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authornfenwick <nfenwick@pglaf.org>2025-05-18 08:21:04 -0700
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+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 ***
+
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+
+ Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,
+ Dmitri Philossophoff und anderen
+ herausgegeben von Moeller van den Bruck
+
+ Übertragen von E. K. Rahsin
+
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+ Zweite Abteilung: Siebzehnter Band
+
+
+ F. M. Dostojewski
+
+
+
+
+ Onkelchens Traum
+ und andere
+ Humoresken
+
+
+ München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag
+
+
+ R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918
+
+
+ Copyright 1918 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,
+ Verlag in München und Leipzig
+
+ Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt.
+
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+
+
+ Inhalt
+
+
+ Vorwort V
+ Onkelchens Traum 1
+ Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett 243
+ Das Krokodil 321
+
+
+
+
+ Vorwort
+
+
+Die beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen Erzählungen
+stehen im Anschluß an Dostojewskis humoristischen Roman „Das Gut
+Stepantschikowo“. Sie teilen mit ihm die allgemeine humoristische
+Anschauung und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung
+„Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ bestand ursprünglich aus
+zwei getrennten Geschichten („Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige
+Gatte“), die erst später von Dostojewski zu einer einzigen
+zusammengezogen wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre: die
+Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach wie vor einen
+Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen ist.
+
+Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine
+politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische Satire aus dem Jahre 1864.
+Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen Band mit
+eingestellt.
+
+ E. K. R.
+
+
+
+
+ Onkelchens Traum
+
+
+ Aus den Mordassoffschen Chroniken
+
+
+ I.
+
+Marja Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die erste Dame in Mordassoff
+– darüber kann kein Zweifel bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie
+sich um keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von ihr allein
+abhängig. Freilich wird sie infolgedessen auch von keinem Menschen
+geliebt. Freilich hassen sie deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen.
+Aber dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es, was sie
+gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch ist, meine ich, ein
+Beweis hoher politischer Begabung. Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja
+Alexandrowna, die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht
+nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren hat: wie kommt
+es, frage ich, daß sie sich bei alledem so zu benehmen weiß, daß bei
+ihrem Anblick kein Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die
+erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch Mordassoffs vor sich
+zu haben? O, ganz im Gegenteil: man ist überzeugt, daß ihre bloße
+Anwesenheit jeden Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer
+erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern werden und
+kein anderes Gespräch mit ihr möglich ist, als eines über die höchsten
+Themata. Sie weiß z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so kapitale
+und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit erzählen und so
+beweisen würde, wie nur sie allein Ähnliches zu beweisen versteht, in
+Mordassoff sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen
+würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen, was diese Dinge
+anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im äußersten Fall, Freundinnen.
+Sie erschreckt nur den Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht
+es vor, den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten, anstatt sie
+endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit, das nennt man Taktik! Marja
+Alexandrowna zeichnet sich unter uns durch ihr einwandsloses
+^Comme-il-faut^ aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser
+Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie versteht zum
+Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem einzigen Wort zu zerschmettern,
+zu vernichten, zu töten; währenddessen aber tut sie, als hätte sie
+überhaupt nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen.
+Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten Gesellschaft
+eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen Taktfragen hätte sie sogar einen
+Pinelli[1] glänzend besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele,
+die Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert von ihrem
+Empfang und korrespondierten nachher noch lange mit der freundlichen
+Gastgeberin. Einer ihrer Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht
+verewigt, das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste zeigte. Ein
+durchreisender Literat hatte ihr sogar eine Novelle gewidmet, die er auf
+einer Abendgesellschaft bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und
+guten Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter aus Karlsruhe, der
+uns absichtlich mit seinem Besuch beehrte, um hierselbst eine besondere
+Würmerart mit Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu
+erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in Quart geschrieben
+hat, war von dem Empfang und der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas
+dermaßen entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe aus der
+Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann natürlich nicht
+unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna wurde in gewisser Beziehung sogar
+mit Napoleon verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur im Scherz und
+von ihren Feinden, mehr um der Karikatur als um der Wahrheit willen.
+Dessen ungeachtet – und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen
+Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige Frage zu
+stellen: weshalb – bitte, mir darauf zu antworten – weshalb wurde dem
+großen Napoleon schließlich schwindlig, als er gar zu hoch
+hinaufgeklettert war? Die Anhänger der alten Dynastie schreiben das dem
+Umstand zu, daß Napoleon nicht nur kein Sproß aus königlichem Hause,
+sondern nicht einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und daß es
+folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche Höhe einen Schrecken
+eingejagt habe und ihm bei dem Gedanken an seine geringe Herkunft und
+den ihn zukommenden niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden
+sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung, die lebhaft an die
+Glanzzeit des alten französischen Hofes erinnert, will ich es wagen,
+folgende Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna nie und
+unter keinen Umständen schwindlig und warum bleibt sie immer und trotz
+aller Vorkommnisse die erste Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel
+Fälle, in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen, wie
+Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre ziehen wird!“ Doch siehe,
+die schwierigen Verhältnisse kamen, bestanden, gingen vorüber – und es
+geschah nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar noch
+besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein jeder dessen erinnern, wie
+ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch, infolge von Unbegabtheit oder
+Schwachsinn seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch seine
+Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals geschickten Revisors erweckt
+hatte. Da glaubten denn alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren,
+kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln würde. Doch
+nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna sah ein, daß sie doch
+nichts mehr ausrichten würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren
+Einfluß auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb ihr
+Haus jetzt denn auch immer noch als das erste Haus in Mordassoff gilt.
+Die Frau unseres Staatsanwalts, Anna Nikolajewna Antipowa, die
+geschworene Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach allerdings
+ihre größte Freundin – frohlockte damals bereits über ihren Sturz. Als
+man aber sah, daß Marja Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen
+ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer hinabreichten,
+als man anfänglich geglaubt hatte.
+
+Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij Matwejewitsch zu sprechen
+gekommen sind, will ich auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß
+ich bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung ist
+und sogar sehr gute Manieren hat – nur hat er die Angewohnheit, in
+kritischen Augenblicken etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er
+einen an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich und
+würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn er in weißer Binde
+erscheint. Leider aber währt der gute Eindruck genau nur bis zu dem
+Augenblick, in dem er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann –
+Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann würde man sich am liebsten
+... sagen wir: die Ohren zuhalten.
+
+Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna anzugehören:
+Das ist die allgemeine Meinung. Einzig dank der Genialität seiner Frau
+hatte er denn auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner Ansicht
+nach wäre sein Platz von Anfang an in einem Gemüsegarten gewesen, wo er
+sich als Vogelscheuche sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und
+zwar ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen wirklichen,
+unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und deshalb war es von Marja
+Alexandrowna sehr klug gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf
+ihr drei Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie
+hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt, ihr ganzer
+Besitz und ihre einzige Einnahmequelle, aus der sie alle Ausgaben
+bestreitet, die selbstverständlich nicht gering sind, da sie doch nach
+wie vor ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie ihren Gemahl
+einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten, weil er eine gute Anstellung
+hatte, ein gutes Gehalt bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber
+mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende war, da wurde er als
+ein vollkommen untaugliches und überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die
+Folge davon war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen,
+ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten. Afanassij
+Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem Lande wie im Wollkorbe. Ich habe
+ihn vor kurzem einmal besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm mit
+ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene weiße
+Halsbinden um, putzt eigenhändig seine Stiefel – nicht weil er keine
+Bedienung hätte, sondern nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern,
+wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er Tee, nimmt mit
+besonderer Vorliebe ein Bad und ist vollkommen zufrieden. Und entsinnen
+Sie sich noch der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa
+anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der einzigen Tochter Marja
+Alexandrownas und Afanassij Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist
+fraglos eine Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen, aber –
+sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist noch nicht verheiratet.
+Unter den Gründen, mit denen man diese Tatsache zu erklären versucht,
+sind die dunklen Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen Sinas zu
+einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch nicht ganz verstummt sind –
+sicherlich die am meisten besprochenen. Man spricht noch immer von einem
+Liebesbrief, den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff von Hand zu
+Hand gewandert sei. Einstweilen aber: wer hat denn diesen Brief oder
+Zettel – er soll nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen?
+Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er dann schließlich
+geblieben? Alle haben von ihm gehört, gesehen aber hat ihn kein
+einziger. Ich wenigstens habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst
+gesehen hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche
+Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht. Nehmen wir aber jetzt
+an, daß Sina tatsächlich einen solchen Zettel geschrieben – ich glaube
+sogar bestimmt, daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle
+Hochachtung haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas? Wie geschickt
+und mit welcher Sicherheit sie dem unangenehmen, skandalösen Klatsch die
+Spitze abzubrechen verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung
+ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen Verleumdung
+überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr! Indessen aber – nur Gott allein
+wird es wissen, wie sie gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen
+Tochter unbefleckt zu erhalten. Und andererseits: ist es denn nicht sehr
+begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet hat: was gibt es denn hier
+für Freier? Und Sina kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat
+jemand, frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit gesehen?
+Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man sagt, Mosgljäkoff werbe um
+sie, aber es ist nicht anzunehmen, daß sie ihn heiraten wird. Was ist
+denn dieser Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht häßlich, ein
+Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne Schulden, Petersburger. Aber
+immerhin – der Kopf ist nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit
+irgendwelchen allerneuesten Ideen! Und was sind denn schließlich
+hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei den neuesten Ideen! Nein, ich
+habe es gleich gesagt – aus dieser Heirat wird nichts!
+
+Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat, ist von mir vor
+ganzen fünf Monaten geschrieben worden, und zwar nur aus Begeisterung.
+Ich will es nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine kleine
+Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, etwas in der Art einer
+Verherrlichung dieser großen Frau zu schreiben, vielleicht in der Form
+eines scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster der Briefe,
+die in der alten, goldenen, doch – Gott sei Dank! – unwiederbringlichen
+Zeit in der „Nordischen Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen.
+Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und mir außerdem noch
+eine gewisse literarische Schüchternheit angeboren ist, so blieb mein
+Manuskript in meinem Schreibtischfach als literarischer Versuch und als
+Erinnerung an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der Muße und des
+Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen fünf Monate, bis schließlich
+eines Tages unsere liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh
+morgens rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K. kam an und
+stieg im Hause Marja Alexandrownas ab.
+
+Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der Fürst hielt sich nur
+drei Tage in Mordassoff auf, doch diese drei Tage sind uns allen
+unauslöschlich in der Erinnerung geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß
+der Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt hat. Die
+Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich die bemerkenswertesten
+Seiten in den Annalen der Stadt Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun
+literarisch zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser zu
+unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem Schwanken endgültig
+entschlossen.
+
+Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte Geschichte der
+Erhöhung, des größten Ruhmes und des feierlichen Falles Marja
+Alexandrownas und ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und
+für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht sich, vorher
+muß ich noch erklären, weshalb es ein solches Ereignis war, daß der
+Fürst K. in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg.
+Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von der Person des
+Fürsten erzählen. So werde ich es auch tun. Zudem ist die Kenntnis der
+Lebensgeschichte dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren
+Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können. Also, ich beginne.
+
+
+ II.
+
+Ich muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren nach durchaus noch kein
+Greis war. Doch dessenungeachtet kam einem bei seinem Anblick
+unwillkürlich der Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse:
+dermaßen verlebt oder verbraucht war der Mann und sah er aus. In
+Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten stets äußerst sonderbare,
+mitunter selbst phantastische Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der
+alte Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden aber alle, daß
+ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend Seelen besaß, unter seinen
+Verwandten bekannte Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur
+gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte spielen können,
+auf seinem prächtigen Gut von aller Welt völlig zurückgezogen lebte.
+Viele Honoratioren hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als
+er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie versicherten,
+daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen können und alles eher als
+ein Einsiedler gewesen sei.
+
+Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus glaubwürdigster Quelle
+Folgendes von seiner Lebensgeschichte erfahren:
+
+Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange her ist, war der Fürst
+in glänzendster Weise ins Leben eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war
+mehrmals im Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots gemacht
+und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet. Wie es sich
+wohl von selbst versteht, verlebte er sein ganzes Vermögen, so daß er
+sich, als das Alter kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm
+irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln, das bereits
+versteigert werden sollte, und so war er denn nach Mordassoff gefahren
+und hatte dort ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt zu
+denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und die Folge davon
+war, daß er in diesem halben Jahr das Letzte, was ihm noch geblieben
+war, gleichfalls durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf
+verschiedene Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen verzichten konnte.
+Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger Mensch war, freilich nicht ohne
+einige besondere fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die aber in
+Mordassoff für als ausschließlich der höchsten Gesellschaft eigen
+angesehen wurden, und daher, statt Verdruß zu erwecken, sogar einen
+guten Eindruck machten. Namentlich die Damen waren von ihrem lieben Gast
+außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar manche interessante
+Erinnerung an ihn. Unter anderem erzählte man, daß der Fürst einen
+halben Tag zum Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus
+zusammensetzbaren Stücken bestände. Niemand wußte sich zu erklären, wann
+und wo er sich aller der ihm fehlenden Körperteile zu entledigen
+vermocht hatte. Er trug eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart,
+und sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war unecht. Ihm
+war buchstäblich jedes Haar angeklebt und jedes glänzte im schönsten
+Schwarz. Er schminkte und puderte sich täglich. Es wurde sogar
+behauptet, daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen Haaren
+unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln in seinem Gesicht
+glätte. Auch hieß es, daß er ein Korsett trage, da er bei einem
+ungeschickten Sprung aus dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in
+Italien – sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit dem linken Fuß hinkte
+er. Es wurde behauptet, daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten
+in Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers eingebüßt
+habe und zum Ersatz ihm ein Holz- oder Korkfuß angesetzt worden sei.
+Aber schließlich, was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch, daß
+sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein sehr teures, sehr
+kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne waren alle unecht. Ganze Tage lang
+wusch er sich mit den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten,
+parfümierte und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens entsinnt man
+sich, daß der Fürst damals schon merklich gealtert war und entsetzlich
+schwatzhaft wurde. Seine Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle
+wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber geschehen, daß
+gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten, eine uralte Greisin, die
+beständig in Paris lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten
+hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem Monat ihren einzigen
+Erben begraben hatte. So wurde plötzlich und unerwartet der Fürst ihr
+gesetzmäßiger Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles
+Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt er ganz allein.
+Ohne lange zu säumen, machte er sich nach Petersburg auf, um dort die
+Angelegenheit zu erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem lieben
+Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam bezahlten, wozu eine
+Kollekte veranstaltet worden war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem
+Abend bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und gelacht und
+die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt. Zum Schluß habe er versprochen,
+sich so bald als möglich in Duchanowo, so hieß sein neues Gut,
+niederzulassen, und dann – darauf habe er sein Wort gegeben – würde er
+fortwährend Feste, Picknicks, Bälle und italienische Nächte mit
+Feuerwerk und Lampions veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner
+Abfahrt sprachen die Damen nur von den verhießenen Freuden und
+erwarteten ihren alten Freund mit größter Ungeduld. Inzwischen aber
+begnügte man sich mit kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte
+Herrenhaus und der große Park besichtigt wurden. In diesem Park gab es
+Akazienhecken, die zu Löwen und anderen Tieren zurechtgestutzt waren,
+künstliche Hünengräber, Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit
+holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben, Pavillons,
+Monplaisirs und noch viele andere Späße.
+
+Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen Verwunderung und
+Enttäuschung zeigte er sich nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich
+auf seinem Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten
+sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann man sagen, daß die
+Lebensgeschichte des Fürsten seit eben dieser Zeit schleierhaft und
+phantastisch wird. So erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht
+gerade Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und dereinstigen
+Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche unter irgend jemandes
+Vormundschaft hätten stellen wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er
+wieder sein ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten
+sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe einsperren wollen, doch
+einer seiner Verwandten, ein angesehener Mann, sei für ihn eingetreten
+und habe den anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem ja
+ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich bald von selbst
+sterben würde – und dann bekämen sie das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch
+ich sage nochmals: wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch dazu
+bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem Vorhaben seiner Verwandten
+sollen den armen Fürsten so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen
+Charakter vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte! Einige
+unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit Glückwünschen zu ihm aufs Gut
+gefahren: doch sie waren entweder überhaupt nicht, oder in sehr
+seltsamer Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe seine
+früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder habe sie nicht erkennen
+wollen.
+
+Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm. Er kehrte mit der
+Nachricht zurück, daß der Fürst seiner Meinung nach tatsächlich „etwas
+verdreht“ sei, und er machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn
+man ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die Damen sprachen laut
+ihren Unwillen darüber aus. Endlich erfuhr man einen Umstand von
+erschütternder Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte
+Stepanida Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe, Gott weiß was für
+eine Weibsperson, die aus Petersburg mit ihm angekommen war, dick und
+bejahrt, die nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in der Hand
+umherging; daß der Fürst ihr in allem wie ein Kind gehorche und ohne
+ihre Erlaubnis keinen Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig
+bediene, sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und wie einen Säugling
+einlulle, und schließlich, daß sie es sei, die jeden Besuch von ihm
+fernhalte, namentlich seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum
+Zweck verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo
+kamen. In Mordassoff wurde viel über diese unbegreifliche Verbindung
+gesprochen, besonders seitens der Damen. Zu alledem wurde noch
+hinzugefügt, daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des
+Fürsten unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt das
+Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter und Förster absetze und
+die Einnahmen empfange – doch mache sie alles so gut, daß die
+Leibeigenen ihr Schicksal geradezu priesen.
+
+Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte man, daß er seine Tage
+fast ausschließlich im Ankleidezimmer zubrachte und sich nur mit dem
+Anpassen von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige Zeit in
+der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe, mit ihr Karten spiele,
+sich die Karten lege, hin und wieder auf einer frommen englischen Stute
+ausreite, wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in einem gedeckten
+Wagen begleite – „für alle Fälle“, versteht sich: denn der Fürst reite
+nur aus Eitelkeit, könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen
+hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem eleganten Paletot,
+breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem Damenhalstuch, mit seinem Monokel
+im Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze, und mit
+Kornblumen in der linken Hand. Stepanida Matwejewna begleitete ihn
+regelmäßig und hinter ihm gingen zwei galonierte Diener und folgte –
+„für alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen: kam ihnen
+unterwegs ein Bauer entgegen und grüßte er sie, zur Seite tretend, tief
+und ehrerbietig: „Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden
+unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich sein Monokel auf ihn
+und antwortete freundlich mit gnädigem Kopfnicken: „^Bonjour, mon ami,
+bonjour!^“
+
+Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff von Mund zu Mund. Es
+schien ganz unmöglich zu sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte
+ja auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war die Verwunderung,
+als eines schönen Morgens das Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst,
+dieser Einsiedler und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff
+angelangt und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen sei. Alles geriet
+in Aufregung, alle erwarteten eine Aufklärung, alle fragten einander,
+was das zu bedeuten habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja
+Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten erschien ihnen als
+ein gar zu großes Wunder. Sie schrieben sich Zettelchen, machten
+einander Morgenvisiten, schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf
+Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber, daß der Fürst
+gerade bei Marja Alexandrowna abgestiegen war. Und am meisten ärgerte
+sich darüber Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über Tanten,
+Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt mit ihr verwandt war. Aber
+ich sehe, um alle diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja
+Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin uns zu folgen wir
+den verehrten Leser untertänigst bitten. Es ist allerdings noch früh,
+kaum zehn Uhr, aber ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde,
+nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen wird.
+
+
+ III.
+
+Zehn Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja Alexandrownas, an der großen
+Straße, in jenem Zimmer, das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten
+„^mon salon^“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar ein Boudoir. In diesem
+Salon ist der Fußboden gut gestrichen und die Wände sind mit hübschen
+Tapeten versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende Farbe. An
+einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin ein Spiegel, vor dem Spiegel
+eine bronzene Stutzuhr mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack
+zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel, von denen die
+Überzüge entfernt sind. Vor diesen Spiegeln stehen auf kleinen Tischen
+wieder Uhren. An der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina
+verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem brennenden Kamin
+sind weiche Polstermöbel gruppiert, nach Möglichkeit in malerischer
+Unordnung, zwischen ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende
+des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer blendend weißen
+Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner Ssamowar neben einem reizenden
+Teeservice. Das Eingießen des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna
+Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja Alexandrownas bei dieser
+lebt. Zwei Worte über sie. Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt,
+brünett, mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen Augen.
+Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren Charakter, lacht viel und
+gern, ist ziemlich schlau, klatscht natürlich, und versteht es, ihr
+Schäfchen ins trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide
+irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal heiraten; ihr erster Mann
+war aktiver Offizier. Im übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf.
+
+Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am Kamin in vorzüglicher
+Stimmung und in einem hellgrünen Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist
+unsäglich erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig mit seiner
+Toilette beschäftigt und folglich noch unsichtbar ist. Sie ist so froh,
+daß sie ihre Freude nicht einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein
+junger Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt. Seinen Augen
+sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen gefallen will. Er ist
+fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät
+er leicht in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und geistreich
+gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich. Aber wir haben ja
+schon von ihm gesprochen: das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der
+zu großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna findet im stillen,
+daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber trotzdem die Liebenswürdigkeit
+selbst zu ihm. Er wirbt um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen
+Worten, bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick wendet er
+sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor und Geist zum Lächeln zu
+bringen. Sie aber ist auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In
+diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre schmalen Finger
+blättern in einem Kalender. Sie gehört zu jenen Erscheinungen, die
+allgemeine – ich möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen, wenn
+sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum eintreten. Sie ist
+unbeschreiblich schön: von hohem, schlankem Wuchs, mit prächtigem
+braunen Haar, wundervollen, fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut:
+Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin, das Füßchen
+verführerisch, der Gang königlich. Heute ist sie ein wenig bleich; dafür
+aber wird man ihre blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten
+sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen Zähne glänzen,
+drei Nächte noch im Traume sehen, wenn man sie einmal in Wirklichkeit
+gesehen hat. Sie sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff
+scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu fürchten, wenigstens
+fühlt er sich nicht ganz geheuer, wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre
+Bewegungen sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches
+weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders gut; doch übrigens,
+was steht ihr nicht gut? An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus
+Haar geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht aus dem Haar
+der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es
+ist. An diesem Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar traurig,
+als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist Marja Alexandrowna zu
+ununterbrochenem Reden bereit, wenn sie auch mitunter gleichfalls einen
+besonderen, gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet –
+was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz als fürchte auch sie ihre
+Tochter.
