sein Packan, die sind einer des andern wert.«</p> + +<p>»Stolz, glaub' ich, ist der Mann auch. Er hat uns +knapp angekuckt.«</p> + +<p>Gerd machte ein Gesicht wie einer, der Welt und +Menschen kennt, und sagte: »Die Geldsäcke sind alle so.«</p> + +<p>Eine gute Stunde später traten die Geschwister in das +Schiff, das jetzt aus dem schmalen Graben in den Hammefluß +hinausglitt. Während Leidchen sich vorn auf +dem Verdeck der Koje niederließ, legte Gerd, nachdem er +den Mast gerichtet und das braune Segel freigemacht +hatte, sich hinten an das eingehängte Steuerruder, froh, +daß der Wind ihm verstattete, seine Kraft für die Arbeit +des Tages zu sparen.</p> + +<p>Leidchen hatte bislang während der Heuernte zu +Hause Kinder hüten müssen. Zum erstenmal sah sie den +glitzernden, flimmernden Wasserspiegel, das weite grüne +Wiesental, die wogenden Schilfwälder des Ufers, die +Flug- und Kampfspiele des Sumpfgevögels und blickte +mit frohen, hellen Augen um sich. Die Fragen, deren sie +eine über die andere stellte, beantwortete der Bruder, +sein Pfeifchen rauchend, mit der gelassenen Ruhe des in +der Welt sich auskennenden Mannes und mit seinem +Element vertrauten Schiffers. Das Gefühl der Überlegenheit, +das dem lebhaften und geistig regen Mädchen +gegenüber zu behaupten ihm nicht immer leicht wurde, +konnte er hier einmal nach Herzenslust auskosten, und +das versetzte ihn in die allerbeste Laune, so daß er die +Rede auch auf die größere Fahrt brachte, die er ihr für +den Herbst versprochen hatte. Auf dem Bremer Freimarkt,<span class="pagenum" id="Seite_72">[S. 72]</span> +ja, da würde sie erst Augen machen! Und sie +stützte die Arme auf die Knie und das Kinn in die Hände +und lauschte wie ein Kind, dem das schönste Märchen erzählt +wird, wie er von Puppenspielern, Zirkusreitern, +Meerjungfrauen, Riesenweibern, dressierten Flöhen und +anderen Weltwundern berichtete, die er ihr dort zeigen +würde.</p> + +<p>»Nun wollen wir erst mal frühstücken,« sagte er dann, +indem er die totgesogene Pfeife weglegte. Leidchen ließ +sich neben ihm nieder, hielt den straff gepackten Lederholster, +den sie der Koje entnommen hatte, auf dem +Schoß und packte aus. Inzwischen hatte Gerd das +Steuerruder herumgerissen, und das Schiff lief, während +sie wacker schmausten, einen breiteren Wiesengraben +aufwärts. Als sie wieder einpackten, waren sie +am Ziele.</p> + +<p>Und nun machten sie sich hurtig und munter an ihr +Tagewerk. Auch Leidchen griff zur Sense, die sie, an +das Kuhfuttermähen von früh an gewöhnt, nicht übel +handhabte. Jedoch in dem Bestreben, mit dem Bruder +Schritt zu halten, ermüdete sie schnell und nahm bald die +ihrem Geschlecht und Alter mehr angemessene Harke zur +Hand, um aber zwischendurch immer wieder ein paarmal +auf und ab zu mähen. Nach dem wochenlangen +Wühlen in feuchten, schwarzen Torfgründen machte ihr +die Arbeit auf der sonnbeglänzten grünen Blumenwiese +mit dem heute so gutgelaunten Bruder und ohne den +meist einsilbig mürrischen Halbbruder und Dienstherrn +Freude und Spaß.</p> + +<p>Der Morgenwind ging bald zur Ruhe, und immer<span class="pagenum" id="Seite_73">[S. 73]</span> +heißer brannte die Sonne auf den grünen Plan. Mehr +als einmal wurde die im Uferschilf geborgene Blechkanne +herausgezogen und der trockene Gaumen durch +einen Schluck kalten Kaffees angefeuchtet. Als die +Sonne ihre Mittagshöhe erreichte, stellten sie, da Bäume +nicht in der Nähe waren, das braune Segel schräg +gegen ihre Glutstrahlen, um im Schatten ihr Mittagbrot +verzehren und eine Stunde ruhen zu können.</p> + +<p>Am Abend, nachdem sie das welkende Gras in Haufen +gemacht hatten, schlenderten sie wohlig müde der +sinkenden Sonne nach einem Gehöft zu, das eine tüchtige +Viertelstunde entfernt unter hohen Bäumen auf +einer Wurt lag. Es gehörte dem Grasbauern Harm +Tietjen, von dem die Rosenbrocks seit Jahrzehnten das +Wiesenland in Pacht hatten, und bei dem sie während +der Heuzeit auf dem Boden oder in der Scheune zu +nächtigen pflegten.</p> + +<p>Frau Tietjen, die noch auf den altmodischen und aussterbenden +Namen Tibcke hörte, empfing die Ankömmlinge +freundlicher, als Gerd von ihr gewohnt war. Von +der vornehmen Zurückhaltung, die sie als reiche Wiesenbäuerin +so kleinen Leuten aus dem Moor gegenüber +sonst sich schuldig zu sein glaubte, war diesmal nicht +viel zu bemerken. Man wurde in die Wohnstube genötigt +und bewirtet, und auf Frau Tibckes breitem, +glänzendem Gesicht malte sich immer mehr ein mütterliches +Wohlgefallen an dem schönen Kinde, das höflich +bescheiden und unbefangen frisch alle Fragen der großen +Frau beantwortete. Als Bettgehenszeit wurde, hatte +Leidchen deren Herz bereits so umstrickt, daß sie eingeladen<span class="pagenum" id="Seite_74">[S. 74]</span> +wurde, für die Nacht im Anderthalbschläfer +ihrer Tochter mit unterzukriechen, wozu diese, nachdem +sie die ihr zudiktierte Bettgenossin von Kopf bis zu Fuß +gemustert hatte, zögernd und ein wenig säuerlich ihre +Einwilligung gab.</p> + +<p>Das Dutzend Jahre, das Fräulein Hermine Tietjen +vor dem Kind des Moores voraus hatte, war nicht spurlos +an ihr vorübergegangen. Einen oberen Vorderzahn +hatte es genommen, die ersten Krähenfüßchen um die +Augen ihr gebracht. Eine Schönheit war sie mit dem +zu breiten Mund, den zu kleinen Augen und den zahllosen +Sommersprossen wohl nie gewesen. Aber dem +Spiegel an der Wand, wenn er einmal Anwandlungen +von Ehrlichkeit hatte, glaubte sie nicht, weil er ein +Buckelchen und ein Bläschen hatte. Um nun dem lebendigen +Spiegel jungmädchenhafter Lieblichkeit und Frische, +den sie bei sich in der Kammer hatte, nicht glauben zu +müssen, suchte sie an ihm mit Luchsaugen nach einem +Buckelchen oder Bläschen. Aber die jugendlich schlanke +Gestalt, die sich vor ihr entkleidete, war leider von herrlichstem +Ebenmaß; an Reinheit und Zartheit der rosig +durchschimmernden Haut ließ sich mit dem besten Willen +nichts tadeln; den Augen, Mund, Nase und Haar, den +Ohren, ja sogar den Füßen, mußte auch der Neid +lassen, sie konnten gar nicht wohlgebildeter sein, als sie +waren. Und schon wollte sie das vergebliche Suchen aufgeben, +als plötzlich ihre kleinen grünlichen Augen in +der Freude des Findens schillerten.</p> + +<p>»Ih! Was hast du denn da?« rief sie, mit spitzem +Finger und ebenfalls gespitzter Nase zufahrend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_75">[S. 75]</span></p> + +<p>Leidchen legte harmlos ein Muttermal über dem Ansatz +ihrer linken Brust frei, daß die andere es in Ruhe +betrachten konnte. Die machte ein Gesicht, als ob ihr eine +Kröte in den Schuh gekrochen wäre.</p> + +<p>»Igittegitt, wie sieht das aus?«</p> + +<p>»Och, das kriegt ja kein Mensch zu sehen.«</p> + +<p>»Willst du dir das nicht wegoperieren lassen?«</p> + +<p>»Warum? Das hat Zeit genug, da zu sitzen.«</p> + +<p>»Aber Deern, schämst du dich denn gar nicht?«</p> + +<p>»Weshalb?«</p> + +<p>»Daß du da so'n Ding hast!«</p> + +<p>Jetzt wurde es Leidchen zu viel. Gutmütig spottend +sagte sie: »Meinst du, daß ich mit deinen Sommersprossen +tausche?«</p> + +<p>Hermine zuckte wie unter einem Nadelstich zusammen. +Sie war schon auf mehr als eine Anpreisung in der Zeitung, +die sie von diesem Schönheitsfehler zu befreien +versprach, hineingefallen.</p> + +<p>»Ach ja,« seufzte sie, »es ist ein Leiden, wenn man +einen gar zu feinen Teint hat.« Sie sprach das Wort, +wie man's schreibt; denn sie war ein Jahr in der Benehmigung +gewesen und hielt es so für gebildeter.</p> + +<p>Leidchen entgegnete darauf nichts, aber ihr harmloses +Lachen klang etwas ungläubig und verwundete die +andere noch mehr.</p> + +<p>Rachedürstend trat sie an ihre messingbeschlagene +Eichenholzkommode und zog die oberste Schublade auf, in +der sie eine Anzahl Kästchen und Schächtelchen öffnete.</p> + +<p>»Darf ich mich hinlegen?« fragte Leidchen bescheiden, +zum Einsteigen bereit vor dem Bett stehend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_76">[S. 76]</span></p> + +<p>»Nein,« sagte Hermine, die gerade dabei war, ein +Licht anzuzünden, kurz und schroff, »ich will dir erst noch +mal was zeigen. Komm hierher!«</p> + +<p>Ein bewunderndes Ah und Oh nach dem anderen +sprang von den Lippen des Moorkindes vor all den im +Kerzenglanz funkelnden Broschen, Ringen, Ketten und +Armbändern.</p> + +<p>Die große Bauerntochter nahm die einzelnen Stücke +in die Hand, wandte sie im Licht hin und her, daß sie +blitzten, hielt sie dorthin, wo sie ihren kargen Reizen zu +Hilfe zu kommen pflegten, und nannte mit boshaftem +Behagen die stark nach oben abgerundeten Preise. Die +kleine Moordeern stand jetzt sprachlos mit gefalteten +Händen neben ihr und konnte sich nicht satt sehen. Noch +nie waren ihr die Herrlichkeiten der Welt so verlockend +gezeigt worden.</p> + +<p>Aber die andere war mit diesem Triumph noch nicht +zufrieden. Sie schloß einen zweitürigen Schrank in +Nußbaumimitation und Muschelstil auf und sagte: »Hier +siehst du all meine Kleider. Dies weiße trag' ich auf dem +Ball, in diesem schwarzen geh' ich zum Abendmahl, die +beiden da sind für die gewöhnlichen Sonn- und Festtage. +Und dies himmelblaue hab' ich zur Hochzeit meiner +Schwester gekriegt, es ist ganz von prima Seide. Kuck +doch bloß mal, wie's glänzt! Und wie es sich anfühlt! Du +darfst dreist mal anfassen.«</p> + +<p>Leidchen machte von dieser gnädigen Erlaubnis Gebrauch. +Scheu liebkosend fuhr ihre Hand an dem +schimmernden Stoff hinunter. »Ganz von Seide ...« +wiederholte sie, andächtig versunken.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_77">[S. 77]</span></p> + +<p>»Ja, und kostet dreißig Taler.«</p> + +<p>»Das ist nicht wahr!«</p> + +<p>»So gewiß, als ich hier stehe! Soll ich dir die +Quittung zeigen?«</p> + +<p>»Dreis—sig Ta—ler ...«</p> + +<p>»Wenn du dir so'n Kleid kaufen wolltest, müßtest du +ein Jahr dafür dienen, nicht wahr?«</p> + +<p>»So eins möchte ich nicht geschenkt. So viel Geld für +ein einziges Kleid? Das ist, glaub' ich, Sünde.«</p> + +<p>»Du liebe Unschuld du,« sagte Fräulein Hermine +Tietjen mitleidig lächelnd, indem sie ihren Kleiderschrank +abschloß. »So, nun steig' man hinein. Du kriegst den +Platz an der Wand.«</p> + +<p>»Was ist das?« fragte Leidchen ein wenig erschrocken, +als es unter ihrem Gewicht verdächtig krachte und +knackte.</p> + +<p>»Patentmatratze,« erklärte stolz die ihr nachsteigende +Betteigentümerin, »auf Stroh schlafen wir längst nicht +mehr. Aber du mußt dich nicht so breit machen, als ob +du hier zu Hause wärest. Und nun hör' zu, was ich sonst +noch alles habe oder einmal kriege.«</p> + +<p>Sie begann mit ihrem Schatz an Leinenzeug. Dann +kam die Leibwäsche an die Reihe. Zuletzt verriet sie, +was sie an barem Gelde einmal mitbekommen würde. +Das war eine Summe, über deren Höhe ihrer gespannt +lauschenden Zuhörerin der Mund aufging und der Kopf +schwindelte. Zwei Brunsoder Moorstellen hätte man +bequem dafür kaufen können.</p> + +<p>»Willst du denn noch heiraten?« fragte Leidchen unschuldig.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_78">[S. 78]</span></p> + +<p>»Noch? Noch? Was ist das für'n dummer Schnack! +Als ob ich nicht schon fünf Männer hätte haben können! +Aber wir sind anders als ihr im Moor. Ihr kommt +zusammen und wißt manchmal selber nicht wie, und +wiegt schon Kinder, wenn ihr hinter den Ohren knapp +trocken seid. Wir halten mehr auf uns und sind nicht +so'n Prachervolk wie — na, ich hätte beinah' was gesagt. +Nun wollen wir schlafen. Gute Nacht, schlaf süß!«</p> + +<p>Sie war schnell eingeschlafen, aber Leidchen, obgleich +sie beim Eintreten zum Umfallen müde gewesen war, +lag, an ihre Wand gedrückt, noch lange mit wachen +Augen.</p> + +<p>Zum erstenmal in ihrem jungen Leben war sie mit +ihrem Lose unzufrieden.</p> + +<p>In Schule und Konfirmandenunterricht, auf der Nachbarschaft +und im Dorfe hatte sie immer etwas gegolten, +ja, man hatte sie sogar etwas verwöhnt. Jetzt, wo sie +zum erstenmal über die Grenzen ihres Kirchspiels +hinauskam, bemerkte sie mit Schmerzen, daß sie +nichts war als eine arme, kleine, dumme Deern aus +dem Torf.</p> + +<p>Sie dachte an den Inhalt ihrer Lade daheim. Das +meiste davon stammte aus mütterlichem Erbe, allerlei +Kleinigkeiten hatten die Brüder, Schwägerin und +Patentante ihr im Lauf der Jahre geschenkt. Wie +manches liebe Mal hatte sie an diesen Habseligkeiten, +die sie in peinlicher Ordnung hielt, ihre Freude gehabt! +Jetzt, nachdem sie einen Blick in Hermine Tietjens +Kommode und Kleiderschrank geworfen hatte, erschienen +sie ihr auf einmal so armselig und nichtig, daß<span class="pagenum" id="Seite_79">[S. 79]</span> +sie überzeugt war, sie würde sich niemals wieder an +ihnen freuen können.</p> + +<p>Es war in der Welt doch verkehrt eingerichtet. Die +einen wühlten ihr lebelang im Moor, die anderen in +Gold und Seide, und kein Mensch konnte sagen, womit +sie diese Bevorzugung eigentlich verdient hatten.</p> + +<p>Aber war denn gar keine Möglichkeit, daß auch sie +einmal zu diesen anderen gehörte? War nicht Nachbar +Rotermunds jüngerer Bruder als Junge mit nichts nach +drüben gegangen, und als er vor Jahren seine alte +Heimat wieder besuchte, konnte er mit dem Geld nur so +um sich werfen, und gegen seine dicken Ketten und Ringe +aus purem Gold war Hermine Tietjens Goldgeschirr +nichts als Klöterkram. Aber wenn ein anschlägiger +Junge es in Amerika auch zu was Rechtem bringen +konnte, was sollte ein armes Mädchen im Torf machen, +mit einem Jahreslohn, der für andere kaum zu einem +einzigen Kleide reichte?</p> + +<p>Das einzige wäre am Ende — eine reiche Heirat.</p> + +<p>Aber wenn nur die reichen Jungens nicht immer gerade +die reichen Deerns nähmen, nach dem Wort: Geld +muß zu Geld kommen! Zum Beispiel, solange die +Mühle in Brunsode stand, war noch keine Tochter des +Dorfs als junge Frau auf ihr eingezogen. Hermann +holte sich natürlich auch wieder eine mit viel Geld von +auswärts, und die armen Mädchen mußten mit einem +armen Knecht oder Häusling vorliebnehmen und quälten +sich in ein paar Jahren zuschanden.</p> + +<p>Todmüde, wie sie war, und doch nicht imstande, einzuschlafen, +fühlte sie beinahe etwas wie Haß gegen die<span class="pagenum" id="Seite_80">[S. 80]</span> +vom Glück so verzogene, sanft schnarchende Bettgenossin, +bis endlich der Schlaf sich ihrer erbarmte und die junge +Seele von allen bösen und bitteren Gedanken erlöste.</p> + +<p>Als der Morgen graute, erwachte sie von einem leisen +Klopfen gegen die Fensterscheiben. Es war Gerd, der +sie für den neuen Arbeitstag weckte. Draußen riefen +schon die Kiebitze, und die Hofenten machten ein Heidengeschnatter. +Indes sie vorsichtig über die reiche Erbin +hinwegstieg, riß sie auf einmal die Augen weit auf. +Was? Saßen der die Haare nicht fest am Kopf? Mit +spitzen Fingern langte sie zu und hielt den schönsten +kastanienbraunen Zopf in der Hand. Sie war +über ihren Fund so glücklich, daß sie, ihn um sich +schwingend, auf bloßen Füßen und im Hemde ein Solotänzchen +durch das dämmerige jungfräuliche Schlafgemach +ausführte. Endlich wollte sie das Ding vorsichtig +wieder an seinen Platz legen. Aber auf einmal sagte sie +sich: Sie hat dich so geärgert, ärgere sie mal ein bißchen +wieder, und indem tausend Teufelchen aus ihren Augen +sprühten, brachte sie den Zopf hübsch gefällig über dem +Spiegel an. Dabei konnte sie es nicht vermeiden, in +diesen hineinzublicken, und ihr sagte er trotz Buckel und +Bläschen nichts Unangenehmes. Sie wandte sich nach +der holden Schläferin um, machte ihr eine allerliebste +lange Nase zu und flüsterte: »Mit dir tausch' ich nicht, +und wenn du zehn Kommoden voll Gold und hundert +Schränke voll Seide hättest.« Dann flog sie hurtig in +ihre Kleidung, und nach wenigen Minuten schritt sie mit +Gerd, der draußen auf sie gewartet hatte, munter durch +die tauglitzernden Wiesen der Sonne entgegen, die auch<span class="pagenum" id="Seite_81">[S. 81]</span> +heute wacker grünes Gras in duftendes Heu zu verwandeln +versprach.</p> + +<p>Bald kam Jan auf seinem Rad angefahren. Auch +Rotermunds begannen mit der Heuernte, und Wellbrocks +von Nr. 24. Alle krochen für die Nacht bei +Tietjens unter. Leidchen zog es vor, mit den Frauen +und Mädchen ihres Dorfes sich in einen Rest vorjährigen +Heus zu packen. Die Gastfreundschaft in +Hermine Tietjens Anderthalbschläfer wurde ihr +übrigens auch nicht wieder angeboten.</p> + +<p>Die sengende Gluthitze der nächsten Tage förderte die +Arbeit im Hammetal aufs beste, forderte aber auch ein +Opfer. Nicht weit von Rosenbrocks Wiesen brach Cord +Mehrtens aus Hasenwede beim Mähen lautlos zusammen. +Man spannte das Torfsegel über ihn zum +Schutz gegen die Sonnenstrahlen. Nach drei Stunden +kam endlich der Arzt, der die Achseln zuckte und keine +Hoffnung gab. Eine Stunde nach Sonnenuntergang +trugen die beiden Söhne den Entseelten in sein Schiff, +deckten ihn mit dem Segel zu und stakten durch die +schöne warme Sommernacht heim zu Muttern.</p> + +<p>In der Nacht von Sonnabend auf Sonntag arbeiteten +die drei Rosenbrocks sich mit der ersten Ladung Heu den +Graben vor Brunsode aufwärts. Das Schiff war so hoch +bepackt, daß es, die Hofbrücken anstreifend, nur mit +knapper Not passieren konnte. Wenn es ein Klappstau +hinaufging, rief Jan, der mit dem Stangenruder schob, +»Hei — djup!« und Gerd und Leidchen, die in quer über +die Brust gehenden breiten Seilen liegend das Schiff +schleppten, legten sich mit doppelter Kraft ins Zeug, um<span class="pagenum" id="Seite_82">[S. 82]</span> +den Höhenunterschied und den Widerstand des entgegenströmenden +Stauwassers zu überwinden. Schwer fielen +sie in die lang entbehrten Betten und verschliefen die +Nacht und, mit kurzen Unterbrechungen für das Essen +und die notwendigsten Arbeiten, den Sonntag und noch +eine Nacht. Die Frühsonne des Montags fand sie schon +wieder auf dem Wege zu den Hammewiesen.</p> + +<p>Dem grünen Erntefeld drängte das goldig gelbe nach. +Auf diesem zu arbeiten war dann aber wirklich eine +Lust. Es lag so bequem nahe beim Hause, dehnte sich +nicht gar zu weit aus, und die schlimmste Hitze des +Jahres war vorüber. Als Trina das erste Brot von +jungem Roggen herauszog, umstand die ganze Familie +den Backofen. Man besah und beroch's, probierte, bedächtig +kauend, nickte befriedigt und war fröhlich und +guter Dinge.</p> + +<p>Das Kartoffelauskriegen war auch mehr Spaß als +Arbeit. Man half einander nachbarlich, lag in langen +Reihen auf den Feldern, und der gemütliche Klöhnschnack +riß den ganzen Tag kaum ab.</p> + +<p>Zwischendurch mußten Gerd und Leidchen sich auch +mal vor die Egge spannen und sie über das weiche, gepflügte +Moorland ziehen, das in der herbstlichen Regenzeit +für Pferde nicht recht gangbar war. Das war wohl +ein saurer Tag, aber der tiefe, gesunde Schlaf der +Jugend machte in einer Nacht alles wieder gut.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Ob irgendwo in deutschen Landen so schwer und anhaltend +gearbeitet wird wie in dem Lande, wo dem +schwarzbraunen Moor die weiße Birke entsteigt? In<span class="pagenum" id="Seite_83">[S. 83]</span> +den Marschen und auf den Heiden der nordwestdeutschen +Tiefebene jedenfalls nicht. Dort haben sie +zwischen den Zeiten, wo die Arbeit auf den Nägeln +brennt, Wochen oder wohl auch Monate, in denen sie +es sachter angehen lassen können. Im Moor werden +diese Atempausen durch Backen, Schneiden und Ringeln +des Torfs ausgefüllt, und nicht einmal Spätherbst und +Winter bringen wirkliche Ruhe. Denn dann muß das +Landesprodukt in die Stadt geschafft und in Bargeld +umgesetzt werden. Da knarren durch Sturm- und +Regennächte die schweren geeichten Kumpwagen die +Birkenchausseen entlang, und auf den Wasserwegen +ziehen die torfbepackten Schiffe. Das kostet wieder +saure Arbeit und bringt schlaflose Nächte ungezählt. +Und wer kein Raubbauer auf Torf sein, sondern durch +Urbarmachen der abgetorften Flächen das Kulturland +ins Moor vorschieben will, muß sich auch in der stilleren +Jahreszeit dranhalten. Nur wenn der Frost das +Land wie in eiserne Bande geschlagen hat, hat's der +Moorbauer kommodiger und kann die harten Arbeitshände +mal in den Schoß legen.</p> + +<p>Kein Wunder, daß in diesem Lande die schönen Mädchen +nicht auf den Bäumen wachsen und jugendliche +Frische früh verblüht. Kein Wunder, daß die Königliche +Aushebungskommission unter den Söhnen des +Moores nicht gar zu viele Rekruten für die Potsdamer +Garde findet, ja, daß sie manchen sonst ganz gesunden +Jungburschen kaum dem obskursten Regiment an der +russischen Grenze zumuten mag. Laßt's nur gut sein! +Ihre Urgroßväter, die ersten Ansiedler, erhielten Befreiung<span class="pagenum" id="Seite_84">[S. 84]</span> +vom Militärdienst, um im Frieden, Spaten +und Hacke in der Hand, für König und Vaterland eine +neue Provinz zu erobern. Dieses Werk setzen die Enkel +mit echt niederdeutscher Zähigkeit wacker und unverdrossen +fort, und sie und ihre Kinder werden nicht ruhen, +bis es zu Ende geführt ist. Der »Jan vom Moor«, den +die von der Natur mehr gehätschelten Nachbarn nicht +recht für voll nehmen wollen, und über den die Bremer +dummen Jungs ihre Witze reißen, wird aussterben, +und wo er einst mit schweren Holzstiefeln in der glucksenden, +triefenden Torfkuhle stand, da werden seine Urenkel +als niederdeutsche Kleinbauern auf freier, grüner +Scholle sich eines bescheidenen, aber sicheren Wohlstandes +erfreuen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">5.</h2> +<p><span class="pagenum" id="Seite_85">[S. 85]</span></p> +</div> + + +<p>In den hinterzu gelegenen Moordörfern sitzt manch' +brave Ehefrau und Mutter, die das Jahr hindurch +kaum je über die Grenzen des Kirchspiels und den engen +Kreis ihrer Pflichten hinauskommt. Sie trägt auch gar +kein Verlangen danach und überläßt die Strapazen des +Reisens gern ihrem Jan. Aber um die Zeit, wenn die +Kartoffeln heraus sind, wenn die Ratten das lustige +Leben an den Grabenrändern aufgeben und sich auf +die Gehöfte zurückziehen, wenn die silbernen Birken ihr +herbstliches Gold streuen, packt auch die häuslichste aller +Frauen eine merkwürdige Unruhe. Es ist die Zaubermacht +des Bremer Freimarkts, die auch die seßhafteste +und solideste einmal von Haus und Hof, Kindern und +Vieh hinwegzieht.</p> + + + + +<p>Wenn drüben in der alten Hansestadt um Sankt +Petri ehrwürdigen Dom über Nacht die leichte, luftige +Zelt- und Budenstadt aus dem Pflaster geschossen ist +und zu Füßen des starr verwundert blickenden Riesen +Roland alle Spezialitäten, Raritäten, Abnormitäten des +Kontinents sich ein Stelldichein geben, dann sagt Gesche +zu ihrem Klaus, und Dele zu ihrem Peter, und Meta +zu ihrem Jan: »Du, nach'm Freimarkt möcht' ich auch +mal mit.« Und Jan, Peter, Klaus, einerlei, ob er das +Recht des Holzpantoffels über sich anerkennt oder ob +er die Hosen anbehalten hat, macht keine Sperenzien, +»tiert« mit seiner Gesche, Dele, Meta zur Stadt, zeigt<span class="pagenum" id="Seite_86">[S. 86]</span> +ihr die Herrlichkeiten und Wunder des Freimarkts, högt +sich, wenn sie Augen macht wie Wagenräder, kauft ihr +Honigkuchen, Spielsachen für die Kinder, Geschirr für +den Haushalt und wonach sonst ihr Sinn steht, in verschwenderischer +Laune, und ist den ganzen Tag der liebenswürdigste, +zuvorkommendste Ehemann der Welt. +Wenn die beiden dann nach endloser Wasser- oder +Wagenfahrt durch die Annehmlichkeiten einer Herbstnacht +endlich unter ihr Strohdach treten, sinkt sie auf +den ersten besten Stuhl zusammen, läßt die Hände schlaff +an den Seiten herunterhängen und verschwört sich stöhnend: +»Ich hab'r genug von für mein Leben.« Ist aber +ein Jahr herum und das Birkenlaub küselt aufs neue +zur Erde, fängt sie doch wieder an: »Och, diesmal möchte +ich wohl noch mal mit. Wer weiß, ob ich's nächstes +Jahr noch erleb'.«</p> + +<p>Wenn in hillster Zeit die Arbeit auf den Nägeln +brennt und gar zu viel Überstunden gemacht werden +müssen, so daß die Augen verdrossen blicken, und die +Kräfte zu versagen drohen, bringt der kluge Bauer die +Rede wohl so beiwegelang auf den Freimarkt und läßt +durchblicken, daß es ihm auf ein anständiges Marktgeld +für den fleißigen Knecht, die unermüdliche Magd nicht +ankommen soll, und es müßte schon gar zu schlimm +sein, wenn das nicht mehr verfinge.</p> + +<p>Sechzig Drehorgeln dudelten und leierten wieder einmal +auf den Straßen und Plätzen Bremens den lieben +langen Tag ihr Repertoire herunter, von: »Ich bete an +die Macht der Liebe« bis »Mutter, der Mann mit dem +Koks ist da,« das eben seinen Siegeslauf durch die Welt<span class="pagenum" id="Seite_87">[S. 87]</span> +antrat. Einige dreißig waren von der kunstverständigen +Polizeikommission beim Probespielen mit Rücksicht auf +die durch höherwertige musikalische Genüsse verwöhnten +städtischen Ohren zurückgewiesen worden. Aber sie +gingen der guten Sache deshalb nicht verloren. Mit +ihrer verstimmten Töne Gewalt erfüllten sie die Umgebung +der Stadt und trugen die fröhliche Botschaft +vom Freimarkt auf die Dörfer.</p> + +<p>Es war der bösartigste aller Leierkasten, der Brunsode +beglückte. Als Herr Timmermann mitten in der +Weltgeschichtsstunde seine Klänge vernahm, legte er +das Gesicht in Leidensfalten; die Kinder aber reckten +die Hälse, horchten mit leuchtenden Augen und hatten +für die unerhörtesten Weltbegebenheiten kein Ohr. +Tönnjes Miesner, der älteste Altenteiler des Dorfes, +der vor seiner Haustür in der Herbstsonne saß, winkte +den Orgelmann heran, hielt sich die großen zitterigen +Hände als Schalltrichter vor die torfverstaubten Ohren +und dachte voll Wehmut daran, wie er einst mit den +Genossen seiner Jugend, die jetzt alle dahin waren, im +Freimarktsübermut fünf solcher verwegenen Kerls gemietet +und hinter der tollen Musik her, mit ein paar +hundert Kindern im Gefolge, das Torfhafenviertel +durchzogen hatte. Damals konnte einer, der schlau und +flink war und Glück hatte, noch mal schnell mit Schmuggelei +ein gutes Stück Geld verdienen und etwas draufgehen +lassen. Dem Alten fielen ein paar große blanke +Tränen wehmütiger Erinnerung aus den Augen, indem +er in der Tiefe seiner Hosentasche nach dem Groschen +Spielmannslohn grub. — Die Schmuggelzeit ist das<span class="pagenum" id="Seite_88">[S. 88]</span> +romantische Mittelalter in der Geschichte der Moorkolonien, +und wenn winterabends um den Herd oder +in der Stube um den warmen Ofen das Erzählen beginnt, +fängt es bei den Alten gar oft an: »Damals, als +die Schmuggelei noch im Gang war ...«</p> + +<p>Leidchen Rosenbrock saß gerade, den Melkeimer +zwischen den Knien, unter der Rotbunten, als es +draußen auf dem Hof erklang: »Im Grunewald, im +Grunewald ist Holzauktion.« Sie hielt, die weichen +Euterstriche zwischen den Fingern, im Melken inne, +lauschte, trällerte die Weise mit, rückte unruhig auf +dem Schemel, und ließ dann hurtiger und lustiger als +zuvor die weißen Quellen in den Eimer strullen. Noch +drei Stunden, und es ging nach Bremen zum Freimarkt! +Den ganzen Sommer hatte sie sich darauf +gefreut, seit Wochen zählte sie die Tage, und seit +gestern in jugendlicher Ungeduld sogar die Stunden.</p> + +<p>Aber noch stand vor dem Vergnügen ein tüchtiges +Stück Arbeit. Leidchen mußte hinten im Moor auf der +Karre einen Korb Backtorf nach dem anderen an den +Grabenrand schieben, und Gerd stand unten im Schiff, +ihn kunstgerecht zu verpacken, bis er die volle Ladung, +einen halben Hunt, d. i. sechs Kubikmeter, beieinander +hatte. Ein Viertel des Erlöses war ihnen von Jan +als Marktgroschen zugestanden.</p> + +<p>Nachdem sie sich gründlich von der staubigen Arbeit +gewaschen und die eingepackte Festkleidung verstaut +hatten, brachen sie in später Nachmittagsstunde auf.</p> + +<p>Als sie die Hamme erreichten und das Schiff, das sie +bis dahin vom Leinpfad aus geschleppt und geschoben<span class="pagenum" id="Seite_89">[S. 89]</span> +hatten, bestiegen, war die Sonne bereits hinter eine +breite Wolkenbank gesunken, deren Ränder in allen +Farbentönen, vom tiefsten Violett bis zum zartesten +Rosa, spielten. Der Duft und Glanz eines schönen +Herbstabends füllte das weite Wiesental. Der durch +herbstlich raschelnde Schilfwälder sich hinschlängelnde +Fluß schimmerte weithin wie Perlmutter. Wo sein +Lauf sich dem Auge entzog, bezeichneten ihn bis zur +Horizontlinie die schwarz gegen den Himmel stehenden +Rechtecke der heraufkommenden Segel. Die ein gutes +Dutzend Moorkolonien mit der Welt verbindende +Wasserstraße war zur Zeit des Torfverschiffens und +des Freimarktes sehr belebt. Die Schiffer kannten sich +fast alle, wenn auch meist nur nach Gesicht und Vornamen, +und die üblichen Zurufe flogen zwischen den +einander Begegnenden hin und her: »Geht's 'nauf, +Gerd?« »Ja, Jan.« — »Geht's 'nunter, August?« »Ja, +Gerd.« — »Na, wie war's auf'm Freimarkt, Meta?« +»Wunderschön, Gerd. Ist recht, daß du Leidchen auch +mal mitnimmst. Deern was wirst du für Augen +machen!«</p> + +<p>Als sie an einer Reihe von Schiffen vorüber waren +und die glänzende Bahn auf eine gute Strecke frei vor +ihnen lag, hub Leidchen, die vorn auf der mit braunem +Laken bedeckten Ladung saß, an zu singen. Gerd, der +hinten im Schiff stand und die schwere eisenbewehrte +Eichenstange gleichmäßig einstemmte und nachzog, fiel +sogleich mit der zweiten Stimme ein, auf dem träge +ziehenden Moorfluß deutsche Rheinromantik aufleben +zu lassen: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten, daß<span class="pagenum" id="Seite_90">[S. 90]</span> +ich so traurig bin,« klang es rein und getragen über +die herbstabendstillen Wasser.</p> + +<p>Als ein kälterer Hauch durch das Tal wehte, vor +dem Leidchen fröstelnd die Schultern zusammenzog, stieg +Gerd über die Torfladung nach vorn, hob den Deckel +der Koje und sagte mit einladender Handbewegung: +»So, lüttje Maus, nun wühl' dich hier warm ins frische +Stroh und schlaf süß, daß du mir morgen früh hübsch +munter bist.« Sie hob das rechte Füßchen, zog das +linke nach, sank in die Knie und ließ sich in das +knisternde Stroh sinken. Noch einen lächelnden Blick +tauschten sie, dann schloß er behutsam über der Schwester +das wellengewiegte Schlafkämmerchen.</p> + +<p>Auch der Wind legte sich allgemach schlafen. Nur +leichte Wellen kamen noch den Fluß herauf und +schlugen leise an die Wände des kleinen Schiffes, auf +dessen mattglänzende Bahn sich leichte Nebelschleier +legten. Am Himmel zogen sterndurchfunkelte grauweiße +Wolken.</p> + +<p>Vom Ufer her warf ein ruhig brennendes Licht seinen +zitternden Widerschein über das Wasser. Es kam aus +Cord Rugens Hammehütte, die hart am Flusse auf +einer Wurt lag, und in der während der Monate regeren +Wasserverkehrs eine Wirtschaft für Schiffer gehalten +wurde. Gerd, der eigentlich vorüberfahren +wollte, entschloß sich im letzten Augenblick doch zum +Einkehren. Wenn er ein Stündchen schlief, war er am +nächsten Tage frischer.</p> + +<p>Er legte sein Boot nicht in die Reihe der übrigen, +da die vor ihm aufbrechenden Schiffer seinen Fahrgast<span class="pagenum" id="Seite_91">[S. 91]</span> +dann leicht hätten stören und erschrecken können, sondern +ließ es ein wenig flußabwärts sacht ins Uferschilf +gleiten. Nachdem er, über die Koje gebeugt, durch die +ruhigen und tiefen, aus dem Stroh heraufkommenden +Atemzüge sich hatte sagen lassen, daß seine Schwester +fest schlief, stieg er ans Land.</p> + +<p>Die kümmerlich erleuchtete, aber gut durchwärmte +Hütte füllte ein reichliches Dutzend Torfschiffer, die sich +hier von den Anstrengungen der nächtlichen Fahrt erholten, +die einen schlafend und schnarchend, die anderen +trinkend und Solo spielend.</p> + +<p>Gerd ließ sich einen Klaren geben, schob das Gläschen, +nachdem er es bis zur Hälfte geleert, zurück, legte die +Arme auf dem Tisch ineinander und barg den Kopf +hinein. Eine halbe Minute lang hörte er noch das +Gesäge eines Nachbarn und die auftrumpfenden Fäuste +der Spieler, dann nichts mehr. Auf solche Weise sich +ein wenig nächtlichen Schlafes zu stehlen, war er seit +Jahren gewöhnt.</p> + +<p>Zweimal hatte der große Zeiger der Wanduhr die +sein Zifferblatt umrankenden grellbunten Blumen umwandelt, +da hob der junge Schiffer den Kopf, trank +seinen Klaren vollends aus, legte die Zeche von einem +halben Groschen daneben und trat gähnend in die Nacht +hinaus, die Fahrt fortzusetzen. —</p> + +<p>Die Wiesen des Blocklandes deckt das graue Meer +der Oktobernebel, aus dem hier und da der Kopf oder +die Rückenlinie einer Kuh wunderlich gespenstig hervorragt. +Auf dem schnurgeraden Kanal gleitet ein Torfschiff +durch den feuchten Dunst, von dem auf den Leinpfad<span class="pagenum" id="Seite_92">[S. 92]</span> +vornübergebeugt nebenhergehenden Schiffer mit +dem eingestemmten Stangenruder geschoben. Plötzlich +umfließt diesen silbernes Licht, er richtet sich auf und +erblickt über die Nebelmassen weg den im letzten Herbst- +und ersten Morgengold leuchtenden Bürgerpark, und +dahinter die Stadt mit ihren Türmen, im Glanz des +schönsten Herbstmorgens.</p> + +<p>Da hebt er die Stange und stößt mit ihrer eisenbeschlagenen +Spitze gegen die Koje vorn im Schiff.</p> + +<p>Der Deckel hebt sich. Helles Haar schimmert im +Silberlicht der Frühe, zwei junge Augen zwinkern verschlafen, +ein rosiger kleiner Mund gähnt mit ansteckender +Herzhaftigkeit, und aus dem engen dumpfen Kasten +steigt das schönste Kind des Moores, sich schüttelnd und +Strohteilchen mit der Hand von Haar und Kleidung +streifend, schlägt den Deckel krachend zu, springt leichtfüßig +hinauf, reckt die schlanken Glieder in der Sonne +und schaut mit großen, glänzenden Augen verwundert +und inbrünstig in den strahlenden jungen Tag. Zugleich +schüttelt auch der junge Schiffersmann die letzte +Dumpfheit der Nacht von sich und schreitet wacker aus, +das Ziel zu erreichen.</p> + +<p>Als das Schiff im Torfhafen sich in die Reihe der +anderen legte, die in den Morgenstunden auf den verschiedenen +Wasserwegen angelangt waren, fand sich +schnell ein Händler herzu, der Gerds Ware auf Schwere +und Trockenheit untersuchte und ein Gebot abgab. +Gerd nannte gelassen, beide Hände tief in die Hosentaschen +vergraben, seinen Preis, der den Mann veranlaßte, +ein Schiff weiter zu gehen. Auch mit einem<span class="pagenum" id="Seite_93">[S. 93]</span> +zweiten und dritten wurde er nicht handelseins. Leidchen, +die auf dem groben Kaipflaster hin und her ging, +wollte schon ungeduldig werden und drängte ihn, die +Ladung loszuschlagen. Aber ohne auf sie zu hören, +steckte er sich die Pfeife an und wartete ruhig, bis +jemand ihm auf eine halbe Mark entgegen kam. Dem +verkaufte er seinen Torf. Während dessen Kumpwagen +vorfuhr und die herandrängenden Brockelweiber mit +dem Umladen begannen, zählte er mit großer Sorgfalt +sein Geld, um dann noch jedes einzelne Stück auf seine +Echtheit zu prüfen. Dies hatte er sich zur Gewohnheit +gemacht, seit er einmal mit einem österreichischen Gulden +angeführt war.</p> + +<p>Darauf rechnete er aus, was der Schwester und ihm +als Marktgeld gehörte. Es ergaben sich sechs Mark +und vierzig Pfennig, die er in die linke Hosentasche +versenkte, während er die größere Summe in der rechten +verstaute.</p> + +<p>»Ich will mein Geld selbst tragen,« erklärte Leidchen +und streckte die Hand aus.</p> + +<p>»Bei mir ist es sicherer,« sagte er. »Auf dem Freimarkt +gibt's viele Taschendiebe.«</p> + +<p>»Schadet nichts. Gib her, drei Mark und zwanzig +Pfennig.« Sie stieß mit dem Hacken des linken Fußes +energisch auf das Straßenpflaster und ließ ein billiges +Portemonnaie hungrig auf und zu schnappen.</p> + +<p>»Du bist wohl albern?« rief Gerd verwundert. +»Das Marktgeld richtet sich nach dem Lohn. Da! Hier +hast du zwei Mark fufzig, damit kannst du dicke zufrieden +sein.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_94">[S. 94]</span></p> + +<p>Sie zog das Mäulchen erst ein wenig schief, wusselte +dann aber das geschwollene Geldtäschchen vergnügt in +ihre Rocktasche.</p> + +<p>Nachdem sie in einer nahen Gastwirtschaft ihren +Morgenkaffee getrunken und sich festtäglich gekleidet +hatten, machten sie sich auf den Weg in die Stadt.</p> + +<p>An der nächsten Straßenecke begann gerade ein +junger, tirolermäßig aufgeputzter Orgeldreher sein +Tagewerk mit: »Freut euch des Lebens, weil noch das +Lämpchen glüht.« Leidchen blieb stehen und hatte ihren +Spaß an der lustigen Weise, und an den lustigen Augen +des flotten Kerls auch wohl ein wenig. Als er seinen +Hahnenfederhut hinhielt, warf sie ihm einen ganzen +Groschen hinein, worauf der Leiermann sich ritterlich +verbeugte und sagte: »Küss' die Hand, schönes Fräulein.«</p> + +<p>Freudig errötend schielte Leidchen nach ihrem Bruder +hinüber, um zu sehen, welchen Eindruck diese Anrede +auf ihn machte. Der aber lächelte spöttisch und +brummte: »Darauf brauchst du dir gar nichts einzubilden. +Das sagt so'n Lümmel zu jedem alten Schrubber +... Was ich aber noch sagen wollte, wenn du jedem +solchen Tagedieb einen Groschen gibst, bist du blank, +ehe wir zum Marktplatz kommen.«</p> + +<p>Er begann jetzt, sie auf allerhand Dinge, die es in +Brunsode nicht gab, erklärend aufmerksam zu machen, +und hatte seine Freude an ihren verwunderten Augen +und den Ausrufen des Staunens, die immer wieder +über ihre Lippen kamen.</p> + +<p>So erreichten sie die Budenstadt, die Marktplatz und<span class="pagenum" id="Seite_95">[S. 95]</span> +Liebfrauenkirchhof, Domshof und Domshaide bedeckte, +und durchstreiften ihre Gassen in die Kreuz und Quer. +Aber der Freimarkt schlief noch. Die Kuchentanten +gähnten und kramten hinter ihren Süßigkeiten, die +Schaubuden zeigten nur ihre grellbunten Lockbilder, die +Karussellgäule schienen wie im Trab oder Galopp erstarrt. +Nur wenig Menschen, meist vom Lande, bewegten +sich, dem Anschein nach ohne sonderliches Vergnügen, +zwischen den Budenreihen.</p> + +<p>Als sie sich die Beine müde gelaufen und die Augen +satt gesehen, auch Honigkuchen, warme Würstchen, gefüllte +Schokolade, Schmuddaal und andere gute Dinge +genug gegessen hatten, stiegen sie, um endlich einmal +von den Füßen zu kommen, in einen Keller hinab, in +dem es nach Tabak, Bouillon und Harzkäse roch. Gerd +bestellte für sich einen Bittern, für die Schwester einen +Süßen. Auf dem rissigen Wachstuchsofa eines dämmerigen +Winkels hockten sie vor ihren Gläsern, und Leidchen +meinte, sie hätte sich den Freimarkt doch etwas +anders vorgestellt. Aber Gerd vertröstete sie auf +den Nachmittag, wo viel mehr los sein würde. +Einstweilen lehnten sie sich in ihre Sofaecken und +drusselten ein.</p> + +<p>Nach anderthalb Stunden, die sie zwischen Wachen +und Schlafen ziemlich unbehaglich zugebracht hatten, +erklärte der Wirt, mit der geringen Zeche unzufrieden, +sein Lokal wäre kein Asyl für Obdachlose, und sie stiegen +wieder zur Oberwelt empor.</p> + +<p>Sie waren noch keine hundert Schritt gegangen, als +ein quer gehaltener Spazierstock ihnen den Weg versperrte<span class="pagenum" id="Seite_96">[S. 96]</span> +und eine lustige Stimme rief: »Kinder und +Leute, nun kuck mal einer an!«</p> + +<p>Es war Müllers Hermann, der mit lachenden Augen +die Dorfgenossen und Schulkameraden anhielt und begrüßte, +und dann umdrehte und sich zwischen sie schob.</p> + +<p>»Na, Leidchen, hast du denn schon ordentlich was +gesehen?« wandte er sich an das Mädchen, ihr frisches, +hübsches Gesicht verwundert betrachtend.</p> + +<p>»Och nee,« antwortete sie gelangweilt, »es ist hier +nicht ganz viel los. Oder Gerd weiß nicht recht Bescheid.«</p> + +<p>»Na, denn muß ich wohl mal die Führung übernehmen,« +sagte der Müller großartig.</p> + +<p>Sie kamen in eine belebtere Straße, in der nicht +drei auf dem Bürgersteig nebeneinander Platz fanden. +Da weder Hermann noch Leidchen Anstalt machten, aus +der Reihe zu treten, mußte Gerd es tun, und über die +ungebetene Gesellschaft nichts weniger als erfreut, trottete +er hinter den beiden her.</p> + +<p>Auf dem Liebfrauenkirchhof wollte ein prächtiges +Riesenkarussell sich soeben in Bewegung setzen. Der +Motor arbeitete und das Läutewerk mahnte zu schleunigem +Platznehmen. »Schnell, schnell,« rief Hermann, +packte seine Begleiterin an der Hand und flog mit ihr +die Rampe hinauf. Gerd beschleunigte seinen Schritt +zwar auch, erreichte den Anschluß aber nicht mehr. Mit +langem Gesicht sah er den unter rauschender Musik ihm +Davonfahrenden nach.</p> + +<p>Als sie wieder erschienen, galoppierten sie auf zwei +Schimmeln nebeneinander vor ihm vorüber. Leidchen,<span class="pagenum" id="Seite_97">[S. 97]</span> +die den Damensitz schnell einem vor ihr dahersprengenden +Ladenfräulein abgeguckt hatte, strahlte über das +ganze Gesicht und nickte dem Bruder freundlich zu, während +Hermann in lässig vornehmer Haltung mit der +Hand leichthin und, wie es Gerd wenigstens schien, ein +wenig spöttisch grüßte.</p> + +<p>Das nächste Mal waren die beiden Reiter so lebhaft +miteinander im Gespräch, daß sie für den unten +Stehenden kein Auge hatten. Gerd ärgerte sich wie ein +Hund und trat einer Töchterschülerin auf die Zehen, die +ihn anfauchte wie eine Katze.</p> + +<p>Als das Karussell hielt, wandte Leidchen sich glückstrahlend +um und rief: »Junge, Junge, das geht aber +schön! Komm doch und reit auch'n bißchen mit.«</p> + +<p>Er kletterte etwas ungelenk auf den Rappen, der +hinter dem Schimmel seiner Schwester lief. Aber rechten +Spaß machte ihm die Sache nicht. Die beiden beachteten +ihn kaum, nur Leidchen drehte sich einmal um +und lachte ihn an. Er kam sich als der Reitknecht des +Pärchens vor, und als das Karussell stillstand, trat er +zwei Schritt vor und sagte: »So, Leidchen, nun komm' +man, jetzt ist's erst mal genug.«</p> + +<p>»Genug?« fragte sie erstaunt. »Mensch, wir fangen +ja erst an.«</p> + +<p>»Du mußt dich noch ein bißchen gedulden,« erklärte +ihr Ritter, »ich habe gleich ein Dutzendbillet genommen, +daß wir erst mal in Stimmung kommen. +Stimmung, weißt du, Gerd, ist auf dem Freimarkt alles. +Steig auch man wieder 'rauf!«</p> + +<p>»Dafür ist mir mein Geld zu schade,« sagte er, verließ<span class="pagenum" id="Seite_98">[S. 98]</span> +das Karussell und stellte sich unter die Zuschauer an +das Geländer der Rampe.</p> + +<p>Als die beiden zum erstenmal wieder vorbeiritten, +sahen sie ihm ins Gesicht und lachten in einer Weise, +die ihm den Verdacht erweckte, der Müller hätte einen +Witz über ihn gemacht. Da wandte er sich ab und +tauchte in dem Gewühl einer Budengasse unter.</p> + +<p>Wie hatte er sich darauf gefreut, Leidchen die Wunder +des Freimarktes zu zeigen! Nun kam auf einmal +dieser Windmüller und verdarb ihm den ganzen Spaß, +ja drängte ihn einfach beiseite.</p> + +<p>Er hatte nicht übel Lust, für den Rest des Tages den +Gekränkten zu spielen, auf baldige Rückfahrt zu drängen +und dem Freimarktsvergnügen ein schnelles Ende zu +bereiten.</p> + +<p>Aber nein, das durfte er der Schwester doch nicht +antun. Sie hatte sich zu lange auf diesen Tag gefreut. +Vielleicht war es ja auch möglich, den Müller auf +irgendeine Weise loszuwerden.</p> + +<p>»Echte Similibrillantringe, von fünfzig Pfennig an,« +rief ein Budenfräulein, die Dinger glitzerten ihm in +die Augen, und schnell entschlossen trat er heran, der +Schwester ein Ringlein zu kaufen. Dann kehrte er +langsam zum Karussell zurück.</p> + +<p>Er entdeckte Leidchen auf der Rampe, wie sie mit +ängstlichen Augen die hin und her wogende Menge absuchte. +Als sie seiner ansichtig wurde, kam sie schnell +und froh auf ihn zu und rief: »Oh, ich war schon bange, +wir hätten uns verloren. Ein Glück, daß du wieder +da bist.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_99">[S. 99]</span></p> + +<p>»Ist Hermann weggegangen?« fragte Gerd schnell.</p> + +<p>»Er ist hin und sucht dich. Ich sollte hier auf euch +warten.«</p> + +<p>»Ach so ... Leidchen, ich will dir mal was sagen. +Was sollen wir den ganzen Tag den fremden Menschen +mit uns herumschleppen? Komm schnell, ich zeige dir +alles, was du sehen willst!«</p> + +<p>»Och nee, zu dreien macht es mehr Spaß.«</p> + +<p>»Deern, ich schenk dir auch was. Guck mal, dies +hab' ich für dich gekauft!«</p> + +<p>Er ließ seinen Brillanten funkeln und schob ihr den +Ring auf den Finger.</p> + +<p>»Ei, ei!« rief sie bewundernd.</p> + +<p>»Nun komm aber auch!«</p> + +<p>»Gerd, ich hab' versprochen ...«</p> + +<p>»Ich geb' dir auch noch fünf Groschen von meinem +Marktgeld ab. Dann hast du beinah ebensoviel wie ich, +und wenn du den Ring mitrechnest, sogar mehr. +Komm!«</p> + +<p>»Endlich hab' ich euch wieder!« rief der Müller, +sich durch das Menschengewühl auf die Geschwister zuschiebend.</p> + +<p>Gerd biß sich voll Grimm auf die Unterlippe. Leidchen +hielt dem Ankömmling ihre geschmückte Hand +vor das Gesicht: »Guck mal, was Gerd mir geschenkt +hat!«</p> + +<p>»Mädchen, hast du aber Glück!« sagte dieser lachend +und wickelte aus einem Stückchen rosa Seidenpapiers +ebenfalls einen Ring, den er ihr an den Ringfinger +der anderen Hand steckte. Gerd sah zu seinem großen<span class="pagenum" id="Seite_100">[S. 100]</span> +Verdruß, daß er drei Brillanten trug und auch feiner +gearbeitet war als der seine.</p> + +<p>Und dann wurde er von einer Schaubude zur anderen +geschleppt. Ein Jammer war's, wie das schöne Geld +in der linken Hosentasche zusammenschmolz. Bald mußte +er schweren Herzens gar eine Anleihe in der rechten +machen.</p> + +<p>Endlich erklärte er, nun wär's aber wirklich genug, +und sie müßten nach Hause. Doch die beiden nahmen +ihn in die Mitte, Leidchen schmeichelte und streichelte, +der Müller bot seine ganze Liebenswürdigkeit auf, und +schließlich willigte er noch in einen Besuch des Zirkus +auf dem Grünen Kamp. Hermann bezahlte auch für +ihn die Eintrittskarte.</p> + +<p>Als die Vorstellung aus war, sagte er: »Nun ist's +aber allerhöchste Zeit; marsch zum Torfhafen!« Aber +Leidchen erklärte, sie wäre sehr hungrig, und da Hermann +zu einem Abendimbiß einlud, gab er wieder +nach. Vor der anstrengenden nächtlichen Fahrt etwas +Solides zu essen, konnte ja nicht schaden.</p> + +<p>Sie kamen an mehreren Restaurationen vorüber, +aber keine war dem Müller gut genug. Endlich, als sie +wieder auf dem Markt angelangt waren, wies er auf +eine nach unten führende Treppe, indem er sagte: »Nun +man hinein ins Vergnügen!«</p> + +<p>»Mensch, das ist ja der Ratskeller!« rief Gerd erschrocken +und blieb stehen. »Das ist nichts für unserer +Art Leute.«</p> + +<p>Aber Leidchen sagte freudig erregt: »Vom Ratskeller +hab' ich schon in der Schule gehört,« und stieg<span class="pagenum" id="Seite_101">[S. 101]</span> +munter die Stufen hinab. Ihrem Bruder blieb wieder +einmal nichts übrig, als hinterdrein zu trotten.</p> + +<p>Sie schoben sich langsam durch das Menschengewühl +der von Weindunst, Zigarrenqualm, Stimmengewirr +und Konzertmusik erfüllten Säle, Gänge und +Kellerräume und fanden endlich ein freies Tischchen, an +dem sie sich niederließen. Der Kellner mußte eine +Flasche Rüdesheimer bringen.</p> + +<p>Als Hermann eingeschenkt hatte, erhob er seinen +Römer und sagte: »Auf unsere alte Freundschaft!«</p> + +<p>Leidchen ließ hell ihr Glas erklingen, Gerd dagegen +kam mit seinem schräg von unten herauf, daß es hart +klappte, und brummte: »Die ist nie dick gewesen.«</p> + +<p>Hermann schob sein Glas vor und legte sich behaglich +über den Tisch: »Na ja, wir haben uns auch wohl +mal in den Haaren gelegen, wie sich das bei ein paar +richtigen Jungens von selbst versteht, aber schön war's +doch, vor allem, als der alte Krischan Lenz noch in +seinem Armstuhl saß. Weißt du noch, unsere Schneeballschlachten? +Und wenn wir auf dem Schiffgraben +Schlittschuh liefen und über die Klappstaue sprangen ... +oder durch die Hammewiesen und das St. Jürgensfeld +sausten und Schmuggler und Kontrolleur spielten? +Aber trinkt auch mal, der Tropfen ist nicht schlecht, +prosit! ... Ach ja, die schöne Zeit kommt nicht wieder. +Ihr mögt mir's glauben oder nicht, manchmal habe ich +ordentlich Sehnsucht nach unserm Moor. Früher haben +die Leute es ja verachtet, aber jetzt wird's auf einmal +hoch geehrt. Neulich schrieben sie in den ›Nachrichten‹ +viel von den Männekens, die seit ein paar Jahren auf<span class="pagenum" id="Seite_102">[S. 102]</span> +dem Weiher Berg sitzen und pinseln. Wir sehen sie +ja auch oft genug in unserm Dorf herumstehen und umschichtig +zwischen der Natur und ihrem Stück Leinwand +hin und her glotzen. Ihre Bilder waren hier in der +Ausstellung zu sehen, und als ich zufällig vorbeikam, +ging ich eben mal hinein. Da hingen unsere Torfgräben +und Moorlöcher und Heuschiffe ganz natürlich +abkonterfeit in goldenen Rahmen an der Wand, und +die Leute machten ein Leben davon, als ob sie nicht +recht klug wären. Auch Möschemeyers Anntrin ihre +Erdhütte, die neulich eingefallen ist, war da zu sehen, +und das alte Bettelweib guckte mit ihren roten Hexenaugen +aus der Türluke, und 'ne feine Dame, ganz in +blauer Seide, stand davor, hielt sich 'ne Brille mit'm +Stiel über die Nase und schwögte in einem fort: ›Wie +malerisch, wie entzückend, wie reizend!‹ Prost, Kinder, +unser Düwelsmoor soll leben!«</p> + +<p>Sie stießen an, und diesmal gaben alle drei Gläser +guten Klang. Dann bestellte Hermann zu essen, und +sie ließen es sich schmecken. Leidchen, die mit Freuden +bemerkte, daß die Laune ihres Bruders sich verbesserte, +erzählte lustige Geschichten aus den Kindertagen, in +denen er eine Rolle spielte, und tat alles, was sie konnte, +um die beiden alten Gegner voreinander in das beste +Licht zu setzen, wobei der Ratskellerwein ihr nicht +wenig half.</p> + +<p>Als sie gesättigt waren, traten sie einen Rundgang +durch die Kellerräume an. Dem Freimarkt zu Ehren +waren sie alle geöffnet, auch die, welche sonst der Kellner +mit dem Schlüsselbund nur gegen Entgelt zu zeigen<span class="pagenum" id="Seite_103">[S. 103]</span> +pflegt. Leidchen in der Mitte, Arm in Arm, um in +dem ausgelassenen weinfröhlichen Treiben einander +nicht zu verlieren, schoben sie sich durch das Gedränge.</p> + +<p>»Guck an, Jan vom Moor, da bist du ja auch!« rief +ein junger Mensch und klopfte Gerd vertraulich auf +die Schulter.</p> + +<p>»Ich kenn' dich nicht,« brummte er mit finsterm +Gesicht.</p> + +<p>»Was? Du kennst mich nicht? Ich bin doch der +Hinnerk aus der Lammer-Lammerstrat Nr. 13, drei +Treppen hoch links um die Eck' herum, grade aus, dritte +Tür rechts. Junge, Jan, was hast du da für 'ne hübsche +Trina am Arm!«</p> + +<p>Ehe Gerd dazu kam, etwas zu entgegnen, hatte +das Gedränge ihn von dem Bruder Lustig getrennt. +»Wenn Freimarkt ist, sind sie alle verrückt,« sagte Hermann +lachend.</p> + +<p>Nachdem die drei Bacchus, Frau Rose und den +zwölf Aposteln, die auch alle ein sehr vergnügtes Gesicht +machten, ihren Besuch abgestattet hatten, kehrten sie +an ihren Tisch zurück und begannen mit der zweiten +Flasche. »Leidchen, Leidchen,« sagte Gerd mit bösem +Gewissen, »wir müssen nach Hause.«</p> + +<p>»Wenn wir diesen Buddel leer haben,« antwortete +der Müller, »könnt ihr meinetwegen reisen ... Ich beneide +euch um die schöne Fahrt.«</p> + +<p>»Du kannst ja ein bißchen mitfahren,« rief Leidchen.</p> + +<p>»Deern, das ist'n Gedanke ...«</p> + +<p>»Unsinn!« knurrte Gerd, »du mußt morgen früh auf +deiner Mühle sein.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_104">[S. 104]</span></p> + +<p>»Das ist nicht so ängstlich, zur Freimarktszeit lassen +die Leute sich was gefallen. Hab' meine Alten doch +lange nicht gesehen. Zum Kuckuck, ich fahr' mit +euch!«</p> + +<p>»Du weißt ja gar nicht, ob wir dich mitnehmen.«</p> + +<p>»Oh, das tut ihr doch wohl sacht. Nicht wahr, Leidchen?«</p> + +<p>»Ja, gern.«</p> + +<p>»Ha, die Deern kann wohl ja sagen, ich hab' die +Quälerei davon. Es geht flußaufwärts.«</p> + +<p>»Wenn anders nichts ist ... ich löse dich mal ab. +Also abgemacht, ich fahr' mit euch.«</p> + +<p>Gerd brummte noch etwas, aber man konnte es schon +als Zustimmung nehmen.</p> + +<p>»Das wird ein Spaß,« sagte Leidchen und trommelte +mit den Fingern auf den Tisch. — —</p> + +<p>Die Nacht war still, kühl und voll funkelnder Sterne. +Das Schiff zog unter leisem Wellengeplätscher seine +nebelverschleierte, mattglänzende Bahn, Gerd stand und +handhabte das Stangenruder.</p> + +<p>Seine Fahrgäste saßen vor ihm auf der Segelbank. +Was hatten die beiden in den drei Stunden, seit sie +den Torfhafen verlassen, nicht alles zusammengeschwatzt! +Es war rein zum Verwundern, wo sie noch immer +wieder Stoff hernahmen, und was sie aus den nichtigsten +Dingen zu machen wußten. Es hörte sich ganz +nett an, und die Stunden waren ihm beim Zuhören +kurzweilig hingestrichen. Endlich schien es aber doch, +als ob den Plappermühlen der Wind ausgehen wollte. +Und seit einigen Sekunden standen sie wirklich still.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_105">[S. 105]</span></p> + +<p>Plötzlich richtete Gerd sich auf, um mit angehaltenem +Ruder vor sich durch das Dunkel zu horchen und zu +spähen. War das da drüben nicht ein Geflüster? Und +wo war Hermanns Hand geblieben, die vor kurzem +noch auf seinem Knie lag?</p> + +<p>»Hermann!«</p> + +<p>»Was ist los?«</p> + +<p>»Hier hast du das Ruder. Komm und löse mich +mal ab.«</p> + +<p>»Ach Gerd, ich habe im Staken keine rechte Übung.«</p> + +<p>»Was hast du mir versprochen? Oder willst du +lieber hier in den Wiesen aussteigen?«</p> + +<p>»Man nicht gleich so grob,« brummte der Müller, +sich langsam und widerwillig erhebend.</p> + +<p>Kaum hatte er den Platz des Schiffers eingenommen, +als das Boot seine Richtung verlor, dem Ufer zuschoß +und sich in den raschelnden Schilfwald bohrte. Bei den +ungeschickten Versuchen, es loszubringen, verfuhr es sich +nur noch mehr. Im Schlaf aufgeschrecktes Sumpfgevögel +erhob sich mit schrillem Gekreisch und Flügelgeklapper, +um klatschend irgendwo wieder einzufallen.</p> + +<p>Gerd, der neben seiner Schwester saß, rieb sich voll +ingrimmiger Schadenfreude die Hände zwischen den +Knien und spottete: »Mich soll bloß wundern, wo dieser +Windmüller mit uns hin will.«</p> + +<p>Leidchen stieß ihn an und sagte: »Er sitzt fest, hilf +ihm doch wieder heraus.«</p> + +<p>»So war er schon in der Schule,« fuhr Gerd fort zu +höhnen, »immer ein Wort wie'n Bein dick, aber wenn +man genauer zusah, nichts als Wind vor der Hoftür.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_106">[S. 106]</span></p> + +<p>Endlich warf Hermann, der vergeblichen Anstrengungen +müde, die schwere Eichenstange in das Schiff, +daß es dumpf durch die Nacht klang, und setzte sich abgerackert +und pustend auf den Bordrand.</p> + +<p>»Wie so'n Mutterjunge gleich zusammenklappt!« +spottete Gerd.</p> + +<p>Leidchen gab ihm einen kräftigeren Stoß mit dem +Ellbogen: »Zu! Stak' du doch wieder!«</p> + +<p>Da er keine Anstalt machte, stand sie selbst auf, nahm +ein kürzeres Handruder und sagte: »Komm, Hermann, +ich helf' dir. Ich glaub', wir sitzen auf einem Pfahl. +Stemm' die Stange tüchtig ein, so ist's recht. Eins — +zwei — drei! Es hat sich schon bewegt. Noch einmal, +feste. Eins — zwei —«</p> + +<p>Auf drei wurde das Schiff frei, fiel Leidchen auf +ihren Bruder, stürzte der Müller über Bord. Es gab +einen großen Plumps.</p> + +<p>Gerd lachte schallend, dröhnend. »So ist's recht,« +rief er, »ein bißchen Abkühlung tut dir gut nach dem +Freimarktsdusel.«</p> + +<p>Als er seinem prustenden, klatschnassen Fahrgast aus +dem sumpfigen Schilfwasser ins Schiff zurückgeholfen +hatte, fischte er auch das Stangenruder heraus und +brachte das Fahrzeug mit ein paar Stößen wieder auf +die Mitte des Flusses.</p> + +<p>Leidchen kam mit dem Torflaken, das zum Schutz +gegen Regen über die Ladung gebreitet wird, um den +Durchnäßten abzutrocknen. Dieser ließ sich solche Fürsorge +gern gefallen, gewann seine gute Laune schnell +zurück, und bald saß er, von Kopf zu Fuß in das Laken<span class="pagenum" id="Seite_107">[S. 107]</span> +gehüllt, wieder auf der Segelbank neben ihr und machte +einen Witz über den anderen.</p> + +<p>»Es wird kälter,« sagte Gerd, »leg' dich in die Koje, +Leidchen, und schlaf!«</p> + +<p>»Mich friert gar nicht.«</p> + +<p>»Hast du mich verstanden?«</p> + +<p>»Ich lege mir noch ein Tuch um.«</p> + +<p>»Du sollst verschwinden, hast du mich verstanden?«</p> + +<p>»Aber Gerd,« mischte sich der Dritte ein, »wenn +sie lieber ...«</p> + +<p>»Wer ist hier Herr im Schiff? Leidchen, wird's +bald?«</p> + +<p>Er hob drohend das Stangenruder.</p> + +<p>Da stand sie auf und ging trotzig aufstampfend nach +vorn. Hermann, der sich gleichfalls erhoben hatte, hielt +ihr den Kojendeckel, bis sie sich im knisternden Stroh +zurecht gelegt hatte, wünschte Gute Nacht und schloß +behutsam über ihr. Dann legte er sich, in das Torflaken +gehüllt, auf den Boden des Schiffes. Gerd riet +ihm, das Segel ein wenig zu lösen und sich hineinzudrehen, +was er sich nicht zweimal sagen ließ; denn die +nassen Kleider und die Kühle der Herbstnacht machten +sich unangenehm genug bemerkbar.</p> + +<p>»Endlich Ruhe im Schiff,« murmelte Gerd und gab +sich seinerseits dem gewohnten, halbschlafähnlichen +Dösen hin, mit dem er die Nachtstunden auf der Hamme +zu kürzen pflegte. — —</p> + +<p>»Guten Morgen, Gerd!«</p> + +<p>»Guten Morgen. Schön geschlafen?«</p> + +<p>»Prrr! Eine schändliche Kälte!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_108">[S. 108]</span></p> + +<p>»Das hast du dafür. Warum bleibst du nicht, wo +du hingehörst?«</p> + +<p>Nach einer Weile richtete der Fahrgast sich etwas +auf und begann, gegen die Segelbank gelehnt, von +neuem:</p> + +<p>»Gerd, ich möchte wohl mal ein vernünftiges Wort +mit dir reden.«</p> + +<p>»Da bin ich begierig.«</p> + +<p>»Ich kümmere mich nicht gern um anderer Leute +Sachen.«</p> + +<p>»Mag auch ebensogut sein. Jeder hat genug mit +seinen eigenen zu tun.«</p> + +<p>»Ja, aber wenn des Nachbars Haus brennt, kann +einer das doch nicht ruhig mit ansehen.«</p> + +<p>»Aber Mensch, nun sag', was du zu sagen hast!«</p> + +<p>»Wenn ich meine ehrliche Meinung sagen soll, du +fängst das mit Leidchen nicht richtig an.«</p> + +<p>»Nun hör' mal einer an!«</p> + +<p>»Wenn du mir nicht zuhören willst, kann ich ja auch +den Mund halten.«</p> + +<p>Nachdem Gerd eine Strecke schweigend sein Schiff +gestakt hatte, sagte er zögernd: »Hermann, meinetwegen +sprich dich mal rein aus.«</p> + +<p>»Gerd,« begann der Müller, »ich hab' dich gestern +immer wieder angucken müssen. Auf dem Freimarkt +werden sonst alte Brummpeter sogar wieder lustig, aber +du hast den ganzen Tag ein Gesicht gemacht, wie ein +Pott Sauermilch ... als ob du Leidchen das bißchen +Vergnügen nicht gönntest ... als ob sie dich jedesmal +um Erlaubnis fragen müßte, wenn sie mal lachen will.<span class="pagenum" id="Seite_109">[S. 109]</span> +Wenn sie mich nicht gehabt hätte, hätte sie ebensogut +zu Hause bleiben können. Und vorhin hast du sie in +die Koje geschickt, wie ich unsern Hund nicht in seine +Hütte jage. So könnte man's vielleicht mit einer Schlafmütze +von Deern machen, die knapp weiß, daß sie lebt. +Aber, glaube mir, ein Mädchen wie deine Schwester +läßt sich solche Behandlung auf die Dauer nicht gefallen. +Wenn der Fuhrmann die Zügel gar zu scharf anzieht, +schlägt ein edles Pferd, das Blut und Feuer in +sich hat, über die Stränge.«</p> + +<p>Gerd schwieg eine Weile, etwas betroffen. Dann +sagte er: »Leidchen weiß ganz gut, wie ich's meine.«</p> + +<p>»Gewiß meinst du es gut,« fuhr der andere fort, +»aber es geht nirgends bunter her, als in der Welt, +und die gute Meinung allein tut's da nicht. Sieh, +Leidchen hat Temperament und Rasse, und du bist von +Natur ruhig und solide. Da kannst du doch unmöglich +verlangen, daß sie genau so sein soll wie du bist. Das +ist nicht jedem gegeben, mir zum Beispiel auch nicht, +aber darum kann unsereins doch ein ordentlicher und +anständiger Mensch sein.«</p> + +<p>»Wie kommst du dazu, dies alles herzukriegen?«</p> + +<p>»Das will ich dir ganz genau sagen: Leidchen ist +'ne kleine nette Deern, die feinste in unserm ganzen +Dorf. Es hat mir Spaß gemacht, ihr mal den Freimarkt +zu zeigen. Da tut es mir nun weh, daß immer +so'n Buhmann und Landgendarm hinter ihr her sitzt.«</p> + +<p>»Hoho! Wenn sonst keiner hinter ihr her sitzt, soll's +schon gehen.«</p> + +<p>»Nichts für ungut, Gerd. Du wolltest ja, ich sollte<span class="pagenum" id="Seite_110">[S. 110]</span> +mich rein aussprechen. Du kannst deshalb doch machen, +was du willst. Aber ich wollte dies doch gesagt haben, +weil ich es gut mit euch beiden meine.«</p> + +<p>»Wir müssen jetzt aussteigen,« sagte Gerd, der inzwischen +das Schiff in den Graben gelenkt hatte und +vor dem ersten Klappstau anlegte, »du kannst Leidchen +auch wecken.«</p> + +<p>Hermann öffnete die Koje und rief sie beim Namen. +Als sie langsam hochkam, sagte er: »Deern, Deern, du +kannst dich freuen, daß du den warmen Unterschlupf +gehabt hast. Mich hat jämmerlich gefroren.«</p> + +<p>Sie sandte durch das dämmernde Grau der Frühe +dem Bruder einen bösen Blick zu, aber der andere fuhr +fort: »Ein Bruder, der so fürsorglich ist und an alles +denkt, wie Gerd, ist gar nicht mit Geld zu bezahlen.« +Dann legte er sich vorne ins Tau und half kräftig, das +Schiff die vielen Staue hinaufzubringen.</p> + +<p>Als sie bei der Mühle ankamen, legte er Leidchen +das Seil über die Schultern, gab den Geschwistern die +Hand, man bedankte sich gegenseitig, und er schritt +seinem stattlichen Elternhause zu, indes die beiden ihre +Fahrt fortsetzten, sie in der Leine und ziehend, er mit +dem Ruder das Schiff vom Ufer haltend und schiebend.</p> + +<p>Als sie eine Stunde später das Fahrzeug im Schauer +geborgen hatten und dem Hause zu gingen, sagte Gerd, +mit einiger Überwindung: »Ich glaube, ich bin ein +bißchen unfreundlich und verdrießlich gewesen.«</p> + +<p>»So? Wenn du das nur einsiehst!«</p> + +<p>»Es wär' besser gewesen, wir wären unter uns geblieben.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_111">[S. 111]</span></p> + +<p>»Nun soll natürlich Hermann die Schuld haben!«</p> + +<p>»Aber Mädchen, ich hab' ja kein Wort gegen ihn +gesagt. Ich glaube jetzt sogar, daß er im Grunde besser +ist, als ich früher meinte. Das heißt, so ganz traue ich +ihm immer noch nicht ...«</p> + +<p>Polli, der gelbe Fixköter, kam aus dem Hühnerloch +neben der großen Tür gekrochen und begrüßte die heimkehrenden +Freimarktsfahrer mit Gebell, Schwanzwedeln +und Anspringen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_112">[S. 112]</span></p> +<h2 class="s2">6.</h2> +</div> + +<p>An der Peperschen Stelle Nr. 18 haftete seit alten Zeiten die +Schankgerechtigkeit.</p> + +<p>Klaus Hinrich Peper hatte sich aus dieser all seine +Lebtage nicht viel gemacht. Es war oft genug vorgekommen, +daß er halbwüchsige Burschen nach dem +zweiten Glas heimschickte, weil sie nun genug hätten, +und daß die geistigen Getränke ihm gerade dann ausgingen, +wenn die Gäste anfingen, mit der Faust auf +den Tisch zu schlagen. Die ungebührlich vorgehende +Wanduhr führte die Polizeistunde stets viel zu früh +herauf, und doch wurde sie aufs pünktlichste innegehalten.</p> + +<p>Dieses Unikum von Wirt war vor zwei Jahren +Todes verblichen, und sein Sohn und Erbe Heini hatte +mit einem derart rückständigen und unzeitgemäßen Betriebe +des Wirtsgewerbes sofort gründlich gebrochen. +Es dauerte kein halbes Jahr, so war die große Lehmdiele +mit glattem Holzfußboden versehen, und die Polizeibehörde +wurde mit Gesuchen um Erlaubnis von +Tanzbelustigungen bestürmt.</p> + +<p>Aber der Herr Landrat machte neuerdings Schwierigkeiten, +nachdem auf der letzten Synode nicht nur die +Geistlichkeit über die zunehmende Vergnügungssucht im +Bezirk geklagt, sondern auch ein alter Bauer mit mächtiger +Hakennase seine derbe, plattdeutsche Rede in den +Ruf hatte ausklingen lassen: »Landrat, werde hart!«<span class="pagenum" id="Seite_113">[S. 113]</span> +Um sich an der Kirche zu rächen, beschloß Heini, nicht +mehr zum Abendmahl zu gehen, und den Staat, der +mit jener unter einer Decke spielte, wollte er sein Mißfallen +durch einen roten Stimmzettel bei der nächsten +Reichstagswahl fühlen lassen.</p> + +<p>Was blieb einem strebsamen Wirt unter diesen Umständen +anders übrig, als Vereine zu gründen?</p> + +<p>Aber damit bewies Pepers Heini — der Kindername +war ihm bis in sein Mannesalter treugeblieben +— anfangs keine glückliche Hand. Die Mitglieder +des Kegelklubs »Gut Holz« waren halbwüchsige +Bengels, die viel Radau machten, aber leider sehr +wenig verzehrten. Der Radfahrerverein »Pfeil« entführte +seine Leute in die Umgegend zur Konkurrenz. +Der Patriotismus wollte sich nicht auf Heinis Mühle +leiten lassen, weil die Krieger von Brunsode und Umgegend +um seiner schönen Augen willen das Miteigentumsrecht +an dem Vermögen des Kriegervereins im +Kirchdorf nicht aufgeben wollten.</p> + +<p>So saß Heini denn eines Abends mit seiner Frau +Adeline, die ebensowenig Lust zur Arbeit hatte wie er, +aber um so lieber sich putzte und mit den Gästen schön +tat, wieder mal beratschlagend in der Gaststube, als +er sich plötzlich aufs Knie schlug und rief: »Deern, wir +versuchen's mal mit einem Gesangverein!« Sie redeten +darüber hin und her, wurden gutes Muts dabei und +tranken auf das Wohl des neuen Vereins: Frau +Adeline einen Pfeffermünz, Heini zwei Klare und einen +Magenbitter.</p> + +<p>Zwei Tage später war das Bauernmal vom Gemeindevorsteher<span class="pagenum" id="Seite_114">[S. 114]</span> +entboten, den Damm im unteren Dorf +frisch zu besanden, wie es von Zeit zu Zeit nötig ist, +wenn Pferdebeine und Wagenräder nicht in dem +moorigen Dammkern versinken sollen. Ein Teil der +Mannschaften grub den Sand oben auf Stelle Nr. 19, +wo er ziemlich hoch unter der Moorschicht saß, andere +schafften ihn in Torfbooten an den Damm, woselbst die +übrigen ihn auf Karren auseinanderschoben und mit +Schaufeln ausbreiteten. Dabei wurde mancher Mundvoll +geschnackt, wie es bei Arbeiten für die Gemeinde +üblich ist. Harm Mehrtens, der Vorsteher, saß auf dem +Geländer einer Hofbrücke, schmökte seine Pfeife und +führte die Aufsicht.</p> + +<p>Gerd Rosenbrock hatte gerad' seine Karre wieder +einmal umgekippt, als August Stelljes, der junge Bauer +von Nr. 16, ihn ansprach:</p> + +<p>»Gerd, sag' mal: hast du Begabung zum Singen?«</p> + +<p>Der Gefragte stellte seine Karre hin: »Oh ... in +der Schule hab' ich die zweite Stimme ganz gut halten +können.«</p> + +<p>»Was meinst du, wenn wir hier auch so 'nen +Männergesangverein gründeten, wie sie ihn in Hasenwede +und Grünmoor und Meinsdorf schon lange +haben?«</p> + +<p>»Das wär'!« rief Gerd überrascht und erfreut. »Ich +tret' auf der Stelle bei.«</p> + +<p>»Die Sache wird sich wohl machen, Pepers Heini +hat gestern schon mit dem Schullehrer gesprochen, und +der hat auch wohl Lust,« fuhr August fort. »Wer von +euch im oberen Dorf mag wohl noch mittun?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_115">[S. 115]</span></p> + +<p>Gerd dachte nach und nannte einige Namen, versprach +auch, mit diesem und jenem darüber zu reden. +Dabei schnackten sie sich so fest, daß der Gemeindevorsteher +zuletzt mit dem Mundstück seiner Pfeife auf ihre +Karren deuten mußte, damit sie ihre Arbeitspflicht der +Gemeinde gegenüber nicht ganz und gar vergäßen.</p> + +<p>Niemand war über Heinis neuesten Plan glücklicher +als Gerd Rosenbrock, und er beschloß, alles aufzubieten, +daß aus der Sache etwas würde. Es kamen +ja nun wieder die langen Winterabende. Für einen, +der keine Lust hatte, sich herumzutreiben, waren sie über +die Maßen langweilig. Da hockten sie in der Stube +beieinander: Jan lag mit dem Kopf auf dem Tisch und +schlief, Trina flickte Kinderzeug, Leidchen spann, und +er selbst, Gerd, strickte Strümpfe oder schnitzte Wurststicken. +Gegähnt wurde viel, gesagt wenig und meist +nur solches, was ebensogut ungesagt hätte bleiben +können. Jeder freute sich, wenn die Uhr endlich so weit +war, daß man mit Anstand ins Bett steigen konnte. +Wenn da nun jede Woche mal so einen Singeabend +brächte ... Junge, Junge, das wäre fein! Und sofort +begann er zu werben, und alle, die er haben wollte, gewann +er auch für die Sache. Denn was er einmal betrieb, +das betrieb er mit einem Nachdruck, dem der Erfolg +nicht leicht fehlen konnte.