+
+„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“ beteuert sie, „daß
+ich es jedem Menschen, der an meinem Hause vorübergeht, aus dem Fenster
+zurufen könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden Überraschung,
+die Sie mir und Sina bereitet haben, indem Sie zwei Wochen früher
+gekommen sind, als Sie es versprochen hatten; das versteht sich von
+selbst! Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben Fürsten
+hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr ich diesen bezaubernden
+alten Herrn liebe! Doch nein, nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie
+gehören zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters nie
+verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so beredt schildern wollte!
+Wissen Sie auch, was er mir in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs
+Jahren – weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen: Du warst
+ja damals bei deiner Tante zum Besuch ... Sie werden es mir nicht
+glauben, Pawel Alexandrowitsch; ich war seine Führerin, seine Schwester,
+seine Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war etwas Naives,
+Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis zueinander ... Ich weiß
+nicht, wie ich es ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb
+er sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, ^ce pauvre
+prince^! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie ihn damit
+vielleicht sogar gerettet haben, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind,
+ihn zu mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen langen sechs
+Jahren an ihn gedacht. Sie werden es mir nicht glauben: mir hat sogar in
+der Nacht von ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau habe ihn
+behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber Gott sei Dank, jetzt haben
+Sie ihn endlich aus diesen Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die
+Gelegenheit benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie mir
+doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles gelungen ist? Beschreiben
+Sie mir so ausführlich als möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als
+Sie ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache, während doch
+gerade alle diese Details, wie man sagt, den Charakter geben! Ich liebe
+über alles die Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich meine
+Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und ... solange er noch mit
+der Toilette beschäftigt ist ...“
+
+„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt habe, Marja
+Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff sofort bereitwillig auf, da er es
+vielleicht auch noch zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören,
+war für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze Nacht durch und,
+versteht sich, schlief die ganze Nacht nicht, – Sie können sich denken,
+welche Eile ich hatte!“ fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit
+einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und auf den Stationen
+wegen der Pferde Lärm geschlagen: wenn man es niederschreiben und
+drucken lassen wollte, so würde es eine ganze Dichtung im neuesten
+Geschmack werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt sechs Uhr
+morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo. Zitternd vor Kälte –
+ich wollte mich nicht einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden.
+Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und ihren Säugling
+erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie ihn nicht mehr stillen ...
+Wundervoller Sonnenaufgang. Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot
+und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem Wort, ich eile
+Hals über Kopf weiter. Um die Pferde habe ich regelrecht gekämpft, nahm
+sie einem Kollegienassessor fort und forderte ihn fast zum Duell. Man
+erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein Fürst von dort
+abgefahren sei, er fuhr mit eigenen Pferden, habe dort genächtigt. Höre
+nur mit halbem Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich von
+der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches in einer modernen
+Elegie gelesen. Genau auf der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der
+Weg zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich sehe,
+etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer Reisewagen liegt auf der
+Seite, der Kutscher und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem
+Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes Geschrei.
+Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte: lieg mal zu auf der Seite,
+gehöre nicht zu deiner Gemeinde. Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie
+Heine sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich, mein Ssemjon
+und der Kutscher – gleichfalls eine russische Seele – eilen zur Hilfe
+und so stellen wir, sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage
+wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht hat, da sie ja
+auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern halfen noch mit Stangen, fuhren
+zur Stadt, erhielten von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich
+jener alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er selbst, Fürst
+Gawrila! Das war eine Überraschung! Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er
+aber erkannte mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das heißt,
+er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den zweiten Blick.
+Einstweilen aber ... unter uns: ich glaube, daß er selbst jetzt noch
+nicht recht weiß, wer ich eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für
+einen ganz anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten.
+Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in Petersburg zum letztenmal
+gesehen. Damals war ich, wie Sie sich denken können, noch ein halber
+Knabe. Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken
+Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie soll er sich noch meiner
+entsinnen! Stelle mich vor: er ist entzückt, umarmt mich, selbst aber
+zittert er noch von dem Schreck und weint, bei Gott, _weint_, ich habe
+es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen dies und das – ich
+beredete ihn endlich dazu, in meinen Wagen einzusteigen und – sei’s auch
+nur auf einen Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich etwas zu
+zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos ein ... Erklärt
+mir, daß er in das Kloster Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre,
+den er überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna – wer von uns
+Verwandten hat nicht von Stepanida Matwejewna gehört? – mich hat sie
+noch vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo hinausgejagt –,
+daß also seine Stepanida Matwejewna einen Brief erhalten habe, des
+Inhalts, daß in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege: ihr
+Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht und habe auch kein
+Interesse dafür übrig; vielleicht sind es beide, sowohl der Vater wie
+die Tochter ... vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort
+im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz zu fassen – sie war
+dermaßen in Verwirrung geraten, daß sie sich entschlossen hatte, auf
+etwa zehn Tage ihren Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um
+diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der Fürst saß
+inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen zweiten, setzte sich zur Probe
+eine Perücke nach der anderen auf, pomadisierte sich, färbte seinen
+Schnurrbart, legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference,
+allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über seine Kräfte – ohne
+Stepanida Matwejewna! Da hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich
+ins Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von den dienstbaren
+Geistern, der Stepanida Matwejewna sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet,
+hatte zwar einiges einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf
+bestanden. Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren, hatte in
+Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang von der Station
+weitergefahren, um genau vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem
+berühmten Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast in den
+Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn, mit mir zu unserer
+gemeinsamen Freundin, der hochverehrten Marja Alexandrowna zu fahren ...
+Er sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von allen, die er
+jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir hier, der Fürst aber frischt
+vorläufig noch seine Toilette auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den
+er nicht vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem Fall
+und unter keinen Bedingungen vergessen wird, mitzunehmen, denn er würde
+eher zu sterben einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne einige
+Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen erscheinen würde ... Und
+das ist die ganze Historie. – Allerliebst – nicht wahr?“
+
+„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du nicht auch, Sina?“ ruft
+Marja Alexandrowna entzückt aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er
+es zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul – eine Frage:
+erklären Sie mir doch einmal ausführlich Ihre Verwandschaft mit dem
+Fürsten! Sie nennen ihn Onkel?“
+
+„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna, wie und inwiefern ich
+mit ihm verwandt bin: ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ...
+doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie gesagt.
+Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden zuschulden kommen
+lassen – ich bin vollkommen schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr
+meine Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine Tante Aglaja
+Michailowna nichts anderes zu tun, als die ganze Verwandtschaft an den
+Fingern herzuzählen. Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser
+Reise nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst gefahren. Ich
+nenne ihn ganz einfach Onkelchen – und er fühlt sich angeredet. Das aber
+ist ja schließlich die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere ganze
+Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“
+
+„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung, daß nur Gott allein Sie
+auf den Gedanken hat bringen können, mit ihm geradeswegs zu mir zu
+kommen! Ich zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles
+hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus, statt in meines,
+geraten wäre! Man hätte ihn ja hier zerrissen, zerrissen, jeden Knochen
+zerpflückt, man hätte ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt
+wie auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn womöglich
+bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen, Pawel Alexandrowitsch,
+was es hier für gierige, niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“
+
+„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen sollen, wenn nicht zu
+Ihnen! – wie Sie wirklich sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja
+Petrowna aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht zu Anna
+Nikolajewna – was meinen Sie?“
+
+„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer nicht sehen läßt? Das ist
+doch etwas sonderbar,“ sagt Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig
+erhebt.
+
+„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der wird noch ganze fünf
+Stunden zu seiner Toilette brauchen! Zudem, da er ja kein Atom
+Gedächtnis mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben, daß
+er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein außergewöhnlicher
+Mensch, müssen Sie nicht vergessen, Marja Alexandrowna!“
+
+„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“
+
+„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna, sondern die reinste
+Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch halbwegs nur eine Komposition, aber
+kein Mensch! Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen noch
+vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche! Das ist ja nur noch
+eine Erinnerung an einen Menschen, man hat ihn sozusagen nur zu
+beerdigen vergessen! Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen, Beine von
+Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn, und auch sprechen tut er
+nicht anders als mit Hilfe gewisser Federn!“
+
+„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger Mensch sind, wie ich
+sehe!“ ruft Marja Alexandrowna aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und
+schämen Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als Verwandter! –
+so von diesem ehrwürdigen alten Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts
+von seiner grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe
+aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie doch, daß er sozusagen ein
+Überbleibsel, eine Ruine, ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist.
+Mein Freund, ^mon ami^! Ich begreife vollkommen, daß Sie infolge
+irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig sprechen, den
+Leichtsinnigen spielen. Aber, mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu
+Ihren neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer neuen Richtung edel
+und ehrenhaft ist. Ich fühle es, daß es in diesen neuen Ideen sogar
+etwas Erhabenes gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen
+wir, die praktische Seite der Sache zu sehen. Ich habe in der Welt
+gelebt, ich habe mehr als Sie gesehen, und schließlich, ich bin Mutter,
+Sie aber sind noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet ihm in
+unseren Augen vielleicht manches Lächerliche an. Ja, das letzte Mal
+sprachen Sie sogar davon, daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und
+daß man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber das kommt alles
+nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll Shakespeare haben! Glauben Sie mir,
+Pawel Alexandrowitsch, Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit
+abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde er bei all seinem
+ganzen Verstande doch keine Silbe von unserem gegenwärtigen Leben
+begreifen. Wenn es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes und
+Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und allein in der höheren
+und höchsten Gesellschaft. Ein Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst,
+ist auch in einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da hat
+sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna fast ein Schloß gebaut,
+aber dennoch ist er nur der Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr!
+Und auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich auch mit
+fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer nur die frühere Natalja
+Dmitrijewna und wird nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil
+gleichfalls ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie von ihr
+abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine Fremde in ihrem Kreise –
+das aber ist ein schlechtes Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt.
+Übrigens werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen,
+als ich, ^mon cher Paul^, und Sie werden Ihren Shakespeare mit der Zeit
+hübsch vergessen. Das sage ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen.
+Ich bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig sind und sich
+nur so ... nach der Mode richten. Ach, da bin ich nun ins Schwatzen
+hineingekommen. Bleiben Sie ruhig hier, ^mon cher Paul^, und vergessen
+Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben gehen und mich nach
+dem Fürsten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend wessen, und mit
+meinen Dienstboten ...“
+
+Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das Zimmer, denn sie dachte an
+ihre Dienstboten.
+
+„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu sein, daß der Fürst
+nicht bei dieser Modedame, der Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat
+diese unverschämte Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm verwandt
+sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen wollen vor Ärger!“
+bemerkte Nastassja Petrowna. Als sie aber bemerkte, daß ihr nicht
+geantwortet wurde, sah sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel
+Alexandrowitsch genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache stand,
+und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte sie irgend etwas
+vergessen, das sie zum Tee brauchte. Übrigens wußte sie sich sofort
+dafür zu entschädigen: sie versteckte sich hinter der Tür und horchte.
+
+Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick zu Sina. Er war
+unbeschreiblich erregt, seine Stimme zitterte.
+
+„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht böse?“ fragte er mit
+zaghafter und flehender Miene.
+
+„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die leicht errötete und ihre
+wundervollen Augen zu ihm erhob.
+
+„Weil ich früher als verabredet hergekommen bin! Sinaïda Afanassjewna,
+ich hielt es nicht aus, ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten
+... Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin hergeeilt, um
+meinen Schicksalsspruch zu erfahren ... Doch Sie ziehen die Brauen
+zusammen, Sie ärgern sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts
+Positives erfahren?“
+
+Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt.
+
+„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie wieder darauf
+zurückkommen würden,“ antwortete sie, nachdem sie den Blick gesenkt
+hatte, mit fester und strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet.
+„Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war, so ist es – je
+schneller abgetan, um so besser. Sie verlangen oder bitten wieder um
+eine Antwort. Wie Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal
+wiederholen, denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie. Ich sage es
+Ihnen nochmals – ich habe mich noch nicht entschlossen und kann Ihnen
+daher auch nicht das Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches
+Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel
+Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge ich hinzu, daß ich Ihnen
+noch nicht endgültig absage. Und merken Sie sich noch eines: wenn ich
+Ihnen jetzt noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem
+Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe Nachsicht habe. Ich
+wiederhole es: ich will vollkommen frei sein und wenn ich Ihnen
+schließlich sagen sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht
+beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche Hoffnungen
+gemacht habe. So, das ist alles!“
+
+„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff mit kläglicher Stimme
+aus. „Ist denn das eine Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die
+geringste Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“
+
+„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, und dann schließen Sie
+daraus, auf was Sie wollen. Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts
+mehr hinzufügen. Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern sage nur:
+warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen: daß ich die volle
+Freiheit habe, Ihnen endgültig abzusagen, sobald ich will. Und dann noch
+eines, Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die Antwort
+verabredeten Termin gekommen sind, um auf Umwegen etwas zu erreichen, in
+der Hoffnung, vielleicht auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen wir
+an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so haben Sie sich in Ihrer
+Berechnung sehr getäuscht. Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie?
+Doch jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis dahin mit
+keinem Wort mehr daran.“
+
+Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und ohne die geringsten
+Stockungen gesprochen, als hätte sie sie früher schon auswendig gelernt.
+Monsieur Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In dem
+Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück. Ihr folgte fast auf dem
+Fuße Frau Sjäblowa.
+
+„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina! Nastassja Petrowna,
+bereiten Sie schnell neuen Tee!“ – Die Dame schien nicht wenig erregt zu
+sein.
+
+„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen. Ihre Zofe Anjutka ist in
+unsere Küche gekommen, um auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“
+rief Nastassja Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem Ssamowar.
+
+„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna über die Schulter.
+„Als ob ich mich dafür interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt!
+Sie können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre Küche schicken
+werde. Und es wundert mich, es wundert mich aufrichtig, weshalb Sie mich
+immer für eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, und nicht
+nur Sie allein, sondern die ganze Stadt. Ich verlasse mich auf Sie,
+Pawel Alexandrowitsch! Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst,
+weshalb sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? Dieser
+Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag sie doch, mag sie doch die Erste
+sein! Ich werde als erste zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen.
+Und schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme sie stets in
+Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen! Sie wird von allen
+verleumdet. Aber weshalb fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung
+und putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung nach ist es
+aber doch besser, Putz zu lieben, als etwas anderes, wie zum Beispiel
+Natalja Dmitrijewna, die ... so etwas liebt, daß man es nicht einmal
+aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna Nikolajewna ewig zu Besuch
+fährt und nie zu Hause sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch
+überhaupt keine Erziehung, keine Bildung genossen, und daher fällt es
+ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen und sich zwei Minuten
+nacheinander mit ein und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und
+liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht. Aber weshalb
+versichert man ihr denn ewig, daß sie hübsch sei, wenn sie nur ein
+weißes Gesicht hat und nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die
+Zuschauer – schön! Aber weshalb beteuert man ihr denn fortwährend, daß
+sie so wundervoll tanze? Sie trägt ganz entsetzliche Hüte und noch
+ärgeren Kopfputz, – aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen
+Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so viel
+Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei, ein Konfektpapier ins
+Haar zu stecken – und sie wird es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber
+das ist doch hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier nicht?
+Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens und abends zu ihr und
+womöglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch bis
+fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem gibt es hier so viel
+schlechte Beispiele! Und schließlich ist das alles _vielleicht_ nur
+Verleumdung. Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen!
+... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der Fürst! Das ist er, er! Jetzt
+würde ich ihn unter Tausenden erkannt haben! Endlich sehe ich Sie
+wieder, ^mon prince^!“ rief Marja Alexandrowna aus und eilte dem
+eintretenden Fürsten entgegen.
+
+
+ IV.
+
+Auf den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen Fürsten durchaus nicht
+für einen alten Mann, geschweige denn für einen Greis halten. Erst nach
+näherem und aufmerksamerem Beobachten werden Sie sehen, daß er
+gewissermaßen eine auf Federn gespannte Leiche ist. Alle Künste sind
+angewandt, um diese Mumie als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich
+naturgetreue Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege
+glänzen im schönsten Schwarz und bedecken die Hälfte des Gesichts. Das
+übrige Gesicht ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie
+überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? – Das vermag niemand zu
+erklären. Gekleidet ist er nach neuester Mode, als wäre er aus einem
+Modejournal ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas
+Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich ist, jedenfalls
+etwas höchst Modernes und Neues, das ausschließlich für Morgenvisiten
+geschaffen ist. Handschuhe, Binde, Weste, Wäsche – alles ist von
+blendender Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der Fürst hinkt ein
+wenig, tut es aber so geschickt, als wäre auch das Hinken von der Mode
+vorgeschrieben. In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar in
+demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt eine Wolke von
+Wohlgeruch. Wenn er spricht, zieht er manche Worte ganz besonders in die
+Länge, – vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht
+deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht jedoch auch um
+des größeren Eindrucks willen. Einige Silben spricht er ganz
+ungewöhnlich süß aus, den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum
+Beispiel, klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher, wenn
+möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse Nachlässigkeit, in
+der er sich im Laufe seines langjährigen Lebemannslebens fleißig geübt
+hat. Übrigens, wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten
+Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von ihm aus gewissermaßen
+unbewußt geschehen, wie etwa eine alte, unklare Erinnerung, eine längst
+durchlebte Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle Korsetts,
+Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen machen können. Und deshalb
+tun wir besser, wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht
+gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis schon vor langer
+Zeit verloren hat, oft sogar vergißt, was er vor einer Minute
+gesprochen, sich beständig versieht, viel zusammenlügt und aufschneidet.
+Es gehört sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch führen
+zu können. Marja Alexandrowna aber verläßt sich auf sich und so gerät
+sie beim Erscheinen des Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung.
+
+„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht im geringsten
+verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide Hände des Gastes und führt ihn
+zu einem bequemen Ruhestuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst.
+Sechs Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, und keinen
+Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen Zeit von Ihnen erhalten!
+O, Sie haben mir großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen
+gewesen bin, ^mon cher prince^! Aber, – Tee, Tee! Ach, mein Gott!
+Nastassja Petrowna, Tee!“
+
+„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt der Fürst (wir haben zu
+erwähnen vergessen, daß er auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut
+er, als wäre es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld! und
+den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr wollte ich Sie un–be–dingt
+be–suchen,“ fährt er langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man
+riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“
+
+„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“ sagt Marja
+Alexandrowna.
+
+„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt sich Mosgljäkoff
+ein, da er sich bemerkbar zu machen wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn
+mit einem strengen Blick.
+
+„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges ... Und so unterblieb
+es. Und was macht Ihr Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer
+noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“
+
+„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna stockend. „Mein Mann ist nicht
+Staatsanwalt ...“
+
+„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für Anna Nikolajewna
+Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige Mosgljäkoff aus, verstummte aber
+sogleich, denn Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden.
+
+„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und ... es entfällt mir immer! –
+nun ja, Antipowna, wie gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst.
+
+„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt Marja Alexandrowna mit
+bitterem Lächeln. „Ich bin nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur
+gestehe – ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht erkannt
+zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt, Fürst. Ich bin Ihre
+einstige Freundin, bin Marja Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich
+ihrer noch? ...“
+
+„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich! Und ich war ge–rade der
+Mei–nung, daß Sie eben – wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna
+Wassil–jewna seien ... ^C’est délicieux!^ Al–so, ich bin nicht dorthin
+gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß du mich gerade zu dieser
+Anna Mat–wejewna brächtest. ^C’est charmant!^ Anbei ... das kommt nicht
+selten bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin ich will.
+Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer zufrieden, was auch geschehen
+möge. Dann sind Sie al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist
+in–teressant ...“
+
+„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja Alexandrowna. O wieviel ich
+Ihnen jetzt verzeihen muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten
+Freunde vergessen!“
+
+„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“ lispelt der Fürst und
+mustert Sina.
+
+„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch nicht, Fürst. Sie war
+damals nicht hier, als Sie uns besuchten, wissen Sie noch, vor sechs
+Jahren?“
+
+„Das ist Ihre Tochter! ^Charmante! charmante!^“ brummt der Fürst und
+mustert gierig das junge Mädchen. „^Mais quelle beauté!^“ flüstert er,
+sichtlich überrascht, erstaunt.
+
+„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna und lenkt die
+Aufmerksamkeit des Fürsten auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem
+Präsentierteller vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse und
+betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen hat.
+
+„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was für ein net–ter Knabe! U–u–nd
+sicherlich ... führt er sich gut auf?“
+
+„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe ja von
+einem so entsetzlichen Unglück gehört! Glauben Sie mir, ich war außer
+mir vor Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen? Sehen Sie sich
+vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“
+
+„In den Graben! In den Graben! In den Graben hat mich der Kutscher
+geworfen!“ ruft der Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte,
+es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges, und ich erschrak
+dermaßen, sage ich Ihnen, daß – vergieb mir, Herr! ... Der Himmel
+erschien mir so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das hatte ich
+nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus nicht erwartet! Und schuld
+daran ist ganz allein mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem auf
+dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und untersuche die
+Angelegenheit gründ–lich. Ich bin ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben
+abgesehen hatte.“
+
+„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch, „werde alles
+untersuchen. Nur hören Sie mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur
+Feier des heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“
+
+„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen! Ich bin ü–ber–zeugt,
+daß es von ihm ein Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von
+Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie sich: er hat,
+wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt! Es hat sich in ihm
+eine ge–wis–se Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein Kommunist
+im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe sogar Angst, ihm auch nur zu
+begegnen!“
+
+„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen haben, Fürst!“ ruft
+Marja Alexandrowna aus. „Sie werden es mir nicht glauben, wie sehr ich
+selbst unter diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen Sie
+sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt, aber sie sind so dumm,
+daß ich wirklich vom Morgen bis zum Abend meine liebe Not mit ihnen
+habe. Sie können es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“
+
+„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte ... ich habe es sogar
+ganz gern, wenn der Die–ner zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der
+wie alle alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig
+zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei – und es macht seine Wür–de
+aus, wenn er treuherzig und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen Fällen.
+Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine gewisse Fei–erlichkeit kommt
+in sein Gesicht, wie gesagt, es verleiht ihm eine gewisse
+Wohlerzogenheit, ich aber verlange von einem _Menschen_ vor allen Dingen
+_Wohl–erzogenheit_. Da habe ich meinen Terentij. Du erinnerst dich doch
+noch Terentijs, mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte
+ich ihn von vornherein zum Portier. Du sollst mein Portier sein, sagte
+ich. Phä–no–menal dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber
+welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein Doppelkinn so frisch
+und rosig! Nun, und in der weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler
+Gala macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe ihn von Herzen
+lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich ihn ansehe und schließlich alles
+darüber vergesse: entschieden, als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe,
+– so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der deutsche
+Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter, fetter Truthahn.