</p> + +<p>Drei Tage später wurden von Nr. 18 aus Laufzettel +die Dorfreihe hinauf- und hinabgeschickt, die zur +Gründungsversammlung eines Männergesangvereins +einluden und unterzeichnet waren: »Der Einberufer.« +Solche meist in köstlicher Orthographie abgefaßte<span class="pagenum" id="Seite_116">[S. 116]</span> +Oktavblättchen, die der Nachbar zum Nachbarn weiterzubefördern +gehalten ist, sind in Brunsode die ortsübliche +Bekanntmachung.</p> + +<p>Zu der auf dem Laufzettel angegebenen Stunde füllten +an die dreißig Stellbesitzer, Haussöhne und Knechte +— trennende soziale Unterschiede kennt das Kleinbauerntum +des Moores kaum — Heini Pepers Gaststube +bis auf den letzten Platz und qualmten, priemten, +spuckten für Gewalt. Frau Adeline, hochbusig, von +einem ölig glänzenden Haartempel überragt, ein kokettes +Lächeln im Gesicht, bediente den kürzlich angeschafften +Kohlensäureapparat, während ihr Heini, der sich so +recht in seinem Elemente fühlte, mit den Biergläsern +sprang.</p> + +<p>Endlich erscheint auch Herr Timmermann, bei dessen +Eintritt die ohnehin nicht sehr lebhafte Unterhaltung +plötzlich wie abgeschnitten ist. Er hat nämlich mit den +Brunsodern noch keinen Scheffel Salz gegessen. Nachdem +man sich daran gewöhnt hat, daß er Urlaub nur +in Notfällen gibt und auf ruhm- und trostreiche Leichenpredigten +als nicht zu seinem Amt gehörig sich überhaupt +nicht einläßt, gilt er der Mehrheit aber doch schon +als ein »anständiger Junge«, und einige, denen es lieb +ist, daß er die Jugend »schärfer lernt« als der selige +Lenz, halten ihn bereits gar für einen »alten ehrlichen +Burschen«. Und mehr kann einer wirklich nicht verlangen, +der erst vor vier Jahren von der Wasserkante +her als Fremdling ins Land kam.</p> + +<p>Auf Heini Pepers Ersuchen nimmt Herr Timmermann +bald das Wort. Indem er mit der langen,<span class="pagenum" id="Seite_117">[S. 117]</span> +schmalen Hand die auf ihn zuwogenden braungelben +Tabakswolken zur Seite lenkt, spricht er seine Freude +darüber aus, daß der edle deutsche Volksgesang, diese +wunderbare Blüte, aus der Tiefe der deutschen Volksseele +emporgeblüht, nun auch in Brunsode eine Pflegstätte +finden soll. Als ganz junger Lehrer würde er +das noch viel schöner und poetischer gesagt haben; die +vier Jahre unter den Bauern hatten ihn doch schon ein +gut Teil sachlich schlichter gemacht und seine Ausdrucksweise +dem höheren Aufsatzstil entfremdet. Er schloß +seine Ausführungen damit, daß er sich bereit erklärte, +die musikalische Leitung des zu gründenden Vereins zu +übernehmen, allerdings unter der Voraussetzung und +Bedingung, daß die regelmäßigen Übungen in der +Schule stattfänden.</p> + +<p>Heini, der vorhin mehrere Male Bravo gerufen +hatte, machte ein langes Gesicht und sah seine Frau an, +die ein dummes zur Schau trug. Dann zwinkerte er mit +seinen Fuchsaugen Freund August Stelljes zu. Aber der +war kein Redner und getraute sich nicht. Es blieb ihm +also nichts übrig, als selbst das Wort zu ergreifen. Was +so die echte, rechte deutsche Gemütlichkeit wäre, begann +er, die käme in so einem Schulzimmer mit seinen peinlichen +Erinnerungen nicht auf, womit er natürlich nichts +gegen die Schule an sich oder den Herrn Lehrer gesagt +haben wolle. Aber die alten Deutschen hätten immer +noch eins getrunken, und die jungen Deutschen liebten +einen guten Tropfen frisch vom Faß ebenfalls, und das +brauche er wohl kaum zu erwähnen, wie leicht gerade +beim Singen die Leber trocken würde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_118">[S. 118]</span></p> + +<p>August Stelljes und noch einige lachten, nickten und +riefen Bravo, Herr Timmermann zuckte die Achseln.</p> + +<p>Eine ganze Weile sagte niemand etwas, nur im +Flüsterton wurde hier und da an den Tischen beraten, +bis endlich Wilhelm Behnken Nr. 22, den das Vertrauen +des Dorfes zum Schulvorsteher, Beigeordneten +des Gemeindevorstehers und Kanalgeschworenen gemacht +hatte, sich räusperte und trocken erklärte, er stimme +auch für die Schulstube; denn in einem Gesangverein +wäre nach seiner Ansicht das Singen die Hauptsache.</p> + +<p>Jetzt war die Zeit gekommen, das Eisen zu schmieden, +fiel es wie eine Erleuchtung über Herrn Timmermann, +er schnellte in die Höhe und fragte: »Ist jemand +gegen den Antrag des Herrn Schulvorstehers Behnken?« +Es erhob sich wohl ein Brummen, aber kein Finger. +»Also einstimmig angenommen. Wie wollen wir +uns nennen? Ich schlage vor: Männergesangverein +Feierabend. Das klingt bescheiden und traulich zugleich. +Ich sehe, daß alle einverstanden sind. Wir schreiten nunmehr +zur Vorstandswahl. Ich erlaube mir vorzuschlagen: +Herrn Wilhelm Behnken als Präsidenten, +Herrn Heini, pardon, Heinrich Peper als Vizepräsidenten, +meine Wenigkeit zum Dirigenten und Schriftführer. +Ferner Herrn Johann Segelken als Kassenwart, und +endlich, damit auch die jüngere Generation vertreten ist, +was ich für wünschenswert halte, Herrn Gerd Rosenbrock +als Beigeordneten. Ist jemand gegen diese +Liste? ... Ich stelle fest, daß dies nicht der Fall +ist und frage die genannten Herren, ob sie die Wahl +annehmen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_119">[S. 119]</span></p> + +<p>»Zur Geschäftsordnung!« rief Heini Peper, mit ausgestrecktem +Finger vorspringend.</p> + +<p>»Bedaure sehr, Herr Peper, eine Geschäftsordnung +besitzen wir noch nicht, können aber im Vorstand mal +eine machen. Ich darf wohl die Erklärung abgeben, daß +der gesamte Vorstand, für das ihm bewiesene Vertrauen +dankend, die Wahl annimmt, und lasse jetzt die Mitgliederliste +herumgehen, in die ich Namen und Hausnummer +einzutragen bitte.«</p> + +<p>Neunzehn der Anwesenden zeichneten sich sofort ein. +Einige, denen als Leuten mit etwas langer Leitung die +Sache gar zu fix gegangen war, wollten sich noch besinnen, +andere hielten es für besser, erst ihre Frauen zu +fragen.</p> + +<p>Die Ansichten über Lehrer Timmermann gingen diesen +Abend auseinander. Heini Peper meinte, er hätte +die Leute wie Schulkinder behandelt, und man wäre +dumm genug, daß man sich so was gefallen ließe. +Karsten Brammer, der Dorfpolitikus, kratzte sich hinterm +Ohr und sagte: »Donnerschlag! Wenn der Reichstag +solchen Präsidenten hätte, könnte er was beschicken.« +Gerd Rosenbrock war dem Lehrer für die ihm so unerwartet +zugeschanzte Ehre dankbar und mußte sich die +nächsten Tage öfter selbst warnen, daß er den Kopf nicht +zu hoch trug. — —</p> + +<p>Einmal hatte Herr Timmermann den Vorstand zu +einer Sitzung eingeladen, und während die übrigen auf +sich warten ließen, war Gerd auf die Minute pünktlich +erschienen. Da kamen die beiden ins Gespräch, und es +machte sich so, daß der Lehrer seinen Gast fragte, wie er<span class="pagenum" id="Seite_120">[S. 120]</span> +seine Abende zubrächte. Darauf konnte dieser nichts +Rechtes sagen. Ob er nicht Lust hätte, mal ein gutes +Buch zu lesen, fragte der andere weiter. Och ja, meinte +Gerd, wenn er eins für ihn wüßte. Herr Timmermann +langte nach seinem Bücherbord und nahm einen Band +heraus, den er in ein Zeitungsblatt wickelte und, um +freundliche Schonung bittend, für den jungen Sangesbruder +bereit legte. Gerd wunderte sich wieder einmal +über das Interesse, das der Lehrer seiner Person entgegenbrachte, +zumal er sich nie um den Mann gekümmert +hatte und ihm seit der Schulzeit eigentlich ganz aus +der Kunde gewachsen war.</p> + +<p>Das Buch, das er mit nach Hause trug und gleich nach +Feierabend des nächsten Tages zu lesen begann, hieß +»Uli der Knecht«. Es machte ihm anfangs einige +Schwierigkeit, hineinzukommen. Aber bald schlug die +Geschichte des jungen Bauernknechts, der aus dumpfem, +liederlichem Leben sich langsam heraufgearbeitet, ihn in +Bann. Und es dauerte nicht lange, so fing er von vorne +an und las das Buch seiner Schwester vor. Auch Jan +und Trina fanden bald am Zuhören Freude. Man hörte +auf, nach dem Bett zu gähnen, und blieb manchmal bis +gegen halb zehn beisammen. Und es waren schöne +Abendstunden, wenn der Bauernfamilie des niederdeutschen +Moores sich das Bild oberdeutschen Bauernlebens +entrollte, wie der Pfarrer von Lützelflüh es in seinem +Buche so wundervoll farbig und kraftvoll gemalt hat. +Man las und hörte die Geschichte nicht bloß, man lebte +sie mit, und jeder wählte sich einen Helden, für den er +gegen die anderen Partei ergriff. Jan hielt es als Stellbesitzer<span class="pagenum" id="Seite_121">[S. 121]</span> +mit seinem Namensvetter, dem Meister Johannes, +während er über Joggeli, den Bauern der Glungge, +oftmals den Kopf schüttelte. Trina trat für die gute +Meisterin ein. Gerd stand natürlich auf seiten seines +Mitknechts Uli, dessen Torheiten er schmerzlich empfand, +indes sein langsames Aufsteigen ihn mit frohester Teilnahme +erfüllte. Leidchen paßten alle die Trinis, Ürsis, +Stinis, Käthis, Elisis gar nicht. Als aber das liebe +Vreneli auf der Bildfläche erschien, fühlte sie sich mit +ihrer Heldin der ganzen Tischrunde überlegen und lachte +ihren Bruder aus oder machte Ätsch, wenn es sich wieder +einmal zeigte, daß Vreneli seinem Uli über war.</p> + +<p>Und als sie mit »Uli dem Knecht« fertig waren, lieh +Herr Timmermann auch »Uli den Pächter« her.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Als der Verein im nächsten Herbst nach einer langen +Sommerpause die Übungen wieder aufnahm, stellte +Heini Peper den Dringlichkeitsantrag, schleunigst das +erste Stiftungsfest zu feiern und die benachbarten Vereine +dazu einzuladen. Aber Herr Timmermann sprach +mit Entschiedenheit dagegen. Die Sänger könnten sich +vor Fremden noch nicht hören lassen, und ehe er sich +mit dem Verein blamiere, würde er lieber austreten. +Man solle sich für dieses Jahr lieber mit einer bescheideneren +Feier begnügen; eine Christfeier zum Beispiel +würde im Dorf gewiß rechten Anklang finden. Die Abstimmung +ergab Stimmengleichheit für beide Anträge, +so daß satzungsgemäß das Votum des Präsidenten +entscheiden mußte, das zugunsten des Lehrers fiel. Zugleich<span class="pagenum" id="Seite_122">[S. 122]</span> +stellte jener seine Diele als die geräumigste am +Ort zur Verfügung.</p> + +<p>Es wurde nun wacker geübt, und der Eifer und die +Begeisterung des Dirigenten riß auch die anfangs +Widerwilligen mit fort. Da der Lehrer auch den Schulchor +heranziehen wollte, um den Abend reicher zu gestalten, +war kaum ein Haus im Dorf, das nicht den +einen oder anderen Mitwirkenden stellte, und überall +sah man der Feier mit freudiger Erwartung entgegen.</p> + +<p>Am Nachmittag des zweiten Advent waren die Töchter +und Schwestern der Sangesbrüder ins Schulhaus +geladen, um unter Mariechen Timmermanns Leitung +Rosen und Lilien für den Christbaum anzufertigen. Als +Leidchen am Abend nach Hause kam, glühte sie selbst +wie eine dunkelrote Christrose. »Gerd,« rief sie freudig +erregt, »ich und der Lehrer wollen Weihnachtsabend +ganz allein ein Lied zusammen singen, immer umschichtig, +'n Duett nennt er das,« und sie sang ihm den +Anfang ihres Parts vor. »Deern, Deern,« sagte er +ängstlich und doch auch erfreut, »das willst du auf dich +nehmen?«</p> + +<p>Gerd, der es übernommen hatte, den Christbaum zu +besorgen, mußte mehrere Stellen, auf denen Sangesbrüder +hausten, absuchen, bis er bei der Stütze des +zweiten Basses einen fand, der ihm schön und schlank +genug war. Wie er ihn die Dorfreihe entlang zu Wilhelm +Behnken trug, hatte er bald zwei Dutzend Kinder +hinter sich. Auf Bitten des Lehrers halfen er und Leidchen +auch beim Schmücken des Baumes, und die beiden +Geschwisterpaare waren sehr vergnügt dabei.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_123">[S. 123]</span></p> + +<p>Endlich war der von alt und jung ersehnte 24. Dezember +da, es schien aber, als hätten die Moorgründe +sich gegen das Vorhaben der Brunsoder verschworen. +Denn die graugelben Nebel, die sie den ganzen Tag +heraufsandten, waren dick und zähe, und legten sich +schwer auf das Land und die Lungen. Wer mit Husten +zu tun hatte, tat heute ein übriges. Wer nachmittags +um drei auf dem Brunsoder Damm ging, sah von der +Dorfreihe nichts und entdeckte die ihn säumenden Birken +erst, wenn er fast mit der Nase draufstieß. Aber um die +Leute im Hause und der Feier fern zu halten, hätten die +Moornebel noch dreimal so dick und schwer sein müssen.</p> + +<p>Gegen halb vier fingen allerhand wunderliche Gestalten +an, sich durch den feuchtkalten grauen Dunst zu +arbeiten, mit viel Gestöhne und Gehuste, das zuweilen +von einer kurzen Unterhaltung aus zahnlosem Munde +unterbrochen wurde. Es waren die Ältesten des Dorfes, +gebückte und verkrümmte Männlein und Weiblein, die +ihren Torf seit Jahrzehnten heraus hatten und ihre +Tage hinter dem Ofen verdämmerten. Viele von ihnen +hatten noch nie einen brennenden Christbaum gesehen; +denn in die Häuser fand er erst neuerdings Eingang, +und eine kirchliche Christvesper, wie sie in den Geestdörfern +üblich war, wurde in der über Quadratmeilen +zerstreuten Moorgemeinde nicht abgehalten. Da wollten +sie nun heute die gute Gelegenheit wahrnehmen, und bereits +eine gute Stunde vor Beginn der Feier wankten +sie an Stöcken und Krücken, zum Teil auch mit glimmenden +Feuerkieken zur Erwärmung der Füße versehen, +Behnkens Diele zu, um ihrer hart gewordenen<span class="pagenum" id="Seite_124">[S. 124]</span> +Ohren und schwachen Augen wegen die vordersten +Bankreihen zu besetzen.</p> + +<p>Bald darauf koppelte sich die Schuljugend auf dem +Damm. Die Eltern hatten das unruhige Völkchen gern +vor der Zeit hinausgeschickt, um bei dem letzten Rüsten +auf die Festtage die Füße frei zu haben. Fröhlich +klangen die jungen Stimmen durch den Nebel. Ein paar +übermütige Jungens machten sich einen Spaß daraus, +plötzlich aus der Dunsthülle hervorzuspringen und die +Mädchen zu erschrecken, die dann hell aufkreischten, +lachten oder schimpften, je nach Gemütsart.</p> + +<p>Was in den rüstigen Arbeitsjahren zwischen goldener +Kinderlust und silbernem Greisenschmuck stand, stellte +sich erst kurz vor fünf Uhr ein, als schon der Abend die +Nebelmassen dunkelte. Väter und Mütter trugen ihre +Jüngsten auf dem Arm oder ließen sie neben sich her +puddeln. Die Sangesbrüder waren als die Helden des +Tages leicht an dem festen, selbstbewußten Schritt zu +erkennen.</p> + +<p>Vor drei Jahren, als Behnkens Jan einheiratete und +über hundert Haus zur Hochzeit geladen waren, hat die +große Diele viel Gäste gesehen, aber heute sind's sicher +noch weit mehr. Ein paar Bettlägerige und die Allerkleinsten +mit ihren Wärtern abgerechnet, ist das ganze +Moordorf beieinander und wartet der kommenden +Dinge. Man sitzt auf Brettern, die über hochgekippte +Torfgleise gelegt sind. Für die Bejahrtesten sind Stühle +gestellt, damit sie die schwachen Rücken anlehnen können. +Die halbwüchsige männliche Jugend hat die Hillen über +den Kuhställen erstiegen und läßt zwischen den Hühnernestern<span class="pagenum" id="Seite_125">[S. 125]</span> +die allzeit unruhigen Beine herunterbaumeln. +Die Sänger nehmen das Flett ein: rechts der Verein +»Feierabend«, links der Kinderchor. Zwischen ihnen, +über der ehemaligen Herdstelle — vor der letzten Hochzeit +ist eine Küche mit Sparherd eingebaut worden — +ragt der Christbaum bis dicht unter die rußgeschwärzte +sodglänzende Decke, noch von Dämmerdunkel umwoben, +aber mit verheißungsvollem Funkeln im Gezweige. Die +Nebelschwaden, die mit den Menschen eindringen, irren +umher, ballen sich zusammen und umziehen drohend +die paar Hängelampen, die hier und da kläglich durch +den Dunst glimmen.</p> + +<p>Aber mögen die Moornebel heut' noch so mächtig sein, +hier drinnen sollen sie nicht zur Herrschaft gelangen. +Ein Licht flammt auf, noch eins, und viele, und mit +ihnen erglühen Rosen und Lilien ohne Zahl in den +Zweigen des zu seiner vollen Pracht erblühenden +Wunderbaumes. Da werden Hunderte von Augen weit +und groß, alte und junge, helle und trübe, kalte und +warme Augen; Augen, die von nichts wissen als von +stumpf machender Mühe und Sorge, und Augen, die +einem verborgenen Leben des inwendigen Menschen +leise Zeugnis geben und heimlich in eine andere Welt +zu schauen gelernt haben. Ein Paar solcher Augen hat +die achtzigjährige Anntrin Gerken, vorn rechts im Lehnstuhl. +Zum Sehen sind sie nicht mehr viel wert, aber +schauen — das können sie besser denn je, und wohl am +besten von all den Augen, in denen sich heut' abend der +Lichterbaum spiegelt.</p> + +<p>»Tack, tack, tack.« Herr Timmermann, in schwarzem<span class="pagenum" id="Seite_126">[S. 126]</span> +Gehrock und weißer Binde, schlägt mit seinem Stöckchen +gegen eine Stuhllehne. Die Männer erheben sich wie ein +Mann, mit Räuspern die Liederkehlen nachputzend und +Atem auf Vorrat schöpfend. Das Stöckchen wippt, steigt, +senkt sich, da bricht es los mit Donnergewalt: »Es ist +ein Ros entsprungen, aus einer Wurzel zart.« Herr +Timmermann hebt beschwörend die Hände, sendet +drohende und flehende Blicke, zischt: <em class="antiqua">piano!</em> — es hilft +alles nichts. Das Lampenfieber vor dem ersten öffentlichen +Auftreten weicht nur der Gewalt, und so braust +das zarteste aller Weihnachtslieder daher wie Donnerhall, +wie Schwertgeklirr und Wogenprall. — Das Fortissimo +hat aber auch sein Gutes. Selbst die Taubsten +in den vorderen Reihen, die ihre großen Handmuscheln +als Schalltrichter hinter die Ohren gesteckt haben, bekommen +etwas zu hören.</p> + +<p>Herr Timmermann tritt vor dem Christbaum zu +seiner jungen Schar hinüber, die ihn mit hellen, frohen +Augen ansieht, und rein und süß erklingt es: »Ihr +Kinderlein, kommet, o kommet doch all.« — Der Pastor +in Grünmoor kann morgen noch so schön predigen, die +Brunsoder Frauen und Mütter wird er doch nicht so +erbauen, wie's dieser Gesang ihrer Kinder tut.</p> + +<p>So wechselt Lied um Lied aus Männerkehlen und +Kindermund, bis Herr Timmermann mit dem Stöckchen +klopft und verkündigt: »Keine Weihnachtsfeier ohne die +liebe, alte Weihnachtsgeschichte. Hannchen, das jüngste +Kind unseres Präsidenten und freundlichen Gastgebers, +wird sie uns erzählen.«</p> + +<p>Ein Alter auf der ersten Bank faltet die zitterigen<span class="pagenum" id="Seite_127">[S. 127]</span> +Hände und erhebt sich, nach und nach folgt die ganze +Versammlung seinem Beispiel. Inzwischen ist Hannchen, +eine dralle Dickersche, mit kugelrunden braunroten +Backen und geölt glänzendem Blondhaar, auf einen +Binsenstuhl geklettert, setzt dem Dorf ein artiges +Knickschen hin und beginnt, indes hinten in Vaters +Stall eine Kuh brüllt, die Geschichte vom Stall zu +Bethlehem. Sie macht ihre Sache sehr brav, und Mutter +Behnken wischt sich Freudentränen aus den Augen. +Vor zwölf Jahren, als Hannchen so gar spät hinter den +Geschwistern ankam, und Jan, auf Weihnachtsurlaub +zu Hause erscheinend, beim Anblick dieser unerwarteten +Christbescherung sein Gesicht lang zog, hat sie sich ihrer +ein wenig geschämt. Aber heute ist sie stolz auf ihr Nesthäkchen, +und ihrem Ältesten, der selbst schon ein Kindchen +auf dem Arm hat, sieht sie es an, daß er's auch ist.</p> + +<p>Als Hannchen vom Stuhl zur Erde gesprungen ist, +tritt Vater Behnken vor, einen tuchbedeckten länglichen +Gegenstand im Arm, dem sich alle Hälse entgegenrecken. +Die Hülle fällt, ein Regulator funkelt im Weihnachtslicht +und wird dem verwundert dreinblickenden Lehrer +auf die Arme gelegt. Der steht erst einen Augenblick +starr, um dann seine Stimme zu erheben: »Meine +lieben Sangesbrüder! Ich weiß nicht, was ich sagen +soll. So haben Sie mich mit Ihrem prachtvollen Geschenk +überrascht und erfreut. Wie soll ich das nur wieder +gutmachen? ... Nun, ich verspreche Ihnen hier +unter dem brennenden Christbaum, daß ich mit erneuter +Freudigkeit meines Amtes als Ihr Dirigent walten +werde, und gebe der Hoffnung Ausdruck, daß unser<span class="pagenum" id="Seite_128">[S. 128]</span> +Männergesangverein ›Feierabend‹ je mehr und mehr +sich als eine wirkliche Bereicherung unseres dörflichen +Lebens erweisen wird und dem Dorf noch manche +schöne Stunden, wie die heutigen, schenken möge. In +diesem Sinne nehme ich die Gabe mit herzlichem Danke +an. Aber nun fahren wir mit unserer Feier fort. Bitte, +der Männerchor!«</p> + +<p>Endlich kommt auch die Reihe an Leidchen Rosenbrock. +Sie sitzt wohlgeborgen zwischen ihren Freundinnen, +aber ums Herz herum ist ihr bänglich und +beberig wie nie zuvor, nicht einmal vor der Konfirmandenprüfung +vor bald zwei Jahren. Herr Timmermann +gibt ihr ein Zeichen mit den Augen, und wie das +nicht hilft, mit der Hand. Da rafft sie allen Mut zusammen +und tritt vor, verwundert, daß die Beine, die +sich wie Stöcker fühlen, sie tragen.</p> + +<p>Nun steht sie unter dem Tannenbaum, spürt die +würzige Wärme auf ihren glühenden Wangen, läßt ihre +flimmernden Augen über das Köpfemeer vor sich irren, +fühlt das Herzchen bis in den Hals hinauf klopfen. Wird +sie überhaupt einen Ton über die Lippen bringen?</p> + +<p>Ihr Partner blickt sie ermutigend an und singt ihr +seine Frage zu. Und sie bleibt ihm die Antwort nicht +schuldig. Zwar kommt sie ein wenig hastig und stoßweise, +aber sie kommt. Das nächste Mal klingt's schon +freier. Und im Wechselgesang geht's zwischen den +beiden hin und her, immer froher, immer jubelnder, bis +auf einmal Herr Timmermann sich herumwirft, beide +Hände hoch erhoben, und nun die beiden Chöre mit +einem »Ehre sei Gott in der Höhe« einfallen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_129">[S. 129]</span></p> + +<p>Leidchen hat ihren alten Platz wieder eingenommen. +Die Nachbarin links krault ihr das Knie, die zur Rechten +streichelt ihren Arm, eine Frau klopft ihr von hinten +auf die Schulter. Wie sie aufblickt, sind die Augen fast +aller Sangesbrüder auf sie gerichtet. Mariechen +Timmermann nickt ihr zu. All diese Huldigung geht ihr +ein wie feuriger, süßer Wein. Es kommt wie ein +Freudenrausch über sie ...</p> + +<p>Die letzten Lieder verklingen, indes die Lichter sacht +niederbrennen und flackernd erlöschen, und die Türen +öffnen sich in die stickdunkle Nebelnacht hinaus.</p> + +<p>Leidchen wollte eben das Haus verlassen, als jemand +sie am Arm festhielt. Es war Mariechen Timmermann, +die ihr zuflüsterte, es wäre mit Gerd abgemacht, daß sie +beide noch für eine Viertelstunde mit hinübergingen. +Und schon hatte das zierliche Persönchen sich in ihren +Arm gehängt und zog sie mit sich fort.</p> + +<p>Als Gerd und der Lehrer ihnen nach einer Weile ins +Schulhaus folgten, war der Tisch schon gedeckt, und bald +saßen die vier beim Abendbrot, das aus mancherlei +Wurst vom selbstgemästeten Schwein bestand, wozu eine +Kaffeekanne süß duftende Schokolade spendete. Leidchens +feine Nasenflügel flogen; denn sie liebte Schokolade +sehr, hatte aber noch nie welche in flüssigem Zustande +zu sich genommen.</p> + +<p>»Genötigt wird bei uns nicht,« erklärte das Hausmütterchen +nachdrücklich, aber die Gastgeber mußten sich +doch bald zu des Landes Brauch bequemen. Denn wenn +Leidchen auch ungebeten ganz wacker zulangte, so machte +Gerd um so größere Schwierigkeiten und gab der<span class="pagenum" id="Seite_130">[S. 130]</span> +Schwester mit den Augen heimlich Zeichen, daß sie nicht +gar so frei und frech sein sollte. Er schämte sich ihrer fast +ein wenig.</p> + +<p>Als sie ihre Tasse hinhielt, um sie zum drittenmal +füllen zu lassen, griff er kurz entschlossen über den Tisch, +stülpte sie um und sagte: »Besten Dank, sie hat nun +wohl genug.«</p> + +<p>Mariechen sah ihn groß an.</p> + +<p>»Kälber und Kinder Maß müssen alte Leute wissen,« +erklärte er trocken.</p> + +<p>»Hören Sie mal, Rosenbrock,« rief Mariechen verwundert, +»Sie treiben Ihre Vormundschaft aber etwas +weit.«</p> + +<p>»Ja, ja,« stimmte Leidchen aus vollem Herzen zu, +»ist gut, daß Sie ihm das auch mal sagen. Mir glaubt +er's ja doch nicht.«</p> + +<p>»Zur Strafe trinken Sie auch noch eine Tasse,« verfügte +Mariechen, und es war schon zu spät, das Unglück +noch zu wenden. Arg mußte er sich mit dem für seinen +Geschmack viel zu süßen Zeug quälen.</p> + +<p>Als die Lehrersleute dann auf einmal verschwunden +waren, meinte Gerd, sie müßten nun wohl nach Hause +gehen. Aber seine Schwester lachte ihn aus und sagte: +»Mensch, es fängt doch erst an! Hör', wie die beiden +da nebenan es wichtig haben!«</p> + +<p>Er seufzte und wünschte sich lebhaft nach Hause. Das +Ungewohnte bedrückte ihn.</p> + +<p>Plötzlich erklang im anderen Zimmer ein Klavier, die +Tür öffnete sich, und der Lichtglanz eines bunt geschmückten +Christbaumes funkelte ihnen entgegen. Und<span class="pagenum" id="Seite_131">[S. 131]</span> +schon hatte Mariechen ihre Gäste am Arm genommen +und schob sie vor sich her in die Weihnachtsstube, wo +man sich um das Tafelförmige stellte und zu seinem +etwas blechernen Klang »O du fröhliche« anstimmte.</p> + +<p>Nachdem der Lehrer und seine Schwester die gegenseitigen +kleinen Geschenke besehen und bewundert +hatten, machten sie sich voll freudiger Erwartung über +das Paket aus dem Elternhause her. Da gab's erst +lauten Jubel, und dann saßen die beiden eng +aneinandergeschmiegt und lasen, sich umschlungen haltend, +die Weihnachtsbriefe.</p> + +<p>Gerd saß indessen stocksteif und regungslos vor dem +Teller, den man für ihn mit Äpfeln und Nüssen gefüllt +hatte, und sah ernst vor sich hin. Da nahm Leidchen auf +einmal seine Hand, und als er aufblickte, verriet ihm ein +feuchtes Schimmern in ihren Augen, daß ihre Gedanken +denselben Weg genommen hatten wie die seinen. +Darüber war er sehr froh, und drückte mit Wärme ihre +Hand, ließ sie dann aber schnell los, um den anderen +seine Gefühle nicht zu verraten.</p> + +<p>Als diese mit dem Auspacken und Brieflesen fertig +waren, wandten sie sich wieder an ihre Gäste, wobei sie +eine Liebenswürdigkeit entwickelten, bei der dem +jungen Moorbauernknecht schwül und bange wurde. +Er wußte nicht, was er sagen und wohin er sehen sollte, +während seine Schwester sich schnell in die Situation +fand, ihr Silberlachen klingen ließ und durch ihre freudeverklärte, +jugendfrische Lieblichkeit immer wieder die +Augen auf sich zog. Die echte Herzlichkeit, die man ihnen +entgegenbrachte, bewirkte jedoch, daß endlich auch Gerd<span class="pagenum" id="Seite_132">[S. 132]</span> +anfing sich freier zu fühlen, und zuletzt lächelte er gar +leise vor sich hin, wie er nur tat, wenn ihm so recht von +innen her wohl war.</p> + +<p>Mariechen Timmermann war groß in hübschen Einfällen, +die ihr plötzlich zu kommen pflegten und dann +sofort ausgeführt werden mußten. »Wollen mal einen +Weihnachtsreigen machen,« rief sie auf einmal, gab +Gerd und Leidchen die Hände, ihr Bruder schloß den +Ring, und so umschritten die vier den Tannenbaum, +indem sie dazu sangen: »O Tannebaum, o Tannebaum, +wie grün sind deine Blätter!« Als das Lied aus war +und der Reigen sich auflöste, nahm der Hausherr sein +Schwesterchen in den Arm und gab ihm einen schallenden +Kuß. Gerd erschrak und sah diskret zur Seite; denn +solche Zärtlichkeit berührte sein Empfinden fremd und +peinlich. Aber auf einmal drängte ein junges, warmes +Ding sich an ihn, und ehe er etwas dagegen tun konnte, +hatten ein paar frische rote Lippen sich auch auf seinen +Mund gedrückt. »Aber Leidchen!« murmelte er entsetzt +und suchte sie beiseite zu schieben, es half ihm alles +nichts, sie schmiegte sich um so fester in seine Arme und +lächelte übermütig das andere Pärchen an, und Mariechen +rief: »Rosenbrock, Sie alter Bär, machen Sie doch +nicht ein Gesicht, als ob der Ziegenbock Sie gestoßen +hätte, seien Sie mal'n bißchen nett mit Ihrer kleinen +Schwester!« Da überwand er sich, zu lächeln.</p> + +<p>»Was meinen Sie, Gerd,« fragte Timmermann, »ob +wir unsere süßen Deerns noch lange behalten? Oder ob +schon bald so'n Schlingel kommt und sie uns aus den +Armen wegholt?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_133">[S. 133]</span></p> + +<p>»Das hat wohl noch gute Weile,« meinte er.</p> + +<p>»Nee, nee,« rief Mariechen, »er soll bald kommen, ich +bin schon vierundzwanzig.«</p> + +<p>»Hm, hm. Dann wird's freilich bei kleinem Zeit, ich +hab' auch bloß an Leidchen gedacht; denn im Durchschnitt +wird hier im Moor viel zu früh geheiratet.«</p> + +<p>»Ach was, jung gefreit, hat noch niemand gereut.«</p> + +<p>»Das hat schon manchen gereut,« versetzte Gerd ernsthaft +und schickte sich an, Beispiele zu bringen.</p> + +<p>Aber seine gralläugige Widersacherin lachte ihm ins +Gesicht: »Rosenbrock, Sie reden ja genau wie'n Pastor,« +und Leidchen klatschte in die Hände und jubelte: »Das +ist recht, daß Sie's ihm heut' abend mal ordentlich sagen. +Mir glaubt er ja doch nicht.«</p> + +<p>»Na, Otto,« rief Mariechen, die sich nicht gern zu +lange bei einer Sache aufhielt, »nun spiel' uns mal +einen Walzer, ich will mal eben mit Leidchen herumtanzen.« +Er setzte sich vor das Klavier und begann zu +hämmern, und die beiden Mädchen schwebten zärtlich +verschlungen mit lachenden Augen durch den etwas +engen Raum, indes die Brüder mit freudigem Stolz +ihren Bewegungen folgten und frohe Blicke wechselten. +Dann trat Mariechen mit zierlicher Verbeugung vor +Gerd hin, ihn zu einem Tänzchen auffordernd. Er +schüttelte den Kopf, wurde rot, wollte böse werden, aber +sie ließ nicht locker, und so mußte er schließlich mit, und +sogar als Dame, wobei er einen Stuhl umriß, während +Leidchen, die Hände in den Seiten, über den hölzernen +Tänzer, der so verzweifelte Gesichter schnitt, sich totlachen +wollte. Darauf drängelte Mariechen ihren Bruder<span class="pagenum" id="Seite_134">[S. 134]</span> +vom Klavierbock, begann selbst auf die Tasten zu +trommeln, und er mußte mit Leidchen antreten. Das +gab ein schmuckeres Paar, und sie tanzten auch ein +Weilchen länger als die vorigen.</p> + +<p>Und dann saßen die beiden Geschwisterpaare wieder +um den Tisch, knackten Nüsse, aßen Vielliebchen, rieten +Scherzrätsel, spielten Dichterquartett, der Hausherr las +ein hübsches Weihnachtsgeschichtchen vor, das er irgendwo +gefunden hatte, und so enteilten die Stunden aufs +angenehmste. Gerd, der nachgerade völlig aufgetaut +war, wußte dem kleinen Racker, der es nicht lassen +konnte, ihn aufzuziehen, jetzt ganz gut zu dienen und +hatte öfters die Lacher auf seiner Seite.</p> + +<p>Mitternacht war längst vorüber, als die beiden Gäste +endlich losgelassen wurden und den Heimweg antraten. +Leidchen hing sich in den Arm des Bruders und sagte, +indem sie den Damm dahinschritten: »Junge, Junge, +heut' haben wir mal Weihnachten gefeiert! So vergnügt +hab' ich dich noch nie gesehen. Von den beiden +kannst du lernen, wie Bruder und Schwester miteinander +umgehen sollen.«</p> + +<p>Gerd antwortete nichts darauf.</p> + +<p>Nach einer Weile legte er den Arm fest um sie und +sagte: »Leidchen, mit Worten und Zärtlichkeiten kann +unsereins nicht so kramen wie solche Leute. Aber nicht +wahr? Wir wissen auch so, was wir aneinander haben. +Meinst du nicht auch?«</p> + +<p>»Ach ja, das wohl ...«</p> + +<p>»Und das ist die Hauptsache, Kind. Aber ich will dir +gern zugeben, von den beiden kann einer auch in solchen<span class="pagenum" id="Seite_135">[S. 135]</span> +Dingen allerlei lernen. Bloß nachmachen darf unsereins +ihre Art nicht. Der Bauer muß Bauer bleiben, sonst ist +er überhaupt nichts.«</p> + +<p>»Fängst du schon wieder an zu predigen?« rief sie und +kniff ihn leicht in den Arm.</p> + +<p>Sie schwiegen jetzt beide und schritten, still gewordener +Freude voll, Arm in Arm und einer der Nähe des +andern in tiefster Seele froh, langsam durch die Stille, +in die nur zuweilen das Rieseln des nimmer ruhenden +Wassers um ein Klappstau leise hineingluckerte, durch +die heilige Weihnacht, die den Atem anzuhalten schien, +wie um aus seligen Fernen raunender Botschaft zu +lauschen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<h2 class="s2">7.</h2> +<p><span class="pagenum" id="Seite_136">[S. 136]</span></p> +</div> + +<p>Nachdem die Brunsoder wieder einmal Torf, Heu, +Roggen und Kartoffeln geerntet, sieben Dorfgenossen +zu Grabe und neun zur Taufe geleitet, vier +grüne Hochzeiten nebst zwei silbernen und einer goldenen +gefeiert hatten, war wieder ein Jahr herum.</p> + +<p>Es war ein Abend zwischen Weihnachten und Neujahr, +Rosenbrocks saßen in der Stube beieinander, Jan +las die neueste Nummer der Hamme-Zeitung, die er +soeben dem Kästchen an der Hofbrücke entnommen hatte, +in die der Austräger sie zu stecken pflegte. Er begann +regelmäßig mit den Ferkeln, Faselschweinen, Quenen, +Starken und anderem Hausgetier, das auf den letzten +Seiten sein Wesen trieb; auch ins Lokale warf er wohl +mal einen Blick, zum Politischen und Allgemeinen +drang er selten vor.</p> + +<p>Plötzlich fing er an zu knurren und brummte vor sich +hin: »Die vermuckten Jungens!«</p> + +<p>Die anderen blickten neugierig auf, er aber schob die +Zeitung zu Leidchen hinüber, indem er mit dem Finger +in die untere Ecke der dritten Seite deutete.</p> + +<p>Sie beugte sich hastig über das Blatt, und indem sie +las, färbte eine lebhafte Röte ihr die Wangen, und der +Atem ging schneller. Gerd, der auf der anderen Seite +des Tisches saß und aus Zigarrenholz einen Kammkasten +schnitzte, beobachtete sie verwundert, fragte aber +in gleichgültigstem Tone: »Was hast du da?«<span class="pagenum" id="Seite_137">[S. 137]</span> +»Rat' mal!«</p> + +<p>»Da geb' ich meinen Kopf nicht zu her.«</p> + +<p>»Ich steh' hier gedruckt!« rief sie mit glänzenden +Augen.</p> + +<p>»So? Lies mal vor!«</p> + +<p>Sie schob die Ellbogen auf den Tisch, hielt das Blatt +unter die Hängelampe und las, langsam, in geziertem, +feierlichem Ton:</p><br> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Fräulein Leidchen Rosenbrock, der feinsten Deern +im Dorf, zu ihrem am 29. Dezember stattfindenden +siebzehnjährigen Wiegenfeste ein donnerndes Lebehoch, +daß die Birken sich biegen und die ganze Dorfreihe +wackelt. Wir stellen uns alle ein. Ob sie sich wohl was +merken läßt?</p> + +<p class="mright5">Die böbersten Brunsoder Jungs.«</p><br> +</div> + +<p>»Die könnten ihr Geld auch besser anwenden als zu +solchem Narrenkram!« brummte Gerd, und der Bauer +und die Frau nickten zustimmend. Aber das durch das +Inserat geehrte Geburtstagskind zog die schwellenden +roten Lippen kraus und sagte schnippisch: »Für'n guten +Spaß muß auch mal'n Groschen übrig sein. Morgen +geh' ich hin und lad' mir die Spinners ein, bin ja doch +an der Reihe. Und was ich für die Jungs brauche, +bring' ich gleich mit. Jan, gib mir fünf Mark von meinem +Lohn!«</p> + +<p>»Aber Deern!« rief Gerd erschrocken.</p> + +<p>Sie blickte ihn fest und entschlossen an. »Was sein +muß, das muß sein. Die Jungs sollen bei mir ebensogut<span class="pagenum" id="Seite_138">[S. 138]</span> +ihr Recht haben wie anderswo. Ich komm' übermorgen +schon in mein achtzehntes und bin kein Kind mehr. Jan, +her mit dem Geld!«</p> + +<p>Jan zögerte noch.</p> + +<p>»Wem gehört das Geld, das ich mir verdient habe?« +fragte sie spitz, »mir oder dir?«</p> + +<p>Endlich rückte er mit einem Taler heraus, und da +auch die anderen erklärten, das wäre überleidig genug, +gab sie sich zufrieden.</p> + +<p>Das Glückwunschinserat schnitt sie aus und klebte es +mit Mehlkleister fein säuberlich in ihr Poesiealbum.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Leidchen, die seit kurzem mit zum Spinnen ging und +heute, an ihrem Geburtstag, das Koppel zum erstenmal +bei sich haben sollte, hatte die Stube geschrubbt, zurecht +gekramt und mit feinem weißen Sand gestreut. Nun +saß sie am Fenster und erwartete die Mädchen. Vor ihr +stand das Spinnrad, auf dem schon ihre Mutter als +junges Mädchen gesponnen hatte. Es war kürzlich für +sie aufrepariert und in frischem Rot gestrichen; das +grüne Wockenblatt trug die Inschrift: »Schönes Mädchen +mit dem Rädchen, spinn um mich das Liebesfädchen.«</p> + +<p>Sie hatte das Reich heute allein. Jan und Trina +waren nach Mittag, um dem jungen Volk aus dem +Wege zu gehen, zum Besuch der Freundschaft nach +Meinsdorf aufgebrochen, Gerd machte eine Schlittschuhfahrt +über Land, und die Kinder spielten auf der Nachbarschaft.</p> + +<p>Die Spinnerinnen ließen auf sich warten, und voll<span class="pagenum" id="Seite_139">[S. 139]</span> +Ungeduld trat sie auf den Hof hinaus, um den Fußpfad, +der sie herführen sollte, entlang zu spähen. Da +hörte sie Stimmen, sah die hoch in den Armen getragenen +Spinnräder über dem Buschwerk schwanken, und +huschte wie ein Wiesel ins Haus zurück.</p> + +<p>Die Mädchen reinigten ihre Füße auf dem ausgedienten +Handmühlstein, der als Tritt vor der Seitentür +lag, und traten dann auf das Flett, wo das Geburtstagskind +sie empfing und ihre Gratulationen entgegennahm. +Und bald saßen die Spinnerinnen, ihrer +acht, im Halbkreis vor den roten, bunt gekrönten +Rädern, die sofort ein lustiges Schnarren begannen, +mit dem die Mundwerke, als sie erst einmal im Gang +waren, erfolgreich wetteiferten.</p> + +<p>Die meisten hatten am zweiten Weihnachtstag bei +Heini Peper getanzt, und da war nicht viel los gewesen. +Aber um so mehr wußten Anna Schnackenberg und +Minna Siedenburg zu erzählen, die den Weihnachtsball +im Kirchdorf mitgemacht hatten, wo's mal wieder +hoch hergegangen war. Ein Besendorfer hatte einem +Hasenweder auf den Fuß getreten, und da hatte es sofort +eine tolle Schlägerei zwischen den Jungens der seit +alters verfeindeten Dörfer gegeben, wobei die aus den +anderen Ortschaften teils diesen, teils jenen beigesprungen +waren. Die Mädchen hatten sich kreischend +auf Tische und Stühle geflüchtet, dem Gendarm, der +Frieden stiften wollte, war ein Bierseidel hart am Kopf +vorbeigeflogen, er hatte aber eine ganze Menge aufgeschrieben, +die nun gewiß nach Verden mußten, und +der Doktor hatte in der Nacht drei flicken müssen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_140">[S. 140]</span></p> + +<p>Es war Minna Siedenburg, die als Augenzeugin +hiervon berichtete und mit dem Seufzer schloß: »Die +Jungens sind auch gar zu wild und hitzig.«</p> + +<p>»Und dein Jakob ist der allerschlimmste,« sagte +Anna Schnackenberg. Minna lächelte stolz verschämt +und duldete es gern, daß Anna ihres Jakob Heldentaten +ins helle Licht stellte, was selbst zu tun ihr die Bescheidenheit +nicht erlaubt hatte.</p> + +<p>Von diesem Weihnachtsvergnügen kam das Gespräch +auf die Söhne des Dorfes, die zurzeit den bunten +Rock trugen. Zwei standen bei den Fünfundsiebzigern +in Bremen. Der eine, Jan Monsees, gehörte mit zum +Koppel, und man erwartete ihn diesen Abend mit den +anderen Jungens. Der andere, Müllers Hermann, +war erst im Herbst eingetreten und jetzt zum erstenmal +auf Urlaub. Er wäre der hübscheste und strammste +Jungkerl im Dorf, wollte jemand behaupten, aber es +wurde auch lebhafter Widerspruch dagegen laut, und +man sprach von ihm als von einem, der eigentlich zum +Jungvolk des Dorfes nicht recht mit dazu gehörte, da +er eben der Sohn des reichen Müllers war und die +Jahre seit der Schulentlassung in der Fremde zugebracht +hatte. — Drei Brunsoder verteidigten fern im +Osten die Reichsgrenze gegen die Russen, die Ärmsten +hatten diesmal keinen Urlaub bekommen. Man bedauerte +sie und schalt auf die Heeresverwaltung. Thyra +Kück, die Tochter des Schriftführers im Verein »Junghannover«, +meinte, zu hannoverschen Zeiten hätten die +Soldaten die Heimat näher gehabt, Deutschland wäre +jetzt viel zu groß, woraufhin Dele Meyerdierks, deren<span class="pagenum" id="Seite_141">[S. 141]</span> +Vater zum Kriegerverein gehörte und nationalliberal +wählte, es für ihre Pflicht hielt, für des Vaterlandes +Größe eine Lanze zu brechen. Als die Festung Thorn +genannt wurde, kam Leben in Beta Mohlbrock, die +sonst nicht viel sagte. Sie hatte dort einen Cousin, +einen Luftikus und Aufschneider, dessen Windbeuteleien +außer ihr kein Mensch ernst nahm. »In Thorn«, begann +sie, sich wie vor Frost schüttelnd, »ist es beinah +so kalt wie am Nordpol. Auf Wache ziehen sie immer +drei Mäntel übereinander an, und doch finden sie am +anderen Morgen oft genug welche totgefroren auf ihrem +Posten. Zuweilen brechen auch Rudel ausgehungerter +Wölfe über die russische Grenze, oder ein Bär kommt +leise auf den einsamen Wachtposten zugeschlichen, und +wehe dem Mann, der da nicht ruhig Blut behält und +schlecht schießt. Aber Georg hat die Schützenschnur, und +an seiner Uhrkette trägt er den blankpolierten Backenzahn +von einer alten Bärenmutter, die er mitten in +der Nacht, als sie ihn gerade in die Arme nehmen +wollte, mitten durchs Herz getroffen hat« — Minna +Siedenburg machte huh — »Es ist aber ganz gewiß +wahr, Minna, Georg hat's mir selbst erzählt, und ich +hab' den Zahn in der Hand gehabt. Ist man gut, daß +seine Zeit bald herum ist. Das Essen ist auch man zeitlich +in Thorn. Georg sagt, die Bauern in der Umgegend, +wo auch viel Moorland ist, wie bei uns, nähren +sich von Buttermilch, Torf und Talglichtern. Aber das +kann ich mir nicht recht denken, das hat er sich wohl +bloß vorschnacken lassen. Alles darf man auch nicht +glauben.« Die andern sahen sich lachend an, und eine<span class="pagenum" id="Seite_142">[S. 142]</span> +mitleidige Seele sagte: »Na, Beta, wenn Georg +nächsten Herbst reinkommt, kannst du den armen Kerl +man ordentlich herausfüttern und ihn recht fest in den +Arm nehmen, daß er warm wird.« Beta steckte sich +rot an und lächelte beglückt und hoffnungsselig vor +sich hin.</p> + +<p>Wie um diesem Thema einen würdigen Schluß zu +geben, stimmte Meta Windeler, die eine scharfe, schneidende +Stimme hatte, das Lied vom Soldatenabschied +an: »Schatz, mein Schatz, reise nicht so weit von hier.« +Der fernen Jungens gedachte man besonders noch mal +bei dem Verse:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Soldatenleben, das heißt nicht lustig sein.</div> + <div class="verse indent0">Wenn andere Leute schlafen, da muß man wachen,</div> + <div class="verse indent0">Muß Schildwach' stehn, Patrouille gehn.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>Und nun folgte Lied auf Lied: Ist alles dunkel, ist +alles trübe — Es wollt' ein Mädchen früh aufstehn, +dreiviertel Stund vor Tag — Leise tönt die Abendglocke +— In des Gartens dunkler Laube — Es welken +alle Blätter und fallen alle ab. Einmal schlug Leidchen +vor: Am Brunnen vor dem Tore, aber da wurde sie +ausgelacht: »Deern, das ist doch ein Schullied!« Und +sie errötete, weil sie etwas sehr Dummes gesagt hatte.</p> + +<p>Ob der Inhalt der Lieder derb, neckisch oder wehmütig, +die Weise munter oder sentimental war, das +machte für den Vortrag weiter keinen Unterschied: der +behielt seine epische Ruhe und seinen Leierton gerade so, +wie die Augen gleich ernst auf dem durch die Finger +gleitenden Faden ruhten und die Räder gleichmäßig +schnurrten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_143">[S. 143]</span></p> + +<p>Da machte es sich nun recht unliebsam bemerkbar, +daß in dem Gesang der jüngsten Spinnerin sich hier und +da etwas Lyrisches, der Ausdruck eigenen Empfindens, +hervorwagen wollte. Nachdem Leidchen deswegen +schon einige verwarnende Blicke bekommen hatte, sagte +Meta Windeler, die wegen ihrer schrillen Stimme als +Gesangsmeisterin anerkannt wurde, unwirsch und verweisend: +»Leidchen, was hast du da für 'ne wunderliche +Singerei vor?«</p> + +<p>Die etwas boshafte Anna Schnackenberg nahm ihr die +Antwort ab: »Du mußt wissen, Meta, das soll was extra +Feines sein. Sie singt ja immer mit dem Schullehrer.«</p> + +<p>Leidchen blitzte die Spötterin zornig an: »Du lügst, +Anna. Du weißt ganz gut, ich hab' nur das eine Mal, +voriges Jahr zu Weihnachten, mit ihm gesungen.«</p> + +<p>»So—o? Aber neulich war er doch erst wieder bei +euch.«</p> + +<p>»Ja, um Gerd zu besuchen.«</p> + +<p>»Haha, das kennt man ... Warum besucht er denn +die andern Jungens nicht?«</p> + +<p>»Bei denen wird er wohl nichts zu suchen haben.«</p> + +<p>»Nun hör' mal einer die Deern an! Sie trägt den +Kopf bald ebenso hoch wie ihr Bruder, der unsereins +überhaupt nicht mehr ankuckt!«</p> + +<p>Leidchen stoppte ihr Rad, stieß es mit dem Fuß ein +wenig von sich und sagte: »Anna, wenn du noch länger +so'n dummes Zeug schnackst, werd' ich dir ganz böse.«</p> + +<p>»Aber Deern,« lenkte diese ein, »du gehst ja nun +in dein achtzehntes und mußt es bald lernen, daß du +Spaß vertragen kannst.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_144">[S. 144]</span></p> + +<p>»Ich will erst den Kaffee aufgießen,« sagte Leidchen +und ging ärgerlich hinaus. Minna Siedenburg, als +die älteste des Koppels teilte einen Verweis aus: »Anna, +du mußt ein bißchen mehr zu deinen Worten sehen. +Das von Gerd und dem Schullehrer gehörte hier gar +nicht her.«</p> + +<p>Bald sammelte die Geburtstagsgesellschaft sich friedlich +um ein braunes Wachstuch, das mit der Schlacht +bei Gravelotte bedruckt war, um sich den Kaffeefreuden +hinzugeben. Leidchen schenkte ein, und Anna Schnackenberg +bekam zur Strafe die letzte Tasse. In der Mitte +des Tisches stand ein Teller, der hoch mit weihnachtlichem +Butterkuchen bepackt war.</p> + +<p>Als dann die Räder wieder liefen, wollte die Unterhaltung +nicht recht wieder in Gang kommen. Es lag +wie erwartungsvolle Spannung auf dem Kreise, alle +Augenblick wandte sich ein Kopf herum und dem Fenster +zu. Aber draußen war einstweilen nichts zu sehen, als +die schmale silberne Mondsichel, die ein schwaches Licht +auf kahle Baumgerippe und lückenhaften Altschnee warf.</p> + +<p>»Da kommen schon welche!« rief Beta Wöltjen, und +alle Köpfe wandten sich wie am Faden gezogen dem +Fenster zu. Richtig, da kamen zwei angeschlendert, die +Hände fast bis an die Ellbogen in den Hosentaschen +vergraben. Sie lehnten sich faul gegen die Brunnenumfassung, +man sah den Tabak, wenn sie ansogen, in +ihren Pfeifenköpfen glühen und die Rauchwolken im +Mondlicht schimmern.</p> + +<p>»Soll ich sie hereinholen?« fragte Leidchen aufgeregt.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_145">[S. 145]</span></p> + +<p>»Immer sinnig, das hat noch Zeit,« sagte Minna, +die als älteste die Verpflichtung fühlte, über dem guten +Ton zu wachen, und auch ihren Jakob noch vermißte.</p> + +<p>Die Spinnräder machten jetzt beträchtlich weniger +Umdrehungen in der Minute, immer häufiger spazierten +die Augen zum Fenster hinaus.</p> + +<p>Endlich wurden draußen drei weitere Gestalten sichtbar, +die langsam dem Brunnen zu bummelten und sich +zu den anderen stellten. Hin und wieder flog von dorten +auch ein Blick zum Hause hinüber.</p> + +<p>In der Stube fand es im stillen jede an der Zeit, +die Jungens nicht länger am Brunnen frieren zu lassen, +sondern in die Wärme zu holen. Aber keine wollte +das als die erste vom Munde geben, und so währte es +noch eine geraume Weile, bis Minna Siedenburg aufstand, +Leidchen am Arm nahm und sagte: »Komm +Deern, wir beide wollen sie holen. Von alleine kommen +sie doch nicht.«</p> + +<p>Die sechs im Gang bleibenden Räder spannen jetzt +wie wild.</p> + +<p>Nach kaum zwei Minuten erschien Minna wieder +in der Tür, ihren im Bewußtsein seines Heldentums +stolz lächelnden Jakob am Jackenknopf hinter sich herziehend. +Leidchen hatte Klaus Rietbrock am Knopfloch, +der, wie sie selbst, erst seit kurzem zum Koppel +gehörte und seine Verlegenheit dadurch zu verbergen +suchte, daß er die Beine trotzig verquer stellte und ein +Gesicht machte, als ob er ein ganz schlimmer wäre. Die +anderen drei folgten von selbst.</p> + +<p>»Daß ihr erst mal warm werdet,« sagte Leidchen<span class="pagenum" id="Seite_146">[S. 146]</span> +und kam mit einer Flasche, aus der sie jedem der +Burschen das dicke Gläschen einmal füllte, die »Prost, +Leidchen!« riefen und es auf einen Zug leerten. Dann +setzten sie sich auf die Wandbänke, hinter die ein wenig +mehr unter der Hängelampe zusammenrückenden Mädchen. +Die Räder schnurrten und die Pfeifen qualmten.</p> + +<p>»Au, er ist mir doch noch bannig steif,« stöhnte Jakob +Kück, seinen Arm, wie es schien, mit Mühe ausstreckend.</p> + +<p>»Wovon?« fragte Minna, die vor ihm saß und die +Gelegenheit, sich schnell mal nach ihrem Liebsten umzusehen, +wahrnahm.</p> + +<p>Nun konnte Jakob erzählen. Seine Tat erschien +nach seiner eigenen Darstellung noch erheblich heldenhafter +und bewundernswürdiger, als nach dem Bericht +der Augenzeuginnen, die doch auch kein Interesse daran +gehabt hatten, sie zu verkleinern. Der Hauptspaß +wäre, daß der Gendarm ihn nicht gefaßt hätte. Denn +wenn einer nachher für solchen Spaß einige Monate +Häcksel fressen müßte, das wäre nichts Genaues.</p> + +<p>Jakob war noch im besten Gange, als auf dem Flett +Schritte laut wurden, die offenbar nicht von Holzschuhen, +sondern von Kommißstiefeln stammten, und +Jan Monsees, der Weihnachtsurlauber, trat in die +Stube. Aber nicht allein. Dem untersetzten, in +schlotteriger Kommißkleidung steckenden Kriegsmann +folgte auf dem Fuße ein Kamerad, dessen schlanke, +ebenmäßige Gestalt eine gut sitzende funkelneue Extrauniform +umgab.</p> + +<p>Die Burschen, allen voran der in seinem Bericht +unterbrochene Weihnachtsballheld, empfingen den<span class="pagenum" id="Seite_147">[S. 147]</span> +zweiten der Ankömmlinge mit verwunderten und befremdeten +Blicken. Aber Jan Monsees sagte: »Müllers +Hermann, mein Kompagniekamerad, war gerade bei +mir zum Besuch, da hab' ich ihn ein bißchen mitgebracht. +Es wird wohl keiner was dagegen haben.« +Inzwischen war dieser mit den knarrenden Extrastiefeln +auf Leidchen zugeschritten, gab ihr, die Hacken zusammenschlagend, +die Hand und sagte: »Ich hab' in +der Zeitung gelesen, daß du heute Geburtstag hast, und +wollte dir auch eben gern gratulieren. Darf ich 'ne +halbe Stunde mit schnacken?«</p> + +<p>»Von Herzen gern,« sagte Leidchen, durch den unerwarteten +Besuch nicht wenig geschmeichelt, und sah +sich nach einem Platz für ihn um. Da die Bänke ziemlich +besetzt waren und die anderen keine Anstalt machten, +zusammenzurücken, holte sie schnell einen Stuhl und +bat, ihn halblinks hinter sich stellend, Hermann, damit +vorlieb zu nehmen. Dann kredenzte sie ihm und +seinem Kameraden den Bewillkommnungsschluck. Auch +die übrigen bekamen der Reihe nach wieder ein +Gläschen.</p> + +<p>Jakob Kück fing noch einmal von seinem Weihnachtsball +an, fand aber keine rechte Aufmerksamkeit +mehr. Er ärgerte sich nicht wenig, daß er sein Pulver +zu früh verschossen hatte. Um so leichter wurde es +dem Eindringling, sich im Handumdrehen zum Helden +der Situation zu machen. Er steckte von oben bis unten +voll von Unteroffiziersanekdoten und Kasernenhofblüten, +die er natürlich alle selbst erlebt haben wollte +und geschickt vorzubringen wußte. Je lebhafter seine<span class="pagenum" id="Seite_148">[S. 148]</span> +Zuhörerinnen Beifall spendeten, desto launiger und +witziger wurde sein Erzählen. Den Stuhl noch ein +wenig vorziehend, saß er bald an Leidchens Seite und +im Kreise der Mädchen, die immer wieder von ihren +Fädchen aufblickten und in das frische, lachende Gesicht +des jungen Kriegers sahen, der nach jedem Geschichtchen +selbstgefällig seinen unwiderstehlichen Schnurrbart +drehte. Die Jungens auf den Bänken im Hintergrund +fühlten sich sehr an die Wand gedrückt. Jakob Kück, +der beim ersten Garderegiment gedient hatte und den +Rekruten der Fünfundsiebziger von Grund seiner Seele +verachtete, versuchte einige Male, ihm einen Knüppel +zwischen die Beine zu werfen. Aber der wußte ihn +jedesmal so geschickt zu parieren und zurückzugeben, daß +er selbst darüber stolperte und von den Mädchen ausgelacht +wurde. Und sogar Minna Siedenburg lachte +mit. Müllers Hermann war und blieb erster und einziger +Hahn im Korbe. Krischan Wedderkopp ging +bald heimlich hin und stibitzte die nach dem letzten +Umtrunk wieder gefüllte Flasche, an der man sich schadlos +hielt.</p> + +<p>Endlich schien Hermanns Anekdotenschatz erschöpft zu +sein, und Meta Windeler schlug vor, mal eins zu singen. +Das geschah denn auch, und dabei konnten auch die +an der Wand sich mal wieder hören lassen. Die meisten +sangen »groff«, das heißt, eine Oktave tiefer als die +Mädchen, einige versuchten aber auch etwas wie die +zweite Stimme. Krischan Wedderkopp befand sich +schon in dem Stadium, wo das Singen zum Gröhlen +wird. —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_149">[S. 149]</span></p> + +<p>Gerd, den die unsicheren Eisverhältnisse der Hamme +zu Umwegen gezwungen hatten, kehrte später zurück, als +in seiner Absicht lag. Er fand eine ziemlich fortgeschrittene +Stimmung vor. Er nickte den gerade +wieder Singenden grüßend zu und schritt durch die +Stube, um das einzige Fenster, das zum Öffnen eingerichtet +war, aufzumachen. Denn die Luft war in dem +niedrigen tabaksqualmerfüllten Raum so heiß und dick, +daß es einem, der von draußen kam, schier den Atem +versetzen wollte. Dann begab er sich in die Ecke hinter +den Ofen.</p> + +<p>Als das Lied aus war, kam Müllers Hermann zu +ihm, begrüßte ihn durch Handschlag und erzählte, auf +welche Weise er hier unter das Koppel verschlagen +wäre. Nachdem er noch einige Worte mit ihm gewechselt +hatte, begab er sich an seinen Platz zurück. +Die andern nahmen weiter keine Notiz von dem Ankömmling. +Er galt ihnen nun einmal als Sonderling +und Drögepeter, den man am besten sich selbst überließ. +Doch schien es, als ob seine Anwesenheit auf die ausgelassene +Lustigkeit lähmend wirkte.</p> + +<p>Aber Krischan Wedderkopp ließ sich das weiter nicht +anfechten, er hatte mehr getrunken als die anderen und +war nun einmal in der Fahrt. Nachdem er schon allerhand +Unfug gemacht hatte, brach er durch die Reihe der +Spinnerinnen und näherte ein angebranntes Streichholz +der Hängelampe, wie um es über ihr neu zu entzünden. +Doch plötzlich knipste er es fort, hielt die flache +Hand schräg hinter das Glas und blies scharf dagegen. +Die Lampe erlosch, die Gesellschaft befand sich im Dunkeln,<span class="pagenum" id="Seite_150">[S. 150]</span> +und das Kreischen der Mädchen verriet, daß einige +Burschen sich sofort kleine Freiheiten erlaubten. Es +drohte ein tolles Durcheinander zu werden.</p> + +<p>Da donnerte es aus der Ofenecke: »Steckt das Licht +wieder an!« Aber niemand gehorchte.</p> + +<p>Gerd fand Schwefelhölzer in seiner Westentasche und +riß eins an der warmen Ofenplatte in Brand. Aber +ehe die bläulich schwelende Flamme das Holz recht ergriff, +wurde es ihm in der Hand ausgeblasen.</p> + +<p>Ein zweites hatte das gleiche Schicksal.</p> + +<p>»Nehmt euch in acht!« rief Gerd, ein drittes in den +hohlen Händen schützend. Eben wollte er es zur Lampe +emporheben, als es wieder erlosch.</p> + +<p>Es fing an, in ihm zu kochen, und als auch das +vierte Zündholz, das er, unter der Lampe stehend, am +Hosenboden angerissen hatte, ausgeblasen wurde, +schnellte er die rechte Hand scharf zur Seite und traf +jemanden nicht eben sanft auf den Mund und Backe. Es +gab einen dumpfen Klapp und gleich darauf ein wildes +Gejohle.</p> + +<p>Mit dem fünften Streichholz brachte er unter dem +Schutz seiner geballten Faust die Lampe glücklich in +Brand.</p> + +<p>Die Mädchen strichen sich die verwirrten Haare glatt, +banden die aufgelösten Schürzenbänder zu und setzten +sich ehrbar wieder an ihre Spinnräder.</p> + +<p>»Muß mir doch mal die Schnuten ankucken, wen's +getroffen hat,« sagte Krischan Wedderkopp und sah +mit seinem Faungesicht den einzelnen scharf auf den +Mund, bis er vor dem Müller stehen blieb und<span class="pagenum" id="Seite_151">[S. 151]</span> +mit schadenfrohem Lachen rief: »Hier hat's eingeschlagen!«</p> + +<p>Hermann leugnete und stellte eine unbefangene +Miene zur Schau. Aber die gerötete Backe verriet +ihn.</p> + +<p>Es erhob sich ein helles Gelächter, in das auch die +Mädchen mit einstimmten. Hermann fühlte, daß er +etwas tun mußte, um seine schwer gefährdete Soldaten- +und Burschenehre zu retten.</p> + +<p>Er trat vor Gerd hin, der sich in seinen Winkel +zurückgezogen hatte und lässig gegen den Ofen lehnte.</p> + +<p>»Gerd, du hast mich geschlagen!«</p> + +<p>»Warum hältst du deinen Schnabel hin?« fragte +der gelassen.</p> + +<p>Die Burschen zogen eine Mauer um die beiden. +Die Mädchen, sich im Hintergrund haltend, sahen +ängstlich und neugierig zwischen ihnen durch; die +kleineren waren auf Stühle gestiegen. Jan Monsees +suchte den Kameraden mit gütlicher Zusprache zu +beruhigen, während Krischan Wedderkopp hetzte: +»Hiß, hiß! Wer sich aufs Maul schlagen läßt, ist +kein Kerl.«</p> + +<p>»Ich verlange, daß du auf der Stelle Abbitte tust,« +stieß der Müller in heiserer Stimme heraus.</p> + +<p>Gerd schwieg und verharrte in seiner lässigen Haltung.</p> + +<p>Da langte der Kriegsmann, sich hoch aufrichtend, +mit großer Gebärde nach dem Seitengewehr. Jedoch +bevor er es ziehen konnte, war Gerd zugesprungen, +hatte ihn mit Untergriff gepackt und streckte den langen +Menschen der Länge nach in den Streusand des Fußbodens.<span class="pagenum" id="Seite_152">[S. 152]</span> +Dann ließ er ihn aber sofort los, steckte beide +Hände in die Hosentaschen und lehnte sich wieder gegen +den Ofen.</p> + +<p>Die helle Wut im Gesicht, sprang der andere auf die +Füße, zog blitzschnell seine Waffe und wollte auf den +Gegner eindringen. Aber Leidchen, die Kette der +Burschen durchbrechend, warf sich ihm mit einem gellenden +Schrei entgegen, und zugleich packten ein paar kräftige +Arme den Rasenden. »Was? Der will uns mit +seinem Käsemesser zu Fell?« »Was hat der großschnauzige +Kerl überhaupt in unserem Koppel zu +suchen?« »Raus mit ihm!« schrie es durcheinander, +und obgleich Jan Monsees kameradschaftlich Einspruch +erhob und Leidchen bat und flehte, beförderten +die erhitzten, eifersüchtigen Burschen den ungebetenen +Gast, so sehr er sich mit Händen und Füßen wehrte, erbarmungslos +zur Stube und zum Hause hinaus.</p> + +<p>Mit dem Spinnen war es jetzt natürlich vorbei, +obgleich Leidchen dringend bat, wieder Platz zu nehmen. +Eine Weile stand ihre Geburtstagsgesellschaft noch in +der Stube durcheinander, das Vorgefallene leidenschaftlich +besprechend, dann nahmen die Mädchen ihre +Spinnräder in den Arm, und das Koppel zog aufgeregt +zum Hause hinaus.</p> + +<p>Gerd hatte schon vor den anderen die Stube verlassen +und sich hinten auf der Diele bei dem Vieh zu +schaffen gemacht.</p> + +<p>Als er auf das Flett zurückkam, begegnete ihm Leidchen, +die soeben ihre Gäste zur Seitentür hinausgeleitet +hatte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_153">[S. 153]</span></p> + +<p>»Na, sind wir das rüde Volk endlich aus dem Hause +los?« fragte er arglos.</p> + +<p>Wie eine fauchende Katze, als ob sie ihm an den +Kopf wollte, kam sie auf ihn zugefahren, ihre Augen +schossen Blitze, der ganze Körper zitterte vor Erregung, +und mit zornerstickter Stimme rief sie:</p> + +<p>»Das vergess' ich dir mein Lebtag nicht, was du mir +heut' abend angetan hast!«</p> + +<p>»Ich? Dir?« fragte er verwundert.</p> + +<p>»Nun stell' dich auch noch dumm! Du hast mir +meinen ganzen Geburtstag ausgeschändet. Wir waren +alle so vergnügt und lustig ... bis du kamst. Da war's +mit einemmal vorbei. Du gönnst mir ja keinen Spaß, +das weiß ich schon lange.«</p> + +<p>»Leidchen!«</p> + +<p>»Ich hatte mich so gefreut, daß Müllers Hermann +sich auch mal bei uns sehen ließ. Denn das war eine +große Ehre für mich; und er hat uns so spaßige Geschichten +erzählt. Und nun muß er so aus dem Hause +kommen! Schämen muß'n sich vor den Leuten wegen +so 'nem Bruder!«</p> + +<p>»Wenn du dich wegen sonst nichts zu schämen +brauchst, dann sei froh. Ja, schämen solltet ihr euch +wirklich, ihr großen Mädchen, so im Dunkeln mit den +Jungens herumzutoben! Daß eine, wie Anna Rickers, +dazu Lust hat, nimmt mich nicht wunder. Aber daß dir +das Spaß macht, Leidchen, das tut mir in der Seele +weh ... Pfui, sich von einem Kerl, wie Krischan Wedderkopp, +anfassen zu lassen!«</p> + +<p>»Mich hat kein Krischan angefaßt! Nur die Schleife<span class="pagenum" id="Seite_154">[S. 154]</span> +vom Schürzenband hat mir einer aufgezogen, und was +ist da groß bei? Aber so bist du schon immer gewesen: +aus der Mücke machst du einen Elefanten und aus +einem kleinen Spaß gleich 'ne große Sünde. Mit +jedem Tag wirst du ducknackiger, das sagen die anderen +auch. Ich glaube, das kommt davon, daß du so viel +mit dem Schulmeister läufst, worüber alle Leute sich +wundern. Von dem lernst du wohl das Schulmeistern +und Aufpassen. Aber ich lasse mir das nicht länger gefallen, +ich hab's jetzt gründlich satt ... Was du mir +heut' abend angetan hast, das vergess' ich dir so leicht +nicht. Warte, ich spiel' dir noch mal einen Streich, daß +du auch dran denken sollst!«</p> + +<p>Sie hatte die Hand zur Faust geballt und sie +drohend gegen ihn erhoben.</p> + +<p>»Man sachte, man sachte!« klang es begütigend von +der Seitentür her, durch die Jan und Trina soeben +eingetreten waren. »Deern, was hast du denn bloß?« +fragte die letztere, »du bist ja wohl nicht recht klug.«</p> + +<p>Leidchen war jäh verstummt und mit einem feindseligen +Blick auf den Bruder ging sie in ihre +Kammer.</p> + +<p>»Was hat sie denn?« fragte Trina, ihr Kopftuch +lösend und von dem langen Weg ermüdet auf einen +Stuhl sinkend.</p> + +<p>»Nichts Besonderes,« sagte Gerd, »die Deerns +kriegen manchmal so ihren Rappel.«</p> + +<p>Damit wandte er sich und suchte seine Schlafkammer +auf, die an der Großen Diele lag.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_155">[S. 155]</span></p> +<h2 class="s2">8.</h2> +</div> + +<p>Als Gerd am nächsten Morgen erwachte, hoffte er, +Leidchen würde ihn wegen ihrer häßlichen Ausfälle +vom gestrigen Abend um Verzeihung bitten, oder +doch auf irgendeine Weise merken lassen, daß sie ihr +leid täten. Aber in dieser Erwartung täuschte er sich. +Sie tat den ganzen Tag, als ob er nicht vorhanden +wäre, und sah auch bei Tisch, wo sie sich gegenüber +saßen, geflissentlich an ihm vorbei.</p> + +<p>Beim Mittagessen machte die Schwägerin den Versuch, +die Geschwister zu versöhnen, wurde aber von +Leidchen schroff zurückgewiesen. Jan, der abends vorm +Kuhstall dasselbe versuchte, erging es nicht besser.</p> + +<p>Wenn sie ohne ihn fertig werden könnte, sagte sich +Gerd, so könnte er es ohne sie erst recht. Allerlei +Magdarbeiten, die er ihr bislang abgenommen hatte, +weil sie größere Körperkraft verlangten, ließ er fortan +sie selbst verrichten, und sie kam ihnen mit einer Art +Trotz nach, aber doch so, daß die Ausführung zu Tadel +keinen Anlaß bot. Überhaupt schien sie ihre Ehre darein +zu setzen, ihm zu zeigen, daß sie auf eigenen Füßen +stehen konnte und seiner Hilfe und Aufsicht nicht mehr +bedurfte.</p> + +<p>Gerd empfand diesen Zustand aber doch bald als +drückend und fing an zu erwägen, ob er nicht seinerseits +Schritte zum Frieden tun sollte. Aber er schob das +immer wieder hinaus, in der Hoffnung, daß sie eines +Tages ihr Unrecht einsehen und ihm wenigstens einen +kleinen Schritt entgegen tun würde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_156">[S. 156]</span></p> + +<p>So liefen einige Wochen ins Land.</p> + +<p>Die Gräben, die eine längere Frostzeit von Mitte +Dezember an verschlossen gehalten hatte, wurden Ende +Januar von Tauwind und Landregen schnellstens aufgeschlossen, +und man rüstete eiligst die Schiffe, um nicht +das in dem kalten Winter flott gehende Torfgeschäft +ganz den Pferdebauern zu überlassen, die mit den +braunen Kumpwagen bei jeder Witterung zur Stadt +fahren konnten.</p> + +<p>Als Gerd an einem Spätnachmittag von der ersten +Bremerfahrt des neuen Jahres nach Hause kam, bemerkte +er sofort, daß Leidchens böse Laune umgeschlagen +war. Sie bot ihm die Tageszeit, trug ein reichliches +und gutes Vesperbrot auf und setzte sich mit an den +Tisch, um ihm Gesellschaft zu leisten. Er hatte aber +das Gefühl, daß hinter dieser Freundlichkeit etwas +weniger Erfreuliches lauerte und nahm sich vor, möglichst +einsilbig zu sein, in der Erwartung, daß es dann +am ehesten ans Licht kommen würde. So aß er denn +und schwieg.</p> + +<p>Nach einer Weile sagte sie: »Du bist ja so still heute, +Gerd.«</p> + +<p>Er zuckte die Achseln.</p> + +<p>»Weißt du das Neueste?«</p> + +<p>Er verriet nicht das geringste Interesse, es zu erfahren.</p> + +<p>»Georg Marwede, der in der Bremer Neustadt das +große Milchgeschäft hat, ist heute hier gewesen und hat +auf unsere Rotbunte gehandelt.«</p> + +<p>»Hm.«</p> + +<p>»Aber Jan ist nicht eins mit ihm geworden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_157">[S. 157]</span></p> + +<p>»Hm.«</p> + +<p>»Aber ich bin mit ihm eins geworden.«</p> + +<p>»Diese Sülze schmeckt gut.«</p> + +<p>Sie sah verwundert zu ihm hinüber, der mit vollen +Backen kaute.</p> + +<p>»Du sollst dich wundern! ... Ich hab' mich ihm +nämlich auf den Herbst als Fräulein für die Küche und +die Kinder vermietet.«</p> + +<p>»So ...«</p> + +<p>»Nicht wahr, darüber freust du dich doch auch?«</p> + +<p>»Mir ist das alles eins. Meinetwegen hättest du +dich auch nach Hamburg oder Berlin vermieten +können.«</p> + +<p>Leidchen hatte das Gefühl einer großen Enttäuschung. +Als am Vormittag der Bremer Milchmann, +zuerst im Scherz, ihr die Stelle in seinem Hause +angeboten hatte, war ihr erster Gedanke gewesen, das +wäre eine gute Gelegenheit, Gerd einmal recht tüchtig +zu ärgern. Den ganzen Tag hatte sie sich dann auf den +Augenblick gefreut, wo sie ihn mit der unangenehmen +Neuigkeit überraschen könnte. Und nun nahm der +Mensch das so auf!</p> + +<p>Sie glaubte noch immer, er heuchle nur Gleichgültigkeit +und müsse gleich auf die Angelegenheit zurückkommen. +Aber er nahm sich noch ein Stück Sülze, aß +und schwieg.</p> + +<p>Da erschrak sie vor der plötzlichen Erkenntnis, wie +weit sie und ihr Bruder auseinander gekommen waren. +Das hatte sie ja gar nicht gewollt. Sie hatte ihn für +die Störung ihrer Geburtstagsfeier bestrafen und sich<span class="pagenum" id="Seite_158">[S. 158]</span> +bei dieser Gelegenheit größere Freiheit erringen wollen, +aber nie daran gedacht, ihn ernstlich von sich zu stoßen. +Denn wenn er ihr auch manchmal unbequem war, +eigentlich war sie dem so treu um sie besorgten Bruder +doch stets in schwesterlicher Liebe zugetan gewesen. Im +Grunde war es ihr auch recht, daß er anders war als +die übrigen, daß er anderen Umgang und andere Erholung +suchte als Jakob Kück und Krischan Wedderkopp.</p> + +<p>Gerd war mit seinem Vesperbrot fertig und stemmte +die Hände auf den Tisch, um sich zu erheben, als Leidchen +auf einmal fragte: »Bist du noch immer böse auf +mich?«</p> + +<p>»Du gehst deinen Weg, ich geh' meinen,« sagte er +trocken. »Schiedlich, friedlich, dabei stehen wir uns +beide am besten.«</p> + +<p>»Nein, Gerd, nein! Das halt' ich nicht länger aus. +Bitte, sei wieder gut mit mir!«</p> + +<p>Sie streckte ihm bittend die Hand über den Tisch +entgegen. Einen Augenblick zögerte er, dann nahm er +sie, indem er befreit aufatmete, sie mit frohen Augen +ansah und freudig bewegt rief: »Leidchen, glaub' mir, +mir ist es auch lieber so.«</p> + +<p>»Was meinst du zu der Stelle, die ich angenommen +habe?« fragte sie, vor Ungeduld brennend, die Rede +auf das zu bringen, was sie den Tag über beschäftigt +hatte.</p> + +<p>»Hm. Wieviel Lohn gibt's?«</p> + +<p>»Lohn nicht, aber etwas Gehalt.«</p> + +<p>»Der Name tut nichts zur Sache. Wieviel?«</p> + +<p>»Für den Anfang fünfundzwanzig Taler.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_159">[S. 159]</span></p> + +<p>»Deern, du bist wohl nicht recht bei Trost! Hier +bist du bald nach fünfzig hin, und gehst in die Stadt für +fünfundzwanzig?«</p> + +<p>»Dafür bin ich aber auch Fräulein.«</p> + +<p>Er zuckte verächtlich mit den Achseln.</p> + +<p>»Ich esse mit der Herrschaft am Tisch ...«</p> + +<p>»Das heißt, du kannst ihre Krabben füttern und +ihnen die Schnäbel abwischen.«</p> + +<p>»Und für die groben Arbeiten wird ein Dienstmädchen +gehalten.«</p> + +<p>»Ach so, du bist auf einmal zu fein, den Besen in die +Hand zu nehmen.«</p> + +<p>»Kuck', nun fängst du schon wieder an!«</p> + +<p>»Was sagen denn Jan und Trina dazu?«</p> + +<p>»Die wollen mich zum Herbst ganz gern ziehen lassen. +Sie können es ja genug mit einem kleinen Mädchen für +weniger Lohn tun.«</p> + +<p>»Ach, Leidchen, hättest du mich doch vorher gefragt! +Wir kennen die Leute ja gar nicht. Ich hätte mich mal +in der Stadt nach ihnen umhören können ... Läßt sich +die Sache nicht noch rückgängig machen?«</p> + +<p>»Nein, ich habe den Mietstaler schon angenommen.«</p> + +<p>Gerd sah bekümmert und ratlos vor sich hin. Aber +plötzlich schlug er mit der Faust auf den Tisch und rief +erfreut: »Daß ich daran nicht gleich gedacht habe! +Deern, du bist noch nicht volljährig. Wenn dein Vormund +nein sagt, gilt der Taler nicht. Sonntag nachmittag +geh' ich hin und bringe die Sache in Ordnung.«</p> + +<p>»Du kannst mich mitnehmen,« sagte Leidchen, »und +dann überlegen wir drei uns das mal ganz vernünftig.<span class="pagenum" id="Seite_160">[S. 160]</span> +Du magst recht haben, ich hab' die Sache etwas übers +Knie gebrochen ... Ich will mich auch noch mal besinnen +...«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Kord Rosenbrock war der älteste Sohn des Rosenbrockschen +Hauses gewesen, hatte aber das väterliche +Erbe seinem Bruder Jan überlassen und mit einer +kinderlosen Witwe eine achtzig Morgen große hypothekenfreie +Stelle in Tunkendorf auf der Südseite des +Kirchspiels erheiratet. Da die Ehe kinderlos geblieben +war, hatte er sich bald gesagt, es würde eine Dummheit +sein, sich für seiner Frau Schwesterkinder abzurackern. +So schonte er denn das Torfmoor für kommende Geschlechter +und ließ das Schiff im Graben verfaulen. +Ein Paar glatter Dänen nebst Kutschwagen, sowie die +Pachtung der Dorfjagd kostete allerhand Geld, aber +das von seinen Vorwesern tüchtig heraufgearbeitete +Besitztum konnte schon einige Hypotheken tragen. Ein +stattlicher Vollbart und ein rundliches Bäuchlein unterschieden +den Mann außerdem noch von den meist glatt +rasierten und hager sehnigen Männern des Landes. +Sein Stolz aber war die ausgedehnte Rechtskunde, die +er sich aus Gesetzsammlungen und volkstümlichen Kommentaren +zusammengelesen hatte. Um sie auch praktisch +zu verwerten, hatte er meistens ein Prozeßchen in +Gang, wozu die etwas verwickelten Stau- und Rieselrechtsverhältnisse +von Tunkendorf bequeme Gelegenheit +boten.</p> + +<p>Gerd und Leidchen, die am Sonntag vormittag in +Grünmoor die Kirche besucht hatten, kamen gerade zur<span class="pagenum" id="Seite_161">[S. 161]</span> +rechten Zeit an. Sie fanden Onkel und Tante bei der +angenehmen Beschäftigung, einen sauber gespickten und +hübsch braun gebratenen Moorhasen zu verzehren, und +wurden eingeladen, mitzuhalten.</p> + +<p>Nach der Mahlzeit, während Tante Beta den Tisch +abräumte, lehnte Onkel Cord sich im Sofa zurück, faltete +die Hände über dem Magen und fragte: »Na, +Kinder, was führt euch denn her?«</p> + +<p>»Wir kommen in Vormundschaftssachen,« sagte Gerd. +»Es handelt sich um Leidchen.«</p> + +<p>Der Vormund betrachtete sein schmuckes Mündel mit +Wohlgefallen: »Was ist denn mit dir, Kind? Du willst +doch nicht schon heiraten? Ich könnte mir denken, daß +sich bald einer fände, der dazu Lust hätte.«</p> + +<p>Leidchen schüttelte lächelnd den Kopf. Gerd aber +runzelte die Stirn und sagte: »Es handelt sich um eine +ernste Sache. Das Mädchen hat sich leichtsinnig nach +Bremen vermietet und mich vorher nicht einmal gefragt.«</p> + +<p>»Dazu ist sie nach den Gesetzen auch nicht verpflichtet,« +erklärte der Onkel.</p> + +<p>»Aber Euch als Vormund hat sie auch nicht gefragt,« +rief Gerd, ärgerlich über dessen Weise, die Angelegenheit +zu behandeln.</p> + +<p>»Ich denke, dazu ist sie jetzt eben gekommen,« versetzte +Cord Rosenbrock, dem hitzige Menschen unangenehm +waren, die Daumen umeinander drehend. +»Na, Deern, warum möchtest du denn gern nach der +Stadt?«</p> + +<p>Leidchen war um Gründe nicht verlegen. Sie wollte<span class="pagenum" id="Seite_162">[S. 162]</span> +sich gern mal verändern, bei der Schwägerin könne sie +doch nichts mehr lernen. Sie möchte auch versuchen, +wie ihr die feine Arbeit gefiele. Denn ob sie Lust +hätte, das ganze Leben Torf zu backen, das stünde noch +dahin.</p> + +<p>Der Vormund nickte und meinte, das ließe sich hören. +Die Rosenbrocks, die von dem großen Geesthof Trommsloh +stammten, hätten von jeher in die Höhe gestrebt, +weshalb er selbst zum Beispiel es auch zu einem Hof +gebracht habe, der doppelt so viel wert sei, als seine +väterliche Stelle in Brunsode. »Es freut mich,« schloß +er, »daß dieser Trieb auch in dir ist. Und was hast du +dagegen, Gerd?«</p> + +<p>»Erstens mal,« begann dieser mit verhaltenem Zorn, +»ist es eine Schande, wenn ein so großes, starkes Mädchen +nicht mehr verdient als fünfundzwanzig Taler. +Fürs Vorwärtskommen bin ich ganz gewiß auch. Aber +dazu gehört nicht, daß unsereins den feinen Herrn +spielt und so' ne dumme Deern sich Fräulein nennt. Was +die richtigen Fräuleins sind, die machen sich ja doch bloß +über so eine lustig. Was Leidchen fürs Leben braucht, +das kann sie hier auf dem Lande genug lernen, wenn +sie nur die Augen aufmacht. Wenn sie nach Bremen +ginge, könnte ich keine ruhige Stunde mehr haben. +Denn sie ist wohl von Herzen gut, aber ein bißchen +leicht. Ihr lacht, Onkel? Da ist wirklich nichts zu lachen! +Ihr habt Euch die Vormundschaft ziemlich leicht gemacht, +und wir beide haben uns selbst geholfen. Aber +in dieser Sache müßt Ihr mal zum Rechten sehen, und +ich bitte Euch, sprecht ein strammes Nein!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_163">[S. 163]</span></p> + +<p>Cord Rosenbrock hatte sich aus der behaglichen +Lässigkeit eines Mannes, dem es gut geschmeckt hat, +aufgerafft und sah den mit großem Ernst und Nachdruck +sprechenden Brudersohn aus weiten, runden Augen an. +Als der fertig war, holte er Atem, um ihm geziemend +zu antworten. Aber plötzlich fiel ihm ein, daß er gleich +sein Mittagsschläfchen halten wollte, und daß Erregung +des Gemüts diesem nicht zuträglich zu sein +pflegte. So wandte er sich lieber an Leidchen und +sagte: »Du arme Deern, was hast du wohl unter solch +einem Obervormund zu leiden gehabt! Ich verlange +jetzt, daß du die Stelle in Bremen annimmst, und +spreche dich ein für allemal von Gerds angemaßter +Vormundschaft frei.«</p> + +<p>Gerd saß starr und steif und blickte unter gesträubten +Augenbrauen weg den Onkel feindselig an. »Angemaßt,« +sagte er mit dumpfer Stimme, »habe ich mir +gar nichts. Was ich für Leidchen getan habe, das +hab' ich ihrer Mutter auf dem Sterbebett geloben +müssen.«</p> + +<p>Onkel Cord hob die Beine auf das Sofa und sagte, +er müßte nun schlafen. Wenn sie wollten, könnten sie +sich noch etwas in Haus und Hof umsehen. Gerd aber +drängte zum Aufbruch, und Leidchen erhob keinen +Widerspruch.</p> + +<p>Sie gingen auf dem Rückweg stumm nebeneinander +her, indem er an seinem Ärger würgte und sie im stillen +ihren Triumph auskostete.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_164">[S. 164]</span></p> + +<p>Am nächsten Tag traf Gerd zufällig Herrn Timmermann, +der nach der Schule mit seinem Hündchen auf +dem Damm spazierte, um die Abendröte zu genießen, +und sie gingen eine Strecke miteinander.</p> + +<p>Nachdem sie eine Weile über dies und das gesprochen +hatten, faßte er sich Mut und schüttete sein +Herz aus.</p> + +<p>Er hoffte natürlich, der Lehrer würde seine Partei +ergreifen. Aber darin irrte er sich sehr. Der Mann +schalt ihn einen Schwarzseher, sprach seine Freude +über Leidchens Entschluß aus und meinte, ein bißchen +Umlernen würde ihr sehr gut tun. Er hätte eigentlich +schon immer dazu raten wollen.</p> + +<p>»Aber sie hätte mich doch wenigstens fragen können,« +versetzte Gerd enttäuscht.</p> + +<p>»Vielleicht wäre dann nichts daraus geworden,« +sagte der andere lächelnd.</p> + +<p>»Ich finde das undankbar von ihr, eine so wichtige +Sache hinter meinem Rücken abzumachen.«</p> + +<p>»So recht dankbar,« meinte der Lehrer nachdenklich, +»möcht' ich beinah' glauben, ist die liebe Jugend nie. +Wenn ich meinen früheren Schülern, an denen ich +jahrelang mein Bestes getan habe, mal wieder begegne, +sehen sie mich meist fremd und mißtrauisch, ja nicht +selten feindselig an. Soll ich deshalb mein Angesicht +verhüllen und über die Undankbarkeit der Welt +jammern? Ich meine, ein anständiger Mensch soll überhaupt +nicht nach Lohn und Dank schielen, sondern seine +Pflicht tun ... Aufrichtig gesagt, Gerd, im Grunde +freue ich mich, daß Leidchen Ihnen aus der Schule<span class="pagenum" id="Seite_165">[S. 165]</span> +laufen will. Denn — nehmen Sie mir das nicht übel — +Sie haben reichlich viel vom Schulmeister Ihrer Schwester +gegenüber.«</p> + +<p>»Was?«</p> + +<p>»Wenn ein Schulmeister Ihnen das sogar sagt, +können Sie's ruhig glauben. Und gerade für Leidchen, +glaub' ich, ist das nicht gut. Es gibt Kinder, die dumme +Streiche nicht aus Schlechtigkeit machen, sondern um +ihren Lehrer mal tüchtig zu ärgern. Und das sind meist +nicht die schlechtesten!«</p> + +<p>»Also Sie meinen, ich soll sie ruhig ziehen lassen?«</p> + +<p>»Ja, was denn sonst?«</p> + +<p>»Aber es hat doch gar keinen Zweck für eine, die ihr +Leben durch Torf backen soll.«</p> + +<p>»Können Sie wissen, wie das Leben Ihrer Schwester +sich einmal gestalten wird?«</p> + +<p>Als die beiden sich getrennt hatten und Gerd eine +Strecke in Gedanken dahingeschritten war, blieb er auf +einmal stehen und legte den Zeigefinger lang an die Nase.</p> + +<p>Hm hm. Der Mann hatte ihn vorhin so wunderlich +angesehen, und hatte schon länger raten wollen, +Leidchen mal in die Stadt zu geben? Sollte er vielleicht +seine Gründe dazu haben?</p> + +<p>Zum Kuckuck! Das wäre eine feine Sache, wenn +Leidchen mal im Schulhause unterkommen könnte, bei +einem Mann, wie er ihn sich besser ja gar nicht zum +Schwager wünschen konnte. Und warum sollte das +nicht möglich sein? Eine Deern, wie Leidchen? Da +hatten doch schon ganz andere ihr Glück mit einem +Lehrer gemacht ...</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_166">[S. 166]</span></p> + +<p>Ja! Dann lag die Sache freilich anders! Dann +war's ja ein Glück, daß Leidchen im Herbst erst mal +nach Bremen ging. Denn direkt aus der Torfkuhle holte +so'n Lehrer sich die Frau am Ende doch nicht gern ...</p> + +<p>Als Gerd nach Hause kam, zeigte er seiner Schwester +ein sehr vergnügtes Gesicht. Bei nächster Gelegenheit +kaufte er ihr von einem Hausierer ein hübsches Schultertuch, +und ohne sich aufzudrängen, pflegte er doch die +Freundschaft mit dem Schulhause nach Möglichkeit.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Da Gerd seine Erzieherneigungen fortan möglichst +im Zaum hielt und Leidchen ihm auch wenig Anlaß +gab, sie zu betätigen, lebten und arbeiteten die Geschwister +den Frühling und Sommer über in hübscher +Eintracht.</p> + +<p>Als der September ins Land kam, meinte sie einmal, +es wäre schade, daß er nicht immer so nett mit ihr gewesen +wie die letzte Zeit; sie hätte sonst ebensogut in +Brunsode bleiben können. Aber er schüttelte bedeutungsvoll +den Kopf und sagte: »Leidchen, ich glaube +doch, es ist besser, daß du dich erst mal in anderen Verhältnissen +umkuckst. Man kann ja auch gar nicht +wissen, was der liebe Gott noch alles mit dir im +Sinn hat.« Sie sah ihn fragend an. Aber er zuckte +die Achseln und sagte noch einmal: »Man kann nie +wissen.«</p> + +<p>Anfangs Oktober traf er den kürzlich zur Reserve +entlassenen Jan Monsees, der allerlei zu erzählen +wußte, unter anderm auch, Müllers Hermann wäre +Bursche bei einem nach Spandau kommandierten<span class="pagenum" id="Seite_167">[S. 167]</span> +Hauptmann geworden. Da er gerade eine Zigarre in +der Tasche hatte, schenkte er sie dem Überbringer dieser +ihm sehr angenehmen Nachricht.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Es war eine windstille Herbstnacht, als Gerd wieder +einmal die Hamme hinunterfuhr. Sein Schiff war +diesmal aber nicht mit Torf beladen, sondern trug +zwanzig Viertel Kartoffeln, einige Weidenkörbe mit +Winteräpfeln und in einer Kommode aus Tannenholz +die Habe der Schwester, die vor kurzem vorn in der +Koje sich schlafen gelegt hatte.</p> + +<p>Gerd dämmerte in solchen Nächten meist gedankenlos +zwischen Schlafen und Wachen vor sich hin. Es +konnte aber auch geschehen, daß er auf einmal wunderlich +wach wurde, wacher, als je am hellichten Tage. +Meist war es irgendeine Geringfügigkeit, die ihn plötzlich +in diesen merkwürdigen Zustand versetzte, eine +Sternschnuppe, das Tinkeln eines Sterns, der Schrei +eines Vogels oder dergleichen. Eine solche Stunde +erlebte er auch in dieser Nacht. Er sah den Blechbeschlag +von Leidchens Kommode und den Porzellangriff +ihres an dieselbe gelehnten Regenschirms durch +die Dunkelheit schimmern — und auf einmal begann +sein Geist Pfade der Erinnerung zu wandeln, und die +Vergangenheit, um die er sonst, vom Tag und der +Stunde genügend in Atem gehalten, sich nicht eben viel +kümmerte, wurde ihm plötzlich wunderlich lebendig +und gegenwärtig.</p> + +<p>Tief aus einem rosafarbenen Steckkissen blinzelt ein +rotes Gesichtchen. Das kleine Ding ist eben auf die<span class="pagenum" id="Seite_168">[S. 168]</span> +Welt gekommen und hat dem Bruder eine große Tute +voll Süßigkeiten mitgebracht.</p> + +<p>Er trägt die Zweijährige auf dem Arm, gleitet +über einer Kartoffelschale aus, schützt im Fall seine +Pflegebefohlene, daß ihr nichts geschieht, und schlägt +sich selbst an dem scharfen Rand des Blecheimers eine +klaffende Wunde in den Kopf. Er fühlt mit der Hand +nach der linken Schläfe, wo die Narbe heute noch sitzt, +und freut sich ihrer.</p> + +<p>Sie stehen beide vor dem Bett der todkranken +Mutter, die Hände in ihrer abgezehrten, fieberheißen +... »Gerd, sie hat sonst keinen als dich.«</p> + +<p>Sie kniet als Konfirmandin vor dem Altar der +heimatlichen Kirche, und er schaut von der Empore in +tiefer Bewegung auf sie herab. Frühlingsglanz flutet +durch die Chorfenster herein und liegt warm auf dem +lieben, feinen Gesichte.</p> + +<p>Die Tage gemeinsamer Arbeit im Moor und auf den +Wiesen werden lebendig, und die traulichen Winterabende, +wo sie wegen fremder Schicksale, die ihnen +aus Büchern auf einmal so nah und gegenwärtig wurden, +miteinander bangten und hofften, sich betrübten +und freuten.</p> + +<p>Sie steht auf Behnkens Diele unter dem Christbaum +und singt, daß die Menschen mit verwunderten Gesichtern +atemlos lauschen. Und der Tanz um den Christbaum +im Schulhause, der Kuß von ihren roten Lippen +— er ist der einzige geblieben in all den Jahren seit +der frühesten Kinderzeit — und der stillfrohe Heimweg +Arm in Arm durch die Weihnachtsnacht. — — —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_169">[S. 169]</span></p> + +<p>Merkwürdig, all diese Stunden, in denen ihr Bild +mit schimmerte, waren für ihn zugleich Stunden des +Aufatmens vom Druck des Werktags gewesen; +Stunden, wo er das Leben als etwas Großes, Geheimnisvolles, +Heiliges empfunden hatte. Er versuchte, die +Schwester aus seinem Leben wegzudenken. Was da +übrigblieb, das wollte ihm kaum wert erscheinen, gelebt +zu werden. Sie hatte ihn durch ihr Wesen, das so ganz +anders war als das seine, ja oft genug geärgert. Aber +gerade dies ihr Wesen, ihre Ursprünglichkeit, ihre unmittelbare +Lebendigkeit und Lebensglut, hatte ihn doch +auch immer wieder geweckt und befeuert. Wenn er sich +sagen durfte, daß sein Leben im ganzen doch wohl in +aufsteigender Linie sich bewegte, daß es je länger desto +mehr sich innerlich bereichert hatte, so hatte er das doch +wohl in erster Linie der Schwester zu verdanken ... +oder — ein Stern funkelte über den Flußlauf und zog +seine Gedanken aufwärts — vielmehr dem, der Mensch +zum Menschen gesellt und mit unsichtbaren Händen die +zarten Fäden zwischen ihnen knüpft ...</p> + +<p>So zog es leise, nicht in klarer Gedankenfolge, aber +als lebendiges Gefühl durch seine zu nachtschlafender +Zeit seltsam wache und sich auf ihre Tiefen besinnende +Seele. Und daß alles dies, was bislang seines Lebens +wertvollsten Inhalt ausgemacht hatte, nun ein Ende +finden sollte, erfüllte ihn mit schmerzlicher Wehmut, +indes das Schiff leise plätschernd durch die dunkle Nacht +seine mattglänzende Bahn zog.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_170">[S. 170]</span></p> + +<p>Im Torfhafen angelangt, gab er einem Gelegenheitsarbeiter +den Auftrag, sich einen Handwagen zu +leihen und die Kommode in die Stadt zu fahren. Er +selbst ging mit seiner Schwester auf dem Bürgersteig +nebenher. Es war gegen halb neun, als sie ihr Ziel +erreichten.</p> + +<p>Das Haus des Milchhändlers Marwede befand sich +in einer Geschäftsstraße der »Neustadt«, wie der am +linken Weserufer gelegene Stadtteil heißt, und machte +schon von außen einen sauberen Eindruck. Drinnen aber +blitzte alles von Sauberkeit, und die Frau mittleren +Alters, die in dem Laden gleich links vom Eingang +hantierte, war in dem frischgewaschenen rosafarbenen +Hauskleid, der blütenweißen Schürze, und vor allem +mit ihrer abgerundeten, strahlenden Körperlichkeit eine +lebendige Reklame für fette Vollmilch und prima Molkereibutter, +wie ein Milchgeschäft in der saubersten aller +deutschen Städte sie sich nicht besser wünschen kann. +Sie gab den Ankömmlingen ihre Hand, eine dicke, +weiche, warme Patschhand, sah Leidchen prüfend ins +Gesicht, nickte befriedigt und bat, näher zu treten.</p> + +<p>Als sie die beiden im Zimmer allein ließ, um einen +Imbiß zu besorgen, blickte Leidchen ihren Bruder froh +an und sagte: »Die mag ich leiden; mit der will ich +wohl fertig werden.« »Ja,« sagte Gerd, »sie hat ein +gutes Gesicht. Wenn sie bloß nicht zu grausam auf die +Reinlichkeit ist ...« »Das schadet nicht,« meinte Leidchen, +»Trina ihre Schlurigkeit habe ich gründlich satt. +Ich fühl' mich hier schon bannig wohl.«</p> + +<p>Frau Marwede deckte den Tisch, und sie mußten die<span class="pagenum" id="Seite_171">[S. 171]</span> +Butter dick streichen und den Flottkäse noch dicker drauflegen. +»Wir haben das ja alles im Hause,« sagte die +wohlwollend lächelnde Wirtin, die, beide Hände in die +Seiten gestemmt, vor ihnen stand. Nach dem Frühstück +besahen sie Leidchens Kammer und darauf den +Kuhstall, den Stolz des Hauses. »Er entspricht allen +Anforderungen der neuzeitlichen Hygiene,« erklärte die +Frau mit Stolz, und Gerd freute sich der fünfzehn +sauber aufgestallten glatten Tiere. »So viel so schöne +Beester hab' ich noch nicht in einem Stall zusammen +gesehen,« sagte er in ehrlicher Bewunderung. Den +Hausherrn fand er nicht vor. Er war noch mit dem +Wagen unterwegs, die Stadtkundschaft zu bedienen.</p> + +<p>»Na, Frau Marwede,« sagte Gerd plötzlich und +unvermittelt, »denn lernen Sie meine Schwester man +gut an, und du, Leidchen, sei folgsam und ordentlich,« +gab beiden die Hand und schritt zum Hause hinaus. +Bis zur nächsten Straßenecke ging er mit einer gewissen +Hast, dann setzte er in seinem gewöhnlichen, vom +federnden Moorboden her etwas wiegenden Schritt +seinen Weg fort.</p> + +<p>Auf der großen Weserbrücke blieb er eine halbe +Minute stehen, sah auf den breiten, glänzenden Strom +hinab und dachte an das Dahinfließen des menschlichen +Lebens.</p> + +<p>Als er durch die innere Stadt ging, zog ein Bild +im Schaufenster eines Buchladens seine Aufmerksamkeit +an sich. Wogende Kornfelder prangten im Goldgelb +der Reife, und er freute sich des vertrauten Anblicks +im Gewühl der engen Straße.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_172">[S. 172]</span></p> + +<p>Nach dem Bilde faßte er auch die Titel der Bücherauslagen +ins Auge, und bald haftete sein Blick auf +einem broschierten Bande, der den Aufdruck trug: +»Lehrbuch der Moorkultur.«</p> + +<p>Es lagen gerade allerhand Verbesserungen der +Moorbewirtschaftung in der Luft, wenn der Knecht +eines am alten Schlendrian festhaltenden Torfbauern, +wie Jan Rosenbrock einer war, auch noch nicht viel +davon merkte. Aber er hatte doch schon von moderner +Hochmoorkultur und von dem Wert der künstlichen +Dungmittel gerade für das Moor munkeln hören. +Und plötzlich wandelte ihn die Lust an, sich aus +dem Buche über alle diese Dinge zu unterrichten. Aber +das war gewiß sehr teuer, kostete am Ende gar +zwei Mark. Nein, das konnte er nicht anwenden. +Schweren Herzens riß er sich von dem Schaufenster +los.</p> + +<p>Aber er war noch keine zwanzig Schritt gegangen, +da kehrte er um, trat entschlossen in den Laden und +fragte nach dem Preise des Buches, das es ihm angetan +hatte.</p> + +<p>»Broschiert vier, gebunden fünf Mark,« gab der +Buchhändler zur Antwort.</p> + +<p>Gerd wäre beinah vor Schreck erstarrt, blätterte aber +doch in dem ihm vorgelegten broschierten Exemplar, +dessen Kapitelüberschriften ihm das Buch nur noch begehrenswerter +machten.</p> + +<p>»Drei Mark will ich anwenden,« sagte er endlich +mit starker Selbstüberwindung und zog seinen Geldbeutel.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_173">[S. 173]</span></p> + +<p>Der Ladeninhaber lächelte: »Sie meinen wohl, das +geht hier zu wie bei Ihrem Torf- und Schweinehandel? +Ich verkaufe nur zu festen Preisen.«</p> + +<p>Gerd steckte den Geldbeutel wieder ein und griff +nach seiner Mütze, um zu gehen. Aber plötzlich fuhr +er noch einmal in die Tasche, ließ einen Taler hart auf +den Tisch klappen, legte zögernd eine Mark daneben, +klemmte das Buch unter den linken Arm und schob +eiligst ab.</p> + +<p>Als sein Schiff vor günstigem Winde die Hamme +hinauf segelte, lag er, die Pfeife im Mund, am Steuer, +hatte seinen so teuer erworbenen Schatz auf den Knien +und las und las. Er bereute seinen Kauf nicht. Was +in dem Buch alles drinstand: von der Entstehung der +Moore, von Geschichte, gegenwärtigem Stand und +Zukunft der Moorkultur und so weiter, das war am +Ende doch seine vier Mark wert.</p> + +<p>Wenn er nur etwas Eigenes hätte, um die Lehren +des Buches praktisch zu erproben! Noch niemals war +die Sehnsucht nach eigenem Besitz so lebendig in ihm +gewesen. Jetzt, wo Leidchen fort war, noch lange dem +Halbbruder als Knecht zu dienen, spürte er wenig Lust.</p> + +<p>Er fing an zu rechnen. Von der Mutter her besaß er +einige hundert Taler, und mit seinem Lohn war er stets +sparsam umgegangen. Aber es langte doch nicht, eine +wenn auch bescheidene Anbauerstelle zu kaufen. Und +nach einer Braut hatte er sich ja auch noch nicht umgesehen. +Ja, vielleicht mußte er sogar noch Soldat spielen. +Im nächsten Sommer hatte er sich zum letztenmal +zu stellen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_174">[S. 174]</span></p> + +<p>Aber das nahm er sich fest vor: eine eigene Stelle +wollte er einmal haben, und deshalb fortan noch sparsamer +sein als bisher. Die ausgegebenen vier Mark +taten ihm jetzt wieder weh, er tröstete sich aber mit der +Hoffnung, sie später nach Anleitung seines Buches hundertfältig +herauszuwirtschaften.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_175">[S. 175]</span></p> +<h2 class="s2">9.</h2> +</div> + + +<p>Leidchen stand in ihrer Dachkammer und sah sich +zwischen ihren vier Wänden um. Diese waren +freundlich gestrichen und von der Vorgängerin mit bunten +Bildchen geschmückt, aber eins fehlte ihnen. Sie hatten +nämlich kein Fenster. Ein solches saß vielmehr einen +Arm hoch über ihrem Kopf schräg in dem verschalten +Dach, wo ein Eisenkreuz ein viereckiges Stück grauen +Novemberhimmels vierteilte. Als sie auf ihren Stuhl +stieg, den einzigen des Kämmerchens, erblickte sie die +kahle Spitze eines Baumes, und indem sie sich auf den +Zehen emporreckte, noch dazu eine Flucht von Dachfirsten +und Schornsteinen. Die Aussicht wäre auf dem +Lande eigentlich ebensogut, dachte sie.</p> + +<p>Wo sie wohl das Myrtenbäumchen hinstellte, das ihre +Patentante Beta Rotermund ihr vor Jahren geschenkt +hatte? Auf der Kommode war es zu dunkel, auf dem +Waschtisch auch. Es erschien ihr am besten, durch eine +künstliche Hängevorrichtung es dicht unter dem Fenster +anzubringen, wo es Licht und Sonnenwärme genug +haben würde. Der in der Wand hochgehende Schornstein +schützte es im Winter wohl vorm Erfrieren. Einstweilen +aber machte sie sich ans Auspacken ihrer Kommode.</p> + +<p>Während sie dabei war, kam Frau Marwede die +knarrende Treppe herauf und brachte ihr ein Kind von +zwei bis drei Jahren. »Dies ist unsere Olga,« sagte sie, +»die kann dir ein bißchen zukucken.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_176">[S. 176]</span></p> + +<p>Das kleine Mädchen sah der neuen Hausgenossin mit +Interesse zu, und als diese sich einmal auf den Stuhl +setzte, kletterte es ihr auf den Schoß und küßte sie auf +Mund und Wangen, unter der Versicherung: »Ogga +mag Tante leiden.« Die Kinder in der Stadt, dachte +Leidchen, sind nicht so blöde und fremd wie unsere zu +Hause, und erwiderte die ihr dargebrachten Zärtlichkeiten.</p> + +<p>Am Mittagstisch sah Leidchen zuerst die Familie +Marwede vollzählig beieinander. Es waren noch drei +Kinder da, Jungens im Alter von sieben bis vierzehn +Jahren, alle wohlgenährt und mit einem gesunden Appetit +begabt. Die Stimmung des Hausherrn schien anfangs +nicht die beste, da eine vor zwei Tagen eingestellte +Milchkuh nicht ganz das hergab, was man von ihr erwartete, +und für zwei Stadtkunden, die zum heutigen +Ersten des Monats gekündigt hatten, nur ein neuer eingetreten +war. Doch heiterte die Feststellung, daß das +Ladengeschäft des Vormittags nichts zu wünschen übriggelassen +habe, ihn zusehends auf, und er erkundigte sich +bei der neuen Hausgenossin teilnehmend, wie viel milchende +Kühe ihr Bruder Jan augenblicklich im Stall +hätte und ob das Kälbermästen gut ginge. Über die +Sphäre von Milch, Butter und Käse verirrte das Tischgespräch +sich keine Minute lang hinaus. Leidchen dachte, +etwas gebildeter hätte sie sich Stadtleute doch vorgestellt.</p> + +<p>Nach dem Mittagessen weihte Frau Rosalie Marwede +ihr Fräulein in die Grundsätze des Hauses ein. +Deren erster und alle anderen beherrschender lautete: +»Reinlichkeit ist die Seele vons Milchgeschäft,« und er<span class="pagenum" id="Seite_177">[S. 177]</span> +galt nicht nur in Stall, Keller und Laden, sondern ebensosehr +in Küche und Kinderstube und den übrigen +Wohnräumen, wo Leidchen ihr Reich hatte. Wenn +Trinas Unordentlichkeit ihr öfters leise Seufzer abgelockt +hatte, so wurden ihr solche in der Folgezeit nicht +selten von Frau Marwedes Ordnungs- und Sauberkeitsfanatismus +abgepreßt. Aber im ganzen fand sie +sich ganz gut in diesen hinein, da ihr Wesen im Grunde +doch auch auf die von ihrer Herrin übertriebenen häuslichen +Tugenden gestellt war.</p> + +<p>Den ersten freien Sonntagnachmittag benutzte sie, um +Meta Stelljes, eine Cousine ihrer Schwägerin Trina, +zu besuchen, die ein Jahr vor ihr konfirmiert war und +am Osterdeich bei einem Großkaufmann in Zigarren +diente. Sie mußte allen Mut zusammennehmen, indem +sie durch einen peinlich gepflegten Garten mit Teppichbeeten +und fremdartigem Buschwerk auf die schloßartige, +mit unzähligen Erkern und Türmchen verzierte +Villa zuschritt, und als sie die breite Treppe hinanstieg, +klopfte ihr das Herz nicht schlecht. Als aber ein feiner, +glattrasierter Herr in langem blauen Rock mit silbernen +Knöpfen auf ihre bescheidene Frage nach Meta Stelljes +sie strafend ansah und stirnrunzelnd ihr bedeutete, die +Freitreppe wäre nur für Herrschaften, da wäre sie am +liebsten in den Boden gesunken. Aber der feine Herr +war dann doch ganz nett und brachte sie zu Meta Stelljes. +Es traf sich gut, daß diese auch gerade Ausgehsonntag +hatte und ihr fertig angezogen entgegentrat.</p> + +<p>So spazierten die beiden Kinder des Moors denn +bald auf dem Osterdeich dahin, plauderten von daheim,<span class="pagenum" id="Seite_178">[S. 178]</span> +und kamen dann auch auf ihre gegenwärtigen Dienstverhältnisse. +Meta fühlte eigentlich das Bedürfnis, mal +ordentlich zu klagen und zu stöhnen. Als sie aber hörte, +daß Leidchen eine Stellung als Stütze und Fräulein +hatte, lobte sie den Reichtum ihrer Herrschaft, die Eleganz +der Wohnung, die Güte des Essens bis ins Aschgraue +und erhöhte ihren Lohn eigenmächtig um +zwanzig, den Jahresdurchschnitt der Trinkgelder um +hundert Prozent.</p> + +<p>»Mit so was kann ich nicht prahlen,« sagte Leidchen +kleinlaut, als Meta mit ihrer Aufschneiderei fertig war, +»aber Marwedes sind sehr ordentliche, saubere Leute, +und denn ist da auch 'ne kleine Deern, die heißt +Olga ...«</p> + +<p>»Was? Auch noch Kinder?«</p> + +<p>»Warum denn nicht?«</p> + +<p>»In ein Haus, wo kleine Kinder sind, würde ich überhaupt +nicht gehn.«</p> + +<p>»Warum nicht, Mädchen?«</p> + +<p>»Da sieht man, wie grün du noch bist,« sagte Meta +mitleidig lächelnd. »In ein Haus mit Kindern geht +heutzutage nur Personal zweiter Klasse. Übrigens +Leidchen, kuck mal her, du mußt dein Kleid ein bißchen +aufraffen, so wie ich.«</p> + +<p>»Warum?«</p> + +<p>»Immer mit deinem Warum, du dumme Deern! Soll +uns denn jeder anmerken, daß wir aus dem Torf sind?«</p> + +<p>»Ach so,« sagte Leidchen und beeilte sich, ihrer Begleiterin +den rechten Kleiderraffgriff abzusehen.</p> + +<p>Als sie an einigen Soldaten vorüber waren, begann<span class="pagenum" id="Seite_179">[S. 179]</span> +sie: »Aus unserm Dorf hat das letzte Jahr auch einer +hier gedient, aber Anfang Oktober haben seine Obersten +ihn nach Spandau geschickt.«</p> + +<p>»Weiß schon Bescheid,« unterbrach Meta, »eurem +Müller sein Jung, hab' mal mit ihm getanzt. Ein +schneidiger Kerl! Und hat auch wohl Geld?«</p> + +<p>»Geld? Wie Heu! Als seine Mutter Hochzeit machte, +haben sie ihr die blanken Taler scheffelweise zugemessen. +Sein Vater muß beinahe ebensoviel Steuern bezahlen, +wie das ganze obere Dorf zusammen.«</p> + +<p>So unterhielten sich die Mädchen, musterten die Toiletten +ihrer Geschlechtsgenossinnen, schielten hin und +wieder verstohlen nach einem schmucken Mannsbild und +waren lustig und guter Dinge. Leidchen, die nun schon +fünf Tage in der Häuserenge der Neustadt und auf +ihrem Kämmerchen mit Oberlicht gesessen hatte, ließ +froh den Blick über den blau glitzernden Strom und die +grünen Weiden in die Ferne wandern und war glücklich, +daß sie einmal von Milch, Butter und Käse nichts zu +sehen, zu riechen und zu hören brauchte.</p> + +<p>Als sie Abschied voneinander nahmen, sagte Meta: +»Was meine beste Freundin war, die hat sich letzte +Woche verlobt. Wenn du Lust hast, kannst du in ihren +Platz eintreten.«</p> + +<p>»O ja!« rief Leidchen hocherfreut, ergriff ihre Hand, +und die Freundschaft war geschlossen.</p> + +<p>Leidchen war überglücklich. Indem sie durch die von +Menschen wimmelnden, hell erleuchteten Straßen ging, +dachte sie an die einsamen, dunklen Moordämme daheim. +Was war das dagegen hier für ein Glanz und Leben!<span class="pagenum" id="Seite_180">[S. 180]</span> +Auf der Großen Weserbrücke, als sie auf den blinkenden, +lichterspiegelnden, von hohen Lagerhäusern begleiteten +Strom hinabblickte, kam ihr auf einmal ein Gefühl für +die Größe der alten Hansestadt, sie fühlte sich mit Stolz +als ein kleines Rädchen in dem großen, bunten Getriebe, +und war von Herzen froh, der Stille und Enge ihres +Dorfes entflohen zu sein.</p> + +<p>Bald aber traten Milch, Butter und Käse wieder in +ihre Rechte, und das Leben ging mit Kochen, Wischen, +Fegen, Waschen und Plätten seinen alltäglichen Gang. +Da kam ihr wohl abends in der Schummerzeit mal der +Wunsch: wenn du jetzt dein Spinnrad in den Arm nehmen +und ein bißchen auf die Nachbarschaft gehen könntest! +Dann wollte es ihr fast scheinen, als lebe man in +der großen Stadt mit den vielen tausend Menschen im +Grund viel einsamer als zu Hause mit den paar +hundert.</p> + +<p>Als Anfang September ihr Bruder sie zum erstenmal +besuchte, konnte sie sich nicht genug tun mit Versicherungen, +wie gut es ihr in der Stadt gefiele. Die +kleine Olga mußte er auf den Schoß nehmen und sich +von ihr eien lassen. Meta Stelljes wurde ihm angepriesen +als aller Mädchen Krone und für einen glücklichen +Ehestand angelegentlichst empfohlen. Aber er +sagte, er brauche noch lange keine Frau.</p> + +<p>Am Sonntag darauf stäubte sie morgens Frau Marwedes +Salonmöbeln ab, als auf einmal durch die geöffneten +Fenster feierlicher Glockenklang an ihr Ohr +schlug. Da fiel ihr ein, daß heute schon der erste Advent +war, und sie sah im Geist, wie daheim an der schimmernden<span class="pagenum" id="Seite_181">[S. 181]</span> +Birkenreihe des Kirchdammes entlang die +schwarzgekleideten Menschen in Trupps auf Grünmoor +zupilgerten. Sie blickte auf die Straße, sie bot das +gewohnte alltägliche Bild. Ob denn hier niemand an die +Kirche dachte? Halt, da kam ein altes Mütterchen angewankt, +Gesangbuch und Taschentuch in der Hand. +Leidchen bog sich zwischen den Blumenstöcken aus dem +Salonfenster hinaus, um einen Blick in das verrunzelte +Gesicht zu gewinnen, und da huschte es ganz leise sonntäglich +und vorweihnachtlich durch ihr Gemüt.</p> + +<p>Am nächsten Sonnabend fragte sie Frau Marwede, +ob sie mal in die Kirche gehen dürfte. Die stemmte die +Hände in die Seiten, machte ein maßlos erstauntes +Gesicht und sagte: »Aber Kind, hast du denn soviel +Sünden getan?« Da wurde sie rot und sagte nichts +weiter. Am Sonntagnachmittag aber, als sie ohne +Meta Stelljes, die nicht abkommen konnte, einen Gang +durch die innere Stadt machte, hörte sie auf einmal die +mächtigen Domglocken, und die hohen bunten Fenster +schimmerten in die hereinbrechende Dämmerung. Da sie +sich so nicht getraute, fragte sie einen vertrauenerweckenden +älteren Herrn, ob sie da hinein gehen dürfte. Dem +zuckte es schalkhaft um die Mundwinkel, indem er sagte: +»Gern, wenn Fräuleinchen ein Billett hat.« Da ging sie +betrübt ihrer Wege und dachte, auf dem Lande wär' das +doch besser eingerichtet, wo man mit einem Pfennig für +den Klingelbeutel frei käme und auch noch nicken könnte.</p> + +<p>Bei nächster Gelegenheit sprach sie mit ihrer Freundin +über das Kirchengehen. »Ja, Leidchen,« sagte Meta +Stelljes, »anfangs paßt einem das nicht, aber man gewöhnt<span class="pagenum" id="Seite_182">[S. 182]</span> +sich schneller daran, als man denkt, wo's hier +einmal keine Mode mehr ist. Aber du hast recht, der +Mensch will mal was anderes als das Alltägliche. Deshalb +haben wir Hausangestellten in unserer Villa einen +Leseklub gegründet, und wenn du jede Woche einen +Groschen ausgibst, kannst du dir so viel schöne Geschichten +von uns leihen, als du Lust hast zu lesen.«</p> + +<p>»Och ja,« meinte Leidchen, »zu Hause haben wir uns +auch immer vorgelesen. Gerd holte die Bücher immer +vom Lehrer.«</p> + +<p>»Ha,« rief Meta verächtlich, »du wirst sehen, unsere +Geschichten sind viel interessanter. Wer damit erst einmal +angefangen hat, kommt überhaupt nicht wieder +davon los.«</p> + +<p>Leidchen hinterlegte bei dem Mann im blauen Rock +mit silbernen Knöpfen statutengemäß eine Sicherheit +von fünfzig Pfennig, zahlte einen Groschen als Wochenbeitrag +und trug einen Packen arg zerlesener bunter +Hefte mit heim. Abends im Bett las sie darin, bis nach +zwölf, und ein Schauer nach dem anderen lief ihr über +den Leib.</p> + +<p>So kam Weihnachten heran, aber recht weihnachtlich +wollte es dem Landkind nicht werden. Am Christabend +brannte in Frau Marwedes Salon ein prächtiger +Tannenbaum, über und über mit dicken Glaskugeln behängt, +eine Spieluhr spielte abwechselnd »O du fröhliche« +und »Stille Nacht«, und Leidchen war reicher beschenkt +worden als sie erwartet hatte. Aber ein rechter +Weihnachtsabend war es doch nicht. Die Menschen +kamen einander um keine Handbreit näher, Milch,<span class="pagenum" id="Seite_183">[S. 183]</span> +Butter und Käse spukten auch um den Lichterbaum, eine +kranke Kuh im Stall machte Sorge. Nachher im Bett +las Leidchen noch lange mit glühenden Wangen in den +bunten Heften, von denen sie sich längst eine zweite +Serie geholt hatte. Sie tischten gerade mal wieder eine +grausliche Mordgeschichte auf.</p> + +<p>Am Abend des ersten Festtages hatte sie allein mit +der kleinen Olga das Haus zu hüten. Das Kind auf dem +Schoß, saß sie in der dunklen Bescherungsstube unter +dem Baum, an dem einige Glaskugeln in dem Licht +glänzten, das von der Straßenlaterne gegenüber in das +Fenster fiel. Da bat die Kleine auf einmal um eine +Geschichte. Leidchen dachte an das, was sie in der letzten +Zeit gelesen hatte, aber davon war nichts zu gebrauchen. +Sie mußte also in ihren Erinnerungen weiter zurückgreifen. +Und bald fing sie an: »Es war einmal ein +großer, großer Kaiser, der hieß Augustus,« und erzählte +von einem Stall, in dem nicht fünfzehn Milchkühe gestanden +hätten wie in Papa seinem, sondern nur ein +Ochs und ein Esel, und in diesem kleinen Stall wäre ein +kleines, ganz kleines Kindlein geboren, an dem hätten +seine Eltern, und die beiden Tiere, und die frommen +Hirten, und die heiligen Engel, und der liebe Gott und +alle guten Menschen ihre Freude gehabt. Dann sang sie +dem Kinde, das sich warm an ihren Busen schmiegte, +auch einige Weihnachtslieder, und als sie aufstand, um +es zu Bett zu bringen, sagte sie: »So, Olga, nun haben +wir erst richtig Weihnachten gefeiert.« —</p> + +<p>Mitte Februar konnte Meta Stelljes keine bunten +Hefte mehr liefern, Leidchen hatte die Bibliothek des erst<span class="pagenum" id="Seite_184">[S. 184]</span> +seit einem Jahre bestehenden Klubs durchgelesen. Das +plötzliche Aufhören des gewohnten Reizes der Spannung +empfand sie mit peinlichem Unbehagen, und sie +war in dieser Zeit öfters mit sich selbst und der Welt +höchst unzufrieden. Warum konnten andere Mädchen, +die Heldinnen jener Geschichten, so große unerhörte +Dinge erleben, mit Revolvern sich durch allerhand +Abenteuer kämpfen, reiche Grafen mit marmornen +Schlössern heiraten, indes ihr bei solchem Milchmann +mit Fegen, Wischen und Kochen ein Tag so eintönig und +zum Sterben langweilig wie der andere dahinkroch!</p> + +<p>Eines Spätnachmittags, als sie ihr Kämmerchen +betrat, hörte sie einen Vogel singen. Zu Hause, wo's die +vielen Vögel gab, würde ihr das nicht weiter aufgefallen +sein, aber hier in der Stadt war's was Besonderes. Sie +stieg auf ihren Stuhl und sah zum Dachfenster hinaus. +Da wurde der kahle Baumwipfel sichtbar, und in ihm +saß ein Amselmännchen, den gelben Schnabel schräg +aufwärts gerichtet, die Flügel gesenkt, unbeweglich, und +sang und sang. Du liebe Zeit, wie konnte der kleine Kerl +singen! Lust, Wehmut, Sehnsucht erfüllten die Brust der +Lauscherin. Sie hob sich auf die Zehen. Da erschienen +Giebel und Schornsteine, aber über sie hinweg zogen die +Wolken der verheißungsvoll lockenden, dämmernden +Ferne zu. Ach wer da mit könnte! Wie war doch die +Welt so weit und die Dachkammer so eng!</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Der Frühling, der seinen kleinen schwarzen Herold +vorausgesandt hatte, brachte in Leidchens Leben ein +paar große Veränderungen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_185">[S. 185]</span></p> + +<p>Meta Stelljes zeigte eines Nachmittags, als ihre +Freundin sie abholte, ein merkwürdig aufgeregtes +Wesen, und schon nach zwei Minuten hatte sie ihr gestanden, +sie hätte seit zwei Tagen einen Bräutigam. +Zwar einstweilen wär' es nur so'n lüttjer Handbräutigam, +aber es würde wohl Ernst draus werden, +denn ihr Stanislaus Kaminski wäre ein ordentlicher +Mensch und Beamter, nämlich Hilfsbremser an der +Königlichen Eisenbahn, und katholisch, und die Katholiken +wären, wie bekannt, ja alle sehr fromm.</p> + +<p>Als sie einige hundert Schritt miteinander gegangen +waren, blieb Meta stehen, zeigte auf eine nach links abzweigende +Straße und sagte hastig: »Ich muß hier +abbiegen, mein Bräutigam wartet auf mich. Adjüs.«</p> + +<p>»Wann sehen wir uns wieder?« fragte Leidchen, die +Hand der Freundin festhaltend.</p> + +<p>»Weiß ich noch nicht, wird wohl nicht oft mehr sein. +Sieh auch man zu, daß du bald so was findest, das ist +in diesem armen Leben immer noch das Beste. Adjüs, +lebe wohl!«</p> + +<p>Und hin ging sie, ohne sich noch einmal umzusehen. +Die Verlassene blickte ihr traurig nach. —</p> + +<p>Als Leidchen nach Hause kam, bat Frau Marwede +sie, gleich mal zu der kleinen Olga zu gehen, die nicht +recht wohl wäre. Sie fand das Kind mit Fieber im +Bett.</p> + +<p>Marwedes hatten einen starken Glauben an die Heilkraft +gesunder Vollmilch, und man holte solche bei +jedem Melken warm von der besten Kuh im Stall. Aber +die Patientin weigerte sich, diese Medizin zu nehmen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_186">[S. 186]</span></p> + +<p>Am nächsten Tage rief man den Arzt, der ein bedenkliches +Gesicht machte.</p> + +<p>Als er das Krankenzimmer verlassen hatte, sagte die +Mutter, an ihrer Unterlippe nagend: »Und dabei ist das +Kind noch nicht mal getauft.«</p> + +<p>Leidchen starrte sie entsetzt an, indes der Milchmann +geringschätzig die Achseln zuckte.</p> + +<p>Dieser ging bald zu seinen Kühen. Da sagte die +Frau: »Was meinst du, Mädchen? Ob's nicht am Ende +doch besser wäre ...?«</p> + +<p>»O ja,« rief Leidchen, die helle Angst im Gesicht, +»bitte, bitte! Denken Sie sich, sie stürbe uns weg, drei +Jahre alt und ungetauft! Wir könnten ja keine ruhige +Stunde wieder haben.«</p> + +<p>»Na na, Marwede und ich sind ziemlich aufgeklärte +Leute ... Aber wenn du hinlaufen und den Pastor +holen willst, soll's mir recht sein. Er wohnt dicht bei der +Kirche, sag' ihm aber, er möchte sich ein bißchen +beeilen.«</p> + +<p>Leidchen traf den Pastor nicht zu Hause, seine Frau +sagte aber, sie würde ihn schicken, sobald er zurückgekehrt +wäre.</p> + +<p>Er kam eher, als man hiernach ihn glaubte erwarten +zu können. Da Frau Marwede noch in ihrem Schlafzimmer +beim Umkleiden war, traf er nur Leidchen bei +dem Täufling, und als er ihr die Herzensangst und +Traurigkeit aus dem Gesicht las, sagte er teilnehmend: +»Es ist wohl Ihr erstes und einziges, liebe junge +Frau?« Leidchen wurde purpurrot und stamerte, sie +wäre hier nur das Fräulein. Während jener seinen<span class="pagenum" id="Seite_187">[S. 187]</span> +Irrtum mit großer Kurzsichtigkeit entschuldigte und die +Brille putzte, kam die wirkliche Mutter in ihrem +Schwarzseidenen hereingerauscht und begrüßte den +Geistlichen mit achtungsvoller Verbeugung. Leidchen +wurde als Patin angeschrieben, und als das Köpfchen +des Kindes mit Wasser besprengt wurde, hob sie es in +den Kissen an.</p> + +<p>»Was hat der Onkel eben gemacht?« fragte die kleine +Olga, während ihre Mutter den Pastor hinausgeleitete.</p> + +<p>»Oh,« sagte Leidchen, sich über sie neigend, »das war +ein ganz lieber Onkel. Du bist nun dem lieben Gott sein +Kind geworden, und er hat dich ganz furchtbar lieb, noch +lieber als Tante Leidchen.«</p> + +<p>Von Stund' an fühlte sie sich dem Kinde noch enger +verbunden als bisher. Die alte Anschauung, daß Patenschaft +eine Art Verwandtschaft begründet, wirkte dabei +mit, noch mehr aber wohl die Erinnerung an das viele +Gute, das sie selbst von ihrer Patentante Beta Rotermund +empfangen hatte und nun weiterzugeben Gelegenheit +fand. Sie wurde erfinderisch, ihrem Patenkinde +Liebes zu erweisen, und dieses hatte sie lieber um +sich als seine Mutter, die, was sie in Jahren als stark in +Anspruch genommene Geschäftsfrau an Zärtlichkeit versäumt +haben mochte, jetzt in wenigen Tagen nachholen +wollte, wobei sie dann des Guten leicht etwas zu viel tat.</p> + +<p>Einmal sollte Leidchen auch wieder erzählen. Als sie +nachsann, fiel ihr Doktor Luthers Brief an seinen Sohn +Hänsichen ein, den sie aus dem Schullesebuch kannte, +und zugleich dachte sie an daheim, wie dort nun bald +wieder Frühling und Sommer Einzug hielten. Und sie<span class="pagenum" id="Seite_188">[S. 188]</span> +erzählte von einem wunderschönen Garten, da blühten +die Äpfel- und Birnbäume über und über weiß wie +Schnee, und die Früchte wurden dick und kriegten rote +Backen, und bunte Vögel sangen süß in den Zweigen, +und die herrlichsten Schmetterlinge gaukelten durch die +blaue Luft, und silberweiße Birken ließen ihre lichtgrünen +Schleier wehen, und unter ihnen auf grünem +Rasen spielte das Christkind mit all den artigen und +frommen Kindlein, die hier aus der ganzen Welt zusammen +kamen.</p> + +<p>So malte sie der Kranken ein leuchtendes Bild mit +den Farben ihres Kinderparadieses, und das kleine +Stadtkind, das solche holden Wunder nie mit eigenen +Augen geschaut hatte, hörte mit offenem Munde und +mit sehnsuchtsvollen Blicken an ihren Lippen hängend +zu.</p> + +<p>In der Nacht darauf übernahm sie gegen ein Uhr die +Krankenwache. Sie mochte etwa eine Stunde am Bett +gesessen haben, als das Kind anfing, sich in den Kissen +zu werfen. Mit leisen, begütigenden Worten redete sie +ihm zu und wischte die Schweißtropfen, die ihm auf die +Stirn traten, sanft hinweg. Auf einmal streckte sich der +kleine Leib lang, ganz lang. Da packte tödliche Angst die +Wärterin, sie riß ihn an ihren jungen lebenswarmen +Busen, sie hauchte ihren Odem auf den schon still +stehenden Mund. Als sie aber die blicklos starren Augen +sah, ließ sie den Körper in das Bett zurücksinken und +preßte sich beide Hände auf das Herz; denn sie fühlte ein +Schwert durch ihre Seele schneiden, zum erstenmal in +ihrem jungen Leben.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_189">[S. 189]</span></p> + +<p>Sie weckte die nebenan schlafenden Eltern. Die +Mutter kam im Nachtgewand angestürzt und warf sich +schreiend über die kleine Leiche. Der Vater folgte notdürftig +bekleidet und stand stumm daneben. Nach einer +Weile sagte er: »Aber Rosalie, nun faß dich. Wir haben +unsere Pflicht getan. Denk' doch bloß an all die schöne +Milch, die das Kind die Jahre getrunken hat ...«</p> + +<p>Der kahle Baumgipfel unter Leidchens Dachfenster +begrünte sich nach und nach, und spät nachmittags und +abends saß die Amsel darin und sang und sang. Und +die Gedanken der Einsamen eilten immer und immer +wieder in das Land des schwarzen Moors und der +weißen Birken, wo sie jetzt vom dämmernden Morgen +bis in die sinkende Nacht im Torf standen und sich +tüchtig ausarbeiteten. Wenn doch einmal in der Frühe +jemand an ihr Bett getreten wäre und sie geweckt hätte +zum Torfbacken im herbstfrischen Frühlingswind! Aber +sie mußte Tag für Tag kochen, aufwaschen und fegen, +im Dunstkreis von Milch, Butter und Käse, und obgleich +die Arbeit nichts weniger als schwer war, fühlte +sie sich oft todmüde und war manchmal des Lebens fast +überdrüssig.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_190">[S. 190]</span></p> +<h2 class="s2">10.</h2> +</div> + +<p>Eines Nachmittags, als nach einer regenreichen, +dunklen Aprilwoche die Sonne wieder schien, stand +Leidchen auf, machte eine Bewegung, als ob sie etwas +abschüttelte, und ließ sich ein neues Sommerkleid anmessen. +»Für ein Fräulein von so schlankem, ebenmäßigen +Wuchs zu arbeiten, ist mir ein Vergnügen,« +sagte die Schneiderin.</p> + +<p>Erst das letzte Drittel des Wonnemonds brachte +einen lachenden, leuchtenden Sonntag, an dem das nach +Urteil der Nadelkünstlerin »äußerst schick und tadellos« +sitzende Himmelblaue den Menschen gezeigt werden +konnte. Leidchen trug es natürlich in den Bürgerpark, +in dem die Menschheit heute ein Stelldichein verabredet +zu haben schien, und der auch selbst sein allerschönstes +Kleid angezogen hatte, nämlich das aus lichtem, blütendurchwirktem +Grün.</p> + +<p>Das schmucke Kind freute sich des warmen Sonnenscheins +und der jungen Frühlingspracht, sah nach den +fröhlichen geputzten Menschen und dachte so in ihrem +Sinn, ganz zu verachten wäre das Leben eigentlich doch +nicht.</p> + +<p>Als sie über eine der Brücken kam, die das ausgedehnte +Grabennetz der Anlagen überspannen, blieb sie +stehen und sah belustigt einem ungeschickten Ruderer zu, +der sein Boot nicht in der Gewalt hatte, indes das +hinten sitzende Mädchen durch gute Ratschläge, überflüssiges<span class="pagenum" id="Seite_191">[S. 191]</span> +Gekreisch und verkehrtes Steuern die Sache +noch schlimmer machte.</p> + +<p>Da hörte sie nahe Schritte und wandte sich um.</p> + +<p>»Guten Tag, Leidchen Rosenbrock,« rief eine froh +verwunderte Stimme.</p> + +<p>»Hermann!?«</p> + +<p>»Ja, mein Deern, ich bin's selbst. Aber nun gib mir +erst mal die Hand.«</p> + +<p>Er nahm sie sich und drückte sie tüchtig, über das +ganze Gesicht lachend.</p> + +<p>»Mensch, wo kommst du denn bloß auf einmal her? +Ich meinte, du wärst in Spandau.«</p> + +<p>»Spandau ist abgemacht. Wir sind vorige Woche zum +Regiment zurückkommandiert. Schön, daß ich dich +treffe. Wollen wir uns mal die Affen bei der Meierei +ansehen, und die Känguruhs? Oder soll ich dich lieber +ein bißchen rudern?«</p> + +<p>Leidchen hatte sich inzwischen von ihrer Überraschung +erholt und fragte schelmisch, indem sie auf den hemdärmelig +sich abrackernden Jüngling zeigte, dessen Boot +noch immer von einem Ufer zum anderen schoß: +»Kannst du's ebensogut, wie der da?«</p> + +<p>Er warf sich in die Brust. »Ich? Wie der erste Sportsmann +meistere ich mein Boot.«</p> + +<p>»Na, na? Wenn ich an die Nacht auf der Hamme +denk' ...«</p> + +<p>»Ach so ... na ja, bei der Torfschipperei bin ich nicht +groß geworden. Aber daß ich rudern kann, will ich dir +bald zeigen, komm!«</p> + +<p>Sie machte ein paar Schritte, blieb dann aber wieder<span class="pagenum" id="Seite_192">[S. 192]</span> +stehen: »Ich weiß nicht recht ... Wenn uns einer +sähe ...«</p> + +<p>»Wir beide können uns überall sehen lassen,« rief er +lachend. »Komm!«</p> + +<p>»Aber ...«</p> + +<p>»Ach was. Wir sind hier nicht in unserem Dorf, wo +die alten Weiber gleich die Köpfe zusammenstecken, +wenn zwei junge Leute mal auf dem Damm miteinander +gehen. Hier kann jeder nach seiner Fasson selig +werden, das ist ja gerade das Schöne an so 'ner Stadt. +Komm!«</p> + +<p>Er wollte ihren Arm nehmen, doch sie litt es nicht. +Als er aber entschlossen die Richtung nach der nicht weit +entfernten Bootvermietungsstelle einschlug, folgte sie +langsam.</p> + +<p>Der Hafen war bei dem herrlichen Wetter bereits ausvermietet. +Hermann machte ein langes Gesicht, Leidchen +sagte: »Es ist so ebensogut, ich muß doch bald nach +Hause.«</p> + +<p>Aber schon kam ein frischgestrichenes, schlankes Ruderboot +um die Ecke, an dessen Bordwand der Name +»Adelheid« zu lesen war. »Das schickt sich ja prächtig,« +rief Hermann, und kaum waren die beiden Gymnasiasten, +die ihre Fahrt beendet hatten, ausgestiegen, so +war er auch schon hineingesprungen und reichte ihr zum +Einsteigen die Hand. Dann legte er schnell Koppel nebst +Seitengewehr ab, streifte die Handschuhe von den Händen, +ergriff die Riemen, und das Boot glitt leicht und +sicher zum Hafen hinaus.</p> + +<p>»Nun erzähl' mal, wie es dir all die Zeit gegangen<span class="pagenum" id="Seite_193">[S. 193]</span> +ist,« sagte Hermann, indem er quer über einen kleinen +See auf einen von lichtem Buchengrün überwölbten +Wasserlauf zuhielt.</p> + +<p>Leidchen war froh, daß sie sich endlich einmal vor +einem Bekannten über die Erlebnisse der letzten Zeit +aussprechen konnte.</p> + +<p>Sie begann mit der Geschichte ihrer Freundschaft und +bedauerte, daß diese nun ein Ende gefunden hätte. Als +er wissen wollte, wodurch sie auseinander gekommen +wären, und sie, etwas verlegen, ihm den Grund angab, +zwinkerte er verständnisvoll mit den Augen und sagte: +»Ja so geht's in der Welt.«</p> + +<p>Leidchen errötete flüchtig und fing schnell an, von +der kleinen Olga zu erzählen, wie artig, klug und anhänglich +sie gewesen wäre. Als sie von Krankheit und +Hingang des Kindes berichtete, war ein Zittern in ihrer +Stimme, und zuletzt liefen ihr die blanken Tränen über +die Backen.</p> + +<p>»Na nu!« sagte er verwundert, »so tief darfst du das +bei einem fremden Kind nicht nehmen.«</p> + +<p>Mit großen Augen, fast ein wenig empört, sah +sie ihn an: »Aber wenn ich sie doch so lieb gehabt +habe ...«</p> + +<p>»Na ja, aber es ist Gottes Wille einmal so gewesen, +was willst du dagegen machen? Den Weg müssen wir +alle, der eine früh, der andere spät ... Aber nun laß +uns lieber von was anderem sprechen. Wie geht's +deinem Bruder?«</p> + +<p>»Als ich nicht anders weiß, gut ... Du bist ihm doch +nicht mehr böse?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_194">[S. 194]</span></p> + +<p>»Warum sollt' ich ihm böse sein?«</p> + +<p>»Och, damals, als mein Geburtstag war ...«</p> + +<p>»Du liebe Zeit, das hab' ich längst vergessen. Es war +gut, daß die Jungens mir damals in den Arm fielen. +Wegen solcher Kleinigkeiten dürfen wir Soldaten +nämlich unsere Waffe nicht ziehen, das wird streng bestraft. +Wenn damals was passiert wäre, wär' ich heut' +nicht Gefreiter und hätte nicht die blanken Adlerknöpfe +hier an meinem Kragen.«</p> + +<p>»Gefreiter ... ist das mehr als Leutnant?«</p> + +<p>»Mehr wohl gerade nicht, aber durchaus nicht zu +verachten! Soweit ich denken kann, hat's aus unserem +Dorf noch keiner so weit gebracht. Nur die strammsten +und zuverlässigsten Leute werden zu Gefreiten befördert.«</p> + +<p>»Ach so ...«</p> + +<p>»Gerd muß diesen Sommer schon zur Generalmusterung. +Schade, daß er nun wohl ganz ums Soldatspielen +herumkommt.«</p> + +<p>»Warum ist das schade?«</p> + +<p>»Gerade ihm hätte ich's von Herzen gegönnt, daß der +preußische Unteroffizier ihn mal zwischen die Finger gekriegt +hätte.«</p> + +<p>»Warum?«</p> + +<p>»Weißt du, Leidchen, Gerd ist ein herzensguter +Mensch, ich will gewiß nichts Böses über ihn sagen. +Aber er hat etwas dickes Blut. Und er denkt zu viel.«</p> + +<p>»Pah, das wird nichts schaden, wenn einer sich seine +Gedanken macht.«</p> + +<p>»Aber es kann zu viel des Guten werden. Zum<span class="pagenum" id="Seite_195">[S. 195]</span> +Unglück ist er auch noch diesem langbeinigen Schulmeister +in die Hände gefallen und liest seine ganzen +Bücher durch, wie sie mir Weihnachten zu Hause erzählt +haben.«</p> + +<p>»Wenn's ihm Spaß macht, laß ihn doch! Er kommt +euch allen weit vorbei.«</p> + +<p>»Aber Leidchen, verstell dich doch nicht so. Ich weiß +ja ganz gut, du hast unter seiner Wunderlichkeit am +meisten leiden müssen.«</p> + +<p>»Ich? Wer sagt das? Das war gar nicht schlimm, +er hat es immer gut gemeint. Überhaupt ist er einer +von denen, auf deren Wort man Häuser bauen kann. +So sind lange nicht alle, die ein glattes Gesicht haben +und glatt schnacken können.«</p> + +<p>»Deern! ... Wenn du dich ein bißchen aufregst, bist +du gleich noch mal so hübsch.«</p> + +<p>»Och Hermann ...«</p> + +<p>»Nun bist du rot angelaufen und noch viel hübscher +geworden.«</p> + +<p>»Hermann!«</p> + +<p>»Ich hab' mich früher schon immer gewundert, wie +es möglich war, daß bei uns im Moor eine so feine +kleine Deern herumlief. Die Backen hat unser gnädiges +Fräulein nicht zarter und rosiger. Was würde die +gnädigste Frau ausgeben, wenn sie dein Seidenhaar +hätte! Und die Augen, Kind, deine Augen ...«</p> + +<p>»Wenn du nicht gleich aufhörst, steig' ich aus.«</p> + +<p>»Das wär' schade, dann machst du dir die Strümpfe +naß, und dein schönes blaues Kleid dazu. Hat Wippelmanns +Lena das gemacht?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_196">[S. 196]</span></p> + +<p>»Och, Junge, das kannst du doch wohl sehen!«</p> + +<p>»Ja, es sitzt gut.«</p> + +<p>»Und kostet sechs Taler, und 'ne feine Stadtschneiderin +hat's gemacht, nach der neuesten Mode.«</p> + +<p>Sie schob die Füße ein wenig nach vorn, um dem +Rock einen glatteren Fall zu geben.</p> + +<p>»Die Hauptsache ist,« meinte er, sie ziemlich dreist +musternd, »daß eine in so'n Kleid ordentlich was hineinzustecken +hat. Du bist ganz gut durch den Winter gekommen.«</p> + +<p>»Rat' mal, wieviel Pfund ich jetzt wiege!«</p> + +<p>»Hundertundzwanzig?«</p> + +<p>»Mußt noch'n Zehnpfundstück auf die Wage tun.«</p> + +<p>»Ach ja, wenn eine bei so 'nem Milchmann mit +süßer Vollmilch gebörnt wird.«</p> + +<p>Das Boot, das eine Strecke lang prangende Parkwiesen +zur Seite gehabt hatte, glitt in diesem Augenblick +unter das herabhängende Gezweige einer Linde. +Hier kam es zur Ruhe, indem Hermann die Riemen +einzog und sich an einem Zweig festhielt. Unter dem +Blätterdach, das von der Sonne durchleuchtet und vom +stillen Wasser gespiegelt wurde, umfloß die beiden ein +gedämpftes grünes Licht und angenehm schattige Kühle. +»Hier ist's wunderschön,« sagte Leidchen und blickte mit +frohen Augen um sich und zu dem hohen Gewölbe +empor.</p> + +<p>Plötzlich fing eine Nachtigall an zu singen. Das junge +Mädchen reckte suchend den Kopf, und bald hatte sie das +Vögelchen entdeckt. Es saß ganz nahe, sie konnte die gesträubten +Federchen der liedgeschwellten Kehle unterscheiden.<span class="pagenum" id="Seite_197">[S. 197]</span> +Andächtig lauschte sie dem süßen Sang, der in +der grünen Halle, vom Wasser zurückgeworfen, seltsam +voll und eindringlich klang.</p> + +<p>Als die Sängerin nach einer Weile davonflog, sagte +sie aufatmend: »Die kann's noch besser als unsere zu +Hause, die immer bei Wöltjens Backofen nistet.«</p> + +<p>»Das macht, die Konkurrenz ist hier größer,« erklärte +Hermann. »Das kleine Ding muß bis über beide Ohren +verliebt sein.«</p> + +<p>»Och ...«</p> + +<p>»Ja, die Liebe macht glücklich, macht selig.«</p> + +<p>»Och du ...«</p> + +<p>»Wart' man, du erfährst das auch noch mal.«</p> + +<p>Sie zog kräftig an einem Lindenzweig, und das Boot +glitt unter dem Baumschatten hinweg und ins Freie.</p> + +<p>Hermann warf sich jetzt wieder mit aller Gewalt in +die Riemen, daß sie knarrten und jankten. Rauschend +flog das Boot dahin, durch Sonnenglanz und Baumschatten, +vorbei an duftenden Blütensträuchern und +hübschen Parkhäuschen, belebte Promenadenwege entlang +und wieder durch grüne Einsamkeiten.</p> + +<p>Leidchen nahm all die freundlichen, bunten Bilder in +sich auf, und wenn der sich kraftvoll vor- und zurückschnellende +schmucke junge Mann nicht gerade her sah, +mußte sie öfters heimlich zu ihm hinüberblicken. Diese +Fahrt war ein schöneres Vergnügen, als mit Meta +Stelljes durch die Straßen zu bummeln, Schaufenster +zu besehen und über die Herrschaften zu klatschen. Viel +zu schnell erreichte das Boot seinen Hafen, am liebsten +hätte sie die Rundfahrt noch einmal gemacht.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_198">[S. 198]</span></p> + +<p>»So,« sagte Hermann, als sie an Land gestiegen +waren, »nun setzen wir uns hier in den Kaffeegarten +und essen gemütlich zu Abend.«</p> + +<p>Ihre schwachen Einwendungen, daß es schon spät +wäre und sie nach Hause müßte, fanden keine Beachtung, +und bald saßen sie unter einer Rotbuche hart am +Ufer des kleinen Sees, von dem das Kaffeehaus den +Namen führte. Der Kellner brachte Butterbrote und +zwei Glas Bier.</p> + +<p>Sie plauderten über dies und das, und zuletzt kam +Hermann auch auf seine Stellung im Hause seines +Hauptmanns zu sprechen. Sein Herr hielte große Stücke +auf ihn, die gnädige Frau nicht minder, und die Gören +wären rein in ihn vernarrt. Aber den meisten Anfall +hätte er von der Köchin, die ihn partout heiraten wollte. +Und sie wär' ja auch eine blitzsaubere Person, das müsse +ihr selbst der Neid lassen.</p> + +<p>Leidchen spähte bestürzt durch die vorgeschrittene +Dämmerung nach seinem Gesicht.</p> + +<p>Merkwürdig wär's, fuhr er nach einer Weile fort, wie +schlecht Mädchen, die anderswo geboren wären, sich als +Frauen im Moor gewöhnten. Das könnte man zum +Beispiel auch an seiner Mutter sehen. Die hätte bis auf +den heutigen Tag nicht vergessen, daß sie von der Geest +stammte, und schimpfte noch immer über das braune +Moorwasser.</p> + +<p>Drüben vor den Buchengruppen, denen der Abend +ihr lichtes Grün gegen ein mattes Grau umgetauscht +hatte, flammten Laternen auf und warfen lange, ruhige +Lichtstreifen über den See, die nur im Wellenschlag<span class="pagenum" id="Seite_199">[S. 199]</span> +eines heimkehrenden Bootes zuweilen eine Zeitlang +tanzten und zitterten. Fledermäuse huschten jagend hin +und her. Die reiche Vogelwelt des Parks war verstummt, +bis auf die zahlreichen Nachtigallen, die um so +lauter schlugen. Ein einzelner Schwan zog langsam und +träumerisch seine Bahn. Die meisten Tische waren leer, +nur selten klang ein Ton gedämpfter Unterhaltung +herüber. Irgendwo in der Ferne spielte eine Militärkapelle.</p> + +<p>Hermann nahm Leidchens Hand. Aber nach einigen +Sekunden zog sie diese zurück und rückte mit dem Stuhl +ein wenig zur Seite. »Ich muß nun aber wirklich bald +nach Hause,« sagte sie.</p> + +<p>»Ich auch,« sagte er, die Uhr ziehend, »ich habe +nämlich keinen Urlaub. Aber hinbringen kann ich +dich noch.«</p> + +<p>Als sie aufgestanden waren, bot er ihr seinen Arm. +Sie zögerte, den ihren hineinzulegen.</p> + +<p>»Deern, du bist aber auch noch gar zu albern,« rief er +etwas ärgerlich. »Wie sieht das aus, wenn wir so wie'n +Paar Bauern nebeneinander her toffeln! Unsere Köchin +brauchte ich gar nicht erst zu bitten.«</p> + +<p>Da hakte sie scheu und zaghaft ein.</p> + +<p>Sie schritten auf einem breiten, von Bäumen überdunkelten +und von Laternen erhellten Parkweg.</p> + +<p>Auf einer Bank, die etwas zurück in schattigem +Dunkel stand, saß ein Soldat, der sein Mädchen im +Arm hielt. Gerade als die beiden vorübergingen, unterbrach +ein Ton die Stille, über dessen Entstehungsursache +kein Zweifel bestehen konnte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_200">[S. 200]</span></p> + +<p>»Die verstehn's,« raunte Hermann seiner Begleiterin +zu.</p> + +<p>Sie erbebte leise. Wenn er nur sich so was nicht auch +beikommen ließe!</p> + +<p>Endlich langten sie vor ihrem Hause an. Hermann +ergriff schnell ihre Hand, drückte sie, daß sie hätte aufkreischen +mögen, und ging mit strammen Schritten +davon.</p> + +<p>Ein wenig enttäuscht blickte sie ihm nach. Ganz im +stillen hatte sie sich den Abschied doch etwas anders gedacht.</p> + +<p>Langsam stieg sie die Treppe hinauf.</p> + +<p>Nein, es war doch besser, daß er sie zum Abschied +nicht geküßt hatte. Daran konnte man sehen, daß er +keiner von den Frechen war, gegen deren Zudringlichkeit +ein anständiges Mädchen sich wehren muß. Mit +einem so ruhigen, ordentlichen Menschen durfte sie +getrost ausgehen. Dagegen würde selbst Gerd nichts +haben. Und wenn er sie dann auch eines Tages mal +küßte ... nun ja, ein Küßchen in Ehren soll niemand +verwehren.</p> + +<p>Unter solchen Gedanken hatte sie sich entkleidet und +dabei öfters zu dem Stück Nachthimmel über ihrem +Dachfenster aufgeblickt. Das war von tiefem Schwarzblau, +und die Krone des hängenden Myrtenbäumchens, +das in diesen Wochen auch frisch getrieben hatte, hob sich +scharf dagegen ab.</p> + +<p>Als sie sich hingelegt hatte, kam ihr des Hauptmanns +Köchin in den Sinn. Ob er die nicht doch ganz gern +hatte? Ach was! Die Köchinnen, die sie auf dem<span class="pagenum" id="Seite_201">[S. 201]</span> +Wochenmarkt gesehen hatte, waren beinah alle alt, dick +und häßlich ...</p> + +<p>Mit diesem Trost schlief sie ein.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am andern Morgen kam ganz unerwartet Gerd, der +auf dem Schlachthof ein fettes Kalb abgeliefert hatte.</p> + +<p>»Deern,« sagte er verwundert, »du siehst famos aus.«</p> + +<p>»Es geht mir auch gar nicht schlecht,« gab sie mit +lachenden Augen zur Antwort.</p> + +<p>Sie bewirtete den Bruder in der Küche mit einem +Frühstück und saß ihm, Kartoffeln schälend, gegenüber. +Die Geschwister hatten sich längere Zeit nicht gesehen, +und sie berichtete, was inzwischen geschehen.</p> + +<p>Fast mit den gleichen Worten wie gestern nachmittag +im Ruderboot erzählte sie von Krankheit und Tod des +Kindes und schloß mit den Worten: »Wie schrecklich +nahe mir das gegangen ist, kannst du dir gar nicht +denken.«</p> + +<p>Er blickte sie verwundert an, und als sie fertig war, +sagte er trocken: »Das wird wohl nicht so schlimm gewesen +sein, du siehst mir viel zu lustig dabei aus. Das +Wischen an den Augen laß auch man sein, Tränen +bringst du doch nicht heraus.«</p> + +<p>Leidchen erschrak.</p> + +<p>Ja, sie hatte das alles nur so mit dem Munde hingeschwatzt, +ohne das geringste dabei zu fühlen. Sonst +hatte sie jeden Morgen die kleine Olga neu vermißt, +aber heute bis eben, wo sie Gerd von ihr erzählte, noch +mit keinem Gedanken ihrer gedacht. Es war ihr auf einmal, +als hätte sie die traurige Geschichte vor zehn<span class="pagenum" id="Seite_202">[S. 202]</span> +Jahren erlebt, oder als wäre sie ihr nur als Kunde aus +fremdem Mund zugekommen. So fern, so gleichgültig +war ihr über Nacht geworden, was gestern nachmittag +noch ihr Herz mit tiefem Schmerz und ihre Augen mit +echten Tränen gefüllt hatte. Sie schämte sich ein wenig +vor sich selbst.</p> + +<p>Als sie ihm dann vom Ende ihrer Freundschaft mit +Meta Stelljes erzählte, sprach er die Hoffnung aus, daß +diese es mit einem ordentlichen, ernsthaften Menschen +zu tun haben möchte, und nicht mit einem von den +vielen, die so ein Mädchen nur zum besten hätten.</p> + +<p>Leidchen stieß mit der Spitze ihres Pantoffels ärgerlich +gegen seine Transtiefel und sagte: »Du bist gar nicht +zu bessern. Immer mußt du von allen Menschen das +Schlechteste denken.«</p> + +<p>Er zuckte die Achseln: »Ich kenne die Welt.«</p> + +<p>Nach einer Weile sah sie ihm neugierig und schalkhaft +in die Augen. »Du! Sag' mal, denkst du denn eigentlich +noch gar nicht ans Heiraten?«</p> + +<p>Er machte mit der Hand eine wegwerfende Bewegung: +»Erst will ich ordentlich was hinter mich +bringen ... Bei uns im Moor wird durchschnittlich viel +zu früh geheiratet.«</p> + +<p>»Mensch, schnack doch nicht so gräßlich weise!« rief sie +lachend.</p> + +<p>»Neulich,« fuhr er fort, »wurde wieder mal so'n +Paar aufgeboten. Er achtzehn Jahr, muß nächstes Jahr +zum erstenmal zur Musterung. Der Vorsteher hat's erst +nach dem Minister wegschreiben müssen. Sie fünfundzwanzig. +Und was hatte er? Ein Rad. Und sie? Auch<span class="pagenum" id="Seite_203">[S. 203]</span> +ein Rad. Und sie fuhren hin und verkloppten die +Dinger. Da langte es eben, daß sie sich ein Bett kaufen +konnten, alles andere mußten sie auf Borg nehmen. +Wenn er dann später beim Kommiß schwitzen muß, sitzt +sie da mit zwei oder drei Kindern, und zu etwas bringen +kann's es niemals, so'n Prachervolk!«</p> + +<p>»Ach Gerd, du darfst in solchen Dingen nicht so hart +sein. Wenn die beiden sich wirklich liebhaben ...«</p> + +<p>»Ich danke für solche Liebe. Nach der Tanzmusik, als +er halb dun war, hat sie ihn mitgeschleppt. Bezahlen +kann er nicht, so mußte er das Mensch heiraten.«</p> + +<p>Eine Zeitlang schwiegen sie. Dann sagte Gerd, geheimnisvoll +lächelnd: »Ich hab' auch noch einen Gruß +für dich. Rat' mal, von wem?«</p> + +<p>Nachdem sie einige Male vergeblich hin und her geraten +hatte, kam er selbst damit heraus: »Von Lehrer +Timmermann.«</p> + +<p>»Ach so ... Danke.«</p> + +<p>»Denkst du dir gar nichts dabei?« fragte er lächelnd.</p> + +<p>»Was soll ich mir groß dabei denken?« fragte sie +gleichgültig zurück.</p> + +<p>»Och, ich meinte man ... Soll ich ihn wieder grüßen?«</p> + +<p>»Das kann ich dir nicht verbieten.«</p> + +<p>»So'n bißchen von Herzen? ...«</p> + +<p>Sie hielt plötzlich im Kartoffelschälen inne, sah ihn +groß an und rief lachend: »Junge, hat er dich wohl als +Freiwerber geschickt?«</p> + +<p>Gerd schlug sich die Mütze, die er bislang zwischen +den Händen gedreht hatte, über das rechte Knie und +sagte ärgerlich: »Deern, du bist wohl nicht recht klug.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_204">[S. 204]</span></p> + +<p>Sie weidete sich an seiner Verlegenheit und lachte ihm +lustig ins Gesicht.