+Vollkommenes Comme-il-faut eines bedienenden Menschen! ...“
+
+Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und klatscht sogar leise
+Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert ihr bereitwillig: ihn
+interessiert der Onkel außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa
+lacht. Und sogar Sina lächelt.
+
+„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Esprit Sie haben,
+Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden
+noch so kleinen Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft
+zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen vier Wänden
+einzuschließen! Bei solchem Talent! Aber Sie könnten ja sogar
+schriftstellern, Fürst! Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol
+wiederholen! ...“
+
+„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm berührt. „Ich könnte
+wieder–ho–len ... und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich.
+Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville geschrieben. Und es kamen
+darin auch einige ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber nie
+gespielt worden ...“
+
+„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr Vaudeville lesen könnte!
+Und, weißt du, Sina, gerade jetzt käme es uns so zustatten! Man plant
+hier nämlich eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen Zweck,
+Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und da nun Ihr Vaudeville!“
+
+„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu schreiben ... nur, wie
+gesagt, habe ich es voll–kommen vergessen. Ich weiß nur noch, es waren
+da zwei oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt graziös seine
+Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich im Aus–lande war, machte ich
+tat–säch–lich Fu–rore. Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen auf
+freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener Kongreß tanzte er be–zau–bernd
+den Krakowjak.“
+
+„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“
+
+„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt, vielleicht war es auch nicht
+Lord Byron, sondern irgend ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord
+Byron, ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, sondern ein
+Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne ich mich vollkommen. Das war ein äußerst
+origi–neller Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später aber stellte
+es sich heraus, daß er nur so etwas wie ein Koch war. Nur tanzte er
+ent–zück–end den Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein.
+Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn:
+
+ Unser wun–der–voller Po–le
+ Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ...
+
+Und dann ... und dann ... das habe ich nun lei–der vergessen ... wie es
+weiter ging ...
+
+ Doch als er sich brach das Bein,
+ Da stellte er das Tanzen ein ...“
+
+„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ ruft Mosgljäkoff aus,
+dessen Stimmung immer heiterer wird.
+
+„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet Onkelchen, „oder in der
+Art we–nigstens. Wie gesagt, vielleicht war es auch anders, nur war es
+ein sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ... ich habe jetzt einige
+Er–leb–nisse vergessen. Das kommt bei mir von der Beschäftigung ...“
+
+„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie sich denn während dieser
+ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit beschäftigt?“ erkundigt sich Marja
+Alexandrowna interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, ^mon cher
+prince^, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld, Näheres darüber
+zu erfahren ...“
+
+„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt, wissen Sie,
+verschiedenes. Wenn man ... sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber,
+wissen Sie, gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“
+
+„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft, Onkelchen?“
+
+„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde ich mir so etwas ein, daß
+ich mich später über mich selbst wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A
+propos! Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur von Kadujeff?“
+
+„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“ ruft Pawel
+Alexandrowitsch aus.
+
+„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die ganze Zeit für den
+Vi–ze-Gou–verneur, und denke noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein
+ganz an–deres Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so
+wür–de–volles, klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich kluger Mensch war er
+und fortwährend schrieb er Gedichte, bei verschiedenen Ge–le–genheiten.
+Ein wenig, so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“
+
+„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich schwöre es
+Ihnen, mit einem solchen Leben richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf
+ganze fünf Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören! Sie
+sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, wen Sie wollen, von
+denen, die Ihnen wirklich zugetan sind – und ein jeder wird Ihnen sagen,
+daß Sie ein verlorener Mensch sind!“
+
+„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus.
+
+„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu Ihnen, wie Ihre
+Schwester! Ich sage es Ihnen nur deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil
+die Erinnerung an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich für
+einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln wollte? Nein, Sie müssen
+Ihr Leben von Grund aus verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken,
+sich überanstrengen, werden Sie sterben ...“
+
+„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ fragt erschrocken der
+Fürst. „Und denken Sie sich, Sie haben es erraten: mich quälen
+ent–setz–lich meine Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ...
+Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der Gelegenheit
+er–staun–liche Symptome – ich werde sie Ihnen ausführlich beschreiben
+... Erstens ...“
+
+„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“ unterbricht ihn
+Pawel Alexandrowitsch, „jetzt aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“
+
+„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das ist vielleicht auch nicht so
+in–ter–es–sant. Ich habe es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch
+im–mer–hin eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene
+E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein Lieber, ich werde dir am Abend
+einen Fall aus–führ–lich erzählen ...“
+
+„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen, sich im Auslande davon
+zu heilen,“ unterbricht ihn noch einmal Marja Alexandrowna.
+
+„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde un–be–dingt ins Aus–land
+fahren. Ich entsinne mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande
+war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte fast geheiratet, ^une
+Vicomtesse^, eine Fran–zö–sin. Ich war damals sehr ver–liebt und wollte
+ihr mein ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te
+sie, sondern ein an–derer. Und welch ein selt–samer Zufall: ich war nur
+auf zwei Stunden fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher
+Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang in einer Irrenanstalt.“
+
+„Aber, ^cher prince^, ich habe einzig deshalb davon gesprochen, weil Sie
+im Ernst an Ihre Gesundheit denken müssen. Im Auslande gibt es so gute
+Ärzte ... und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung auf sich
+hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo verlassen, wenigstens für
+einige Zeit!“
+
+„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer Zeit entschlossen, und
+wissen Sie, ich beabsichtige, mich hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“
+
+„Hydropathisch?“
+
+„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch behandeln lassen.
+Ich war damals in einem Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich
+habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische Dame, sie
+wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein. Und bei ihr befand sich auch ihre
+Tochter, die war fünfzig Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge
+hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in Ver–sen. Später
+hat–te sie noch ein Miß–geschick: sie hatte ihre leibeigene Magd
+erschlagen und war dafür vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen
+ein, mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt, nichts. Nun
+ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus
+Höf–lich–keit, denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke:
+vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden. Ich trank und
+trank, trank und trank, trank einen ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen
+Sie, diese Hy–dro–pathie ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen
+gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt wäre,
+jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein würde ...“
+
+„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung, Onkelchen! Sagen
+Sie, Onkelchen, haben Sie jemals Logik getrieben?“
+
+„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt streng die pikierte
+Marja Alexandrowna.
+
+„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur ist es sehr lange
+her. Ich habe auch Phi–lo–sophie gelernt in Deutsch–land, habe einen
+ganzen Kursus durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder
+ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben mich mit diesen
+Krankheiten der–ma–ßen erschreckt, daß ich ganz er–schüttert bin. Wie
+gesagt, ich werde sogleich wiederkommen ...“
+
+„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte Marja
+Alexandrowna aus.
+
+„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen neuen Gedanken
+nie–der–schreiben ... ^au revoir^ ...“
+
+„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch und biegt sich
+vor Lachen.
+
+Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld.
+
+„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber Sie lachen!“
+beginnt sie mit Eifer. „Über einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen
+Verwandten, zu lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen,
+und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für Sie errötet, Pawel
+Alexandrowitsch! Aber so sagen Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so
+lächerlich an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an ihm
+finden!“
+
+„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er den größten Unsinn
+zusammenschwatzt? ...“
+
+„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen Lebens, seines
+fünfjährigen Gefängnislebens unter der Aufsicht dieses höllischen
+Weibes! Man muß ihn bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar
+_mich_ nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist doch
+sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man muß ihn unbedingt retten!
+Ich berede ihn nur aus dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich
+hoffe, daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen wird!“
+
+„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten, Marja Alexandrowna!“ ruft
+Pawel Alexandrowitsch aus.
+
+„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich, Monsieur Mosgljäkoff!“
+
+„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich ganz im Ernst! Warum
+soll man ihn denn nicht verheiraten? Das ist doch eine Idee! ^C’est une
+idée comme une autre!^ Was kann ihm das schaden, sagen Sie doch, bitte!
+Er ist, im Gegenteil, in einer solchen Lage, daß dieses Mittel ihn
+retten könnte! Nach dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens
+wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild – verzeihen Sie den
+Ausdruck – befreit sein. Zweitens – und das ist die Hauptsache – nehmen
+wir an, daß er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe, eine
+nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen arme Witwe, die ihn
+wie eine Tochter pflegt, und die auch begreift, wie viel sie ihm dafür
+Dank schuldig ist, daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann
+man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes, herzliches und edles
+Wesen, das beständig bei ihm ist, anstelle dieses ... Weibes? Versteht
+sich, sie darf nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die
+Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna fixiert hat?“
+
+„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche Braut finden?“ fragte
+Nastassja Petrowna Sjäblowa, die aufmerksam zuhört.
+
+„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht Sie, wenn Sie nur
+wollen! Erlauben Sie: weshalb sollten Sie zum Fürsten _nicht_ passen?
+Erstens – Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe, drittens –
+adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja tatsächlich nicht reich),
+fünftens – Sie sind eine sehr vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn
+lieben, auf den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin ist,
+mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn ins Ausland bringen,
+werden ihn mit Brei und Konfekt füttern, und alles das bis zu der
+Minute, in der er das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre
+geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb Monaten.
+Dann sind Sie Fürstin, Witwe, reich, und zur Belohnung heiraten Sie
+einen Marquis oder einen Generalintendanten! ^C’est joli, n’est-ce
+pas?^“
+
+„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube ich, aus lauter Dankbarkeit
+in ihn verlieben, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“
+ruft Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen Augen blitzen
+auf. „Nur ist das alles – Scherz!“
+
+„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie mich mal recht nett, und
+dann schneiden Sie mir einen Finger ab, wenn Sie nicht heute noch
+verlobt sind! Es ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu
+irgend etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘ Sie haben es
+doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn so, daß er selbst nichts davon
+merkt. Wir können ihn ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu
+seinem Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens auf alle Fälle
+etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“
+
+Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft. Und wie vernünftig
+Frau Sjäblowa auch sein mag – ihr wässert dennoch der Mund.
+
+„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß ich heute ganz unmöglich
+angekleidet bin,“ antwortet sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und
+schon lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn heute nicht
+wirklich wie – eine – Köchin aus?“
+
+Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna mit eigentümlich
+starrer Miene unbeweglich auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn
+ich sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel Alexandrowitschs mit
+einem gewissen Schreck vernahm und im Augenblick geradezu erstarrte ...
+Endlich besann sie sich.
+
+„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber es bleibt doch ein
+Scherz und eine Ungereimtheit, und vor allem ist es hier durchaus
+unschicklich,“ unterbricht sie Mosgljäkoff scharf.
+
+„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna, weshalb soll es denn
+eine Ungeschicklichkeit und unschicklich sein?“
+
+„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb, weil Sie in meinem
+Hause sind und der Fürst mein Gast ist, und weil ich niemandem erlauben
+werde, die meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich fasse Ihre
+Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. Aber Gott sei Dank! Da
+ist ja der Fürst!“
+
+„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins Zimmer eintretend. „Es
+ist er–staunlich, ^cher ami^, wie viel neue Gedan–ken ich heute habe.
+Zu–wei–len aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten,
+zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht. Und so sitze ich oft
+einen ganzen Tag.“
+
+„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall im Wagen, Onkelchen. Das
+hat Ihre Nerven erschüttert und nun ...“
+
+„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem Um–stande zu, und finde
+den Fall sogar nütz–lich. Deshalb habe ich mich auch entschlossen,
+meinem Fe–o–fil zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er es nicht
+auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst du dazu? Zudem ist er sowieso
+vor kurzem bestraft worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“
+
+„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er hat doch einen Bart von der
+Größe des Königreichs Preußen!“
+
+„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen. Wie gesagt, mein Lieber,
+du hast voll–kom–men recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein
+künst–licher Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall: plötzlich
+schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man hat eine neue Sendung Bär–te
+aus dem Aus–lande erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te,
+sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches usw., und alle von
+vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten Prei–sen. Wart, denke ich, ich
+werde doch einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu sehen, wie ein
+falscher aussieht. Und ich bestellte einen Kut–scherbart, denn so ein
+Bart macht doch stattlicher. Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen
+natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist. Wie gesagt, was
+tun: soll man den echten abnehmen lassen oder den geschickten
+zurücksenden und den natürlichen tragen? Ich dachte und dachte, und
+beschloß, ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“
+
+„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der Natur steht,
+Onkelchen?“
+
+„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als ihm der Bart
+abgeschnit–ten wurde! Als hätte er mit seinem Bart seine ganze Karrie–re
+verloren ... Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“
+
+„Ich bin bereit, Onkelchen.“
+
+„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur fahren werden!“ ruft
+Marja Alexandrowna erregt aus. „Sie gehören jetzt _mir_, mein Fürst, Sie
+gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich
+nichts über die hiesige Gesellschaft sagen. Vielleicht wollen Sie auch
+Anna Nikolajewna besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen nehmen!
+Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt, daß die Zeit Ihnen die Augen
+öffnen wird. Vergessen Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre
+Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben Sie mir, Fürst,
+ich zittere für Sie! Sie kennen sie nicht, nein, Sie kennen diese
+Menschen noch nicht, wenigstens vorläufig nicht ...“
+
+„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna. Es wird so sein, wie
+ich es Ihnen versprochen habe,“ sagt Mosgljäkoff.
+
+„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen! Ich erwarte Sie zum
+Mittag zurück, Fürst. Wir speisen früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein
+Mann auf dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen! Wenn Sie
+wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie liebt!“
+
+„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen Mann?“ fragt der Fürst.
+
+„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! Sie haben ja alles,
+alles vergessen, was früher war! Mein Mann Afanassij Matwejitsch –
+entsinnen Sie sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber
+Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen Sie sich nicht, Fürst
+– Afanassij Matwejitschs? ...“
+
+„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken Sie sich, ^mais c’est
+delicieux^! Dann haben Sie also auch einen Mann? Was für ein
+son–der–barer Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes
+Vau–de–ville: Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da ... wie war es doch,
+da habe ich es nun vergessen! Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie
+gesagt, sehr geistvoll ...“
+
+„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau schon aus dem
+Haus‘, Onkelchen,“ souffliert Mosgljäkoff.
+
+„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber, gerade ‚aus dem Haus‘.
+Charmant, charmant! So daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du
+verfällst immer auf den richtigen Vers, mein Lieber. Nun ja: ich entsann
+mich noch ganz genau, daß die Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant!
+Wie gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede war ...
+Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein Lieber. ^Au revoir, madame, adieu
+ma charmante demoiselle!^“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt sich vor Sina
+und küßt seine Fingerspitzen.
+
+„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie es nicht, schnell
+zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja Alexandrowna nach.
+
+
+ V.
+
+„Wenn Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas in der Küche nach dem
+Rechten sehen wollten,“ sagt sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet
+hat. „Ich habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das Essen
+unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß er betrunken ist ...“
+
+Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft sie Marja Alexandrowna
+einen mißtrauischen Blick zu und bemerkt sogleich, daß diese sich in
+ungewöhnlicher Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen
+Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den Saal, von dort durch
+einen Korridor in ihr Zimmer und von dort in eine kleine dunkle Kammer,
+in der einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen und in
+Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses aufbewahrt wird. Auf den
+Fußspitzen schleicht sie zu einer verschlossenen Tür, hält den Atem an,
+beugt sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht. Diese Tür
+ist eine der drei Türen desselben Zimmers, in dem jetzt Sina und deren
+Mutter allein zurückgeblieben sind.
+
+Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna zwar für eine durchtriebene,
+aber doch mehr leichtsinnige Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der
+Gedanke gekommen, daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen würde, an
+den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick ist aber Marja Alexandrowna
+so beschäftigt und aufgeregt, daß sie keine Zeit hat, an
+Vorsichtsmaßregeln zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und
+blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen Blick und eine
+bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf.
+
+„Sina!“
+
+Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter zu und erhebt den
+Blick ihrer dunklen, verträumten Augen.
+
+„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr Ernstes zu reden.“
+
+Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter, faltet die Hände, lehnt
+sich an den Flügel und wartet. In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und
+Spott wieder, was sie übrigens zu verbergen sucht.
+
+„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute _jener_ Mosgljäkoff gefallen
+hat?“
+
+„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“ antwortet Sina gleichsam
+wider Willen.
+
+„Ja, ^mon enfant^; aber es scheint mir, daß er mit seinem ... Werben gar
+zu lästig wird.“
+
+„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte seine
+Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“
+
+„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig entschuldigt.
+Im Gegenteil, du fielst immer über ihn her, sobald ich nur von ihm
+sprach.“
+
+„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer verteidigtest und
+jetzt als erste über ihn herfällst.“
+
+„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina: früher wollte ich dich
+gern mit ihm verheiratet wissen. Es war mir schwer, deinen ewigen
+Kummer, deine Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel,
+was du auch von mir denkst! – und die meinen Schlaf in jeder Nacht
+vergiftet. Ich hatte mich überzeugt, daß nur eine einschneidende
+Veränderung in deinem Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung
+soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und können zum Beispiel
+nicht ins Ausland fahren. Die hiesigen Esel wundern sich, daß du
+dreiundzwanzig Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden
+allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem unserer Räte geben
+oder Iwan Iwanowitsch, unserm Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich?
+Mosgljäkoff ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch der beste
+von allen. Er ist aus guter Familie, er hat einflußreiche Verwandschaft,
+er besitzt hundertundfünfzig Seelen – das ist doch immerhin besser, als
+von Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern zu leben.
+Deshalb hatte ich auch mein Auge auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es
+dir, ich habe nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin
+überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten hat. Und wenn Gott
+dir jetzt etwas Besseres geschickt hat – o! Wie gut ist es dann, daß du
+ihm noch nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute nichts
+Bindendes gesagt, Sina?“
+
+„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch alles mit zwei Worten
+sagen läßt?“ fragt Sina gereizt.
+
+„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort kannst du deiner Mutter
+sagen? Doch was rede ich unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht
+mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber für deine Mutter.“
+
+„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns beide noch wegen eines Wortes
+streiten! Verstehen wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit
+genug gehabt, uns kennen zu lernen!“
+
+„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst nicht, daß ich zu allem,
+zu allem bereit bin, um dich sicher zu stellen!“
+
+Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an.
+
+„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten, um mich
+_sicher zu stellen_?“ fragte sie mit einem seltsamen Lächeln.
+
+„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da du selbst darauf zu
+sprechen kommst, so will ich dir sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du
+den Fürsten heiraten könntest.“
+
+„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“ rief Sina heftig aus.
+„Der größte Unsinn! Und auch finde ich, Mama, daß du gar zu viel
+dichterische Begeisterung hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein
+weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt. Du hast beständig
+Projekte. Deren Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab.
+Noch als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn hattest. Und als
+Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte und beteuerte, daß man den alten
+Mann verkuppeln müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken
+gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du daran denken und gerade
+_das_ mir jetzt vorschlagen wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne
+in bezug auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich quälen, so
+bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen Projekt mehr zu sprechen,
+hörst du, Mama, – kein Wort, und es würde mich freuen, wenn du das
+behieltest!“ Sie war atemlos vor Zorn.
+
+„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes Kind!“ entgegnete Marja
+Alexandrowna mit gerührter Stimme, in der Tränen zu zittern schienen.
+„Du sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine Mutter würde das
+ertragen, was ich täglich von dir ertrage! Aber du bist gereizt, du bist
+krank, du leidest, ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß
+dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn ich nun tatsächlich an
+diese Verbindung gedacht hätte – weshalb hältst du diesen Gedanken für
+unsinnig? Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen, als
+vorhin, – ich meine, als er bewies, daß der Fürst heiraten müsse, nur,
+versteht sich, nicht diesen Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich
+natürlich versehen.“
+
+„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das nur so, aus Neugierde, oder
+mit einer bestimmten Absicht?“
+
+„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“
+
+„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem auch ein solches
+Schicksal beschieden sein kann!“ rief Sina aus und stampfte mit dem Fuß
+vor Empörung. „Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen von
+allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche eines Greises
+auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu heiraten, diesen Klappergreis, um
+ihm dann sein Geld abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu
+wünschen, das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern außerdem noch
+so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu solchen Gedanken nicht Glück
+wünschen kann, Mama!“
+
+Eine ganze Minute dauerte das Schweigen.
+
+„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor zwei Jahren war?“
+
+Sina zuckte zusammen.
+
+„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du hast mir feierlich
+gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“
+
+„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir nur dieses eine Mal
+zu erlauben, das Versprechen, das ich bis jetzt noch niemals vergessen
+habe, zurückzuziehen. Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache
+zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre Schweigen waren entsetzlich!
+So kann es nicht weitergehen! ... Ich bin bereit, dich auf den Knien
+anzuflehen – erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen! Hörst du,
+Sina, deine leibliche Mutter fleht dich auf den Knien an! Und ich gebe
+dir feierlich mein Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die ihre
+Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner Form, und in keinem Fall,
+selbst wenn es sich um die Rettung meines Lebens handelte, davon mehr
+sprechen werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal geht es
+nicht anders, ich muß!“
+
+Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden Erfolg dieser
+Worte.
+
+„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde.
+
+„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu deinem verstorbenen Bruder
+Mitjä ein junger Lehrer ...“
+
+„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama! Wozu diese ganze
+Redekunst, alle diese Einzelheiten, die doch vollkommen überflüssig
+sind, die doch nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt sind?“
+unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie angeekelt.
+
+„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen bin, mich vor dir zu
+rechtfertigen. Zudem will ich dir diese Angelegenheit von einem ganz
+anderen Standpunkt aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt aus,
+von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt bist. Und schließlich, damit du
+die Folgerung begreifst, die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube
+nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will! Nein, Sina, du
+wirst in mir eine wirkliche Mutter finden, und vielleicht wirst du
+tränenüberströmt zu meinen Füßen, zu den Füßen der ‚_niedrigen Frau_‘,
+wie du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten, die du so
+lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht hast. Darum will ich
+alles sagen, Sina, alles, von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“
+
+„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen die Notwendigkeit
+dieser Rede verwünschte.
+
+„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der Kreisschule, fast noch ein
+Knabe, machte auf dich einen mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck.