</p> + +<p>Auf einmal richtete er sich auf und sagte, sie voll ansehend, +mit ernsthaftem Gesicht: »Leidchen ... laß uns +da vernünftig über sprechen. Wenn Timmermann dich +nähme ...«</p> + +<p>»Pah! Fragt sich, ob ich ihn will.«</p> + +<p>»Aber Leidchen!«</p> + +<p>»Aber Gerd, du hast ja eben noch gesagt, wir sollten +nicht so früh ans Heiraten denken.«</p> + +<p>»Oh ...« sagte er gedehnt, »mit euch Mädchen ist das +was anderes. Ihr seid leicht alt genug, und es ist gut, +wenn ihr einem erst anständig unter den Füßen weg +seid.«</p> + +<p>»Kuck' einer an! So'n alter Pharisäer!«</p> + +<p>»Nein, Leidchen, wir wollen ernst bleiben. Was so'n +Lehrer ist, der hat sein Festes. Ich glaub', unserer kriegt +jetzt beinah' schon tausend Mark, und kommt wohl bis +aufs doppelte. Bedenk' doch bloß, Leidchen: Was für'n +Haufen Geld! Und das schöne neue Haus mit Garten, +und fünfzehn Morgen Land, und ein Tagwerk Grünland. +Da könnt ihr euch ordentlich ausarbeiten, und +zwei Kühe halten, und ein halb Dutzend Schweine zum +Verkauf fett machen.«</p> + +<p>»Und wenn ich die Kühe gemolken und die Schweine +gefüttert habe, kann ich in seinen dicken Büchern +lesen ...«</p> + +<p>»Ja ... das auch ...«</p> + +<p>»Ujeh«</p> + +<p>»Wa—as?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_205">[S. 205]</span></p> + +<p>»Gerd, ich will dir mal was sagen, zu solch einem +Leben bin ich nicht gemacht. Von dem vielen Lesen und +Studieren wird einer ganz dwatsch im Kopf.«</p> + +<p>»Wer hat dir denn das vorgeschnackt?«</p> + +<p>Über ihre Wangen flog eine leichte Röte: »Das hab' +ich an mir selbst ausprobiert. Ich habe nämlich diesen +Winter auch viel zu viel gelesen. Es waren ja alles ganz +schöne Geschichten, aber auf die Dauer bekommt es doch +nicht gut. Ich glaube, was die Bücherschreiber sind, die +lügen alle zusammen.«</p> + +<p>»Leidchen, Leidchen, wie schnackst du da nun wieder +hin!« sagte er kopfschüttelnd. »Was ist bloß mit dir los? +Du bist heute so wunderlich, so aufgeregt und übermütig ... +Sag' mal, du hast in der Schule doch auch +Schillers Glocke gelernt.«</p> + +<p>Mit dem Pantoffel taktierend begann sie:</p> + + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Festgemauert in der Erden</div> + <div class="verse indent0">Steht die Form, aus Lehm gebrannt.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>»Halt!« rief er, »du sollst mir das ganze Ding nicht +herunterbeten. Ich mein' die Worte: ›Das ist's ja, was +den Menschen zieret‹.«</p> + +<p>Sie fiel ein:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Und dazu ward ihm der Verstand,</div> + <div class="verse indent0">Daß er im innern Herzen spüret,</div> + <div class="verse indent0">Was er erschafft mit seiner Hand.«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>»Siehst du, Leidchen, das ist's. Es ist 'ne traurige +Sache, wenn einer durch das Leben bloß so hindusselt +und hindöst, wie bei uns auf dem Lande die meisten<span class="pagenum" id="Seite_206">[S. 206]</span> +noch tun. Das Leben wird viel schöner, wenn einer +anfängt, so'n bißchen nachzudenken, und wenn er dann +seine Arbeit nicht einfach so tut, wie er's anderen Leuten +abgekuckt hat, sondern mit eigenen Gedanken, und +nicht bloß mit der Hand, sondern auch mit dem Kopf +und dem Herzen. Soweit bin ich jetzt, und Timmermann +hat mir ein bißchen mit dazu geholfen ... Also +ich soll ihn herzlich von dir wieder grüßen. Und wenn +er eines Tages kommt und bei dir anfragt — ich weiß +ja noch gar nichts Bestimmtes, hab' nur so meine +Ahnung — dann sagst du in Gottes Namen fröhlich ja. +Nicht wahr?«</p> + +<p>»Ich kann mir den Fall ja überlegen. ›Drum prüfe, +wer sich ewig bindet,‹ sagt Schiller ja auch wohl, ›ob sich +nicht noch was Bess'res findet.‹«</p> + +<p>»Leidchen, Leidchen, du bist jetzt achtzehn Jahr und +mußt bald wirklich ein bißchen ernster werden. Es heißt +doch, ›ob sich das Herz zum Herzen findet‹. Und ich bin +fest überzeugt, es gibt keine zwei Herzen, die so gut +zueinander passen.«</p> + +<p>»So—o? Na ja, die Hauptsache ist ja auch, daß du +das erst mal weißt ...«</p> + +<p>»Was ich noch fragen wollte: hast du schon eine +Freundin wieder für Meta Stelljes?«</p> + +<p>»Was brauch' ich 'ne Freundin, wenn ich auch <em class="gesperrt">so</em> vergnügt +bin?«</p> + +<p>»Nein, Leidchen, es ist besser.«</p> + +<p>»Na, denn sei man ruhig, hier auf der Nachbarschaft +ist ein Fräulein von meinem Alter, ich kann ja mal +sehen, ob ich mit der etwas in Gang komme.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_207">[S. 207]</span></p> + +<p>»Das tu bitte, das heißt natürlich, wenn es ein +ordentliches Mädchen ist. Ich bin dann ruhiger.«</p> + +<p>»Willst du nicht lieber selbst hier bleiben und aufpassen?«</p> + +<p>»Dumme Deern, heut' ist überhaupt nicht vernünftig +mit dir zu sprechen.«</p> + +<p>Er war aufgestanden. Sie warf die letzte Kartoffel in +den Wassereimer, daß die Tropfen hoch aufspritzten, und +erhob sich ebenfalls. In voller Jugendblüte prangend, +stand sie vor ihm, er mußte sie still verwundert ansehen.</p> + +<p>»Was kuckst du, Junge?«</p> + +<p>»Darf ich dich nicht ankucken?«</p> + +<p>Ihre braunen Augen blitzten vor Übermut. »Weißt +du, was ich möchte?«</p> + +<p>»Na?«</p> + +<p>»Dir mal'n Kuß geben.«</p> + +<p>»Aber Deern!«</p> + +<p>»Magst du keinen?« Sie spitzte das Mündchen ganz +allerliebst.</p> + +<p>»Oh ...«</p> + +<p>Dreimal drückten sich ihre warmen roten Lippen auf +die seinen.</p> + +<p>»Deern, Deern, was kannst du küssen!« rief er +lachend, indem er sich ihrer Umarmung entwand und +mit dem Handrücken über den Mund wischte. »Schade, +daß ich Timmermann keine Probe davon mitnehmen +kann. Ich glaube, der käm' gleich morgen angereist +und holte sich mehr von der Sorte.«</p> + +<p>»Hohoho, der kann sich auf den Kopf stellen, er kriegt +doch keinen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_208">[S. 208]</span></p> + +<p>»Das wollen wir ruhig abwarten ... Na, Leidchen, +ich freu' mich, daß du so fein auf dem Damm bist. +Denn bleib' schön munter, adjüs!«</p> + +<p>»Wart', ich geh ein paar Schritt mit dir.« Und schon +hatte sie die Küchenschürze abgeworfen.</p> + +<p>Als sie auf der Straße waren, fragte Leidchen: +»Weißt du keinen guten Platz für mich zum Herbst? In +unserm Dorf oder auf der Nachbarschaft, das ist +einerlei.«</p> + +<p>Er blieb stehen und fragte verwundert: »Was? Du +willst hier wieder weg?«</p> + +<p>»Ja,« sagte sie, »es gefällt mir auf dem Lande doch +ebensogut.«</p> + +<p>»Siehst du? Hab' ich dir das nicht gleich gesagt?« +triumphierte er. »Aber zum Winter? ... Das wird +schwer halten, hm. Halt, auf der Mühle suchen sie ein +Mädchen in der Zeitung. Willst du da hin?«</p> + +<p>Sie machte ein bestürztes Gesicht. »Nee,« sagte +sie kurz.</p> + +<p>»Das wollt' ich dir auch nicht raten. Kein Mädchen +hält es da lange aus.«</p> + +<p>»Ist die Frau wirklich so schlimm?«</p> + +<p>»Allzusammen sind sie dem Teufel aus der Kiepe +gesprungen. Im Herbst kommt auch Hermann wieder +nach Haus, der jetzt Hauptmannsbursche ist, in +Spandau.«</p> + +<p>»Wir sind hier an der Ecke,« sagte Leidchen hastig, +»ich muß machen, daß ich wieder in die Küche +komme.«</p> + +<p>Sie gab ihm eilig die Hand und wandte sich zum<span class="pagenum" id="Seite_209">[S. 209]</span> +Gehen. Indem sie langsam dem Hause zuschritt, suchte +sie eines unangenehmen Gefühles Herr zu werden. Als +sie wieder in der Küche anlangte, war ihr das auch +schon gelungen. Sie hielt die beiden Arme gestreckt +vor sich, und in ihr jubelte es: An jeder Hand einen +Freiersmann! Und was für welche! Den gebildetsten +jungen Mann im Dorf, und den schmucksten und reichsten +dazu. Wenn Meta Stelljes davon eine Ahnung +hätte! Die mit ihrem Hilfsbremser! Und die Freundinnen +zu Hause!</p> + +<p>Den ganzen Tag war sie vor Freude rein närrisch. +Erst gegen Abend kam eine ruhigere, besinnlichere +Stimmung über sie. »Wer die Wahl hat,« dachte sie, +»hat die Qual.«</p> + +<p>Von jeher waren die Rosenbrocks gute Rechner gewesen, +und auch Leidchen hatte davon ihr Teil bekommen, +wenn auch nicht ein so großes, wie ihr Bruder. +So fing sie denn, als die Tagesarbeit getan und es +stiller in ihr geworden war, an zu rechnen.</p> + +<p>Lehrerfrau zu werden ... der Gedanke hatte viel +Verlockendes. Daheim in ihrem Dorf war sicher kein +Mädchen, das da nicht mit beiden Händen zugegriffen +hätte. Das Haus war neu und groß. Noch heute +schalten die Bauern, so teuer zu bauen wär' gar nicht +nötig gewesen, und stöhnten über die Höhe der Schulsteuer, +die infolge des Neubaues auf 250 Prozent der +Staatssteuern, einschließlich der fingierten, gestiegen +war. In solchem Hause zu wohnen und als Frau zu +schalten, das war gewiß nichts Geringes.</p> + +<p>Aber die Mühle war auch nicht zu verachten. Sie<span class="pagenum" id="Seite_210">[S. 210]</span> +hatte drei Mahlgänge und galt als eine der stärksten +im ganzen Moor. Leidchen erinnerte sich, wenn sie als +Kind mit der Karre einen Sack Mehl oder Gerstenschrot +holen mußte, wie sie da verwundert und ein bißchen +ängstlich zu den fauchend herumsausenden Flügeln +aufgeschaut und drinnen sich die Ohren zugehalten hatte +vor dem tollen Geklapper, das der weißbepuderte +Mann gelassen regierte wie ein Kinderspielzeug. Und +das Wohnhaus war wohl altmodisch, noch mit Strohdach, +aber doch das stattlichste Gebäude im ganzen +Dorf, und hatte gewiß wunderschöne, große Zimmer ...</p> + +<p>Bei Gastereien wurde die Lehrersfrau stets ins Sofa +genötigt. Und die Müllersfrau? Nun, die jetzige ließ +sich selten sehen, weil sie den Geestbauernstolz gegenüber +den Moorleuten nicht überwinden konnte. Wenn eine +aber war, wie sich's gehörte, ehrte man sie gewiß nicht +weniger als die Schulmeisterin ... Was würden +die Leute für Augen machen, wenn eine aus ihrem +Dorf als junge Frau auf der Mühle Einzug hielte! +Das war nicht geschehen, solange Mühle und Dorf +standen. Die Müller wollten immer mehr sein als +andere Leute und holten sich die Frauen von anderen +Mühlen oder aus den reichen Geest- und Wiesendörfern +...</p> + +<p>Lehrer Timmermann war ein guter Mensch; schon +seine sanften blauen Augen sagten, daß nichts Arges +in ihm wohnte. Sie erinnerte sich jenes Weihnachtsabends +im Schulhause, wo sie alle vier so kindlich vergnügt +gewesen waren. Aber es fiel ihr auch von der +Schulzeit her ein, daß er alles sehr genau nahm. Vielleicht<span class="pagenum" id="Seite_211">[S. 211]</span> +entlief sie, wenn sie ihn nahm, nur dem einen +Schulmeister, um dem anderen in die Hände zu fallen, +oder mußte sich gar, da die beiden fest zusammenhielten, +unter zwei ducken ... Wenn sie sich einen Kuß von ihm +vorstellte ... da konnte sie ebensogut ihren Bruder +küssen, das kam so ungefähr auf dasselbe heraus.</p> + +<p>Dagegen Hermann? ... Das Herz klopfte ihr und +das Blut schoß ihr in die Wangen, wenn sie nur daran +dachte, daß er sie einmal in den Arm nehmen und küssen +konnte ...</p> + +<p>Plötzlich erschrak sie. Sie hatte eben so fest mit +den beiden gerechnet, aber wollten die sie denn überhaupt?</p> + +<p>Nach kurzem Nachdenken glaubte sie des Lehrers +sicher zu sein. Wenn Gerd von der Sache angefangen +hatte, so war anzunehmen, daß er sich irgend etwas +hatte merken lassen. Und wenn er auch nur die geringste +Andeutung gemacht hatte, dann war kein Zweifel, daß +er sich mit ernsten Absichten trug.</p> + +<p>Dagegen Hermann? ... Der war ein Luftikus und +Windbeutel. Was er ihr gestern Schmeichelhaftes gesagt +hatte, das hatten am Ende auch schon andere von +ihm zu hören bekommen. Häuser durfte man auf dessen +Wort nicht bauen. Überhaupt mußte man sich mit +einem seiner Art in acht nehmen ... Aber es hatte +doch wieder einen besonderen Reiz, gerade so einen sich +zu gewinnen ...</p> + +<p>Einen großen Vorzug hatte das Schulhaus. Dort +hatte die junge Frau von vornherein freie Hand. In +der Mühle dagegen bekam sie für die ersten Jahre<span class="pagenum" id="Seite_212">[S. 212]</span> +gewiß ein böses Tun mit den beiden Alten. Aber was +wollten die schließlich machen, wenn die jungen Leute +treu zusammenhielten? Und war sie denn nicht noch +immer mit allen Menschen gut fertig geworden? Das +müßte doch wunderlich zugehen, wenn sie die alten +Brummbären nicht schließlich zahm kriegte. Und ewig +lebten die am Ende ja auch nicht ...</p> + +<p>Leidchen war entschlossen, einen von den beiden auf +jeden Fall sich zu erobern. Wen? das mußte die Zeit +ausweisen.</p> + +<p>Frau Marwede war ausgegangen. Sie schlich sich +leise in ihren Salon und stellte sich vor den großen +geschliffenen Spiegel. Ja, ihre Augen hatten einen +schönen Glanz, und die Haare einen seidigen Schimmer. +Die Grübchen saßen niedlich in den rosigen Backen, und +mit dem kleinen Finger versuchte sie sie noch zu vertiefen. +Sie dachte ihre schlanke Gestalt in das Himmelblaue +hinein und beschloß, Frau Marwede um einen +kleinen Vorschuß auf ihr Gehalt zu bitten, damit sie +sich auch noch einen passenden neuen Hut dazu kaufen +könnte.</p> + +<p>Als sie sich vom Spiegel abwandte, sah sie auf dem +Eckbort, wo die Nippsachen standen, ein Püppchen +lehnen, mit dem die kleine Olga so oft gespielt hatte. +Sie nahm das Ding in den Arm, ließ sich in einen +roten Plüschsessel fallen und weinte blanke Tränen in +ihren Schoß. Das war ihr in dem so plötzlich über sie +gekommenen Glück auf einmal ein seelisches Bedürfnis.</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_213">[S. 213]</span></p> +<h2 class="s2">11.</h2> +</div> + +<p>Auf dem Neustadtsbahnhof hielt ein Zug der Großherzoglich +Oldenburgischen Eisenbahn. Alles, was +den schönen Sonntagnachmittag im Wald- und Heidegebiet +des Nachbarländchens verleben wollte, strömte +herzu, vereins-, familien- oder paarweise, je nach +Lebensumständen oder Neigungen.</p> + +<p>Schon hatte der Mann mit der roten Tasche die Flöte +am Munde, da kam noch ein Pärchen in langen Sätzen +über den Bahnsteig dahergesprungen.</p> + +<p>»Dritter?«</p> + +<p>»Jawohl.«</p> + +<p>»Alles besetzt, hier einsteigen!«</p> + +<p>Sie warfen sich, einander gegenüber, in die grauen +Polster eines unbesetzten Abteils zweiter Klasse und +rangen mit allen Kräften ihrer Lungen nach Luft, die +ihnen beim Dauerlauf knapp geworden war.</p> + +<p>Bald war Leidchen so weit, daß sie ihr Spiegelbild +im Fenster suchen und vor ihm ihren neuen Hut +— weißes Stroh mit Klatschmohn — zurechtrücken +konnte.</p> + +<p>Dann wandte sie das glühende Gesicht ihrem Gegenüber +zu und sagte: »Mal'n bißchen in der Eisenbahn +zu fahren, macht doch wirklich Spaß.«</p> + +<p>»Du hast wohl noch nicht ganz oft drin gesessen?« +fragte Hermann.</p> + +<p>»Es ist heute das erstemal in meinem Leben.«</p> + +<p>»Ist ja wohl nicht möglich, Deern!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_214">[S. 214]</span></p> + +<p>»Ganz gewiß. Meta Stelljes wollte immer mal mit +mir nach Vegesack, aber dann ist ihre Verlobung dazwischen +gekommen. Oh, kuck mal, wie die Telegraphendrähte +immer auf und ab wogen! Und wie 'r das durch +geht! Wir fahren schneller, als die Krähe da fliegen +kann.«</p> + +<p>Hermann lächelte über ihre naive Freude und sah +ihr verwundert in die großen braunen Kinderaugen. +»Und dabei ist dies noch der gemütlichste Zug in ganz +Deutschland,« sagte er, »er darf nicht schneller, sonst +fährt er die Oldenburger Ochsen und Kühe tot. Weißt +du, was die Buchstaben hier auf der Fensterstrippe zu +bedeuten haben?«</p> + +<p>»G. O. E.? Nee.«</p> + +<p>»Gänzlich ohne Eile.«</p> + +<p>»Ach so, dies ist also nur erst ein Bummelzug.«</p> + +<p>Die Zielstation, der ein nahes Forsthaus den Namen +gegeben hatte, war unter solcherlei Gesprächen bald +erreicht. Zuletzt hatten sie sich über die Klassenunterschiede +auf der Eisenbahn unterhalten, und als sie ausstiegen, +sahen sie nach den Fahrgästen, die aus der +dritten geklettert kamen, mit einiger Geringschätzung, +und für die Reisenden vierter Güte hatten sie überhaupt +kein Auge.</p> + +<p>Um nicht in die Vereine und Familien hineinzugeraten, +schlugen sie ein schlankes Tempo an. Arm +in Arm und im Geschwindschritt ging's die sonnige +Landstraße entlang, Hermann pfiff eine muntere +Marschweise. Erst als ein Fußweg sie nach rechts in +einen Buchenforst führte, wurden sie langsamer.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_215">[S. 215]</span></p> + +<p>Das Kind aus dem Lande der Birken legte das Köpfchen +in den Nacken und staunte zu den lichten grünen +Hallen des Hochwaldes empor: »Junge, Junge, hier +ist's so schön wie in der Kirche!« »Viel schöner, Deern, +als in der Kirche!« rief er lachend. Als sie von ungefähr +einmal zu Boden blickte, schlug das bewundernde +Staunen plötzlich in helles Entzücken um. Sie +bückte sich zu einer Kolonie lieblicher Maiglöckchen und +pflückte ein Sträußchen, das sie dann in zwei Hälften +teilte, um die eine ihrem Begleiter zu überreichen, der +die schenkende Hand ein paar Sekunden mit zärtlichem +Druck festhielt.</p> + +<p>Der Wald wurde lichter, und an seinem Saum lud +eine ländliche Wirtschaft zum Rasten ein. Das Pärchen +setzte sich in eine Kletterrosenlaube, die über und +über mit schwellenden und schon rot durchschimmernden +Knospen bedeckt war, und bald stand eine Portionskanne +Kaffee nebst einem Teller mit dreierlei Kuchen +vor ihnen auf dem Tisch. Leidchen hatte zu Mittag +vor freudiger Erwartung nicht viel essen können, aber +jetzt langte sie wacker zu. Ihr Begleiter, der ihr die +besten und zuckerigsten Stücke überließ, erzählte dazu +eine lustige Geschichte nach der anderen, daß sie immer +wieder mit Essen innehalten und sich erst mal auslachen +mußte.</p> + +<p>Bald wurde es in dem nahen Walde lebendig, und +der Garten füllte sich schnell mit Ausflüglern, die großen +Kaffeedurst und viel Spektakel mitbrachten. Die Rosenlaube +erschien einer kinderreichen Familie begehrenswert, +deren stattlich dicke Mutter den im Wege sitzenden<span class="pagenum" id="Seite_216">[S. 216]</span> +jungen Leuten aus puterrot erhitztem Gesicht einen +feindseligen Blick zuwarf, wie die Gluckhenne den +jungen Hähnen und Hühnern, wenn sie für ihre Brut +Platz schaffen will. Bald waren die beiden fest eingekeilt, +und verschiedene Backfische und Bengels machten +ein Gesicht, als ob sie sagen wollten: »Habt ihr unsere +Mama nicht verstanden?«</p> + +<p>»Ich glaube, die Herrschaften sind lieber unter sich,« +sagte Hermann denn auch bald, zahlte und bot Leidchen +den Arm.</p> + +<p>Sie folgten einer Landstraße, die durch Korn- und +Kartoffelfelder in der Richtung auf eine mit jungen +forstlichen Anlagen bedeckte Höhe führte. Diese stiegen +sie auf einem Fußpfad hinan, bis eine mächtige vorgeschichtliche +Steinsetzung, von einer sturmzerzausten +Eiche überragt, vor ihnen lag.</p> + +<p>Mit gewandtem Sprung hob Hermann sich auf die +riesige Deckplatte, um dann auch seiner Begleiterin +hinauf zu helfen.</p> + +<p>Vom Rand des Steines bot sich ein freier Blick +weit ins Land hinaus. Im Vordergrunde leuchtete die +Junipracht üppiger Felder, über denen die Lerchen +sangen. Um sie legte sich ein Kranz heller Buchen- +und dunkler Nadelwälder, hinter diesen verdämmerte +die unbestimmte Ferne. Es war angenehm sommerlich +warm.</p> + +<p>»Oh,« rief Leidchen, der die Augen weit wurden, +»wie lange hab' ich so was nicht mehr gesehen! Wir +hatten zu Hause auf unserm Moor eine Föhre, von der +konnte man auch so weit ins Land kucken.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_217">[S. 217]</span></p> + +<p>Eine Weile standen sie schweigend und freuten +sich der schönen Aussicht. Dann legte er leise die +Hand um ihre Hüfte. Bald zog er sie fester an sich und +küßte sie.</p> + +<p>Mit geschlossenen Augen lag sie ein Weilchen still +an seiner Brust. Als ein leises Erbeben über ihren +Körper lief, wurde er stürmischer, und sie schlug die +Arme um ihn und erwiderte seine Küsse mit Leidenschaft.</p> + +<p>Aber plötzlich riß sie sich gewaltsam los, wich zurück +und sah ihn mit großen, starren Augen an.</p> + +<p>Er wollte sie aufs neue umarmen. Da sprang sie +von der Steinplatte zur Erde.</p> + +<p>Er ihr nach. Aber sie hob abwehrend die Hände: +»Bitte, nicht mehr!«</p> + +<p>Da ließ er die Arme sinken.</p> + +<p>Unten in den Anlagen wurden Stimmen laut, und +sie schritten hintereinander die Anhöhe hinab.</p> + +<p>Als sie wieder auf der Straße waren, bot er ihr +seinen Arm, aber sie wollte ihn nicht nehmen. Es lag +ihr noch immer lähmend in allen Gliedern. So war +sie vorhin erschrocken, vor ihm und vor sich selbst.</p> + +<p>Er erzählte von Spandau und Berlin. Sie hörte +nur mit halbem Ohr hin.</p> + +<p>Er pfiff: »Auf in den Kampf, Torero.« Sie ärgerte +sich über die kecke Weise und faßte ihren Sonnenschirm +fester.</p> + +<p>Als der Fußweg in den Buchenwald abbog, sagte sie +kurz und entschieden: »Ich bleibe auf der Chaussee.«</p> + +<p>Auf dem Bahnhof standen schon viele Menschen mit<span class="pagenum" id="Seite_218">[S. 218]</span> +abgerissenen Blätter- und Blütenzweigen, und die +beiden schoben sich in die den Zug erwartende Menge +hinein. Als sie ein paarmal auf und ab gegangen +waren, nahm Leidchen auf einmal Hermanns Hand und +sagte: »Ich danke dir auch schön, daß du mich mal +mitgenommen hast.« »Das kannst du noch öfter haben, +mein' Deern,« antwortete er, indem er ihre Hand festhielt +und mit zärtlichem Blick ihr tief in die Augen sah. +»Wenn's dir recht ist, bringen wir alle unsere freien +Sonntage miteinander zu. Dann kriegst du wenigstens +etwas von der Welt zu sehen. Wollen wir das nächste +Mal mit dem Dampfschiff nach Fegebeutel?« »Bitte +ja,« rief sie mit frohen Augen, sich an seine Schulter +schmiegend und zu ihm aufblickend.</p> + +<p>Als der Zug einlief, schielten sie nach den Abteilen +zweiter Klasse, in deren Polster es ihnen ganz gut +gefallen hatte, inzwischen wurde die dritte besetzt, und +zuletzt, unmittelbar vorm Abfahren, schob ein bärbeißiger +Schaffner sie in einen Wagen vierter Klasse, +mitten in einen schwitzenden, schmökenden, schwadronierenden +Vorstadtskegelklub hinein. Der halb ausrangierte +und nur sommersonntags noch laufende +Wagen schwankte und stieß wie eine alte Postkutsche +und warf die auf engste Stehplätze Angewiesenen bald +aneinander, bald gegen wohlbeleibte Kegelbrüder. —</p> + +<p>Am Abend des folgenden Tages erhielt Leidchen +eine Ansichtskarte mit dem Poststempel Worpswede. +Weißstämmige Birken mit herbstlich gelbem Laub spiegelten +sich in einem dunklen Moorgraben, und darunter +stand, wie gestochen:</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_219">[S. 219]</span></p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Von einem von schönstem Wetter begünstigten Ausflug +auf den Weiher Berg sendet beste Grüße</p> + +<p> +Otto Timmermann, Lehrer.«<br> +</p> +</div> + +<p>Eine weniger federgeübte Hand hatte mit steilen und +steifen Schriftzügen hinzugefügt:</p> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Schade, daß Du nicht auch hier bist.</p> + +<p> +Dein Bruder Gerd.«<br> +</p> +</div> + +<p>Die Empfängerin dieses Kartengrußes fing wieder +an zu wägen und zu rechnen. Aber das wollte nicht +mehr recht gehen. Das Blut sprach jetzt mit. —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Es kam die Zeit der Roggenernte. Hermann hatte +diese als Vorwand genommen, um vor dem Manöver +noch schnell ein paar Tage Urlaub herauszuschlagen, +der nachts um zwölf von Sonntag auf Montag ablief. +Aber schon gegen acht war er zurückgekehrt und schritt +dem Bürgerpark zu, wo er mit Leidchen ein Stelldichein +verabredet hatte.</p> + +<p>Sie trat ihm hastig mit der Frage entgegen: »Was +haben deine Eltern gesagt?«</p> + +<p>»Aber Kind,« rief er, »was ist denn das für ein +Empfang? Erst gibst du mir mal die Hand, und dann +einen Kuß ... So, und nun setzen wir uns hier auf +die Bank und bereden ruhig das Weitere.«</p> + +<p>»Was sagen deine Eltern?« wiederholte sie, als sie +sich niedergelassen hatten.</p> + +<p>Er räusperte verlegen und legte den Arm um sie: +»Hm, Leidchen, ich hab's ihnen diesmal doch noch nicht +sagen können.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_220">[S. 220]</span></p> + +<p>»Warum nicht?« rief sie im Tone bitterer Enttäuschung.</p> + +<p>»Och ... mein Vater hatte gerade mal wieder +seine schlimmen Tage, du weißt ja Bescheid. Dann darf +man ihm mit so wichtigen Sachen nicht kommen.«</p> + +<p>»Aber deine Mutter ...«</p> + +<p>»Wenn der Vater das so kriegt, muß man sie auch +schonen. Dann ist sie viel zu nervös und aufgeregt.«</p> + +<p>»Was soll denn aber nun werden?«</p> + +<p>»Ob sie's acht Tage früher oder später erfahren, das +kommt doch wohl auf eins hinaus ... Ist Gerd bei +dir gewesen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Und was sagt der?«</p> + +<p>»Ich ... ich hab's ihm auch noch nicht sagen +können.«</p> + +<p>»Warum nicht?«</p> + +<p>»Ach, er hatte keine rechte Zeit ... Und er ist auch +ein so eigener Mensch, man weiß nie, wie man mit ihm +dran ist ... Und er hat mir ja auch gar nichts zu +sagen! Aber mit deinen Eltern ist das was anderes. +Oh, wenn du doch bloß mit ihnen gesprochen hättest! +Ich hatte mich so fest darauf verlassen.«</p> + +<p>»Wirklich, bestes Kind, es ging nicht.«</p> + +<p>»Mir ist manchmal so bange. Ich bin ja so über alle +Maßen glücklich, daß ich dich habe, aber dann packt mich +auf einmal wieder die Angst.«</p> + +<p>»Ach Deern, das sind bloß so Stimmungen!«</p> + +<p>»Diese Nacht habe ich auch erst wieder geträumt. +Ich hatte mich verirrt, mitten im großen Tennstedter<span class="pagenum" id="Seite_221">[S. 221]</span> +Moor, wo nichts zu sehen war als Porst und Heide und +schwarze Wasserlöcher, und stickdüster war's auch noch. +Da rief ich nach dir, laut und immer lauter, aber es +kam keine Antwort. Nur ein Heister flog über mir weg, +und es klang gerade so, als ob er mich auslachte. Davon +wachte ich auf.«</p> + +<p>»Uh, Deern, du könntest einen ja beinahe gruseln +machen.«</p> + +<p>»Wenn du doch bloß mit deinen Eltern gesprochen +hättest! ... Hermann, sag mir mal ehrlich und aufrichtig: +glaubst du wirklich, daß sie mich wollen, daß +sie uns nichts in den Weg legen?«</p> + +<p>»Leidchen, ich will ganz offen mit dir darüber +sprechen. Ich hab' mich diese letzten Jahre mit Vater +nicht gut gestanden. Wenn Mutter mir nicht immer +was von ihrem Zugebrachten, wovon sie einen Teil für +sich behalten hat, zugesteckt hätte, wär's mir böse gegangen. +Vor einem Vierteljahr wußte ich noch nicht, +ob ich diesen Herbst nach Hause wollte oder mir lieber +in der Fremde mein eigen Brot verdienen sollte. Aber +ich habe nun zu Hause noch wieder gesehen: es geht +nicht so weiter, sie werden ohne mich nicht länger +fertig. Vater paßt nicht ordentlich mehr auf, und auf +den Gesellen ist auch kein rechter Verlaß. Es sind +wieder mehrere alte Kunden abgesprungen. Da hilft +alles nichts, ich muß hin und tüchtig zupacken, daß ich +den Karren wieder aus dem Dreck herauskriege. Und +ich habe jetzt auch guten Mut dazu. Und weißt du +warum? — Weil du mir helfen willst, Leidchen. Sieh, +damals, als wir uns hier im Bürgerpark trafen, dachte<span class="pagenum" id="Seite_222">[S. 222]</span> +ich: das ist 'ne lüttje nette Deern, mit der kannst du +mal'n bißchen vergnügt sein. Und heute weiß ich, daß +du vielmehr als das, daß du mein guter Engel bist, +und wenn es überhaupt eine gibt, die mit meinen beiden +Alten auskommt, dann bist du das. Du hast so was +Liebes und Fröhliches in deinem Wesen, ich glaube, +der böseste Mensch kann dir auf die Dauer nicht böse +sein ... Meine Mutter hat ihre hohe Herkunft nicht +vergessen können und Vater nicht immer richtig behandelt. +Aber ich glaube, wenn eine so fein sanft und +still um ihn herum wäre, müßte ganz gut mit ihm zu +leben sein. Denn das mit dem Trinken kriegt er nur +zeitweise, und fast immer, wenn er mit Mutter etwas +gehabt hat. Leidchen, ich möchte glauben, es dauert +nicht lange, so wickelst du ihn um den Finger und hast +meine Mutter unter dem Pantoffel ... Wenn wir +dich da nur erst hineinhaben! ...«</p> + +<p>»Ja, das ist es ja man gerade! ...«</p> + +<p>»Ja, das wird noch einen harten Kampf kosten ... +Und wir müssen es am Ende machen wie so viele, und +sie zwingen. Du brauchst davor gar nicht so zu erschrecken. +Wenn zu jeder Heirat erst Väter, Mütter, +Brüder und Gevattern ihren Segen geben müßten, +kämen wohl nicht ganz viele zustande. Nein, da steh +ich auf einem anderen Standpunkt. Wenn zwei +Menschen sich so lieb haben, wie wir beide uns haben, +ist es eine Sünde, wenn einer sich zwischen sie stellt, +und wenn die Menschen ihnen das nicht geben wollen, +was ihnen nach dem Recht der Natur gehört, dürfen +sie sich's auch so nehmen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_223">[S. 223]</span></p> + +<p>»Aber ... du hast ja noch gar nicht ... mit deinen +Eltern gesprochen.«</p> + +<p>»Das weiß ich schon so, freiwillig lassen sie sich doch +auf nichts ein.«</p> + +<p>»Hermann, wenn du mir das doch gleich im Anfang +gesagt hättest, daß dein Vater und Mutter so sind! ... +Oh, hätte ich doch wenigstens mit meinem Bruder +gesprochen!«</p> + +<p>»Den alten Drögepeter laß man lieber aus dem +Spiel. Wenn's auf den ankäme, müßtest du barmherzige +Schwester werden.«</p> + +<p>»Das ist nicht wahr! Er hat sogar schon einen +Freiersmann für mich.«</p> + +<p>»So—o? Wohl seinen Schulmeister? ... Hahaha, +das sieht ihm ähnlich.«</p> + +<p>»Dabei ist ganz und gar nichts zu lachen.«</p> + +<p>»Nee, gewiß nicht. Die Herren Lehrer sind heutzutage +obenauf. Wo in einem Dorf 'ne feine Deern +ist, da kommt sicher einer von der Zunft und schnappt +sie weg, und wir dummen Bauernjungens haben das +Nachsehen. Leidchen, ich gratulier' dir von Herzen. +Einmal eins ist eins, zweimal zwei ist vier.«</p> + +<p>»Hermann ...«</p> + +<p>»Ich bin deinem Herrn Lehrer heute morgen noch +begegnet. Er hatte sein Gesangbuch unterm Arm und +pilgerte zur Kirche. Ein bißchen käsig ist er ja, aber +sonst ganz schmuck.«</p> + +<p>»Hör' auf, Mensch! Oder ich steh sofort auf und +gehe nach Hause.«</p> + +<p>»Aber, Kind, so geh doch! Wer hält dich denn?<span class="pagenum" id="Seite_224">[S. 224]</span> +Kuck, ich hab' dich schon losgelassen. Bist du noch +nicht weg?«</p> + +<p>»Hermann ... Du bist ein schrecklicher Mensch ... +Ich weiß wirklich nicht mehr, was ich von dir +denken soll.«</p> + +<p>»Denn will ich es dir sagen, mein' Deern. Ich bin +rasend eifersüchtig, ich könnte diesen Timmermann +durchprügeln, bloß weil Gerd dich ihm zugedacht hat, +ich möchte ...«</p> + +<p>In diesem Augenblick gingen zwei Unteroffiziere +vorüber, von denen der jüngere den Gefreiten scharf +ansah. Dieser erhob sich und nahm die vorgeschriebene +Haltung ein.</p> + +<p>Kaum hatte er sich wieder hingesetzt, als schon +wieder Uniformknöpfe die Allee daher schimmerten.</p> + +<p>»Die Kerls haben hier herum wohl einen Kommers +oder was Ähnliches,« sagte er ärgerlich, »komm, Leidchen, +wir müssen uns einen stilleren Platz aussuchen.«</p> + +<p>Er war schon aufgestanden, sie erhob sich jetzt auch +und sagte hastig: »Wir haben morgen große Wäsche, +ich möchte gern früher nach Hause.«</p> + +<p>Mit dem Fuß auf den Kies stampfend, flüsterte er +leidenschaftlich, indem die Worte sich jagten und überstürzten: +»Da kann man sehn, wie lieb du einen hast. +Deinetwegen komme ich so früh zurück, und nun läßt +du mich hier mit meinem Urlaub sitzen! Gut! Komm, +ich bring' dich nach Hause, aber den Hauptweg da geh' +ich nicht, ich will nicht all den Leuteschindern in den +Hals laufen, komm schnell, sonst muß ich erst wieder +stramm stehen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_225">[S. 225]</span></p> + +<p>Er legte den Arm um sie und zog die widerstrebende +mit sich auf einen Seitenweg, der von der erleuchteten +Allee in das nächtliche Parkdunkel führte. —</p> + +<p>Es war den ganzen Tag schwül und drückend gewesen, +und eine Stunde vor Mitternacht brach das Gewitter, +das so lange in der Luft gelegen hatte, mit +großer Gewalt los. Schnell hatte der Bürgerpark bei +den ernster werdenden Anzeichen sich seiner Besucher +entleert. Als der Regen schon in dicken Strähnen zur +Erde prasselte, eilten noch zwei Menschen mit fliegender +Hast der Stadt zu. Das Mädchen hielt mit ihrem +Begleiter nur mühsam Schritt, und jedesmal, wenn die +feurige Lohe vom Himmel fuhr und die Donner krachten, +zuckte sie zusammen.</p> + + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_226">[S. 226]</span></p> +<h2 class="s2">12.</h2> +</div> + +<p>Zum letzten Male präsentierte Gerd Rosenbrock so, +wie der Herrgott ihn geschaffen hatte, sich den +Augen einer Königlichen Kommission, der ein alter +weißbärtiger General vorstand, und die Entscheidung +lautete: Ersatzreserve.</p> + +<p>Er war sehr froh darüber. Hätten sie ihn im ersten +oder zweiten Jahre genommen, wär's ihm recht gewesen. +Aber es würde ihm hart angekommen sein, jetzt +noch den bunten Rock anzuziehen, wo manche seiner +Altersgenossen ihn schon wieder ausgezogen hatten, und +andere nahe daran waren, es zu tun.</p> + +<p>Die Zukunft lag nun also frei vor ihm, und er +konnte Pläne machen. Daß er bei seinem Halbbruder +Jan auf keinen Fall länger als bis nächste +Ostern bleiben wollte, stand ihm seit Monaten fest. +Den alten Schlendrian, in dem hier die Wirtschaft auf +der ganzen Linie verharrte, hatte er gründlich satt.</p> + +<p>Bei dem Mangel an ländlichen Arbeitskräften +sprach es sich bald herum, daß Gerd sich seinem Bruder +nicht wieder vermietet hatte, und es waren Stellbesitzer +genug, die ihn gern genommen hätten. Man bot ihm +einen Lohn, wie er in Brunsode noch nicht bezahlt war. +Aber er wollte sich nicht vorschnell binden. Als jedoch +eines Tages ein Mann von der anderen Seite des +Kirchspiels, der als tüchtiger und vorwärts strebender +Landwirt sich weithin eines guten Rufes erfreute, angeradelt +kam und hundert Taler Lohn bot, hätte er den +Mietstaler beinahe genommen. Erst im letzten Augenblick<span class="pagenum" id="Seite_227">[S. 227]</span> +zuckte er die schon ausgestreckte Hand zurück und +bat sich vierzehn Tage Bedenkzeit aus.</p> + +<p>Am Sonntag darauf fiel er zwei älteren Schulkameraden +in die Hände, die vor Jahren nach Bremen +gezogen und dort Industriearbeiter geworden waren. +Sie setzten ihm hart zu, es wie sie zu machen und auch +landflüchtig zu werden. Mit großer Genauigkeit rechneten +sie ihm vor, was er bei seinem Knechtslohn und +bei der Länge der Arbeitstage im Moor für die Stunde +bekäme, und stellten ihren Stundenlohn, der mehr als +das Doppelte betrug, dagegen. Das blieb nicht ohne +Eindruck auf Gerd; einen tieferen machte es aber noch, +als sie ihm schilderten, was alles in den Vereinen und +Gewerkschaften für die Fortbildung des Arbeiterstandes +geschähe, durch reichhaltige Bibliotheken, Vorträge, Diskussionsabende +und dergleichen. Daß sie sich unumwunden +zur Sozialdemokratie bekannten, wunderte +Gerd nicht wenig. Er hatte bislang geglaubt, wenn +einer zu dieser Partei gehöre, hielte er das sorgfältig +verborgen wie eine Sache, deren er sich im Grunde +schämte. Diese aber waren stolz auf ihre Zugehörigkeit +zur »Umsturzpartei« und sprachen hoffnungsvoll und +begeistert von einer neuen herrlichen Wirtschafts- und +Gesellschaftsordnung, die an Stelle der alten verrotteten +und überlebten treten und so etwas wie den +Himmel auf die Erde bringen würde. Gerd versuchte +natürlich, ihnen Opposition zu machen und sie eines +besseren zu belehren. Aber da kam er schön an. Die +beiden waren ihm an Mundfertigkeit sowohl wie an +Sachkunde weit überlegen und drängten ihn Schritt<span class="pagenum" id="Seite_228">[S. 228]</span> +um Schritt zurück, so daß er ihnen zuletzt unter anderem +halbwegs zugeben mußte, es ginge am Ende auch ohne +einen Kaiser und König. Gerd erinnerte sich nicht, +daß jene in der Schule, die sie vier oder fünf Jahre vor +ihm verlassen hatten, sich irgendwie hervorgetan hätten. +Die ihm so peinlich fühlbare Überlegenheit mußte also +die Stadt ihnen gegeben haben.</p> + +<p>Ja, wie wär's denn, wenn auch er dem Moor den +Rücken kehrte und in die Stadt ginge, wie jene und wie +so viele aus den Moordörfern?</p> + +<p>Was bot ihm denn sein Dorf?</p> + +<p>Mit dem Jungvolk hatte er nur noch wenig Verbindung. +Dessen Art und Interessen paßten ihm ebensowenig +wie jenem die seinen.</p> + +<p>Die Männer quälten sich nach alter Weise so durch +und waren froh, wenn sie ihre Zinsen bezahlen konnten. +Einige riefen im Kriegerverein hurra, andere redeten +im Klub »Junghannover« vom Recht, die meisten kümmerten +sich um nichts, was nicht unmittelbar mit Moor +und Torf, Kälbern und Schweinen zusammenhing. +Einige Alte waren auch noch da, die in jungen Jahren +von Ludwig Harms einen Stoß bekommen hatten. +Das waren ganze Männer, vor denen man Respekt +haben mußte, aber die Art war im Aussterben. Das +sah man an ihren Söhnen, die meist schon wieder ganz +anders waren, mochten sie äußerlich die Sitten ihrer +Väter auch noch aufrecht halten.</p> + +<p>Blieb also eigentlich niemand als der Lehrer. Aber +wie leicht konnte der sich versetzen lassen! Er hatte +schon öfter davon gesprochen. Und wenn man sich<span class="pagenum" id="Seite_229">[S. 229]</span> +auch ganz nett mit ihm verstand, eine Kluft zwischen +Schulmann und Bauernknecht blieb natürlich doch bestehen. +Und gerade der Verkehr mit jenem brachte +ihm oft unangenehm zum Bewußtsein, wie sehr +er bereits dem Durchschnitt seiner Dorfgenossen entfremdet +war.</p> + +<p>So überlegte er in bitterer Stimmung, die leicht +ungerecht macht, hin und her, und mehrmals faßte er +den Entschluß, in Bremen Arbeit und Anschluß an +strebsame Menschen zu suchen und zu sehen, was noch +aus ihm werden könnte. Aber dann wurde er doch +immer wieder wankelmütig und wußte nirgends recht +mit sich hin.</p> + +<p>So wurde es wieder Sonntag, und am Abend stakte +er sein Schiff mit Erstlingstorf die Hamme hinunter. +Den Tag über war es sehr schwül gewesen, +und der Abend hatte die ersehnte Abkühlung nicht gebracht.</p> + +<p>Gegen elf wurde drüben die Stadt von grellem, +schwefelgelbem Feuer sekundenlang überlichtet. Der einsame +Schiffer sah sämtliche Blitze zur Erde fahren und +die Türme umzucken, und dachte mit Schrecken an den +Schaden, den sie etwa anrichten mochten.</p> + +<p>Das Gewitter kam schnell herüber. Bald rollten +die Donner über dem Hammetal, und immer hastiger +folgte das Krachen dem Leuchten.</p> + +<p>Als Gerd zwischen beiden nicht mehr bis sechs +zählen konnte, machte er das Schiff am Ufer fest und +legte sich vorn in die Koje. So ließ er das Unwetter +über sich hinwegrasen. Im Schilf heulte und pfiff der<span class="pagenum" id="Seite_230">[S. 230]</span> +Sturm, der Regen prasselte auf das Verdeck, die Vorderkette +ächzte und jankte, wild bewegte Wellen warfen +das Schiff hin und her, durch eine Ritze am Deckel +lohte grelles Licht in den engen Kasten, dessen Wände +unter der Gewalt des Donners erbebten.</p> + +<p>Als er endlich seinen Zufluchtsort verlassen konnte, +war die Luft wunderbar erfrischt. Am Himmel tinkelten +die Sterne, der wieder beruhigte Fluß zog seine schimmernde +Bahn durch das weite Wiesental.</p> + +<p>Da dachte er von ungefähr an das, was ihn die +ganze Woche beschäftigt hatte. Und plötzlich, wie vom +hellsten aller Blitze erleuchtet, lag sein Weg klar vor +ihm. Er hatte auf einmal ein unmittelbares Gefühl +für die in seinem innersten Wesen begründete Richtung +seines Lebens, und dies Gefühl sagte ihm, daß er +nirgends anders hingehörte als aufs Land und in das +Moor seiner Väter.</p> + +<p>In der Stadt sich recht einzuleben, das hatte er +plötzlich mit größter Deutlichkeit erkannt, war er zu +schwerfällig und auch wohl schon zu alt. Als ungelernter +Arbeiter würde er es dort nie zu etwas Rechtem +bringen und wohl zeitlebens ein Mitläufer bleiben. +Auf dem Lande dagegen konnte er ein Eigener werden, +und war vielleicht schon auf dem Wege dazu.</p> + +<p>Aber freilich, dann mußte er es bald zu etwas Eigenem +bringen. Die eigene Scholle macht erst den Mann.</p> + +<p>Ob er versuchen sollte, irgendwo auf einer Moorstelle +einzuheiraten? Er kam ja nicht mit leeren Händen. +Die 700 Taler, die er teils von der Mutter geerbt, +teils mit seinen Händen verdient und durch Sparsamkeit<span class="pagenum" id="Seite_231">[S. 231]</span> +zusammengehalten hatte, waren auf den hypothekarisch +stark belasteten Kolonaten — und das waren +die meisten — gute Freiwerber.</p> + +<p>Aber die in Frage kommenden Erbtöchter von +Brunsode und Umgegend paßten ihm die eine so wenig +wie die andere. Eine entstammte einer schwindsüchtigen +Familie, die zweite war ihm zu wild, eine dritte, zu +der er sich am Ende wohl hätte entschließen können, +stand gerade im Begriff, sich anderweitig zu verloben.</p> + +<p>Also damit war es nichts. Es blieb nichts übrig, +als eine zum Verkauf stehende Stelle zu suchen. Und +dann eine passende Frau dazu. Oder erst die Frau, +und dann, je nach dem was sie mitbrachte, die Stelle? ... +Nein, lieber erst die Stelle. Das war solider. Es gab +mehr Mädchen, die Lust zum Heiraten hatten, als +Stellen, die zu kaufen waren.</p> + +<p>In der Brunsoder Hauptreihe war nichts zu +machen. Hier befand sich aller Besitz in festen Händen, +und Stelle Nr. 7, die wahrscheinlich im Spätherbst unter +den Hammer kam, wurde sicher zu hoch hinaufgetrieben.</p> + +<p>Aber am Achterdamm, hm ...</p> + +<p>Im Abstand von einem guten Kilometer lief mit der +Brunsoder Hauptreihe der sogenannte Achterdamm +parallel, an dem eine kleine Siedlung von acht Feuerstellen +unter dem Namen Neu-Brunsode entstanden +war. Die einzelnen Anwesen, die je fünfzehn bis zwanzig +Morgen umfaßten, waren früher einmal von den +Brunsoder Hauptstellen abgetrennt und an jüngere +Söhne vergeben, oder auch, wenn das Geld gerade +knapp war, verkauft worden. Hier war etwas zu haben,<span class="pagenum" id="Seite_232">[S. 232]</span> +nämlich Nr. 1 <em class="antiqua">a</em>, einst von Nr. 1, der Mühlenstelle, genommen. +Das kleine Besitztum hatte vor einigen +Monaten der Kaufmann Nolte in Grünmoor, um seine +Hypothek zu retten, im Zwangsverkauf erwerben müssen, +und der war es gewiß gern bald wieder los. Übermäßig +teuer konnte der Besitz nicht werden, da der Vorbesitzer, +ein fauler Strick und Trunkenbold, ihn arg +hatte verlottern lassen. Mit Fleiß und Tüchtigkeit war +aus der achtzehn Morgen großen Stelle aber wohl +etwas zu machen.</p> + +<p>Als Haussohn der Hauptreihe hatte Gerd bislang +für den Achterdamm eine gewisse Geringschätzung gehabt. +Denn die Achterdammschen, wie sie im alten +Dorf hießen, oder Neu-Brunsoder, wie sie sich selbst +nannten, galten den Alteingesessenen als kleine Leute, +die man zum Unterschied von den Stellbesitzern nur als +Anbauer bezeichnete. Aber ihm schien es jetzt: lieber +Anbauer und eigener Herr am Achterdamm, als Knecht +oder Häusling in der Hauptreihe, und so beschloß er +denn, sich nach dem Preise des kleinen Anwesens zu +erkundigen.</p> + +<p>Ja, aber dann die Frau ... Er war jetzt dreiundzwanzig. +Hm, ja, wohl noch ein bißchen jung. Aber +du liebe Zeit, wenn andere schon mit achtzehn heirateten! +...</p> + +<p>Er machte sich also in Gedanken auf die Freite, +gleich im ersten Nachbarhause beginnend. Bei Rotermunds +diente nämlich eine Anna Siems, die er jeden +Tag haben konnte. Sie hatte ihm schon manchen verliebten +Blick zugeworfen und war ja auch so weit ganz<span class="pagenum" id="Seite_233">[S. 233]</span> +glatt. Aber sie besaß wohl nicht mehr, als was sie auf +dem Leibe trug. Das war also nichts.</p> + +<p>So setzte er seine Suche die Dorfreihe hinunter fort. +Mädchen saßen da mehr als genug, die nach einem +Mann ausschauten, Haustöchter wie Dienstmägde. +Aber bei der einen fehlte dies, bei der andern das. Die +einen paßten ihm nicht, und bei den anderen durfte er +mit Sicherheit auf einen Korb rechnen.</p> + +<p>So war er fast bis ans Ende des Dorfes gekommen, +als er in Nr. 4 den ersten ernstlichen Aufenthalt +nahm. Bei Jan Wiechels diente seit Ostern vorm Jahr +eine Becka Wischhusen aus Webersdorf von der Südseite +des Kirchspiels. Man hörte nicht viel von ihr +und sah sie nicht oft. Aber das war am Ende gerade +gut. Im Juni hatte sie auf den Hammewiesen nicht +weit von ihm geheut, und da war ihm aufgefallen, daß +sie die Arbeit ordentlich anzupacken verstand. Ihr +Lachen hatte zuweilen frisch und hell zu ihm herübergeklungen +und ihn an die lustigsten Arbeitstage mit +Leidchen erinnert. Es fiel ihm jetzt auch wieder ein, +daß ihm damals für einen flüchtigen Augenblick der +Gedanke gekommen war, ungefähr von solcher Art +müßte die sein, die er einmal zur Frau nehmen möchte. +Wenn er sie ab und an auf dem Wege zur Kirche gesehen +hatte, war sie ihm stets als ein stilles, sinniges +Mädchen erschienen.</p> + +<p>Unter all diesen Erwägungen, die bei seiner bedächtig +langsamen und gründlichen Art eine gute Zeit in +Anspruch nahmen, war das Schiff vor seinem Schieberuder +her ruhig und gleichmäßig vorangeglitten, und<span class="pagenum" id="Seite_234">[S. 234]</span> +er wunderte sich beinahe, als es auf einmal in den +Bremer Torfhafen einlief.</p> + +<p>Vorerst galt es, an die Abwicklung des Geschäfts zu +denken. Aber er war dabei, noch immer mit seinen eigenen +Angelegenheiten innerlich beschäftigt, so zerstreut, +daß die Ladung um eine Mark zu billig wegging, was +ihn diesmal aber nicht sonderlich betrübte.</p> + +<p>Er hatte eigentlich nicht die Absicht gehabt, seine +Schwester heute zu besuchen. Aber jetzt empfand er auf +einmal das Verlangen, ein halbes Stündchen mit ihr +zu plaudern, und machte sich auf den Weg.</p> + +<p>Seine Gedanken kehrten zu Becka Wischhusen zurück.</p> + +<p>Ob sie auch wohl schon etwas hinter sich gebracht +hatte? Wenn sie zur rechten Zeit angefangen hatte zu +sparen, konnte sie jetzt an die hundertundfünfzig Taler +haben, und allerhand Leinenzeug dazu. Das machte mit +seinem Sparkassenguthaben etwa achthundertundfünfzig +Taler. Rechnete man davon gut dreihundert auf die +Aussteuer und die ersten Anschaffungen an landwirtschaftlichem +Gerät und Vieh, so blieben fünfhundert als +Anzahlung an den Kaufmann Nolte. Damit war dessen +Hypothekenforderung mehr als gedeckt, und das übrige +ließ die Sparkasse gewiß gern stehen, zumal einem so +sicheren Käufer, der sich ihr schon in jungen Jahren als +eifriger Sparer ausgewiesen hatte.</p> + +<p>Ja, die Rechnung klappte und alles war gut — +wenn sie nur wollte.</p> + +<p>Aber warum sollte sie nicht wollen? Siebenhundert +Taler und ...</p> + +<p>»Dreimal täglich frische Milch« lasen seine Augen<span class="pagenum" id="Seite_235">[S. 235]</span> +über Marwedes Milchgeschäft, und eine Kundin, die +aus dem Hause kam, ließ ihm die Tür gleich offen.</p> + +<p>Frau Marwede sah ihn hinter ihrem Ladentisch weg +etwas verwundert an und sagte, nicht eben unfreundlich, +aber doch mit einem leisen Vorwurf: »Lassen Sie sich +auch schon mal wieder sehen?«</p> + +<p>»Ich ... ich habe was Wichtiges mit Leidchen zu +besprechen,« antwortete er mit einiger Verlegenheit. +»Wenn es paßt ... sonst ...«</p> + +<p>»Gehen Sie da nur in die Stube hinein. Ich schicke +Ihnen Ihre Schwester, sie hilft mit bei der großen +Wäsche. Allzulange dauert es ja wohl nicht?«</p> + +<p>»Nein, Frau Marwede, in zehn Minuten kann ich +fertig sein, oder auch schon in fünf, wenn's sein muß.«</p> + +<p>Gerd trat in die ihm angewiesene Stube und setzte +sich wartend auf einen Stuhl unweit der Tür. Sollte +er sie ins Vertrauen ziehen? Dafür war die Sache +eigentlich noch kaum weit genug gediehen. Aber so +leise Andeutungen konnten am Ende doch nichts schaden. +Sie war ja seine Schwester, mit der er noch immer alles +geteilt hatte. Was sie wohl für Augen machte ...</p> + +<p>Leidchen erschien in der Tür.</p> + +<p>»Deern,« rief er verwundert, »du hast ja'n Kopf, +als ob du eben aus dem Backofen gezogen wärest.«</p> + +<p>Sie fuhr sich mit der Hand über das Gesicht: »In +der Waschküche ist's so schrecklich heiß, und dann der +Qualm ...«</p> + +<p>»Ja,« sagte er, »bei uns zu Hause waschen sie im +Sommer draußen, das ist viel gesunder. Wie geht's +dir denn sonst noch?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_236">[S. 236]</span></p> + +<p>»Gut. Mir fehlt nichts.«</p> + +<p>»Diese Nacht war ein schreckliches Gewitter. Aber +da lagst du wohl schon im Bett. Weißt du, ob's in +der Stadt Schaden getan hat?«</p> + +<p>»Ich habe nichts davon gehört.«</p> + +<p>Er saß ein wenig vornübergebeugt, den Blick schräg +auf den bunten Linoleumteppich gerichtet. Um seine +Züge schien ein leises Lächeln zu spielen.</p> + +<p>Sie atmete heimlich auf und sagte: »Frau Marwede +hat mich gerufen, du hättest was mit mir zu besprechen. +Zu doch! Ich hab' nicht lange Zeit.«</p> + +<p>»Na na, für so'n Fräulein, das beinahe schlicht um +schlicht dient, wird wohl mal 'ne Viertelstunde übrig +sein ... Leidchen, ich wollte dir erzählen, daß ich mir +wahrscheinlich was kaufen will ... eine Anbauerstelle +... Nr. 1 <em class="antiqua">a</em> am Achterdamm ... Das Land +ist früher mal von der Mühlstelle genommen ... weißt +du, das kleine nette Haus, das erste vom Kirchdamm +aus, das Jan Tunkenburg gehabt und versoffen hat.«</p> + +<p>»Mensch, wie kommst du auf einmal auf so was?«</p> + +<p>»Oh ... Soldat brauch' ich nicht zu werden, und +das Knechtspielen hab' ich satt. Ich bin alt genug +und will die Füße unter meinen eigenen Tisch stecken.«</p> + +<p>»Aber Junge, hast du denn schon eine Braut?«</p> + +<p>»Das ist man eben der Haken dabei. Die muß ich +mir denn wohl bei kleinem anschaffen ... Leidchen, du +kennst die Deerns ja besser als ich. Weißt du keine, +die für mich paßt?«</p> + +<p>»Hm, Junge, du bist ein apartiger Mensch ... Das +ist nicht so leicht.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_237">[S. 237]</span></p> + +<p>»Na, man pflegt wohl zu sagen: ›Es ist kein Pott +so schief, daß nicht ein Deckel drauf paßt.‹«</p> + +<p>»Hm, muß mal überlegen ... In unserm Spinnkoppel? +... Nee, da ist keine zwischen ... Minna +Entelmann? ... Ach nee, das ist auch nicht die rechte ... +Aber Beta Kahrs? Ja, Junge, die hol' dir! Da tust +du einen guten Griff.«</p> + +<p>Er blickte sie lächelnd und kopfschüttelnd an: »Deern, +Deern, du bist doch noch immer die alte. Die kriegt ja +über tausend Taler.«</p> + +<p>»Ist das so'n großer Fehler?«</p> + +<p>»Närrische Deern du!«</p> + +<p>»Gerd, ich will dir mal was sagen. Du bist ein +guter Junge, und auch ein fixer, tüchtiger Kerl. Aber +einen großen Fehler hast du. Du bist viel zu bescheiden, +du hast kein rechtes Zutrauen zu dir. Ich sollte an +deiner Stelle sein! Das feinste und reichste Mädchen der +ganzen Gemeinde suchte ich mir aus, das heißt, wenn +ich sie wirklich gern leiden möchte, und es müßte wunderlich +zugehen, wenn ich sie nicht herumkriegte. Und +wenn ihre Eltern und ihre ganze Freundschaft sich auf +den Kopf stellten! In einer Kate am Achterdamm wollt' +ich mich gewiß auch nicht verkriechen ...«</p> + +<p>»Deern, was red'st du da nun wieder für dummes +Zeug!«</p> + +<p>»Junge, man muß mal was riskieren im Leben! +Wer nichts wagt, nichts gewinnt. Meta Stelljes, die +früher meine Freundin war, hat mal in der Lotterie +gespielt. Eine Mark hat sie bloß eingesetzt und zwanzig +gewonnen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_238">[S. 238]</span></p> + +<p>»Da hat sie Schlump gehabt. Mehrstenteils geht der +Einsatz flöten, und über den Gewinn lachen sich andere +Leute ins Fäustchen. Nee Leidchen, in diesem Stück +bin ich anders als du. Nicht so fürs Weitläufige und +Flutterige, das wunder nach was aussieht, und nachher +steckt nichts dahinter. Ich bin fürs Sichere und +Solide, fürs Reelle und Ordentliche. Das gibt denn +keine großen Überraschungen, aber der Mensch führt sich +dabei auch nicht selber an. Sieh, Leidchen, das sind +so meine Grundsätze, und mit ihnen bin ich so weit +gekommen, daß ich mir schon bald was Eigenes kaufen +kann. Das soll mir erst mal einer nachmachen, so jung +wie ich noch bin. Nr. 1 <em class="antiqua">a</em> ist mein, wenn die Braut auch +nur anderthalbhundert Taler zubringt ... Und die +wird sie ja wohl haben.«</p> + +<p>»Wer? Hast du schon eine auf dem Kieker?«</p> + +<p>Er lächelte geheimnisvoll und nickte.</p> + +<p>»Welche soll's denn sein?« forschte sie.</p> + +<p>»Hm, ich kann dir das eigentlich noch nicht verraten. +Die Sache ist noch nicht ganz so weit.«</p> + +<p>»Ach was, ich bin doch deine Schwester. Zu! Ganz +leise, ins Ohr, ich sag's gewiß keinem wieder.«</p> + +<p>Sie näherte ihr Ohr seinem Munde, er schob sie aber +sanft zurück und fragte: »Kennst du Becka Wischhusen?«</p> + +<p>»Die bei Jan Wiechels dient?«</p> + +<p>»Ja, kennst du die?«</p> + +<p>»Och ja. Sie ist zwei Jahr vor mir aus der Schule +gekommen und aus Webersdorf gebürtig. Sie hat eine +Zwillingsschwester, Sine; wer die beiden nicht ganz +genau kennt, kann sie überhaupt nicht unterscheiden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_239">[S. 239]</span></p> + +<p>»So? Das wußte ich noch gar nicht mal. Na, was +meinst du zu der Deern?«</p> + +<p>»Och ... ich weiß nicht recht.«</p> + +<p>»Ist sie kein nettes Mädchen? Weißt du was +Schlechtes über sie?«</p> + +<p>»Das nicht ... Ihr Vater macht Holzschuhe ...«</p> + +<p>»Das will nichts schaden ... Deern, Deern, was hast +du für Grappen! Wird höchste Zeit, daß du wieder aufs +Land kommst, ehe sie dir hier in der Stadt den Kopf +ganz verdrehen. Ich muß mich wirklich wundern.«</p> + +<p>»... Gerd, hast du Becka schon was gesagt?«</p> + +<p>»Nee. Es ist mir diese Nacht erst eingefallen, daß sie +wohl die richtige sein könnte.«</p> + +<p>»Denn will ich dir einen guten Rat geben, Gerd. +Überleg' dir die Sache erst noch mal ganz gründlich! +Manchmal meint man, man mag einen, und nachher +mag man ihn doch nicht. Freierei ist kein Pferdehandel.«</p> + +<p>»Das weiß ich selbst.«</p> + +<p>»So was darf nicht übers Knie gebrochen werden.«</p> + +<p>»Daran denk ich auch nicht. Wir brauchen ja nicht +morgen Hochzeit zu halten.«</p> + +<p>»Und dann vergiß nicht, daß unser Vater 'ne ganze +Stelle gehabt hat, und daß wir von einem großen Geesthof +stammen. Der Mensch ist seiner Familie auch was +schuldig ... Gerd, wenn du dir bloß Zeit nehmen wolltest, +ich glaube, du findest wohl noch was Besseres.«</p> + +<p>»Du dumme Deern! Nun hör' aber auf mit deinem +unklugen Schnack! In solche Sache laß ich mir von keinem +hineinreden, und von dir am allerwenigsten. Ich +dachte, du solltest dich mit mir freuen, und deshalb bin<span class="pagenum" id="Seite_240">[S. 240]</span> +ich bloß gekommen. Und nun kommst du mir so und +willst mich zweifelmütig machen. Aber warum halt' ich +Schafskopf auch nicht meinen Mund? So was muß +einer ganz mit sich allein abmachen.«</p> + +<p>»Ganz meine Meinung!« rief Leidchen, in die Hände +klatschend und lebhaft zustimmend. »Nimm, wen du +willst; ich sag' keinen Ton mehr dagegen. Aber wenn +ich mir nun mal einen aussuch', wie er mir nach der +Mütze ist, dann sollst du mir auch nicht dazwischen kommen. +Willst du mir das versprechen?«</p> + +<p>»Hm ... der Fall liegt ein bißchen anders ...«</p> + +<p>»Ganz und gar nicht! Was dem einen recht ist, das ist +dem anderen billig.«</p> + +<p>»Nee, Mannsleute und Frauensleute, das ist nicht +ganz dasselbe ... Aber, na ja, du wirst ja wohl vernünftig +und vorsichtig sein.«</p> + +<p>Sie klopfte ihm die Schulter, streichelte seine Backen +und sagte: »Kuck mal an! Endlich bist du zu der Einsicht +gekommen, daß ich keinen Vormund mehr brauche. +Es wurde aber auch höchste Zeit.«</p> + +<p>»Na na, nun man sinnig,« brummte er, ihre Zärtlichkeiten, +die ihn nicht gerade angenehm berührten, abwehrend.</p> + +<p>»Wenn du erst am Achterdamm wohnst,« nahm sie +wieder das Wort, »bist du ja auch Nachbar der +Mühle ...«</p> + +<p>»Das ist's, was mir am wenigsten bei der Sache gefällt,« +entgegnete er stirnrunzelnd.</p> + +<p>»Oh, ich denk', ihr werdet noch mal gute Nachbarn ..«</p> + +<p>»Darauf leg' ich ganz und gar keinen Wert. Wir<span class="pagenum" id="Seite_241">[S. 241]</span> +sind ja auch nur Landnachbarn, die Häuser liegen eine +Viertelstunde auseinander, und ein gut Stück Hochmoor +ist zwischen uns. Da kann man sich leicht aus dem +Wege gehen ... Aber ich hör' draußen die Marwedesche, +wie sie aufstampft. Das gilt mir. Adjüs, Leidchen, +und halt' dich munter!«</p> + +<p>Er gab ihr schnell die Hand und ging. »Nichts für +ungut, wenn's ein paar Minuten länger gedauert hat,« +rief er, am Laden vorüberschreitend, Frau Marwede zu, +die gerade ein Pfund Käse abwog und an ihrem Kunden +vorbei ihm einen strafenden Blick nachsandte.</p> + +<p>Als er draußen war, biß er sich auf die Unterlippe. +Es ärgerte ihn, daß er die Schwester ins Vertrauen gezogen +hatte. Ihre Bedenken und Einwürfe hatten doch +tieferen Eindruck auf ihn gemacht, als er vor sich selber +wahr haben wollte, und es währte eine ganze Weile, bis +er sie überwunden hatte. Erst auf dem Leinpfad neben +dem Bürgerpark schreitend und das auf dem Torfkanal +laufende Schiff vor sich her schiebend, war er endlich +so weit, daß er die Zähne aufeinander beißen und zwischen +ihnen hindurch murmeln konnte: »Es bleibt dabei!«</p> + +<p>Als er mit seiner Sache im reinen war, fiel ihm auf +einmal nachträglich auf, daß Leidchen doch heute ein +ganz wunderlich Wesen an den Tag gelegt hatte. Sie +hatte so keck und dreist hingeredet, wie es sonst eigentlich +ihre Art nicht war. Aber wenn Mädchen vom Heiraten +hören, dachte er, werden sie alle zappelig. Er machte sich +Vorwürfe, daß er mit keinem Wort die Rede auf seine +Gedanken und Hoffnungen für ihre Zukunft gebracht +hatte. Heut' hatte er eben nur an sich selbst gedacht.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_242">[S. 242]</span></p> +<h2 class="s2">13.</h2> +</div> + + +<p>Gerd schlief wie ein Bär, und als er am anderen +Morgen im Bett, nachdem er ins Frührot geblinzelt, +in sich selbst hineinsah, hatte die Sache ihr +Gesicht ganz und gar nicht verändert.</p> + +<p>Der Tag wurde ihm sehr lang. In Gedanken arbeitete +er schon immer auf eigenem Grund und Boden und +setzte sich mit Becka zu Tisch in Haus 1 <em class="antiqua">a</em> am Achterdamm.</p> + +<p>Endlich war Feierabend, und er machte sich auf den +schicksalsschweren Weg, Holzschuhe an den Füßen, Pfeife +im Munde, Hände in den Hosentaschen, mit schläfrigen, +wiegenden Schritten — alles, um keinen Verdacht zu +erwecken. Die Tage wurden bereits merklich kürzer. +Gegen acht war es auf dem an den Häusern hinlaufenden +umwachsenen Fußpfad schon recht dämmerig, wo +Tannen ihn säumten, fast dunkel. Zuweilen fragte ihn +jemand: »Wo willst du hin?« oder: »Wo soll's denn +so spät noch auf zu gehen?« Dann antwortete er leichthin: +»Oh ... mal eben unten ins Dorf.« Auf Klöhnschnack, +wie er sich nach Feierabend gern anspinnen +will, ließ er sich nicht ein. Denn es war keine Viertelstunde +zu verlieren, da um diese Jahreszeit auf Feierabend +Bettgehen gar bald zu folgen pflegt.</p> + +<p>Als er, auf schmaler Eichenbohle den Grenzgraben +überschreitend, die Gerechtsame von Jan Wiechels betrat, +klopfte ihm das Herz, er warf aber, obgleich der +Pfad dicht unter den Fenstern des Hauses hin führte,<span class="pagenum" id="Seite_243">[S. 243]</span> +keinen Blick zur Seite. Erst als er die hundert Meter +der Gehöftsbreite fast abgeschritten hatte, wandte er sich +langsam und wie zufällig herum, und als ein schneller +Blick ihn überzeugt, daß kein Auge auf ihn gerichtet +war, trat er hastig einige Schritte vom Fußpfad abseits +in die Lücke eines geschorenen Tannendickichts, das +quadratisch um den Komposthaufen angepflanzt war. +Von hier aus, wo er sich vor unerwünschter Entdeckung +sicher fühlte, faßte er die Ausgänge des +Hauses ins Auge wie der Kater ein paar benachbarte +Mauselöcher.</p> + +<p>Wenn doch ein freundliches Geschick es fügen wollte, +daß sie noch einige Küchenabfälle zum Komposthaufen +tragen müßte! Er spähte durch die Dämmerung, als ob +er sie hergucken könnte. Er sog an seiner Pfeife, wie +wenn er Hoffnung haben dürfte, sie herzusaugen. Er +gab einer Fledermaus, die zwischen Tannengebüsch und +Dielentor immer hin und her flog, Botschaft mit, aber +das graue Tierchen wollte nicht sein Liebesbote sein. Es +half ihm alles nichts, er bekam diesen Abend niemand +anders zu sehen als Wiechels Opa, der vorm Zubettgehen +nach seiner Gewohnheit noch eben mal vor die +Türe trat. Nach einer halben Stunde gab er das Warten +als für heute zwecklos auf und trat ein wenig enttäuscht +den Rückweg an. Er tröstete sich aber mit dem +Gedanken, man könne unmöglich verlangen, daß eine +so große Sache gleich auf Anhieb gelänge.</p> + +<p>Am nächsten Abend machte er sicherheitshalber den +Umweg über den Fahrdamm und gewann seinen Beobachtungsposten +von Stelle Nr. 3 aus. Er hatte noch<span class="pagenum" id="Seite_244">[S. 244]</span> +keine Viertelstunde gestanden, als die Erwartete vom +Hause über den Hof in die Scheune huschte. Aber ehe +er sich das Herz faßte, vorzutreten, um sie abzufangen, +war sie schon wieder im Wohnhause verschwunden. +»Eine vermuckt gralle Deern, mächtig flink auf den Patten,« +stellte er bei sich fest, halb ärgerlich, aber auch nicht +ohne Wohlgefallen. Gleich darauf wurde ein Kammerfenster +zugezogen, und dabei ließ sich für zwei Sekunden +ein kurzer runder Arm sehen. Sollte er hingehen +und anklopfen? ... Nein, lieber nicht. Das +konnte sie vor den Kopf stoßen und seine Absichten in +ein falsches Licht rücken. Mit dem Ergebnis dieses +zweiten Abends im Grunde nicht unzufrieden, schlenderte +er mit frisch angesteckter Pfeife heimwärts.</p> + +<p>Am dritten Abend fand seine Beharrlichkeit ihren +Lohn. Er hatte noch keine fünf Minuten gestanden, da +kam sie mit einem Korb am Arm aus dem Hause und +schritt feierabendgemächlich dem Damm zu.</p> + +<p>Schnell eilte er auf Stelle Nr. 5 hinüber, folgte dem +Fußweg, der von hier zum Damm führte, und wußte +sich so einzurichten, daß er gerade an der Hofbrücke mit +ihr zusammentraf.</p> + +<p>»Na, Becka, noch'n bißchen einkaufen?«</p> + +<p>»Muß wohl ... Ach sieh, das bist du ja, Gerd.«</p> + +<p>»Ich hab' zufällig denselben Weg wie du.«</p> + +<p>»Das paßt schön. Denn komm man her.«</p> + +<p>Er ging schweigend neben ihr und kaute auf dem +Mundstück seiner Pfeife.</p> + +<p>»Wo willst du denn heut' abend noch auf zu?« fragte +sie nach einer Weile.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_245">[S. 245]</span></p> + +<p>»Oh,« sagte er gedehnt, »mir geht diese Tage allerhand +im Kopf rundum. Ich hab' so halberlei vor, mir +eine Stelle zu kaufen ... Nr. 1 <em class="antiqua">a</em>, am Achterdamm.«</p> + +<p>»Du kannst wohl lachen, wenn du das schon machen +kannst.«</p> + +<p>»Hm ... So ungefähr zweihundert Taler fehlen +mir noch ...«</p> + +<p>»Na, die wird die Sparkasse sacht hergeben.«</p> + +<p>»Das wohl. Aber gleich mit zu schweren Lasten +anzufangen, ist nicht recht nach meinem Sinn.«</p> + +<p>»Dann mußt du am Ende noch ein paar Jahr +warten.«</p> + +<p>»Ja, das sagst du wohl. Aber dann ist die Stelle +sicher weg; Nolte will schnell verkaufen, hab' ich gehört. +Und wer weiß, ob sich so leicht was Passendes +wieder findet ... Becka, du hast gewiß auch schon allerlei +auf der hohen Kante?«</p> + +<p>»Hm ja ...«</p> + +<p>»So'n hundert Taler? ...«</p> + +<p>»Ha, das wär schlimm! Ich krieg nächstes Jahr die +zweihundert voll.«</p> + +<p>»Mensch! Deern! Das ist ja wohl nicht möglich!«</p> + +<p>»Warum nicht? Heutzutage bei den hohen Löhnen +und wenn einer zur rechten Zeit mit Sparen anfängt?«</p> + +<p>»Das hätt' ich nicht gedacht, daß es noch solche +Mädchen gäbe ... Hm, Becka, was meinst du ... wenn +wir unsere Groschens zusammenschmissen? ...«</p> + +<p>»Hihi, dann hätten wir'n schönes Bißchen auf dem +Klump.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_246">[S. 246]</span></p> + +<p>»Deern, woll'n wir? Hast du Lust?«</p> + +<p>Er war stehengeblieben und griff nach ihrer Hand. +Aber sie entzog ihm diese und sah ihn erschrocken an: +»Ach so—o ... so meinst du's ...«</p> + +<p>»Ja, schon drei Abende hab' ich bei den Tannen auf +dich gelauert ...«</p> + +<p>»Mensch ... ich kann nicht begreifen ... ich weiß +nicht ... Wenn ich nun aber so halberlei schon einen +hätte?«</p> + +<p>»Was? 'n Bräutigam?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Davon hat man doch nichts gehört!«</p> + +<p>»Alles braucht man den Leuten auch nicht auf die +Zähne zu hängen.«</p> + +<p>»Becka, ich weiß nicht ... Du machst doch wohl nur +Spaß ... Ist das wirklich wahr? Du nickst ... Das +wär' doch rein zu doll ... Ist da denn gar nichts mehr +an zu machen ... ich meine, kannst du dir das nicht +noch anders überlegen?«</p> + +<p>»Abers Menschenkind! Wir sind doch richtig versprochen +und wollen nur mit der Hochzeit noch ein +paar Jahr warten, bis wir mal was pachten oder +kaufen können.«</p> + +<p>»Wenn ich davon doch bloß eine Ahnung gehabt +hätte! Adjüs, Becka, und nichts für ungut.«</p> + +<p>Er wandte sich hastig zum Gehen. Aber noch keine +zwanzig Schritt hatte er gemacht, als er seinen Namen +rufen hörte.</p> + +<p>»Was soll ich?« fragte er tonlos, sich halb herumwendend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_247">[S. 247]</span></p> + +<p>»Komm noch eben mal her.«</p> + +<p>»Hat ja keinen Zweck.«</p> + +<p>»Doch, doch, komm! Ich hab' mir was anderes +überlegt.«</p> + +<p>Langsam begab er sich wieder zu ihr. Sie empfing +ihn mit lachenden Augen: »Gerd, daß mir das auch +nicht gleich eingefallen ist! Du kannst ja meine +Schwester Sine nehmen.«</p> + +<p>»Deern, bist du nicht recht klug? Die kenn' ich ja gar +nicht.«</p> + +<p>Sie machte ein ernsthaftes Gesicht: »Wenn du mich +leiden magst, gefällt Sine dir ganz gewiß auch. Wir +sind nämlich Zwillingsschwestern und einander so ähnlich, +daß unsere eigene Mutter Last hat, uns zu unterscheiden. +Als wir zur Konfirmandenstunde gingen, hat +der Pastor uns den ganzen Winter durcheinandergeschmissen +und zuletzt noch mich als Sine und Sine als +Becka eingesegnet, und nicht mal unser Vater hat das +gemerkt. Was jetzt mein Bräutigam ist, der hat erst +lange nicht gewußt, wen von uns beiden er nehmen +sollte. Zuletzt bin ich's ja denn geworden, ich glaube +mehr zufällig, und das tut mir wegen Sine leid. +Und sie ist seit der Zeit noch immer ein bißchen böse auf +mich, weil sie doch die älteste ist, weißt du, und sich +immer was darauf zugute getan hat. Aber was kann +ich armes Ding dafür? In solchen Dingen ist doch jeder +sich selbst der Nächste. Wenn ich ihr nun einen guten +Bräutigam anstellen könnte, wie zum Beispiel dich, +dann wäre alles wieder gut. Junge, Gerd, das wär' +fein! Was meinst du?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_248">[S. 248]</span></p> + +<p>Gerd, der wieder neben ihr ging, blieb stehen. +»Becka,« sagte er, »die Sache kommt mir ganz putzwunderlich +vor.«</p> + +<p>»Das ist sie auch,« versetzte das Mädchen mit Eifer. +»Unser Schullehrer hat mal gesagt, wir beiden könnten +uns auf dem Freimarkt als Weltwunder sehen +lassen.«</p> + +<p>»...Sag' mal, bist du Sonntag vor acht Tagen zur +Kirche gewesen?«</p> + +<p>»Nee, das muß Sine gewesen sein.«</p> + +<p>»Kuck an, dann hab' ich sie ja schon mal gesehen.«</p> + +<p>»Nicht wahr? Auch 'ne lüttje glatte Deern.«</p> + +<p>»Och ja ...«</p> + +<p>»Gerd, für allzu starkes Zureden in solchen Dingen +bin ich gar nicht ... der Mensch muß selber wissen, was +er will. Aber du solltest Sine man nehmen.«</p> + +<p>»Och, Menschenskind ... das kommt mir so unverhofft...«</p> + +<p>»Aber du wolltest <em class="gesperrt">mich</em> doch. Ob du mich kriegst +oder Sine, das ist ja alles ein Pott und ein Löffel.