+Ich vertraute zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen Stolz und
+hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es muß doch einmal alles gesagt
+werden –, um auch nur das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und
+plötzlich kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen, daß du ihn zu
+heiraten beabsichtigst! Sina! Das war ein Dolchstich in mein Herz! Ich
+schrie nur auf und verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich ja
+noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig, meine ganze Macht zu
+gebrauchen, die du damals Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer
+Knabe, der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur zwölf Rubel
+hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die nur aus Mitleid in der
+„Bibliothek zur Aufklärung“ abgedruckt werden und der von nichts anderem
+als nur von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß – dieser
+Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs! Aber das ist ja ein Ding
+der Unmöglichkeit! Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran
+bringt mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab; aber keine Macht der
+Welt vermag dich aufzuhalten. Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur
+mit den Augen und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du aber
+bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du kommst sogar mit ihm
+zusammen, und was am furchtbarsten ist, du entschließt dich, mit ihm zu
+korrespondieren. In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte. Mir werden
+von allen Seiten Stiche versetzt; man freut sich, man posaunt es schon
+aus, und plötzlich gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es
+kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich als deiner
+vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel – ich kann ihn unmöglich einen
+Mann nennen! – und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum zu
+zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß du ihm eine Ohrfeige
+gibst. Ja, Sina, auch dieses weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der
+Unglückliche zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem Lump
+Sanschin und nach einer Stunde befindet sich dieser Brief in den Händen
+Natalja Dmitrijewnas, meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser
+Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich zu vergiften. Kurz, es
+ist ein entsetzlicher Skandal zu erwarten! Dieser Schmierpinsel
+Nastassja kommt erschrocken zu mir gelaufen mit der furchtbaren
+Nachricht, daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in den
+Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach zwei Stunden wird die ganze
+Stadt um deine Schmach wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in
+Ohnmacht, – aber mit welchen Schlägen hast du mein Herz getroffen, Sina!
+Diese Schamlose, dieses Scheusal Nastassja verlangt zweihundert Rubel
+bar und dafür schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich selbst
+laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden Bumstein und verpfände
+meinen Schmuck, das Andenken meiner seligen Mutter! ... Nach zwei
+Stunden ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn gestohlen.
+Sie hat die Schatulle erbrochen – deine Ehre ist gerettet, der Beweis
+vernichtet! Aber in welcher Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen
+lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal in meinem Leben,
+daß ich vereinzelte graue Haare hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über
+diesen Knaben urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht mit
+einem bitteren Lächeln, daß es der größte Wahnsinn gewesen wäre, ihm
+dein Leben anzuvertrauen. Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind,
+du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn – denn er ist
+deiner stets unwürdig gewesen –, sondern das Phantom deines einstigen
+Glücks kannst du nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf
+dem Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber, in deiner
+Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange er noch lebt, um sein Herz
+nicht zu zerreißen, denn er quält sich noch immer mit seiner Eifersucht
+herum, wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit einer so
+tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß, seitdem er von
+Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt er spionieren, auflauern und
+ausfragen. Du schonst ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott
+allein weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt habe! ...“
+
+„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher Qual. „Das mit
+dem Kissen war wohl sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es
+denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“
+
+„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich auf mich, mein Kind!
+Meine Augen sind in diesen zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich
+habe meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir, ich selbst
+habe mich in dieser Zeit in vielem verändert! Ich habe längst deine
+Gefühle begriffen und ich gestehe es, erst jetzt kann ich die ganze
+Größe deines Schmerzes nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf
+machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit nur für Romantik hielt,
+die dieser verwünschte Shakespeare heraufbeschworen hat, dieser
+Dummkopf, der seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht
+haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines Schreckens, wegen der
+Maßregeln, die ich ergriff, wegen der Strenge meines Urteils verdammen?
+Jetzt aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren gesehen
+habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle. Glaube mir, ich habe
+dich vielleicht besser verstanden, als du dich selbst verstehst. Ich bin
+überzeugt, daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine eigenen
+goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine erhabenen Ideale. Auch ich
+habe geliebt und vielleicht noch leidenschaftlicher als du. Auch ich
+habe gelitten. Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und darum
+– wer kann mich deshalb verurteilen, und vor allem – kannst du mich
+deshalb verurteilen, weil ich die Verbindung mit dem Fürsten für die
+beste Rettung halte, für das Notwendigste, was du in deiner
+augenblicklichen Lage tun kannst und tun mußt?“
+
+Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede an, denn sie wußte, daß
+ihre Mutter nicht ohne Grund einen solchen Ton anschlug. Die letzte
+unerwartete Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf.
+
+„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit diesem Fürsten zu
+verheiraten?“ rief sie verwundert aus und sah erschrocken die Mutter an.
+„Dann sind es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine feste
+Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten? Und ... und ...
+inwiefern wird mich denn diese Heirat retten und weshalb ist sie so
+notwendig? Und ... und ... was hat das damit zu schaffen, was du soeben
+hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte? ... Ich verstehe dich
+nicht, Mama!“
+
+„Ich wundere mich, ^mon ange^, wie du das nicht verstehen kannst!“ ruft
+Marja Alexandrowna aus, die jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein
+das, daß du in eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere
+Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest, das für dich voll ist
+von unangenehmen Erinnerungen, in dem du keinen einzigen Freund hast,
+weder unter den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet
+worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich wegen deiner Schönheit
+hassen. Du könntest noch in diesem Frühling nach Italien fahren, in die
+Schweiz, nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra ist, der
+Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen hier mit dem
+unanständigen Namen ...“
+
+„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits verheiratet wäre
+oder zum mindesten als hätte der Fürst bereits um mich angehalten!“
+
+„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß, was ich rede. Erlaube,
+daß ich fortfahre. Den ersten Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt
+der zweite: ich begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen
+du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest ...“
+
+„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn niemals geheiratet
+hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach Sina heftig und ihre Augen
+blitzten.
+
+„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife, mein Kind! Es ist
+furchtbar, einem zu gehören, den einem Manne Liebe schwören müssen, den
+man nicht liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den man
+nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine Liebe: nur ihretwegen würde
+er dich heiraten, das sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft,
+wenn du dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –! Ich habe
+es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe zur Genüge ausgekostet! Dein
+Vater hat mich unglücklich gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend
+ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“
+
+„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“ sagte Sina.
+
+„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach, Sina! Mir wollte das
+Herz zerspringen, als ich – aus Berechnung – deine Vermählung mit
+Mosgljäkoff wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht zu
+verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn nicht lieben kannst
+... und er ist ja auch garnicht _fähig_, solche Liebe zu verlangen ...“
+
+„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch, daß du dich von Grund
+aus täuschst, von Anfang an, gerade in der Hauptsache! Begreife doch,
+daß ich mich nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich überhaupt
+nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe unverheiratet! Du hast
+mich zwei Jahre lang gefoltert, bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du
+wirst dich damit aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt! So
+wird es sein!“
+
+„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen nicht so auf, noch
+bevor du alles gehört hast! Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube
+mir, daß ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre und du
+wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der Fürst wird vielleicht noch ein
+Jahr leben, zwei wäre viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine
+junge Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen davon, daß du
+nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich und unabhängig bist! Mein Kind,
+du hörst vielleicht mit Verachtung all diese Berechnungen –
+Berechnungen, die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind. Aber –
+ich bin Mutter und welche Mutter wird mich wegen meiner Fürsorge
+verurteilen? Und schließlich, wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben
+immer noch bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er noch
+lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten habe, – so denk doch
+nur, daß du, wenn du den Fürsten heiratest, ihn seelisch auferstehen
+machst, ihm eine große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde
+Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß Eifersucht auf den
+Fürsten unmöglich ist, sie wäre lächerlich. Er wird begreifen, daß du
+aus Berechnung geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich
+begreifen, daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten kannst, wenn
+du willst ...“
+
+„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten, nimm ihm das
+Geld ab, warte dann auf seinen Tod, um nachher den Geliebten zu
+heiraten. Du verstehst sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich
+dazu verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe dich, Mama,
+verstehe dich vollkommen! Du kannst dich nie enthalten, selbst in einer
+schändlichen Angelegenheit nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du
+doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine Schändlichkeit,
+aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige ein.‘ Das wäre wenigstens
+aufrichtig gewesen.“
+
+„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt nur von diesem
+Standpunkt aus die Sache ansehen, – vom Gesichtspunkte des Betruges und
+der Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich, für Betrug?
+Aber, um aller Heiligen willen, wo ist denn hier Betrug, was ist hier
+schändlich? Geh zum Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man
+ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du, die du eine solche
+Schönheit bist, du opferst diesem Greise deine besten Jahre! Du wirst
+wie ein wundervoller Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie ein
+grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie diese Nessel, diese
+schamlose Person, die ihn behext hat und seine Säfte aussaugt? Ist denn
+sein Geld, sein Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn
+hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht, was du sprichst,
+Sina!“
+
+„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man einen Krüppel heiraten
+muß! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“
+
+„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man kann es sogar von einem sehr
+hohen, sogar von einem christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind!
+Du hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn gesagt, daß du
+barmherzige Schwester werden wolltest. Dein Herz hat gelitten und ist
+jetzt verstockt. Du hast gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben
+könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so wende deine
+Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande zu, tue es aufrichtig wie ein
+Kind mit dem ganzen Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und Gott
+wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls gelitten, er ist
+unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne ihn seit mehreren Jahren und
+habe stets eine unbegreifliche Sympathie für ihn empfunden, eine Art
+Liebe sogar, als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein Freund, sei ihm
+eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug – wenn einmal alles gesagt
+werden muß! – Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun, um
+der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das nicht. Er ist ein
+halber Mensch, – hab Mitleid mit ihm: du bist Christin! Zwinge dich
+dazu: solche Taten werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt.
+Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu verbinden, die
+übelriechende Lazarettluft einzuatmen. Es gibt aber Engel Gottes, die
+alle diese Pflichten erfüllen und obendrein Gott für ihre Bestimmung
+noch danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes Herz – eine
+Beschäftigung, eine große Tat, und deine Wunden würden vernarben. Wo ist
+hier nun Egoismus, wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir nicht! Du
+denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn ich dir von Pflichten
+und großen Taten rede. Du kannst es nicht verstehen, daß ich, eine
+weltliche, eitle Frau, ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann?
+Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber gib wenigstens zu,
+daß ihre Worte vernünftig sind. Wenn du willst, so denk, daß nicht ich
+rede, sondern irgend ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre mir
+den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare Stimme zu dir
+spricht ... Dich verwirrt doch hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst,
+für Geld geschehen solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte doch
+auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte nur das Notwendigste
+für dich und alles übrige verteile unter die Armen. Hilf zum Beispiel
+ihm, diesem unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“
+
+„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise, wie zu sich selbst.
+
+„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“ antwortete die
+triumphierende Marja Alexandrowna, „sie wird sie hinter seinem Rücken
+annehmen. Du hast deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt
+hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem halben Jahr. Ich
+weiß es. Ich weiß auch, daß die Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um
+ihren unglücklichen Sohn ernähren zu können.“
+
+„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“
+
+„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja Alexandrowna sofort auf,
+und wahre Begeisterung erfaßte sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte
+sie beglückt, „ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei
+schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist denn das, der das
+sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte ich mich bei Kalist Stanislawitsch
+nach ihm: ich interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina.
+Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit allerdings
+gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich überzeugt, daß es
+Schwindsucht nicht sein könne, sondern nur so – ein ziemlich ernstes
+Brustleiden. Du kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte
+mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen Verhältnissen,
+namentlich in einem anderen Klima, nach einem Luftwechsel und unter
+anderen Eindrücken sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir,
+daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon gehört, sogar gelesen
+– daß bei Spanien eine besondere Insel sei, Madeira, glaube ich –
+jedenfalls hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke, sondern
+auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund geworden sind. Viele
+fahren nur zu dem Zweck hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu
+lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch Kaufleute,
+jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra, diese Myrten, diese
+Zitronenbäume und diese Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese
+Umgebung muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine poetische Natur
+machen. Du glaubst vielleicht, daß er deine Unterstützung, dein Geld für
+diese Reise nicht annehmen wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut!
+Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. Mach ihm
+Hoffnung, versprich ihm deine Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst,
+wenn du Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen Weise sagen.
+Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem unterstützen, Sina. Du tust es,
+um sein Leben zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles
+erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er wird selbst seiner
+Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken, wird Medizin einnehmen und die
+Vorschriften der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen, um das
+verheißene Glück genießen zu können. Und wenn er gesund geworden ist, so
+wirst du ihn zwar nicht heiraten, aber er wird dann doch wenigstens
+gesund sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich kann
+man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht hat ihn das Leben inzwischen
+zum Besseren verändert, und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du
+ihn ja später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig. Du kannst,
+wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung in der Welt verschaffen, er
+kann durch dich Karriere machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher
+sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände euch bevor,
+wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet? Allgemeine Verachtung,
+Armut. Schulbuben an ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit
+seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares, ewiges
+Leben in Mordassoff und dann sein unvermeidlicher, naher Tod. Während du
+ihm so, wenn du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu einem
+nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit gibst. Indem du ihm
+verzeihst – zwingst du ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein
+schändlicher Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines neuen
+Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn mit der Hoffnung und
+söhnst ihn mit sich selbst aus. Er kann dann in den Staatsdienst treten,
+kann sogar zu Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht gesund
+wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt mit sich selbst,
+in deinen Armen – denn du kannst ja selbst in diesem Augenblick bei ihm
+sein –, überzeugt von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten der
+Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel! O, Sina! Alles das ist
+in deiner Macht! Alle Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles
+durch die Verbindung mit dem Fürsten!“
+
+Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es folgte ein ziemlich
+langes Schweigen. Sina befand sich in unbeschreiblicher Aufregung.
+
+Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben und wir
+können sie auch nicht alle erraten. Es scheint, daß Marja Alexandrowna
+den richtigen Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da sie nicht
+wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz befand, hatte sie zuerst alle
+Möglichkeiten versucht, bis sie zu guter Letzt erriet, welcher der
+richtige Weg war. Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten
+Stellen dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich nicht
+ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen, obschon sie wußte, daß sie
+damit Sina nicht täuschen würde.
+
+„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna, „sie wird mir
+doch nicht glauben. Wenn man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn
+ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr offen nicht
+sagen darf!“
+
+Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los und erreichte es
+auch: Sina hörte schließlich gespannt zu, ihre Wangen glühten und sie
+atmete erregt.
+
+„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn auch das totenblasse
+Gesicht deutlich aussprach, was dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama
+...“
+
+In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch im Vorzimmer und
+einer schrillen, scharfen Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte,
+unterbrochen. Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf.
+
+„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel schickt mir diese Elster auf
+den Hals! Aber ich habe sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen!
+Was soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen! Ich muß!
+Sie kommt bestimmt mit Nachrichten, sonst würde sie es doch nicht wagen,
+zu erscheinen. Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt wissen ...
+Ich darf nichts unbeachtet lassen! – Aber nein, wie dankbar ich Ihnen
+bin für Ihren Besuch!“ rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden
+Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur meiner erinnert,
+meine teure Ssofja Petrowna? Welch eine ent–zück–ende Überraschung!“
+
+Sina lief aus dem Zimmer.
+
+
+ VI.
+
+Ssofja Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten, glich nur seelisch
+einer Elster. Körperlich erinnerte sie eher an einen dünnen Sperling.
+Sie war eine kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden Augen
+in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen und anderen gelben Flecken
+bedeckt war. Ihr kleiner, ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen,
+festen Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid, das
+beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur zwei Sekunden lang, sich
+ruhig verhalten konnte. Sie war eine geradezu bösartige, rachsüchtige
+Klatschbase. Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen zu Kopf
+gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft beraubt hatte. Mit ihrem
+Mann jedoch, dem Oberst a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm
+bei der Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie jeden Morgen
+vier Gläschen Branntwein und am Abend dieselbe Portion, und haßte bis
+zum Wahnsinn Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche die Tür
+gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna Paskudina, die dabei geholfen
+hatte.
+
+„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, ^mon ange^,“ begann
+sie mit ihrer kreischenden Stimme. „Es ist ganz überflüssig, daß ich
+mich gesetzt habe. Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns
+geschehen. Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und das wegen dieses
+Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen – ^vous comprenez!^ – suchen ihn,
+fangen ihn, reißen ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu
+sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es nicht glauben! Sie
+glauben es nicht! Aber wie haben Sie sich nur entschließen können, ihn
+von sich fortzulassen? Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja
+Dmitrijewna ist?“
+
+„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna auf und sprang mit
+einem Satz von ihrem Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum
+Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, aber nur
+auf einen Augenblick!“
+
+„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie ihn wieder einfangen
+können! Den Gouverneur hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er
+zu Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben, daß er bei ihr
+speisen würde, Nataschka aber, die jetzt in einem fort bei ihr sitzt,
+hat ihn sofort zum Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt
+Ihren Fürsten!“
+
+„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch versprochen ...“
+
+„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch gleichfalls hingefahren!
+Seien Sie froh, wenn er dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und
+wieder alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst wird an
+den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft werden. Und was sie da
+alles klatscht, diese Nataschka! Sie sagt es ganz ungeniert und laut,
+daß Sie sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen Zwecken –
+^vous comprenez^? Sie setzt es ihm selbst auseinander. Er begreift
+natürlich nichts, sitzt da wie ein begossener Pudel und sagt zu allem:
+‚Nun ja, nun ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort
+hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich: fünfzehn Jahre
+alt und immer noch zieht sie dem Mädchen kurze Kleider an! Immer noch
+bis zu den Knien, wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie nach
+der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls im kurzen Kleide,
+nur war das noch kürzer, nicht einmal bis zu den Knien, – ich habe es
+durch mein Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen rote Mützen mit
+Federn gesetzt – was das zu bedeuten hatte, weiß ich nicht! Und dann
+mußten diese beiden Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen!
+Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er schnalzte! ‚Diese
+Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘ und betrachtete sie vom Kopf bis zu
+den Füßen durch sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide ganz
+erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm, und das soll ein Tanz
+sein! Ich habe selbst getanzt, wissen Sie, mit einem Schal, als ich
+Madame Jarnies Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich einen
+wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar Senatoren klatschten mir
+Beifall! Dort wurden nur Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier
+aber war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham, ich verging, ich
+verging! Ich hielt es einfach nicht aus! ...“
+
+„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna? Sie sind doch ...“
+
+„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt. Ich sage das einem
+jeden ganz offen. ^Mais, ma chère^, ich wollte wenigstens durch einen
+Türspalt diesen Fürsten mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich
+ihn denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren sein, wenn
+es sich nicht um diesen elenden Fürsten gehandelt hätte? Denken Sie
+sich: allen wird Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst
+spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht getan ... Diese
+Verleumderin! Ich werde ihr aber jetzt! ... Doch adieu, ^mon ange^,
+adieu, ich eile, ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna
+zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur sagen Sie jetzt Ihrem
+Fürsten Lebewohl! Den werden Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er
+hat ja kein Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt bei
+sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie ... ^vous comprenez?^ – in
+bezug auf Sina ...“
+
+„^Quelle horreur!^“
+
+„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze Stadt spricht nur noch
+davon. Anna Nikolawjewna will ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten
+und dann, versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum Trotz, um
+Sie zu schikanieren, ^mon ange^. Ich habe durch einen Zaunspalt in ihren
+Hof gelauert: ein Hasten und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der
+Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt ... sogar nach
+Champagner ist geschickt worden. Eilen Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn
+unterwegs auf, wenn er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt!
+Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur, damit diese
+geriebene, abgefeimte, ungebildete Person über uns lachen kann! Sie ist
+nicht einmal meine Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt ist!
+Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin in Madame Jarnies
+aristokratischer Pension erzogen worden ... ^Mais adio, mon ange!^ Ich
+habe meinen Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“
+
+Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna zitterte vor
+Aufregung, aber der erteilte Rat war äußerst klar und praktisch. Sie
+hatte keine Zeit zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte
+Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna eilte in das Zimmer
+ihrer Tochter.
+
+Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, bleich
+und verstört in ihrem Zimmer umher. Ihre Augen waren verweint, doch in
+ihrem Blick, den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit. Sie
+unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches Lächeln erschien
+auf ihren Lippen.
+
+„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen, „du hast viel von
+deiner Redekunst an mich vergeudet, gar zu viel. Du hast mich aber doch
+nicht blind gemacht. Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich
+gegebenenfalls die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte, wenn
+ich dazu nicht im geringsten berufen bin, eine niedrige Handlungsweise
+mit edlen Zielen rechtfertigen zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der
+mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht betören können und ich
+will, daß du das vor allem weißt!“
+
+„Aber, ^mon ange^!“ rief etwas ängstlich Marja Alexandrowna aus.
+
+„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich bis zu Ende anzuhören. Trotz
+der vollen Erkenntnis dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz
+meiner vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit dieser
+Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen Vorschlag vollkommen ein, hörst
+du: _vollkommen_, und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den
+Fürsten zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen
+Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem Heiratsantrag zu bringen.
+Wozu ich es tue? – Das ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich
+entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen: ich werde
+ihm die Stiefel reichen, ich werde seine Wärterin sein, ich werde ihm zu
+seinem Vergnügen vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu verdecken;
+ich werde alles, alles tun, nur damit er es nicht bereut, daß er mich
+geheiratet hat! Doch als Gegenleistung für meinen Entschluß verlange
+ich, daß du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen willst,
+daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem Tone davon zu sprechen
+angefangen hast, so – ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen
+Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben aufrichtig! Diese
+Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Ich kann nicht
+darauf eingehen, wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“
+
+Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten Entschluß ihrer Tochter so
+bestürzt, daß sie eine ganze Weile wie taub und stumm vor ihr stand und
+sie nur aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch nicht einmal
+denken vor Verwunderung. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, lange
+noch mit der trotzigen „Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes
+Anstandsgefühl sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und nun
+hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem einverstanden und zu
+allem bereit war, und sogar gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es _so_
+stand, dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“, – und
+Freude erglänzte in Marja Alexandrownas Augen.
+
+„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du bist mein Fleisch und
+mein Blut!“
+
+Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte zur Tochter, um sie in
+ihre Arme zu schließen.
+
+„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine Umarmungen gebeten, Mama!“
+wehrte sich Sina mit angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein
+Entzücken nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf meine Frage
+und nichts weiter.“
+
+„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind! Ich vergöttere dich, du
+aber stößt mich von dir ... ich tue es doch nur in der Sorge um dein
+Glück ...“
+
+Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna liebte ihre Tochter
+tatsächlich, nur tat sie es – auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der
+Erfolg und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina begriff, daß die
+Mutter sie liebte und – diese Liebe bedrückte sie.
+
+„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so aufgeregt,“ sagte sie, um
+die Mutter zu beruhigen.
+
+„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“ versicherte
+Marja Alexandrowna, im Augenblick wieder belebt, „ich begreife es doch,
+daß du erregt bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit
+... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen aufrichtig, glaube mir:
+Wenn du mir nur glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen
+bestimmten Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre, noch nicht habe,
+Sinachen, und das ist ja auch ganz unmöglich. Du, als kluges Köpfchen,
+wirst doch verstehen, weshalb nicht. Ich sehe sogar einige
+Schwierigkeiten voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase da die Ohren
+vollgeblasen ... Ach, mein Gott! Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin
+vollkommen aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde das
+Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine Überzeugung ist
+durchaus nicht poetischer Natur, wie du vorhin sagtest, mein Engel. Sie
+beruht auf der Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der
+völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber ist doch derart! ...
+ist doch ein solcher Kanevas, daß man alles auf ihm ausnähen kann – was
+man nur will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört! Aber wie
+sollen denn diese Gänse mich überlisten!“ rief Marja Alexandrowna stolz
+aus, schlug mit der Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß
+nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste, daß man sofort
+beginnt ... Wenn es nur irgend geht, muß heute noch das Hauptsächlichste
+erledigt werden.“
+
+„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... _aufrichtiges Geständnis_: Weißt
+du, weshalb ich mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht
+traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen kann. Ich habe dir
+gesagt, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit entschlossen habe, wenn
+aber die Einzelheiten deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu
+schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann nicht
+aushalten und mich dann von dem ganzen Vorhaben zurückziehen werde. Ich
+weiß, daß das eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit
+zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in dem sie schwimmt, – doch
+was soll ich tun? Es wird ja bestimmt so sein! ...“
+
+„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere Schändlichkeiten,
+^mon ange^?“ wagte die Mutter schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es
+sich doch nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen sich
+doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt aus zu sehen, und
+alles wird dann sogar sehr anständig erscheinen ...“
+
+„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht Verstecken mit mir! Du
+siehst doch, ich bin mit allem, mit allem, einverstanden! – was willst
+du denn noch mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge bei
+ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das jetzt – meine einzige
+Beruhigung.“
+
+Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen.
+
+„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann in den Gedanken nicht
+ganz übereinstimmen und dennoch sich gegenseitig achten. Nur, – wenn
+dich die Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie schmutzig
+sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen mir: ich schwöre dir,
+daß kein Tröpfelchen Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn
+vor allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich und alles wird
+vorzüglich und durchaus anständig arrangiert werden, die Hauptsache ist
+– durchaus anständig, sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten
+Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines, unvermeidliches
+Skandälchen geben sollte, – so ... irgendwie! – so sind wir dann doch
+schon über alle Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen sie
+dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns an? Sie werden uns
+ja doch nur beneiden. Und sind diese Menschen es denn überhaupt wert,
+daß man sich um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen, sei
+mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz sie so fürchtest!“
+
+„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du willst mich nur nicht
+verstehen!“ antwortete Sina gereizt.
+
+„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich sage ja nur, daß sie
+selbst an jedem Tage, den Gott werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du
+aber würdest dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber was fällt mir
+ein! Was rede ich dumme Person! Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist
+hier eine Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du
+sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir. Ich werde es dir
+beweisen, mein Kind. Erstens, ich wiederhole: es hängt alles nur davon
+ab, von welchem Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“
+
+„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“ unterbrach Sina sie
+zornig und stampfte mit dem Fuß auf.
+
+„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde nicht! Ich habe mich
+wieder verplappert ...“
+
+Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna folgte unruhig
+ihrer Tochter und suchte zaghaft deren Blick, wie etwa ein kleines,
+unartig gewesenes Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht.
+
+„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen willst,“ sagte Sina, die
+ihren Ekel niederrang. „Ich bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen
+wirst. Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich, Mama, wird
+es eine Schande sein.“
+
+„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein Engel – deshalb mach dir
+keine Sorgen! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns
+einigen – um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen.
+Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern ich mich trocken
+herausgearbeitet habe! Ich habe noch ganz anderes erlebt und
+durchgehalten! Nun, erlaub mir nur wenigstens, dies da zu versuchen!
+Jedenfalls ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich mit
+dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles übrige wird nur davon
+abhängen! Aber ich fühle auch das schon alles voraus. Sie werden sich
+alle empören, aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen
+wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“
+
+„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich.
+
+„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich nicht, Sinachen! Ich
+schwöre dir, ich werde ihn so weit bringen, daß er uns noch helfen wird!
+Du kennst mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was ich in der
+Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen! Vorhin, als ich von der
+Ankunft dieses Fürsten hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im
+Augenblick wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’ doch selbst,
+wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet bei uns absteigen
+würde? Eine solche Gelegenheit wird es ja in tausend Jahren nicht wieder
+geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist ehrlos, daß du einen
+Greis und Krüppel heiratest, sondern daß du einen heiratest, den du
+verabscheust und nicht ertragen kannst und dennoch in _Wirklichkeit_
+seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du doch nicht eine
+wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist doch keine Ehe! Das ist einfach
+ein häuslicher Kontrakt! Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem Esel,
+gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du weißt ja gar nicht, wie
+schön du heute bist! Du bist nicht nur schön, du bist geradezu
+wunderbar! Ich würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich
+verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel sind sie alle! Wie soll man
+diese Hand nicht küssen?“ – Und Marja Alexandrowna küßte
+leidenschaftlich der Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper,
+mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht anders, mit Gewalt zur
+Heirat zwingen, den Esel! Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du
+wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im Glück lebst? Wir
+haben uns ja oft gestritten, mein Engelchen, aber immerhin hast du doch
+keinen so treuen Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“
+
+„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast, so ist es vielleicht gut
+für dich ... etwas zu tun. Hier aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina
+ungeduldig.
+
+„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es höchste Zeit, daß ich
+gehe! Ach! Ich habe hier so lange geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam
+zur Besinnung. „Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen. Ich
+fahre im Augenblick! Ich werde einfach vorfahren, Mosgljäkoff
+herausrufen lassen und dann ... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen,
+wenn’s darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen, mein
+Täubchen, laß den Mut nicht sinken, zweifle nicht, sei nicht traurig,
+vor allem – sei nicht traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst
+vornehm arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von welchem
+Standpunkt aus man die Sache auffaßt ... nun, leb wohl, leb wohl! ...“
+
+Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte dann in ihr Zimmer,
+drehte sich dort einen Augenblick vor dem Spiegel und zwei Minuten
+später rollte sie schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für
+den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die Straßen von
+Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte „^en grand^“.
+
+„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“ dachte sie, als
+sie in ihrem Wagen saß. „Sina ist einverstanden, folglich ist die halbe
+Arbeit schon getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn!
+Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ... endlich! Also auch auf dein
+Köpfchen können andere Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr
+aber auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die Wirkung hat
+endlich einmal nicht versagt: Aber ... es ist ja ganz unfaßlich, wie
+schön sie heute aussieht! Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach
+meinem Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ... Der Shakespeare wird ihr
+schon aus dem Kopf kommen, wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge
+kennen lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und ihren Lehrer! ... Hm
+... Aber was für eine Fürstin sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an
+ihr. Diese Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr – und eine
+Königin hat einen angesehen! Wie, wie soll man denn nicht seinen eigenen
+Vorteil begreifen? Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch
+das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin bei ihr sein. Ich werde
+schon dafür sorgen, daß sie in allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne
+mich aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin sein, auch
+in Petersburg wird man mich kennen lernen. Leb wohl dann, erbärmliches
+Städtchen! Dieser Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird sterben
+und dann werde ich sie mit einem regierenden Fürsten verheiraten! ...
+Nur eines macht mir Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut?
+Bin ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht? Sorgen
+macht sie mir, weiß Gott ... ich fürchte sie fast ...“
+
+Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es läßt sich nicht leugnen:
+sie hatte allen Grund, besorgt zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen
+ganz mit Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft.
+
+Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch lange auf und ab in
+ihrem Zimmer, die Arme verschränkt und mit ihren Gedanken beschäftigt.
+Sie dachte über vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder:
+„Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit dazu gewesen!“ Was
+hatte dieser Ausruf zu bedeuten? Mehr als einmal blitzten Tränen in
+ihren langen, seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer Stimmung
+Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer Mutter waren ganz überflüssig.
+Umsonst bemühte sie sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen:
+Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle Folgen gefaßt
+gemacht.
+
+„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa, als sie nach der Abfahrt
+der Frau Oberst Karpuchina aus der dunklen Kleiderkammer wieder
+hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa Schleife anstecken,
+für diesen elenden Fürsten! Auch ich dumme Gans glaubte, daß er mich
+heiraten würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber Marja
+Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel sein, ich soll mich mit
+zweihundert Rubel bestechen lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas
+abließe oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich nahm das Geld
+auf ehrliche Weise; ich nahm es für die mit dem Vorhaben verknüpften
+Ausgaben ... Vielleicht habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das
+dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen oder andere
+dafür bezahlt habe! Ich habe doch für dich gearbeitet und du schonst
+deine Hände! Du willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal, ich
+werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch beiden zeigen, was für
+ein Schmierpinsel ich bin! Ihr sollt einmal Nastassja Petrowna und deren
+ganze Bescheidenheit kennen lernen!“
+
+
+ VII.
+
+Doch Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer Eingebung fortreißen. Sie
+hatte einen großen und gewagten Plan. Ihre Tochter an einen Krösus,
+einen Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß niemand es
+erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche und Schutzlosigkeit ihres
+Gastes, sie gewissermaßen auf „diebische Weise“, wie ihre Feinde
+unfehlbar sagen würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt,
+sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan verlockend
+vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens wurde die, welche ihn entworfen
+hatte, doch wohl mit ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe mich
+aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“ hatte sie zu
+Sina gesagt und sie hatte recht. Was wäre sie denn auch sonst für eine
+Heldin gewesen!
+
+Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig einem Überfall auf offener
+Straße, doch Marja Alexandrowna schenkte auch dem nicht gar zu viel
+Aufmerksamkeit. Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich richtigen
+Gedanken: „Sind sie erst getraut, so können sie die Trauung nicht mehr
+ungeschehen machen,“ – ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke,
+der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen Vorteilen anlockte, daß es
+Marja Alexandrowna bei der blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt
+überlief und sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte. Überhaupt
+befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung und saß wie auf Nadeln. Als
+inspirationsfähige Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte
+sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich, vorläufig noch
+skizzenhaft, überhaupt – ^en grand^, halb noch schleierhaft sah sie ihn
+vor ihrem geistigen Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und
+verschiedene unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja Alexandrowna
+glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht etwa aus Furcht vor dem
+Mißlingen auf, – o nein! Sie wollte nur schneller beginnen, sich
+schneller in den Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte
+sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse und möglichen
+Zwischenfälle. Ich will das deutlicher erklären. Die größte Gefahr ahnte
+und erwartete Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern, den
+Mordassowern, und vornehmlich von der höheren Gesellschaft der
+Mordassower Damen, deren unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte.
+Zum Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in der Stadt
+bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich noch niemand ein Wort
+darüber gesprochen hatte. Aus mehrfach gemachter trauriger Erfahrung
+wußte sie, daß es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben hatte,
+selbst wenn es das geheimste war, das nicht binnen zwölf Stunden jedes
+Hökerweib auf dem Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht
+sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die Gefahren, aber
+solche Vorahnungen betrogen sie nie. Auch diesmal betrogen sie sie
+nicht. Was aber inzwischen geschehen war und was sie noch nicht mit
+ganzer Sicherheit wußte, war folgendes:
+
+Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach der Ankunft des Fürsten
+in Mordassoff, verbreiteten sich in der Stadt absonderliche Gerüchte.
+Wie und wo sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet hatten
+sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten einander, daß Marja
+Alexandrowna ihre Sina mit dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß
+Mosgljäkoff der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so gut wie
+besiegelt und unterschrieben sei. Was war die Veranlassung zu diesen
+Gerüchten gewesen? Sollten die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut
+gekannt haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer
+tiefinnerlichen Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder die
+Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der gewöhnlichen Ordnung der
+Dinge – denn so etwas läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde
+abmachen – noch die freie Erfindung derselben – denn es vermochte
+niemand anzugeben, woher dieses Gerücht stammte – konnten den
+Mordassowern den Glauben daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich
+hartnäckig weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger wurde. Am
+erstaunlichsten ist aber, daß es sich schon zu der Zeit zu verbreiten
+begann, als Marja Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit Sina
+anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn der Provinzler sein.
+Der Instinkt des Kleinstädters grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare
+– und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf dem intimsten,
+langjährigen Studium des Nächsten, das mit größtem Interesse getrieben
+wird. Ein jeder Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt
+absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor seinen ehrenwerten
+Mitbürgern zu verbergen. Alle kennen einen auswendig, ja sie wissen
+sogar das, was man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der
+Kleinstädter müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach Psychologe
+und Gedankenleser sein. Deshalb hat es mich auch zuweilen aufrichtig
+gewundert, daß ich in der Provinz so oft statt dieser Psychologen und
+Gedankenleser so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch das war nur
+nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige Bemerkung.
+
+Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung. Die Verheiratung mit dem
+Fürsten erschien einem jeden dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“,
+daß das Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen weiter
+auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken: Sina wurde fast noch mehr
+gehaßt, als Marja Alexandrowna, – weshalb? – das vermag ich nicht zu
+sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der Grund zu diesem Haß.
+Vielleicht kam auch noch hinzu, daß Marja Alexandrowna immerhin von
+„unserem Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde man es –
+wer weiß? – noch bedauert haben. Sie unterhielt die Gesellschaft mit
+ihren beständigen Geschichten. Ohne sie wäre es vielleicht langweilig
+gewesen. Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in den Wolken und
+nicht in der Stadt Mordassoff. Sie paßte nicht zu diesen Leuten, sie
+stand nicht auf ihrer Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm
+sich vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich
+hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte „diese Sina“, von der man
+sich sogar „skandalöse Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina –
+Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft
+hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet ist, heiratet sie
+dann vielleicht einen Herzog, vielleicht sogar einen General oder
+vielleicht gar einen Gouverneur – und der Gouverneur unseres
+Gouvernements war gerade Witwer und hatte eine große Schwäche für das
+schöne Geschlecht. Dann würde sie die erste Dame im Gouvernement sein –
+und, versteht sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich,
+weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen Unwillen in
+Mordassoff hätte hervorrufen können, als diese von der Vermählung Sinas
+mit dem Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von allen
+Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde und eine Gemeinheit. Man
+sagte, der Alte sei nicht bei vollem Verstande, er sei betrogen worden,
+übertölpelt und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche. Einige
+meinten sogar, daß man den Alten aus diesen blutgierigen Krallen
+erretten müsse, daß es geradezu Räuberei sei, und schließlich –
+inwiefern sei denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch andere
+junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten!
+
+Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen ahnte Marja Alexandrowna
+vorläufig nur, aber das genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle,
+aber auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich war, zu
+greifen bereit wären, um die Verwirklichung ihrer Pläne zu verhindern.
+Wollte man doch den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß
+sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es ihr auch gelingen
+sollte, den Fürsten wieder einzufangen, so konnte sie ihn in ihrem Hause
+doch nicht festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute, daß
+vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps der Mordassower Damen
+in ihrem Salon erscheinen würde und noch dazu unter solchem Vorwande,
+daß man sie unmöglich _nicht_ empfangen konnte? Läßt man an der Tür
+absagen, so kommen sie durch das Fenster herein: ein fast unmöglicher
+Fall, sollte man meinen, der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff
+vorgekommen ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde zu verlieren –
+und dabei war noch nichts getan worden, nicht einmal angefangen hatte
+sie ihr Werk! Da kam ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im
+Augenblick in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall werden wir an
+der richtigen Stelle nicht zu sprechen vergessen, vorläufig aber sagen
+wir nur, daß unsere Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von
+Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu einem
+regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich sein sollte, um
+sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen. Sie wußte noch nicht, wie sie
+es machen und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie mit
+unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff untergehen
+würde, als daß auch nur ein Jota ihrer Absichten nicht in Erfüllung
+ginge.
+
+Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet hätte. Sie traf
+den Fürsten auf der Straße an und brachte ihn zu sich zum Mittagessen.
+Wenn man jetzt fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer
+Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna Nikolajewna mit einer
+langen Nase auf den Gast vergeblich warten zu lassen, so bin ich
+gewissermaßen verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage
+geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas halte. _Sie_ sollte
+irgend so eine Anna Nikolajewna Antipowa nicht besiegen können? Sie
+verhaftete einfach den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer
+Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen
+– und dazu gehörten auch die Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen
+Skandal befürchtete – setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage.
+Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna vor ihren Feindinnen
+aus, daß sie in entscheidenden Momenten nicht viel nach anderen fragte
+und nicht einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun einmal zu
+ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg alles rechtfertige.
+Freilich leistete auch der Fürst keinen bedeutenden Widerstand, vergaß
+vielmehr nach seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und war
+dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne Unterlaß, war bei sehr
+guter Laune, machte Witzchen und erzählte Anekdoten, die er nicht
+beendete, oder er ging von der einen auf eine andere über, ohne es
+selbst zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei Glas Champagner
+getrunken. Bei Tisch trank er auch noch, denn Marja Alexandrowna
+schenkte ihm eigenhändig ein, bis er dann endgültig den letzten Rest
+seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor. Das Essen an sich
+war tadellos. Der „schändliche“ Nikitka hatte es zum Glück nicht
+verdorben. Die Hausfrau belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer
+bezaubernden Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen Anwesenden um
+so langweiliger. Sina war gewissermaßen feierlich stumm. Mosgljäkoff
+fühlte sich offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er schien
+über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich selten an ihm zu
+bemerken war, so beunruhigte es Marja Alexandrowna nicht wenig.
+Nastassja Petrowna Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und
+machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche Zeichen, die
+dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte. Wäre die Hausfrau nicht so
+liebenswürdig und heiter gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an
+einen Leichenschmaus erinnert.
+
+Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in unbeschreiblicher
+Aufregung. Allein schon Sinas ernstes Gesicht und ihre verweinten Augen
+ängstigten sie unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große
+Schwierigkeit überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt keinen
+Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte Mosgljäkoff aber sitzt und
+rührt sich nicht, wie ein alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und
+nur andere stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart! Marja
+Alexandrowna erhob sich mit besorgtem, fast angstvollem Herzen. Wie groß
+war daher ihre Verwunderung, ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so
+ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie die Tafel
+aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet erklärte, daß er zu
+seinem größten Leidwesen, versteht sich – sie verlassen müsse.
+
+„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna mit ungeheurem Mitgefühl.
+
+„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff etwas unruhig und
+betreten an, „es ist mir etwas äußerst Seltsames passiert. Ich weiß
+nicht einmal, wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um
+Gotteswillen einen Rat!“
+
+„Was, was ist es denn?“
+
+„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener Kaufmann ... der kam mir
+heute auf der Straße entgegen. Der gute Alte ist mir entschieden böse,
+macht mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin ich zum
+dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht ein einziges Mal bei ihm
+gewesen. Nun und heute mußte er mich fassen und da hat er mich denn
+aufgefordert: ‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist es punkt
+vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten Sitte, sobald er vom
+Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr um fünf. Was soll ich tun? gewiß,
+es ist ja, Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes! Er hat
+doch meinen seligen Vater aus der Schlinge gezogen, damals, als dieser
+Kronsgelder verspielt hatte. Und deshalb wurde er dann auch mein Pate.
+Wenn meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande kommt – nun, ich
+habe doch nur hundertundfünfzig Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital
+von einer Million Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr.
+Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er einem schließlich
+noch Hunderttausend testamentarisch. Und siebzig Jahre alt – bedenken
+Sie doch nur!“
+
+„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch! Weshalb zögern Sie denn?“
+rief Marja Alexandrowna in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so
+fahren Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin! Mit solchen
+Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb! – ich wunderte mich die ganze
+Zeit während des Essens. Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, ^mon
+ami^, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon gleich am Morgen
+Ihre Aufwartung machen müssen, um ihm zu zeigen, daß seine
+Freundlichkeit Ihnen schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach,
+diese Jugend, diese Jugend!“
+
+„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“ rief Mosgljäkoff
+verwundert aus, „Sie haben doch noch selbst verschiedene absprechende
+Bemerkungen über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch vor
+kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen Bart, stehe mit
+Schankwirten auf gleicher Stufe, mit ganz gewöhnlichen Leuten?“
+
+„Ach, ^mon ami^! Ich kann mich doch auch einmal irren, ich bin nicht
+unfehlbar! Ich entsinne mich dessen nicht mehr so genau ... vielleicht
+war ich in einer Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten Sie
+noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich war das Egoismus
+meinerseits, aber jetzt muß ich doch unwillkürlich von einem anderen
+Standpunkte aus urteilen, und welche Mutter würde es mir in diesem Falle
+verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern Sie keinen Augenblick!
+Sie müssen auch den Abend bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! –
+erzählen Sie ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe und
+überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie es nur nicht
+ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott! Wie konnte ich nicht früher
+darauf verfallen! Ich hätte Sie sofort hinschicken müssen!“
+
+„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff war entzückt.
+„Von nun an, Ehrenwort, werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben
+Sie mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ... Nun, auf
+Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen Sie mich, bitte,
+bei Sinaïda Afanassjewna. Aber ich kehre ja ...“
+
+„Ich segne Sie, ^mon ami^! Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht vergessen,
+ihm von mir zu erzählen! Er ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe
+schon längst meine Meinung über ihn geändert ... Und übrigens habe ich
+immer dieses Altrussische, Unverfälschte an ihm geliebt ... ^Au revoir,
+mon ami, au revoir!^“
+
+„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom Halse nimmt! Nein, da
+sieht man, Gott selbst steht mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor
+Freude.
+
+Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer und zog seinen Pelz
+an, als plötzlich, wie aus der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna
+Sjäblowa vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet.
+
+„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am Arm fest.
+
+„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate – er hat geruht, mich aus
+der Taufe zu heben ... Ein reicher Alter, wird mir vielleicht was
+hinterlassen, da muß man ihn günstig stimmen!“ ...
+
+Mosgljäkoff war in der besten Stimmung.
+
+„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf die Braut!“ sagte Nastassja
+Petrowna schroff.
+
+„Wieso verzichten?“
+
+„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon gehört! Machen Sie doch
+nur die Augen auf: da will man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe
+es selbst gehört.“
+
+„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja Petrowna!“
+
+„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht gefällig, sich selbst
+davon zu überzeugen? Werfen Sie den Pelz fort und kommen Sie!“
+
+Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von den Schultern und
+folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen. Sie führte ihn in dieselbe
+dunkle Kleiderkammer, in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte.
+
+„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe entschieden nicht!