«</p> + +<p>»Das sagst du wohl ...«</p> + +<p>»Mit der einen bist du so wenig angeführt als mit +der anderen, hahaha.«</p> + +<p>»... Sag' mal, ist Sine eben so 'ne lüttje vergnügte +Deern wie du?«</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Die?</em> Ha, die steckt mich noch in den Sack, wenn's +drauf ankommt!«</p> + +<p>»Und auch nicht fürs Wilde und Weitläufige?«</p> + +<p>»Hee wat! Immer vergnügt, und dabei doch sinnig +und ernsthaft für sich weg.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_249">[S. 249]</span></p> + +<p>»Hm ... Die Sorte hab' ich eigentlich am liebsten.«</p> + +<p>»'s ist auch die beste, Gerd.«</p> + +<p>»Sie hat doch auch wohl etwas auf der Sparkasse?«</p> + +<p>»Das wollt ich meinen.«</p> + +<p>»Wieviel wohl ungefähr? ...«</p> + +<p>»Pfui, danach gleich zu fragen! Willst du sie von +wegen dem Geld heiraten?«</p> + +<p>»Das nicht; aber es ist gut, wenn man auch in +diesem Stück gleich klar sieht.«</p> + +<p>»Wart ein bißchen, ich muß hier eben in den Laden +und grüne Seife holen, wir wollen morgen waschen. +Bin gleich wieder bei dir.«</p> + +<p>Und schon war sie in dem Hause des Hökers, das +unmittelbar am Damm lag, verschwunden.</p> + +<p>Im Laden wurde eine Hängelampe angezündet, und +Gerd spähte zwischen Stärkeschachteln, Seifenpyramiden +und anderen Schaufensterauslagen hinein. +Schönere rote Backen, als wie der Lampenschein sie +dort beleuchtete, konnte es auf der Welt nicht geben, +und lustigere Augen erst recht nicht. Als sie, mit der +Hökerfrau scherzend, lachte, lachte ihm das Herz im +Leibe mit.</p> + +<p>Schade, daß er da zu spät gekommen war.</p> + +<p>Aber wenn es noch eine genau so eine gab? Dann +war die Sache am Ende doch nicht so schlimm. Und +warum sollte das nicht möglich sein? Man hatte ja +sogar von Zwillingen gehört, die zusammengewachsen +waren. Dann konnte es auch wohl welche geben, die sich +so gleich waren, daß man getrost die eine für die +andere heiraten konnte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_250">[S. 250]</span></p> + +<p>»Na Junge, hast du dir's überlegt?« fragte Becka +munter, als sie wieder draußen war.</p> + +<p>»Hm, ankucken möchte ich mir Sine wohl mal.«</p> + +<p>»Ist recht. Dann will ich sie einladen. Paßt es dir +Sonntag über acht Tage?«</p> + +<p>»Geht's nicht schon diesen Sonntag?«</p> + +<p>Becka schüttelte den Kopf: »Diesen Sonntag muß ich +erst hin und ihr Bescheid sagen.«</p> + +<p>»Das kannst du doch schriftlich abmachen.«</p> + +<p>»Nee, mit der Feder kann ich nicht recht mehr umgehen. +Also anderen Sonntag, nachmittags drei Uhr, +treffen wir uns auf Rodenburgs Damm. Dort im +Großen Moor stört uns keiner, und ihr könnt euch in +Tennstedt bei Uhrmacher Sauerhering gleich die Ringe +kaufen.«</p> + +<p>»Stopp, mein' Deern, so weit sind wir noch nicht ... +Weißt du gewiß, daß es mir bei Sine nicht grad so +geht als bei dir ... ich meine, daß sie nicht auch schon +vergeben ist?«</p> + +<p>»Vor drei Wochen hatte sie noch keinen Bräutigam. +Aber so was kommt manchmal schnell.«</p> + +<p>»Ja, das ist wahr. Vor einer Woche dachte ich auch +noch nicht an solche Geschichten ... Wann kommst du +Sonntagabend wieder?«</p> + +<p>»So zwischen neun und zehn Uhr. Warum?«</p> + +<p>»Oh ... ich werd' dir auf dem Kirchdamm aufpassen, +damit ich bald zu wissen krieg', woran ich bin. Willst du +mir nicht doch sagen, wieviel Sine auf der Sparkasse hat?«</p> + +<p>»Nee, du Neugier! Das kann sie dir selbst sagen.«</p> + +<p>Sie waren bei Wiechels' Hofbrücke angelangt. Becka<span class="pagenum" id="Seite_251">[S. 251]</span> +gab ihm die Hand und sagte lustig: »Gute Nacht, +Schwager.« Er griff schnell zu und kniff sie in die +runde, pralle Backe: »Schade, daß <em class="gesperrt">du</em> nicht mehr zu +haben bist. Dann wär' die Sache viel einfacher ... +Becka, könnt ihr beiden nicht tauschen?«</p> + +<p>»Nicht um tausend Taler! Und wenn du mir'n großen +Geesthof zubrächtest!«</p> + +<p>»Aber Deern, wo ihr beide so ganz und gar auf +denselben Leisten gearbeitet seid, ist das doch ganz +egal.«</p> + +<p>»Wenn du noch einmal so dumm hinschnackst, sag' +ich zu Sine, daß du'n schlimmer Kerl bist. Dann +nimmt sie dich auch nicht, ätsch! und du stehst da mit'm +dicken Kopf. Nun mach, daß du nach Hause kommst, +und träum von Sine!«</p> + +<p>Mit munteren Schritten eilte sie dem Gehöft zu. +Gerd, der ihr, an das Brückengeländer gelehnt, nachsah, +schüttelte langsam den Kopf: »'ne schnaksche Sache ... +ne wunderliche Geschichte ...« Dann aber nickte er +eifrig, schlug mit der flachen Hand schallend auf seinen +linken Schenkel und murmelte vor sich hin: »Die rechte +Sorte ist's ... kernig und gesund wie das blühende +Leben ... fleißig und sparsam ... vergnügt wie ein +Katheker, und doch nicht weitläufig und wild, mehr so +in sich selbst vergnügt ... justemente die richtige Sorte +...Schade, daß sie schon versagt ist, jammerschade ... +Aber ein Glück, daß es zwei von dem Schlag gibt ... +Wenn die ältere nur nicht gar zu sehr gegen die +jüngere abfällt ... wie Lea gegen Rahel! ... Na, das +muß mit Ruhe und Vertrauen abgewartet werden.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_252">[S. 252]</span></p> + +<p>Er hatte sich das Geländer hinaufgeschoben, umschlang +mit dem linken Bein den Pfosten und ließ das +rechte vergnüglich baumeln.</p> + +<p>Es war ein warmer, stiller Sommerabend, so recht +moje und alle Sinne umschmeichelnd. Die Birkenstämme +blinkten im Vollmondglanz und spiegelten sich +klar und schön in der dunklen Tiefe des Grabens. Zur +Linken auf den lichtüberfluteten Wiesen mit dem schimmernden +Wassergeäder lagen aus feinstem Nebel gewobene +Silberschleier. Rechts barg sich in mondbeglänztem +Busch- und Baumwerk die Dorfreihe, verraten +nur durch die Reihe der Brücken, die vom Damm +hinüberführten, und durch ein einziges Licht, dessen +freundlicher Schein sich durch das Laub hindurchstahl. +Am nahen Klappstau rieselte ein Wässerchen, funkelte +wie flüssiges Gold und schwätzte lustig, weil es seinen +Weg gefunden.</p> + +<p>Der junge Freiersmann sah mit großen Träumeraugen +um sich. Es wurde ihm so wohl, daß er bald +beide Beine baumeln ließ, in tiefem, ruhevollem Behagen. +—</p> + +<p>Plötzlich hob er sich und sprang auf die Füße. Er +war mit seinen schweifenden Gedanken am Achterdamm +angekommen und hatte sich schnell entschlossen, +sein künftiges Heim und Nest noch eben mal zu besuchen.</p> + +<p>Weit ausgreifend schritt er den Damm hinunter, um +hinter der Mühle im rechten Winkel nach links auf den +Kirchdamm abzubiegen. Bald ragten die beiden hohen +Tannen, das Wahrzeichen der Stelle 1 <em class="antiqua">a</em>, über den<span class="pagenum" id="Seite_253">[S. 253]</span> +Birkenanflug des Hochmoors. Und es dauerte nicht +lange, so stand er vor dem Häuschen. Aber da kam das +Gefühl einer großen Enttäuschung über ihn. Das +moosige Strohdach war von Ratten zerfressen, der Kitt +in den Fensterfüllungen abgebröckelt, eine zerbrochene +Scheibe durch eine Nummer der Hammezeitung ersetzt. +Und, was ihm das unangenehmste war, die Legen, auf +denen die Fachwerkmauern ruhten, erwiesen sich als +stark angemorscht. Aber bald tröstete er sich mit dem +Gedanken, er würde das Haus um so billiger erstehen, +und einige hundert Mark könnten da gründlich Wandel +schaffen.</p> + +<p>Drinnen, in der ausgeräumten und leidlich besenrein +verlassenen, von weichem Mondlicht angefüllten Stube +gefiel es ihm gar nicht übel. Und als er, in Ermangelung +sonstiger Sitzgelegenheit, sich in die Öffnung der +künftigen Ehebutze setzte und den Raum mit Beckas, +nein Sines Aussteuer ausmöblierte, wurde es sogar +ganz gemütlich. Um das häusliche Behagen noch zu +erhöhen, stopfte er sich eine frische Pfeife und blies +große, graue Wolken vor sich hin, die im Strahl des +Mondes einen silbernen Schimmer annahmen.</p> + +<p>So saß er eine gute Weile und vergnügte sich damit, +Zukunftsbilder zu malen, als er plötzlich aus dieser +angenehmen Beschäftigung aufschreckte und etwas wie +Gespenstergrauen über seinen Rücken kriechen fühlte, +indem etwas Weiches vor seinen Schienbeinen hinstrich. +Es war aber nur ein weißes Kätzchen, das sich +auf Sammetpfötchen lautlos und unbemerkt in die +Stube geschlichen hatte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_254">[S. 254]</span></p> + +<p>Gerd streichelte den gekrümmten Rücken des Tieres +und sagte zärtlich: »Ist nett von dir, Musch, daß du +hier einhütest. Halt das Unzeug man ordentlich kurz, +Sine soll dich später dafür tüchtig herausfüttern.«</p> + +<p>Musch machte kläglich Miau, als ob sie sagen wollte, +das wär' noch lange hin.</p> + +<p>Gerd suchte in seinen Taschen und war so glücklich, +ein Rotwurstzipfelchen vom letzten Frühstück auf dem +Felde zu finden, das er für den Hund beigesteckt hatte.</p> + +<p>Die Verlassene machte sich gierig darüber her, und +als sie den Leckerbissen weggeputzt hatte, fing sie behaglich +an zu schnurren. Dann ging sie der Tür zu, sich +öfters umsehend, als ob sie ihn einladen wollte, ihr zu +folgen.</p> + +<p>»Ach so, Musch, du willst mich führen,« sagte Gerd, +indem er sich erhob. Und sie durchwanderten alle +Räume des Hauses, in die Mondeshelle und Schatten +der Nacht sich geteilt hatten, wobei die wackere Einhüterin +sich treu zu ihrem künftigen Herrn hielt.</p> + +<p>Auf der offenen Feuerstelle lag noch die Asche vom +letzten Kaffeekochen des Vorbesitzers. Die ersten Jahre +mußte Sine sich mit ihr behelfen, später sollte sie +einen Sparherd haben, der in Bremen gewiß mal +billig für alt zu kaufen war.</p> + +<p>Die Stallungen fanden Gerds Beifall. Es war Platz +für drei Kühe, zwei Kälber und ein halbes Dutzend +Schweine. Für den Anfang genügte das, nach einigen +Jahren mußte natürlich angebaut werden.</p> + +<p>Er stieg die Bodenleiter hinauf. Das blausilberne +Mondlicht, das durch die Eulenlöcher der beiden Giebel<span class="pagenum" id="Seite_255">[S. 255]</span> +einfiel, zeigte ihm einen Raum, der einstweilen Vorrat +an Heu und Stroh zur Genüge fassen konnte. Die +morschen, unsicheren Dielen bedurften freilich dringend +der Erneuerung.</p> + +<p>Nachdem er sich alles gründlich angesehen hatte, verließ +er das Haus auf demselben Wege, auf dem er es +betreten hatte. Musch sprang hinter ihm drein.</p> + +<p>Nun besichtigten sie miteinander den Grundbesitz der +Stelle, mit dem Garten beginnend. Die Obstbäume erwiesen +sich als alt und abgängig. Es mußten sofort +neue gepflanzt werden, und zwar Sorten, die in der +Stadt einen guten Marktwert hatten, wie Prinzenäpfel, +Berliner Reinetten und dergleichen. Das Gemüseland +war zwar bestellt, aber hier wie auch auf +dem Felde zeigten sich überall die deutlichen Spuren +der Lotterwirtschaft des früheren Besitzers: die Stücke +schlecht in Düngung, Kartoffeln und Steckrüben nicht +angehäufelt, das Unkraut überall in üppigster Blüte. +Gerd erboste sich über den Menschen, der um des verfluchten +Branntweins willen seiner Väter Erbe hatte +verludern lassen, und konnte es sich nicht versagen, +einige gar zu protzige Saudisteln und Nachtschatten +auszureißen. Drei Jahre angestrengter Arbeit rechnete +er wenigstens, bis er die Ländereien so in Schick haben +würde, daß ein anständiger Mensch halbwegs seine +Freude daran haben könnte.</p> + +<p>Als er an das zur Stelle gehörige Moor- und Heideland +kam, ballte seine Hand sich zur Faust. Wüst und +planlos war hier nach Torf gestochen, so daß es aussah, +als ob wilde Schweine den kostbaren Boden umgewühlt<span class="pagenum" id="Seite_256">[S. 256]</span> +hätten. Nichts war eingeebnet, vom Urbarmachen +der abgetorften Fläche gar nicht zu reden. Der +gewissenlose Kerl, dachte Gerd, müßte über einen Torfkarren +gelegt werden und mit jungen Birkenreisern +fünfundzwanzig oder mehr hinten aufgezählt kriegen. +Übrigens waren die Torfverhältnisse sonst nicht schlecht. +Der »weiße« Torf, die lose, lockere Oberschicht unverwester +Moose, war nur gering, dagegen der »schwarze«, +die dunklere, feuchte, speckige Backtorfmasse, gut einen +Meter stark und versprach ein Produkt erster Güte.</p> + +<p>Das Endergebnis der gesamten Besichtigung war, +daß Gerd sich sagte, er dürfte auf keinen Fall mehr als +neunhundert Taler für den ganzen Besitz zahlen. +Hundert müßten sogleich aufgewendet werden, um das +Haus bewohnbar zu machen, zweihundert rechnete er +für die erste Anschaffung an lebendem und leblosem +Inventar — kurz und gut, mit einer jungen Frau, die +gesund, arbeitsfroh und sparsam war, konnte er die +Sache wagen. Er blickte von der Höhe einer Hochmoorbank +über das mondlichtüberglänzte Rechteck hin; es +erschien ihm, mit Sine Wischhusen, als aller Wünsche +Ziel, und zugleich in ihrem Namen ergriff er mit der +Seele endgültig von ihm Besitz. Drüben, wo die zwei +in den Silberglanz der Mondnacht ragenden Tannen +das moosige Strohdach beschirmten, wollte er Beckas +Zwillingsschwester und Ebenbild als junges Weib umarmen, +dort auf dem Felde und hier im Moorgrunde +wollten sie arbeiten im Schweiß ihres Angesichtes, und +dieses Stück Heimaterde, achtzehn Morgen groß, wollte +er einst seinem ältesten Jungen als freies Erbe hinterlassen.<span class="pagenum" id="Seite_257">[S. 257]</span> +»Und dann,« so murmelte er, die Zähne aufeinander +beißend, mit Entschlossenheit vor sich hin, »soll +es hier anders aussehen als heute — so wahr mir Gott +helfe!«</p> + +<p>Musch war noch immer bei ihm, er hatte sie aber +länger nicht mehr beachtet. Jetzt brachte sie sich durch +Miauen wieder in Erinnerung. Da sah er, wie dem +schnöde zurückgelassenen Tier die Rippen durch das Fell +standen, und das arme Ding tat ihm leid. »Musch,« +sagte er, sie an sich lockend und ihr den Rücken streichelnd, +»hör' mal, ich nehm' dich als Pfand mit. Sonst +verhungerst du mir oder kommst auf schlechte Wege. +Nächstes Frühjahr halten wir hier zusammen unseren +Einzug, mit Sine.«</p> + +<p>Musch rieb sich zärtlich und vertrauensvoll an +seinem Bein, und ihr Miau klang wie Zustimmung. +Da hob er sie auf und richtete ihr ein Asyl unter seiner +Jacke ein.</p> + +<p>Dann trat er den Rückweg an.</p> + +<p>Als er bald das Mühlgehöft behäbig und stattlich vor +sich liegen sah, fing er an zu vergleichen. Hermanns +Erbe war mehr als dreimal so groß wie das seine und +hatte mit den großen, gut im Stande gehaltenen Gebäuden +und der Mühle mindestens den zwölffachen +Wert. Da wollte etwas wie Unzufriedenheit in ihm +aufsteigen, aber schnell hatte er sie unterdrückt. Mehr +als leben konnte einer ja auch von reichstem Gut nicht, +und war es denkbar, daß jemand an einem Erbe, in +das er ohne sein Verdienst hineingeboren ward, je +solche Freude hatte wie ein anderer an dem auch noch<span class="pagenum" id="Seite_258">[S. 258]</span> +so kleinen Besitz, den er seiner eigenen Hände Arbeit +verdankte? Nein, nein, er wollte gewiß nicht mit Hermann +tauschen. Ihm wurde so vergnügt zu Sinne, daß +er anfing, laut zu pfeifen. Als er, dem Fußpfad folgend, +über Stelle Nr. 4 kam, verlangsamte er seinen +Schritt und pfiff mit Kraft und Inbrunst: Die Liebe +macht glücklich, macht selig. Er bemühte sich, dabei an +Sine zu denken. Aber die war ihm noch nicht recht +gegenständlich und ja auch ein bißchen weit weg. So +hielten seine zärtlichen Gedanken sich einstweilen mehr +an die nahe, deren herzfrohes Lachen ihm noch im +Ohre klang. Es war das ja aber auch einerlei bei +Zwillingsschwestern, die zur Unterscheidung kaum +etwas hatten als die verschiedenen Namen. Das weiße +Kätzchen drückte er dabei ein wenig fester an sich.</p> + +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_259">[S. 259]</span></p> +<h2 class="s2">14.</h2> +</div> + +<p>Gerd lag in der blühenden Heide, die den Rodenburger +Damm säumte, unter einer Birke und +hinter einem Weidenbusch. Die Birke hatte Saftfluß, +und prächtige Trauermäntel waren bei ihr zu Gaste.</p> + +<p>Um den Hals herum war's ihm etwas eng und unbequem. +Er trug nämlich zum erstenmal in seinem +Leben einen Kragen. Kaufmann Nolte hatte gesagt, +das Ding wär' von Gummi, und er könnte es beliebig +oft abwaschen und unter Umständen bis an seinen Tod +damit langen. Das Vorhemdchen hatte Leidchen ihm +mal aus der goldgestickten Strickmütze seiner Großmutter +gemacht, und er hatte es heute ebenfalls zum +erstenmal vorgebunden. Es war bunt genug, weshalb +er keinen Schlips brauchte.</p> + +<p>Von der Beengtheit des Halses abgesehen, war ihm +aber sehr wohl zumute. Sine hatte eingewilligt, mit +ihm und Becka heut einen Spaziergang durch das +Große Moor nach Tennstedt zu machen, und er sah +diesem Unternehmen mit frohen Hoffnungen und angenehmen +Erwartungen entgegen. Geld hatte er beigesteckt, +um, wenn alles gut ginge, gleich die Ringe +kaufen zu können.</p> + +<p>Er spähte wieder einmal um den Weidenbusch den +Damm hinunter und entdeckte in der Ferne, etwa dort, +wo die Schule liegen mußte, zwei schwarze Punkte von +gleicher Größe. Das konnten sie sein.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_260">[S. 260]</span></p> + +<p>Eine Weile sah er dem feierlichen Schweben der +bunten Buttervögel zu, und ihrem gierigen Trinken am +Birkensaftquell.</p> + +<p>Die beiden Punkte hatten sich inzwischen vergrößert +und waren bei keiner der zahlreichen Hofbrücken abgeschwenkt. +Es wurde immer wahrscheinlicher, daß es die +Erwarteten waren.</p> + +<p>Die Punkte schienen unten breiter als oben, es waren +also Frauensleute.</p> + +<p>Nun hatten die beiden Frauensleute das Dorf hinter +sich, und ein Zweifel war nicht mehr möglich.</p> + +<p>Sie machten beide dieselben kurzen, munteren +Schritte und wandten sich alle Augenblicke nach dem +Dorf um, was den Beobachter hinter dem Weidenbusch +jedesmal bannig högte und zum Schmunzeln brachte.</p> + +<p>Nee, aber so was! So 'ne Ähnlichkeit! Er wollte +sich die Augen aus dem Kopf gucken und konnte doch +nicht erkennen, wer Becka und wer Sine wäre.</p> + +<p>Als die beiden auf zwanzig Schritt herangekommen +waren, sah er, daß die eine so recht behaglich vor sich +hinlachte, während die andere etwas Unruhiges, Unsicheres +in Gesicht und Auftreten hatte. Da wußte er +Bescheid.</p> + +<p>»Becka, wenn er nun mal nicht käme ...«</p> + +<p>»Ach was, Deern, den hab' ich viel zu fest in der +Schlinge. Er ist auch einer von den Ehrenfesten und +Zuverlässigen.«</p> + +<p>»Ich glaub', bei diesem Weidenbusch warten wir +man ... Uch!«</p> + +<p>»Den Deuker, da ist er ja!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_261">[S. 261]</span></p> + +<p>»Guten Tag, Deerns. Na, habt ihr euch eingestellt? +Das ist man gut.«</p> + +<p>Gerd, der sich langsam erhoben hatte, gab erst Becka +die Hand, dann Sine, der er dabei schnell in das von +einer Blutwelle purpurn übergossene Gesicht sah.</p> + +<p>»Hm.«</p> + +<p>»Na? Was nun?«</p> + +<p>»Ich denk', wir gehn weiter.«</p> + +<p>»Dann komm, wir nehmen dich in die Mitte. +Zwischen zwei Schwestern, das soll Glück bringen.«</p> + +<p>Sie setzten zu dritt die Wanderung fort. Indem +einer auf den anderen wartete, sagte keiner etwas.</p> + +<p>Aber lange hielt Becka dieses Schweigen nicht aus. +Sie gab Gerd einen Rippenstoß: »Zu, sag' mal was, +Junge!«</p> + +<p>Nachdem er leise aufgeseufzt hatte, begann er: +»Schön Wetter heut'. Pepers Heini wird bei seinem +Ernteball den Saal wohl tüchtig voll haben.«</p> + +<p>»Was geht uns Pepers Heini sein Ernteball an?« +fragte Becka kichernd.</p> + +<p>Gerd griff nach seinem Gummikragen und bereute, +daß er ihn nicht eine Nummer weiter genommen hatte.</p> + +<p>»Wir müssen zur rechten Zeit wieder zu Hause sein,« +setzte er von neuem an. »Ich muß diese Nacht noch mit +dem Schiff nach der Stadt ... der Torf ist gerade gut +im Preise. Für den besten bezahlen sie ...«</p> + +<p>Becka warf schnell den Kopf herum und unterbrach +ihn: »Wir sind nicht gekommen, um mit dir über deinen +Backtorf zu schnacken. Sag', was du vorhast! Raus +damit!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_262">[S. 262]</span></p> + +<p>»Man nicht so glupsch, Deern,« stamerte er verlegen +und ärgerlich. »Immer langsam und mit Sinnen.« +Dann, nach der anderen Seite gewendet: »Sine, ich +hab' so halb und halb vor, mir was zu kaufen.«</p> + +<p>»Das hat Becka mir schon gesagt,« versetzte sie leise.</p> + +<p>»Wie weit bist du mit dem Kauf?« fiel die Schwester +ein.</p> + +<p>»Hab' die Stelle an der Hand.«</p> + +<p>»Nicht zu teuer?«</p> + +<p>»Nee, hab' heruntergehandelt bis auf den Preis, den +ich mir gesetzt hatte.«</p> + +<p>»Na, Kinder, dann seht bloß zu, daß ihr miteinander +klar werdet.«</p> + +<p>»Becka,« sagte Gerd in vorwurfsvollem Tone, »ich +mag dich heute gar nicht leiden, so naseweis wie du +bist.« Darauf wandte er sich nach rechts, blieb stehen +und sagte: »... Sine, was meinst du?«</p> + +<p>Sie stand in der Dammrichtung, die Augen züchtig +gesenkt, und sagte: »Gerd, ich kenne dich ja noch nicht +ganz lange. Aber meine Schwester hat mir soviel +Gutes von dir erzählt ... ich glaub', ich kann's wohl +riskieren ...«</p> + +<p>»Vater und Mutter,« krähte Becka dazwischen, »sind +auch einverstanden, ich hab' sie letzten Sonntag gleich +gefragt. Aber Kinder, wollt ihr euch denn nicht die +Hand geben?«</p> + +<p>Aus vier Augen wurden ihr böse Blicke zum Lohn, +aber man tat doch nach ihrem Rat.</p> + +<p>»Und ein lüttjer Kuß gehört auch dazu!« verfügte sie +weiter.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_263">[S. 263]</span></p> + +<p>Nun wurde es Sine denn doch zuviel. Sie trat mit +empörten Augen vor die Schwester hin: »Becka! Ich +will dir mal was sagen, und merk dir's: Du hast uns +beiden ganz und gar nichts zu kommandieren. Wir +sind mündig und wissen selbst, was wir zu tun und zu +lassen haben. Du mußt dir bloß nicht einbilden, daß +du hier heute die Hauptperson bist.«</p> + +<p>Die Strafrede hätte wohl noch länger gedauert, aber +Gerd fiel sanftmütig ein: »Sine, reg' dich man nicht +auf; Becka hat's ja ganz gut gemeint ... Wir können +uns auch dreist mal küssen.«</p> + +<p>»Nein, nun grade nicht! Was zuviel ist, das ist zuviel. +Ich bin die Älteste von uns beiden, und Becka hat +das auch immer anerkannt. Bloß von dem Augenblick +an, wo sie sich verlobt hatte, bildete sie sich auf einmal +ein, sie wär' mehr als ich, und wurde frech. Aber jetzt +laß ich mir das nicht mehr gefallen. Denn was du bist, +das bin ich all lange, du!«</p> + +<p>»Uijeh!« rief Becka in geheucheltem Entsetzen, »da +hab' ich mir schön was eingebrockt, daß ich dir'n +Bräutigam verschafft habe. Nun kann ich mich wieder +unter dich ducken. Na, lüttje Schwester, sei man still, +ich tu's ganz gern. Soll ich 'n bißchen zurückbleiben, +damit ihr euch ungestört besprechen könnt?«</p> + +<p>»Nee, geh' lieber hundert Schritt vorauf!«</p> + +<p>»Auch gut,« sagte Becka, und schritt wacker fürbaß.</p> + +<p>»Nun ist's Zeit,« flüsterte Sine, und hielt ihren +roten Mund hin. Und Gerd drückte einen kernigen +Kuß darauf. Dann nahm er sie so fest in die Arme, +daß ein zartes, zimperliches Ding laut aufgekreischt<span class="pagenum" id="Seite_264">[S. 264]</span> +haben würde. Aber von der Sorte war Sine Wischhusen +nicht.</p> + +<p>Becka war so diskret, sich nur einmal umzusehen. +Sie paßte aber just den richtigen Augenblick ab und +bedauerte, daß sie ihren Jan nicht da hatte, ihr ein +Gleiches zu tun.</p> + +<p>Als Gerd seine Braut freigelassen hatte, sagte er +fröhlich: »So, nun gehen wir nach Tennstedt und +kaufen uns die Ringe ... Aber Deern, wir kriegen +am Ende heut gar keine!«</p> + +<p>»Warum nicht?«</p> + +<p>»Von wegen der Sonntagsruhe.«</p> + +<p>»Ach was, das sind Liebeswerke, und die sind auch +am Sonntag erlaubt.«</p> + +<p>Gerd lachte und legte den Arm um sie. So schritten +sie glückselig durch den leuchtenden Sommertag, eine +gute Weile schweigend. Es war jetzt die Einsamkeit +des wilden Heidemoores um sie. Kein Mensch oder +menschliche Wohnung weit und breit zu sehen, nur +hier und da eine verlorene Plaggenhütte, als Unterschlupf +für Heidhauer und Torfgräber in die Einöde +gesetzt. Die herrliche Bläue des Himmels, an dem +weiße Schäfchenwolken ihr Wesen trieben, hob sich +wundervoll ab gegen das von weißen Birkenstämmchen +durchblitzte Blütenrot der üppig wuchernden Moorlandsheide. +Die Luft war voll Honigduft und Bienengesumm. +Schnurgerade zog sich der Damm durch das +blühende Land, ihm treu zur Seite der blinkende +Wasserlauf. Es hatte lange nicht mehr geregnet, +und der Sand mahlte stark. Aber davon merkten<span class="pagenum" id="Seite_265">[S. 265]</span> +die beiden rüstigen jungen Menschenkinder nichts. +Auch der Gummikragen bedrückte Gerd jetzt nicht +mehr, wie er so hochaufgerichtet und frei atmend +dahinschritt.</p> + +<p>»Wollen wir jetzt Becka nicht rufen, daß sie wieder +mit uns geht?« fragte er endlich.</p> + +<p>»Och ja,« sagte Sine schnell, »allein wird es ihr +leicht zu langweilig. Sie ist im Grunde gar keine +schlechte Deern.«</p> + +<p>»Nee, gewiß nicht,« stimmte Gerd bei. »Eigentlich +wollte ich sie ja auch heiraten.«</p> + +<p>»Ich weiß ...«</p> + +<p>»Wir beide, Sine, passen aber doch noch besser zusammen, +glaub' ich.«</p> + +<p>»Das wollen wir hoffen ... Becka!«</p> + +<p>Becka wandte sich sofort herum und erwartete die +beiden.</p> + +<p>»Na, alles klipp und klar?«</p> + +<p>»Ja, du kannst jetzt wieder mit uns gehen.«</p> + +<p>»Ist dankenswert,« sagte Becka, und nahm ihren +alten Platz an Gerds grüner Seite wieder ein.</p> + +<p>»Ich freu' mich bannig, Gerd,« begann Sine nach +einem Weilchen, »daß wir beide gleich ein eigenes +Dach über den Kopf kriegen. Jan und Becka wollen +sich die ersten Jahre was pachten.«</p> + +<p>»So—o?« fragte die Schwester spitz, »weißt du das +so gewiß? Kann sein, daß wir noch eher zum Kauf +kommen als ihr.«</p> + +<p>»Aber Kinder, so vertragt euch doch,« legte Gerd +sich lächelnd ins Mittel. »Sine, wir könnten nun wohl<span class="pagenum" id="Seite_266">[S. 266]</span> +mal zusammenrechnen, was wir beide parat haben. +Ich fang' an.«</p> + +<p>Und er begann aufzuzählen: was er von der Mutter +geerbt, was er in den einzelnen Jahren verdient, wie +wenig er verbraucht und wieviel auf die Sparkasse getragen, +und was es dort an Zinsen gebracht hatte. Zur +Stunde beliefe sich sein Vermögen, ohne die Zinsen des +laufenden Vierteljahres, auf sechshundertsiebenundachtzig +Taler und dreiundzwanzig Groschen, das Geld +im Portemonnaie noch nicht mal mitgerechnet.</p> + +<p>»Junge, Junge!« rief Sine, von der Höhe der +Summe freudig überrascht, und warf an ihm vorbei +einen triumphierenden Blick nach ihrer Schwester hinüber. +Die machte ein etwas verdutztes Gesicht; denn +da kam ihr Jan doch nicht ganz mit.</p> + +<p>»Na, Sine, denn red' du mal!« sagte Gerd gespannt.</p> + +<p>Sie fing an aufzuzählen: ein Dutzend Hemden, +die Hälfte noch gar nicht gebraucht, zwei bessere Kleider +und drei für die Arbeit, drei Unterröcke, ein zweischläfernes +Bett, und zweimal es zu überziehen, fünf +Stück Leinen, eine Kommode, ein Spinnrad, sieben +Schürzen ...</p> + +<p>Sie verlor sich zuletzt so in Kleinigkeiten, daß er +ungeduldig wurde und sie unterbrach: »Und Bargeld?«</p> + +<p>»Ungefähr hundertundsechzig Taler.«</p> + +<p>»Hm.«</p> + +<p>»Ist dir das nicht genug?«</p> + +<p>»Hm ... denn hat Becka ja doch 'n bißchen mehr.«</p> + +<p>»Ja, die hat auch immer viel Geschenke von ihrer +Dienstherrschaft gekriegt. Aber mit Zeug ist sie lange<span class="pagenum" id="Seite_267">[S. 267]</span> +nicht so gut ausstaffiert als ich. Die ersten Jahre +brauch' ich überhaupt kein neues Kleid, ausgenommen +natürlich das zur Hochzeit.«</p> + +<p>»Hast du noch was von deinen Eltern zu erwarten?«</p> + +<p>»Das wohl nicht. Wir sind unser zu viele.«</p> + +<p>»Na, Sine, das soll alles nichts schaden ... dann +lassen wir die erste Hypothek von dreihundertundfünfzig +Talern auf der Stelle stehen. Was meinst +du, bis wann können wir die wohl heruntergearbeitet +haben?«</p> + +<p>»Oh ... wenn der liebe Gott Leben und Gesundheit +schenkt, in 'n Jahrer sechs ... oder sieben ...«</p> + +<p>»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern! Ich hatte +an neun bis zehn Jahre gedacht; denn wir müssen ans +Haus allerhand anwenden, und auch tüchtig was in +den Boden hineinstecken. Der Kram ist bös heruntergekommen.«</p> + +<p>»Schadet nichts. Das wollen wir beiden wohl +kriegen. Wir sind ja keine, die vor der Arbeit weglaufen.«</p> + +<p>»Deern, Deern, was bin ich froh!« rief er. »Ich +glaube, der liebe Gott hat dich extra für mich gemacht.«</p> + +<p>»Ist möglich, so soll das in 'm richtigen Ehestand ja +auch wohl sein.«</p> + +<p>Der schnurgerade Damm wurde am Rande der Geest +zu einem gewöhnlichen Sandwege, der mit einer kleinen +Biegung in das wohlhabend behäbige Bauerndorf +Tennstedt einmündete.</p> + +<p>»Feine Höfe,« sagte Gerd, auf ein stattliches +Bauerngut mit altem Eichenbestand hinweisend.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_268">[S. 268]</span></p> + +<p>»Ich möcht' auf der Geest nicht sein,« versetzte Sine. +»Wir können auf unserer Anbauerstelle am Achterdamm +ebenso gemütlich leben.«</p> + +<p>»Das ist gewiß!« sagte Gerd und legte mal schnell +wieder den Arm um sie.</p> + +<p>Herr Sauerhering, der Uhren flickte und zugleich +mit Gold- und Silbergeschirr handelte, wurde glücklich +zu Hause getroffen, und es bedurfte nicht langer Bitten, +ihn zu dem gewünschten Liebesdienst willig zu machen. +Nachdem er dem Pärchen artig zu seinem Vorhaben +gratuliert hatte, breitete er einen großen, flachen Kasten +voll der ewig bindenden Dinger vor ihm aus. Sine +hielt ihre Hand hin, und Gerd verpaßte ihrem kurzen, +dicken Ringfinger einen Goldreif. Darauf suchte Sine +auch einen für ihn aus, wobei Becka ihr half. Das +Anstecken besorgte sie aber allein.</p> + +<p>»Was kostet das?« fragte Gerd und griff in die +Tasche.</p> + +<p>»Fünfzehn Mark,« sagte der Mann.</p> + +<p>Gerd erschrak. »Gibt's keine billigere Sorte?« fragte +er kleinlaut. »Solche Ringe müssen echt sein,« erklärte +Herr Sauerhering ernst. »Sonst ist das eheliche Glück +nachher auch nicht echt und von Bestand. Es ist ja auch +nur eine einmalige Ausgabe.«</p> + +<p>»Wir nehmen aber doch gleich zwei auf einmal. +Da können Sie's wohl für zwölf Mark tun.«</p> + +<p>»Diese Art verkaufe ich überhaupt nur paarweise,« +erklärte Herr Sauerhering, und die Mädchen lachten. +»Überhaupt ist das Handeln bei solchem Kauf keine +Mode.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_269">[S. 269]</span></p> + +<p>Gerd legte mit schwerem Herzen ein Zwanzigmarkstück +auf den Tisch. Als er die fünf Mark, die ihm +zurückgegeben wurden, einstecken wollte, fragte Becka +keck: »Was krieg' ich denn als Freiwerberlohn?«</p> + +<p>»Vielleicht eine hübsche Brosche?« fragte Herr +Sauerhering süß lächelnd, indem er eine andere Schublade +herauszog und auf den Tisch stellte.</p> + +<p>Becka musterte die glitzernden Schmuckstücke und hob +eins heraus.</p> + +<p>»Glaube, Liebe, Hoffnung,« sagte sie, »diese möcht' +ich wohl leiden. Kostet?«</p> + +<p>»Zwei Mark fufzig.«</p> + +<p>Die beiden Mädchen sahen Gerd erwartungsvoll an.</p> + +<p>»Na, denn man zu!« sagte er mit tapferer Selbstüberwindung +und warf das Geld auf den Tisch. Becka +steckte sich Kreuz, Herz und Anker sogleich vor.</p> + +<p>Die drei Goldgeschmückten gingen darauf schräg +über die Straße in eine Gastwirtschaft, die mit Bäckerei +verbunden war. Hier bestellten sie sich zwei Portionen +Kaffee nebst einem Teller Butterkuchen, und aßen und +tranken nach Herzenslust. »Und wenn die zwanzig +Mark heut' ganz draufgehen!« dachte Gerd, und ließ +den schnell geleerten Teller noch einmal füllen.</p> + +<p>»Schade, daß ich meinen Jan nicht herbestellt +habe ...,« seufzte Becka. »Wir wollen ihm mal eine +bunte Karte schicken,« sagte Gerd und ging hin, sich +eine zu holen. Er wählte die mit dem Gasthaus, in +dem sie ihre Verlobung feierten.</p> + +<p>Während er saß und schrieb, fragte Becka: »Wann +wollt ihr denn eigentlich Hochzeit machen, Sine?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_270">[S. 270]</span></p> + +<p>Sine gab die Frage weiter: »Was meinst du, +Gerd?«</p> + +<p>»Nächstes Frühjahr natürlich, gleich nach Ostern,« +erklärte er.</p> + +<p>»So früh schon?« rief Becka erschrocken. »Wir wollten +eigentlich noch ein Jahr warten.«</p> + +<p>»Ja, Kinder, das könnt ihr ja auch ruhig tun,« +meinte die ältere Schwester.</p> + +<p>»Nein, Sine, nein, das geht nicht,« rief Becka mit +Nachdruck. »Voranlassen dürfen wir euch auf keinen +Fall. Wir beide sind an demselben Tag geboren, aus +einem Wasser getauft und Seite an Seite konfirmiert. +Da hilft alles nichts, wir müssen auch miteinander +Hochzeit halten. Ob Jan will oder nicht, er muß. +Gerd, schreib' man gleich mit an meinen Jan, nächstes +Frühjahr gäb's eine vergnügte Doppelhochzeit.«</p> + +<p>Er nickte. »Gut,« sagte er, »ich will das bemerken.«</p> + +<p>»Halt!« rief Sine, »dabei hab' ich doch auch wohl +noch ein Wort mitzureden. Ich bin gegen die Doppelhochzeit.«</p> + +<p>»Warum?« fragte Gerd, von seinem Schreibwerk +aufblickend.</p> + +<p>»Oh ... bei 'ner Doppelhochzeit lohnt es nicht so +mit den Gaben. Für zwei auf einmal ordentlich was +zu schenken, das wird den Leuten leicht zu viel.«</p> + +<p>»Sine, du bist 'ne lüttje famose Deern. Daran +habe ich noch gar nicht einmal gedacht. Du magst wohl +recht haben ...«</p> + +<p>»Da hört sich doch alles auf!« rief Becka empört, +machte ihre grallsten Augen und legte die Arme vor<span class="pagenum" id="Seite_271">[S. 271]</span> +sich auf den Tisch, »nun spielt ihr mir schon unter einer +Decke. Aber das will ich euch man sagen, wenn ihr +nicht für die Doppelhochzeit stimmt, ist unsere Freundschaft +aus, ich stehe nicht bei euch Gevatter und besuche +euch auch nicht. Das waren Meta und Metta Rodenburg +in unserm Dorf, die auf einen Tag Hochzeit machten +und nicht viel kriegten. Aber warum? Die Leute +mochten sie und die ganze Familie nicht leiden, und +schickten gar keinen, oder Knecht und Magd und Kinder, +und da schaffte es natürlich nicht mit den Gaben. +Aber das hat bei uns nichts zu bedeuten. Ich glaub', +Sine, ich kann ruhig sagen, wir beide sind ganz beliebt, +und auch unsern Vater haben sie gern in allen +Häusern, wo er Hollschen macht. Denk' dir doch, Deern, +wie schön das wird, wenn wir beide so im Myrtenkranz +und Schleier da auf unserer Diele beieinander +stehen, ich mit meinem Jan, du mit deinem Gerd; und +unser guter alter Pastor gibt uns alle vier zusammen +in den heiligen Ehestand, aber diesmal soll er's richtig +machen, und nicht so Kuddelmuddel wie bei der Konfirmation. +Ich glaube, dann kann ich vor Weinen +knapp ja sagen. Denn du mußt wissen, Gerd, ich bin +ein bißchen weich und hab' mich nicht so in der Gewalt +wie Sine.«</p> + +<p>»Was meinst du, Gerd, wollen wir ihr den Gefallen +tun?« fragte Sine.</p> + +<p>»Ja, man zu,« antwortete er lächelnd, »wir sind ihr +ja auch etwas Dank schuldig, ohne sie hätten wir uns +ja nie gekriegt.«</p> + +<p>»Na gut,« wandte die ältere sich an die eine halbe<span class="pagenum" id="Seite_272">[S. 272]</span> +Stunde jüngere, »denn kannst du mit uns Hochzeit +halten. Das heißt, wenn Jan einverstanden ist.«</p> + +<p>»Der?« rief Becka. »Der ist jetzt überstimmt: Drei +gegen einen. Ob er will oder nicht, er muß!« — —</p> + +<p>Als die drei den Heimweg angetreten hatten und +aus dem Eichenschatten des Dorfes ins Freie kamen, +mußten sie auf der Höhe der Geestdüne stehenbleiben. +Denn der Himmel stand über ihrer Moorheimat in +flammenden Gluten, so stark und tief in den Farben, +daß selbst der Blick dieser Leutchen, die an die prächtigen +Sonnenuntergänge über ihrem wasserdunstgeschwängerten +Lande von Kind an gewöhnt waren, gebannt +wurde. Ein leuchtendes Rot von Heideblüten +und Abendglanz lag über dem weiten wilden Moor, +der Wasserzug neben dem Rodenburger Damm lief wie +eine Straße von funkelndem Gold zu den fernen Dörfern, +deren baumumhegte Reihen klar und scharf gegen +den purpurnen Himmelsgrund standen.</p> + +<p>»Könnt ihr singen?« fragte Gerd, als sie eine Weile +schweigend hingeschaut hatten.</p> + +<p>»Oh, ein bißchen wohl,« sagte Sine.</p> + +<p>Er schob die Hände unter die Arme seiner beiden +Begleiterinnen und stimmte an: »Goldne Abendsonne, +wie bist du schön.« Als die Mädchen einfielen, +ging er schnell in die zweite Stimme über. Sie konnten +nicht bloß den ersten Vers, sondern die anderen +auch.</p> + +<p>Als das Lied verklungen war, drückte er die beiden +runden Mädchenarme an sich und rief hocherfreut: +»Deerns, das geht ja fein. Ihr könnt's beinahe so<span class="pagenum" id="Seite_273">[S. 273]</span> +schön, wie meine Schwester Leidchen. Schade, daß die +heute nicht hier ist.«</p> + +<p>»Und mein Jan,« fügte Becka hinzu.</p> + +<p>Sie setzten ihren Weg fort und schritten in das +Moor hinunter, über dem die Farbenpracht inzwischen +stark verglüht war. Es währte nicht lange, so begann +er: »Die Liebe macht glücklich, macht selig,« und die +Mädchen jubelten mit: »Die Liebe macht arm und +reich, die Liebe macht Bettler zum König, die Liebe +macht alles gleich.« »Juhuhuh!« juchzte er, als das +Liedchen aus war, packte zu und schwenkte sein zappelndes, +kreischendes Sinchen mit starken Armen hoch +in die Luft.</p> + +<p>»Becka meinte, du wärst einer von den Sinnigen,« +sagte sie, sich die Kleidung zurecht zupfend, »du bist ja +ein ganz Wilder.«</p> + +<p>»Du kannst alle Jungens in Brunsode fragen,« rief +er lachend, »die werden dir sagen, daß ich ein ducknackiger +Drögepeter bin.«</p> + +<p>»Na, die kennen dich aber schlecht.«</p> + +<p>»Ist möglich.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_274">[S. 274]</span></p> + +<p>Und wieder klang ein Lied:</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»Schön ist die Jugend bei frohen Zeiten,</div> + <div class="verse indent0">Schön ist die Jugend, ja, sie kommt nicht mehr.</div> + <div class="verse indent0">Sie kommt nicht mehr, nicht mehr,</div> + <div class="verse indent0">Kehrt niemals wieder her,</div> + <div class="verse indent0">Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.</div> + <div class="verse indent1"></div> + <div class="verse indent0">Ich hatt' einen Weinstock, und der trug Reben,</div> + <div class="verse indent0">Und aus den Reben floß süßer Wein.</div> + <div class="verse indent0">Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,</div> + <div class="verse indent0">Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.</div> + </div> + <div class="verse indent0">Ich hatt' einen Rosenstock, und der trug Rosen,</div> + <div class="verse indent0">Und aus den Rosen floß süßer Duft.</div> + <div class="verse indent0">Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,</div> + <div class="verse indent0">Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.</div> + <div class="verse indent1"></div> + <div class="verse indent0">Man liebt die Mädchen bei frohen Zeiten,</div> + <div class="verse indent0">Man liebt sie nur zum Zeitvertreib.</div> + <div class="verse indent0">Drum sag ich's noch einmal: Schön ist die Jugend, ja,</div> + <div class="verse indent0">Schön ist die Jugend, sie kommt nicht mehr.«</div> + </div> +</div> + +<p class="p2">»Man liebt euch Mädchen bei frohen Zeiten, man +liebt euch nur zum Zeitvertreib!« rief Gerd. »Wißt +ihr was, Deerns? Am liebsten heiratete ich euch alle +beide!«</p> + +<p>»Pfui, so'n Türke!« sagte Becka und gab ihm einen +Stoß in die Rippen.</p> + +<p>Er aber hob die Arme, schlug den linken um Beckas, +den rechten um Sines Nacken, riß ihre Köpfe zusammen +und küßte beide wahllos ab. Kreischend und lachend +suchten sie sich ihm zu entwinden, aber seine stählernen +Arme ließen nicht locker.</p> + +<p>Als er sie endlich freiließ, sagte Becka, sich die zerzausten +Haare ordnend: »Du bist ja 'n ganz Schlimmer. +Sine, so einen nähm' ich nicht, um kein Geld!«</p> + +<p>»Hast du noch nicht genug, lüttjer Satan?« rief er, +auf sie zuspringend.</p> + +<p>»Ja, Ja!« schrie sie, ihm entschlüpfend.</p> + +<p>»Du kriegst'n paar überher,« sagte er, Sine in die<span class="pagenum" id="Seite_275">[S. 275]</span> +Arme schließend. Es wurde aber noch ein halbes +Dutzend draus.</p> + +<p>»Wart' man,« drohte Becka mit der zur Faust geballten +kleinen Hand, »wenn ich das meinem Jan sage, +kommt der dir aufs Fell.«</p> + +<p>»Haha,« lachte Gerd, »in der Familie darf man das +so genau nicht nehmen. Er kann mein Sinchen dafür +mal wieder küssen.«</p> + +<p>»Ich wollt' ihm!« rief Becka. »Das hätt' ich bloß +ahnen sollen, daß du so'n böser Bruder bist! Sine, +willst du ihm seinen Ring nicht wiedergeben?«</p> + +<p>»Werd' mich hüten!« kicherte sie und schmiegte sich +zärtlich an ihn. »Es ist mir so lieber, als wenn er ein +alter Drögbäcker wär'.« —</p> + +<p>Sine wollte für die Nacht bei der Schwester mit +unterkriechen und Gerd begleitete die beiden bis vor +Beckas Haustür. Nach einer letzten Umarmung, bei +der Becka jetzt aber leer ausging, schritt er eilig auf +dem Fußpfad über die Gehöfte heimwärts, um zur +Bremerfahrt zu rüsten. Nur vor dem weitgeöffneten +Tor von Heini Pepers Tanzdiele blieb er einen +Augenblick unter den halbwüchsigen Gaffern, die noch +nicht hinein durften, stehen. Der Ernteball war in +vollem Gange, die Musikanten strichen und bliesen für +Gewalt, und die Mädchen des Dorfes und der Nachbarkolonien +flogen schön geputzt und mit glühenden +Wangen in den Armen ihrer Tänzer an ihm vorüber. +Alles, was Lust zum Freien hat, dachte Gerd bei sich, +ist hier versammelt. Ob nicht vielleicht eine drunter +ist, die du am Ende doch lieber genommen hättest? Die<span class="pagenum" id="Seite_276">[S. 276]</span> +Hände in den Hosentaschen vergraben, fragte er sich bei +jeder, die vorüberwalzte, ob er sie gemocht hätte. Aber +jedesmal hieß es in ihm Nee, das eine Mal leiser, +das andere Mal lauter, und ein paarmal hätte er beinahe +ausgespuckt. Seine Wahl bestand diese Probe +auf das glänzendste, und sehr befriedigt wandte er +Heinis Ernteball den Rücken. —</p> + +<p>Drei Stunden später befand er sich auf der Hamme, +die sich unter bewölktem Himmel mattgrau durch die +Nacht wand. Wenn man aber genauer hinsah, zogen +leichte Wellen über ihren Spiegel. So war es auch +in der Seele des jungen Schiffers wie ein leises Wellenatmen, +aber zuweilen gingen auch hohe Wogen, und +dann faßte er die schwere Eichenstange fester, und stieß +und schob, daß sein Schiff rauschend dahinflog. Und +als endlich das schlafähnliche Dösen über ihn kam, blieb +ganz in der Tiefe etwas wach. Das war die Freude. +Sie war jetzt still geworden, ganz still, aber ganz einschlafen +konnte sie nicht. —</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Wie hätte Gerd es an diesem Montag aushalten +können, der Schwester so nahe zu sein und sie nicht zu +besuchen! Wenn Mutter Marwede auch brummte, da +machte man eben ein dickes Fell.</p> + +<p>Er hatte sich das so schön vorgestellt, Leidchen den +gestrigen Nachmittag zu schildern und dabei alles noch +einmal wieder zu durchleben. Als er aber in der Küche +vor ihr saß, wollten ihm die rechten Worte nicht auf +die Lippen, und mit Stocken und Drucksen kam nur ein +ziemlich farbloser Bericht zustande.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_277">[S. 277]</span></p> + +<p>Aber die Schwester kannte den Bruder.</p> + +<p>»Lieber Junge, du bist wohl sehr glücklich ...« +sagte sie bewegt.</p> + +<p>Da blickte er auf, und all das, was in die Worte +nicht hatte hinein wollen, strahlte und jubelte ihm aus +den grauen Augen. Und er sprang auf die Füße, +schloß sie in seine Arme und küßte sie.</p> + +<p>»Nicht wahr, Leidchen, du freust dich mit mir?« rief +er, indem er sie losließ. »Aber Deern, was ist das? +Du weinst? Was ist dabei denn zu weinen? ... Gönnst +du mir das nicht?«</p> + +<p>»Oh, von Herzen,« schluchzte sie, das Gesicht in der +Schürze bergend.</p> + +<p>»Aber was heulst du denn? Aha, du denkst: wenn +ich man auch erst so weit wär'! Aber Deern, du bist ja +noch so jung ... Nun laß das Weinen aber und spar +deine Tränen, bis du sie nötiger brauchst ... Ich denk', +lang' wird er dich auch nicht mehr zappeln lassen. +Bei Gelegenheit will ich ihm mal 'n kleinen Wink +geben.«</p> + +<p>Leidchen stampfte mit dem Fuße auf und rief leidenschaftlich: +»Um Gottes Willen, Gerd, komm mir +nicht immer mit der alten Geschichte! Ich werd' dir +sonst wirklich böse.«</p> + +<p>Er lachte über das ganze Gesicht.</p> + +<p>»Ihr Frauensleute seid ein wunderlich Volk. Ihr +stellt euch immer, als ob ihr uns Mannskerls nicht +ausstehen könntet. Und doch tut ihr nichts als auskucken, +ob wir noch nicht kommen. Laß ihn nur erst +ernsthaft kommen! Ich seh' schon, wie meine lüttje<span class="pagenum" id="Seite_278">[S. 278]</span> +widerhaarige Schwester sich ihm an den Hals wirft +und ruft: ›O wie gern! O wie gern!‹«</p> + +<p>»Gerd!« stieß sie gequält heraus.</p> + +<p>»Du weißt, Leidchen,« fuhr er fort, »ich bin ein +ruhiger Mensch, ein Drögepeter, wie du früher manchmal +sagtest. Ich hätte niemals gedacht, daß es mich +so packen und unterkriegen könnte. Ich weiß wirklich +nicht: ist die Welt auf den Kopf gestellt, oder bin ich's, +oder sind wir beide umgekrempelt? Wie es eigentlich +ist, kann ich dir überhaupt nicht beschreiben. Na, du +lernst das ja auch wohl noch mal kennen. Wenn's erst +über dich kommt, Leidchen — da mag ich überhaupt +nicht an denken. Du hast viel mehr Lebenslust als ich +und viel hitzigeres Blut. Wie es dir gleich in die +Backen schießt! Aber wir wollen den Teufel lieber +nicht an die Wand malen.«</p> + +<p>Er hatte sich wieder gesetzt und erzählte, vor sich +hinsehend, wie er sein künftiges Heim gefunden, was +es kosten sollte, welche Aufwendungen er machen +müßte, um es leidlich instand zu setzen, und was für +Arbeiten die dringendsten wären. Nach Ostern sollte es +dann eine Doppelhochzeit geben, nicht allzu groß, aber +sehr gemütlich. Ein gewisser Jemand, der flott tanzen +könne, würde natürlich auch eingeladen, fügte er, mit +den Augen plinkernd, noch hinzu.</p> + +<p>Als er sich darauf erhoben hatte, um zu gehen, hielt +Leidchen ihn an der Jacke fest und bat, er möchte noch +einen Augenblick bleiben.</p> + +<p>»Wozu?« fragte er, sie verwundert ansehend.</p> + +<p>Sie wich seinem Blick aus.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_279">[S. 279]</span></p> + +<p>»Deern, du machst ein Gesicht, als ob du mir noch +was sagen wolltest. Denn man heraus damit! Ich +komm fürs erste doch wohl nicht wieder.«</p> + +<p>»Och geh man. Es ist nichts Besonderes.«</p> + +<p>»Na denn adjüs, Leidchen!« Er hatte ihre Hand +genommen, die er kräftig drückte, und sagte, unter behaglich +breitem, herzfrohem Lachen: »Leidchen, sonst +warst du von uns beiden immer die vergnügteste. Es +scheint, nun bin ich erst mal an der Reihe, und das ist +ja auch nicht mehr als recht und billig. Aber darüber +brauchst du dir keine graue Haare wachsen lassen. Das +kommt auch noch mal wieder herum. Bleib hübsch munter.«</p> + +<p>Als er, nach einem langen zärtlichen Blick, zur Tür +hinaus war, lief ein Zittern über ihre Gestalt. Sie +sank auf einen Stuhl und starrte ein paar Sekunden +vor sich hin. Dann raffte sie sich auf, fuhr mit der Hand +über das Gesicht und ging an ihre Arbeit.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am nächsten Tage nach Feierabend ging Gerd in +das Schulhaus, wo er die Geschwister in der Wohnstube +fand und sich zu ihnen an den Tisch setzte.</p> + +<p>Er begann mit dem Wetter, sprach dann vom Wasserstand +der Hamme und von dem Unglück in einem +Nachbardorf, wo ein Knecht die Hand in die Häckselmaschine +gekriegt hatte, und sagte endlich auch so beiwegelang, +er hätte sich vor zwei Tagen verlobt. Da +wurden von beiden seine Hände gepackt und tüchtig +gedrückt, und als er Sine Wischhusen nannte, ging's +noch mal wieder los; denn Mariechen Timmermann +kannte ihre Schwester Becka und schätzte sie sehr.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_280">[S. 280]</span></p> + +<p>Als er endlich sein Teil empfangen hatte, sagte Herr +Timmermann lächelnd: »Du kannst uns auch gratulieren.«</p> + +<p>Gerd machte ein erschrockenes Gesicht und fragte: +»Auch zur Verlobung?«</p> + +<p>Der Lehrer nickte: »Ja, meine Schwester hat sich +Sonntag mit dem Kollegen Brinkmeyer in Asendorf +verlobt.«</p> + +<p>»Ach so ... denn gratulier' ich auch viel-, vielmals,« +sagte Gerd, die kleine Hand der glücklichen Braut +zwischen beide Pranken nehmend.</p> + +<p>Der andere hatte sich erhoben. »Solche Doppelverlobung +muß würdig gefeiert werden,« rief er, »wir +wollen unseren Weinkeller austrinken.«</p> + +<p>»Weinkeller ... wie das großartig klingt!« lachte +hinter dem Hinausgehenden die Schwester. »Der gute +Junge hat mal als Seminarist in Bederkesa dem unbegabten +Sohn eines Kaufmanns Rechenstunden gegeben, +fünf Groschen die Stunde, und zum Abschied +hat der dankbare Vater ihm drei Flaschen Mosel geschenkt. +Davon ist noch eine übrig geblieben.«</p> + +<p>Sie stand auf und holte drei dicke Wassergläser, die +sie mit den Worten auf den Tisch stellte: »Richtige +Weingläser muß die Aussteuer erst bringen.«</p> + +<p>Bald klappten dieselben auf das Wohl der beiden +Brautpaare hart und klanglos gegeneinander. Und +alle drei schmeckten andächtig zu, machten Gesichter, +als ob sie alte Weinkenner wären und nickten sich +wohlgefällig an. »Ein guter Tropfen,« lobte der +Spender.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_281">[S. 281]</span></p> + +<p>Der Wein war stark sprithaltig, und es dauerte nicht +lange, so hatten sie alle drei rote Köpfe.</p> + +<p>Da bekam Gerd auf einmal Courage und fragte, +zu Fräulein Mariechen gewandt: »Will Ihr Bruder +denn nicht auch bald Anstalt machen?«</p> + +<p>Sie lachte: »Nun, wo ich mich verlobt habe, soll er +wohl müssen. Wissen Sie keine für ihn?«</p> + +<p>Er wurde noch roter und stamerte: »Das ist nicht +so leicht. Für 'ne Lehrerfrau paßt sich längst nicht jedes +Mädchen.«</p> + +<p>»Ich wüßte wohl eine,« sagte sie, und der Schelm +lachte ihr aus den Augen.</p> + +<p>»Daß du mir reinen Mund hältst!« rief ihr Bruder, +mit aufgehobenem Finger drohend.</p> + +<p>»Ach Otto, warum sollen wir Gerd nicht ins Vertrauen +ziehen? Die Sache muß ja doch endlich mal in +Fluß kommen.«</p> + +<p>Da er sich drein zu ergeben schien, wandte sie sich +wieder zu Gerd und sagte flüsternd, die Hand schräg +gegen den Mund haltend: »Mein Bruder hat Ihre +kleine Schwester gern, und ich kann mir auch keine +nettere Frau für ihn denken. Was meinen Sie, könnte +daraus wohl etwas werden?«</p> + +<p>Gerd strahlte über das ganze Gesicht.</p> + +<p>»Von Herzen gern.«</p> + +<p>»Und Leidchen?«</p> + +<p>»Oh, so ganz von gestern bin ich auch nicht. Ich +hab' schon länger Mäuse gemerkt und sie sogar mit +ihm aufgezogen.«</p> + +<p>»Und sie?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_282">[S. 282]</span></p> + +<p>»Och, sie ist noch'n bißchen jung und hat für die +Liebe noch keinen rechten Sinn. Aber wenn er Ernst +macht, sagt sie gewiß nicht nein. Dazu ist sie viel zu +vernünftig ... Soll ich sie mal 'n bißchen vorbereiten?«</p> + +<p>»Um alles nicht!« rief Herr Timmermann entsetzt.</p> + +<p>»Na ja, es ist am Ende auch am besten, ihr macht +die Sache unter euch ab. Leidchen ist 'ne ganz komische +Deern, wie ich noch keine getroffen habe. Wenn ich +etwas von ihr will, tut sie meist just das Gegenteil. +Sie wär' imstande und sagte nein, bloß um mir'n Tort +anzutun.«</p> + +<p>»Ja, ja, das kommt davon. Du hast sie zu lange +unter der Fuchtel gehalten ... Kommt sie wohl bald +mal nach Hause?«</p> + +<p>»Was ich weiß, nein.«</p> + +<p>»Nun, dann reise ich im Lauf der nächsten Wochen +vielleicht mal hin.«</p> + +<p>Gerd rieb sich vor Freude die Hände. »Wenn's +kommt, kommt's auf den Haufen, und diesmal ist's +das Glück. Ich glaube, jetzt stoßen wir auch noch auf +das dritte Brautpaar an.«</p> + +<p>»Halt, so weit sind wir noch nicht.«</p> + +<p>»Vivat hoch!« rief Gerd, und die Gläser klappten +zusammen. »Daß die Sache wird,« meinte er großartig, +»dafür kann ich garantieren.« »... Glaub' ich +wenigstens,« fügte er dann etwas bescheidener doch +hinzu. »Die Deern müßte ja doll und dumm sein, wenn +sie nicht mit beiden Händen zugriffe.«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_283">[S. 283]</span></p> +<h2 class="s2">15.</h2> +</div> + +<p>Die Fünfundsiebziger waren ins Holsteinische gefahren, +zu den großen Herbstübungen.</p> + +<p>Leidchen entführte abends die Zeitungen auf ihre +Dachkammer und las die spaltenlangen Manöverberichte +nebst strategischen Betrachtungen mit Sorgfalt +und Gründlichkeit. Dann nahm sie auch wohl eine +Photographie aus der Kommode, auf der ein schmuckes +Pärchen zu sehen war. Sie hatten das Bild einmal +von einem ländlichen Schützenfest mitgebracht. Auch +zwei Postkarten betrachtete und las sie oft genug; denn +sie sandten ihr »1000 Gr. u. K.« Die eine zeigte eine +hübsche ostholsteinische See- und Waldlandschaft. Die +andere gefiel ihr weniger gut. Da drückte ein Mädchen +mit der linken Hand die Schürze vor die weinenden +Augen, während sie mit der rechten einen Soldaten zu +halten suchte, der sich mit lachenden Augen und, wie +es schien, leichten Herzens losmachte, um den Kameraden +nachzueilen, die schon die Straßen hinabzogen. +Bei diesem Bilde fühlte sie bald etwas wie Eifersucht, +bald auch wunderliches Mißbehagen, über das sich +Rechenschaft zu geben sie vermied.</p> + +<p>Hermann hatte ihr vor dem Ausrücken ins Manöver +versprochen, wenigstens jeden zweiten Tag zu schreiben, +so daß sie eigentlich vom Morgen bis zum +Abend in Erwartung des Briefboten lebte, der dreimal +des Tags die Runde machte. Aber nur zwei Karten<span class="pagenum" id="Seite_284">[S. 284]</span> +waren in vierzehn Tagen eingetroffen. Wenn die Hoffnung +auf ein Lebenszeichen sie wieder einmal getäuscht +hatte, war sie auf den Wortbrüchigen beinah etwas +böse. Aber sie entschuldigte ihn jedesmal schnell. Er +hatte ihr ja erzählt, wie's in so einem Manöver herging, +und die Zeitung berichtete von langen Märschen +bei Tag und bei Nacht und von großer Ermüdung der +Truppen.</p> + +<p>Eines Abends nahm sie ihr Myrtenbäumchen vom +Fenster und stellte es vor sich auf die Kommode. Als +sie die Blätter genauer betrachtete, machte sie auf einmal +große erschrockene Augen. Die glänzend grünen +Blättchen waren zusammengeschrumpft und gekräuselt, +das Bäumchen schien dem Tode verfallen. Mit +schmerzlichem Gesicht begoß sie es reichlich, um es dann +schnell wieder an seinen Platz zu stellen und sich +von dem vorwurfsvollen Anblick ihres vernachlässigten +Pfleglings zu befreien.</p> + +<p>Dann setzte sie sich auf den Bettrand und blickte starr +vor sich hin.</p> + +<p>Auf einmal kam eine angstvolle Unruhe über sie. +Sie faltete und rang die Hände, streckte sie von sich und +preßte sie gegen die Brust, fuhr steil in die Höhe +und wanderte das Zimmer auf und ab, öffnete das +Dachfenster und stieg auf ihren Stuhl, um die +hereindringende frische Herbstluft an der Quelle zu +schöpfen.</p> + +<p>Wenn sie doch nur seine Adresse wüßte! Dann +hätte sie sich hinsetzen und in einem Brief ihm ihr Herz +ausschütten können ...</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_285">[S. 285]</span></p> + +<p>Plötzlich trat ein Ausdruck von Entschlossenheit in +ihre Züge, sie wollte an seine Eltern schreiben, und in +blitzschneller Folge drängten sich ihr die Gedanken und +Sätze auf. Sie nahm einen Briefbogen, den sie sorgfältig +mit Ort, Straße, Hausnummer und Datum versah. +Aber schon die Anrede ließ sie scheitern. Wie sollte +sie schreiben? »Geehrter Herr Vogt und Frau«? Das +klang so kalt. »Liebe Eltern«? das ging doch auch +nicht gut, solange Hermann nicht mit ihnen gesprochen +hatte. Nächsten Montag wurde er ja zur Reserve entlassen, +und dann mußte er das sofort tun.</p> + +<p>Sie stützte den Kopf in die Hände, Sorgen und +quälende Gedanken umdüsterten ihre weiße Stirn. Auf +einmal heiterte ihr Gesicht sich auf, sie griff schnell zur +Feder und schrieb:</p><br> + +<div class="blockquot"> +<p class="center">»Lieber Bruder!</p> + +<p>Als Du das letztemal hier warst, habe ich mich sehr +gewundert. Du warst knapp wiederzuerkennen, so hattest +Du Dich verändert. Ja, mit der Liebe ist das ein +wunderlich Ding.</p> + +<p>Du denkst nun natürlich: Was weiß die dumme +Deern davon? Lieber Bruder, ich weiß mehr davon +als Du denkst. Denn auch meine Stunde hat geschlagen.</p> + +<p>Du wirst dich sehr wundern, aber ich bitte Dich, +behalte ruhig Blut und sei mir nicht böse. Vergiß +nicht, was Du mir versprochen hast: in diesem Stück +wollten wir uns beide ganz und gar zufrieden lassen. +Ich freue mich mit Dir, freu Du Dich mit mir!</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_286">[S. 286]</span></p> + +<p>Du wirst nun gerne wissen wollen, wer es ist. Als +ich im Sommer mal im Bürgerpark spazieren ging, traf +ich unseren alten Schulkameraden Hermann wieder, und +wir beide sind eins geworden, daß wir ein Paar werden +wollen. Die Hochzeit soll noch vor Weihnachten +sein, denn wir sind ja beide alt genug, er über dreiundzwanzig +und ich bald neunzehn, und jung gefreit hat +noch niemand gereut.</p> + +<p>Du hast von Kindesbeinen an einen Pik auf Hermann +gehabt, und das ist beinah das einzige, was ich +nie an Dir leiden mochte. Du kannst doch nicht verlangen, +daß alle Menschen genau so sind wie Du. +Glaub mir, Gerd, ich kenne ihn besser als Du und weiß +auch, daß er seine Fehler hat, gerade so wie ich und Du +und alle Menschen. Aber im Grunde ist er nicht unrecht, +und die Hauptsache ist, er hat mich schrecklich +lieb, und ich ihn desgleichen. Wir beide haben uns +gerade so lieb, wie Du und Sine euch habt, und darum +darfst Du nun auch keine Widerworte machen. Lieber +Bruder, Du hast mir viel Gutes getan und sozusagen +Vater- und Mutterstelle an mir vertreten. Nun +tu mir auch die Liebe an, daß Du mir hierzu Deinen +Segen gibst. Ich kann nicht eher wieder ruhig werden, +als bis Du mir geschrieben hast.</p> + +<p>Ich freue mich so, daß Du Dir die Stelle am Achterdamm +gekauft hast. Sie ist ja von unserer abgeteilt +und hat vor vierzig Jahren noch dazu gehört, wie Hermann +mir erzählt hat. Wie schön ist das, daß wir +beide, die wir immer so treu zusammengehalten haben, +wie man es bei Geschwistern nicht häufig findet, nun +<span class="pagenum" id="Seite_287">[S. 287]</span> +für das ganze Leben Nachbarn werden sollen! Und ich +denke, wir wollen die beste Nachbarschaft halten. Dein +Sinchen will ich tüchtig lieb haben, und wenn die +beiden Alten mich mal ärgern, wutsche ich schnell zu +Euch hinüber, und Ihr tröstet mich. Aber das wird +wohl gar nicht nötig sein, ich gehöre nicht zu denen, +die immer gleich den Kopf hängen lassen, ich will die +alten Brummbären wohl zahm kriegen.</p> + +<p>Hermann spricht immer sehr nett und lieb von Dir +und trägt Dir gar nichts nach. Ihr müßt noch die +besten Freunde werden, eher laß ich Euch keine Ruhe. +Jetzt ist er im Manöver und hat mir schon zweimal +geschrieben.</p> + +<p>Schreibe bald wieder, oder noch besser ist's, Du +kuckst mal vor, wo Du jetzt gewiß doch oft mit Torf +in die Stadt kommst. Vor Frau Marwede brauchst +Du keine Bange zu haben, die hat mich die längste Zeit +geärgert. Die wird schöne Augen machen, wenn sie +erst Bescheid weiß!</p> + +<p>Es grüßt Dich in Liebe</p> + +<p class="mright5">Deine Schwester Leidchen.«</p><br> +</div> + +<p>Beim Schreiben wurde ihr leicht und froh ums +Herz, und als sie den Brief noch einmal durchflog, gefiel +er ihr sehr gut. Wehmütig lächelnd dachte sie +daran, wie einst in der Schule Lehrer Timmermann, +wenn er allerlei erdachte Fälle in Briefen behandeln +ließ, unter die ihren fast immer eine schöne rote 1 +setzen mußte.</p> + +<p>Sie beschloß, den Brief, nachdem sie ihn mit<span class="pagenum" id="Seite_288">[S. 288]</span> +Umschlag und Adresse versehen hatte, noch in den +nächsten Postkasten zu stecken, und machte sich auf +den Weg.</p> + +<p>Aber auf der Straße kamen ihr Bedenken. Gerd +hatte ja seine besonderen Pläne mit ihr, und sein +Widerwille gegen Hermann war tief eingewurzelt. +Wenn er sich zwischen sie und ihn steckte, konnte er das +größte Unheil anrichten.</p> + +<p>Ach was, sagte sie sich dann wieder, er weiß jetzt ja +selbst, wie's verliebten Leuten ums Herz ist, und muß +endlich wissen, wie die Dinge liegen, und schob den +Brief in den Schlitz des blauen Kastens.</p> + +<p>Aber auf einmal zog sie ihn wieder heraus. Es +war am Ende doch besser, mit dem Absenden bis morgen +zu warten.</p> + +<p>Der Brief wurde aber am nächsten Tage nicht abgeschickt +und auch die folgenden nicht. Es erschien ihr +nun auf einmal wieder leichter und vorteilhafter, die +Angelegenheit mündlich mit dem Bruder abzumachen. +Er konnte ja jeden Tag mal wieder bei ihr vorsprechen, +und so wartete sie fortan auch auf ihn.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Der schöne, warme Herbstsonntag hatte Scharen von +Menschen ins Freie gelockt. Wie eine Völkerwanderung +wogte es die breite Allee dahin, Schüler, Liebespärchen, +junge Eheleute, ihren Erstling zwischen sich +oder im Wägelchen schiebend, behäbige Bürgerfamilien +mit allerlei Anhang, alles in behaglichster Sonntagnachmittagstimmung.</p> + +<p>Da, wo die Allee den Bürgerpark erreicht, stand ein<span class="pagenum" id="Seite_289">[S. 289]</span> +junges Mädchen mit suchenden Augen und ließ den +Strom an sich vorüberziehen.</p> + +<p>Hinter einer breit watschelnden Madam blitzten +Uniformknöpfe auf. Die Wartende trat hastig ein +paar Schritte vor, blieb dann aber enttäuscht stehen. +Es war ein Fremder, der mit seinem glücklich zu ihm +aufschauenden Mädchen daherkam.</p> + +<p>Die Uhren in der Stadt schlugen halb. Es war +töricht, jetzt schon so angestrengt zu warten. Sie hatten +vor dem Manöver ja verabredet, sich um vier am Holler +See zu treffen. Vor der ausgemachten Zeit war er +nie gekommen, aber stets militärisch pünktlich auf die +Minute.</p> + +<p>Leidchen setzte sich auf eine Bank, die eben frei +wurde, von der aus sie den Menschenstrom im Auge +behielt. So oft eine Uniform auftauchte, klopfte ihr +das Herz.</p> + +<p>Ein bejahrtes Ehepaar kam angewandelt und ließ +sich freundlich nickend zu ihr auf der Bank nieder.</p> + +<p>»Sie warten wohl auf jemand, liebes Fräulein?« +fragte der alte Herr nach einer Weile.</p> + +<p>Leidchen sah in ein vertrauenerweckendes, gütiges +Großvatergesicht, das ein kurzgeschnittener silberner +Backenbart umrahmte. »Ja,« sagte sie erleichtert aufatmend, +»mein Bräutigam muß jeden Augenblick +kommen.«</p> + +<p>Der alte Mann lächelte fein, wie aus glücklicher +Erinnerung heraus, legte seiner greisen Lebensgefährtin +die Hand aufs Knie und trällerte leise: »Im Rosengarten +will ich deiner warten, im grünen Klee, im<span class="pagenum" id="Seite_290">[S. 290]</span> +weißen Schnee.« Und in den umschleierten, tief in +Falten eingebetteten Augen der würdigen Matrone erschien +das gleiche erinnerungsselige, stille Lächeln. Es +war Leidchen, als müßte sie die beiden Leutchen sehr +lieb haben.</p> + +<p>Vier Uhr schlug's von den Türmen, und sie sandte +einen langen Blick die Allee hinunter.</p> + +<p>»Ihr Schatz scheint nicht recht pünktlich zu sein,« +sagte der alte Herr, seine Uhr ziehend. »Als ich noch +jung und schön war, hab' ich mein Lieb nicht so lange +warten lassen. Nicht wahr, Oma?«</p> + +<p>»Er ist Bursche bei einem Hauptmann,« sagte Leidchen, +den Säumigen entschuldigend, »der hat ihn wohl +nicht früh genug laufen lassen.«</p> + +<p>»Ach so ... ja, ja ... und überhaupt die Herren +Soldaten ...«</p> + +<p>Sie unterbrach ihn schnell: »Wir beide sind aus +einem Dorf und haben uns schon von der Schulbank her +gern. Mein Bräutigam ist der Sohn von unserm +Müller und erbt mal die Mühle, eine große, starke +Windmühle, und eine Stelle von sechzig Morgen +dazu.«</p> + +<p>»Das ist was anderes,« sagte der Alte achtungsvoll.</p> + +<p>»Und die Hochzeit,« fuhr Leidchen fort, »soll noch vor +Weihnachten sein. Ich freu' mich mächtig, daß ich wieder +in unser Moor komme, hier in der Stadt mag ich +gar nicht sein.«</p> + +<p>»Aber ich bitt' Sie, liebes Kind, unser Bremen! ...«</p> + +<p>»Nee, nee, bei uns im Moor ist's viel schöner, zehnmal +so schön!« Und sie berichtete vom Torfbacken daheim<span class="pagenum" id="Seite_291">[S. 291]</span> +und vom Heuen an der Hamme und von der +Spinnstube winternachmittags. Als sie mit klagender +Stimme erzählte, daß beide Eltern ihr früh gestorben +wären, sah die alte Dame sie mitleidig an, und da begann +sie, ihrem Bruder Gerd ein Loblied zu singen. +Er wäre so ganz anders als die anderen jungen Leute +im Dorf, läse viel in Büchern, auch in sehr schweren; +was er an ihr getan hätte, in kindlichen Jahren und +auch später, das könnte sie niemals wieder gut machen. +Jetzt wäre er auch verlobt und hätte sich vom Ersparten +eine kleine Stelle von achtzehn Morgen gekauft. So +plauderte sie drauflos, wie das Rieselwasser am Klappstau; +denn wenn sie aufhörte, fürchtete sie, würden die +beiden aufstehen und weitergehen, und ihr war doch +lange nicht so wohl gewesen wie unter dem stillen Blick +der gütigen alten Augen, und sie empfand es überaus +wohltuend, daß sie sich nach den einsamen drei Wochen +endlich einmal aussprechen konnte. Und die lieben +alten Menschen lächelten, nickten, stellten Fragen, +machten kleine Scherze und hatten viel Geduld, ihr +zuzuhören.</p> + +<p>Zuletzt war diese aber doch wohl zu Ende, sie erhoben +sich, drückten ihr herzlich die Hand, wünschten vergnügte +Hochzeit und glücklichen Ehestand und gingen. +Leidchen sandte ihnen warme Blicke nach, bis sie um +eine Rhododendrongruppe verschwanden, und dachte: +wenn sie statt zu Marwedes zu solchen Leuten ins Haus +gekommen wäre!</p> + +<p>Da schlug's schon halb fünf! Warum in aller Welt +mochte Hermann so lange auf sich warten lassen?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_292">[S. 292]</span></p> + +<p>Sollte sie sich in Ort und Zeit geirrt haben? Unmöglich! +Sie hatte sich beide ja fast stündlich wiederholt.</p> + +<p>Und er konnte die Verabredung doch auch nicht falsch +verstanden oder vergessen haben. Dann verdiente er +ja ...</p> + +<p>Vielleicht konnte er nicht abkommen, weil sein Hauptmann +wieder mal Gesellschaft gab, wodurch früher einmal +eine Verabredung hinfällig geworden war. Aber +am Tag nach dem Manöver? Das war sehr unwahrscheinlich.</p> + +<p>Oder? ...</p> + +<p>Sie erschrak vor diesem Oder und taumelte davor +zurück wie vor einem Abgrund.</p> + +<p>Nein, und abermals nein, und tausendmal nein!</p> + +<p>Lieber glauben, daß in einer Viertelstunde die Welt +untergeht, als dies!</p> + +<p>Warum hatte er aber sein Versprechen, jeden zweiten +Tag einen Gruß zu schicken, so schlecht gehalten?</p> + +<p>Und war er die letzten Wochen vorm Manöver nicht +manchmal so ganz anders gegen sie gewesen wie im +Anfang, gleichgültiger, kälter?</p> + +<p>Ach nein, das schien ihr jetzt gewiß nur so, und er +hatte ja damals auch alle Hände voll zu tun gehabt. +Beim Abschied, wie hatte er sie da wieder geküßt und +an sich gedrückt ...</p> + +<p>Aber warum ließ er sie denn jetzt so warten, warum +kam er nicht?</p> + +<p>Die Turmuhren verkündeten eine Viertelstunde nach +der anderen. Die wilden Tauben flogen zu ihren +Schlafplätzen, auf dem Teich, der im Widerschein rosiger<span class="pagenum" id="Seite_293">[S. 293]</span> +Abendwolken glänzte, zogen Schwäne ruhevoll ihre +schimmernde Bahn. Die Mehrzahl der Spaziergänger +war jetzt stadtwärts gewendet.</p> + +<p>Ein junger Mann blieb fade lächelnd vor ihr stehen, +drehte seinen Schnurrbart, lobte das hübsche Wetter +und die weißen Schwäne und wollte sich vertraulich zu +ihr setzen.