+...“
+
+„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein wenig bücken und zuhören.
+Die Komödie wird sicherlich bald beginnen.“
+
+„Was für eine Komödie?“
+
+„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie besteht darin, daß man Sie
+einfach betrügt. Am Vormittag, als Sie mit dem Fürsten ausgefahren
+waren, hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde beredet,
+diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch solche Köder ausgehängt,
+daß mir geradezu übel wurde. Ich habe hier alles gehört. Sina willigte
+ein. Und wie reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält Sie
+einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz offen, daß sie Sie unter
+keiner Bedingung heiraten würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte
+mir noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“
+
+„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist, wenn das wahr ist!“
+stotterte Mosgljäkoff, der mit dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna
+ansah.
+
+„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere Dinge hören.“
+
+„Wo soll ich denn horchen?“
+
+„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“
+
+„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht fähig, andere zu
+belauschen ...“
+
+„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber, stecken Sie die Ehre mal in
+die Tasche: sind Sie hergekommen, so horchen Sie!“
+
+„Aber ...“
+
+„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen Sie bitte mit langer
+Nase ab! ... Ich tue es nur zu seinem Besten und er wird jetzt noch
+hochmütig! Mir kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal bis
+zum Abend hier bleiben ...“
+
+Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum Spalt. Sein Herz
+schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er wußte kaum, was er
+tat.
+
+
+ VIII.
+
+„So haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht bei Natalja
+Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja Alexandrowna, die mit gierigem Blick
+das Feld der bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit einem
+möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte. Das Herz klopfte ihr vor
+Aufregung und Erwartung.
+
+Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt worden, in dem ihn
+die Hausfrau auch am Morgen empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge
+geschahen bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf den sie sehr stolz
+war. Der alte Herr konnte sich nach den sechs Glas Champagner nicht mehr
+ganz sicher auf den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß. Marja
+Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit nur von kurzer Dauer sein
+könnte und der Gast bald schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den
+Augenblick ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige Greis mit
+eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete und ihr Mutterherz
+erzitterte vor Glück.
+
+„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst. „Und wissen Sie, eine
+beispiellose Frau, diese Natalja Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“
+
+Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch mit ihren großen Plänen war,
+so traf sie doch ein so lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz.
+
+„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und ihre Augen blitzten. „Wenn
+sogar diese Natalja Dmitrijewna eine beispiellose Frau sein soll, dann
+weiß ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann kennen Sie
+ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten! Das ist doch nichts als
+eine Ausstellung der eigenen Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine
+Komödie, nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese Schale etwas
+auf und Sie werden eine ganze Hölle unter Blumen entdecken, ein ganzes
+Wespennest, in dem Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“
+
+„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das wun–dert mich!“
+
+„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, ^mon prince^! Hör, Sina, ich muß, ich
+muß doch dem Fürsten diesen lächerlichen und beschämenden Vorfall mit
+dieser Natalja erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt doch noch?
+Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen gepriesene Natalja Dmitrijewna,
+die Sie so entzückt hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich
+bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen – nur um Sie
+zu erheitern, um Ihnen hier in einer lebenden Probe, sozusagen durch ein
+optisches Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor zwei
+Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir. Es wurde Kaffee gereicht,
+ich aber mußte aus irgend einem Grunde den Salon auf einen Augenblick
+verlassen. Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch an Stückzucker
+in der silbernen Dose hatte: sie war noch ganz voll. Ich kehre zurück
+und was sehe ich? – es liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der
+Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im Zimmer gewesen. Wie
+finden Sie das! Sie ist eine reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine
+Zwischenfall ist natürlich lächerlich, aber hiernach können Sie auf die
+Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“
+
+„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig erstaunt. „Was für eine
+un–natürliche Habgier! Und sie hat alles allein aufgegessen?“
+
+„Nun sehen Sie, was für eine _beispiellose_ Frau sie ist, mein Fürst!
+Wie gefällt Ihnen diese schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich,
+noch in derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so
+widerlichen Handlung entschlossen hätte!“
+
+„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist doch immerhin ^belle
+femme^.“
+
+„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber ich bitte Sie, Fürst, sie ist
+doch einfach ein Marktweib! Ah, ^mon prince, mon prince^! Was haben Sie
+da gesagt! Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet ...“
+
+„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie, sie ist so gebaut ... Nun
+ja, und dieses Mädchen, das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut
+...“
+
+„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein Kind, Fürst! Sie ist
+erst vierzehn Jahre alt!“
+
+„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös und bei ihr
+entwickeln sich gleichfalls ... Formen. So ein net–tes Ding. Und die
+an–de–re, die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls ...“
+
+„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird von ihnen oft ins Haus
+gerufen.“
+
+„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig, wie gesagt, wenn sie doch
+we–nig–stens die Hände vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie
+gesagt, gleichfalls ver–führerisch ...“
+
+Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst Sina immer aufmerksamer
+und immer lüsterner durch sein Lorgnon.
+
+„^Mais quelle charmante personne!^“ murmelte er halblaut und schnalzte
+fast vor Wonne.
+
+„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns ein Lied! Wenn Sie
+wüßten, wie schön sie singt, Fürst! Man kann sagen, sie ist eine
+Künstlerin, eine vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“
+fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina zum Flügel ging – sie
+hatte einen so ruhigen, fast schwebenden Gang, der dem Alten noch den
+letzten Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für eine Tochter sie
+ist! Wie sie zu lieben versteht, wie zärtlich sie zu mir ist! Welche
+Gefühle, welch ein Herz!“
+
+„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich habe nur eine einzige Frau
+gekannt, in meinem ganzen Leben, mit der ich ihre Schön–heit
+ver–glei–chen könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer mehr
+wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin Nainskij, sie starb vor et–wa
+dreißig Jahren. Eine wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher
+Schönheit ... später heiratete sie noch ihren Koch ...“
+
+„Ihren Koch, Fürst!?“
+
+„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen ... im Aus–lande. Sie hatte
+ihm dort im Aus–lande einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine gu–te
+Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ... mit einem kleinen Schnurr–bart
+...“
+
+„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein Fürst?“
+
+„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen bald auseinander.
+Er plünderte sie vollkommen aus und fuhr dann fort. Sie waren wegen
+einer Sau–ce in Streit geraten ...“
+
+„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina.
+
+„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie sie singt Fürst! Lieben
+Sie Musik?“
+
+„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr Musik. Im Aus–lande war ich
+mit Beet–ho–ven bekannt.“
+
+„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war mit Beethoven bekannt!“
+wiederholt Marja Alexandrowna entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich
+mit Beethoven bekannt?“
+
+„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem Fuß. Seine Nase hatte er
+be–ständig in der Tabaksdose. So ein komischer Mensch!“
+
+„Beethoven?“
+
+„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt, auch nicht
+Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr
+viel Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt ...“
+
+„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina.
+
+„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt du noch, soviel
+mittelalterlich Ritterliches war, diese Schloßherrin und ihr Troubadour
+... Ach, Fürst! Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen,
+diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben! Diese Troubadours,
+Herolde, Turniere ... Ich werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich
+hierher, Fürst, etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“
+
+„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch, diese Burgen,“ murmelte
+der Fürst entzückt, während er sein einziges Auge in Sina geradezu
+hineinbohrte. „Aber ... ^mon Dieu!^ – diese Romanze! ... Aber ... ich
+kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer Zeit gehört ... Sie
+er–in–nert mich so daran ... Ah, ^mon Dieu^!“
+
+Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit dem Fürsten geschah,
+als Sina sang. Sie sang eine alte französische Ballade, die einmal sehr
+beliebt gewesen war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr reiner,
+klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein; ihr wundervolles
+Gesicht mit den herrlichen Augen, ihre schmalen, zarten Finger, mit
+denen sie die Blätter umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu
+einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich hebende und senkende
+junge Brust, ihre ganze Gestalt, die stolz, schön und edel vor ihm stand
+– alles das schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann. Er
+verschlang sie mit den Blicken, als sie sang, er schluckte nur noch vor
+Aufregung. Sein Greisenherz, das von Champagner, Musik und Erinnerungen,
+die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer schneller und
+lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft hatte. Er hätte vor Sina
+niederknieen und weinen mögen, nachdem sie geendet hatte.
+
+„Oh, ^ma charmante enfant^!“ rief er aus und küßte ihre Hand, „^vous me
+ravissez!^ Erst jetzt, erst jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ...
+aber ... oh, ^ma charmante enfant^ ...“
+
+Und die Stimme versagte ihm sogar.
+
+Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick gekommen war.
+
+„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich dazwischen.
+„Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft, soviel seelischer Reichtum, und Sie
+graben sich für Ihr ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man
+sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen! Das ist doch
+unverzeihlich! Besinnen Sie sich, Fürst! So sehen Sie doch mit klarem
+Blick auf das Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes in Ihrem
+Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend, an die heiteren sorglosen
+Tage: erwecken Sie sie wieder, lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie
+doch wieder in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins Ausland,
+nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, Fürst. Brauchen Sie einen
+Führer, ein Herz, das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt?
+Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur ein Wink genügt und sie
+werden in Scharen angelaufen kommen! Ich werde die erste sein, die alles
+hinwirft und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich habe unsere
+Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich werde meinen Mann
+verlassen und Ihnen folgen ... und selbst wenn ich noch jünger wäre,
+wenn ich so schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich Ihre
+Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre Frau, wenn Sie es nur
+wünschten!“
+
+„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie ^une charmante personne^ waren, zu
+Ih–rer Zeit,“ sagte der Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren
+feucht.
+
+„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete Marja Alexandrowna mit
+hohem Gefühl. „Ich habe gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist
+sie – meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der ich alle meine
+Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben Bewerber zurückgewiesen, nur um
+sich nicht von mir trennen zu müssen.“
+
+„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn Sie mich ins Ausland
+be–glei–ten? In dem Fall werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief
+der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt fahren! Und wenn ich
+mir mit der Hoffnung schmeicheln könnte ... Aber sie ist ja ein
+be–zau–berndes, ein be–rück–endes Kind! Oh, ^ma charmante enfant^ ...“
+Und der Fürst küßte ihr von neuem die Hand. Der Arme, er wollte sogar
+vor ihr niederknien!
+
+„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich mit der Hoffnung
+schmeicheln könnten?“ griff Marja Alexandrowna auf, die neue
+Beredsamkeit in sich fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten
+Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der Beachtung einer Frau?
+Nicht Jugend macht die Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie
+sozusagen ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant der
+feinsten, der ritterlichsten Gefühle und ... Manieren! Hat sich denn
+Maria nicht in den alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen,
+daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe Louis ... ich habe
+vergessen, des wievielten – noch in alten Jahren, als Greis, das Herz
+einer der ersten Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat Ihnen
+gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat Sie auf diesen Gedanken
+gebracht? Können denn Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit
+Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit, Geist,
+Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie brauchen ja nur irgendwo im
+Auslande, in einem Kurort mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer
+Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede nicht unbedingt von
+ihr, ich führe sie nur als Beispiel an – und Sie werden sehen, was für
+einen kolossalen Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück
+Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten! Sie führen
+sie am Arm feierlich in die Säle. Sie wird in den glänzendsten
+Gesellschaften singen und Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen
+um sich streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen, um
+dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird davon reden, denn alle Zeitungen,
+alle Feuilletons in den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, ^mon
+prince^! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln
+dürften?“
+
+„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das ist in den Zeitungen ...“
+murmelte der Fürst, der die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und
+immer gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det hat –
+singen Sie mir dann noch einmal diese Ro–man–ze vor, die Sie soeben
+sangen!“
+
+„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere Romanzen, noch bessere
+... Entsinnen Sie sich noch des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben
+es sicherlich gehört!“
+
+„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich habe es ver–ges–sen.
+Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze, dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen
+hat! Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze hören ...“
+bat der Fürst wie ein eigensinniges Kind.
+
+Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der Arme nicht mehr bezwingen
+und sank vor ihr auf die Knie nieder. Er weinte sogar.
+
+„Oh, ^ma belle châtelaine^!“ Seine Stimme zitterte vor Altersschwäche
+und Aufregung. „Oh ^ma charmante châtelaine^! O, mein liebes Kind! Sie
+haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes ... Ich
+glaubte immer, daß alles besser werden würde, als es dann wurde. Ich
+sang damals Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze ...
+jetzt aber ... ich weiß nicht mehr, was jetzt ist ...“
+
+Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und stockend hervor. Seine
+Zunge wurde merklich steif. Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man
+sah nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war – und so
+beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl ins Feuer zu gießen.
+
+„^Mon prince!^ Aber Sie werden sich ja schließlich noch in meine Sina
+verlieben!“ rief sie aus. Sie fühlte, daß der Augenblick entscheidend
+war.
+
+Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen.
+
+„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief der Alte aus, plötzlich
+wie neu belebt, während er immer noch vor ihr kniete und vor Aufregung
+am ganzen Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben! Und
+wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber er–he–ben Sie mich, ich bin ein
+we–nig schwach ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen dürf–te, ihr
+mein Herz an–zu–bieten, so ... würde ich ... sie würde mir jeden Tag
+Ro–manzen vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ... im–mer
+an–se–hen ... Ah, ^mon Dieu^!“
+
+„^Mon prince, mon prince!^ Sie halten um ihre Hand an! Sie wollen sie
+mir fortnehmen, meine Sina, meinen Liebling, meinen Engel, mein
+Sinachen! Kind, ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich mir
+aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich nicht! – aus den
+Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna stürzte sich auf die Tochter und
+umschlang sie krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark
+zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas zu eifrig. Sina litt mit
+jeder Fiber und sah mit unerträglichem Ekel auf die ganze Komödie. Aber
+sie schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter zur
+Durchführung ihres Planes nötig hatte.
+
+„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht von ihrer Mutter trennen
+zu müssen!“ beteuerte Marja Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz
+die bevorstehende Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf, wie sie Sie
+ansah ... Sie haben sie mit Ihrem Aristokratismus besiegt, Fürst, mit
+dieser ausgesuchten Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! – das
+fühle ich!“
+
+„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer noch wie ein
+Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor.
+
+„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna aus und warf
+sich von neuem der Tochter an den Hals.
+
+Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende zu machen. Sie reichte
+dem Fürsten stumm ihre wundervolle Hand und zwang sich sogar zu einem
+Lächeln. Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen und
+bedeckte es mit hundert Küssen.
+
+„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor, hingerissen in
+seiner Begeisterung.
+
+„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an, „siehe diesen Menschen! Er
+ist der ehrenhafteste, der edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das
+ist ein mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie weiß es,
+zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb sind Sie hergekommen! Ich übergebe
+Ihnen meinen kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie ihn,
+Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche Mutter würde mir meinen
+Schmerz nicht nachfühlen?“
+
+„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu.
+
+„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren, Fürst! Ihr Degen wird den
+Verleumder oder den Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu
+strafen wissen!“
+
+„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“
+
+„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt erst beginne ich zu
+leben ... Ich will, daß die Hochzeit sofort sei, im Augenblick ... ich
+... Ich will so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe ich
+Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen ...“
+
+„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle Gefühle!“ rief Marja
+Alexandrowna aus. „Und Sie konnten, Fürst, Sie konnten sich so
+vergraben, sich so von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen
+tausendmal vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an diese höllische
+...“
+
+„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche Angst!“ stammelte der Fürst
+halb weinend mit unsicherer Stimme. „Sie wollten mich in eine
+Ir–ren–an–stalt ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“
+
+„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese unmenschlichen
+Menschen! O, diese Niedertracht! ^mon prince^ – ich habe schon früher
+davon gehört! Aber das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und
+weshalb nur, aus welchem Grunde?“
+
+„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“ antwortete der Alte,
+der sich vor Schwäche hinsetzte. „Ich, wissen Sie, ich war auf einem
+Ball und erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te ihnen nicht
+ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand die Ge–schich–te!“
+
+„Und das allein war der Grund, Fürst?“
+
+„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt, mit Fürst Pjotr
+De–men–tjitsch, und war ohne sechs ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge
+und drei Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei Kö–ni–ge ...
+Nein! einen König! Und dann erst kamen die Da–men ...“
+
+„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit! Sie weinen,
+mein Fürst! Aber jetzt brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde
+ich bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von Sina trennen,
+und dann wollen wir doch sehen, ob sie noch ein Wort zu sagen wagen!! –
+... Und Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie wird sie
+beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen, daß Sie dann noch fähig
+sind ... das heißt, sie werden sich sagen, daß eine solche Schönheit
+doch nicht einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie stolz das
+Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die Augen sehen ...“
+
+„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die Augen sehen,“ murmelte der
+Fürst und die Augen fielen ihm zu.
+
+„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“ dachte Marja
+Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz meine Worte!“
+
+„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie müssen sich jetzt
+unbedingt beruhigen, sich erholen,“ sagte sie gütig zuredend, indem sie
+sich mütterlich zu ihm beugte.
+
+„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“ sagte er.
+
+„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen ... Warten Sie,
+ich werde Sie selbst geleiten ... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen,
+wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf dieses Porträt,
+Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter, – eines Engels, aber nicht einer
+Frau! O, weshalb weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine
+Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“
+
+„Eine Hei–li–ge? ^c’est joli^ ... Ich habe gleich–falls eine Mutter
+gehabt ... ^une princesse^ ... und – denken Sie sich – es war eine
+außer–ge–wöhn–lich vol–le Frau ... Aber, wie gesagt, ich wollte etwas
+an–de–res sagen ... Ich bin etwas er–mü–det. ^Adieu, ma charmant
+enfant!^ ... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ... morgen ... Nun
+ja, gleichviel! ^au revoir, au revoir!^“ Er wollte noch mit der Hand
+einen Gruß senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre fast
+gefallen.
+
+„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf meinen Arm!“ rief ihm
+Marja Alexandrowna zu.
+
+„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen. „Jetzt erst beginne
+ich zu leben ...“
+
+Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge eine erdrückende Last auf
+ihren Schultern. Ihr ward fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst
+verachten mögen. Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften Händen,
+zusammengebissenen Zähnen stand sie, den Kopf gesenkt und rührte sich
+nicht. Tränen der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde die Tür
+aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer.
+
+
+ IX.
+
+Er hatte alles gehört, alles!
+
+Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein – denn eintreten konnte
+man es wahrlich nicht nennen. Sina sah ihn verwundert an.
+
+„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe ich endlich erfahren,
+was Sie sind!“
+
+„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie einen Wahnsinnigen
+verständnislos ansah; plötzlich aber begriff sie und Zorn blitzte in
+ihren Augen.
+
+„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie trat auf ihn zu.
+
+„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff feierlich, trat aber
+doch unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück.
+
+„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür gelauscht?“
+
+„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser niedrigen Tat
+entschlossen, dafür aber habe ich jetzt erfahren, daß Sie die aller ...
+Ich weiß nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen
+... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während sein Mut unter
+ihrem Blick immer mehr dahinschwand.
+
+„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen können Sie mich denn
+beschuldigen? Welch ein Recht haben Sie überhaupt, mir etwas
+vorzuwerfen? Welches Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“
+
+„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie fragen das noch? Sie heiraten
+den Fürsten und ich soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr
+Wort gegeben! Ganz einfach!“
+
+„Wann?“
+
+„Wieso wann?“
+
+„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder in mich drangen,
+deutlich gesagt, daß ich Ihnen nichts Bestimmtes versprechen könne.“
+
+„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht zurückgewiesen, Sie haben
+mir nicht endgültig abgesagt! Sie haben mich also für den Notfall
+aufbewahrt! Sie haben mich angelockt!“
+
+In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches Gefühl wieder;
+wie etwa von einem scharfen, durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie
+bezwang sich.
+
+„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete sie langsam und
+deutlich, wenn auch in ihrer Stimme ein leises Zittern zu hören war, „so
+habe ich es nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten, noch
+ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen nicht sofort Nein zu sagen,
+sondern Sie näher kennen zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn
+Sie sich überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter Mensch bin,
+dann werden Sie mich vielleicht doch nicht abweisen‘. Das sind Ihre
+eigenen Worte, die Sie zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können
+sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir zu sagen, daß ich
+Sie angelockt hätte! Sie haben aber doch meinen Widerwillen bemerkt, als
+ich Sie zwei Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah, und
+diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen, im Gegenteil, ich
+habe ihn offen gezeigt. Und Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst
+fragten mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher
+wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen nicht anlockt,
+vor dem man seinen Widerwillen weder verbergen kann noch _will_. Sie
+haben es gewagt, mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt.
+Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir über Sie etwa folgendes gedacht
+habe: ‚Wenn er auch nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so
+kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich könnte man
+ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich mich zu meinem Glück noch
+rechtzeitig überzeugt habe, daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß
+noch ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes übrig, als
+Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche Reise zu wünschen. Leben Sie
+wohl!“
+
+Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam das Zimmer.
+
+Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren hatte und geriet außer
+sich.
+
+„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“ schrie er, „so bin ich
+denn ein Dummkopf! Gut! Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde
+ich der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter den Fürsten
+umgarnt haben, nachdem er von Ihnen genügend angeheitert worden ist!
+Allen werde ich es erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“
+
+Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um zu antworten, bedachte
+sich aber, zuckte nur verächtlich mit der Achsel und schlug die Tür
+hinter sich zu.
+
+Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna in der anderen
+Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs letzten Ausruf vernommen, erriet in einer
+Sekunde den ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war noch nicht
+fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff
+konnte ja die Neuigkeit in der ganzen Stadt verbreiten, während doch
+gerade die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für noch so kurze
+Zeit, die erste Bedingung war! Marja Alexandrowna hatte ihre eigenen
+Berechnungen. Nur einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und
+dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung Mosgljäkoffs
+entworfen.
+
+„Was haben Sie, ^mon ami^!“ fragte sie, trat auf ihn zu und streckte ihm
+freundschaftlich die Hand entgegen.
+
+„Was! Noch ‚^mon ami^‘!“ schrie Mosgljäkoff in rasender Wut. „Nach
+allem, was Sie getan haben, noch ^mon ami^! Das verbitte ich mir, meine
+Gnädigste! Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen zu können!“
+
+„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie in einer so
+_sonderbaren_ Stimmung angetroffen habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist
+das für ein Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren Sie
+sich einer Dame gegenüber bedienen.“
+
+„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles was Sie wollen, nur keine
+Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff. Ich weiß nicht, was er eigentlich
+sagen wollte, jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen sein.
+
+Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an.
+
+„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger Stimme und wies auf
+denselben Stuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten der Fürst gesessen
+hatte.