</p> + +<p>Da stand sie auf und befand sich bald in dem bunten +Strom, der sich der Stadt zu bewegte.</p> + +<p>Vor ihr pilgerten zwei tagenbarne Bürgerfamilien, +die sich eben erst getroffen haben mochten und ihre +Unterhaltung recht laut führten, wie Leute, die ihrer +Gesinnungstüchtigkeit, Steuerkraft und sonstigen Bedeutung +für das Gemeinwesen sich voll bewußt sind. +Leidchen hörte zuerst nicht hin, bis der dickere der Väter, +ein Mann mit rotem Gesicht und gutmütigen Kulpsaugen, +bedauernd sagte: »Das arme Ding, es kann +einem herzlich leid tun,« und eine blecherne Stimme, +die unter einer spitzen weiblichen Nase hervorkreischte, +entgegnete: »Sie ist selber schuld daran, sie hat's nicht +besser haben wollen.«</p> + +<p>Diese Worte brannten sich ihr wie glühendes Eisen in +die Seele, es war, als wollten die Füße ihren Dienst +versagen.</p> + +<p>Hinter der Bahnunterführung teilte sich die Menge +hierhin und dorthin.</p> + +<p>Jetzt nach Hause? Mit der qualvollen Ungewißheit +auf die enge Dachkammer, der langen Nacht entgegen?</p> + +<p>Um alles nicht! Sich zusammenraffend schlug sie mit +entschlossenen Schritten die Richtung nach dem südöstlichen<span class="pagenum" id="Seite_294">[S. 294]</span> +Stadtviertel ein, wo in einer der Straßen, die +rechtwinklig auf den Weserdeich stoßen, Hermanns +Hauptmann seine Wohnung hatte. Er selbst hatte sie +ihr einmal gezeigt.</p> + +<p>Als sie nach längerem Suchen das Haus gefunden +hatte, flog ihr Blick zu dem Fenster seines Mansardenstübchens +hinauf, das geöffnet war. Dort oben war er +heute nachmittag sicher nicht.</p> + +<p>Im Kellergeschoß lag die schon erleuchtete Küche, +durch einen dünnen Gazevorhang konnte man hineinsehen. +Die Köchin stand am Herd und summte eine +fremde Weise. Der Späherin schaffte es eine leise Genugtuung, +daß die Person dick und häßlich war. Von +dieser Seite drohte gewiß keine Gefahr.</p> + +<p>Leidchen zweifelte nicht daran, daß Hermann in die +Stadt gegangen war, und beschloß zu warten, bis er +nach Hause käme. Morgen wurden die alten Mannschaften +entlassen, und vorher wollte und mußte sie ihn +sprechen, wenn sie auch die ganze Nacht hier warten sollte.</p> + +<p>Sie schritt die vornehm ruhige Straße auf und ab, +Bedacht nehmend, daß sie sich nicht weiter als drei oder +vier Häuser von dem, dessen Tür sie bewachte, entfernte. +Wenn einmal ein Schritt durch die Stille klang, +blieb sie stehen und spähte in die Richtung, woher er +kam. Eine Weile horchte sie, an ein Eisengitter gelehnt, +auf das Klavier, das in einem der Nachbarhäuser +mit großer Fertigkeit gespielt wurde und ihr +leichter über eine halbe Stunde Wartens hinweghalf. +Einmal stieg sie den nahen Osterdeich hinan, und der +kühle Hauch, der von drüben wehte, der Blick auf den<span class="pagenum" id="Seite_295">[S. 295]</span> +in der Tiefe ziehenden Strom und zum jenseitigen Ufer +hinüber, wo auf den Weiden Kühe im Nebel ruhten, +taten wohl und belebten ein wenig ihr Hoffen.</p> + +<p>Die Uhr der nicht weit entfernten Friedenskirche rief +die Stunden aus. Eine Haustür nach der anderen +wurde abgeschlossen. Fenster um Fenster verdunkelte +sich. Ein Schutzmann ging vorüber und sah der Wartenden +prüfend scharf ins Gesicht. Die Straße wurde +immer einsamer und stiller.</p> + +<p>Vom Stehen und Gehen, von Hunger und Durst, +von der stets neu aufflackernden Hoffnung, wenn ein +Schritt erschallte, und den darauf folgenden Enttäuschungen +wurde sie zuletzt so müde, daß sie sich kaum +noch auf den Füßen halten konnte. Durch das fiebernde +Hirn jagten sich Erinnerungen und Bilder: Die Bootfahrt +durch die lichtgrünen Hallen ... das Hünengrab +... die schwüle Gewitternacht im Bürgerpark ... +die gütigen alten Augen vom Holler See ... die +blecherne Stimme: sie hat's nicht anders gewollt ... +bis endlich eine große Öde und bleierne Müdigkeit +über sie kam und sie nach nichts mehr verlangte als +nach körperlicher Ruhe. Langsam, auf wehen, schwankenden +Füßen, verließ sie ihren Posten.</p> + +<p>Aber die nächste Straßenecke hatte sie noch nicht +erreicht, als sie zusammenzuckte, stehenblieb und vornübergeneigt +horchte. Schwere Schritte klangen laut +durch die mitternächtliche Stille. Im Schein einer +Laterne blitzen Uniformknöpfe und der Beschlag eines +Seitengewehrs.</p> + +<p>Sie vertrat dem Ankommenden den Weg.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_296">[S. 296]</span></p> + +<p>»Hermann!«</p> + +<p>»L..l... leidchen, du hier?«</p> + +<p>»Darüber wunderst du dich? Von halb vier an hab' +ich auf dich gewartet.«</p> + +<p>»Pst, schrei doch nicht so, hier wohnen überall +L... leute.«</p> + +<p>»Gleich sagst du mir, wo du gewesen bist!«</p> + +<p>»Pst, Deern, man sinnig, immer ruhig Blut. Du +weißt doch, es ist heut' der letzte Tag, daß ich Soldat +bin. Morgen reisen meine Kameraden in alle Welt +auseinander. Da haben wir natürlich ein bißchen +A... abschied[*spacing?] gefeiert.«</p> + +<p>»Und du hast so viel getrunken, daß du kaum sprechen +kannst.«</p> + +<p>»Was? So'n kleines Vergnügen gönnst du einem +nicht mal und lauerst mir hier die halbe Nacht auf, um +mich auszuschimpfen?«</p> + +<p>»Oh, Hermann, wenn du wüßtest, wie ich mich nach +dir gesehnt habe!«</p> + +<p>»Das ist alles ganz gut und schön, aber jetzt mußt du +mich vorbeilassen. Es ist schon über die Zeit, ich fliege +sonst zu guter Letzt noch drei Tage in den Kasten.«</p> + +<p>Sie gab ihm aber den Weg nicht frei. »Hermann ... +ich muß dir ... noch was sagen,« kam es abgerissen +und stoßweise über ihre bebenden Lippen.</p> + +<p>»Denn raus damit, aber fix!«</p> + +<p>Sie näherte ihren Mund seinem Ohr und flüsterte +hastig ein paar Worte.</p> + +<p>Er lachte heiser auf: »Deern, du glaubst wohl, daß +altes Militär sich noch ins Bockshorn jagen läßt?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_297">[S. 297]</span></p> + +<p>Ihre Augen wurden groß und starr: »Es ist so gewiß +wahr, als ich hier vor dir stehe.«</p> + +<p>Sein nägelbeschlagener Stiefelabsatz schlug auf die +Steinfliesen, daß der Schall die Straße hinabsprang +und von einer Ecke zurückgeworfen den gleichen Weg +noch einmal machte. »Verdammte Bescherung!« +knirschte er zwischen den Zähnen und stieß sie unsanft +von sich. Sie taumelte, tastete nach dem Eisengitter +und brach vor seinen Füßen zusammen.</p> + +<p>Entsetzt und plötzlich ernüchtert beugte er sich zu der +am Boden Liegenden: »Aber Leidchen ... was machst du +für Geschichten ... steh' doch auf ... wenn jemand käme!«</p> + +<p>Da sie kein Lebenszeichen von sich gab, ließ er sich +zu ihr auf die Steine nieder, hob ihren Kopf auf sein +Knie, streichelte ihr Stirn und Schläfen und rief sie +beim Namen.</p> + +<p>Nach einer Minute erwachte sie aus der Ohnmacht +und schlug die Augen auf.</p> + +<p>»Aber Leidchen, mein liebes, süßes Leidchen, was +hast du mich verjagt! Vergib mir tausendmal, du mußt +bedenken, das viele Bier ... die Verführung ist zu groß +in der Welt. Aber nun steh' auf ... wenn uns einer +hier sähe ... ich helf' dir. So—o ... siehste, es geht +schon wieder, stütz dich man fest auf mich, ich steh' jetzt +schon wieder ganz fest auf den Füßen und bringe dich +nach Hause. Wir gehen über den Osterdeich, da weht +immer ein frischer Wind, der wird dir gut tun ... Und +was du mir da erst gesagt hast, bleib' ruhig, Kind, das +ist ja gar nichts Schlimmes, und ich bin darüber nur so +erschrocken, weil es so unverhofft kam, und weil ich ein<span class="pagenum" id="Seite_298">[S. 298]</span> +bißchen zuviel getrunken habe. Dann weiß der Mensch +nicht, was er sagt und tut ... Ah! die frische Luft von +der Weser her ... nicht wahr, Kind, die tut dir +wohl? ... Mir auch, woll'n mal den Brustkasten ordentlich +voll nehmen ... Kuck mal, da fährt noch ein kleiner +Dampfer, hat zwei Schleppkähne hinter sich, kommen +wohl von Minden, oder auch schon von Hameln ... +Morgen früh geht's ja nach Hause, das heißt, wenn +ich nicht erst noch drei Tage zu Vater Philipp muß, +aber werd' man nicht bange, es hat ja noch immer, +immer gut gegangen. Was blinkt so freundlich in +der Ferne? Es ist das liebe Elternhaus. Sie werden +sich erst wohl ein bißchen sperren, aber das kann ihnen +nun alles nichts mehr helfen. Weißt du, was so 'n richtiger +alter preußischer Militärsoldat ist, der steht auf +seinem Stück: Vorwärts mit Gott für König und +Vaterland! Anders gibt's da nichts, und wird nicht mit +der Wimper gezuckt.«</p> + +<p>»Hermann, Hermann, du machst so schrecklich viele +Worte.«</p> + +<p>»So? Ja, aber du hast mich auch zu schlimm verjagt. +Ich hatte dich doch man eben angetippt und +pardauz lagst du da. Wenn das einer gesehen hätte!«</p> + +<p>»Und wann willst du mit deinen Eltern sprechen?«</p> + +<p>»Natürlich gleich morgen abend.«</p> + +<p>»Dann mußt du mir aber gleich schreiben.«</p> + +<p>»Versteht sich. Oder ich komm' per Rad. Wie's gerade +paßt.«</p> + +<p>»Oder soll ich lieber übermorgen nachgereist +kommen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_299">[S. 299]</span></p> + +<p>»Nee, Leidchen, lieber nicht, mach' bloß keine Geschichten! +Du bist viel zu hitzig, und die Sache mit +meinen Alten, weißte, die muß fein eingefädelt werden, +das muß einer kennen.«</p> + +<p>»Und dann könntest du auch wohl gleich zu meinem +Bruder gehen.«</p> + +<p>»Ja, ja, wird gemacht.«</p> + +<p>»Aber du sagst ihm bloß, daß wir uns verlobt haben +und bald Hochzeit halten wollen ... Alles braucht er +nicht zu wissen.«</p> + +<p>»Das mein' ich auch. Was er nicht weiß, das macht +ihn nicht heiß.«</p> + +<p>»Und wann soll die Hochzeit sein?«</p> + +<p>»Wenn Vater und Mutter nur erst ja gesagt haben, +kann die Sache gleich vorwärts gehen. Ich denk', im +November, oder sonst im Dezember. Das ist ja wohl +noch früh genug. Dann kannst du bei der Trauung +auch noch dreist 'n Kranz aufsetzen ...«</p> + +<p>»... Was meinst du zu der Aussteuer? Bei uns im +Moor sind in diesen Monaten so viel Hochzeiten, und +die Handwerksleute kommen nicht dagegen an. Ich +glaube, wir kaufen sie am besten fertig, im Kloster oder +auf dem Weiher Berg.«</p> + +<p>»Wie du schon an alles gedacht hast!«</p> + +<p>»Woran hat unsereins denn sonst zu denken? ... +Beinahe dreihundert Taler hab' ich von Mutter selig +geerbt. Dafür ist schon allerhand zu haben. Und einen +Schrank voll Leinen hab' ich auch, von Mutterseite her, +und was ich mir selbst dazu gewebt habe.«</p> + +<p>»Ja, das ist 'ne ganze Masse.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_300">[S. 300]</span></p> + +<p>»Viel ist's ja nicht für Leute, wie ihr seid, aber du +hast ja immer gesagt, ich brächte sonst allerlei mit, was +für kein Geld zu kaufen wäre. Sag' deinen Eltern, ich +würde ihnen jeden Wunsch an den Augen ablesen. Und +du mußt auch immer nett gegen sie sein, Hermann, +mußt auch mal nachgeben und nicht immer mit dem +Kopf durch die Wand wollen. Es gibt nichts Schrecklicheres, +als wenn in einem Hause die Alten und +Jungen nicht miteinander auskommen können, und +dies Trauerspiel wollen wir nicht aufführen ... Wenn +du heut' nachmittag gekommen wärst, hätten wir +das alles viel ruhiger und gründlicher durchsprechen +können. Jetzt sind wir beide zu aufgeregt, ich von +dem schrecklichen Warten, und du? ... ach, es ist ja +einerlei ...«</p> + +<p>Sie war stehengeblieben und fuhr fort: »So, nun +kann ich allein nach Hause gehen.«</p> + +<p>»Soll ich dich doch nicht lieber ganz hinbringen?« +fragte er unsicher.</p> + +<p>»Nein, du kannst gleich umkehren, meinetwegen sollst +du nicht in Arrest. Aber komm hier noch eben mit unter +diese Laterne ... ich möchte dir gern mal in die +Augen sehen ... So ... Ach wenn ich dir doch bloß ins +Herz kucken könnte! ... Hermann, wenn du in deinem +Herzen beschlossen hast, mich in meiner Not zu verlassen, +dann bitt ich dich nur um eins: mach' gleich +ganze Arbeit. Hier bei der Großen Weserbrücke haben +sie vorige Woche ein armes Mädchen aus dem Wasser +gezogen, das hatte auch ein schlechter treuloser Mensch +in den Tod getrieben. Hermann, wenn du deine Eidschwüre<span class="pagenum" id="Seite_301">[S. 301]</span> +nicht halten willst ... hier steh' ich und wehr' +mich nicht, nimm das Messer, das du da an der Seite +hängen hast, und stich mich durchs Herz und wirf mich +da hinein!«</p> + +<p>»Leidchen, Leidchen,« rief er in fast weinerlichem +Tone, »was schnackst du da von Totstechen! Wie kannst +du bloß so was von mir denken? So bist du doch sonst +nicht gewesen.«</p> + +<p>»Nein, <em class="gesperrt">du</em> bist sonst nicht so gewesen ...« sagte sie +traurig. »Wir haben uns drei Wochen nicht gesehen, +und du hast mich noch nicht mal geküßt.«</p> + +<p>»Och Leidchen, das hab' ich ganz vergessen.«</p> + +<p>»Ja, das hast du ganz vergessen ...«</p> + +<p>»Aber wir können das ja nun zum Abschied nachholen.«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf: »Ach, laß man.«</p> + +<p>»Leidchen, kannst du nicht vergeben? Hast du mich +gar nicht mehr lieb?«</p> + +<p>Da warf sie sich ihm stürmisch an die Brust und +küßte ihn leidenschaftlich. Dann sahen sie sich noch einmal +mit langem Blick in die Augen, ihre ineinander +verschlungenen Hände lösten sich, und jeder ging seinen +Weg. Er in der Richtung, aus der sie gekommen waren, +sie über die Große Weserbrücke und den glitzernden +Strom der Neustadt zu.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_302">[S. 302]</span></p> +<h2 class="s2">16.</h2> +</div> + +<p>Frau Marwede vermied bei ihrem respektabeln +Doppelzentnergewicht das Treppensteigen nach +Möglichkeit. Als das Fräulein aber gar nicht erscheinen +wollte und das Dienstmädchen auf ihr Rufen nicht kam, +arbeitete sie sich doch einmal, mit der rechten Hand am +Geländer sich emporziehend und mit der linken abwechselnd +die Knie verstärkend, in das Dachgeschoß +hinauf. Sie wäre wohl mit lautem Morgensegen und +großem Hallo in Leidchens Kammer gebrochen, wenn +der Atemmangel sie nicht gezwungen hätte, erst mal +erschöpft und hachpachend auf den Stuhl vor ihrem +Bett zu sacken. Inzwischen verrauchte ihr Zorn, nicht +ohne Wohlgefallen betrachtete sie das schöne Kind und +besorgte das Wecken durch zärtliches Kneifen in den auf +der Decke liegenden Arm.</p> + +<p>Leidchen fuhr in die Höhe und fragte erschrocken: +»Wieviel ist die Uhr?«</p> + +<p>»Gleich acht, du Langschläferin,« gab Frau Marwede +zur Antwort. Dann hob sie warnend die dicke Hand +mit dem kurzen Zeigefinger: »Mädchen, Mädchen, du +bist diese Nacht wieder so spät nach Hause gekommen. +Ich hab nach der Uhr gesehen, es war bald eins. Ich +gönne dir dein Vergnügen ja von Herzen, aber nimm +dich in acht. Du bist jung und unerfahren, und wenn +eine denn auch noch so hübsch ist ...«</p> + +<p>Leidchen war rot geworden. »Frau Marwede, Sie<span class="pagenum" id="Seite_303">[S. 303]</span> +brauchen nichts Schlechtes von mir zu denken. Ich war +mit einem aus meinem Dorf zusammen, wir beiden +haben uns schon lange gern.«</p> + +<p>»Und wollt euch heiraten?«</p> + +<p>»Versteht sich.«</p> + +<p>»Mädchen, du hättest man noch warten sollen. Eine +wie du hätte mit der Zeit auch wohl einen in der Stadt +gefunden.«</p> + +<p>Leidchen versetzte eifrig: »Oh, Sie müssen nicht denken, +daß mein Bräutigam ein gewöhnlicher ›Jan vom +Moor‹ ist, wie man hier in Bremen sagt. Er bekommt +mal die große Windmühle in unserm Dorf, er ist dem +Müller sein einziger Sohn, und seine Mutter hat viel +Geld gehabt.«</p> + +<p>Frau Marwede zog die Augenbrauen hoch: »Ach so, +das ist was anderes. Dann kannst du wohl lachen, und +ich gratuliere dir vielmals. Aber nun rappel dich auf +und mach', daß du an deine Arbeit kommst.«</p> + +<p>Als die Frau gegangen war, blieb Leidchen noch +einige Minuten, die Hände unter dem Kopf, liegen.</p> + +<p>Da trafen Pfeifen- und Trommelklänge ihr Ohr. +»Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus,« kam +es von den nicht weit entfernten Kasernen herüber. +Also jetzt wurden die Reservisten zum Bahnhof geführt. +Und Hermann stieg wohl bald auf sein Rad. In zwei +bis drei Stunden konnte er zu Hause sein. Und heut' +abend wollte er mit seinen Eltern sprechen ... In +bangem Atmen hob und senkte sich ihre Brust über dem +klopfenden Herzen.</p> + +<p>Den Tag über wollten öfters bittere Gedanken gegen<span class="pagenum" id="Seite_304">[S. 304]</span> +Hermann in ihr aufsteigen, die sie jedoch mit Gewalt +niederzuhalten suchte. Die Hauptschuld hatten gewiß +seine Kameraden. Ein bißchen leichtsinnig mochte +freilich er auch wohl sein, das lag am Ende schon vom +Vater her in ihm. Um so mehr brauchte er eine Frau, +die ihn zu nehmen wußte.</p> + +<p>Frau Marwede begegnete heute ihrem Fräulein, als +künftiger Mühlenbesitzersfrau, mit einer gewissen +Achtung. Auch gab sie Ratschläge für einen jungen +Hausstand und nannte Ausstattungsgeschäfte, in denen +man nicht nur billig, sondern auch gut kaufe.</p> + +<p>Als Leidchen am Nachmittag in der Stadt einiges zu +besorgen hatte, beeilte sie sich möglichst, um eine +Viertelstunde zu erübrigen, und trat in eins der ihr +empfohlenen Geschäfte, wo das Ladenfräulein ihr vieles +zeigen mußte. Den Stein ihres Ringes verbarg sie +so in der Hand, daß man ihn für einen Verlobungsreif +halten konnte, und beim Fortgehen versprach sie, nächstens +mit ihrem Verlobten wiederzukommen.</p> + +<p>Nach dem Abendbrot lud Frau Marwede sie ein, sich +mit ihrer Handarbeit zu ihr zu setzen. Aber sie schützte +Kopfweh vor und suchte ihre Kammer auf.</p> + +<p>Jetzt eben sprach gewiß Hermann mit seinen Eltern. +Der Gedanke verursachte ihr starkes Herzklopfen, und +Angstwellen liefen ihr durch den ganzen Körper. Als +die Unruhe immer größer wurde, dachte sie auf einmal +an den lieben Gott. Sie war ihm bislang mit ihren +Liebesangelegenheiten noch nicht gekommen. Zum +letztenmal hatte sie am Bett der kleinen Olga ernsthaft +seiner gedacht. Aber jetzt bat sie ihn mit gefalteten<span class="pagenum" id="Seite_305">[S. 305]</span> +Händen und geschlossenen Augen, er möchte ihr doch +nicht böse sein und alles zum Besten wenden. Da sie +merkte, daß sie dabei ruhiger wurde, nahm sie nach +einer Weile ihr Gesangbuch aus der Kommode. Das in +Leder gebundene und mit Goldschnitt versehene Buch +war ein Geschenk ihres Bruders zur Konfirmation, und +vorn hatte er hineingeschrieben: Dein Lebelang habe +Gott vor Augen und im Herzen, und hüte dich, daß du +in keine Sünde willigest, noch tust wider Gottes Gebot. +Wie jetzt ihr Blick auf diese Worte fiel, warf sie das +Buch ärgerlich hin und schalt den Bruder einen alten +Schulmeister.</p> + +<p>Aber die innere Unruhe schwoll aufs neue an, und +sie nahm es wieder zur Hand, um die »Kreuz- und +Trostlieder« aufzuschlagen. Sie las deren einige, die sich +ihr durch die Anfangsworte empfahlen: Sei stille, müd' +gequältes Herz ... Gib dich zufrieden und sei stille ... +Wer nur den lieben Gott läßt walten ... Hei, diesen +Gesang spielten daheim die Musikanten immer, wenn +im Dämmer der Großen Diele die Brautleute vor +dem blumengeschmückten, lichterbeglänzten Trautisch +standen! ...</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am nächsten Morgen fing sie an, auf den Briefträger +zu warten, obgleich sie sich sagte, daß unmöglich +schon Nachricht kommen konnte. Und sie wartete den +ganzen Tag. Und so den Mittwoch, und den Donnerstag, +mit wachsender Ungeduld und Spannung.</p> + +<p>Ob er wegen des Zuspätkommens am Sonntag doch +vielleicht noch drei Tage eingesperrt war?</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_306">[S. 306]</span></p> + +<p>Oder hatte der Höker, der zu Hause die Posthilfsstelle +verwaltete, den Brief liegen lassen? Rechter Verlaß +war auf den Mann nicht.</p> + +<p>Oder sollten die Müllersleute wirklich noch Schwierigkeiten +machen?</p> + +<p>Wenn die Briefbestellungszeit vorüber war, horchte +sie, so oft die Ladentür klingelte, ob unten nicht jemand +nach ihr fragte. Er hatte ja gesagt, vielleicht käme er +auch selbst herüber.</p> + +<p>Am Freitag, als sie gerade vor der Haustür fegte, +ging der Postbote nicht wie gewöhnlich vorüber, sondern +rief verheißungsvoll: »Fräulein Leidchen Rosenbrock.« +Sie riß ihm den Brief aus der Hand und flog +klopfenden Herzens damit die Treppe hinauf.</p> + +<p>Auf ihrer Dachkammer angekommen, zerriß sie mit +zitternden Fingern den Umschlag und las:</p> + +<p class="center">Liebe Schwester!</p> + +<p>Sie stutzte und sah nach der Unterschrift. Ach so—o, +der Brief war nur von ihrem Bruder. Bitter enttäuscht +ließ sie sich auf den Stuhl sinken.</p> + +<p>Was mochte der ihr denn zu schreiben haben ...</p><br> + +<div class="blockquot"> + +<p>»Eigentlich wollte ich heute nach Bremen und Dich +auch besuchen, aber es ist was dazwischen gekommen. +Nun muß ich Dir schreiben, was ich Dir bestellen soll. +Sei nächsten Sonntag um vier Uhr am Holler See, +vornan im Bürgerpark, die Stelle wirst Du wohl +wissen, aber pünktlich! Hoffentlich geht alles gut.</p> + +<p>Mit Gruß in Eile</p> + +<p class="mright5">Dein Bruder Gerd.«</p><br> +</div> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_307">[S. 307]</span></p> + +<p>Ein froher Glanz überstrahlte ihr Gesicht, tief aufatmend +ließ sie die Hand mit dem Papier in ihren +Schoß fallen.</p> + +<p>Also mit Gerd hatte Hermann sogar auch schon gesprochen! +Das war sicher ein gutes Zeichen. Und wie +ruhig der die Sache nahm!</p> + +<p>Warum er wohl nicht selbst geschrieben hatte? Nun, +Gerd hatte ihm gewiß gesagt, daß er zur Stadt müßte +und die Bestellung mitnehmen könnte.</p> + +<p>Den Platz am Holler See hatte er natürlich gewählt, +um es wieder gut zu machen, daß er sie am letzten +Sonntag dort vergeblich hatte warten lassen.</p> + +<p>Sie war überglücklich, schob den Brief in ihren +Busen und las die kurzen Zeilen den Tag über wohl +zehnmal. —</p> + +<p>Der Sonntag kam und mit ihm ein anhaltender +Landregen. Wie mit Mollen goß es vom Himmel, und +es war ein Wetter, daß man keinen Hund zum Hause +hinaus jagen mochte.</p> + +<p>Als Leidchen am Nachmittag Frau Marwede fragte, +ob sie ein bißchen ausgehen dürfte, sah diese sie mit +maßlos erstaunten Augen an.</p> + +<p>»Mädchen, bist du nicht recht klug? Bei <em class="gesperrt">dem</em> Wetter?«</p> + +<p>»Gerd hat mir geschrieben, ich muß ... Mein Bräutigam +ist da.«</p> + +<p>»Ach so, das ist was anderes. Aber sag' ihm, daß er +ein andermal hierherkommt. Dieses dumme Versteckspielen +hat jetzt doch keinen Zweck mehr. Nimm meinem +Mann seinen alten Regenschirm mit, er ist größer +als deiner und hält eher etwas aus.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_308">[S. 308]</span></p> + +<p>Es traf sich gut, daß sie an der nächsten Straßenecke +auf die Elektrische stieß, die sie quer durch die Stadt +an ihr Ziel brachte.</p> + +<p>Und da stand er auch schon, unter einem Regenschirm, +an dem das Wasser in blanken Bächen herunterlief. +Sie sprang mit bebenden Füßen von dem +noch nicht ganz haltenden Wagen und eilte, unter +Marwedes Familienschirm geduckt, auf ihn zu.</p> + +<p>Der andere Schirm hob sich. Sie prallte zurück.</p> + +<p>»Guten Tag, Fräulein Rosenbrock ...«</p> + +<p>»Guten Tag ...«</p> + +<p>»Wie geht's Ihnen?«</p> + +<p>»Oh ... gut ... Wie kommen Sie bei solchem Regen +hierher?«</p> + +<p>»Was einer sich vorgenommen hat, muß er auch ausführen +... Ich soll Sie auch vielmals grüßen.«</p> + +<p>»Von wem?«</p> + +<p>»Von Ihrem Bruder Gerd.«</p> + +<p>»Ach so ... Danke.«</p> + +<p>»Gehen wir vielleicht ein bißchen im Bürgerpark +spazieren?«</p> + +<p>»Bei solchem Wetter?«</p> + +<p>»Hm, es gibt ja Schutzhütten, und wir könnten auch +am Emmasee eine Tasse Kaffee trinken, oder auf der +Meierei, wo Sie am liebsten wollen.«</p> + +<p>»Herr Timmermann, mir ist ganz wirr im Kopf ... +ich begreif' nicht ... Ich muß hierbleiben ... ich warte +hier auf jemand.«</p> + +<p>»Nicht auf mich?«</p> + +<p>»Auf Sie?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_309">[S. 309]</span></p> + +<p>»Ja, hat Gerd Ihnen denn nichts davon geschrieben?«</p> + +<p>»Daß Sie hierher kommen wollten? Nein ... Ach, +nun geht mir ein Licht auf ... Nichts für ungut, hier +liegt ein Mißverständnis vor ... Gerd ist an allem +schuld, da hält gerade die Elektrische, ich will lieber +gleich mit in die Stadt fahren, es tut mir leid, aber +es regnet wirklich schlimm. Adieu!«</p> + +<p>Sie hatte den Wagen für sich allein und lief +zweimal von einem Ende bis zum anderen, ehe sie sich +niederließ.</p> + +<p>Sie ballte die Hand zur Faust. Wenn sie den +Bruder hier hätte! Was hatte der nun wieder für +Unfug angerichtet, mit seiner unglücklichen Sucht, ihr +Leben zu bestimmen. Mit den schönen Hoffnungen der +letzten beiden Tage war's also mal wieder nichts gewesen. +Morgen wurde es eine Woche, daß Hermann +zu Hause war, und noch hatte er nicht das geringste +Lebenszeichen gegeben. Es mußten sich da doch wohl +Schwierigkeiten erhoben haben.</p> + +<p>Die Frage des Schaffners: »Umsteigen?« stellte sie +vor die Entscheidung, wie sie den Nachmittag zubringen +sollte. Da die Elektrische gerade an einem Café +vorüberfuhr, das sie früher einige Male mit Meta +Stelljes besucht hatte, stieg sie an der nächsten Haltestelle +aus, ging die kurze Strecke zurück und trat in das +noch ziemlich leere Lokal, wo sie sich in ein Ecksofa +warf. Der Kellner, bei dem sie eine Tasse Kaffee bestellt +hatte, stellte auch den Aufsatz mit allerlei Gebäck +vor sie auf das Marmortischchen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_310">[S. 310]</span></p> + +<p>Die Hände im Schoß, grübelte sie dumpf vor sich +hin. Nach einer Weile fing sie auch an zu essen, fast +ohne sich dessen bewußt zu werden. Der Magen, der +am Mittag nicht zu seinem Recht gekommen war, ließ +sich jetzt einfach durch die Hände zuführen, was er +bedurfte.</p> + +<p>Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, das Café +füllte sich schnell mit lustigen Leuten, Männlein und +Weiblein, die sich die gute Laune nicht hatten verregnen +lassen. Auf dem Podium in der Mitte fand sich +eine Kapelle zusammen, der sehr jugendliche Direktor +trug lange schwarze Künstlerlocken und nahm sich ungeheuer +wichtig.</p> + +<p>Als die Musikanten ein ausgelassenes Operettenpotpourri +spielten, kam auf einmal das Gefühl grenzenloser +Verlassenheit und Einsamkeit über sie. Sie +hielt es in diesem Getriebe nicht länger aus, klingelte +mit dem Löffelchen den Kellner herbei, zahlte und ging.</p> + +<p>Es hatte aufgehört zu regnen. Die Laternen brannten +schon, ihr Licht spiegelte sich in dem feuchten Glanz +der Straßen. Die Luft war voll Regendunst, die tief +ziehenden Wolken schienen sich wie unförmige Säcke +dicht über den Häusern hinzuwälzen.</p> + +<p>Als sie eine Strecke gegangen war, trafen Glockenklänge +ihr Ohr. Sie ging dem Schall nach und stand +bald vor einer hohen alten Kirche mit bunten erleuchteten +Fenstern. Nach kurzem Schwanken trat +sie ein.</p> + +<p>Vom Widerhall der eigenen Schritte erschreckt, +drückte sie sich schnell in eine der ersten Bänke und hielt<span class="pagenum" id="Seite_311">[S. 311]</span> +Umschau. Die Kronleuchter strahlten helles Licht aus, +in den Wölbungen und Winkeln und auf dem Altarchor +herrschte trotzdem Dämmerung.</p> + +<p>Die Orgel setzte voll ein, und sie warf ihre ermattete +Seele in das brausende Meer der Töne. Dann sang +sie wacker mit, aus dem Gesangbuch, das der Kirchendiener +ihr überreicht hatte.</p> + +<p>Als der Pastor auf der schön geschnitzten Kanzel erschien, +wartete sie, wie sie es von den gottesdienstlichen +Feiern in Grünmoor her gewöhnt war, auf den Bibeltext. +Es wurde jedoch keiner verlesen, was sie nicht +wenig befremdete. Dann wartete sie, daß der Herrgott +oder der Herr Christus einmal mit Namen erwähnt +werden möchte, aber vergeblich. Von dem, was der +Prediger, unter reichlicher Anwendung von Goethesprüchen, +über Persönlichkeit und Persönlichkeitsbildung +vortrug, verstand sie nicht das mindeste, sodaß +sie das Hinhören bald aufgab und die quälenden +Gedanken in ihr wieder die Oberhand gewannen. +Als sie aber die Kirche verließ, grüßte aus einem +dämmerigen Winkel eine vertraute Gestalt, in Stein +gebildet, herüber, und das Wort: »Kommet her zu +mir alle, die ihr mühselig und beladen seid« huschte +wie ein erquickender Lichtstrahl durch ihre im Dunkeln +zagende Seele.</p> + +<p>Des Abends auf ihrer einsamen Dachkammer fühlte +sie plötzlich den Zwang in sich, in ihrer Sache irgend +etwas zu tun. Nach einigem Hinundherüberlegen erbrach +sie den Brief, den sie vor anderthalb Wochen an +ihren Bruder geschrieben hatte, und nachdem sie ihn gelesen,<span class="pagenum" id="Seite_312">[S. 312]</span> +beschloß sie, einen neuen zu schreiben. Sie schob +das Zierdeckchen auf ihrer Kommode zurück und begann:</p><br> + + +<div class="blockquot"> +<p class="center">Lieber Bruder!</p> + +<p>Du hast mir mal wieder einen schönen Streich gespielt. +Schreibst mir da einen Brief, aus dem kein +Mensch klug werden kann, ich bin so dumm und geh +hin, und Du schickst mir so mir nichts dir nichts den +Lehrer über den Hals. Er ist dadurch in große Ungelegenheit +gekommen, wofür er sich bei Dir bedanken +kann. Hab' ich Dir nicht hundertmal gesagt, daß ich +nichts von ihm wissen will? Warum glaubst Du mir +denn nicht? Kannst Du Dich denn gar nicht daran gewöhnen, +daß ich keinen Vormund mehr brauche?</p> + +<p>Ich habe immer gedacht, Du kucktest mal bei mir +vor; denn Du kommst in dieser Zeit doch gewiß oft mit +Torf in die Stadt. Aber jetzt, wo Du 'ne Braut hast, +bin ich natürlich Nebensache.</p> + +<p>Als Du vor fünf Wochen hier warst, wollte ich Dir +etwas sagen. Aber Du hattest keine Zeit und gingst +zu früh weg. Weil Du nun gar nicht kommst, kann ich +es Dir meinetwegen ja auch schreiben. Du mußt nämlich +wissen, daß ich auch verlobt bin, und zwar mit +Müllers Hermann. Weißt Du noch, auf dem Freimarkt? +Damals habe ich ihn schon gern gehabt; ja, ich +glaub' beinahe, sogar schon in der Schule. Diesen Sommer +haben wir uns zufällig wieder getroffen und verlobt. +Die Hochzeit soll noch vor Weihnachten sein, und +ich will Dir auch ehrlich gestehen, daß wir nicht länger +warten dürfen. Nun wirst Du natürlich wieder böse<span class="pagenum" id="Seite_313">[S. 313]</span> +und fängst an zu schimpfen, und hast ja auch wohl ein +bißchen Grund dazu, und mir ist es selbst nicht ganz +recht, wie das alles gekommen ist. Aber die Liebe ist +stark und das Fleisch schwach, und was geschehen ist, +ist nun mal geschehen. Wir sind alle Menschen und +fehlen mannigfaltig. Darum behalt Deine Strafrede +man für Dich und sieh lieber zu, wie Du mir helfen +kannst. Du mußt nämlich wissen, daß ich augenblicklich +in ziemlicher Angst und Sorge bin. Hermann ist +letzten Montag nach Hause gereist und wollte gleich am +selbigen Abend mit seinen Eltern sprechen und mir +dann sofort schreiben. Aber bis jetzt ist sein Brief nicht +gekommen. Es kann ja sein, daß er irgendwo liegen +geblieben ist, was ich beinah glaube; dann kommt er +am Ende morgen früh, denn heute war nur einmal Bestellung, +wegen der Sonntagsruhe. Es kann aber auch +einen anderen Grund haben, nämlich den, daß die alten +Müllers erst noch Sperenzien machen. Hermann sagt +freilich, es hülfe ihnen alles nichts, sie müßten einfach. +Aber er nimmt den Mund manchmal etwas voll. Er +ist ein grundguter, treuherziger Mensch, aber wohl ein +bißchen leicht, und nicht ganz so ehrenfest wie Du — +das darf ich ja ruhig schreiben, so lieb ich ihn auch +habe. Heute nachmittag kam mir sogar mal der Gedanke, +es wäre nicht unmöglich, daß nicht er die Eltern, +sondern die Eltern ihn herumkriegten. Auf so dumme +Ideen kann der Mensch kommen, wenn er sich allein +überlassen ist, jetzt lache ich natürlich schon wieder darüber. +Weißt Du, was ich mir da nun gedacht habe? +Wenn Du mal hingingst und mit ihm sprächest und ihm<span class="pagenum" id="Seite_314">[S. 314]</span> +den Rücken ein bißchen steif machtest — ich glaube, das +könnte er brauchen. Du darfst ihn aber ja und ja nicht +merken lassen, daß ich Dich hierum gebeten habe. Daß +ich überhaupt schon einmal daran gedacht habe, er +könnte mich sitzen lassen, das darf er um Gottes willen +nicht wissen. Lieber Gerd, nimm's mir nicht übel, daß +ich dies alles ...</p> + +<p>Der Bogen war voll, sie las ihn durch, nickte befriedigt, +korrigierte einige Schreibfehler und nahm +einen zweiten, auf dem sie fortfuhr: Dir so schreibe. +Aber ich hab' ja sonst keinen als Dich, und wenn der +Mensch in guten Tagen seine besten Freunde auch +manchmal gering achtet, in den bösen erkennt er, was +er an ihnen hat. Du brauchst vor Hermann gar nicht +bange zu sein, er trägt Dir nichts nach, er hat immer +anständig von Dir gesprochen und hält große Stücke +auf Deinen Charakter. Überhaupt ist er ein lieber +Mensch, und ihr müßt noch mal dicke Freunde werden, +eher laß ich Euch beiden keine Ruhe. Wenn Du +mir den Gefallen tust, werd ich Dir in alle Ewigkeit +dankbar sein. Wir sind hoffentlich bald Nachbarn, +und dann wird sich wohl eine Gelegenheit finden, das +wieder gut zu machen. Ich habe neulich schon einen +Brief geschrieben, hab' ihn aber nicht abgeschickt. +Denk' Dir, ich hatte auf einmal Angst vor Dir. Ist +das nicht komisch, Angst zu haben vor einem so lieben +Bruder, wie Du bist? Aber in der Einsamkeit kommt +der Mensch leicht auf allerhand dumme Grappen. Du +sollst den ersten Brief auch haben, ich lege ihn bei, wenn +ich dann auch zwanzig Pfennig aufbacken muß. Heute<span class="pagenum" id="Seite_315">[S. 315]</span> +nachmittag bin ich auch mal in der Kirche gewesen, es +war da sonst sehr schön, aber sie predigen hier zu hochstudiert, +und unsereins hat nicht ganz viel davon. Ich +freue mich, wenn ich erst in Grünmoor wieder hin kann, +denn es gehört doch so 'n bißchen mit dazu, wir werden +wohl meistens fahren, und Du und Sine könnt dann +mit aufsteigen. Grüße Hermann herzlich von mir und +schilt ihn aus, daß er mir noch nicht geschrieben hat, +aber mach's auch nicht zu schlimm. Und dann komm +bald mal vor, daß wir mal vernünftig über alles +sprechen können. Mit Dir kann man doch immer noch +am meisten anfangen.</p> + +<p>Es grüßt Dich</p> + +<p class="mright5">Deine Schwester Leidchen.</p><br> +</div> + +<p>Als sie den Doppelbrief in den Postkasten fallen +hörte, atmete sie erleichtert auf und sagte sich, nun wäre +ihre Sache in den besten Händen.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_316">[S. 316]</span></p> +<h2 class="s2">17.</h2> +</div> + +<p>Am Dienstagvormittag stand Leidchen auf der +Plättkammer, die neben ihrem Stübchen im Dachgeschoß +des Hauses lag und ließ das heiße Eisen über +die Leibwäsche der Marwedeschen Kinder gleiten. Sie +hatte Tür und Fenster geöffnet, denn die giftigen +Kohlengase verursachten ihr leicht Kopfweh.</p> + +<p>Eben dachte sie daran, daß um diese Stunde der +Postbote in Brunsode die Briefe bestellt, als unten auf +der Treppe ein Männerschritt laut wurde. Sie mußte +das schwere Plätteisen schnell auf den Untersatz stellen +und beide Hände auf den Tisch stemmen, um nicht in +die Knie zu sinken. Als aber die Schritte näher kamen, +fuhr sie sich mit der Hand über das Gesicht, ergriff das +Eisen wieder und stieß es hastig über das Hemd, das +sie gerade in Arbeit hatte.</p> + +<p>Gerds schmales Gesicht tauchte aus dem Treppenhause +auf, seine stahlblauen Augen blickten hart und +streng, die Lippen hatte er fest aufeinander gepreßt. Er +trat ohne Gruß ein.</p> + +<p>»Leidchen, was hast du vorgestern mit Timmermann +gehabt?«</p> + +<p>Obgleich der Schreck ihr in allen Gliedern saß, +machte sie ein schnippisches Gesicht: »Was soll ich mit +dem gehabt haben?«</p> + +<p>»Gestern mittag war ich bei ihm, um mich zu erkundigen. +Aus dem Zeug, was er redete, konnte ich +nicht klug werden. Aber soviel hab' ich verstanden: Du<span class="pagenum" id="Seite_317">[S. 317]</span> +hast ihn stehen lassen wie einen dummen Jungen und +bist mit der Elektrischen weggefahren.«</p> + +<p>»Ich möchte wissen, wer mir das verbieten will.«</p> + +<p>»Men—schens—kind! Wie kommst du dazu?«</p> + +<p>»Wie kommst <em class="gesperrt">du</em> dazu, mir den Menschen auf den +Hals zu hetzen?«</p> + +<p>»Leidchen!«</p> + +<p>»Hab' ich dir nicht oft und deutlich genug gesagt, +daß ich nichts mit ihm zu tun haben will?«</p> + +<p>»Aber du bist auf meinen Brief doch hingegangen.«</p> + +<p>»Das war ein Mißverständnis.«</p> + +<p>»Leidchen ... ich weiß nun bald wirklich nicht +mehr, was ich von dir denken soll. Der beste und treuherzigste +Mensch, der ganz andere Mädchen kriegen +kann als dich, macht sich bei dem fürchterlichen Wetter +auf die Beine und bietet dir seine Hand; ich sitze zu +Hause und kann mir vor Freude nicht helfen, kucke nach +der Uhr: jetzt ist's vier, jetzt haben sie sich, jetzt hat auch +Leidchen ihr Glück, und ein so großes, wie wir's uns +früher nicht haben träumen lassen, und derweilen machst +du's so, stößt eine solche Hand zurück wie ein Stück +Holz.«</p> + +<p>Sie stand indessen über den Tisch gebeugt und +plättete mit heftigen, klirrenden Stößen.</p> + +<p>Als er schwieg, sagte sie stoßweise: »Ich hab' dir +einen langen Brief geschrieben. Jetzt wirst du ihn wohl +haben ... Da steht alles drin.«</p> + +<p>»So? Ich denke doch, jetzt wo ich einmal hier bin, +machen wir die Sache mündlich ab.« Er zog einen +Stuhl heran und ließ sich nieder.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_318">[S. 318]</span></p> + +<p>»Das läßt sich nicht mit zwei Worten sagen.«</p> + +<p>»Dann nimm hundert, ich habe Zeit genug.«</p> + +<p>Sie hatte die Lippen trotzig geschürzt und schwieg.</p> + +<p>»Mit so einer fang' einer was an,« seufzte er und +sah sie befremdet und ratlos an. »Leidchen, hast du +denn alles Vertrauen zu mir verloren? Was hab' +ich dir bloß getan? Du schüttelst den Kopf. Also +nichts. Dann sei aber auch nicht so albern und komm +heraus damit ... Du machst ja beinah ein Gesicht, als +ob du ein böses Gewissen hättest.«</p> + +<p>»Das Eisen ist kalt geworden,« sagte sie hastig, nachdem +sie es mit angefeuchteten Fingerspitzen geprüft +hatte. »Wart' einen Augenblick, ich bin gleich +wieder da.«</p> + +<p>Seinen Blick meidend, stolperte sie an ihm vorüber. +Er sah ihr kopfschüttelnd nach und murmelte vor sich +hin: »Das ist doch rein zu doll mit solchen Frauensleuten. +Ob Sine auch so sein kann? Nee, ganz gewiß +nicht. Sonst müßt' einer sich die Sache wahrhaftig +noch mal überlegen.«</p> + +<p>Leidchen erschien wieder, und nachdem sie die Tür +hinter sich zugemacht und das Eisen auf den Untersatz +gestellt hatte, nahm sie die Hand ihres Bruders. »Gerd,« +sagte sie mit weicher, einschmeichelnder Stimme, »wir +haben uns noch gar nicht mal guten Tag gesagt.«</p> + +<p>»Süh, das ist auch wahr. Guten Tag, Leidchen.«</p> + +<p>Er hielt ihre Hand mit der Rechten und streichelte +sie mit der Linken. »Wie das kleine Pfötchen zittert +und bebt!« sagte er zärtlich. »Was hast du denn bloß, +lüttje Deern?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_319">[S. 319]</span></p> + +<p>»Bleib ruhig, ich will dir alles erzählen, du sollst +alles wissen.«</p> + +<p>Sie trat hinter den Tisch, prüfte das Eisen, das +jetzt zischte, und begann wieder zu plätten.</p> + +<p>»Weißt du noch, letztes Frühjahr, wie Meta Stelljes +sich verlobte und die kleine Olga starb?«</p> + +<p>»Ja, daran erinner' ich mich ganz gut.«</p> + +<p>»Ein paar Wochen später war mal ein schöner Sonntag, +und ich ging ein bißchen im Bürgerpark spazieren. +Denn für unsereine, die tagelang nicht aus dem Hause +kommt, ist so 'n bißchen frische Luft sehr gesund. Du +kannst dir das gar nicht so denken, weil ihr auf dem +Lande immer die gute Luft habt.«</p> + +<p>»Aber Deern, nun werd' bloß nicht weitläufig.«</p> + +<p>»Nun rat' mal, wen ich da im Bürgerpark traf.«</p> + +<p>»Nach Rätselraten ist mir heute wirklich nicht zu +Sinn.«</p> + +<p>»Denk dir: Müllers Hermann!«</p> + +<p>»Mül—lers Her—mann?« wiederholte er langsam +und gedehnt.</p> + +<p>»Du mußt's mir versprechen, daß du ganz ruhig +bleiben willst,« bat sie mit einem schnellen, flimmernden +Blick in seine Augen, »sonst kann ich dir nichts +erzählen.«</p> + +<p>»Aber Mädchen, ich höre dir ja ganz ruhig zu.«</p> + +<p>»Hermann war gerade eben aus Spandau wiedergekommen. +Er freute sich nicht wenig, als er mich zu +sehen kriegte, und ich freute mich natürlich auch. Denn +meine Freundschaft mit Meta Stelljes war aus und die +kleine Olga tot, so hatte ich damals keinen Menschen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_320">[S. 320]</span></p> + +<p>»Weiß ich, nun man weiter.«</p> + +<p>»Und so ganz allein in der Welt, das hält nicht +jeder aus, und auch meine Natur ist nicht danach ...«</p> + +<p>»Aber nun vorwärts, Deern, du vertüterst dich ja +ganz.«</p> + +<p>»Also wir fuhren zusammen im Kahn spazieren und +haben uns dann öfters getroffen und hatten uns bald +so lieb, daß wir nicht mehr voneinander lassen konnten. +Und zuletzt haben wir uns richtig verlobt.«</p> + +<p>»Hmhm ... Und was soll nun werden?«</p> + +<p>»Das ist mal 'ne dumme Frage. Wir halten nächstens +Hochzeit. Hermann ist jetzt eben hin und spricht +mit seinen Eltern.«</p> + +<p>»Deern, kuck mich mal an! ... Nee, nicht so halb +an mir vorbei, ordentlich frei ins Gesicht! Sag' mal, +bist du wirklich so von allen guten Geistern verlassen, +daß du dir einbilden kannst, die nehmen eine wie dich +als Tochter ins Haus?«</p> + +<p>»Warum nicht?«</p> + +<p>»Dumme Deern, darum verlier' ich überhaupt keine +Worte.«</p> + +<p>»Hermann sagt ...«</p> + +<p>»Ach was: Hermann sagt! Was Hermann sagt, ist +für die Katz.«</p> + +<p>»Gerd, überleg dir, was du sagst und von wem du +sprichst!«</p> + +<p>»Gut, Leidchen, wir wollen uns in der Sache gar +nicht weiter aufregen. Wenn die alten Müllers dir +ihren Segen geben, hast du meinen auch. Wir feiern +dann eine große vergnügte Hochzeit, und du siehst zu,<span class="pagenum" id="Seite_321">[S. 321]</span> +wie du mit den Leuten auskommst. Es mag ja sein, +daß Hermann im Grunde gar nicht so übel ist, wie ich +früher dachte. So ganz schlimm muß er ja wohl nicht +sein, sonst hättest du ihn gewiß bald laufen lassen ... +Bist du nun zufrieden?«</p> + +<p>Sie kam um den Tisch herumgefahren, schlug die +Arme stürmisch um seinen Hals und rief: »Lieber, +bester Bruder, was bist du gut!«</p> + +<p>Er wehrte sie etwas unsanft ab und fuhr fort: »Wir +sind noch nicht ganz fertig, mein' Deern. Wenn die +Müllersleute nun mal nicht wollen ... was dann?«</p> + +<p>Leidchen, die an ihren Platz zurückgetreten war, sah +ihn mit erschrockenen Augen an.</p> + +<p>»Sie müssen!« sagte sie, die Zähne zusammenbeißend.</p> + +<p>»Ha, als ob du sie zwingen könntest!«</p> + +<p>»Hermann ...«</p> + +<p>»Kann sie auch nicht zwingen ... Was dann?«</p> + +<p>Sie sah ihn ratlos an.</p> + +<p>»Ich will's dir sagen, Leidchen, dann ist noch gar +nichts verloren, im Gegenteil! Dann nimmst du einfach +den anderen.«</p> + +<p>»Aber Gerd ...«</p> + +<p>»Was machst du für'n Gesicht? Das passiert öfters, +daß der Mensch mit seiner Liebe erst mal an den Verkehrten +kommt, aber der wird vergessen, sobald der +Richtige sich sehen läßt.«</p> + +<p>»Gerd!«</p> + +<p>»Sieh, er weiß von der Geschichte nichts und +braucht auch nichts davon zu wissen. Du hast ihm vorgestern<span class="pagenum" id="Seite_322">[S. 322]</span> +nichts gesagt, ich bin stumm wie das Grab, und +Müllers werden auch wohl dicht halten, ich will Hermann +noch eigens darum bitten. Wahrscheinlich hat er +seinen Eltern auch gar nichts davon gesagt und läßt +die kleine Soldatenliebschaft von selbst einschlafen, wie's +die meisten tun, nach der Melodie: Aus den Augen, +aus dem Sinn.«</p> + +<p>»Gerd! Gerd!«</p> + +<p>»Ja, ja, Leidchen, verliebte Leute machen sich gern +selbst was vor. Da ist es gut für sie, daß andere klaren +Kopf behalten und die Dinge sehen, wie sie in Wirklichkeit +sind. Ich möchte diesen Timmermann ja gern +zum Schwager haben, denn er ist ein prächtiger +Mensch, und wir sind gute Freunde. Aber zwingen +will ich dich nicht. Kannst du auf die Mühle kommen, +in Gottes Namen man zu! Du bist eine, die am Ende +auch da fertig wird. Wenn aber nicht, auch gut. Dann +gehst du einfach ein paar Häuser weiter.«</p> + +<p>Sie hatte sich auf einen hoch angefüllten Wäschekorb +sinken lassen, barg das Gesicht in den Händen und +stieß unter wildem Schluchzen heraus: »Es geht ... +nicht mehr ... es ist ... zu spät ...«</p> + +<p>»Was?« rief er zusammenzuckend.</p> + +<p>»Was!?« schrie er und sprang in die Höhe.</p> + +<p>Mit geballter Faust schritt er auf sie zu. Sie hob +die Arme zur Abwehr.</p> + +<p>Er ließ die Faust sinken und spreizte die fünf Finger +von sich: »Dich prügeln? Fällt mir nicht im Traum +ein. Das bist du mir gar nicht mehr wert, dafür bist +du mir viel zu schlecht. Pfui!« Er spie vor ihr aus<span class="pagenum" id="Seite_323">[S. 323]</span> +und rief noch einmal »Pfui!« Dann drehte er sich um, +riß die Tür auf und stieg mit harten, polternden +Schritten die Treppe hinunter. Es dröhnte durchs +ganze Haus, wie er unten die Haustür ins Schloß +warf.</p> + +<p>Eine Weile saß Leidchen in sich zusammengesunken +und schluchzte, daß es ihren ganzen Körper schüttelte.</p> + +<p>Dann hob sie den Kopf und starrte eine Zeitlang +mit den verweinten, entgeisteten Augen in die rote +Kohlenglut des Plätteisens.</p> + +<p>Auf einmal schoß sie steil in die Höhe, lief in ihre +Kammer hinüber, zog das Jackett an, setzte den Hut +auf, nahm den Schirm zur Hand und schlich leise die +Treppe hinunter. An Frau Marwede, die gerade eine +Kundin bediente, stürzte sie vorbei, ohne zur Seite zu +sehen. Auf der Straße setzte sie sich in Laufschritt, und +als sie ihre Herrin hinter sich rufen hörte, stürmte sie +noch schneller voran. An der Ecke sprang sie auf einen +Wagen der Elektrischen, der dort gerade hielt. Da sie +in der Eile kein Geld beigesteckt hatte, mußte der +Schaffner ihr den Groschen für die Fahrt leihen.</p> + +<p>Als sie am Torfhafen ankam, fand sie Gerd in seinem +Schiff, zur Abfahrt rüstend.</p> + +<p>Sie trat an die Uferböschung und rief seinen Namen. +Er sah und hörte nicht.</p> + +<p>Er hob das Schieberuder, und das Boot glitt zum +Hafen hinaus in den Kanal. Sie ging auf dem Leinpfad +nebenher und bat einmal über das andere, er +möchte sie doch nur einmal noch anhören.</p> + +<p>Er lenkte das Schiff auf die andere Seite und fuhr<span class="pagenum" id="Seite_324">[S. 324]</span> +hart am jenseitigen Ufer dahin. Sie sah sich um, und +als sie sich überzeugt hatte, daß niemand in der +Nähe war, rief sie ihm durch die hohlen Hände zu: +»Gerd, wenn du so von mir weggehst, spring' ich in +die Weser.«</p> + +<p>Er stieß das Fahrzeug mit der ganzen Kraft seiner +Arme vorwärts, so daß sie not hatte, mit ihm Schritt +zu halten.</p> + +<p>Verweiflungsvoll schrie sie hinüber: »Gerd, hast du +ganz vergessen, was du unserer Mutter selig auf ihrem +letzten Lager versprochen hast?«</p> + +<p>Zum ersten Male warf er einen schnellen Blick zur +Seite.</p> + +<p>Nach einer Weile verlangsamte das Schiff seine +Fahrt, und dann kam es schräg über den Kanal und +legte sich ans Ufer. Nachdem er ausgestiegen war und +es an der Vorderkette festgemacht hatte, trat er vor +die Schwester hin. Die Hände nach unten gestreckt, +sagte er, sie mit todtraurigen Augen ansehend: »Oh, +Leidchen ... Leidchen!« Sie stand da, glutübergossen, +den Blick auf den Boden geheftet, und stach +mit der Spitze ihres Schirmes ein spätes Blümchen +in den Grund.</p> + +<p>»Denn komm,« sagte er tonlos und schritt an ihr +vorüber auf einen Promenadenweg zu, der in den am +Torfkanal sich entlang ziehenden Bürgerpark führte. +Sie folgte ihm in einer Entfernung von zwei bis drei +Schritten. Vor einer einsamen Bank machte er halt, +ließ sich seufzend niederfallen und gab der Schwester +stumm ein Zeichen, sich neben ihn zu setzen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_325">[S. 325]</span></p> + +<p>Lange verharrten sie in Schweigen. Er hatte die +Arme auf die Knie gestemmt, den Kopf in die Hände +gestützt, die Finger in die Augen gedrückt. Sie blickte +von Zeit zu Zeit scheu zur Seite und wagte nicht, ihn +anzureden. Denn auf seiner Schläfe war eine dickgeschwollene, +wie ein Blitz gezackte Ader, durch die das +Blut stoßweise dahinschoß.</p> + +<p>Plötzlich verdeckte er die Augen mit ganzen Händen +und fing bitterlich an zu weinen. Er wollte das Schluchzen +gewaltsam unterdrücken, um so mehr erschütterte +es seinen Körper. Endlich begann er mit gebrochener +Stimme zu reden.</p> + +<p>»Leidchen, Leidchen, wie gut hättest du es haben +können ... so gut wie keine in unserm Dorf und im +ganzen Moor ... Und nun machst du selbst dir alles +durch deinen Leichtsinn zuschanden ... Hab' ich dich so +angelernt und aufgezogen? ... Hab' ich dich nicht +immer vermahnt und zum Rechten angehalten? Hab' +ich nicht gesagt, du solltest bei uns auf dem Lande +bleiben? Aber du mußtest natürlich mit aller Gewalt +in die Stadt, bloß um dem, der's immer so gut mit +dir gemeint hat, unter den Augen wegzukommen und +in dein Unglück zu rennen ... Wie bin ich immer +stolz auf dich gewesen ... du warst das feinste Mädchen +im Dorf. Wenn du einen so fröhlich ankucktest, +war's, als wenn einem die liebe Sonne so recht hell +und warm ins Herz lachte ... Wenn du im Moor oder +auf den Wiesen dich so munter regtest, wurde die +schwerste Arbeit einem zur Lust ... Und nun machst +du's so, nun mußt du dasitzen mit niedergeschlagenen<span class="pagenum" id="Seite_326">[S. 326]</span> +Augen, wie ein Klumpen Unglück ... Es ist ein Jammer +sondergleichen ...«</p> + +<p>Sie saß auf ihren Schirm gestützt, starrte zur Erde +und ließ alles ruhig über sich ergehen.</p> + +<p>Sein Gesicht nahm auf einmal den Ausdruck großer +Bitterkeit an: »Sieh bloß zu, daß du's gut bezahlt +kriegst!«</p> + +<p>Wie von einer Natter gestochen fuhr sie in die Höhe +und sah ihn mit blitzenden Augen an: »Gerd, ich rat' +dir, geh nicht zu weit! Alles laß ich mir auch von dir +nicht gefallen.«</p> + +<p>»Ja, nun bist du auf einmal stolz, nun, wo's zu +spät ist ...«</p> + +<p>Eine Weile herrschte wieder Schweigen. Dann +fragte sie leise und zaghaft: »Gerd, darf ich nun auch +mal ein Wort sagen?«</p> + +<p>Er sagte nicht ja und nicht nein.</p> + +<p>»Bitte, lieber Bruder, laß uns nicht immer über +das reden, was nun einmal nicht mehr zu ändern ist ... +Ich hab' dir einen langen Brief geschrieben, da steht +alles in ... Ich hab' dir vorhin schon gesagt: Hermann +ist ein grundguter Mensch, bloß ein bißchen +leicht, nicht ganz so ehrenfest wie du; jeder hat ja seine +Fehler, du auch. Daß er mich von Herzen lieb hat, das +weiß ich ebenso gewiß wie das andere, daß du es gut +mit mir meinst. Sein Vater und Mutter mögen erst +ja wohl gegen mich sein, aber er hält fest und treu +zu mir. Wenn ich das nicht ganz gewiß wüßte, was +bliebe mir denn noch übrig! Aber, wie ich schon gesagt +habe, er ist ein bißchen leicht ... Deshalb braucht er<span class="pagenum" id="Seite_327">[S. 327]</span> +einen, der ihn mal an seine Pflicht erinnert und ihm +den Rücken steif macht, damit er fest seinen Mann +stehen kann. Und da möchte ich dich nun bitten, lieber +Bruder, geh' doch mal hin und sprich mit ihm!«</p> + +<p>»So, dafür bin ich gut genug ... Als ihr miteinander +anfingt, du wurde ich nicht um Rat gefragt.«</p> + +<p>»Ach, ich wollte es dir jedesmal sagen, wenn du +hier warst, aber ...«</p> + +<p>»Du hieltest deinen Mund, weil du von Anfang an +kein gutes Gewissen bei der Sache hattest.«</p> + +<p>»Bitte, Gerd, laß uns davon doch nicht immer +wieder anfangen ... Nicht wahr? du tust deiner +kleinen Schwester die Liebe an, daß du bald mal hingehst. +Bitte, bitte.«</p> + +<p>Sie berührte mit der Hand leise streichelnd seinen +Arm und sah ihn flehend an.</p> + +<p>Er saß lange Zeit vornübergebeugt, mit dem linken +Hacken ein Loch in den Kies bohrend, schweigend und +manchmal seufzend.</p> + +<p>Endlich richtete er sich auf und sagte entschlossen: +»Ja, ich will's tun. Und er soll was von mir zu hören +kriegen, das wird er sich nicht hinter den Spiegel +stecken!«</p> + +<p>Sie hob erschreckt und wie beschwörend die Hand: +»Um Gottes willen, Gerd, bloß das nicht! Damit +machst du die Sache nur schlimmer. Die Schuld will +ich gern auf mich nehmen. Nein, du mußt freundlich, +ruhig und ernsthaft mit ihm sprechen, wie du +das so schön kannst. Du mußt ihn daran erinnern, +was er mir schuldig ist, und auch seiner eigenen Ehre.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_328">[S. 328]</span></p> + +<p>»Ha! Ein schöner Bräutigam, den ein anderer daran +erst erinnern muß.«</p> + +<p>»Ach Gerd ... Du mußt mich auch ein bißchen anpreisen +und ihm sagen, daß er mit mir nicht betrogen +wird. Das weiß er ja auch schon so, aber es kann doch +nicht schaden, wenn's ihm auch ein anderer noch mal +sagt, und auf deinen Charakter hält er große Stücke, +das hat er mir öfters gesagt.«</p> + +<p>»Wirklich? Das ist ja nett, und dankenswert, hahaha +... Aber gut, morgen abend, nach Feierabend, +geh' ich hin. Wenn Wind ist, werd' ich ihn wohl allein +auf der Mühle treffen, den Gesellen haben sie neulich +laufen lassen.«</p> + +<p>»Oh Gerd,« rief sie, erleichtert aufatmend, »wie soll +ich das bloß wieder gut machen?«</p> + +<p>Sie ergriff seine Hand, die sie drückte und liebkosend +gegen ihre Wangen preßte.</p> + +<p>Er zog dieselbe bald zurück und sagte: »Ob's was +helfen wird? Ich verspreche mir soviel wie nichts davon. +Die Alten, die Alten ...«</p> + +<p>»Oh Gerd, wenn wir drei Jungen fest zusammenhalten +...«</p> + +<p>»Deern, du bist jung und unerfahren, du kennst das +Leben und die Menschen nicht. <em class="gesperrt">Die</em> Sorte hat noch +keinem etwas zuliebe getan.«</p> + +<p>»Könntest du mit ihnen nicht auch mal sprechen, +wenn's nötig ist? Oder graust du dich davor?«</p> + +<p>»Gut, ich werde auch ihnen ins Gewissen reden, +wenn's nötig ist.«</p> + +<p>»Bitte, Gerd, tu' das. Du kannst das ja so schön.<span class="pagenum" id="Seite_329">[S. 329]</span> +Aber mach's bitte recht vorsichtig und gelinde, daß du +sie nicht gegen mich erzürnst. Du mußt immer bedenken, +ich soll mit ihnen leben.«</p> + +<p>»Und wenn sie sich auf nichts einlassen wollen, was +dann?«</p> + +<p>»Darüber wollen wir noch nicht sprechen.«</p> + +<p>»Das wollen wir doch, und erst recht! Dann werd' +ich Hermann die Pistole auf die Brust setzen, daß er's +macht wie vor zwei Jahren Joostens Jan, als seine +Eltern seine Braut nicht aufnehmen wollten. Dann +muß er hier in Bremen mit dir einen Hausstand gründen. +Arbeit findet er überall, und wenn du später +etwa mit zuverdienst, als Aufwartefrau oder so, könnt +ihr ganz gut leben.«</p> + +<p>»Ob er das wohl täte?«</p> + +<p>»Wenn er dich wirklich lieb hat und ein ehrlicher +Kerl ist, kann er gar nicht anders.«</p> + +<p>»Wie du gleich an alles denkst, Gerd! Ja, das wäre +immer noch ein Ausweg. Später müßten wir die +Mühle ja doch kriegen, nicht wahr? Denn da möcht' +ich doch lieber wohnen.«</p> + +<p>»Das glaub' ich dir.«</p> + +<p>Sie erhoben sich von der Bank und schritten langsam +den Parkweg zurück, dem Torfkanal zu.</p> + +<p>»Ach Leidchen,« begann er noch einmal, »hätt' ich +von dem allen nur eine Ahnung gehabt! Ich hätte +dich mit Gewalt von dem Menschen losgerissen, ehe es +zu spät war.«</p> + +<p>»Das hättest du nicht fertig gebracht,« rief sie +leidenschaftlich. »Wenn die Liebe einen mal gepackt<span class="pagenum" id="Seite_330">[S. 330]</span> +hat, dann kommt nichts in der Welt dagegen +auf.«</p> + +<p>»Ich kenne die Liebe auch,« sagte er leise, und seine +traurig ernsten Augen leuchteten auf.</p> + +<p>»Du bist in allen Dingen anders als ich ... Oh, +Gerd, wie freu' ich mich, daß du gekommen bist und ich +das alles vom Herzen los bin! Ich kann dir gar nicht +sagen, wie leicht mir jetzt ist. Nun ist meine Sache in +den besten Händen. Heute seh' ich erst ein, was ich +an dir habe. Nicht wahr, du glaubst doch auch, daß +noch alles gut wird?« Sie hatte seine Hand ergriffen +und sah ihm in die Augen.</p> + +<p>Er blickte sie an, nicht sonderlich hoffnungsfreudig, +und sagte: »Wir wollen unser Möglichstes +versuchen.«</p> + +<p>Er hatte die Vorderkette seines Schiffes gelöst, warf +sie auf die Koje, daß es einen scharfen, dumpf nachhallenden +Eisenklang gab, und stemmte das Ruder ein.</p> + +<p>»Wann krieg' ich Nachricht?« fragte sie.</p> + +<p>»Sobald es angeht,« sagte er gelassen, legte sich +gegen die Stange und brachte das Schiff in Gang. Sie +sah ihm lange nach und wartete, er sollte sich noch einmal +umwenden. Aber das tat er nicht, sondern mit +seinen lang ausgreifenden, etwas wiegenden Schritten +ging er neben dem auf dem schnurgeraden Wasserlauf +gleitenden Schiff den schmalen Pfad dahin.</p> + +<p>Endlich wandte auch sie sich und ging langsam nach +der Stadt zurück.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_331">[S. 331]</span></p> +<h2 class="s2">18.</h2> +</div> + +<p>Brunsode hatte Feierabend gemacht, auf allen Gehöften +ziemlich gleichzeitig. Nur die Windmühle, +deren Arbeits- und Ruhestunden zuzeiten nicht durch +Tag und Nacht, sondern von Wind und Wetter bestimmt +werden, drehte sich langsam vor einem schwachen +West, und die kleinen Fenster waren erleuchtet.</p> + + +<p>Das bemerkte Gerd mit Genugtuung, als er mit +festen Schritten den Birkendamm daherkam. Er trug +Sonntagskleidung und Lederstiefeln. Im Munde hing +ihm die Pfeife, die er jedoch nicht in Brand gesetzt +hatte. Als er vom Damm abbog, schob er sie in die +innere Rocktasche.</p> + +<p>Er warf einen Blick in die offen stehende Tür der +Mühle und sah in dem schwachen Licht einer Petroleumlampe +den Gesuchten beschäftigt, einen Kornsack in +den Mahltrichter zu entleeren. Eintretend rief er ihm +durch das betäubende Geklapper die Tageszeit zu. +»Wart' einen Augenblick, ich komme gleich,« wurde ihm +hastig geantwortet.</p> + +<p>Er setzte sich auf einen prallen Kornsack und sah auf +einen Fleck. Als er nach einer Weile aufblickte, ob +der Erwartete noch nicht käme, sah er ihn, die mehlbepuderte +Mütze im Nacken, eine Treppe hinaufsteigen +und in dem Kopf der Mühle verschwinden. »Das macht +das böse Gewissen,« murmelte er bitter lächelnd vor +sich hin.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_332">[S. 332]</span></p> + +<p>Nachdem er eine gute Weile geduldig gewartet +hatte, erhob er sich und stieg eine kurze Treppe von +zehn Stufen hinauf. Gerade wollte er auf der höher +führenden Leiter dem Verschwundenen nachsteigen, +als dieser oben sichtbar wurde und langsam herunterkam.</p> + +<p>»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander +sprechen?« rief er ihm entgegen.</p> + +<p>Der Müller öffnete eine Tür und ließ ihn auf den +Umgang hinaustreten. Als er hinter sich zugemacht +hatte, klang der Lärm des Mahlwerks gedämpft, und +man hörte die gespenstisch durch das Dunkel fahrenden +Flügel wie Riesenschwerter fauchen.</p> + +<p>»Du kommst wegen Leidchen,« begann der Müller.</p> + +<p>»Allerdings,« sagte Gerd, ein wenig überrascht.</p> + +<p>»Hast du sie besucht? Wie geht es ihr?«</p> + +<p>»Wie soll es ihr gehen ...«</p> + +<p>»Sie hat wohl stark nach einem Brief von mir ausgesehen?«</p> + +<p>»Das soll wohl sein.«</p> + +<p>»Aber ich konnte ihr wirklich noch nichts schreiben.«</p> + +<p>»Hermann, ich bin nicht gekommen, um ein bißchen +mit dir zu schnacken. Erst mal eine Frage! Sag +mal, hast du Leidchen bloß zum besten gehabt, ich +meine, hast du bloß so deinen Spaß mit ihr haben +wollen?«</p> + +<p>»Gerd, das traust du mir doch wohl nicht zu.«</p> + +<p>»Ich weiß nicht ... So genau kenne ich dich nicht. +Also du hast ihr wirklich die Ehe versprochen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_333">[S. 333]</span></p> + +<p>»Gut, daß ich das nun erst mal weiß. Sonst, beim +wahrhaftigen Gott, könnte ich dich packen und da in die +sausenden Flügel hineinstoßen.«</p> + +<p>»Hoho, man nicht so hitzig! Dabei hätt' ich auch +noch ein Wort mitzureden.«</p> + +<p>»Und wann soll die Hochzeit sein?«</p> + +<p>»Wir hatten an November oder Dezember gedacht +... aber ...«</p> + +<p>»Was aber?«</p> + +<p>»Die beiden Alten haben dabei auch ein Wort mitzureden.«</p> + +<p>»Ach nee! Und was sagen die?«</p> + +<p>»Gerd, wenn man in der Fremde ist und vergnügt +in den Tag hineinlebt, denkt man wohl: mit den Alten +wirst du leicht fertig, die müssen, wie du willst, die werden +einfach nicht gefragt. Bist du dann aber wieder +zu Hause und streckst die Füße jeden Tag mit ihnen +unter denselben Tisch, dann macht sich die Sache doch +etwas anders.«</p> + +<p>»Ach nee! ... Hast du schon ernsthaft mit ihnen +wegen Leidchen gesprochen?«</p> + +<p>»Versteht sich. Den ersten Abend ging's nicht gut, +Vater war, ich denk', aus Freude, daß er mich wieder +hat, so 'n bißchen aufgeheitert ... Aber Dienstag, so +in der Schummerzeit, geh' ich hin und fädele die Sache +nach meiner Meinung sehr fein ein. Aber Vater erklärt +rundweg, von den kleinen Kötterdeerns wär' noch nie +eine als junge Frau auf die Mühle gezogen, und solange +er die Augen offen habe, bliebe das auch so, daß +der Mühlerbe sich von anderswoher seinesgleichen hole.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_334">[S. 334]</span></p> + +<p>»Hast du ihm gesagt, was du meiner Schwester +schuldig bist?«</p> + +<p>»Ja. Da zuckte er aber nur die Achseln.«</p> + +<p>»Und was soll nun werden?«</p> + +<p>»Wenn ich das nur erst wüßte ... Die ganzen +Tage zergrübele ich mir darüber den Kopf. Leidchen +tut mir in der Seele weh, sie nimmt die Sache so +schrecklich ernst.«</p> + +<p>»Den Deubel auch! Darüber wunderst du dich?«</p> + +<p>»Nein, nein, Gerd, ich wollte nur sagen, sie ist so +furchtbar hitzig ... Sag' mal, kennst du Harm Tietjen, +den Grasbauern an der Hamme?«</p> + +<p>»Ja, wir haben Grünland von ihm in Pacht.«</p> + +<p>»Kennst du auch seine Tochter Hermine?«</p> + +<p>»O ja, sie muß so an die Dreißig sein, hat mehr +Sommersprossen im Gesicht als Haare auf dem Kopf, +und ist schon stark in Saat geschossen.«</p> + +<p>»Denk' dir, Gerd, die soll ich mit Gewalt heiraten!«</p> + +<p>»Junge! Seid ihr denn ganz des ...? Kennst du +das Mensch?«</p> + +<p>»Nein. Ist sie wirklich so schlimm?«</p> + +<p>»Ich würde lieber die Wackelstine aus dem Armenhaus +nehmen als die. Drei Jahre ist sie mit einem +Postschreiber aus Bremen herumgezockelt, dann hat der +sie laufen lassen. Da, wo sie zu Hause ist, nimmt jetzt +der ärmste Knecht sie nicht mehr geschenkt. Wie können +deine Eltern bloß so blind und so grausam sein!«</p> + +<p>Hermann seufzte. »Vater hat die letzten Jahre +schlecht aufgepaßt, und der Gesell, den wir nun weggejagt +haben, hat sich das zunutze gemacht. Prozesse<span class="pagenum" id="Seite_335">[S. 335]</span> +haben allerhand gekostet, die Mühle in Blankenmoor +macht uns scharf Konkurrenz, und ich habe als Soldat +auch ziemlich viel gebraucht; denn ich dachte, das Geld, +das Mutter zugebracht hat, könnte gar nicht alle werden +... Wir brauchen notwendig Geld.«</p> + +<p>»Und du willst dich verkaufen lassen?«</p> + +<p>»Gerd, wie kannst du so was denken ... Ich sträube +mich ja mit Händen und Füßen. Wenn mir nur einer +da heraushülfe!«</p> + +<p>»Selbst ist der Mann! Tritt doch vor die alten +Seelenverkäufer hin, schlag mit der geballten Faust auf +den Tisch, daß die Platte auseinanderspringt, und sag': +Entweder ihr gebt mir Leidchen zur Frau oder ich +nehm meinen Stock und geh meiner Wege!«</p> + +<p>»So wird's auch wohl noch kommen, ich hab' mir +das auch schon gedacht.«</p> + +<p>»Hermann, wir beiden sind niemals gut Freund miteinander +gewesen. Du warst mir immer zu leicht und +zu großspurig. Aber für einen anständigen Kerl hab' +ich dich im Grunde doch immer gehalten. Nun beweise, +daß ich mich in dir nicht getäuscht habe. Komm, +wir gehen zu deinen Eltern und sprechen mal ein +ernstes Wort mit ihnen. Zeig ihnen die Zähne und +laß sehen, ob du ein Kerl bist, der Ehre im Leibe und +Muck in den Knochen hat und mehr kann, als unerfahrene +Mädchen übertölpeln. Komm!«</p> + +<p>»Gerd, ich kann die Mühle nicht allein lassen.«</p> + +<p>»Stell sie ab, es schafft doch nicht mehr bei der +Mütze voll Wind.«</p> + +<p>Hermann sah prüfend nach den Flügeln, deren Umdrehungen<span class="pagenum" id="Seite_336">[S. 336]</span> +sich noch mehr verlangsamt hatten. Er trat +von einem Fuß auf den anderen, riß die Mütze vom +Kopf, wühlte mit der Hand in seinen Haaren und +sagte endlich: »Geh vorauf, ich komme gleich nach.«</p> + +<p>Gerd schritt auf dem Fahrdamm, der Mühle und +Wohnhaus trennte, unruhig hin und her. Nach einer +Weile kamen die Flügel unter Knarren zum Stehen, +und bald war Hermann an seiner Seite.</p> + +<p>»Sag' aber um Gottes willen nichts von Hermine +Tietjen,« bat er, indem sie dem Hause zuschritten, »davon +weiß sonst noch kein Mensch, und das würde den +Alten fuchsteufelswild machen.«</p> + +<p>»Laß mich man gewähren und steh du deinen +Mann,« sagte Gerd.</p> + +<p>Sie gingen über eine geräumige, gegen das Viehhaus +abgeschorene Diele, die von einer roten Ampel +beleuchtet wurde, und traten in die Wohnstube, wo die +Müllersleute um eine grünbeschirmte Lampe saßen, die +Frau mit einem Strickstrumpf, der Mann über seinen +Zeitungen, ein dampfendes Glas Grog neben sich.</p> + +<p>»Warum bist du nicht in der Mühle?« herrschte der +Vater den Sohn an.</p> + +<p>»Der Wind ist alle geworden, ich hab' Feierabend +gemacht,« sagte Hermann und ließ sich auf einen Stuhl +unweit der Tür nieder.</p> + +<p>»Was willst <em class="gesperrt">du</em> denn?« wandte der Müller sich +darauf an den Besucher.</p> + +<p>»Mit Verlaub,« sagte dieser gelassen, »ich darf mich +wohl erst mal setzen.« Er zog einen Stuhl heran und +pflanzte sich recht mitten in die Stube, den beiden am<span class="pagenum" id="Seite_337">[S. 337]</span> +Tisch gegenüber, den Sohn halbrechts hinter sich. Die +ein wenig in den Nacken geschobene Mütze behielt +er nach Landessitte auf dem Kopf. Auch spuckte er, wie +es so Brauch war, einmal zwischen seinen Knien hindurch +auf den Fußboden. Das war sonst gerade nicht +mehr seine Art, seit Freund Timmermann es sich einmal +verbeten hatte, aber heute kam es ihm darauf an, +dem stiernackigen Mann mit dem roten, höhnischen +Gesicht zu zeigen, daß er dessen Anspruch, eine höhere +Art Mensch zu sein als die anderen Moorbauern, nicht +anerkannte.</p> + +<p>Der Müller riß die Augen weit auf und wollte +etwas sagen.</p> + +<p>Aber Gerd kam ihm zuvor. »Ich bin gekommen,« +begann er, den Blick seinem Gegenüber voll zuwendend, +»um mit Euch wegen meiner Schwester Leidchen zu +sprechen.«</p> + +<p>»Was scheren mich deine Familienangelegenheiten!« +polterte der andere.</p> + +<p>»Es sind ebensosehr die Euren. Hermann hat +meiner Schwester in Bremen die Ehe versprochen. +Nicht wahr, Hermann, so ist es doch?« wandte er sich +nach diesem um.</p> + +<p>Der nickte.</p> + +<p>»Und nun wollte ich anfragen, wann die Hochzeit sein +soll. Ihr wißt, die Sache hat Eile.«</p> + +<p>»Hohoho,« lachte der Müller, indem er mit der +einen Hand die Zeitungen zurückschob und sich mit der +anderen auf das Knie schlug, »du bist ein famoser Kerl, +der gleich auf das Ganze geht.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_338">[S. 338]</span></p> + +<p>In Gerds Gesicht zuckte es. »Zum Lachen ist bei +so ernsten Dingen ganz und gar keine Ursache,« sagte +er, finster blickend, mit mühsam gebändigter, bebender +Stimme. »Es handelt sich nicht bloß um uns. Es +handelt sich ebensoviel und beinah noch mehr darum, +daß Euer Hermann nicht als meineidiger Schuft +Schande über Eure Familie bringt.«</p> + +<p>»Für die Ehre unserer Familie zu sorgen, kannst +du getrost uns überlassen, dazu brauchen wir dich +nicht,« gab der Müller mit spöttischem Lächeln zur +Antwort. »Was Hermann in Bremen für dumme +Streiche gemacht hat, weiß ich nicht und will ich auch +nicht wissen. Was so 'n Mädchen in ihrem Leichtsinn +sich einbrockt, muß sie auch ausessen.