+
+„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff
+war ganz verdutzt. „Sie sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir,
+sondern womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da – da – das geht
+doch nicht! ... Dieser Ton! ... Aber das übersteigt doch jedes Maß der
+menschlichen Geduld! ... Wissen Sie das auch?“
+
+„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „Sie werden mir erlauben,
+Sie immer noch so zu nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als
+mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich, Sie sind mitten ins Herz
+getroffen – und deshalb wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem
+solchen Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen, Ihnen alles
+aufzudecken, mein ganzes Herz, um so mehr, als ich mich selbst ein wenig
+schuldbewußt vor Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“
+
+Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend, weich und auch in ihrem
+Gesicht drückte sich Leiden aus. Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr
+gegenüber.
+
+„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone fort und sah ihn
+vorwurfsvoll an.
+
+„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich es nicht getan hätte!
+Dann wäre ich ja der richtige Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles
+erfahren, was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er frech. Sein
+eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn noch mehr auf.
+
+„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich zu einer solchen
+Handlung entschließen können? – O, mein Gott!“
+
+Mosgljäkoff sprang auf.
+
+„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch unerhört! Denken Sie doch
+gefälligst daran, wozu _Sie_ sich bei _Ihrer_ Erziehung und Ihren
+Grundsätzen entschlossen haben, und dann verurteilen Sie andere!“
+
+„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine Heftigkeit zu
+beachten, „wer hat Sie dazu verleitet, uns zu belauschen, wer hat es
+Ihnen erzählt, wer hat hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst
+wissen will.“
+
+„Verzeihung – das sage ich nicht.“
+
+„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe gesagt, ^cher Paul^, daß
+ich schuldbewußt vor Ihnen dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann
+werden Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine solche
+zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß ich Ihnen das Beste
+gewünscht habe.“
+
+„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über die Hutschnur! Glauben Sie mir,
+daß Sie mich jetzt nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer
+Junge!“
+
+Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in den Fugen knackte.
+
+„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger zu sein, wenn es Ihnen
+möglich ist. Hören Sie mir aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst
+in allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen sogleich
+alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von mir den ganzen Sachverhalt bis
+auf die kleinsten Details erfahren, ohne sich durch Belauschen
+erniedrigen zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt
+habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das Ganze doch noch nichts
+als ein in der Luft schwebender Plan war. Es konnte ja ebensogut auch
+nichts daraus werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen. Zweitens:
+beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina liebt Sie bis zum Wahnsinn
+und es hat mir unglaubliche Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und
+durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“
+
+„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen gehabt, den
+glänzendsten Beweis für diese Liebe _bis zum Wahnsinn_ zu vernehmen,“
+bemerkte Mosgljäkoff ironisch.
+
+„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? Soll das die Rede
+eines Verliebten sein? Und schließlich – welcher wohlerzogene Mensch
+spricht in diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“
+
+„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht um den Ton! Aber am
+Vormittag, nachdem Sie so liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben
+Sie mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach verleumdet!
+Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben ihr nur Schlechtes von mir
+gesagt! Ich weiß alles, alles!“
+
+„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“ fragte Marja
+Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln. „Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich
+habe Sie angeschwärzt, ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt, und ich
+gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben habe. Aber beweist das
+nicht – daß ich gezwungen war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu
+verleumden – beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas Einwilligung,
+sich von Ihnen loszusagen, zu erringen war? Wie können Sie so
+kurzsichtig sein? Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es
+dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich zu machen, in so
+unvorteilhaftem Licht zu zeigen – kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu
+greifen? Aber Sie wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner
+Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen herauszureißen,
+und erst nach unglaublichen Anstrengungen habe ich nur eine äußerliche
+Einwilligung erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß es
+Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen um den Fürsten mit
+keinem Wort, keinem Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit
+hat sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen hat sie wie ein
+Automat. Ihre ganze Seele wand sich vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr
+machte ich der Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort. Ich
+bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein war. Als Sie
+eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt haben ...“
+
+Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er ins Zimmer gestürzt
+war, Tränen in ihren Augen bemerkt hatte.
+
+„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen mich gewesen, Marja
+Alexandrowna? Warum haben Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet –
+was Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“
+
+„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn Sie gleich zu Anfang so
+vernünftig gefragt hätten, dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja,
+Sie haben recht! Alles das habe _ich_ getan und nur _ich_ allein. Sina
+lassen Sie hier ganz aus dem Spiel. Und weshalb ich es getan habe? Meine
+Antwort ist: in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem
+Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, macht sie eine
+glänzende Partie. Und schließlich, wenn er sterben sollte, was
+vielleicht sogar sehr bald geschehen kann – denn wir sind ja alle mehr
+oder weniger sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin, in der
+besten Gesellschaft und unermeßlich reich. Dann kann sie heiraten, wen
+sie will, sie kann die glänzendste Partie machen – doch wird sie
+selbstverständlich nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen
+Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein schon die Reue
+würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen, den sie früher geliebt,
+wieder gut zu machen ...“
+
+„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich seine Stiefel betrachtete.
+
+„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“ fuhr Marja
+Alexandrowna fort, „denn Sie werden das vielleicht nicht einmal
+begreifen. Sie lesen Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen
+Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie, wenn auch _sehr
+gutmütig_, so doch noch zu jung, – ich aber bin Mutter, Pawel
+Alexandrowitsch! So hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum
+Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will ich ihn retten.
+Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten, geradezu ritterlichen Greis
+auch früher schon geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich in
+den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird ihn noch unter die Erde
+bringen! Gott hat es gesehen, daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat
+habe bewegen können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat der
+Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich von dem Edelmut, von
+der Begeisterung für die große Überwindung fortreißen lassen. Sie hat
+selbst viel Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine
+Christenpflicht ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das Kind, die
+Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein, dem vielleicht nur noch ein
+einziges Lebensjahr vergönnt ist. Ihn würde dann nicht dieses
+schändliche Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten
+Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, Freundschaft und Liebe.
+Diese letzten Tage würde er im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus
+– sagen Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer barmherzigen
+Schwester, aber nicht Egoismus!“
+
+„Dann ... dann haben Sie es also nur für den Fürsten getan und aus
+Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“ brummte Mosgljäkoff spöttisch.
+
+„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch, sie ist recht
+deutlich. Sie glauben vielleicht, daß hier die Vorteile des Fürsten mit
+den eigenen Vorteilen jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen?
+Vielleicht habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur war sie nicht
+jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich weiß, daß Sie sich über ein so
+offenes Geständnis wundern werden, aber ich bitte Sie nur um eines,
+Pawel Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit im Spiel
+ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet nicht, sie versteht
+nur zu lieben – mein liebes Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet
+hat, so bin ich es, _ich allein_! Aber fragen Sie doch in allem Ernst
+Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer hätte an meiner Stelle im gegebenen
+Fall nicht berechnet? Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren
+uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt,
+unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei alle, indem sie sich selbst
+versichern, daß sie es nur aus Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht
+betrügen: ich gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner
+Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob ich _meinen_ Vorteil
+berechnet habe? Ich brauche nichts mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe
+mein Leben abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel, mein
+Kind, und – welche Mutter würde mir das in diesem Fall zum Vorwurf
+machen?“
+
+Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas. Mosgljäkoff hörte in
+höchster Verwunderung diese ganze offenherzige Beichte an und blinzelte
+nur verständnislos mit den Augen.
+
+„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich. „Sie verstehen gut
+zu reden, Marja Alexandrowna, – aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr
+Wort gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was glauben Sie wohl,
+wie mir jetzt zumute ist? Denken Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer
+langen Nase abziehen!“
+
+„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, ^mon
+cher Paul^! Ich sage Ihnen: in allen diesen Berechnungen lag für Sie ein
+so großer Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem
+Unternehmen entschlossen habe.“
+
+„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie denn das?“
+
+„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig sein!“ rief Marja
+Alexandrowna mit beredtem Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da
+sehen wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare liest, träumt
+und sich einbildet zu leben – während man nur mit fremdem Verstande und
+mit fremden Gedanken lebt! Mein _guter_ Pawel Alexandrowitsch, Sie
+fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben Sie, daß ich zur
+besseren Übersicht etwas abweiche: Sina liebt Sie – darüber kann kein
+Zweifel bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz ihrer
+offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen zu Ihnen in ihr
+verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe
+bemerkt, daß sie sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu
+Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und ihres Mißtrauens. Haben
+Sie das nicht auch selbst bemerkt, Pawel Alexandrowitsch?“
+
+„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar heute ... Aber was wollen
+Sie denn damit sagen, Marja Alexandrowna?“
+
+„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt! Folglich täusche ich
+mich nicht. Und sie mißtraut gerade der Beständigkeit Ihrer guten
+Neigungen. Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was im
+Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen Sie sich vor, daß Sie,
+anstatt mit Vorwürfen und fast sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie
+zu reizen, zu kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und
+stolz vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem Argwohn
+bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken, – stellen Sie sich
+jetzt vor, daß Sie statt dessen diese Nachricht ruhig, mit Tränen des
+Bedauerns oder sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem Edelmut,
+der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen hätten ...“
+
+„Hm! ...“
+
+„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. Ich will
+Ihnen dieses ganze Bild ausmalen, das auch unfehlbar Eindruck auf Sie
+machen wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr getreten
+wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe dich mehr als mein Leben,
+doch Familienrücksichten trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns
+scheiden. Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr, mich
+gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir. Sei glücklich, wenn du
+es kannst!‘ und hierauf hätten Sie sie noch einmal angesehen, mit einem
+Blick – mit dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so
+ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen Sie sich dann,
+welch einen Eindruck diese Worte auf ihr Herz gemacht hätten!“
+
+„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß es sich so verhält; ich
+begreife das sehr wohl ... aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und
+wäre dann doch leer abgezogen ...“
+
+„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will
+unbedingt das ganze Bild entrollen, mit allen späteren Folgen, um Sie zu
+überzeugen. Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach einiger Zeit
+ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen. Sie treffen sich irgendwo auf
+einem Ball, bei strahlender Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer
+Musik, inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen Frohsinns
+ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich, bleich und folgen nur
+ihr allein mit den Blicken, an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß
+man Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft bewegt.
+Sie tanzt. Die berauschenden Klänge Straußscher Walzer umschmeicheln
+Sie, der Esprit der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber sind
+einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft! Was wird dann
+in Sinaïda vor sich gehen – denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen
+wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken, ‚ich konnte an
+diesem Menschen zweifeln, der mir alles, alles geopfert und sein Herz um
+meinetwillen zerrissen hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde dann
+mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“
+
+Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um Atem zu schöpfen.
+Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich auf seinem Stuhle, daß dieser zum
+zweiten Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort.
+
+„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina mit ihm ins Ausland,
+nach Italien, nach Spanien, – nach Spanien, wo Myrten und Orangen
+blühen, wo der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir rauscht, – in
+das Land der Liebe, in dem man nicht leben kann, ohne zu lieben, wo
+Rosen und Küsse sozusagen in der Luft schweben! Und Sie fahren
+gleichfalls dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre
+Verbindungen, alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer
+Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien – mein Gott! Versteht sich – Ihre
+Liebe ist lauter, ist heilig, aber schließlich wird der gegenseitige
+Anblick Sie doch beide quälen. Sie verstehen mich, ^mon ami^! Natürlich
+werden sich niedrige, boshafte Menschen finden, Abscheuliche, die da
+behaupten werden, daß durchaus nicht nur die verwandtschaftliche
+Zuneigung zu dem leidenden alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich
+aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil eben diese Leute
+ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben werden. Aber ich bin Mutter,
+Pawel Alexandrowitsch, – sollte _ich_ Sie Schlechtes lehren? ...
+Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu
+beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann man denn nur auf Grund
+dessen einer so schändlichen Verleumdung glauben? Und eines Tages wird
+er sterben und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt sagen Sie:
+wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht Sie? Sie sind mit dem Fürsten
+ja nur weitläufig verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese
+Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung, reich, schön,
+vornehm, – und das zu welcher Zeit? – wenn die vornehmsten und reichsten
+Aristokraten es sich zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu
+dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die höchsten Kreise, durch
+ihre Frau werden Sie plötzlich eine bedeutende Stellung erhalten, Titel,
+Orden! Jetzt haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber werden
+Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament alles vorsehen: dafür
+werde ich schon Sorge tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich
+endgültig von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen überzeugt
+haben und Sie werden ihr plötzlich als Held des Edelmutes und der
+Selbstverleugnung erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier
+Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind sein, um diesen Vorteil
+nicht einzusehen, nicht zu verstehen, nicht zu berechnen – wenn sie zwei
+Schritt vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst sagt:
+‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel Alexandrowitsch, ich bitte
+Sie!“
+
+„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand sich in unbeschreiblicher
+Aufregung. „Jetzt habe ich alles begriffen! Ich habe roh, niedrig,
+schändlich an ihr gehandelt!“
+
+Er sprang auf und raufte sich das Haar.
+
+„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna hinzu, „vor allen Dingen
+unüberlegt!“
+
+„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er verzweifelt aus. „Jetzt
+ist alles verloren, denn ich liebe sie bis zum Wahnsinn!“
+
+„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte Frau Moskalewa
+halblaut vor sich hin, als überlege sie etwas.
+
+„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen Sie mir! Retten Sie
+mich!“
+
+Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus.
+
+„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig und reichte ihm die
+Hand, „Sie haben es aus übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender
+Leidenschaft, folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung,
+Sie waren außer sich! Das wird sie doch einsehen müssen ...“
+
+„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, alles für sie
+hinzugeben!“
+
+„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen versuchen ...“
+
+„Marja Alexandrowna!“
+
+„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen. Und Sie
+werden ihr dann alles so erklären, wie ich es Ihnen soeben erklärt
+habe!“
+
+„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! ... Nur ... könnte man
+es nicht sofort machen!?“
+
+„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind, mein Freund! Sie ist so
+stolz! Sie würde es für eine neue Beleidigung halten, für eine
+Frechheit! Morgen werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen
+Sie irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ... am Abend können Sie
+vielleicht wiederkommen, aber selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“
+
+„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten mich! Nur noch eine Frage:
+wenn nun aber der Fürst nicht so bald stirbt?“
+
+„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, ^mon cher Paul^! Im Gegenteil, wir
+müssen zu Gott beten, daß er ihm noch ein paar Wochen Gesundheit
+schenkt. Man muß diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn
+von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben wünschen! Ich werde
+unter Tränen Tag und Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch
+leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten ist nicht allzu
+zuverlässig! Zudem wird er jetzt in die Residenz fahren und Sina in der
+Gesellschaft einführen müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß
+ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß geben werden! Doch
+wir wollen beten, ^cher Paul^, und das übrige steht in Gottes Hand! ...
+Sie gehen schon? Ich segne Sie, ^mon ami^! Hoffen Sie, gedulden Sie
+sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien Sie ein ganzer Mann!
+Ich habe nie an dem Adel Ihrer Gefühle gezweifelt ...“
+
+Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff schlich sich auf den
+Fußspitzen aus dem Zimmer.
+
+„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie triumphierend. „Jetzt
+kommen andere an die Reihe ...“
+
+Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend bleich und ihre
+Augen blitzten.
+
+„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende oder ich ertrage es
+nicht! Es ist dermaßen schmutzig und ekelhaft, daß ich aus dem Hause
+laufen möchte! Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich? Mir
+wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem ganzen Schmutz!“
+
+„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ... du hast gelauscht!“ rief
+Marja Alexandrowna aus und sah ängstlich forschend Sina an.
+
+„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb vielleicht auch so
+beschämen wie jenen Dummkopf? – Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange
+so quälen und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche Rollen
+zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und mache einfach ein Ende
+damit! Es ist genug, daß ich in die Hauptsache eingewilligt, daß ich
+mich zu dieser allergrößten Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ...
+ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem Schmutz! ...“
+
+Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
+
+Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach und wurde nachdenklich.
+
+„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend. „Sina ist die
+größte Gefahr, und wenn alle diese Schurken uns nicht allein lassen und
+die Nachricht noch in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt
+schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie würde diesem
+ganzen Skandal nicht standhalten und sich zurückziehen. Man muß den
+Fürsten unbedingt aufs Land bringen – was es auch koste! Ich werde
+sofort hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu irgend etwas
+muß er sich doch schließlich verwenden lassen! ... Und dort wird sich
+der Alte ausschlafen und dann ... – also: fahren wir!“
+
+Sie klingelte.
+
+„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie den eingetretenen
+Diener.
+
+„Schon längst bereit!“ antwortete dieser.
+
+Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den Fürsten nach oben ins
+Fremdenzimmer geleitet hatte.
+
+Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick zu Sina, um
+dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß mitzuteilen, und, wenn möglich,
+auch noch einzuschärfen, wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina
+wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett und hatte das
+Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte verzweifelt. Ihre wundervollen
+Hände hatte sie in ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich
+alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme abhoben. Zuweilen
+zuckte sie zusammen, wie wenn plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre
+Glieder lief. Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber Sina
+erhob nicht einmal den Kopf.
+
+Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte, ging sie besorgt
+hinaus und befahl dem Kutscher, um sich anderwärts dafür zu
+entschädigen, im Galopp auf ihr Gut zu fahren.
+
+„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte sie, als sie in
+ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich habe Mosgljäkoff fast mit
+denselben Worten beredet wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt
+vielleicht beleidigt fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache
+ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die anderen davon Wind
+bekommen! Doch – wenn mein Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“
+
+Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher Wut erfaßt – die dem
+armen Afanassij Matwejewitsch nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen
+Augenblick ruhig sitzen.
+
+
+ X.
+
+Die Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt, daß ein genialer
+Gedanke Marja Alexandrowna am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr,
+um ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke war: den Fürsten
+zu „konfiszieren“ und so bald als möglich auf ihr Gut in der Nähe der
+Stadt zu bringen, wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos
+und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh. Wir wollen es
+nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna immer mehr von einer
+unerklärlichen Unruhe gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit
+wirklichen Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie ihr Ziel
+erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser Instinkt sagte ihr,
+daß es gefährlich war, in Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf
+dem Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt hier auf den Kopf
+stellen!“ Selbstverständlich durfte man auch auf dem Lande nicht unnütz
+Zeit verlieren. Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles
+mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den Feinden unserer Heldin
+späterhin über sie verbreitet wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in
+diesem Augenblick sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe.
+Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit dem Fürsten
+verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte sie zur Hand. Dort auf dem Gute
+konnte sie der Dorfgeistliche trauen. Die Trauung konnte gleich
+übermorgen stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen. Hatte es doch
+Trauungen gegeben, die binnen zwei Stunden vollzogen worden waren! Dem
+Fürsten mußte man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien und
+Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als das Neueste ^comme il
+faut^ hinstellen: man mußte ihm beweisen, daß es so „grandioser“ sei.
+Außerdem konnte man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen
+und somit die empfindsamste Seite im Herzen des alten Mannes zum Klingen
+bringen. Und schlimmstenfalls konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“
+oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei halber
+Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch geschehen sollte – Sina
+würde dann immerhin schon Fürstin _sein_! Und falls es auch nicht ohne
+einen Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau zum Beispiel, wo
+die Verwandten des Fürsten lebten, so gab es auch hierfür einen Trost:
+erstens war das noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna
+überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft fast immer einen Skandal
+geben müsse, namentlich in Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar
+„guter Ton“ sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft ihrer
+Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere zu sein pflegten, etwa
+in der Art der Skandale eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable
+– daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt von ihrer
+Mama, um im Augenblick alle und alles zu besiegen, und daß dann keine
+einzige von allen Gräfinnen und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche
+würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna allen gemeinsam
+oder auch einzeln der Reihe nach zu verabfolgen schon verstehen würde.
+Die Folge dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna jetzt mit
+Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij Matwejewitsch abzuholen,
+dessen sie nach ihrer Berechnung jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den
+Fürsten aufs Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch
+bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht durchaus nicht machen
+wollte –, war bedenklich. Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch
+persönlich aufforderte, so war das eben etwas ganz anderes. Zudem konnte
+das Erscheinen eines bejahrten, würdigen Familienvaters, in Frack und
+weißer Binde, den Hut in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und
+wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste Kunde vom Fürsten
+aus der Ferne herbeigeeilt sei, so konnte das der Eigenliebe des Fürsten
+nur schmeicheln. Nach einer so umständlichen Galaeinladung war es auch
+schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna. Endlich hatten die Pferde
+die drei Werst zurückgelegt, und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor
+der Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen Gutsgebäudes,
+das mit seiner langen Fensterreihe und umstanden von alten Linden schon
+ziemlich baufällig aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz
+geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas Sommerresidenz. Im Hause
+brannte bereits Licht.
+
+„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna, die wie ein Sturm durch
+die Zimmer raste. „Weshalb liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich
+getrocknet! Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft er seinen Tee!
+Was glotzt du mich an, du Dummkopf! Weshalb ist sein Haar nicht
+geschnitten? Grischka! Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn
+nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der vergangenen Woche
+anbefohlen habe?“
+
+Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht gehabt, viel freundlicher
+ihren Gemahl zu begrüßen; als sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad
+gestiegen war und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte sie
+ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel Mühen und Sorgen
+ihrerseits und soviel seliger Quietismus von seiten des zu nichts
+tauglichen, vollständig überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser
+Kontrast traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel, oder
+höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde, in sprachlosem Schrecken
+vor seinem Ssamowar, sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine
+Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde gemacht hatte.
+In der Tür zum Vorzimmer stand die vierschrötige Gestalt Grischkas, der
+beständig etwas verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur
+augenblinzelnd die Szene ansah.
+
+„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht geschnitten,“
+sagte er mürrisch mit seiner klanglosen Stimme. „Zehnmal bin ich mit der
+Schere gekommen, – nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen und
+dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir nicht geschoren sind, was
+sollen wir dann machen? Sie aber sagten: nein, wart, ich werde mir
+Sonntag Locken einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“
+
+„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir Locken ein? Was sind
+denn das für Marotten? Und wie steht denn das zu deinem dummen Kopf?
+Gott, was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht es hier? Ich
+frage dich, Monstrum, wonach es hier riecht?“ schrie Marja Alexandrowna,
+die über den unschuldigen und zu Tode erschrockenen Afanassij
+Matwejewitsch in immer größere Wut geriet.
+
+„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der angstvolle Gatte, ohne
+sich vom Stuhl zu erheben und nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge,
+„Mü ... mütterchen! ...“
+
+„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem Eselskopf eingebläut,
+daß ich für dich durchaus kein Mütterchen bin! Was bin ich für ein
+Mütterchen, du Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine
+vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft, aber nicht
+neben einem Esel wie du wäre, mit solchen Namen anzureden!“
+
+„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine gesetzmäßige Frau ...