«</p> + +<p>»Müllers Vater, Ihr sprecht von Leichtsinn und +Dummheiten, und ich will die beiden gewiß nicht in +Schutz nehmen. Ein Sohn, der seinen Eltern eine +Tochter ins Haus bringen will, soll sie früh genug +fragen, ob die, auf die er sein Auge geworfen hat, +ihnen paßt, und überhaupt soll alles ordentlich und +ehrlich zugehen. Ich kann das begreifen, daß Ihr +böse seid, und habe selbst gestern meiner Schwester gehörig +den Text gelesen. Aber nun wollen wir uns +doch auch sagen: Was geschehen ist, das ist geschehen, +auch der beste Mensch kann von einem Fehl übereilet +werden; denn wir sind allzumal Sünder. Die Hauptsache +ist, daß die beiden sich wirklich von Herzen lieb +haben. Für Leidchen kann ich garantieren, und Hermann +hat es mir eben erst draußen versichert. Wenn +Ihr sie jetzt noch auseinanderreißen wolltet, tätet Ihr<span class="pagenum" id="Seite_339">[S. 339]</span> +eine viel größere Sünde als die ist, die sie begangen +haben. Bitte, seid so gut und laßt mich ausreden! +Wenn Ihr meine Schwester kenntet, würdet Ihr keine +andere als Schwiegertochter haben wollen. Laßt sie +erst acht Tage in Eurem Hause sein, Ihr sollt sehen, +dann mögt Ihr sie um kein Geld mehr missen. Sie ist +eins von den Menschenkindern, denen alle Herzen zufliegen. +Fragt auf unserer Nachbarschaft, bei Rotermunds, +bei Frerks, bei Böschens und bei allen, und +Ihr werdet euch wundern, wie alle sie lieb haben. +Geld bringt sie ja leider nur an die dreihundert Taler +mit, aber einen fröhlichen Sinn und Gesundheit und +Lust zur Arbeit, und ich meine, das sind alles Dinge, +die auch etwas wert sind. Die Leute sagen, Ihr hättet +jetzt schwere Zeiten mit Eurer Mühle, aber die gehen +vorüber, wo der Gesell, der Euch viel Schaden getan +hat, weg ist und Hermann sich der Sache annimmt, der +ja lange genug gelernt hat und seinen Kram gewiß +gut versteht. Manche Kunden, die jetzt in Blankenmoor +mahlen lassen, werden Euch wiederkommen; mit +einigen, die ich besser kenne, will ich selbst sprechen, und +die anderen folgen dann wohl nach, denn wenn sie +selbst keinen Schaden dabei haben, sind die Leute dafür, +daß das Geld im Dorfe bleibt. Und Leidchen ist für das +Sparen und Zusammenhalten, dazu hab' ich selbst sie +von klein auf angelernt. Für jüngere Kinder habt Ihr +nicht zu sorgen, deshalb könnt Ihr Eurem einzigen +Sohn gut zu Willen sein. Eine so große und starke +Mühle mit drei Mahlgängen, die wenig Reparaturen +kostet, nährt leicht mit Euch Alten die Jungen, und auch<span class="pagenum" id="Seite_340">[S. 340]</span> +noch einen guten Trupp Kinder. Wir sind ja gegen +Euch wohl kleine Leute, aber eine Hergelaufene ist +Leidchen doch auch nicht. Wir Rosenbrocks stammen von +einem großen Geesthof und haben uns unter den ersten +hier angesiedelt. Und was unserem Großvater sein +Bruder war, der hat als Knecht in Hangstedt einen +Bauernhof von vierhundert Morgen befreit ... +Müllers Vater und Ihr, Müllers Mutter — ich weiß, +Ihr habt Euren Hermann lieb, und Ihr seid doch auch +mal 'ne junge Deern gewesen — Ihr solltet man ein +Einsehen haben und den beiden helfen, daß sie bald im +heiligen Ehestand zusammenkommen.«</p> + +<p>Der Müller hatte aufmerksam zugehört und einige +Male sogar genickt. Daraus hatte Gerd Hoffnung geschöpft +und sich deshalb in einen immer wärmeren Ton +hineingeredet. Jetzt wagte er es sogar, ihm seine Hand +entgegenzustrecken.</p> + +<p>»Bist du nun fertig?« fragte der Mann.</p> + +<p>»Ja. Ich wüßte nicht, was sonst noch zu sagen wäre.«</p> + +<p>Der andere sah ihm mit einer gewissen Achtung und +nicht ohne Wohlgefallen in das schmale, scharfgeschnittene +Gesicht. »Gerd,« begann er, »du bist soweit +ein ganz fixer Mensch. Schade, daß du nicht als Advokat +studiert hast, aus dir hätte was werden können. +Aber, weißt du, hierzu langt deine Kunst noch lange +nicht.« Und wieder spielte ihm das böse Lächeln um +den sinnlichen Mund.</p> + +<p>Gerd sah ein, daß hier jedes weitere Wort verschwendet +war. Er setzte die Mütze, die er vor einer +Weile abgenommen und über das linke Knie gezogen<span class="pagenum" id="Seite_341">[S. 341]</span> +hatte, wieder auf den Kopf, fuhr steil in die Höhe und +sagte: »Gut, denn verkauft Euren einzigen Sohn an +die alte gelbsüchtige Trudje, die da, wo sie bekannt ist, +der kümmerlichste Knecht nicht geschenkt nimmt.«</p> + +<p>Der Müller sah dem kühnen jungen Menschen bestürzt +ins Gesicht.</p> + +<p>»Die Leute,« fuhr dieser fort, »reden viel Böses über +Euch. Aber was für einer Ihr in Wirklichkeit seid, +davon haben sie noch gar keine Ahnung. Wo andere +das Herz haben, da habt Ihr einen Mühlstein.«</p> + +<p>»Packan!« kreischte der Müller, heiser vor Wut.</p> + +<p>Eine mächtige Dogge kam verschlafen unter dem +Tisch hervor und reckte laut gähnend die ungeschlachten +Glieder.</p> + +<p>»Soll der hier dich auf den Weg bringen, du unverschämter +Lümmel?«</p> + +<p>»Ich gehe schon von selbst,« sagte Gerd, mit einem +etwas unsicheren Blick nach dem Hund, unter dessen +blutunterlaufenen Augen sein Rückzug nicht eben +heldenhaft ausfiel. Sobald er aber zur Stube hinaus +war, riß er die Tür mit donnerndem Krach hinter sich +ins Schloß.</p> + +<p>Als er draußen war, sagte er sich, es würde gut sein, +wenn er Hermann noch spräche. Vielleicht kam dieser +ihm bald nach, oder er ging noch einmal zur Mühle +hinüber. Er lehnte sich an das Geländer der Hofbrücke, +um ihn zu erwarten.</p> + +<p>Es währte auch nicht lange, bis sein weißes Müllerkleid +durch das Dunkel schimmerte. Gerd trat ihm +einige Schritt entgegen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_342">[S. 342]</span></p> + +<p>»Du hast ja doch was von der anderen gesagt,« warf +Hermann ihm mit kläglicher Stimme vor.</p> + +<p>»Das ist mir in der Wut so herausgefahren,« versetzte +Gerd ärgerlich. »Es ist ja auch einerlei.«</p> + +<p>»Es ist längst nicht einerlei. Ich hätte deswegen +beinah noch Prügel gekriegt.«</p> + +<p>»Hermann! Du willst ein Mann sein und läßt dir +solche Behandlung gefallen? Hast du denn gar keine +Ehre mehr im Leibe?«</p> + +<p>»Was soll ich machen?«</p> + +<p>»Es gibt nur eine Rettung. Du mußt bei Nacht und +Nebel ausrücken. Je eher, desto besser, am besten gleich +diese Nacht! Wenn du hier bleibst, bist du verloren. +Gegen den anzukommen, dazu gehört ein ganz anderer +Kerl, als du bist. Hermann, entschließ dich!«</p> + +<p>»Ich habe diese Tage auch schon öfters daran gedacht +... Aber leicht ist es nicht, ein so schönes Vatererbe +zu verlaufen, es hängt einem doch mächtig an ... +Wenn ich ihm zu Willen bin, zieht er aufs Altenteil, +und ich bin hier Herr.«</p> + +<p>»Mensch, laß dich nicht auslachen! Du Herr, solange +der noch einen kleinen Finger rühren kann? Du Herr, +wenn Hermine Tietjen hier ihren Einzug hält? Die zieht +sich sofort die Hosen an, und du kriegst die Nachtmütze +auf .. Wenn du jetzt auch gehst, dein Erbe bleibt dir ja.«</p> + +<p>»Oder auch nur das Pflichtteil.«</p> + +<p>»Ach was. Du hast ja keine Geschwister. Wer weiß, +wie bald sie Euch wieder holen!«</p> + +<p>»Aber wenn Hof und Mühle unter den Hammer +kämen?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_343">[S. 343]</span></p> + +<p>»Ach was, solch ein Besitztum hält erst was aus. Weg +mit so kleinen Bedenklichkeiten!«</p> + +<p>»Das sagst du wohl ... Heute wurde in unserer +Fachzeitung für die Mühle in Langwedel bei Verden +ein Gesell gesucht.«</p> + +<p>»Mensch, greif zu! Schreib noch heute abend, telegraphiere +gleich morgen früh!«</p> + +<p>»Hat wohl keinen Zweck. Es melden sich gewiß Unverheiratete +genug, und die haben den Vorzug.«</p> + +<p>»Aber du kannst's doch versuchen.«</p> + +<p>»Will mal sehen ... Vielleicht findet sich auch noch +was Besseres, in jeder Nummer stehen Annoncen, kann +ja um mehrere Stellen schreiben ... Leicht wird's einem +ja nicht, noch wieder als Gesell anzufangen.«</p> + +<p>»Aber wenn's nicht anders ist? Hermann, um eine +Frau wie Leidchen kann ein rechter Kerl wohl etwas +tun und auch ein kleines Opfer bringen.«</p> + +<p>»Hm, ja ... Das wohl.«</p> + +<p>»Junge, das Herz im Leibe muß dir hüpfen und +springen, wenn du bloß an sie denkst. Wenn es nicht +so gekommen wäre, glaub ja nicht, daß du sie gekriegt +hättest!«</p> + +<p>»Hm, bin ich dir nicht gut genug für sie?«</p> + +<p>»Wo du so direkt danach fragst ... nein, eigentlich +nicht. Aber ich bin ja nun einmal übertölpelt und jetzt +mit allem zufrieden. Hermann, ich hab' mich diese Tage +öfters gefragt, sollt' ich dich hassen oder von Grund aus +verachten. Jetzt, wo ich mit dir gesprochen und deinem +Alten mal den Puls gefühlt habe, tust du mir von Herzen +leid. Aber an dem Tage, wo du dich hier losreißest,<span class="pagenum" id="Seite_344">[S. 344]</span> +da will ich Respekt vor dir haben. Grad weil ich nun +weiß, wie fest sie dich knebeln ... Ich schreibe heut' +abend noch an Leidchen. Was soll ich ihr bestellen?«</p> + +<p>»Grüß sie vielmals und schreib ihr, sie möchte vor +allem den Kopf hochhalten, es würde noch alles gut. +Und sie sollte nicht erschrecken, wenn ich eines guten Tages +auf einmal vor ihr stände.«</p> + +<p>»Bravo, Hermann! Nun bloß nicht aufschieben, das +macht nur schwächer. Jetzt kannst du dich mit einem +starken Ruck noch losreißen. Legst du dich aufs Warten, +geht's dir wie der Fliege im Spinngewebe. Du +wirst so eingewickelt, daß du dich nicht rütteln und +rühren kannst. Gut' Nacht!«</p> + +<p>Nachdem er die weiche, mehlstaubtrockene Hand des +Müllers kräftig gedrückt und geschüttelt hatte, ging er. +Die in ihm wogende Erregung zu meistern, steckte er +jetzt das gestopfte Pfeifchen an, und als er ein Dutzend +Züge getan hatte, waren die anfangs so kurzen, stoßartigen +Schritte fast wieder so lang und wiegend wie +gewöhnlich.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am nächsten Abend erhielt Leidchen mit der letzten +Bestellung folgenden Brief:</p><br> + +<div class="blockquot"> + +<p>Liebe Schwester!</p> + +<p>Es wird mir beinahe schwer, Dich noch so anzureden, +denn lieb und gut bist Du durchaus nicht gewesen; aber +ich will darauf heute abend nicht weiter eingehen, denn +es ist schon nach zehn Uhr.</p> + +<p>Der Müller hat mir mit seinem Packan gedroht und<span class="pagenum" id="Seite_345">[S. 345]</span> +hätte ihn sicher auf mich gehetzt, wenn ich nicht von +selbst gegangen wäre.</p> + +<p>Hermann hat Dich doch wohl ein bißchen lieb, und +er gefällt mir jetzt besser als früher. Er scheint mir +nicht mehr so großspurig zu sein, was ich immer am +wenigsten bei ihm leiden konnte.</p> + +<p>Wir haben abgemacht, daß er sich aus seinem +Müllerblatt einen Platz als Gesell sucht, und daß Ihr +darauf dann heiratet. Ob er den guten Worten und +Vorsätzen die Tat folgen läßt, muß die Zeit ausweisen. +Du schreibst, er wäre ein bißchen leicht und +wankelmütig. Das stimmt ganz genau.</p> + +<p>Was er mir für Dich gesagt hat, schreibe ich wörtlich +hierher: Grüße Leidchen vielmals und schreib ihr, +sie sollte den Kopf hochhalten, es würde noch alles gut. +Und Du solltest Dich nicht verjagen, wenn er eines +Tages auf einmal vor Dir stände.</p> + +<p>Du kannst also vorderhand nichts tun, als Dich gedulden, +und ich kann auch nicht mehr tun. Es kann +aber sein, daß ich nach ein paar Tagen mal wieder hingehe +und so 'n bißchen nachstökere. Das kann jedenfalls +nicht schaden.</p> + +<p class="center">Mit Gruß</p> +<p class="mright5">Gerd Rosenbrock.</p> +</div> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_346">[S. 346]</span></p> +<h2 class="s2">19.</h2> +</div> + +<p>Es war wieder die Hauptzeit des Torfverschiffens. +Auf der Hamme, ihren Lauf durch das breite Tal +meilenweit bezeichnend, zogen die braunen Segel. Die +heimkehrenden Dorfgenossen taten sich zusammen und +koppelten ihre Schiffe in Reihen hintereinander, um +sie, vornüber gebeugt an langem Tau gehend, mit vereinten +Kräften die Klappstaue der Gräben hinaufzuschleppen. +Aus den Kolonien, die gepflasterte Straßen +in der Nähe hatten und in denen die mühsame Schiffahrt +der bequemeren Fuhrwerkerei zu weichen begann, +rumpelten um Mitternacht die schweren, auf sechs +Kubikmeter geeichten Kumpwagen, indem die gespenstigen +Schattenbilder der Vorderräder, zwischen denen +die Windlaterne schaukelte, sich an den Birkenreihen +entlang drehten. Auf der Lilienthaler Chaussee und +dem Breiten Weg bildeten sich, zumal in den Nächten +vor Montag und Donnerstag, den Haupttagen des +Torfhandels, oft Wagenreihen von mehreren hundert +Metern Länge. Die Gäule trotteten ihren ebenen Tritt, +und von ihren Lenkern gab sich manch einer, vornüber +gesunken, dem Schlaf hin, der aber hier und da einem +teuer zu stehen kam. Denn weder auf der preußischen +noch auf der bremischen Seite war die Polizei einer +derartigen Nachtruhe hold.</p> + +<p>Auch Gerd kam um diese Zeit zwei- oder dreimal +die Woche mit seinem Schiff in die Stadt. Die Schwester +zu besuchen, konnte er sich aber längere Zeit nicht<span class="pagenum" id="Seite_347">[S. 347]</span> +entschließen. Neues in ihrer Sache gab es nicht zu berichten. +Hermann hatte zwar einige Male um eine +Stelle geschrieben, bislang aber nichts Passendes gefunden.</p> + +<p>Endlich, im letzten Drittel des Oktober, machte er +sich einmal wieder auf den Weg, sie zu besuchen, veranlaßt +durch einen Brief, in dem sie gar herzlich und +dringend darum bat.</p> + +<p>Als er das Haus betrat, winkte Frau Marwede, +die im Laden beschäftigt war, ihn in eine anstoßende +kleine Stube, eine Art Kontor. Er mußte Platz nehmen, +und sie stellte sich, die Hände in die Seiten gestemmt, +breit vor ihn hin.</p> + +<p>»Rosenbrock,« begann sie, »ich weiß nicht, was das +in der letzten Zeit mit Ihrer Schwester ist. Sie ist so +vergeßlich und träge und zu nichts recht zu gebrauchen. +Ich habe da nun leider eine schlimme Vermutung. Als +ich neulich aber mal so was andeutete, tat sie sehr +empört und beleidigt. Deshalb wollte ich einmal mit +Ihnen darüber sprechen.«</p> + +<p>Gerd seufzte. »Sie werden wohl recht haben, Frau +Marwede.«</p> + +<p>Die Frau schlug die Hände zusammen. »Wirklich? +Oh, wie mir das leid tut! Wir haben das Mädchen +so gern gehabt. Wie lieb sie mit unserer seligen kleinen +Olga war, das werden wir ihr nie vergessen. Da +haben wir sie erst recht kennen gelernt und ins Herz +geschlossen. Oh, der Leichtsinn bei der Jugend von +heutzutage, und die Verführung! Ich hab' sie doch neulich +noch so ernstlich gewarnt ... Es tut mir furchtbar<span class="pagenum" id="Seite_348">[S. 348]</span> +leid, Rosenbrock; aber unter diesen Umständen nehmen +Sie sie zum ersten November doch wohl lieber wieder +mit.«</p> + +<p>»Frau Marwede, wollen Sie nicht so gut sein und +sie noch ein paar Wochen behalten? Wir hoffen, daß +es noch vor Weihnachten zur Hochzeit kommt.«</p> + +<p>»So gern ich es täte, es geht nicht, schon wegen +der Kinder. Unsere beiden Ältesten sind schon höllischen +aufgeklärt. Und bei ihrer jetzigen Gemütsverfassung +haben wir ja auch so gut wie nichts mehr +von ihr.«</p> + +<p>»Wie Sie meinen ...«</p> + +<p>»Gehen Sie nur auf ihre Kammer, ich schicke sie +Ihnen gleich, sie ist augenblicklich im Keller.«</p> + +<p>Gerd stieg langsam die Treppe zum Bodengeschoß +hinauf und setzte sich in ihrem Stübchen auf den einzigen +Stuhl.</p> + +<p>Bald hörte er ihren eilenden Tritt. Sie erschien +in der Tür und sah ihn mit großen fragenden +Augen an.</p> + +<p>»Bringst du was Neues?« fragte sie atemlos.</p> + +<p>Er schüttelte langsam den Kopf.</p> + +<p>Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Wenn Hermann +ernstlich will, sollte man denken, müßte er doch was +finden können.«</p> + +<p>Er zuckte die Achseln: »Ja, die Sache zieht sich gar zu +sehr in die Länge ... Vielleicht nimmt er zuletzt doch +die andere.«</p> + +<p>»Welche andere?«</p> + +<p>»Hab' ich dir das nicht geschrieben?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_349">[S. 349]</span></p> + +<p>»Nein. Mensch, welche andere?«</p> + +<p>»Sein Vater hat ihm die Tochter von unserm Grasbauern +zugedacht.«</p> + +<p>»Hermine?«</p> + +<p>Gerd nickte.</p> + +<p>»Aber die hatte ja schon damals, als ich eben erst +konfirmiert war, vor fünf Jahren, keine eigenen Haare +mehr!«</p> + +<p>»So eine nimmt man ja auch nicht ihrer Haare, +sondern ihres Geldes wegen.«</p> + +<p>»Gerd! ...«</p> + +<p>»Leidchen ...«</p> + +<p>»Ich weiß gewiß, wenn er die bloß sieht, nimmt +er Reißaus. Dazu kenn' ich meinen Hermann zu genau. +Nein, wegen der kann ich ganz ruhig sein.«</p> + +<p>Er zuckte die Achseln ...</p> + +<p>»Was soll nun werden?« fragte er nach einer Weile.</p> + +<p>Sie hatte sich auf den Bettrand gesetzt und sah ihn +an wie ein hilfloses Kind.</p> + +<p>»Du mußt nämlich wissen, Frau Marwede hat eben +zum ersten November gekündigt,« fuhr er fort.</p> + +<p>Sie erschrak. »Hast du ihr was gesagt?«</p> + +<p>»Sie redete mich darauf an, und lügen wollte ich +deswegen nicht.«</p> + +<p>»Wo soll ich denn aber so lange hin?«</p> + +<p>»Ja, das möchte ich auch wissen ... Bei uns ist jetzt, +wo die Kinder größer werden, nicht recht Platz ... Und +überhaupt ...«</p> + +<p>»Zu Trina möcht' ich auch nicht, die ist so schrecklich +selbstgerecht ... und dann die ganze Nachbarschaft ...«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_350">[S. 350]</span></p> + +<p>»Geh doch zu deinem Vormund. Er hat dich gegen +meinen Willen hier hergeschickt und kann dir nun auch +helfen, die Suppe auszuessen.«</p> + +<p>»Ach Gerd, die Leute haben nie Kinder gehabt und +denken bloß an sich ... Weißt du keinen besseren Rat?«</p> + +<p>»Ja, nun heißt's: Gerd, du mußt Rat schaffen. +Früher, als es noch Zeit war, wurde mein Wort für +nichts geachtet.«</p> + +<p>»Aber ich muß doch irgendwo bleiben!«</p> + +<p>»Ja, ja. Da ist guter Rat teuer.«</p> + +<p>Er hatte den Kopf in die Hände gestützt und sah +lange nachdenklich zu Boden. Endlich richtete er sich +auf, sein Gesicht hatte einen lebhafteren Ausdruck angenommen: +»Hm. Das wäre vielleicht was ...«</p> + +<p>Sie sah gespannt und erwartungsvoll zu ihm hinüber.</p> + +<p>»Hm, wenn wir den Torf erst zur Stadt haben, +könnte Jan mich für den Winter wohl entbehren. +Dann wär' es am Ende möglich, daß ich schon bald +in mein Haus zöge und anfinge, die Stelle tüchtig zu +bearbeiten. Sie hat es ja bitter nötig ... Dann käm' +ich nächstes Frühjahr mit Sine gleich besser in Gang ... +Und wenn du mitgingest und mir haushieltest ...«</p> + +<p>Sie sprang vom Bettrand auf, ergriff seine Hand +und rief mit glänzenden Augen: »Oh, wie gern tu' ich +das! Ja, Gerd, so geht es fein. Man zu, bitte, bitte!«</p> + +<p>Er schüttelte den Kopf: »Eigentlich ist es ja Unsinn. +Und ob Jan seine Zustimmung gibt? Und ob's Sine +recht ist?«</p> + +<p>»Oh, Gerd,« rief Leidchen, »die kriegst du leicht +herum. Bedenk doch, dann bin ich auch näher bei<span class="pagenum" id="Seite_351">[S. 351]</span> +Hermann. Wenn ich so weit von ihm weg bin, ist es +mir manchmal, als ob ich die Gewalt über ihn verlöre. +Er ist einer von denen, die man immer im Auge behalten +muß.«</p> + +<p>Gerd zuckte mit der Schulter. »Wie machen wir's nur +mit dem Hausrat? Das ist noch das Schlimmste.«</p> + +<p>»Oh, wenn's anders nichts ist! Ich hab' ja mein +eigenes Bett, und du kannst das, worin du jetzt schläfst, +bis Ostern wohl von Trina leihen, eher nehmen sie ja +doch keinen Knecht wieder. Bettstellen brauchen wir +nicht, denn da ist gewiß an jeder Stube eine Butze. +Den Tisch und ein paar Stühle gibt Trina auch wohl +her, oder sonst Tante Rotermund. Die Küchengerätschaften, +Messer und Gabeln, Teller und Tassen will ich +gern kaufen. Ich muß ja doch welche haben, für meine +Aussteuer. Du mußt aber mit Jan abmachen, daß er +dich wieder nimmt, wenn ich Hochzeit mache.«</p> + +<p>Sie sprachen noch eine Weile über den Plan hin +und her, und Leidchen, die auf einmal wie neu belebt +war, hatte dabei die besten und praktischsten Gedanken. +Zuletzt wurde abgemacht, wenn Gerd keine andere +Nachricht gäbe, sollte er am ersten November kommen +und die Schwester holen, die dann alles zur Abreise +fertig haben wollte.</p> + +<p>Als Gerd nach Hause kam, trug er Jan und Trina +seinen Plan, und was diesen veranlaßte, vor. Sie +waren über Leidchen weidlich entrüstet und gaben +schließlich ihre Einwilligung unter der Bedingung, daß +Gerd seinen Torf noch in die Stadt zu schaffen habe, je +nach der Zeit, wann die Kunden ihn verlangten.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_352">[S. 352]</span></p> + +<p>Sine weinte blanke Tränen, als Gerd ihr von Leidchen +erzählte, und war sogleich bereit, einige Stücke +ihrer Aussteuer schon jetzt herzugeben. Er freute sich +ihres guten Herzens, und sie dachte, ein so treuer Bruder +würde auch einen trefflichen Ehemann abgeben.</p> + +<p>Um den Weg von Nr. 40 nach Nr. 1 <em class="antiqua">a</em>, für den +ein Fußgänger fast dreiviertel Stunden gebrauchte, +schneller zurücklegen zu können, kaufte Gerd sich ein +Fahrrad für alt und machte sich mit Eifer daran, +die Wohnung instand zu setzen. Er versuchte sich mit +einem Geschick, über das er sich selbst wunderte, als +Maurer, Zimmermann und Dachdecker, und brauchte +Handwerker nur für wenige Tage zu Hilfe zu nehmen. +Ende Oktober war das Haus soweit hergerichtet und +mit Gerät, Feuerung und Lebensmitteln versehen, daß +zwei Menschen zur Not in ihm ein paar Wintermonate +überstehen konnten. Am Vormittag des Einunddreißigsten +tat er das Kätzchen, das sich in seinem Asyl hübsch +herausgemacht hatte, in ein Beutelchen, das er an die +Lenkstange seines Rades hängte, und fuhr es in die alte +Heimat zurück, wo es sofort auf die Herdstelle sprang +und behaglich zu schnurren begann.</p> + +<p>Am Nachmittag fuhr er nach Bremen, um die +Schwester zu holen.</p> + +<p>Nach schnellem, ungerührtem Abschied von den +Milchhändlersleuten folgten die Geschwister einem +Torfwagen, der zufällig des Weges kam und Leidchens +Siebensachen zum Torfhafen mitnahm. Als sie aber +die Große Weserbrücke überschritten hatten, trennten sie +sich von ihm, um den Weg durch die innere Stadt zu<span class="pagenum" id="Seite_353">[S. 353]</span> +nehmen und auf dem Freimarkt, der eben wieder im +Gange war, noch einige Einkäufe für ihren jungen +Hausstand zu machen. Zu Füßen des Riesen Roland +erstanden sie ein paar Blechsachen, auf der Domsheide +etwas irdenes Geschirr.</p> + +<p>Als sie durch eine der Zeltreihen des Domhofes +gingen, blieb Leidchen vor einer Kuchenbude stehen. +»So was gibt's heute nicht,« sagte Gerd mit strengem +Gesicht und ging weiter, aber sie hörte nicht darauf, +und als sie bald nachkam, überreichte sie ihm ein großes +rotes Kuchenherz. Er wollte schelten, als er aber +das aufgeklebte Verschen las, schwieg er und sagte +kurz: »Danke.« Die Inschrift des schmalen weißen +Zettelchens lautete: »Ein getreues Herze wissen, ist des +höchsten Glückes Preis.«</p> + +<p>Langsam schlenderten sie die Budengasse hinunter.</p> + +<p>Vor einem Karussell, auf dem allerlei Jungvolk +vom Lande sich belustigte, blieb Leidchen wieder stehen. +Als Gerd von der Seite ihr Gesicht beobachtete, sah +er in ihren Augen ein feuchtes Schimmern. Da fiel +ihm ein: hier war's gewesen, wo sie vor Jahren mit +dem, der nun ihr Verhängnis geworden war, fröhlich +lachend ihm davonfuhr und er ihr verdutzt und ärgerlich +nachblickte.</p> + +<p>Da Leidchen noch immer stand und alles um sich her +vergessen zu haben schien, zupfte er sie leise am Ärmel. +Sie fuhr wie aus einem Traum empor und folgte ihm +langsam. Als sie aus dem Marktgedränge heraus +waren, schlugen sie einen schnelleren Schritt an, der sie +in kurzem zum Torfhafen brachte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_354">[S. 354]</span></p> + +<p>Sie trugen die Kommode und die anderen Sachen, +die der Fuhrmann auf das Kaipflaster gestellt hatte, +ins Schiff und machten alles zur Abfahrt fertig.</p> + +<p>Als Gerd das Schieberuder nahm, fragte sie: »Soll +ich an der Leine gehen und ziehen?« »Danke,« gab er +zur Antwort, »hier auf dem Kanal kann ich's gut +allein.«</p> + +<p>Er schob an, und das Schiff setzte sich in Bewegung. +Sie ging auf dem Leinpfad hinter ihm her. Eine Drehorgel +spielte ihnen zum Abschied: Freut euch des +Lebens. Die Klänge wurden schwächer und schwächer +und gingen zuletzt in dem Brausen des Herbstwindes +unter, der die Bäume des Bürgerparks schüttelte und +entblätterte.</p> + +<p>Der Wasserlauf machte eine Biegung nach links +und zog sich in das freie, unter Wasser stehende Blocklander +Feld hinauf, über das der Wind in langen +Stößen hinfegte. Einmal wandte Leidchen sich um. +Die Stadt, unter grauem Wolkenhimmel mit Regenstreifen, +lag schon ein gutes Stück zurück. Sie zerdrückte +eine Träne in den Augen. Von hier aus hatte sie das +Ziel ihrer jugendlichen Wünsche und Träume vor +vier Jahren im Goldglanz der Herbstmorgenfrühe +geschaut.</p> + +<p>Als sie die Hamme erreichten, brach der Abend herein. +Der Himmel hing voll grauer, tiefziehender Wolken, +die ein böiger Wind trieb, der zuweilen fast zum +Sturm wurde. Leidchen zog sich bald in die Koje +zurück. Gerd hatte mit seinem Stangenruder angestrengt +zu arbeiten, denn der Wind kam scharf von<span class="pagenum" id="Seite_355">[S. 355]</span> +der Seite und trieb das Schiff zum anderen Ufer +hinüber.</p> + +<p>Endlich machte der Fluß eine Biegung, und er +konnte den Mast aufrichten und das Segel entfalten.</p> + +<p>Da infolge der Regengüsse der letzten Woche die +Hamme aus den Ufern getreten war und ihr Tal einen +weiten See bildete, durfte er es wagen, quer durch die +überschwemmten Wiesen segelnd einige Krümmungen +des Flußlaufs abzuschneiden. Er lag am Steuerruder +und hatte das Segeltau nicht wie gewöhnlich am Tauhaken +festgemacht, sondern mehrmals um seinen Arm +gewunden, mit dessen sehniger Kraft Sturm und Wellen +zu meistern ihm Freude machte. In solchen Nächten +bekam die eintönige, mühselige Moorflußschiffahrt, zum +Kampf mit den entfesselten Elementen werdend, eine +gewisse Größe und brachte eine Aufrüttlung des inneren +Menschen, die der junge Schiffer wohltuend empfand.</p> + +<p>Für Augenblicke verbreitete der volle Mond, freiwerdend, +Tageshelle und warf sein glitzerndes Licht +über das Wellengewoge, um dann wieder von dunklen +Wolkenungeheuern verschlungen zu werden, deren +Schatten wie riesige Gespenster über die aufgeregten +Wasser tanzten. In den pfeifenden, sausenden Schilfwäldern +schnarrten die Enten, aus der Höhe kamen die +Schreie der Wildgänse und schrille Wandervogelrufe.</p> + +<p>Die Wogen planschten so stark gegen die dünnen +Schiffsplanken, daß man jeden Schlag durch sie hin +fühlte. Wenn der Sturm sich mit erneuter Kraft in +das schwarze Segel warf, ächzte der Mastbaum in der<span class="pagenum" id="Seite_356">[S. 356]</span> +Segelbank, und Gerd, der scharf und hell in das wilde +Wesen hineinpfiff, fürchtete einige Male fast, er würde +umknicken.</p> + +<p>Plötzlich gab es einen Stoß und Krach, als ob das +kleine Fahrzeug mitten entzwei bräche. Es saß fest, +neigte zur Seite, eine Welle spritzte über Bord. Mit +einem gellenden Schrei kam Leidchen aus der Koje gefahren; +das Segel, das Gerd, um nicht zu kentern, +schnell hatte flattern lassen, schlug ihr klatschend um +das Gesicht. Unter ihm sich duckend, ging sie auf den +Knien in die Mitte des Schiffs und sah den Bruder +mit entsetzten Augen an.</p> + +<p>»Keine Bange, mein Deern,« sagte er gelassen, indem +er bereits mit dem Schieberuder arbeitete, »ich +krieg' uns schon los.«</p> + +<p>Nach einer Minute war das Schiff denn auch wieder +frei. »Das Segel will ich doch lieber einholen,« fuhr +er fort, »der Wind bringt uns zu weit aus der Kehr.«</p> + +<p>Als er das wild sich gebärdende Tuch geborgen hatte, +begann er mit dem Stangenruder zu arbeiten. Leidchen +kauerte vor ihrer Kommode nieder und sagte +schuddernd: »Eine schreckliche Fahrt!«</p> + +<p>»Eine herrliche Fahrt!« gab er zurück, und es war +ein den Sturm übertönendes Jauchzen in seiner +Stimme. »Es wär' ein Jammer, wenn's nicht auch so +was gäbe, zumal in so bedrückten Zeiten!«</p> + +<p>Nach einer Weile hob sie sich ein wenig; der Mond, +eben wieder aus dem Gewölk tretend, beleuchtete scharf +ihr von einem schwarzen Umschlagetuch teilweise verhülltes +Gesicht und verlieh den großen, tief in ihren<span class="pagenum" id="Seite_357">[S. 357]</span> +Höhlen liegenden Augen einen fremdartigen Glanz: +»Gerd, ich will dich mal was fragen.«</p> + +<p>»Was denn, Kind?«</p> + +<p>»Du darfst mir aber nichts vorschnacken, du sollst +reden, wie es deine Überzeugung ist ... Glaubst du +wirklich noch, daß Hermann sein Wort hält?«</p> + +<p>Er schwieg.</p> + +<p>»Gerd, gib mir Antwort!«</p> + +<p>»... Ich habe keine Hoffnung mehr.«</p> + +<p>Da schlug sie die Hände vor das Gesicht, sank in +sich zusammen und wimmerte: »Dann wollt' ich, ich +läge unten auf dem Grund der Hamme und wäre tot.«</p> + +<p>Es dauerte nicht lange, so beugte er sich zu ihr nieder +und rief leise ihren Namen.</p> + +<p>»Leidchen,« rief er etwas lauter.</p> + +<p>»Was soll ich?«</p> + +<p>»Ein getreues Herze wissen ...«</p> + +<p>Sie kam auf dem Boden des Schiffes herangekrochen +und umschlang schluchzend seine Knie. Und er +bückte sich, ihr wie einem kranken Kinde mit der harten +Arbeitshand die weichen Wangen zu streicheln: »Liebes +Leidchen, nun sei man still. Wir beide halten treu zusammen +... Es kommt auch wohl noch mal die Zeit, +wo du wieder durchgrünst ... unser Herrgott wird +dich ganz gewiß nicht verlassen ...«</p> + +<p>Das Licht einer Hammehütte, das ihm als Richtepunkt +diente, wollte und wollte nicht näher kommen, es +gab ein schweres Arbeiten. Als er endlich vor der +kleinen Herberge anlangte, war er wie in Schweiß gebadet +und erklärte, er müsse sich ausruhen. »Willst du<span class="pagenum" id="Seite_358">[S. 358]</span> +dich so lange in die Koje legen?« fragte er die +Schwester. Sie schüttelte sich und sah ihn erschrocken +an: »Allein graut mir.« Da legte er brüderlich den +Arm um sie und schritt mit ihr der Hütte zu.</p> + +<p>Eine gute Stunde saßen sie in der heißen, tabaksqualmerfüllten +Schifferherberge. Gerd hatte nach seiner +Gewohnheit den Kopf in die auf dem Tisch verschränkten +Arme gelegt und war schnell eingeschlafen. Leidchen +saß steif auf ihrem Schemel und blickte in das +fremdartige Treiben. Die ankommenden Schiffer machten +ihre Bemerkungen über Wind und Wasser, und +ließen sich von dem Wirt, der ein mürrisch verschlafenes +Gesicht zeigte, bedienen. An einem Tisch, wo junge +Burschen Karten spielten, wurde gotteslästerlich geflucht, +und einer von ihnen sah öfters zu Leidchen hinüber, +mit frech vertraulichen Blicken. Sie war nur +froh, daß sie keinen aus ihrem Dorf entdeckte. Bald +schloß auch sie die Augen, aber ohne Schlaf und Vergessen +zu finden.</p> + +<p>Das erste Grau stand im Osten, als sie in den Brunsoder +Schiffgraben einliefen und ausstiegen.</p> + +<p>»Soll ich mich in die Leine legen?« fragte Leidchen.</p> + +<p>»Nein,« sagte Gerd, »ich will das Schiff wohl +ziehen, du kannst es mit der Stange vom Ufer +halten.«</p> + +<p>So arbeiteten sie sich langsam durch die Morgendämmerung +die Reihe der Klappstaue hinauf.</p> + +<p>Dicht vor der Mühle zweigte der Achterdammsgraben +ab, in den Gerd sein Schiff hineinlenkte.</p> + +<p>Klopfenden Herzens suchte Leidchen mit den Augen<span class="pagenum" id="Seite_359">[S. 359]</span> +das stattliche Mühlgehöft ab, entdeckte aber nichts +Lebendes außer dem großen Hund, der vor seiner +Hütte lag und sich kratzte. Er schien noch nicht in der +Stimmung zu sein, Schiffer anzubellen.</p> + +<p>Die Wolken des östlichen Himmels zeigten jetzt +goldige Säume.</p> + +<p>»Da kuckt mein Busch über das Moor,« sagte +Gerd, mit der Hand nach vorn weisend. »Wenn du +scharf zusiehst, kannst du auch schon das Hausdach erkennen. +Siehst du's?«</p> + +<p>Leidchen nickte.</p> + +<p>Nach einer Weile zeigte er auf einen durch üppig +wucherndes Heidekraut blinkenden, tiefen und schmalen +Graben und sagte mit frohem Stolz: »Dies ist die +Grenze, hier fängt meine Gerechtsame an.«</p> + +<p>Nach hundert weiteren Schritten hielt er den Kopf +ein wenig schief und sagte: »Nicht wahr, ein feines +Besitztum? Wie schön machen sich die beiden hohen +Tannen rechts und links vom Hause, beinah wie ein +Paar Schildwachen! Du kannst jetzt auch schon die +gelben Flicken im Dach sehen, die ich selbst eingesetzt +habe.«</p> + +<p>Er blickte sich fragend um. Sie nickte mit erzwungenem +Lächeln und sagte: »Ja, Junge, du kannst wohl +lachen, wenn andere Leute weinen.«</p> + +<p>Einige Minuten später führte Gerd von dem halb +eingesunkenen Schiffschauer, wo sie angelegt hatten, +seine Schwester an der Hand dem Hause zu.</p> + +<p>Ehe sie durch die Große Tür eintraten, blieb er +stehen und sagte, zur Oberschwelle aufblickend, indem<span class="pagenum" id="Seite_360">[S. 360]</span> +er den Arm um ihre Hüfte legte: »Unsern Eingang +segne Gott.«</p> + +<p>»Unsern Ausgang gleichermaßen,« ergänzte sie leise +mit zager Stimme.</p> + +<p>So hatte der Erbauer des Hauses es in den Eichenbalken +graben lassen.</p> + +<p>Auf dem Flett kam ihnen das Kätzchen entgegengesprungen, +rieb sich an Gerds Schienbeinen und +wuschelte sich in Leidchens Rock.</p> + +<p>»Kuck an,« rief er munter, »etwas Lebiges ist auch +schon da,« und sie bückte sich froh überrascht und streichelte +dem Tierchen das seidige Fell.</p> + +<p>Als sie alle Räume besehen und darauf die Kommode +und übrigen Sachen hereingeholt hatten, rieb +der Hausherr sich behaglich die Hände und sagte: »So +mein' Deern, nun koch' uns mal 'n schönen Kaffee. Da +in dem Kasten findest du Kaffee und Zichorien. Einen +Gasherd hab' ich hier nicht, mußt sehn, wie du mit +so 'ner altmodischen Feuerstelle fertig wirst.«</p> + +<p>Das unter dem berußten Kessel bereitliegende +Sprickerholz knisterte und rauchte, flammte auf, die +Funken sprangen, das Wasser begann zu singen, +dampfte, brodelte, und es dauerte nicht lange, so saßen +die Geschwister und schlürften mit spitzem, vorsichtigem +Munde den heißen Trank, der ihnen nach der rauhen +Sturmnacht wohltat. »Wir müssen ihn diesmal noch +schwarz trinken,« sagte Gerd, »die Ziege hol' ich heute +nachmittag.« Dazu aßen sie Schwarzbrot mit Butter +und Schinken, die Gerd einem unbehobelten Kasten entnahm, +der einstweilen den Vorratsschrank ersetzte. Er<span class="pagenum" id="Seite_361">[S. 361]</span> +schlug eine wackere Klinge und nötigte, mit vollem +Munde kauend, immer wieder: »Zu, Leidchen! Lang' +dreist zu! Du kannst so viel essen wie du magst ... +Hier auf dem Lande muß der Mensch ordentlich essen ... +So kommodig wie in der Stadt mit dem bißchen Fegen +und Wischen kriegst du's bei mir nicht, das mußt du +dir ja nicht einbilden. Hier wird gearbeitet! ... +Nimm dir man noch 'n ordentliches Stück Schinken, +den Speck kannst du mir geben, wenn er dir zu fettig +ist ... Ach, im eigenen Hause schmeckt's einem doch +zehnmal so schön, als an anderer Leute Tisch ... Kuck +mal, da kommt auch schon Besuch!«</p> + +<p>»Wer?« fragte Leidchen erschrocken, indem sie mit +hastigen Blicken das Gesichtsfeld vor dem Fenster +absuchte.</p> + +<p>»Die liebe Sonne,« sagte er lächelnd, und fügte mit +Paul Gerhardt hinzu: »Voll Freud' und Wonne.«</p> + +<p>Das freundliche Himmelslicht hatte sich siegreich +durch die Wolken gekämpft und strahlte hell durch die +bleigefaßten grünlichen Scheiben auf den rotgestrichenen +Tisch.</p> + +<p>»Nun geht sie schon wieder weg,« sagte Leidchen, als +eine Wolke das Sonnenlächeln schnell auslöschte.</p> + +<p>»Sie kommt bald wieder,« tröstete Gerd.</p> + +<p>Dann reichte er der Schwester über den Tisch die +Hand und sagte: »So Leidchen, wenn du satt bist, +gehst du erst in die andere Stube und kriechst in deine +Butze. Bis Mittag kannst du ordentlich ausschlafen, +dann weck' ich dich, und du machst uns eine Pfanne +Eierbutter.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_362">[S. 362]</span></p> + +<p>Sie nickte, stand auf und ging.</p> + +<p>Auch er gedachte ein wenig zu ruhen. Aber vorerst +steckte er sich ein Pfeifchen an, um ein paar Züge +zu tun, und ging, mit Genuß die graubraunen Wolken +vor sich her blasend, noch einmal durch alle Räume +seines Hauses. Dann trat er auf den Hof hinaus +und ließ die stillfrohen Augen über sein kleines Königreich +wandern. Die Sonne brach gerade einmal wieder +durch. Da lehnte er sich an den Türpfosten, schlug das +eine Bein über das andere und blinzelte und paffte, +seiner Sine gedenkend, in das gelbe Licht des Herbstmorgens.</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_363">[S. 363]</span></p> +<h2 class="s2">20.</h2> +</div> + +<p>»Hier bring' ich dir unsere Zickmarie,« rief Gerd +am Nachmittag frohgelaunt, als er der Schwester +eine pfeffer- und salzfarbene, hörnerlose, langbärtige +Ziege vorführte. »Was meinst du, ist sie sechs +Taler wert?«</p> + +<p>Leidchen sah dem Tiere nach dem Euter und sagte: +»Och ja, das will ich nicht sagen ...«</p> + +<p>»Du könntest sie wohl gleich mal melken, Deern.«</p> + +<p>Während sie ein Gefäß holen ging, führte er die +neue Hausgenossin mit freundlichen Willkommsworten +in den Stall.</p> + +<p>Bald strullte die Milch in die irdene Schale. »Wie +schön weiß sie ist!« rief Gerd in der Freude an dem +ersten eigenen Stück Vieh bewundernd, und Leidchen +lächelte zu ihm hinauf: »Wie soll Milch denn anders +aussehen?«</p> + +<p>»Daß ich es nicht vergesse,« sagte Gerd nach einer +Weile. »Ich soll dich auch grüßen.«</p> + +<p>»Von wem?«</p> + +<p>»Von Hermann.«</p> + +<p>Sie sah erschrocken zu ihm auf und hielt, das Melken +unterbrechend, den Euterstrich zwischen den zitternden +Fingern.</p> + +<p>»Hast du ihn gesprochen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Ich soll dich grüßen.«</p> + +<p>»Sonst nichts?«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_364">[S. 364]</span></p> + +<p>»Er würde dir bald mal guten Tag sagen, aber heut' +hätte er noch keine Zeit, der Wind wär' zu günstig. +Wind geht solchem Windmüller ja über alles ... +Aber nun vergiß das Melken nicht ganz, das Tier wird +schon ungeduldig.«</p> + +<p>Die Milch zischte zweimal an der Schale vorbei und +fand dann erst wieder den richtigen Weg.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Als Gerd am nächsten Mittag von der Arbeit im +Freien zu Tisch kam, machte er große Augen. Leidchen +hatte in Bremen einige Holzschnitte und bunte Bilder +aus einer abgängigen Zeitschrift gerettet und nun die +kahlen, getünchten Wände der Wohnstube damit geschmückt. +»Wie ihr Racker von Frauensleuten einem +das Haus gleich wohnlich und gemütlich machen könnt!« +rief er froh verwundert, und sie führte ihn mit glücklichem +Lächeln durch ihre kleine Galerie: »Das ist +Barry, der berühmte Bernhardinerhund, wie er einen +Verunglückten im Schnee findet ... hier schießen sie +den treuen Andreas Hofer tot ... und hier spielen feine +Damen Schäferin ... und dies ist die Schlacht bei +Gravelotte ... und hier feiert Luther mit seiner Familie +Weihnachten, dies ist seine Frau Käthe, das da wird +wohl Magdalenchen sein, und der Mann mit dem Bart +ist, glaub' ich, Philipp Melanchthon.« »Kuck bloß mal +einer an, was bei uns nun alles zu sehen ist!« rief Gerd, +über ihre Freude an den Bildern noch mehr erfreut als +über diese selbst. »Sollst mal sehen, es wird ein gemütlicher +Winter,« fügte er hinzu. Aber da trübte sich ihr +Blick auf einmal, und sie schlug die Augen zu Boden.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_365">[S. 365]</span></p> + +<p>Am Tage darauf sollte Gerd wieder für Jan eine +Ladung Torf nach Bremen schaffen. Nachdem er die +Schwester ermahnt hatte, auf alles gut zu passen und +der reisenden Handwerksburschen wegen die Türen verschlossen +zu halten, fuhr er auf seinem Rade davon.</p> + +<p>Leidchen setzte sich in die Wohnstube vor das Fenster +und nahm des Bruders blaue Arbeitshose vor, um vor +dem rechten Knie einen Flicken einzusetzen. Die Flügel +der Mühle, die von hier aus über dem Birkenanflug +des Hochmoores sichtbar waren, drehten sich noch +immer, aber, wie es ihr wenigstens scheinen wollte, +langsamer als die beiden letzten Tage, wo sie so oft nach +ihnen ausgeschaut hatte. Richtig, der Wind hatte nachgelassen. +Und sie wurden noch langsamer, und zuletzt +standen sie still.</p> + +<p>Da legte sie die Arbeit zur Seite, machte sich das +Haar, zog ein besseres Kleid an und nahm voller Erwartung +ihren Platz am Fenster wieder ein. Zum +Flicken hatte sie keine Ruhe mehr, sie nahm einen angefangenen +Strumpf und ließ die Stahlsticken mechanisch +klirren.</p> + +<p>Als die Dämmerung hereinbrach, stellte sie die +Küchenlampe auf den Tisch, so, daß ihr lockender Schein +zum Fenster hinausfiel.</p> + +<p>Es wurde schnell dunkel, bald war draußen nichts +mehr zu erkennen. Da ließ sie das Strickzeug in den +Schoß sinken und begann zu horchen und zu lauschen.</p> + +<p>Und sie hörte die Stille, die tiefe, lautlose Stille +nächtlicher Mooreinsamkeit. Und sie erschrak vor ihr, +wurde von ihr wie gebannt und gelähmt. Als endlich<span class="pagenum" id="Seite_366">[S. 366]</span> +eine Fliege um die Lampe summte, empfand sie den +Ton wie eine Erlösung und atmete befreit auf.</p> + +<p>Plötzlich stand sie auf, hüllte sich in ihr Umschlagetuch, +trat ins Freie und folgte dem Pfad, der durch +Gerds Äcker zu seiner Hochmoorbank hinauflief. Bald +stand sie vor dem schmalen Grenzgraben, der seinen Besitz +von der Mühlstelle trennte. Mit Herzklopfen trat +sie hinüber. Der Pfad führte hier durch junge Kiefern +und Birkenanflug weiter. Scharf spähte sie ihn entlang +und behielt auch den parallel laufenden Damm zur +Linken im Auge, den der Erwartete ja ebensogut wählen +konnte. Am Rande des Hochmoors blieb sie stehen. +Jenseits der schwarzen Torfgründe schimmerte die +junge Wintersaat durch das Dunkel, weiterhin waren +die Umrisse des Mühlgehöftes zu erkennen, mit den erleuchteten +Fenstern des Wohnhauses.</p> + +<p>Drüben auf dem Damm ging jemand. Mit klopfendem +Herzen eilte sie den Weg zurück, den sie gekommen +war. Das Licht im Fenster blinkte ihr hell entgegen.</p> + +<p>Sie stellte sich hinter das Schiffschauer und spähte +zu dem nahe vorüberführenden Kirchdamm hinüber. +Wenn die Gestalt, die langsam auf ihm dahergeschritten +kam, doch zum Achterdamm abbiegen wollte! ...</p> + +<p>Aber sie ging vorüber.</p> + +<p>Die bitter Enttäuschte kehrte ins Haus zurück und +nahm ihren Platz am Fenster wieder ein. Und wieder +war die fürchterliche Stille um sie. Da rief sie das +Kätzchen in die Stube, um etwas Lebendiges bei sich +zu haben, und war dankbar, wenn es einmal schnurrte +oder miaute.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_367">[S. 367]</span></p> + +<p>Endlich ging sie in die andere Stube hinüber, um +sich zur Ruhe zu begeben. Sie zog sich aber nicht aus, +sondern stieg angekleidet in ihre Butze.</p> + +<p>Sie hatte lange Zeit gelegen, erst horchend, dann +grübelnd, zuletzt in einer Art Halbschlaf, als sie plötzlich +in die Höhe fuhr und rief: »Ich komme!«</p> + +<p>Auf den rechten Arm gestützt, horchte sie, mit angehaltenem +Atem.</p> + +<p>Sie hörte das wilde Klopfen des eigenen Herzens. +Sonst war nichts um sie als tiefste Stille.</p> + +<p>»Es hat doch geklopft,« murmelte sie, »ich hab's ja +ganz deutlich gehört.« Und sie stand auf, öffnete das +Fenster und lehnte sich spähend hinaus.</p> + +<p>Der eben aufgehende Mond hing wie eine brandrote +Scheibe in den Moorbirken. Mitternacht mußte +längst vorüber sein.</p> + +<p>Sie schloß das Fenster, warf schnell ihre Kleider ab +und legte sich wieder in die Butze, deren Schiebetür sie +jetzt fest hinter sich zuzog.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Gerd brachte von der Stadt einen kurzbeinigen, +langschwänzigen, braungelben kleinen Köter mit, der +auf den Namen »Lustig« hörte. Er hatte ihn von einem +Torfkunden geschenkt bekommen, der wegen des Tierchens +mit seinem Hauswirt Ungelegenheiten gehabt +hatte. »Ich dachte,« sagte er, als er ihn Leidchen vorstellte, +»ich wollte ihn man nehmen, wo wir so einsam +wohnen und ich dich oft allein lassen muß. Er frißt +sich wohl sacht mit durch. Mit 'm Hund, das ist doch +immer geselliger als mit 'ner Katze.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_368">[S. 368]</span></p> + +<p>»Junge, wie du doch an alles denkst!« sagte +Leidchen verwundert und bewillkommnete den +neuen Hausgenossen mit einem Teller verdünnter +Ziegenmilch.</p> + +<p>Musch und Lustig konnten sich anfangs nicht gut +riechen. Als aber beide ihre Tracht Prügel weg hatten, +kam schnell eine Art Einvernehmen zustande, korrekt, +wenn auch ohne Herzlichkeit.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am Sonntagnachmittag war Gerd eben mal ins +Dorf gegangen, während Leidchen nach dem Aufwaschen +des Geschirrs auf dem Flett saß und die bei +Tisch gebrauchten Messer und Gabeln putzte, wie sie es +bei Frau Marwede gelernt hatte.</p> + +<p>Da ging die Große Tür auf, ein Mädchen kam über +die Diele und mit kurzen munteren Schritten gerade +auf Leidchen zu. Ihre Hand nehmend, sagte sie, indem +die kleinen runden Augen etwas verlegen dreinschauten: +»Guten Tag, Leidchen, ich bin Sine. Ist Gerd +zu Hause?«</p> + +<p>Leidchen warf schnell einen prüfenden Blick auf die +Schwägerin und sagte, ihr Bruder wäre eben ins Dorf +gegangen, würde aber in einer Viertelstunde wohl +wieder da sein. Sine möchte nur ablegen und näher +treten.</p> + +<p>Mit einer kurzen, lebhaften Bewegung nahm Sine +die dunkelrote Wollkappe vom Kopf, strich sich mit den +Händen glättend über das Haar und trat vor Leidchen +in die Stube.</p> + +<p>Hier nahmen die beiden Mädchen sich gegenüber<span class="pagenum" id="Seite_369">[S. 369]</span> +Platz und musterten einander abwechselnd. Wenn die +eine hinsah, blickte die andere weg.</p> + +<p>Leidchen wunderte sich im stillen, daß so eine das +Herz ihres Bruders hatte erobern können. Nach seinen +Schilderungen und dem Maß seiner Verliebtheit hatte +sie sich die Braut viel stattlicher und hübscher vorgestellt. +Die war ja einen guten Kopf kleiner als sie selbst; ein +»Buttaars«, wie die Leute zu sagen pflegten. Ihr Gesicht +strotzte wohl von Gesundheit, aber für ihren Geschmack +war es etwas zu rot und viel zu rund. Die Augen guckten +ja wohl ganz grall, waren aber weder schwarz noch +braun, sondern graublau, wie die meisten Augen. Daß +die Deern niemals aus dem Moor herausgekommen +war, verriet schon der Schnitt ihrer Kleidung.</p> + +<p>Als Leidchen dies alles, nicht ohne eine gewisse Genugtuung +darüber zu empfinden, festgestellt hatte, +nahm sie der künftigen Schwägerin gegenüber etwas +damenhaft Geziertes an, wie sie es einst ihrer Freundin +Meta Stelljes abgeguckt hatte. Zur zweiten Natur, wie +dieser, hatte es ihr aber in dem einen Jahre noch nicht +werden können, sie mußte es von Fall zu Fall, wenn +sie es nötig zu haben glaubte, annehmen.</p> + +<p>»Bist du zu Fuß gekommen?« brach sie das allmählich +drückend werdende Schweigen.</p> + +<p>Sine zog ihr rundes Gesicht in die Breite und lachte: +»Jaha, meinst du, es wär' ein Kutschwagen vorgefahren +und hätte mich abgeholt?«</p> + +<p>»Du könntest ja auch per Rad gekommen sein. Viele +Fräuleins haben heutzutage ein Damenrad.«</p> + +<p>»Ha, für so'n neumodischen Spielkram hab' ich kein<span class="pagenum" id="Seite_370">[S. 370]</span> +Geld übrig. Wo ich was zu suchen hab', kann ich genug +zu Fuß hinkommen.«</p> + +<p>»Bist du mal in der Stadt in Stellung gewesen?«</p> + +<p>»Nee. Ich bin mein Lebtag nicht aus dem Kuhstall +herausgekommen.«</p> + +<p>»Hm, das ist eigentlich schade.«</p> + +<p>»Warum?«</p> + +<p>»Es ist für unsereins ganz gut, wenn er mal ein bißchen +umlernt.«</p> + +<p>»Warum? So wie ich's hier gelernt hab', soll ich's +ja doch mein Lebenlang gebrauchen.«</p> + +<p>»Na ja, aber es schadet doch nichts ...«</p> + +<p>»Ha, das ist nun zu spät. Die Hauptsache ist, daß ich +'n ordentlichen Bräutigam gekriegt hab'.«</p> + +<p>Leidchen blickte peinlich berührt zur Seite.</p> + +<p>Nach einer Weile begann sie wieder: »Ich hatte dich +mir eigentlich größer vorgestellt.«</p> + +<p>Sine lachte lustig auf: »Das kommt wohl davon, weil +ich und Becka Zwillinge sind. Da mußten wir beide uns +in die richtige Länge teilen, und dabei ist für jede nicht +so viel geblieben. Aber ich bin groß genug, die meiste +Arbeit ist für unsereins ja doch an der Erde.«</p> + +<p>Auf der Diele wurden Schritte laut.</p> + +<p>»Verrat mich nicht!« rief Sine und huschte hurtig wie +ein Kathekerchen hinter den Ofen.</p> + +<p>Gerd trat ein, die Sonntagspfeife im Munde, und +setzte sich an den Tisch, um eine Zeitung zu lesen, die er +sich aus dem Dorf mitgebracht hatte. Er interessierte sich +für das, was in der Welt vorging, an müßigen Winterabenden +sogar für die Reden, die zum Fenster des<span class="pagenum" id="Seite_371">[S. 371]</span> +Reichstags hinaus gehalten wurden, hatte sich selbst +aber noch kein Blatt bestellt, weil das Vierteljahr schon +zu weit vorgeschritten war.</p> + +<p>Plötzlich wurden ihm beide Augen von hinten zugehalten.</p> + +<p>»Laß den Unsinn, Leidchen!« rief er unwillig, und +packte die Hände. Da merkte er, daß sie für die Schwester +zu kurz und dick waren, sprang auf und drückte +seine Sine so fest an sich, daß sie kreischte. Er hatte sich +nämlich im stillen den ganzen Tag nach ihr gesehnt und +sich vorgenommen, wenn er sich in den Weltbegebenheiten +umgesehen hätte, schnell auf das Rad zu steigen +und sie noch zu besuchen.</p> + +<p>Als er sie losgelassen hatte, sahen die Brautleute +einander glückstrahlend in die Augen. »Sie ist doch gar +nicht häßlich,« mußte Leidchen sich jetzt gestehen.</p> + +<p>Diese fühlte bald, daß sie hier überflüssig war. Denn +die beiden fingen an, von der Zukunft zu plaudern, +und es schien ihr, als ob sie sich ihretwegen dabei einen +gewissen Zwang auferlegten.</p> + +<p>Sie stand auf und ging in die ungeheizte andere +Stube, wo sie sich auf den Stuhl, der außer ihrer Kommode +hier die ganze Ausstattung bildete und nachts +ihre Kleider trug, an das Fenster setzte.</p> + +<p>Was die beiden da drüben für ein Leben machten! +Man sollte nicht glauben, daß Gerd, der auf einmal so +lachen konnte, derselbe Gerd war, den sie von kindauf +kannte.</p> + +<p>Nach einer Weile ließ Sines muntere Stimme sich auf +dem Flett hören. Leidchen hob horchend den Kopf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_372">[S. 372]</span></p> + +<p>»Da kocht sie sogar schon Kaffee!« brummte sie ärgerlich +vor sich hin. »Na, meinetwegen gern. Ich bin hier +ja doch bloß geduldet. Ich wollt', ich wär' überhaupt +nicht erst hergekommen.«</p> + +<p>Bald rief's hell von draußen: »Leidchen! Kaffee +trinken!«</p> + +<p>Leidchen rührte sich nicht vom Fleck und sah finster +nach der Tür.</p> + +<p>Da wurde diese aufgerissen, und Sine steckte ihr +lachendes Gesicht herein. »Huh, was für 'ne leere Stube! +Und wie kalt! Hast du nicht gehört? Ich hab' dich zum +Kaffee gerufen.«</p> + +<p>»Och, trinkt man immerzu ... Ihr seid doch wohl +lieber allein.«</p> + +<p>»Was schnackst du da für dummes Zeug?« rief die +andere verwundert, kam hereingesprungen, legte den +Arm schwesterlich um die Schwägerin und ließ ihr mit +Bitten und Drängen keine Ruhe, bis sie aufstand und +sich in die Wohnstube an den gedeckten Kaffeetisch führen +ließ. Sine spielte die Wirtin und schenkte ein. Etwas +Butterkuchen hatte sie auch mitgebracht, für jeden zwei +Streifen. Sie war in der frohesten Laune und erzählte +ein lustiges Stückchen nach dem andern. Gerd lächelte +glücklich vor sich hin und sah immer wieder seine +Schwester an, als wollte er sagen: »Nicht wahr? Das +ist eine!« Und diese war liebenswürdig genug, sich zusammenzunehmen +und zuweilen gequält mitzulächeln.</p> + +<p>Nach solchem Plauderstündchen um die Kaffeekanne +gingen die beiden Liebesleute ins Freie, wo Gerd der +Braut seinen Bepflanzungsplan für das kommende<span class="pagenum" id="Seite_373">[S. 373]</span> +Frühjahr darlegen wollte. Leidchen hielt sich zurück und +wurde auch nicht zum Mitgehen aufgefordert.</p> + +<p>Als sie die Kaffeetassen aufgewaschen und sich in der +Wohnstube ans Fenster gesetzt hatte, sah sie die beiden +jenseits der Felder zum Hochmoor hinansteigen. Die +Gestalten hoben sich scharf gegen den grauen Novemberhimmel +ab, Gerd nach seiner Art ein wenig vornüber +gebeugt, und an seiner Seite das kurze, dicke End, das +ihm kaum an die Schultern reichte. Sie trieben keine +Zärtlichkeiten, gaben sich weder den Arm noch die +Hand, aber die Einsame am Fenster empfand: das war +ein Paar, das in herzlicher Zuneigung für gute und +böse Tage sich treu und unzertrennlich verbunden fühlte.</p> + +<p>Und gerade hinter den beiden drehten sich die Flügel +der Mühle.</p> + +<p>Ein bitteres Gefühl des Neides stieg in ihr auf, und +sie empfand die eigene Lage schmerzlich weher denn je. +Verzweifelt rang sie die Hände im Schoß.</p> + +<p>Aber auf einmal biß sie die Zähne aufeinander, und +ihre Züge nahmen den Ausdruck fast wilder Entschlossenheit +an. Und ihr Gesicht hielt diesen noch fest, als sie +bald darauf sich erhob, die Ziege besorgte und das +Abendbrot richtete.</p> + +<p>Als die beiden wiederkamen, streckte Sine Leidchen +die Hand hin, um Abschied zu nehmen. Aber diese lud +bestimmt und freundlich zum Abendbrot ein, und auch +Gerd bestand darauf, daß sie nicht ungegessen fortginge.</p> + +<p>»Graut dir nicht manchmal?« begann Sine, als sie +um den Tisch saßen, zu Leidchen gewendet.</p> + +<p>»Warum?« fragte diese leichthin.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_374">[S. 374]</span></p> + +<p>»Oh, ich meine, wenn Gerd tagelang weg ist ... Bis +zum nächsten Nachbarn sind's doch beinahe zehn +Minuten.«</p> + +<p>Leidchen hob die Schultern ein wenig.</p> + +<p>»Du dumme Deern,« fiel Gerd ein, »das fehlt grad' +noch, daß du mir das Kind bange machst. Du mußt's +später auch allein hier aushalten, wenn ich über Land +bin.«</p> + +<p>»Oh,« sagte Sine, »wenn man verheiratet ist, ist das +was anderes.«</p> + +<p>Leidchen nagte an ihrer Unterlippe. Gerd warf seiner +Braut einen strafenden Blick zu, den sie auch verstand, +worauf sie mit den Augen um Verzeihung bat.</p> + +<p>Als es anfing zu dämmern, machte Sine sich auf den +Weg. Gerd wollte sie ein Stück begleiten und dann, +ohne zu Hause noch wieder anzukehren, nach Nr. 40 +fahren, um in der Nacht ein Schiff Torf zur Stadt zu +bringen. Er hatte sich zu dem Zweck schon in sein Arbeitszeug +gesteckt und schob das Rad neben sich her.</p> + +<p>Eine Stunde, nachdem die beiden das Haus verlassen +hatten, hüllte Leidchen sich in ihr Umschlagetuch und +schlug mit festen Schritten den Fußpfad nach dem Dorfe +ein. Ohne sich zu besinnen, trat sie über den Grenzgraben, +und ohne Schwanken stieg sie vom Hochmoor +in das bebaute Land hinab. Die Mühle wuchs immer +größer vor ihr auf. Bald hörte sie auch das Sausen +und Knarren der Flügel. Da blieb sie stehen und preßte +die Hand auf das ungestüm pochende Herz.</p> + +<p>Auf einmal sprang etwas an ihr auf, sie erschrak und +stieß einen leisen Schrei aus. Es war Lustig, der den<span class="pagenum" id="Seite_375">[S. 375]</span> +Ziegelstein, den sie vor das Hühnerloch gelegt hatte, +wohl mit den Pfoten zur Seite gearbeitet hatte und ihr +nachgelaufen kam.</p> + +<p>Sie versuchte mehrmals, das Hündchen zurückzuscheuchen, +aber wenn sie sich eben gewandt hatte, war +es immer wieder bei ihr. Sie überlegte, ob sie es nach +Hause bringen sollte. Aber schließlich sagte sie: »Meinetwegen +komm mit,« und setzte ihren Weg fort.</p> + +<p>Sie schlich jetzt auf den Zehen und näherte sich, das +Wohnhaus im Bogen umgehend und links liegen +lassend, der Mühle.</p> + +<p>Plötzlich schrie Lustig gellend auf, ein großes dunkles +Etwas hatte sich auf ihn gestürzt. Es gelang dem Kleinen +aber, sich frei zu machen und unter einen Haufen +Gerümpel zu flüchten.</p> + +<p>»Wer da?« klang es soldatisch kurz von der Tür der +Mühle her.</p> + +<p>Da trat Leidchen schnell vor und in den Lichtschein, +der von dort in das Dunkel fiel.</p> + +<p>»Du hier, Leidchen?«</p> + +<p>»Ja, <em class="gesperrt">du</em> kommst ja nicht, ich hab' lange genug gewartet.«</p> + +<p>»Ich habe wirklich noch keine Zeit gehabt. Aber +wart', ich will erst die Bestie zur Ruhe bringen.«</p> + +<p>Er packte die Dogge am Halsband und zerrte sie, mit +Fußtritten nachhelfend, in die Mühle, deren Tür er +hinter ihr schloß.</p> + +<p>»Wo können wir ein ruhiges Wort miteinander +sprechen?« fragte Leidchen, als er wieder zu ihr trat.</p> + +<p>»Wir machen wohl am besten ein paar Schritte durch<span class="pagenum" id="Seite_376">[S. 376]</span> +das Feld,« gab er zur Antwort. »Da sind wir am +sichersten.«</p> + +<p>Er schlug die Richtung ein, aus der Leidchen gekommen +war. Vorsichtig schlichen sie am Hause vorüber.</p> + +<p>Als sie dieses an die hundert Meter hinter sich hatten, +blieb Leidchen stehen und tat einen tiefen Seufzer.</p> + +<p>»Hermann ... Hermann ...«</p> + +<p>»Ach ja, Leidchen ...« sagte er kleinlaut.</p> + +<p>»Warum hast du mir nicht geschrieben? ...«</p> + +<p>»Was sollte ich schreiben?«</p> + +<p>»Und warum bist du nicht gekommen? Du hast es +Gerd doch versprochen.«</p> + +<p>»Es hat sich immer noch nicht recht gepaßt.«</p> + +<p>»Tag und Nacht hab' ich auf dich gewartet.«</p> + +<p>»Das tut mir wirklich leid. Wenn du wüßtest, was +ich diese Zeit durchgemacht habe ...«</p> + +<p>»<em class="gesperrt">Du?</em> Wenn <em class="gesperrt">ich</em> das sagte! ...«</p> + +<p>»... Es tut mir alles so furchtbar leid.«</p> + +<p>»Was?«</p> + +<p>»Daß wir so leichtsinnig gewesen sind.«</p> + +<p>»So redest du nun? Weißt du nicht mehr, was du +mir früher gesagt hast?«</p> + +<p>»Ach ja. Das war eben mein Leichtsinn. Ich hab' die +Verhältnisse nicht bedacht.«</p> + +<p>»Hermann ...«</p> + +<p>»Ja, du hast allen Grund, böse auf mich zu sein.«</p> + +<p>»Ich böse? ... Ich hab' dich noch immer lieb.«</p> + +<p>Sie griff mit beiden Händen leidenschaftlich nach +seiner Rechten, die er ihr nur widerstrebend überließ.</p> + +<p>»Ich habe mehr als einmal um eine Stelle geschrieben,«<span class="pagenum" id="Seite_377">[S. 377]</span> +begann er, »aber es ist nicht geglückt ... Und nun +weiß ich, ich kann hier überhaupt nicht weg. Laß mich +ausreden! Vater hat mir alles schwarz auf weiß gezeigt: +Wenn ich fortmache, kommt die Mühle unter den +Hammer ... und wenn ich dich nehme, ist's dasselbe.«</p> + +<p>»Aber eure Mühle ist doch bloß ein totes Ding, da +hängt das Glück und die Seligkeit nicht von ab.«</p> + +<p>»Sie ist altes Familienerbe.«</p> + +<p>»Wie oft kommt das vor, daß Menschen das aufgeben +müssen und werden doch wieder glücklich und zufrieden! +Dorten steht der Lichterschein von Bremen am +Himmel. Da finden viele Tausende ihr ehrliches Brot, +die nicht halb so gesund und stark sind als wir beiden. +Hier bist du noch lange ein Knecht, dort vom ersten +Tage an ein freier Mann. Reiß dich los, mach dich frei! +Du sollst es nicht bereuen. Weißt du nicht mehr, wie +wir letzten Sommer so glücklich waren ... als wir uns +trafen im Bürgerpark und in dem Kahn saßen ... und +in dem schönen Buchenwald ... und ... und ... Das +kommt dann alles, alles wieder und wird noch viel, viel +schöner ... Was hattest du damals für ein frohes, +lachendes Gesicht! Es ist zu dunkel jetzt, ich kann dein +Gesicht nicht sehen, aber das weiß ich so: jetzt sieht es +aus wie das böse Gewissen. Komm, du sollst dein gutes +Gewissen und deine lachenden Augen wieder haben. +Komm, wir wandern die Nacht durch. Aber so komm +doch!«</p> + +<p>Sie hatte aufs neue seine Hand ergriffen und zog +mit Gewalt an ihr, aber sie brachte ihn keinen Schritt +vorwärts.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_378">[S. 378]</span></p> + +<p>»Leidchen,« sagte er, »nicht so furchtbar hitzig! Laß +doch los, du reißt mir ja den Arm aus. Was du da eben +gesagt hast, das hab' ich selbst mir alles ja schon hundertmal +überlegt ... Aber es geht nicht.«</p> + +<p>»Du brauchst bloß zu wollen, dann geht es auch.«</p> + +<p>»Es ist unmöglich ... Ich kann nicht ... Und ich will +auch nicht ...«</p> + +<p>»Sooo ... Du willst nicht ... Das ist was anderes ... +So so so ... Du willst Tietjens Hermine nehmen.«</p> + +<p>»Die Verhältnisse sind manchmal stärker als wir +Menschen.«</p> + +<p>»Die keine Haare mehr auf dem Kopf hat.«</p> + +<p>»Woher weißt du das?«</p> + +<p>»Ich hab' mal in der Heuzeit mit in ihrem Bett geschlafen. +Aber sie hat die ganze Kommode voll Gold- +und Silbergeschirr, und den Schrank voll seidener +Kleider und viel, viel Geld. Ha, du kannst wohl lachen.«</p> + +<p>»Leidchen, du glaubst doch wohl selbst nicht, daß ich es +gern tue! Muß ist eine bittere Nuß.«</p> + +<p>»Ja, ja, es ist 'ne wunderliche Welt. Ich kenn mich +bald nicht mehr in ihr aus ... Was soll denn nun aus +mir werden?«</p> + +<p>»Du kannst mir glauben, es tut mir in der Seele +weh ... Aber, Leidchen, du bist jung und von leichtem, +frohem Gemüt. Du kommst da wohl über hinweg.«</p> + +<p>»Ja, ich komm' ... da wohl ... über hinweg ...«</p> + +<p>»Und ich will tun, was ich kann, und mehr, als die +Gesetze verlangen, und alles freiwillig ...«</p> + +<p>»Ach, kuck mal einer an! Das ist ja nett, daß wir uns +nicht erst vor dem Amt gegenüberzustehen brauchen.<span class="pagenum" id="Seite_379">[S. 379]</span> +Wieviel denkt ihr denn ungefähr, daß ihr anlegen +wollt?«</p> + +<p>»Das können wir später sehen, die Sache soll jedenfalls +auf das nobelste geregelt werden. Es freut mich, +Leidchen, daß du so vernünftig bist und so ruhig über +den Fall denkst. Das ist ja auch das beste. So'n kleines +Malheur hat manche, und wer jung und hübsch ist, findet +immer noch eine anständige Unterkunft, vor allem, +wenn auch etwas Geld da ist. Und hier bei uns im +Moor wird so was ja auch nicht so genau genommen.«</p> + +<p>»So! Nun endlich kenn' ich dich! Und da spuck' ich +hin! Pfui, was du für ein schlechter, niederträchtiger +Kerl bist! Pfui, pfui!«</p> + +<p>Sie wandte sich, schlug ihr Tuch um den Kopf und +rannte den Pfad dahin wie ein gehetztes Wild. Lustig +humpelte auf drei Beinen hinterher.</p> + +<p>Nach einer Weile drehte sie sich um, und noch einmal +gellte es durch die Nacht: »Pfui, pfui, pfui!«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_380">[S. 380]</span></p> +<h2 class="s2">21.</h2> +</div> + +<p>Gerd war in der Nacht auf Dienstag zurückgekehrt.</p> + +<p>Als Leidchen die Frühkost in die Wohnstube trug, +war er noch dabei, sich anzukleiden. Sie nickte ihm +stumm zu, und er wunderte sich, daß sie keine Frage +stellte wie: »Na, bist du wieder da?« oder so ähnlich, +wie ein Bremenfahrer das eigentlich doch verlangen +kann.</p> + +<p>Als sie am Tisch saßen, sah er ihr schärfer ins Gesicht. +»Bist du krank?« fragte er nach einer Weile.</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf, ohne ihn anzusehen.</p> + +<p>»Ist jemand hier gewesen?«</p> + +<p>Sie schüttelte wieder den Kopf.</p> + +<p>Er wunderte sich über ihr sonderbares Benehmen, +drang aber nicht weiter in sie ein und ging bald an +seine Arbeit, die verschlammten Berieselungsgräben der +Wiesen, Grüppen genannt, mit dem Spaten zu öffnen.</p> + +<p>Beim zweiten Frühstück fiel es ihm auf, daß ihre +Augen etwas Starres, an den Dingen vorbei Sehendes +hatten. Da sie mit der Hausarbeit fertig war, nahm er +sie mit auf die Wiese; denn es war milde, von leichtem +Frost geklärte Luft. Sie tat die Arbeit, die er ihr anwies, +wie eine Maschine, ohne die geringste Teilnahme. +Wenn er sie einmal ansprach, hörte sie entweder gar +nicht, oder er mußte seine Worte lauter wiederholen, +und es wollte ihm scheinen, als müßte sie ihre Gedanken +jedesmal erst aus der Ferne herbeirufen. Einmal, +als er sie von der Seite heimlich beobachtete, erschrak<span class="pagenum" id="Seite_381">[S. 381]</span> +er über den ins Ziellose irrenden Blick ihrer +Augen. Doch er tröstete sich, das wären so Stimmungen, +die bei den Frauensleuten kämen und gingen.</p> + +<p>Aber dieser merkwürdige Zustand hielt die nächsten +Tage an. Sie wandelte wie im Traum und erfüllte ihre +Obliegenheiten fast wie ein Automat.</p> + +<p>Gerd versuchte alles mögliche, sie aus diesem wunderlichen +Zustand zu erwecken.</p> + +<p>So brachte er eines Abends das Gespräch auf gemeinsame +Jugenderlebnisse heiterer Art und lachte dabei +mehr als sonst seine Weise war. Aber es gelang +ihm nicht, ihr auch nur das leiseste Lächeln abzugewinnen. +Wenn er, um sie zur Teilnahme zu zwingen, +zwischendurch fragte: »Wie war dies, wie war das +noch?« antwortete sie jedesmal in dem gleichen müden +Tone: »Das weiß ich nicht mehr.«</p> + +<p>Er kam auf allerlei Menschen ihres Bekanntenkreises +zu sprechen und stellte über diesen und jenen Behauptungen +auf, die zum Widerspruch reizen mußten. +Aber sie, die ihm all ihre Lebtage so gern widersprochen +hatte, ließ ihm jetzt auch das Törichtste hingehen.</p> + +<p>Endlich fuhr er sein schwerstes Geschütz auf und fing +von der Mühle und von Hermann an, ihr Gesicht heimlich +dabei beobachtend. Aber in diesem veränderte sich +keine Miene. Nicht einmal, als er erzählte, Tietjens +wären Ende letzter Woche dort zu Besuch gewesen.</p> + +<p>Da war er mit seinem Latein zu Ende, und es wurde +ihm angst und bange.</p> + +<p>In seiner Ratlosigkeit ging er zu Beta Rotermund, +der treuen Nachbarin seines Elternhauses, und klagte<span class="pagenum" id="Seite_382">[S. 382]</span> +ihr, wie er mit der Schwester zu Schick käme. Die gute +Frau, die ihr Patenkind gleich in den ersten Tagen +schon besucht hatte, versprach gern, noch einmal zu ihr +zu gehen.</p> + +<p>Als Gerd sich bei ihr erkundigte, was sie ausgerichtet +hätte, sagte sie unter vielem Seufzen: »Leidchen war +sehr verschlossen, ich konnte nicht viel aus ihr herausbringen. +Aber ich glaube, sie hat kürzlich eine Aussprache +mit Müllers Hermann gehabt und weiß nun, +daß von ihm nichts mehr zu hoffen ist. Da muß sie sich +erst hineinfinden, und das wird ihr nicht leicht werden, +wo sie letzte Woche noch so voller Hoffnung war. Wir +können ihr dabei nicht helfen, so was muß der Mensch +allein mit sich und seinem Gott abmachen ... Ich hab' +sie eingeladen, sie sollte mich mal besuchen und überhaupt +mehr unter Menschen gehen. Aber da schüttelte +sie nur den Kopf. Sie macht ganz den Eindruck, als ob +in ihr etwas gestorben wäre.«</p> + +<p>»Und was soll ich nun dabei tun, Rotermunds Mutter?« +fragte Gerd.</p> + +<p>»Hab' immer ein Auge auf sie, und sieh zu, daß sie +genug zu tun hat und nicht zu viel grübelt. Vor allem +aber mach' ihr keine Vorwürfe. Die macht sie sich selbst +genug, und mehr als gut ist. Und sei immer freundlich +und lieb mit ihr, das ist die Hauptsache.«</p> + +<p>Gerd nickte und sagte: »Es paßt sich gut, daß wir den +Torf so ziemlich los sind. Ich kann diese Zeit mehr bei +Hause bleiben und brauche sie nicht so lange allein zu +lassen.«</p> + +<p>»Ja, das ist gut,« sagte Frau Rotermund.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_383">[S. 383]</span></p> + +<p>Gerd widmete sich in den nächsten Wochen mit Eifer +der Verbesserung seines arg verwahrlosten Besitzes, +indem er die Entwässerungsgräben der Äcker reinigte +und das Land mit der Hacke umriß, um es zu entquecken. +Er nutzte die immer kürzer werdenden Tage +nach Kräften aus, indem er, wenn es kaum tagte, mit +der Arbeit anfing und sich erst Feierabend gönnte, +wenn er nichts mehr sehen konnte.</p> + +<p>Die Versuche, Leidchen umzustimmen und aufzuheitern, +gab er, da einer nach dem anderen ergebnislos +verlief, bald auf, indem er sich sagte: »Schließlich muß +jeder seine Last selbst tragen.«</p> + +<p>Einige Abende ließ er sich von ihr aus seinem Landwirtschaftsbuche +vorlesen, dessen Lehren er ja nun auf +eigenem Grund in die Praxis umsetzen wollte. Aber +sie ging über Punkte und Kommas glatt hinweg, hielt +mitten in den Sätzen inne, daß er den Sinn nicht +fassen konnte, und las außerdem so eintönig, daß er, +von der Arbeit im Freien ermüdet, meist nach zehn +Minuten eingeschlafen war. Als sie eines Abends das +Buch mechanisch wieder zur Hand nahm, sagte er: +»Leg's man weg, wir wollen das lieber aufgeben. Ich +merke ja, es macht dir doch keine Freude.«</p> + +<p>So lebten sie einige Wochen nebeneinander hin. Zuletzt +sahen sie sich fast nur noch bei den Mahlzeiten, die +mit den abnehmenden Tagen immer kürzer wurden, +und bei denen manchmal keine drei Worte gewechselt +wurden. Gerd war, was das Schicksal der Schwester +betraf, immer mehr in einen Zustand der Gleichgültigkeit +und Teilnahmlosigkeit hineingeraten und sehnte die<span class="pagenum" id="Seite_384">[S. 384]</span> +Zeit herbei, wo seine Hochzeit ihn von einer so unfreundlichen +und undankbaren Hausgenossin befreien +würde.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Zwischen Freimarkt und Weihnachten drängt sich die +Gemeinde Grünmoor um den Abendmahlstisch. Das +Brunsoder Jungvolk pflegt sich am zweiten Advent einzufinden.</p> + +<p>Einige Abende vorher erinnerte Gerd seine Schwester +daran und fragte, ihr ernst in die Augen sehend: +»Nicht wahr, du gehst doch auch mit?«</p> + +<p>Sie schüttelte stumm den Kopf.</p> + +<p>»Es ist schon so lange her,« gab er zu bedenken, »daß +du nicht mehr hingewesen bist.«</p> + +<p>Leidchen schwieg.</p> + +<p>»Ich glaube,« begann er noch einmal, mit einem +werbenden Blick in ihre toten Augen, »es würde dir +gut tun ... Und ich würde mich so freuen.«</p> + +<p>»Bitte, Gerd, laß mich in Frieden,« sagte sie erregt, +indem sie sich abwandte.</p> + +<p>Da ließ er sie seufzend gewähren.</p> + +<p>Am Sonntagmorgen trat er in seinem Abendmahlsrock +vor sie hin und fragte: »Bin ich so ordentlich?«</p> + +<p>Sie nahm mechanisch die Bürste vom Wandbrett und +fuhr ihm damit einige Male über die Kleidung.</p> + +<p>»Leidchen, noch wäre es Zeit ...«</p> + +<p>Sie erwiderte nichts.</p> + +<p>»Und wenn ich mal nicht lieb mit dir gewesen bin ...«</p> + +<p>»Du hast dir nichts vorzuwerfen,« unterbrach sie ihn +kurz.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_385">[S. 385]</span></p> + +<p>Er ging. Sie setzte sich an das Fenster und blickte +hinaus.</p> + +<p>Auf dem Kirchdamm, der Gerds Stelle im Westen +begrenzte, und von dem der Achterdamm und Hauptdamm +rechtwinklig abzweigen, pilgerte die Brunsoder +Jugend dem Kirchdorf zu, bald ein Trupp Burschen, +bald ein Koppel Mädchen. Leidchen suchte ihre Schulkameradinnen, +mit denen sie eingesegnet war, heraus. +Es fehlte auch nicht eine. Ein Brautpaar hielt sich von +den anderen gesondert. Als endlich noch jemand zu Rad +angefahren kam, wandte sie sich jäh vom Fenster ab und +ging mit erstarrtem Gesicht an häusliche Arbeiten.</p> + +<p>Nach einer halben Stunde setzte sie sich wieder in die +Stube, legte die Hände schlaff in den Schoß und sah wie +abwesend vor sich hin.</p> + +<p>Als sie so wohl eine Viertelstunde gesessen hatte, stand +sie auf und holte sich aus der Kommode in der anderen +Stube ihr Gesangbuch.</p> + +<p>Sie legte es vor sich auf den Tisch und schlug es, den +Kopf in die Hand gestützt, vorne auf.</p> + +<p>Dem Titel gegenüber befand sich ein Bildchen. Der +Herr saß mit den Elfen um den Tisch beim ersten +Abendmahl. Judas ging eben zur Tür hinaus.</p> + +<p>Sie hatte das Bild bisher kaum beachtet. Jetzt starrte +sie es lange mit großen Augen an.</p> + +<p>Dann schlug sie die Buß- und Beichtlieder auf und +las ihrer eine ganze Reihe.</p> + +<p>Alles, was in ihnen geklagt wurde von Sünde, +Schuld und Strafe, wandte sie mit grausamer Wollust +auf sich an. Über alles, was zum Preise der stärker sich<span class="pagenum" id="Seite_386">[S. 386]</span> +erweisenden göttlichen Gnade und Vergebung gesagt +und gesungen wurde, las sie mit dumpfen Sinnen hinweg.</p> + +<p>Hin und wieder traf sie auf Verse, in denen eine aus +dem Kerker befreite, von schwerem Druck erlöste Seele +gar zu hell und freudig aufjubelte. Da war es ihr für +Augenblicke, als wollte der Klang ein leises Echo in +ihrer Seele wecken, als sähe sie in der Ferne eine Tür +und schwaches Licht durch die Finsternis schimmern. +Aber gewaltsam verschloß sie ihre Augen dagegen. Sie +wollte in der dumpfen Starre, die seit Wochen, seit jener +fürchterlichen Nacht, in der ihre letzte Hoffnung +zusammenbrach, auf ihr lag und ihre Seele lähmte, +verharren. Denn so war es am besten zu ertragen.</p> + +<p>Gerd kam erst gegen drei Uhr, zurück. Sie waren +ihrer an die fünfhundert Gäste um den Altar gewesen, +und der bejahrte Pastor hatte im Austeilen von Brot +und Wein eine Pause machen müssen, weil seine Kraft +versagen wollte.</p> + +<p>Er befand sich in befreiter, gehobener Stimmung +und trat der Schwester mit warmer Herzlichkeit entgegen. +Als er ihr aber in die kalten, toten Augen sah, +erschrak er.</p> + +<p>»Liebes Leidchen, so sag' mir doch endlich mal, was +mit dir ist, ob ich dir nicht helfen kann.«</p> + +<p>»Du kannst mir nicht helfen,« gab sie dumpf zur +Antwort.</p> + +<p>»Ach wärst du doch heute morgen mit mir gegangen!«</p> + +<p>»Judas ging hinaus.«</p> + +<p>Er sah sie entsetzt an: »Aber Kind, du bist doch kein +Judas.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_387">[S. 387]</span></p> + +<p>»Kannst <em class="gesperrt">du</em> das wissen?«</p> + +<p>»Hast du denn ganz vergessen, was du gelernt hast? +Barmherzig und gnädig ist der Herr, geduldig und von +großer Güte und Treue.«</p> + +<p>»Es gibt eine Sünde, die kann nicht vergeben werden, +weder in dieser noch in der zukünftigen Welt.«</p> + +<p>»Aber Leidchen, Leidchen, was schnackst du da für +schreckliches Zeug! Das ist doch bloß die Sünde wider +den heiligen Geist.«</p> + +<p>»Kannst du in mich hineinkucken? Kannst <em class="gesperrt">du</em> wissen, +ob ich die begangen habe oder nicht?«</p> + +<p>»Oh, Leidchen, ich bitte dich, laß dir bloß nichts vorlügen +vom bösen Feind. Wühl' dich nicht in einen solch +schaurigen Wahn hinein!«</p> + +<p>Er sah sie in heller Verzweiflung an.</p> + +<p>»Komm, Junge, das Essen wird kalt,« sagte sie +kurz.</p> + +<p>Sie setzten sich an den Tisch. Gerd hatte einen tüchtigen +Hunger mitgebracht. Aber jetzt war er ihm zum +guten Teil wieder vergangen. Leidchen dagegen aß +viel, und wie ihrem Bruder scheinen wollte, mit einer +Hast und Gier, die ihr früher fremd gewesen waren.</p> + +<p>Am Abend ging sie zeitig zu Bett. Gerd saß allein +in der Stube, und auf einmal gewannen bittere Gefühle +über ihn die Herrschaft. Er fragte sich, was er all +die Jahre eigentlich von seiner Schwester gehabt hätte, +und gab sich die Antwort: nichts als Arbeit, Sorge, +Angst, Verdruß und Ärger. Als er sich dies mit Einzelheiten +bewiesen hatte, fiel ihm plötzlich ein Wort ein, +das der Pastor am Vormittag in seiner Beichtrede angeführt<span class="pagenum" id="Seite_388">[S. 388]</span> +hatte: »Einer trage des anderen Last, so werdet +ihr das Gesetz Christi erfüllen,« und er erneuerte die +vor dem Altar gefaßten Vorsätze, der Schwester fortan +wieder freundlicher und herzlicher zu begegnen, als in +den letzten Wochen.</p> + +<p>Zwei Tage später fand im oberen Dorf, auf Stelle +Nr. 11, eine Zwangsversteigerung statt. Jan Brassen, +ein Luftikus und Obenhinaus, einer von Heini Pepers +besten Kunden, hatte sich in einem plötzlichen Anfall +von Größenwahn ein Paar feuriger Rappen zugelegt +und diese dann in einem halben Jahr zuschanden gejagt. +Inzwischen war auch der Wechsel verfallen, und +sein Hausrat sollte jetzt in die vier Winde gehen.</p> + +<p>Gerd ging auch hin, in der Hoffnung, ein paar +Stücke, deren Fehlen sich im Haushalt unangenehm +fühlbar machte, billig kaufen zu können. An die hundert +Menschen umstanden den Tisch des Auktionators, und +da es halbjährigen Kredit gab und Schnaps soviel jeder +trinken wollte, wurden wahnsinnige Summen geboten, +für die man die meisten Sachen viel besser neu hätte +kaufen können. Gerd ärgerte sich über den Leichtsinn +der Leute und mußte im stillen dem Lehrer recht geben, +der unter seinem lebhaften Widerspruch einmal behauptet +hatte, in manchen Dingen wären die Moorleute +noch die reinen Kinder, und die Unfertigkeit der +Verhältnisse in den Kolonien im Gegensatz zu der Solidität +der alten Geestdörfer träte oft erschreckend +zutage. Er beteiligte sich deshalb überhaupt nicht am +Bieten.</p> + +<p>Ganz zuletzt hob der Ausrufer eine Handharmonika<span class="pagenum" id="Seite_389">[S. 389]</span> +in die Höhe, und um etwaige Kaufliebhaber zu überzeugen, +daß noch Töne drin saßen, spielte er schnell: »Ach +du lieber Augustin, alles ist hin.« Die Leute lachten, +Gerd aber, der ein solches Instrument längst gern +besessen hätte, fing mit einem Taler an zu bieten, und +bei fünf Mark wurde ihm der Zuschlag erteilt. Er bezahlte +sofort und zog sehr erfreut mit seinem Schatz ab.</p> + +<p>Unterwegs fiel ihm aus der biblischen Geschichte der +junge David ein, wie der mit seinem Harfenspiel den +bösen Geist von König Saul gejagt hatte. So ein böser +Geist hatte ja auch seine Schwester besessen. Ob der am +Ende vor dem Harmonikaspiel weichen würde? ... Das +konnte ganz gut sein und wäre ja herrlich. Er zog +schnell ein paar Akkorde und hatte mit solcher Hoffnung +im Herzen an seinem Instrument noch einmal soviel +Freude wie vorher.</p> + +<p>Als er die Dorfreihe hinter sich hatte, fing er im +Gehen an zu üben und wunderte sich, wie schnell die +Töne sich unter seinen Händen zu Melodien formten. +Zu Hause angelangt, brachte er das Weihnachtslied +»O du fröhliche« schon fehlerfrei zustande und gab es +seiner Schwester zum besten, sie dabei still beobachtend, +und als er fertig war, fragte er: »Nicht wahr, es klingt +doch schön?« Sie nickte, und dann spielte und übte er +den ganzen Abend. Als sie eine Stunde nach dem +Abendbrot aufstand, um zu Bett zu gehen, ärgerte er +sich, daß sie ihm nicht länger zuhören wollte. Aber er +suchte Trost in der Musik, indem er eine Elegie phantasierte +und all seine Kümmernisse in den Harmonikaakkorden +ausströmen ließ.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_390">[S. 390]</span></p> + +<p>In der Nacht fiel Schnee und gleich so reichlich, daß +er der Arbeit im Freien ein Ende machte. Gerd war +sehr verdrießlich, denn nun konnte er bis Weihnachten +nicht so weit kommen, wie er sich vorgenommen hatte. +Er mußte jetzt die Tage untätig im Hause sitzen, worunter +seine Laune sehr litt.</p> + +<p>Eines Abends ärgerte er sich über das wunderliche +Wesen der Schwester dermaßen, daß die Galle ihm +überlief. Ich will doch mal sehen, ob es nicht möglich +ist, den einen Teufel durch den anderen auszutreiben, +sagte er zu sich, trat dicht vor sie hin, schlug mit der +Faust dröhnend auf den Tisch und schrie ihr zu: »Ich +lasse mir dies nicht länger so gefallen! Du häßliche, +undankbare Deern, alles tue ich um deinetwillen, und +du machst den ganzen Tag ein Gesicht, daß es nicht +mehr anzusehen ist. Du hast es zehnmal besser, als du's +verdienst. Wenn dir das hier bei mir nicht paßt, kannst +du meinetwegen hingehen, wo du hergekommen bist, +ich halte dich gewiß nicht. Was zu viel ist, das ist +zu viel!«</p> + +<p>Sie war zusammengezuckt, sah ihn mit großen entgeisteten +Augen an und ging zur Tür hinaus.</p> + +<p>Sein Zorn verrauchte so schnell, als er gekommen +war, und die harten Worte taten ihm bald leid. Er +schlug sich mit der Hand vor den Kopf und grübelte, +auf einem Stuhl an den Tisch hingesunken, dumpf vor +sich hin.</p> + +<p>Nach einer Weile fuhr er plötzlich in die Höhe. War +da nicht eben die Seitentür gegangen?</p> + +<p>Er lief über die Diele und riß sie auf.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_391">[S. 391]</span></p> + +<p>Wahrhaftig, da hob eine vermummte Gestalt sich +gegen den Schnee ab.</p> + +<p>Er rief: »Leidchen! Leidchen!«</p> + +<p>Sie wandte sich nicht um.</p> + +<p>Er hinter ihr drein. Sie am Arm fassend, rief er: +»Aber Kind, wo willst du denn hin?«</p> + +<p>»Ich soll ja gehen, hast du gesagt,« klang es tonlos +aus dem Umschlagetuch, das ihr Gesicht verhüllte. »Ich +will Tante Beta fragen, ob sie mich haben will.«</p> + +<p>»Aber so hab' ich das ja gar nicht gemeint, es ist mir +nur der Kopf mal verglippt, vergib mir die bösen +Worte, du weißt doch, wie gut ich es mit dir meine. +Nun komm doch.«</p> + +<p>Er legte den Arm um sie und führte sie mit sanfter +Gewalt in das Haus zurück.</p> + +<p>Als sie in der Wohnstube anlangten, wo Leidchen +sich auf einen Stuhl fallen ließ, stellte er sich vor sie hin +und bat: »Bitte, liebe Schwester, kuck mir mal in die +Augen!«</p> + +<p>Sie hielt den Blick gesenkt.</p> + +<p>»Sag' mal, kannst du denn gar nicht ein bißchen wieder +vergnügt sein?«</p> + +<p>»Ich kann mich nicht anders machen als ich bin. Du +solltest mich man gehen lassen. Dann brauchst du dich +nicht mehr über mich zu ärgern.«</p> + +<p>»Davon ist keine Rede, wir beiden halten treu zusammen. +Wenn es gar nicht anders geht, muß ich +schließlich auch so zufrieden sein,« sagte er seufzend. +»Vergiß das von vorhin. Du sollst kein böses Wort +wieder von mir zu hören kriegen.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_392">[S. 392]</span></p> + +<p>So kam Weihnachten heran. Gerd hatte nicht daran +gedacht, das Fest, dem die Stimmung in seinem Hause +so gar nicht entgegenkam, besonders zu feiern. Aber in +einer stillen, weichen Stunde beschloß er doch, der +Schwester eine Ueberraschung zu bereiten, und kaufte +kleine Geschenke. Und als er auf seinem Hochmoor zufällig +ein schneebelastetes Tännchen entdeckte, hieß er es +mitgehen. Am Spätnachmittag vor dem Heiligen +Abend ging er ins Dorf, um vom Höker die nötigen +Lichte zu holen.</p> + +<p>Als er, seiner Heimlichkeit froh, nach Hause kam, +suchte er die Schwester überall und fand sie endlich in +ihrer Butze.</p> + +<p>»Was, Deern? Du bist schon ins Bett gekrochen?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Aber es ist doch Christabend. Da hilft dir alles +nichts, du mußt wieder heraus.«</p> + +<p>»Ach, Gerd, laß mich.«</p> + +<p>»Zehn Minuten geb' ich dir noch, aber dann mußt du +hoch sein.«</p> + +<p>Und schon war er hinaus.</p> + +<p>Er holte das Bäumchen, das er hinter dem Hause im +Buschwerk verborgen hatte, steckte den Fuß in einen +quadratisch ausgestochenen Soden Moostorf und stellte +es in der Wohnstube auf den Tisch. Ein paar Äpfel und +Kringel hatte er schnell in die Zweige gehängt und das +Dutzend roter, grüner und weißer Lichte hineingesteckt. +Seine Geschenke breitete er unter der Tanne aus: eine +Brosche von derselben Art, wie er seiner Schwägerin +Becka am Verlobungstag eine hatte schenken müssen,<span class="pagenum" id="Seite_393">[S. 393]</span> +eine schwarze Schürze, einen Kamm, in die Haare zu +stecken, und einen Teller mit Äpfeln und Nüssen. Von +Herzen froh überblickte er seine Gaben und rieb sich die +Hände.</p> + +<p>Dann nahm er ein Licht, das er zurückbehalten hatte, +und zündete die anderen damit an. Öfters trat er einen +Schritt zurück, um sich an dem immer heller werdenden +Glanz, der sein bescheidenes Stübchen erfüllte, zu erfreuen.</p> + +<p>Als das volle Dutzend brannte, bog er ein Zweiglein +mit der Spitze zu einer der Flammen, daß es knisternd +und zischend den niedrigen Raum mit süßem Weihnachtsdunst +durchräucherte, den er voll tiefen Behagens +einsog.</p> + +<p>Darauf nahm er die Harmonika von der Wand und +schritt spielend über das Flett. In der anderen Stube +war es noch dunkel. »Was?« rief er enttäuscht, »du +liegst noch immer im Bett? Nun aber 'raus! Christkind +ist da!«</p> + +<p>»Ach Gerd, nicht für mich,« kam es müde aus der +Butze.</p> + +<p>»Für wen denn sonst? Grade für dich. Grade du hast +es so nötig. Hu, hier ist's so düster und kalt, und drüben +so warm und hell. Deern, was wirst du für Augen +machen!«</p> + +<p>»Gerd, bitte ... laß mich liegen.«</p> + +<p>»Das wär' noch schöner!« rief er. Er holte ihre Hand +unter der Decke hervor. »Wenn du nicht willig kommst, +zieh' ich dich mit Gewalt heraus, und du mußt, wie du +da liegst, im Hemde, mit. Leidchen, ich hab' mich so<span class="pagenum" id="Seite_394">[S. 394]</span> +lange auf diesen Abend gefreut, du willst mir doch nicht +die ganze Freude verderben? Nun komm aber schnell, +die Lichter brennen sonst herunter.«</p> + +<p>»Was für Lichter?«</p> + +<p>»Die an unserem Christbaum natürlich.«</p> + +<p>»Was? Du hast einen Baum?«</p> + +<p>»Ja, für dich.«</p> + +<p>»So—o? ... hm ... dann muß ich wohl kommen ...«</p> + +<p>Er ging auf das Flett hinaus, setzte sich an den Herd +und spielte Weihnachtslieder, den Blick träumerisch der +geöffneten Wohnstube zugekehrt, aus der es weihnachtlich +herüberglänzte.</p> + +<p>Es dauerte nicht lange, so erschien die Schwester. Er +legte den Arm leicht um sie und führte sie dem Lichterglanz +entgegen. In der Tür blieben sie eine Weile +schweigend stehen. Dann geleitete er sie an den Gabentisch.</p> + +<p>»Hier hab' ich auch schöne Geschenke für dich,« sagte +er froh. »Erst mal hier eine Brosche. Das Kreuz, +weißt du, was das zu bedeuten hat?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Und das Herz?«</p> + +<p>»Natürlich weiß ich das.«</p> + +<p>»Und der Anker?«</p> + +<p>»Och, Gerd, wie sollte ich das nicht wissen?«</p> + +<p>»Dann vergiß es auch nicht und denke immer daran: +Ohne Glauben, Liebe, Hoffnung, kann kein Mensch +das Leben zwingen. Halt her, ich stecke sie dir an ... +Macht sich sehr fein, kuck mal in den Spiegel ... Oder +magst du sie nicht leiden?«</p> + +<p>Sie nickte traurig: »Doch, sie ist wunderhübsch.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_395">[S. 395]</span></p> + +<p>»Und dann ist hier eine Schürze. Kaufmann Nolte +sagt, es wär' was extra Feines. Soll ich sie dir vorbinden?«</p> + +<p>»Nein, danke, das kann ich selbst.«</p> + +<p>»Und dann ist hier noch ein Kamm. Komm, ich steck' +ihn dir selbst ins Haar ... Er sitzt wie angegossen. Und +wie deine Haare auf einmal wieder glänzen ... wie +gelbe Seide ... Und auch deine Augen haben wieder +ihren alten Glanz ...«</p> + +<p>»Das kommt wohl bloß von den Lichtern,« sagte +Leidchen und wischte mit der Hand über ihre Augen.</p> + +<p>»Laß es ruhig davon kommen, Deern, das schadet ja +nichts ...«</p> + +<p>»... Du hast mir so viel geschenkt, und ich habe für +dich gar nichts. Ein Paar Strümpfe hatte ich angefangen, +aber die letzten Wochen hab' ich sie liegen lassen.«</p> + +<p>»Macht nichts. Wenn du dich bloß ein bißchen +freuen willst, bin ich zufrieden.«</p> + +<p>»Ja, das tu' ich ja auch ...«</p> + +<p>»Mußt's aber auch wirklich und ordentlich tun.«</p> + +<p>»Ach, Gerd, so mit Gewalt kann man das nicht. Das +muß über einen kommen.«</p> + +<p>»Ja, aber an diesem Abend, sollt' ich meinen, kommt +es auch über jeden ordentlichen Christenmenschen. Und +du bist doch kein Heidenkind ... Lang' mir erst mal +unserer seligen Mutter ihre Bibel vom Wandbrett.«</p> + +<p>Sie reichte ihm das ehrwürdige Buch, und er las das +Weihnachtsevangelium, langsam und andächtig. Bei +der Engelsbotschaft von der Freude, die allem Volk +widerfahren soll, hob er die Stimme.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_396">[S. 396]</span></p> + +<p>Eine Zeitlang schauten sie wieder still in das Lichtgeflimmer.</p> + +<p>Dann griff er zu seiner Harmonika und sagte: »Nun +wollen wir auch mal ein Lied singen. Welches möchtest +du am liebsten?«</p> + +<p>»Es ist mir einerlei.«</p> + +<p>»Na, denn mal los: O du fröhliche, o du selige, gnadenbringende +Weihnachtszeit.«</p> + +<p>Er zog ein paar Akkorde und setzte dann kräftig mit +der zweiten Stimme ein. Aber die erste blieb aus.</p> + +<p>»Du sollst mitsingen,« sagte er ärgerlich, Gesang und +Spiel unterbrechend, »wir haben doch immer so schön +zweistimmig gekonnt.«</p> + +<p>»Fang' bitte noch einmal an ...«</p> + +<p>Und nun stimmte sie mit ein, erst zag und leise, allmählich +kräftiger werdend, und sie sangen alle drei +Verse.</p> + +<p>Wieder schauten sie schweigend in den Glanz der +Kerzen, eine lange Zeit ...</p> + +<p>Endlich fragte sie leise, den Blick zu Boden gesenkt: +»Weißt du noch? ... heute vor drei Jahren? ...«</p> + +<p>Er sandte einen schnellen Blick zu ihr hinüber und +sagte ebenso leise: »Ja ... daran habe ich auch schon +gedacht ...«</p> + +<p>Plötzlich barg sie ihr Gesicht in die Schürze und fing +an zu weinen. Bald warf ein wildes Schluchzen ihren +Körper hin und her, das zuletzt wieder in ein leises +Weinen überging.</p> + +<p>In Gerds feucht schimmernden Augen war der +Widerglanz einer großen, stillen, tiefen Freude.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_397">[S. 397]</span></p> + +<p>Als sie endlich ihre Augen getrocknet hatte, begann +er:</p> + +<p>»Liebe Schwester, ich habe mich oft gefreut, wenn du +fröhlich lachtest. Aber über dein Lachen habe ich mich +niemals so gefreut, wie eben über die Tränen, die du +da geweint hast ... Ich hab' mal in einem Buch gelesen, +in der heiligen Weihnacht fingen Glocken, die mit versunkenen +Städten tief unten im Meer liegen, leise an zu +klingen. Das mag wohl sein ... Du sprachst vorhin von +heute vor drei Jahren ... Da wollen wir wieder anknüpfen, +und was dazwischen liegt, als einen bösen, +häßlichen Traum ansehen ...«</p> + +<p>»Wenn das nur so ginge ...«</p> + +<p>»Es geht, Leidchen. Ganz gewiß, es geht! Ich meine +doch, dazu ist der Heiland ein Kind geworden, daß wir +auch wieder Kinder werden können. Nein, laß mich +ruhig ausreden. ›Christ ist erschienen, uns zu versühnen‹, +haben wir vorhin gesungen. Und ich meine, das +sollen wir einfach glauben ... Du hast's diese Zeit mit +Grübeln, Sorgen und Grämen versucht. Und was ist +dabei herausgekommen? Du hast dich damit nur immer +tiefer in dein Elend hineingearbeitet, und mir ist manchmal +angst und bange um dich gewesen. Nun versuch's +doch mal auf die andere Art. Glaub' ganz einfach dem +Heiland, der zu einer, die es viel schlimmer getrieben +hatte, gesagt hat: ›Sei getrost, meine Tochter, deine +Sünden sind dir vergeben.‹ Das fasse tief in dein Herz, +und dann quäl' dich nicht länger, sondern fang' frisch +von neuem an.«</p> + +<p>Sie wandte den Kopf nach dem Fenster, ihre Augen<span class="pagenum" id="Seite_398">[S. 398]</span> +suchten das Dunkel. Aber in den unverhangenen Glasscheiben +spiegelte sich derselbe Lichterbaum, den sie in +Gerds Augen hatte glänzen sehen, und die ganze Stube +füllte er mit seinem wunderbaren Licht. Es war gar +nicht möglich, seinem Glanze auszuweichen.</p> + +<p>Nach einiger Zeit nahm sie des Bruders Hand und +sagte: »Weißt du was, Gerd? Ich glaube, es war gut, +daß ich mal tüchtig geweint habe.«</p> + +<p>Er nickte: »Hab' ich's nicht gesagt?«</p> + +<p>»Das hab' ich nämlich lange nicht gekonnt. Es lag +mir hier über dem Herzen immer wie ein Mühlstein. +Ich fühl' wohl noch, wo er so lange gedrückt hat, aber +ich glaube beinahe, jetzt ist er da nicht mehr. Es ist mir +auf einmal so leicht ...«</p> + +<p>»Gott sei Dank!« sagte er mit leuchtenden Augen, +indem er selbst wie von zentnerschwerem Druck befreit +aufatmete.</p> + +<p>Nach einer Weile sprang er auf seine Füße, sah sie +überglücklich an und rief:</p> + +<p>»Weißt du, Leidchen, wozu ich beinah Lust hätte?«</p> + +<p>»Na?«</p> + +<p>»Noch einmal mit dir rund um den Baum zu tanzen, +wie vor Jahren!«</p> + +<p>Sie lächelte trübe. »Das wollen wir doch lieber +lassen.«</p> + +<p>»Na ja, man kann ja auch so vergnügt sein. Deern, +ich bin jetzt beinah fröhlicher als vor drei Jahren. Ich +glaube, der Mensch muß erst mal tief in die Hölle hinab, +um zu wissen, was rechte Freude ist.«</p> + +<p>Er reckte und streckte die Arme von sich, und seine<span class="pagenum" id="Seite_399">[S. 399]</span> +Augen glänzten, nicht bloß vom Christbaum, so recht +von innen her.</p> + +<p>»Aber Deern,« sagte er dann, »<em class="gesperrt">einen</em> Gefallen +mußt du mir tun: mir mal meine Pfeife stopfen!«</p> + +<p>Sie sprang auf und ging mit leichtem, schwebendem +Schritt in die Stubenecke, wo Pfeife und Tabaksbeutel +hingen. Mit frohen, lächelnden Augen sah er ihr zu, +wie sie den Pfeifenkopf reinigte und füllte.</p> + +<p>Als sie ihm den fertigen Brösel brachte und ein schwelendes +Zündholz dazu, sagte er: »Das pust' man wieder +aus. Dies ist 'ne Friedenspfeife, 'ne Freudenpfeife, die +steck' ich mir an unserem Weihnachtsbaum an.«</p> + +<p>Bald mischte sich mit dem Tannen- und Kerzenduft +der seines Knasters, das Pfund zu fünf Groschen. Der +Torf im Ofen glühte, die Lichter strahlten Wärme, dem +Munde des Schmökers entquollen braungelbe Wolken. +Das alles ergab eine Temperatur und Atmosphäre in +dem niedrigen Raum, die nicht ganz einwandfrei +waren. Aber niemand dachte daran, Tür oder Fenster +zu öffnen. Grad' so war es sehr weihnachtlich und über +die Maßen gemütlich.</p> + +<p>Sie hatten längere Zeit geschwiegen, als Leidchen +mit schmerzlicher Wehmut sagte: »Gerd, wieviel hast +du doch mein ganzes Leben durch an mir getan ... +Und von mir hast du nichts gehabt als Sorge und +Mühe und Verdruß ...«</p> + +<p>Er sog nachdenklich an seiner Pfeife. Seine Augen +schauten zwar in den Lichterglanz, schienen aber noch +mehr nach innen geöffnet zu sein.</p> + +<p>»Das kannst du doch wohl nicht sagen,« begann er<span class="pagenum" id="Seite_400">[S. 400]</span> +nach einer Weile. »Was Menschen einander geben und +voneinander nehmen, das kann man doch wohl nicht +so glatt ausrechnen wie ein Rechenexempel ... Das +Beste, was einer von dem anderen hat, glaub' ich, kennt +er am Ende selbst am wenigsten ...«</p> + +<p>Er stützte den Kopf über dem Tisch in die Hand und +fuhr aus tiefem Sinnen heraus fort: »Wenn ich so über +mein Leben nachdenke ... es war doch nicht bloß Torfbacken +und Solospielen ... es war ein Zug in die Höhe +darin, glaub' ich ... Und ich möchte sagen: der Faden, +der mich führte und zog, der ging durch deine Hand ...«</p> + +<p>Sie sah ihn verwundert und ungläubig an. Er nahm +ihre Hand und zog sie sanft auf seine Knie herüber.</p> + +<p>Nach längerem Schweigen fuhr er mit seinem Lächeln +fort: »Ja ja, ihr Frauensleute! Was meine Sine +ist, die hat mich sozusagen erst richtig zu einem Menschen +gemacht ... Aber als ich sie noch nicht kannte, da +hatte ich dich ... Wenn ich dich nicht gehabt hätte, ich +glaube, dann wäre nichts Rechtes aus mir geworden ... +Für mich mußtest du wohl auch gerade so sein, +wie du warst und bist, und nicht anders ... Ich glaube +wirklich, ich habe viel mehr von dir gehabt als du von +mir ...«</p> + +<p>Sie schüttelte lächelnd den Kopf und wollte etwas +erwidern. Aber er sagte, ihr tief in die Augen sehend: +»Leidchen, darüber wollen wir uns nicht weiter streiten. +So was läßt sich wirklich nicht auf der Wage abwiegen. +Und es bleibt ja auch in der Familie.«</p> + +<p>Die Lichter brannten allmählich nieder, die größere +Hälfte war schon erloschen.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_401">[S. 401]</span></p> + +<p>Als wieder einmal eins sterben wollte, sagte Leidchen +wie im Traum: »Übers Jahr ... wie es dann +hier wohl aussieht?«</p> + +<p>Gerd malte sich das Bild mit frohen, bunten Farben +aus. Dann saß Sine hier mit ihm unter dem Christbaum. +Wenn die Lichter sich in ihren grallen Augen +spiegelten, das mußte eine Lust sein. Was er ihr wohl +schenken würde? Und sie ihm? ... Vielleicht um +Weihnachten herum schon so was ganz Liebes, das +ein Jahr später dann mit süßen Äugelein in den +Lichterglanz blinzelte und mit runden Patschhändchen +nach den Kringeln langte, die Sine ihm in die Zweige +gehängt hatte ...</p> + +<p>Plötzlich dachte er an seine Schwester und erschrak.</p> + +<p>Er sah zu ihr hinüber.</p> + +<p>Sie saß, die Hände im Schoß gefaltet, und ihre +großen braunen Augen schauten in das zuckende Licht. +Aber sie schienen weit, weit darüber hinaus zu irren.</p> + +<p>Er legte seine Hand zart und leicht auf die ihren. +Sie schien es nicht zu merken.</p> + +<p>Da zog er ihre Linke auf sein Knie und drückte sie, +erst sanft, dann etwas stärker.</p> + +<p>»Leidchen ...« sagte er mit großer Wärme und +Innigkeit.</p> + +<p>Da wandte sie sich ihm zu und sah ihn groß an.</p> + +<p>»Lieber Bruder,« kam es wie ein Hauch von fernher +über ihre Lippen.</p> + +<p>»Wo warst du eben?«</p> + +<p>»Ich? ... Ich weiß nicht ... Ich glaube, weit, +weit weg ...«</p> +<hr class="chap x-ebookmaker-drop"> + + +<div class="chapter"> +<p><span class="pagenum" id="Seite_402">[S. 402]</span></p> +<h2 class="s2">22.</h2> +</div> + +<p>Die Wintermonate gingen ihren stillen Gang.</p> + +<p>Das Wetter war, kürzere Frostperioden abgerechnet, +Gerds Arbeiten günstig, und er nützte die Zeit +denn auch nach Kräften aus. Mit leichtem, frohem Herzen +stand er jetzt meistens bei seinem Tagewerk. Denn +wenn ihn auch manchmal eine tiefe, schmerzliche Trauer +aus Leidchens Augen anblickte, die dumpfe Starrheit +war von ihrer Seele gewichen, und Ausbrüche wilder +Verzweiflung kehrten nicht wieder. Nie kam ein Wort +der Klage oder Bitterkeit über ihre Lippen. Still und +unverdrossen tat sie ihre Arbeit und wurde geradezu +erfinderisch, ihn durch kleine Überraschungen zu erfreuen. +Seine Lieblingsgerichte erschienen so oft auf +dem Tisch, daß er, um nicht mit ihnen überfüttert zu +werden, bald andere Speisen dazu erklären mußte. Er +hatte es jetzt gänzlich aufgegeben, sie zu schulmeistern +und zu bevormunden. Die Art, wie sie ihr Schicksal +trug, machte sie ihm fast verehrungswürdig, und vor +ihrer Mutterschaft empfand er etwas wie heilige Scheu. +Mit keinem Wort, ja kaum mit Gedanken, wagte er +daran zu rühren. Die Verantwortung, die er für die +Schwester fühlte, erstreckte sich auch schon auf das kleine +Menschenwesen, das unter ihrem Herzen wurde.</p> + +<p>Des Abends lasen sie sich meist abwechselnd vor.</p> + +<p>Auch das dicke Buch in gepreßtem Schweinsleder mit +Messingbeschlag, das die ersten Ansiedler von der Geest<span class="pagenum" id="Seite_403">[S. 403]</span> +in die neue Heimat begleitet hatte, nahmen sie nicht +selten vom Wandbrett. »Erst wenn man etwas durchgemacht +hat,« sagte Gerd eines Abends, als er es +schloß, »fängt man an, dieses Buch zu verstehen und +lieb zu haben.« Und Leidchen nickte zustimmend.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Gerd brannte darauf, was er von der Wirkung +künstlicher Düngemittel in seinem Lehrbuch gelesen +hatte, gleich im ersten Jahre als selbständiger Landwirt +zu erproben. So fuhr er denn Mitte Februar, als die +Wasserläufe eben wieder frei geworden waren, zur +Stadt, um sich eine Ladung zu holen, wie es für Moorland +empfohlen wurde. Er war stolz darauf, daß er, +der jüngste Besitzer des Dorfs, hiermit den Anfang +machte. Im ganzen Kirchspiel war er der zweite; ein +vorwärtsstrebender Landwirt auf der Südseite hatte +schon im letzten Jahre mit Versuchen begonnen. Es +hieß, daß die Moorversuchsstation in Bremen demnächst +in der Sache vorgehen und die Königliche Regierung +Beihilfen geben würde, um den vorsichtigen und +mißtrauischen Bauern Mut zu machen. Jenen zuvorzukommen, +freute ihn noch ganz besonders.</p> + +<p>Als er seine Last den Schiffgraben hinaufschob, +gesellte sich ein alter Torfbauer zu ihm, Jan Barrenbrock +mit Namen, den Gerd aber nur als Barrenbrocks +Opa kannte. Dieser pflegte sich zu rühmen, in seinem +Leben mehr Torf gemacht zu haben, als die Brunsoder +alle. Wenn man ihn ansah, konnte man das auch +wohl glauben. Seine mittelgroße Gestalt schien stark der +Torfkuhle zugekrümmt, und an der linken Hand saßen<span class="pagenum" id="Seite_404">[S. 404]</span> +ihm taubeneigroße Gichtknoten. Daß er der weißen +Rasse angehörte, konnte fast zweifelhaft erscheinen, da +die Farbe seines Gesichts stark in die des wichtigsten +Landesprodukts hinüberspielte. Spötter meinten, der +Torfstaub säße ihm in der Haut wie dem Neger die +schwarze Farbe; andere wollten wissen, der alte Wühler +wüsche sich nur an den großen Festtagen, und auch +dann mit viel Schonung, weil er dafür halte, die Schicht +Torf um das Fell herum erspare ihn im Ofen. Ein +Worpsweder Maler, der einmal einen rechten, echten +Jan vom Moor aus der guten alten Zeit malen wollte, +war glücklich, als er Barrenbrocks Opa entdeckte, und +der Alte pflegte mit seinem pfiffigsten Lächeln zu erzählen, +so leicht wie bei dem dummen Kerl hätte er +in seinem Leben kein Geld verdient: drei Groschen die +Stunde, und Tabak, soviel als er nur hatte schmöken +können.</p> + +<p>Da Torfstaub die Menge, Wasser aber wohl nie +den Weg in seine Ohren gefunden hatte, war er recht +schwerhörig und brüllte Gerd an, als ob er einen Stocktauben +vor sich hätte:</p> + +<p>»Was hast du da im Schiff?«</p> + +<p>»Künstlichen Dünger!« brüllte Gerd zurück. »Kainit +und Thomasschlacke!«</p> + +<p>»Kainit? Kenn' ich nicht. Was noch?«</p> + +<p>»Thomasschlacke!«</p> + +<p>»Und damit willst du düngen?«</p> + +<p>»Ja, Opa!«</p> + +<p>»Ha! Da bin ich aber ein ungläubiger Thomas.«</p> + +<p>»Kann sein, daß Ihr noch mal ein gläubiger werdet!«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_405">[S. 405]</span></p> + +<p>»Ich? Na, da lauer' auf, mein Junge! Als du die +ersten Windeln naß machtest, hatt' ich bald meine +tausend Hunt Torf herausgemacht.«</p> + +<p>»Das kann stimmen!«</p> + +<p>»Als ich so'n Bursch war, wie du nun bist, mußten +wir ihn noch mit bloßen Füßen pedden. Euch jungen +Gästen heutzutage wird's schon in den warmen Hollschen +zu viel.«</p> + +<p>»Ja, Opa, die Welt ändert sich. Und hier bei uns +im Moor wird sich noch vieles ändern. Wir wollen +nicht ewig Torfbauern bleiben, können's auch gar nicht, +denn der Torf wird bei kleinem alle. Wir wollen +rejalige Landwirte werden und das Hochmoor kultivieren +und zusehen, daß wir genug Grünland bei Hause +kriegen und nicht die Tage und Nächte auf der Hamme +zu liegen brauchen. Das läßt sich jetzt alles machen, +denn mit dem künstlichen Dünger können wir größere +Flächen in Kultur nehmen als mit dem bißchen Kuh- +und Schweinemist. Ihr sollt sehen, Opa, wenn Ihr +noch ein halb Stieg' Jahre kregel bleibt, es bricht eine +ganz neue Zeit für unsere Gegend an!«</p> + +<p>»Wo hast du die Weisheit her?«</p> + +<p>»Aus Büchern.«</p> + +<p>»Aus Büchern!« wiederholte der Alte in ehrlichster +Verachtung und spuckte in schönstem Bogen, wie ihn +nur die ältere Generation noch fertig bringt, in den +Schiffgraben.</p> + +<p>»Besucht mich mal im Julimond, dann sollt Ihr +was zu sehen kriegen!«</p> + +<p>»Hä, dazu tu' ich keinen Schritt aus dem Hause.<span class="pagenum" id="Seite_406">[S. 406]</span> +Mit so 'nem neumodischen Kram will ich nix nich zu +tun haben, hähä.«</p> + +<p>Der Torfbauer alten Schlages ging höhnisch lachend +und überlegen kopfschüttelnd seiner Wege, indes der +junge Moorbauer arbeits- und hoffnungsfroh seinen +Schatz, von dem er sich so große Dinge versprach, seinem +Besitztum zuschob.</p> + +<p>Die nächsten Tage fiel bei der Windstille ein weicher, +warmer Regen. Da schritt er, einen Sack vor sich, die +zubereitete Hochmoorfläche auf und ab, säte aus einem +alten Fausthandschuh Kainit und Thomasschlacke gemischt +und sah im Geist die Zeit kommen, wo seine +achtzehn Morgen, von denen jetzt kaum der dritte Teil +kultiviert war, in frischem Grün prangten und reichen +Ertrag brachten. Er selbst würde diesen Tag wohl +nicht mehr erleben, aber ihm für Kinder und Kindeskinder +ein gut Stück entgegenzuarbeiten, dafür wollte +er alle Kraft einsetzen.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>So rückte die Osterzeit heran.</p> + +<p>Am Sonnabend vor der stillen Woche trafen Gerd +und Sine sich mit Becka und ihrem Bräutigam in +Grünmoor, um zusammen in das Pfarrhaus zu gehen +und das Aufgebot zu bestellen. Am Freitag der vollen +Woche nach dem Fest sollte die Doppelhochzeit gefeiert +werden.</p> + +<p>Als der Pastor sich die nötigen Aufzeichnungen gemacht +hatte, sagte er lächelnd: »Hoffentlich mache ich +bei der Trauung nicht wieder solchen Kohl wie bei +eurer Konfirmation.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_407">[S. 407]</span></p> + +<p>»Das Unglück wäre so groß nicht,« meinte Gerd. +»Wo die eine mit gewaschen ist, da ist die andere mit +abgetrocknet.«</p> + +<p>Sine gab ihm einen Stoß in die Rippen, weil er +so was in der Studierstube vom Herrn Pastor zu sagen +wagte. Denn ihr hatte beim Eintreten das Herz +stark gepuckert.</p> + +<p>Der würdige Herr meinte gutgelaunt: »Na, wir +wollen sehen, daß jeder zu dem Seinen kommt. Es ist +am Ende doch besser.«</p> + +<p>Als die vier gehen wollten, bat er Gerd, noch einen +Augenblick zu bleiben.</p> + +<p>»Wie geht es Ihrer Schwester?« fragte er, als sie +allein waren.</p> + +<p>»Danke, Herr Pastor ... jetzt geht es ... Ich habe +allerhand mit ihr durchgemacht, aber jetzt hat sie mit +Gottes Hilfe wohl das Schwerste überstanden.«</p> + +<p>Der alte Mann sah ihm aufmerksam in die Augen. +Er schien sich über den jungen Menschen, den er +lange nicht mehr aus der Nähe gesehen hatte, zu +wundern.</p> + +<p>Mit leisem Aufseufzen fuhr er fort: »In einer so +großen Gemeinde von fast fünftausend Seelen erlebt +man ja allerlei. Aber selten ist mir etwas so nahegegangen +... Das liebe, schöne, hochbegabte Mädchen +...«</p> + +<p>Gerd blickte stumm zu Boden.</p> + +<p>»Was meinen Sie, wenn ich mal bei Ihnen vorspräche +...«</p> + +<p>»Nichts für ungut, Herr Pastor, aber wenn's Ihnen<span class="pagenum" id="Seite_408">[S. 408]</span> +einerlei ist, möcht' ich lieber, Sie besuchten mich mal, +wenn ich erst verheiratet bin.«</p> + +<p>»Hm ... ich meinte nur wegen Leidchen ...«</p> + +<p>»Ich glaube, die hat ein anderer in Pflege genommen, +und wir tun am besten, wenn wir den still +gewähren lassen.«</p> + +<p>Der alte Herr sah den jungen Bauern mit seinen +großen dunklen Augen aufs höchste verwundert an. +Und seine weißen, weichen Hände hielten die braune +harte Arbeitshand ein Weilchen mit warmem Druck +fest, indem er sagte: »Grüßen Sie Ihre Schwester herzlich +von mir.«</p> + +<p>»Danke, Herr Pastor,« antwortete Gerd froh überrascht, +»das will ich gern tun, und Leidchen wird sich +sehr darüber freuen.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Am Nachmittag des zweiten Ostertages sprach +Bruder Jan am Achterdamm vor.</p> + +<p>»Gerd,« sagte er, »Bäcker Michaelis, unser bester +Kunde, schreibt mir eine Karte, daß er morgen notwendig +einen halben Hunt Torf haben muß. Ich hab' +nicht mehr ganz so viel, aber Nachbar Rotermund will +mir zuleihen. Du bringst das Schiff diese Nacht wohl +eben hin ...«</p> + +<p>Gerd brummte: »Mensch, heute ist doch noch +Ostern.«</p> + +<p>Jan zuckte die Achseln: »Deine Dienstzeit bei mir +geht erst Donnerstag zu Ende. Ich bin dir doch auch +oft zu Willen gewesen.«</p> + +<p>Der andere sagte zögernd: »Eigentlich geh' ich<span class="pagenum" id="Seite_409">[S. 409]</span> +heute überhaupt nicht gern aus dem Hause. Leidchen +fühlt sich nicht ganz wohl.«</p> + +<p>»Meinetwegen kannst du gern fahren,« mischte sich +die Schwester ein. »Es ist bloß ein bißchen Kopfweh. +Das hab' ich schon öfters gehabt.«</p> + +<p>»Du hast auch einen heißen Kopf.«</p> + +<p>Sie griff sich an die Backe: »Das kommt wohl davon, +weil ich ein bißchen stark eingeheizt habe.«</p> + +<p>»Deern,« sagte Jan, »Du kriegst doch nicht die Infallenzia? +Die spukt jetzt wieder im Dorf herum.«</p> + +<p>»Das wollen wir nicht hoffen,« rief Gerd erschrocken, +die Schwester besorgt ansehend.</p> + +<p>»Ach was,« sagte sie leichthin, den Kopf schüttelnd. +»Heut abend vorm Zubettgehen koch' ich mir eine Tasse +Fliedertee, und morgen bin ich fein wieder auf dem +Damm.«</p> + +<p>»Na,« meinte Jan, »wir wollen das Schiff wohl +laden; denn kommst du also nachher.«</p> + +<p>Sie aßen noch zusammen Abendbrot. Gerd mußte +die Schwester immer wieder ansehen. Ihre zarten +Wangen waren ein wenig gerötet, die großen braunen +Augen glänzten, und er dachte: Was hat sie doch einmal +für ein liebliches Gesicht!</p> + +<p>Sie stand vom Tisch auf und holte zwei dicke Äpfel. +»Es sind die letzten,« sagte sie, »ich habe sie für dich +gespart, du kannst sie unterwegs aufessen.«</p> + +<p>Er steckte den einen in die Tasche und nahm ihre +Hand. Es war ihm auf einmal so weich ums Herz, +und er sagte zärtlich, sie warm anblickend: »Leidchen +... es war eigentlich doch eine schöne Zeit,<span class="pagenum" id="Seite_410">[S. 410]</span> +die wir beiden hier allein miteinander gewirtschaftet +haben. Es tut mir beinahe leid, daß sie zu Ende geht.«</p> + +<p>»Na, na?« sagte sie lächelnd. »Wenn das man +wahr ist ...«</p> + +<p>»Aber du sollst sehen, zu dreien wird es auch ganz +gemütlich ... Weißt du noch? Früher war das +zwischen uns beiden immer wie zwischen Hund und +Katze.«</p> + +<p>»Ach ja.«</p> + +<p>»Das ist nun ganz anders ...«</p> + +<p>»Ja, wenn die Katze so zahm gemacht wird ...«</p> + +<p>»Ach nein, Leidchen, davon kommt das nicht allein. +Wir haben beide etwas zugelernt. Wir haben uns +jetzt erst recht miteinander eingelebt und verstehen einer +den andern nun besser. Lieb gehabt haben wir uns im +Grunde ja immer, auch früher, als es manchmal nicht +so wollte. Nicht wahr?«</p> + +<p>»Ja natürlich.«</p> + +<p>»So können wir sagen: das Böse hat doch auch ein +klein bißchen Gutes im Gefolge gehabt ... Und das +ist wohl meist so ... Diesen anderen Apfel mußt du +essen. Ich hab' an dem einen genug.«</p> + +<p>Als er aufbrechen wollte, sagte er: »Soll ich nicht +lieber Trina bitten, daß sie morgen früh mal nach dir +sieht?«</p> + +<p>Sie schüttelte lebhaft den Kopf: »Ach nein, die möchte +ich hier nicht gern haben.«</p> + +<p>»Oder Tante Rotermund?«</p> + +<p>»Nein, nein, Gerd. Die ist so nicht die stärkste, und +sie soll für nichts und wieder nichts zweimal den weiten<span class="pagenum" id="Seite_411">[S. 411]</span> +Weg laufen? Sei nicht so albern, mir fehlt ja gar +nichts. Mein Kopfweh ist schon weg, ich brauch' mir +gar keinen Fliedertee mehr zu kochen.«</p> + +<p>»Kind, noch immer der alte Leichtsinn? Das mußt +du mir wenigstens versprechen, daß du dir tüchtig +Fliedertee machen willst. Mutter selig half sich auch +immer damit.«</p> + +<p>»Na denn man zu, ich koch' mir einen großen Topf +voll, bloß dir zu Gefallen.«</p> + +<p>Er hatte die Türklinke schon in der Hand. Aber +noch einmal begann er: »Nun geh auch gleich zu Bett +und decke dich ordentlich zu. Du kannst morgen alles +liegen lassen und tüchtig ausschlafen. Ja, meinetwegen +kannst du den ganzen Tag im Bett bleiben, wenn +du nur zwischendurch eben die Tiere versorgen willst. +Schlaf schön, und gute Besserung! Auf fröhliches +Wiedersehen übermorgen früh. Ein bißchen zu essen +kannst du mir hinstellen, es wird wohl Mitternacht +werden, bis ich heimkomme.«</p> + +<p>Er nahm ihre Hand.</p> + +<p>»Du, deine Hand ist ja ganz heiß.«</p> + +<p>»Aber Gerd, du machst es ja genau so wie die alten +Weiber, die auch immer und immer noch wieder stehenbleiben.«</p> + +<p>»Na, denn gute Nacht! Aber vergiß mir den +Fliedertee nicht! Du mußt ihn so heiß trinken, wie +du ihn nur eben herunter bringen kannst.«</p> + +<p>»Kuck an! Du bist doch noch immer der gute alte +Schulmeister und strenge Vormund. Was einmal im +Menschen drin steckt, das kommt auch nicht heraus.«</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_412">[S. 412]</span></p> + +<p>Er drohte ihr lächelnd mit dem Finger und ging +nun wirklich.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Um sich die langen Stunden der nächtlichen Fahrt +zu kürzen, stellte Gerd allerhand Betrachtungen an. +Er rechnete aus, daß er in seinen Dienstjahren an die +dreihundert Bremerfahrten für Jan gemacht hatte. Die +zurückgelegten Strecken reichten aneinandergefügt gewiß +bis nach Amerika.</p> + +<p>Wenn er nun wieder die Hamme hinabfuhr, ging +es auf eigene Rechnung, mit dem Torf, den er und +Sine in den Honigwochen herausgemacht hatten ... +Alle Wetter, das sollte ein lustiges Torfbacken werden!</p> + +<p>Leidchen paßte auf das Haus und bestellte das Gemüseland. +Dann konnten sie beide die Tage ordentlich +ausnützen und es wohl auf fünfzehn bis zwanzig +Hunt bringen. Das brachte ein schönes Stück Geld, +das dann wieder in die Verbesserung der Ländereien +hineingesteckt werden konnte.</p> + +<p>Später mußte die Huntzahl natürlich kleiner +werden. Nur sich nicht von dem alten Schlendrian des +Raubbaus auf Torf unterkriegen lassen! Nur ja keinen +Betrieb wie der, auf den Barrenbrocks Opa stolz war! +Aber erst galt es einmal, in Gang zu kommen. Aller +Anfang ist schwer.</p> + +<p>Im Bremer Torfhafen angelangt, wickelte er sein +Geschäft so schnell ab, als es möglich war. Nachdem +er sich darauf eine Stunde Ruhe beim Kaffee gegönnt +hatte, trat er die Rückfahrt an.</p> + +<p>Sie war recht mühsam, denn Wind und Strom<span class="pagenum" id="Seite_413">[S. 413]</span> +arbeiteten entgegen. Als er den Giebel seines Häuschens +gegen den blauen Himmel ragen sah, war +Mitternacht längst vorüber.</p> + +<p>Mit frohem Aufatmen trat er über die Schwelle.</p> + +<p>Da kam Lustig angelaufen und sprang winselnd an +ihm empor. Und alsbald meckerte die Ziege im Stall, +und die Ferkel, die er vor kurzem gekauft hatte, stießen +grunzend und quieksend gegen ihre Tröge.</p> + +<p>Herr du mein Gott, die Tiere haben Hunger!</p> + +<p>Mit zitternden Knien wankt er über die Diele und +öffnet die Tür zu Leidchens Stube. Stehenbleibend +horcht er mit angehaltenem Atem in die Finsternis +hinein.</p> + +<p>Von der Schlafbutze her kommt Stöhnen und wirres +Reden.</p> + +<p>Er greift sich an die Taschen und sucht Schwefelhölzer, +findet aber keine.</p> + +<p>Er greift sich an den Kopf, um sich zu besinnen, wo +er welche finden kann. Mit bebenden Händen tastet +er die Herdwand ab.</p> + +<p>Endlich kann er eine Lampe anzünden.</p> + +<p>Wie er sich der Butze nähert, gellt es ihm entgegen: +»Weg, weg mit dir, du schlechter Mensch!«</p> + +<p>Von Grausen gepackt, tritt er noch zwei Schritte vor.</p> + +<p>Ein Anblick bietet sich ihm, der ihn zurückprallen und +das Blut in seinen Adern erstarren läßt. Er muß mit +beiden Händen zugreifen, um die Lampe nicht fallen +zu lassen. Zwei Sekunden steht er regungslos starr.</p> + +<p>Dann wendet er sich, läuft über die Diele, reißt das +Rad aus dem Kuhstall, zündet die Laterne an.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_414">[S. 414]</span></p> + +<p>Eine halbe Minute später saust er schon den Kirchdamm +entlang durch die Nacht.</p> + +<p>Vor der Häuslingskate von Nr. 10 springt er ab +und pocht stürmisch an das Fenster. Gleich darauf wird +dieses von einer jungen Frau in Nachtkleidung geöffnet.</p> + +<p>»Ich bin ... nach der Stadt gewesen ... Leidchen +hat ... ihre schwere Stunde gehabt ... Komm so +schnell ... du kannst.«</p> + +<p>»Ich komme auf der Stelle,« sagt die Frau und verschwindet.</p> + +<p>Zehn Minuten später hämmert er gegen Beta +Rotermunds Kammerfenster.</p> + +<p>Die Frau kreischt hell durch die Nacht. Auch sie +will sich sofort auf den Weg machen.</p> + +<p>»Soll ich den Doktor holen?«</p> + +<p>»Wart' damit noch. Wir wollen erst sehen, ob es +nötig ist.«</p> + +<p>»Aber Leidchen redet irre. Ich glaube, sie ist schwer +krank.«</p> + +<p>»Dann ist es doch wohl besser ...«</p> + +<p>Die Birkenstämme des Dammes blitzen im Lichtschein +der Laterne, die an ihnen entlang rast. Der +Fahrer liegt keuchend auf der Lenkstange.</p> + +<p>Der Arzt ist über Land geholt.</p> + +<p>Eine ganze Stunde muß Gerd warten. Erst sitzt er +in dem Vorzimmer, in das ein Dienstmädchen ihn gewiesen. +Dann geht er hinaus und schreitet die Straße +vor dem Hause auf und ab. Im kühlen Hauch der +Vorfrühlingsnacht ist es erträglicher.</p> + +<p>Endlich Wagengerassel in der nächtlichen Stille.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_415">[S. 415]</span></p> + +<p>Das Gefährt hält. Gerd tritt an den Schlag und +spricht mit dem Arzt. Der murmelt einen Fluch und +befiehlt dem Kutscher, die Pferde zu wechseln.</p> + +<p>Gerd schwang sich wieder auf sein Rad. Er war +jetzt ruhiger geworden und fuhr ein mäßigeres Tempo.</p> + +<p>Als er zu Hause ankam, graute der Morgen.</p> + +<p>Auf dem Flett traf er Beta Rotermund.</p> + +<p>»Wie steht's?« fragte er mit Herzklopfen.</p> + +<p>»Oh ... ziemlich gut. Leidchen ist aber sehr schwach. +Geh nur hinein und sag' ihr Guten Morgen. Aber viel +sprechen darfst du nicht.«</p> + +<p>»Redet sie auch nicht mehr irre?«</p> + +<p>»Nein, sie ist jetzt ganz vernünftig.«</p> + +<p>Er trat auf Zehenspitzen in die Stube. In einem +Steckkissen zwischen zwei Stühlen lag das Kind, das er +mit einem schnellen Blick streifte.</p> + +<p>Sie lag mit geschlossenen Augen, das schmale, bleiche, +schöne Gesicht tief in den Kissen.</p> + +<p>»Liebe, liebe Schwester ...«</p> + +<p>Sie öffnete die Augen, sah zu ihm auf und hauchte: +»Gerd ... Bruder ...«</p> + +<p>Wie er ihr die Hand reichte, hielt sie diese einige +Augenblicke mit leisem, warmem Druck fest.</p> + +<p>Dann trat er von ihrem Lager zurück und verließ die +Stube, um das Vieh zu versorgen. Den ersten Heißhunger +der Tiere hatte Beta Rotermund schon gestillt.</p> + +<p>Bald erschien auch der Arzt. Als er aus dem Zimmer +der Kranken kam, fing Gerd ihn auf der Diele ab. Er +war ein Mann von wenig Worten und murmelte, wie +für sich, etwas von hochgradiger Herzschwäche, Influenza,<span class="pagenum" id="Seite_416">[S. 416]</span> +wobei er die Schultern anzog und fallen ließ. +Das Kind wäre gut einen Monat zu früh geboren, +würde bei sorgfältiger Pflege aber wohl durchkommen.</p> + +<p>Gerd wunderte sich über sich selbst, wie ruhig er die +schlimme Nachricht aufnahm. Nach der furchtbaren Erschütterung +der letzten Nacht konnte er einiges vertragen.</p> + +<p>Er stieg noch einmal auf sein Rad, um die Arznei +von der Apotheke zu holen.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Gegen Mittag war ganz Brunsode und Umgegend +auf den Beinen. Eine solche Riesenhochzeit, wie +Müllers Hermann sie heute mit der reichen Bauerntochter +aus dem Hammetal feiern wollte, hatte Brunsode +noch nicht gesehen. Ein brautväterlicher Ochse und +drei fette Schweine bester Mühlenmast hatten ihr +Leben lassen müssen. An die fünfzig Butterkuchen +waren gebacken, sechs Hektoliter Bier angefahren. Drei +Hochzeitsbitter hatten zu Rad die Gegend abgestreift +und das ganze Dorf und in den benachbarten Kolonien +alles, was zur Kundschaft der Mühle gehörte, zum +Feste gebeten. Die beiderseitige Verwandtschaft bis ins +dritte und vierte Glied, die Müller des Moores, die +Kaufleute und Lieferanten, der Getreidehändler in +Bremen, Pastor und Küster waren durch gedruckte +Karten mit Goldrand geladen. Man erwartete an vierhundert +Gäste. Über die Hofbrücke spannte sich eine +Tannengirlande mit einer Papptafel, die mit weißen +Buchstaben auf rotem Grunde »Willkommen zum +frohen Feste« bot. Tür und Fenster der Mühle waren<span class="pagenum" id="Seite_417">[S. 417]</span> +frisch und hell gestrichen, die würdige Matrone sah +munter drein, als wollte sie den Festgästen zurufen: +»Nun halte ich's erst mal wieder eine gute Weile aus.«</p> + +<p>Um zwei Uhr fand auf der Großen Diele die Trauung +statt. Die Leute, die dicht gedrängt bis über das Einfahrtstor +hinaus standen, sangen tapfer zu den schmetternden +Klängen einer zwölfköpfigen Musikkapelle: +»Wer nur den lieben Gott läßt walten.« Der alte Pastor +machte seine Sache ziemlich kurz und so wenig rührend, +daß die etwas angejahrten Brautjungfern nicht einmal +mit Schick die bereitgehaltenen Tränen los wurden. +Der beleibte Brautvater meinte nachher, etwas mehr +könnte man von einem studierten Mann für sein gutes +Geld wohl verlangen.</p> + +<p>»Sing, bet und geh auf Gottes Wegen« sang die +Hochzeitsgesellschaft, und die Feier war beendet. Während +das junge Paar die Glückwünsche entgegennahm, +trat der alte Müller mit unterwürfiger Miene auf den +Pastor zu und sagte: »Nicht wahr, Herr Pastor, Sie +tun uns doch die Ehre an und essen einen Teller Suppe +mit uns?«</p> + +<p>»Ich danke,« sagte der Geistliche kurz, »es paßt mir +heute nicht.«</p> + +<p>»Aber Sie können uns doch nicht die Unehre antun, +daß Sie gleich wieder wegfahren!«</p> + +<p>»Ehre und Schande, Herr Vogt, tut ein jeder sich +selbst an, mein' ich,« sagte der alte Mann ernst.</p> + +<p>Damit packte er seinen Chorrock in die Tasche und +schritt durch die sich bildende Gasse auf die Große Tür +zu, vor der sein Wagen wartete.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_418">[S. 418]</span></p> + +<p>Als er am Achterdamm vorüberfuhr, stand Gerd +Rosenbrock in schwarzer Kleidung und mit traurig-ernstem +Gesicht am Wege und bat ihn, in sein Haus zu +kommen und der Schwester Kind zu taufen.</p> + +<p>Während sie dem Hause zuschritten, fragte er: »Herr +Pastor, Sie haben wohl nicht zufällig Ihre Abendmahlssachen +bei sich?«</p> + +<p>Der alte Herr nickte: »Die führe ich auf solchen +Fahrten immer mit mir, für alle Fälle.«</p> + +<p>»Das ist gut,« sagte Gerd erfreut, »meine Schwester +wollte nämlich auch gern das Heilige Abendmahl +feiern. Aber sie ist sehr schwach ...«</p> + +<p>»Dann werden wir es ganz kurz machen,« versetzte +der Pastor.</p> + +<p>»Darum wollte ich eben gebeten haben,« sagte Gerd.</p> + +<p>In dem sauber gekehrten und mit weißem Sand +gestreuten Krankenzimmer hielt Gerd das Kindchen +über das weiße Schälchen mit braunem Moorwasser. +Außer ihm walteten als Paten Beta Rotermund und +die junge Hebamme. Der Täufling erhielt den Namen +»Gerd«.</p> + +<p>Darauf wandte der Pastor sich der Mutter des +Kindes zu. Mit leiser Stimme richtete er an sie ein +paar herzliche Worte, stellte eine Frage, auf die sie ein +Ja hauchte, sprach ein Vaterunser und die Einsetzungsworte, +reichte ihr Brot und Wein und hob die Hände +über sie zum Segen.</p> + +<p>Bald nachdem er das Zimmer verlassen hatte, fiel die +Kranke in einen Schlaf, der bis gegen Abend anhielt.</p> + +<p>Als sie erwachte, verlangte sie nach dem Kinde.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_419">[S. 419]</span></p> + +<p>»Wir dürfen es dir nicht geben, der Arzt hat es verboten.«</p> + +<p>»Aber sehen darf ich es doch ...«</p> + +<p>Da holten sie es aus der andern Stube, zeigten es +ihr, und die Hebamme erklärte mit Kennermiene, es +wäre ein fixer und kerngesunder Junge.</p> + +<p>Als die Frauen ihn wieder wegbrachten, sagte die +Kranke: »Bitte, lieber Bruder, laßt das arme Kind +nicht für seine Mutter büßen.«</p> + +<p>»Aber Leidchen, wie kannst du so was bloß denken ... +Dein Kind ist mein Kind ...«</p> + +<p>»O Gerd, was bist du gut, was bist du gut ... Ich +habe aber noch etwas auf dem Herzen.«</p> + +<p>»Was denn, Kind?«</p> + +<p>»Daß du kein Geld nimmst ...«</p> + +<p>»Och Leidchen ... ich weiß nicht recht ...«</p> + +<p>»Wenn du <em class="gesperrt">einen</em> Groschen nimmst, muß ich mich +im Grabe umdrehen.«</p> + +<p>»Aber Kind, doch nicht so hitzig!«</p> + +<p>»Sein Geld ist verflucht! Ich hab' ja noch dreihundert +Taler, dafür kriegst du das Kind wohl beinahe schon +groß ... Gerd, du hast so viel Gutes an mir getan. +Nun erweise mir noch die eine große Liebe: gib mir die +Hand darauf, daß du keinen Pfennig annimmst.«</p> + +<p>Ein paar Sekunden zögerte er noch und sah ihr in +die brennenden Augen. Endlich reichte er ihr stumm +die Hand.</p> + +<p>Die junge Frau ging nach Hause, Beta Rotermund +wollte die Nacht über wachen helfen.</p> + +<p>In den späten Abendstunden stellte sich Fieber ein.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_420">[S. 420]</span></p> + +<p>»Es ist hier so heiß wie in der Hölle,« stöhnte die +Kranke. »Macht doch mal ein Fenster auf.«</p> + +<p>»Es wird wohl nicht ziehen,« sagte Beta Rotermund. +Da stand Gerd auf, ihren Wunsch zu erfüllen.</p> + +<p>»Mir ist immer, ich höre Musik,« sagte Leidchen nach +einer Weile, »Gerd, spielst du da auf deiner Harmonika?«</p> + +<p>»Ach, Leidchen, wie kannst du so was denken ...«</p> + +<p>»Aber es ist ganz gewiß wahr, ich höre Musik.«</p> + +<p>»Deern, Deern, das bildest du dir wohl bloß ein,« +sagte Beta Rotermund beschwichtigend. »Das kommt +einem manchmal so vor, und ist bloß ein Sausen in den +Ohren.«</p> + +<p>»Wenn ich es nicht ganz deutlich hörte! Seid ihr +denn alle beide taub? Da ist irgendwo Musik, ganz +lustige Musik ... tralala hopsasa ... Man könnte fein +danach tanzen ... Gerd, tanz' doch mal ein bißchen, +mit Sine. Ich hab' heut' keine Lust. Und mit mir will +auch keiner tanzen ... kein einziger ...«</p> + +<p>Die Kranke streckte die nackten Arme in die Höhe und +warf sich dann zur Wand herum.</p> + +<div class="poetry-container"> +<div class="poetry"> + <div class="stanza"> + <div class="verse indent0">»'s ist alles dunkel, ist alles trübe,</div> + <div class="verse indent0">Dieweil mein Schatz eine andre liebt.</div> + <div class="verse indent0">Ich hab' gedacht, er liebet mich.</div> + <div class="verse indent0">Aber nein, aber nein,</div> + <div class="verse indent0">Aber nein, aber nein,</div> + <div class="verse indent0">Er liebt mich nicht ...«</div> + </div> +</div> +</div> + +<p>»Das machen die Fieber,« flüsterte Beta Rotermund, +Gerd starrte entsetzt ins Leere.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_421">[S. 421]</span></p> + +<p>Die Kranke wälzte sich auf die andere Seite und ihre +Augen suchten den Bruder: »Ach, da bist du ja, Gerd. +Das ist man gut ... Ich weiß jetzt wohl, was das für +Musik ist ... schweigt man stille ... jaja, ja, ja ... 's ist +'ne wunderliche Welt.«</p> + +<p>Nach einiger Zeit begann sie wieder: »Gerd, du hast +mir immer so schön was vorgespielt. Bitte, nimm deine +Harmonika und spiel mir noch ein einziges Mal ein +bißchen vor, so schön wie du kannst ...«</p> + +<p>»Ach Leidchen ...«</p> + +<p>»Ich bitt' dich darum, den kleinen Gefallen kannst du +mir wohl tun. Setz' dich man draußen an den Herd, +dann klingt es nicht so laut ... Wie Christabend, als du +mich zum Weihnachtsbaum holtest ...«</p> + +<p>»Ach Leidchen ...«</p> + +<p>»Ich möcht' gern ein bißchen Ruhe haben, und ich +glaub', dabei kann ich schön einschlafen.«</p> + +<p>Beta Rotermund bedeutete ihm mit den Augen, ihr +zu Willen zu sein. Da stand er auf und ging.</p> + +<p>Das Flett lag im Dunkel, und er zündete auch kein +Licht an. Auf dem Herd glühten noch ein paar Kohlen, +in deren Schein die Metallteile seines Instruments +schimmerten.</p> + +<p>Und er spielte mit langgezogenen, weichen Akkorden: +Stille Nacht, heilige Nacht ... Nun sich der Tag geendet +... Wenn ich einmal soll scheiden ... Und legte, +wie nie zuvor, seine ganze Seele in das einfache Spiel.</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Die Stubentür ging auf, Beta Rotermund trat, mit +der Lampe in der Hand, auf die Diele. Sie sah so tiefernst<span class="pagenum" id="Seite_422">[S. 422]</span> +aus, daß er jäh im Spielen innehielt. Die Frage, +die er über die Lippen zu bringen sich scheute, legte er +in seine Augen. Und sie nickte stumm.</p> + +<p>Er sprang in die Höhe. Aber sie sagte leise: »Laß uns +lieber noch etwas warten und ihr die Ruhe gönnen.«</p> + +<p>Da setzte er sich wieder hin, und die Frau zog sich +einen Stuhl an den Herd. So saßen sie und schauten +regungslos in die verglühenden Kohlen, wohl eine +Viertelstunde lang.</p> + +<p>Endlich rührte sich Beta Rotermund, und Gerd +fragte: »Was meint Ihr, Mutter, soll ich hin und Euch +jemand zur Hilfe holen?«</p> + +<p>Sie schüttelte den Kopf. »Laß nur, Gerd. Wen +wolltest du holen? Sie sind alle auf der Hochzeit. Und +dann gibt es hier so'n Gekakel und Geschnacke, das +kann ich diese Nacht nicht gut haben. Ich bin allein +wohl Manns genug, mein Patenkind anzukleiden.«</p> + +<p>Die gute Frau machte sich an die Vorbereitungen, +Gerd ging, nach einem kurzen Besuch im Sterbezimmer, +in die Wohnstube.</p> + +<p>Eine Weile starrte er mit den trockenen, rotumränderten +Augen, die tief in ihren Höhlen lagen, vor sich +hin ... bis es sich in ihnen löste und ein heißer Strom +von Tränen sich über seine Wangen ergoß.</p> + +<p>Aus der Ferne klang das Gejohle und Gekreische +angezechter Hochzeitsgäste.</p> + +<p>Als der kleine Gerd in seinem Steckkissen anfing zu +wimmern, stand der große Gerd auf, machte ihm die +Milchflasche zurecht, probierte und steckte sie ihm ins +Mündchen. —</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_423">[S. 423]</span></p> + +<p>Lehrer Timmermann, der gleich bei seinem Amtsantritt +mit der Gepflogenheit seines Vorgängers, bei +den Begräbnisfeierlichkeiten rührselige Reden zu halten, +gebrochen hatte, ließ einen Choral singen und las den +neunzigsten Psalm. Warum seine Stimme heute so bedeckt +und rauh klang, das wußte in der großen Trauergemeinde +nur ein einziger.</p> + +<p>Ein guter Teil von denen, die vor vier Tagen auf der +Nachbarschaft die seit Menschengedenken großartigste +und lustigste Hochzeit gefeiert hatten, weinten jetzt reichliche +Tränen in die Sacktücher hinein.</p> + +<p>Unter dem herrlichsten Frühjahrshimmel wurde +Leidchen Rosenbrock zu Füßen des dunkelgrünen +Wacholders, an der Seite des schon eingesunkenen +Grabhügels ihrer Mutter, zur Ruhe gebettet. Den +Gesang der Kinder und die Worte des Geistlichen übertönten +fast die Jubellieder der Lerchen hoch oben in +der lichten Bläue.</p> + +<p>Gerd, Sine, Becka und ihr Bräutigam verließen zusammen +den Friedhof. Vor dem Tore blieben sie stehen, +und Gerd sagte: »Wollen wir die Hochzeit nicht lieber +um ein paar Wochen hinausschieben?«</p> + +<p>»Das wird wohl nicht gehen, es ist schon zu viel vorgerichtet,« +sagte Becka.</p> + +<p>Und ihr Ebenbild, zu Gerd gewendet: »Wir beide +können ja gleich nach der Mahlzeit aufbrechen.«</p> + +<p>Da nickte er langsam und sagte nichts weiter dagegen.</p> + +<p>Es war nur eine Kaffeehochzeit mit knapp sechzig +Gästen. Vor die lange, aus Wagenbrettern gebildete, +mit Hausmacherlinnen gedeckte Festtafel hatte man<span class="pagenum" id="Seite_424">[S. 424]</span> +quer einen Tisch gestellt, an dem die beiden jungen Ehepaare +nebeneinander saßen. Vor jedem brannte ein +Paar Lichter und stand ein Teller mit einem Zweipfundstück +Butter, die aber nicht angeschnitten wurde; +denn es gab ja kein Butterbrot, sondern Butterkuchen, +ganze Berge.</p> + +<p>Sine hatte den würdigen Pfarrherrn zum Tischnachbarn. +Der war heute sehr aufgeräumt, trank erst drei +Tassen Kaffee, dann ein Glas St. Julien Fasson und +brachte mit diesem sogar ein Hoch aus. Auch seine +Traurede hatte allgemein befriedigt. Es waren +Tränen mehr als genug vergossen, und die glücklichen +Bräute hatten tüchtig geholfen. Alle Frauen von Herz +und Gemüt fanden es auch gar zu rührend, daß die +guten Kinder, die jedermann gern hatte, an einem Tag +die Myrtenkrone trugen.</p> + +<p>Als die Tafel aufgehoben wurde, rüstete das eine +Paar zum Aufbruch.</p> + +<p>»Bleibt noch eine Stunde,« bat der Brautvater.</p> + +<p>Aber Sine, mit einem Blick nach den Augen ihres +Eheherrn, sagte: »Laßt uns man reisen. Es ist meinem +Mann so lieber.«</p> + +<p>Von der ganzen Hochzeitsgesellschaft begleitet, gingen +sie zum Nachbarhof hinüber, wo ein Einspännerwägelchen +bereit stand. Als sie aufgestiegen waren, +drängte sich alles heran, ihnen noch die Hände zu +drücken. Indem das Jungvolk ein halbgedämpftes +Juhuhu hören ließ, ermunterte der Fuhrmann seinen +Gaul zu einem Zuckeltrab, der sich jedoch schnell zu +einem sehr gemächlichen Schlenderschritt beruhigte.</p> + +<p><span class="pagenum" id="Seite_425">[S. 425]</span></p> + +<p>Als der Wagen nach zweistündiger Fahrt hielt, saß +hoch oben in der höchsten der beiden das Haus schirmenden +Tannen eine Amsel und begrüßte das Einzug +haltende Pärchen mit dem süßesten Willkommenssang. +Ihr Besitztum, das sie sich durch Fleiß und Sparsamkeit +erworben hatten, lag im Glanz des schönsten Frühlingsabends +vor ihnen. Ehe sie durch die Große Tür +eintraten, legte Gerd den Arm um sein Weib und las, +wie bei dem ersten Einzug, aber mit einem anderen +Klang der Stimme: »Unsern Eingang segne Gott.«</p> + +<hr class="tb"> + +<p>Damit die jungen Eheleute mit der Arbeit erst mal +tüchtig in Gang kämen, hatte Beta Rotermund den +kleinen Gerd für den Sommer zu sich genommen. Sie +sagte, es machte ihr Freude, nach so langer Pause sich +mal wieder mit solch lüttjem Wurm abzuplagen. So 'ne +alte Frau würde dabei wieder ein bißchen jung mit.</p> + +<p>Auf keiner Stelle in Brunsode wurde diesen Frühling +und Sommer über so tüchtig, ernst und froh gearbeitet, +wie auf der kleinen am Achterdamm. Als die +Jahreszeit fortschritt, erschienen viele Leute, um Gerds +Kulturerfolge zu bewundern. Auch Barrenbrocks Opa +kam eines Tages angetöffelt. Wie Gerd ihm das +üppige, blaugrüne Kleefeld auf seinem Hochmoor +zeigte, brüllte er: »Du willst mir vorschnacken, der +Klewer kommt von dem Dreckzeug, das du um Lichtmessen +in deinem Schiff hattest? Dazu mußt du dir 'n +Dümmeren suchen, hä hä.« Gerd lachte und gab sich +weiter keine Mühe, den alten Bock herumzukriegen.</p> + +<p>Nach der ersten Heuernte kamen zwei wackere Kühe<span class="pagenum" id="Seite_426">[S. 426]</span> +in den Stall. Im Laufe der Jahre ist der Viehbestand +stetig gewachsen, zurzeit bis auf sechs Kopf.</p> + +<p>Eine große Freude bereitete es Gerd, als er, kaum +siebenundzwanzig Jahre alt, zum Gemeindevorsteher +von Brunsode gewählt wurde. Heini Peper hatte stark +gegen ihn agitiert, der junge Müller aber, worüber +viele sich wunderten, für ihn gestimmt. Seine Wahl +war um so bemerkenswerter, als er nicht in der Hauptreihe +saß.</p> + +<p>Er hat es in seiner neuen Würde nicht nötig, sich +wie sein Vorgänger die Schriftstücke und Steuerberechnungen +im Schulhause anfertigen zu lassen. Aber mit +dem Lehrer Timmermann, der eine Küstertochter aus +einem benachbarten Kirchspiel geheiratet hat und nicht +daran denkt, sich versetzen zu lassen, verbindet ihn nach +wie vor treue Freundschaft. Die Leute sagen: »Der +Schulmeister und Vorsteher regieren zusammen das +Dorf.« Aber sie wissen auch, daß sie sich dabei nicht +schlecht stehen. Es wird auf Zucht und Ordnung gehalten, +Dämme und Wasserstraßen sind in bestem +Stand, und wenn eine hohe Staatsregierung mal +etwas für die armen Moorgemeinden tun will und +Gelder flüssig macht, wissen die beiden so darum zu +schreiben, daß für Brunsode jedesmal ein erklecklicher +»Bischuß« zu den Lasten abfällt.</p> + +<p>Vor dem Hause am Achterdamm, das längst durch +Anbau vergrößert ist und ein neues Strohdach, statt +des von Ratten zernagten und geflickten, bekommen hat, +und hellblauen Fachwerkanstrich dazu, spielen sorglos +heiter ein stämmiger kleiner Gerd, ein süßes braunäugiges<span class="pagenum" id="Seite_427">[S. 427]</span> +Leidchen, ein dicker pummeliger Jan, ohne den +eine Moorfamilie ja nicht vollständig wäre, und noch +ein paar blau- und braunäugige Flachsköpfe ... Bis +das Leben auch sie an die Arbeit ruft und in den Kampf +reißt. Möchten sie dann sich wacker tummeln und +glücklich zurechtkommen! +</p> +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76104 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76104-h/images/cover.jpg b/76104-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..5fb5237 --- /dev/null +++ b/76104-h/images/cover.jpg diff --git a/76104-h/images/illu-003.jpg b/76104-h/images/illu-003.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..dfd9017 --- /dev/null +++ b/76104-h/images/illu-003.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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