+und deshalb sage ich auch ... wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“
+versuchte zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob aber
+gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um seine Haare zu schützen.
+
+„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals eine dümmere Antwort gehört?
+Gesetzmäßige Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige Frauen?
+Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft gebraucht jetzt noch
+dieses dumme, dieses seminaristische, dieses ekelhaft gemeine Wort:
+‚gesetzmäßige Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran zu
+erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus allen Kräften, aus
+ganzer Seele gerade dieses eine wieder zu vergessen bemühe, daß ich
+deine Frau bin! Was hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was
+für Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden in drei
+Stunden nicht trocken werden! Wie soll man jetzt mit ihm hinfahren? Wie
+soll man ihn fremden Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“
+
+Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung, während sie im
+Zimmer auf und ab raste. Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ
+sich ja leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren
+herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen. Das
+beständige Ausgießen ihres Zornes über dem Haupte des armen Afanassij
+Matwejewitsch war ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist eine
+Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und dann – wir wissen doch, zu
+welchen Kontrasten manche zartfühlenden Damen einer gewissen
+Gesellschaftsklasse bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind,
+und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben.
+
+Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen seiner Gattin
+und schwitzte vor Angst.
+
+„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an! Frack, Beinkleider,
+weiße Binde, Weste – schneller! Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist
+seine Kopfbürste?“
+
+„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der Wanne gekommen, – ich kann
+mich doch erkälten, erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“
+
+„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“
+
+„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“
+
+„Das werden wir im Augenblick trocken machen! Grischka, nimm die
+Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker! stärker! stärker! So! So ist’s
+recht!“
+
+Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und ergebene Grischka aus
+Leibeskräften den Kopf seines Herrn, den er um der größeren
+Bequemlichkeit halber an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts
+striegelte, ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers fast an den
+Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog das Gesicht kraus und war nahe
+daran, zu weinen.
+
+„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo ist die Pomade? Beuge dich,
+beug dich, Nichtsnutz, beug dich, sag ich dir!“
+
+Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig ihren Gemahl zu
+salben, während sie ihn unbarmherzig an seinem dichten,
+grauuntermischten Haarschopf zog, den er zum Unglück nicht
+vorschriftsmäßig hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch
+seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges Mal, sondern ertrug
+ergeben die ganze gewaltsame Einsalbung.
+
+„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du Schmutzfink!“ schrie Marja
+Alexandrowna. „So beug dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“
+
+„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen, Mütterchen?“ fragte der
+Gatte zaghaft und beugte den Kopf so tief als nur irgend möglich.
+
+„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen! Jetzt kämm dich.
+Und den Rock ihm an. Aber schnell.“
+
+Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte mit
+inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell der Bekleidung ihres
+Gatten. Dieser hatte sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut
+geschöpft. Als es zum Binden der weißen Krawatte kam, wagte er sogar,
+eine persönliche Bemerkung über die Form und Schönheit des Knotens zu
+äußern. Und als der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack
+angezogen hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete sein
+Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht.
+
+„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“ fragte er
+selbstgefällig.
+
+Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht.
+
+„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie wagst du überhaupt, mich
+zu fragen, wohin ich dich bringe?“
+
+„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“
+
+„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich Mütterchen zu nennen,
+namentlich dort, wohin wir jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du
+mir dann ohne einen Tropfen Tee!“
+
+Erschrocken verstummte der Gemahl.
+
+„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich verdient, dieser
+Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem Blick auf seinen schwarzen
+Frack.
+
+Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch gekränkt.
+
+„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten und ich bin Rat,
+aber kein Taugenichts!“ sagte er mit edlem Unwillen.
+
+„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt? Ach du! Bauer, du!
+Schade, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst
+würde ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen! Gib ihm
+den Hut, Grischka! Gib ihm den Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit
+diese drei Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer,
+gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den Spiegeln die Bezüge
+abnehmen! von den Uhren gleichfalls! Und sieh zu, daß alles in einer
+Stunde fertig ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten
+gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“
+
+Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij Matwejewitsch
+wunderte sich und Marja Alexandrowna überlegte im stillen, wie sie dem
+schwerfälligen Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln möglichst
+klar, einfach und verständlich einschärfen sollte. Doch ihr Gatte kam
+ihr zuvor.
+
+„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich habe heute einen sehr
+originellen Traum gehabt,“ meldete er plötzlich mitten im beiderseitigen
+Schweigen.
+
+„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte schon, daß jetzt weiß
+Gott was kommen würde! Sein Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit
+deinen Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt du denn auch, was
+originell bedeutet? Hör, ich sage dir jetzt zum letzten Mal: wenn du
+heute wagst, auch nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder
+gleichviel wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir tun! Paß
+jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen. Entsinnst du dich noch des
+Fürsten K.? ...“
+
+„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb ist er denn zu dir
+gekommen?“
+
+„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt ihn mit besonderer
+Liebenswürdigkeit – als Hausherr – sofort auf unser Gut einladen.
+Deshalb bringe ich dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort
+fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen Abend, oder morgen,
+oder übermorgen oder gleichviel wann, auch nur ein einziges Wort zu
+sprechen, so werde ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich
+hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges Wort. Und das
+ist alles, was du zu tun hast. – Hast du verstanden?“
+
+„Aber – wenn man mich etwas fragt?“
+
+„Gleichviel – schweige!“
+
+„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte, Marja
+Alexandrowna!“
+
+„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges, zum Beispiel:
+‚Hm!‘ oder etwas in der Art, – gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein
+kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor du antwortetst.“
+
+„Hm!“
+
+„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde sagen, daß du auf die
+Nachricht von der Ankunft des Fürsten, vor Freude über seinen Besuch,
+sofort zur Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen und ihn
+zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“
+
+„Hm!“
+
+„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel! Antworte darauf, was
+ich dich frage!“
+
+„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst, nur – weshalb soll
+ich denn den Fürsten einladen?“
+
+„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht das dich an, weshalb! Und
+wie wagst du überhaupt, das zu fragen?“
+
+„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll ich ihn denn einladen,
+wenn du mir fortwährend zu schweigen befiehlst?“
+
+„Ich werde für dich reden, du aber mach nur deine Verbeugung – hörst du?
+– mach nur deine Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast du
+mich verstanden?“
+
+„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“
+
+„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt, und selbst wenn es
+nicht an dich gerichtet ist, so antworte auf alles nur mit einem
+gutmütigen und heiteren Lächeln, – hörst du?“
+
+„Hm!“
+
+„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten! Sage einfach und
+offen: hast du gehört oder nicht?“
+
+„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie sollte ich denn nicht
+hören. Das ‚hm‘ sage ich nur, weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es
+befohlen hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn das sein: wenn
+der Fürst etwas sagt und du befiehlst, ihn nur anzusehen und zu lächeln!
+Aber wenn er mich nun etwas fragt?“
+
+„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe dir doch gesagt:
+schweige! Ich werde für dich antworten, du aber sieh ihn nur an und
+lächle.“
+
+„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm bin!“
+
+„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er _nicht_ merken, daß du
+_dumm_ bist.“
+
+„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas fragen?“
+
+„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand zugegen sein. Und falls
+dennoch jemand kommen sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas
+fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort mit einem
+sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das ist – ein sarkastisches
+Lächeln?“
+
+„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“
+
+„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn von dir Esel ein geistvolles
+Lächeln verlangen! Einfach ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch
+verächtliches.“
+
+„Hm!“
+
+„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja Alexandrowna innerlich
+seufzend. „Er hat sich entschieden geschworen, mich zur Verzweiflung zu
+bringen! Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt nicht
+hinzubringen!“
+
+Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle Unruhe und erbitterte
+Selbstvorwürfe folgten, beugte sich Marja Alexandrowna beständig zum
+Fenster ihres Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch
+größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien es immer noch zu
+langsam vorwärts zu gehen. Afanassij Matwejewitsch saß schweigend in
+seiner Ecke und wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen.
+Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten sie vor dem
+Hause Marja Alexandrownas.
+
+Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie auch schon einen
+zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit dampfenden Pferden erblickte, der
+plötzlich gleichfalls vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem
+Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten saßen zwei Damen. Die
+eine war Anna Nikolajewna und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit
+einiger Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der anderen.
+
+Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber noch hatte sie keinen
+Schrei ausgestoßen, als schon eine zweite Kutsche vorfuhr, in der sich
+offenbar gleichfalls Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch
+freudige Begrüßungsworte.
+
+„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij Matwejewitsch!
+Angekommen! Woher denn das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu
+Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“
+
+Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten wie Schwalben
+durcheinander. Marja Alexandrowna traute ihren Augen und Ohren nicht.
+
+„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das sieht mir ganz nach einer
+Verschwörung aus! Das muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche
+Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“
+
+
+ XI.
+
+Mosgljäkoff verließ Marja Alexandrowna wie es schien, vollkommen
+beruhigt. Sie hatte es verstanden, ihn für ihren Plan zu gewinnen.
+Einstweilen aber ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn
+nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und heroischen Träume, die
+ihn plötzlich überkam, ließ ihm keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche
+Aussprache mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden
+Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf dem glänzenden
+Petersburger Ball, an Spanien, den Guadalquivir, an seine Liebe und den
+sterbenden Fürsten, der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider
+Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne Frau, die ihm
+treu ergeben ist und ihn täglich ob seines Heldenmutes und seiner
+erhabenen Gefühle anstaunt; nebenbei – im stillen – an die
+Aufmerksamkeit irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“, in die
+er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des Fürsten K., unfehlbar
+hineingelangen würde; ferner an den Posten eines Vizegouverneurs, an das
+viele Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna so beredt
+ausgemalt hatte, zog noch einmal durch seine restlos zufriedene Seele,
+beglückend und verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd.
+Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das eigentlich
+erklären soll –, als er von dieser ganzen Begeisterung bereits müde zu
+werden begann, kam ihm plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß
+nämlich das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß er
+vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase sitzen bliebe. Als ihm
+dieser Gedanke kam, bemerkte er auch, daß er sehr weit gegangen war und
+sich in einer einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs
+befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen gleichsam in die Erde
+hineingewachsene Häuschen standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde,
+die, wie gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen sich
+erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen und auch nichts zu
+stehlen gibt. Es begann zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen.
+Selten nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib im Pelz und
+in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn mit einemmal – ein sehr
+schlechtes Zeichen, da uns bei einer günstigen Wendung der Dinge im
+Gegenteil alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel
+Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis jetzt in
+Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte es sehr gern, wenn man ihm
+in jedem Hause andeutete, daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu
+dieser Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht stolz
+darauf, Heiratskandidat zu sein. Und nun sollte er plötzlich als –
+Verschmähter dastehen! Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er
+kann doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch nicht einem
+jeden von den Petersburger Bällen in säulenverzierten Sälen und vom
+Guadalquivir erzählen! Während er so dies und das überlegte, sich selbst
+quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm schließlich etwas in
+den Sinn, das schon seit einiger Zeit halb unbewußt an seinem Herzen
+genagt hatte.
+
+„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn auch genau so in
+Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt hat?“
+
+Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna eine äußerst schlaue
+Dame war und, wie sehr sie die allgemeine Achtung auch verdient haben
+mochte, dennoch klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er sah ein,
+daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich ihre besonderen Gründe
+dazu gehabt hatte, und schließlich – ausmalen kann ja ein jeder. Auch an
+Sina dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts weniger
+als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen hatte; und zum
+Überfluß fiel ihm da noch ein, daß er von ihr immerhin einen Korb
+erhalten und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem Gedanken
+blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt stehen und errötete vor
+Scham bis zu Tränen. Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem
+Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl und flog in einen
+Schneehaufen. Während er nun in dem losen, weichen Schnee kniete und
+sich wieder aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit
+geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen Seiten auf ihn
+los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer hatte sogar die
+Unverschämtheit, sich hinten an seinen Pelz zu hängen. Mit lautem
+Geschimpf schüttelte er die Hunde ab und trottete dann mit hinten
+zerrissenem Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst hier gewahr zu
+werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich kann kein Mensch, der
+sich in einem ihm unbekannten Stadtteil verirrt hat – und namentlich
+noch in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende gehen: immer
+wieder wird ihn eine unbekannte Macht in alle Querstraßen und
+Nebengassen einzubiegen zwingen. Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme
+aus der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig.
+
+„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte er im Innersten und
+spie aus vor Wut. „Und der Teufel hole euch alle samt euren edlen
+Gefühlen und Guadalquiviren!“
+
+Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem Augenblick anziehend
+gewesen sei.
+
+Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält beim Hause Marja
+Alexandrownas an. Als er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah,
+wunderte er sich.
+
+„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch sein?“ fragte er
+sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn heute eine Abendgesellschaft?“ Er
+erkundigte sich beim Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem
+Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der in Frack und weißer
+Binde erschienen sei – zurückgekehrt war und daß der Fürst zwar geruht
+habe, aus dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch nicht nach
+unten zu den Gästen herabgestiegen wäre. Mosgljäkoff begab sich, ohne
+ein Wort zu sagen, hinauf zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer
+Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter fähig ist, sich zu
+allem zu entschließen, selbst zum schmählichsten Racheakt, ohne daran zu
+denken, daß er dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen
+wird.
+
+Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl sitzend vor seinem
+Reisenecessaire mit vollkommen kahlem Schädel, aber die Fliege und der
+Backenbart waren bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in den
+Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners und besonderen Lieblings,
+Iwan Pachomytschs, der sie mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger
+Miene bürstete.
+
+Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht recht zu sich gekommen zu
+sein schien, bot einen ziemlich traurigen Anblick dar: er schien ganz
+und gar erschlafft zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und
+sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal im Leben.
+
+„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“ erkundigte sich
+dieser.
+
+„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte ihn der Fürst. „Ich war
+ein wenig eingeschlafen. Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich
+bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“
+
+„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich ... ich werde Ihnen
+helfen, wenn Sie meiner Hilfe bedürfen.“
+
+„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren! Ich habe doch
+ge–sagt, daß man die Tür verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt
+mir jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein Geheim–nis
+niemand aufdecken und niemand sagen wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“
+
+„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn für einen, der dazu
+fähig wäre?“ Mosgljäkoff wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken
+gewinnen ...
+
+„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß du ein edler Mensch bist –
+mag es dann so sein, ich werde dich in Erstaunen setzen ... und dir
+meine Geheimnisse aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir mein
+Schnurrbart?“
+
+„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar! Wie haben Sie ihn nur
+so lange und so tadellos erhalten können?“
+
+„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der Fürst mit triumphierendem
+Blick auf Mosgljäkoff.
+
+„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber der Backenbart? Gestehen Sie
+es nur, Onkelchen, den färben Sie doch?“
+
+„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls vollkommen –
+fal–sch!“
+
+„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber das glaube ich nicht! Sie
+wollen sich über mich lustig machen!“
+
+„^Parole d’honneur, mon ami!^“ beteuerte der Fürst stolz. „Und denk dir,
+alle, aber auch alle lassen sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida
+Matwejewna glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen selbst
+anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein Lieber, daß du mein Geheimnis
+bewahren wirst. Gib mir dein Ehrenwort.“
+
+„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten. Und glauben Sie
+denn wirklich, daß ich dazu fähig wäre?“
+
+„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit gefallen bin!
+Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal um–geworfen!“
+
+„Zum zweitenmal? Wann denn das?“
+
+„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“
+
+„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“
+
+„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden, nicht mehr. Ich fuhr
+ins Kloster, er aber warf die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz
+steht noch still davon.“
+
+„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“
+
+„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ... wie gesagt, ich ... Also,
+wie gesagt, vielleicht habe ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“
+
+„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur im Traum erlebt! Sie
+haben hier doch die ganze Zeit seit dem Mittag geschlafen.“
+
+„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich.
+
+„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum gesehen. Aber, wie gesagt,
+ich habe alles behalten, was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von
+einem grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von einem
+Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit Hör–nern ...“
+
+„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff, Onkelchen?“
+
+„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte mir von Napo–leon
+Buonaparte. Weißt du, mein Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon
+Buonaparte ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ...
+aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger Papst aussehen! Was findest
+du, mein Lieber, habe ich Ähnlichkeit von einem Papst?“
+
+„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“
+
+„Nun ja, das wäre ^en face^. Wie gesagt, ich finde es selbst auch, mein
+Lieber. Und ich sah ihn im Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie
+gesagt, er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein Witz–bold
+... so daß er mich un–gemein erheitert hat.“
+
+„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff mit nachdenklichem Blick
+auf den Fürsten. Ihm war plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein
+Einfall, über den er sich vorläufig noch nicht recht klar war.
+
+„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über Phi–lo–sophie. Und weißt
+du, mein Lieber, es tut mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng
+mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man ihn nicht an der
+Kette gehalten, so würde er sich wieder auf die anderen gestürzt haben.
+Ein toller Mensch! Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht
+so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte Insel gesetzt ...“
+
+„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte Mosgljäkoff zerstreut.
+
+„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te, aber auf eine, auf der
+nur vernünf–tige Menschen wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene
+Zerstreu–ungen für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett ... und alles
+auf Kosten des Staates. Spazieren zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur
+unter Auf–sicht erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder
+entschlüpft. Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben. Nun, dann
+würde man ihm eben täglich diese Pasteten gebacken haben. Ich hätte
+sozusagen väterlich für ihn gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht
+gehabt! ...“
+
+Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst halberwachten Greises
+zu und trommelte mit seinen Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch
+auf die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst nicht, weshalb
+er es wollte, doch ein unbezwingliches Rachegelüst kochte in seiner
+Brust. Plötzlich stieß der Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei
+der Überraschung.
+
+„Ach, ^mon ami^! Ich habe ja ganz vergessen, dir zu sagen! Denk doch,
+ich habe heute einen Heiratsantrag gemacht!“
+
+„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff ungemein belebt.
+
+„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du gehst schon? Nun gut.
+^C’est une charmante personne ... Mais^ ... ich will dir gestehen, mein
+Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe ich es ein. Ach,
+Gott im Himmel!“
+
+„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie es denn getan?“
+
+„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal genau, wann. Oder
+sollte mir das nur geträumt haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch
+ist!“
+
+Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine glänzende Idee!
+
+„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag gemacht, Onkelchen?“
+fragte er ungeduldig.
+
+„Der Tochter des Hauses hier, ^mon ami^ ... ^cette belle personne^ ...
+wie gesagt, ich habe vergessen, wie sie heißt. Nur, sieh mal, ^mon ami^,
+ich kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt tun?“
+
+„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten, wenn Sie heiraten
+wollten. Aber erlauben Sie eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch
+überzeugt, daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“
+
+„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“
+
+„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie das, daß sie zum zweiten
+Mal mit der Kutsche umfielen?“
+
+„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir auch nur geträumt! ...
+Jetzt weiß ich ja gar nicht, wie ich mich dort verhal–ten soll! ... ^Mon
+ami^, auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren, ob ich bei
+ihr angesprochen habe oder nicht? Denn sonst, denk doch nur, in welcher
+Lage ich jetzt bin!“
+
+„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt nichts zu
+erfahren.“
+
+„Wieso?“
+
+„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt hat.“
+
+„Der Meinung bin ich auch, ^mon ami^, um so mehr, als ich oft ähn–liche
+Träume habe.“
+
+„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie zum Frühstück ein
+wenig getrunken haben, dann zum Mittag wieder und schließlich ...“
+
+„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht rührt es auch nur
+da–von her.“
+
+„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt gewesen sein mochten,
+einen so unüberlegten Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit
+machen können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein überaus vernünftiger
+Mensch und ...“
+
+„Nun ja, nun ja.“
+
+„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das Ihre Verwandten erführen,
+die Ihnen doch ohnehin nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“
+
+„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus. „Was würden die dazu
+sagen?“
+
+„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann schreien, daß Sie es nicht bei
+vollem Verstande hätten tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß
+man Sie unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen habe, und zu
+guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren, wo Sie unter Aufsicht
+leben müßten.“
+
+Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den größten Schrecken einjagen
+konnte.
+
+„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein Espenblatt. „Würde man
+mich wirklich einsperren!“
+
+„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen: wie hätten Sie einen
+so unüberlegten Heiratsantrag in Wirklichkeit machen können? Sie kennen
+doch Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent, daß Sie das
+alles nur im Traum gesehen haben.“
+
+„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“ bestätigte der erschrockene
+Fürst. „Nein, wie vernünftig du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke
+dir von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“
+
+„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen habe. Denken Sie
+doch nur: ohne mich hätten Sie sich tatsächlich täuschen, hätten Sie
+glauben können, daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr
+angesprochen haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam zu ihr nach
+unten gegangen! Denken Sie doch nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“
+
+„Nun ja ... gefährlich!“
+
+„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig Jahre alt ist;
+niemand will sie nehmen und plötzlich kommen Sie, ein reicher und
+vornehmer Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch sofort
+zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich angesprochen haben: und
+verkuppeln Sie womöglich mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie
+vielleicht bald sterben ...“
+
+„Wirklich?“
+
+„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch mit Ihren Vorzügen ...“
+
+„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“
+
+„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit ...“
+
+„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“
+
+„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch eine ganz andere Partie
+machen, wenn Sie wirklich aus irgend einem Grund heiraten müßten. Und
+denken Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen würden!“
+
+„Ach, ^mon ami^, sie würden mich ja dann ganz und gar vernichten! Ich
+habe von ihnen schon soviel Böses und Unheimliches erfahren ... Denk
+dir, ich vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt bringen
+wollten. Nun sag doch bloß, ^mon ami^, das geht doch nicht! Nun, was
+würde ich denn dort in der Ir–ren–anstalt an–fangen?“
+
+„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich Sie jetzt auch nicht
+verlassen, wenn Sie nach unten gehen. Dort sind Gäste.“
+
+„Gäste? Gott im Himmel!“
+
+„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein.“
+
+„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du bist geradezu mein
+Retter! Aber weißt du: ich werde lieber fortfahren.“
+
+„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr. Heute aber müssen Sie
+sich noch von allen verabschieden und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“
+
+„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie gesagt, zum Pater Missaïl ...
+^Mais, mon ami^, wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“
+
+„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein. Und
+schließlich, was man Ihnen auch sagen oder zu verstehen geben sollte,
+bleiben Sie dabei, daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja auch
+tatsächlich verhält ...“
+
+„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt du, ^mon ami^, es war doch ein
+be–zau–bernder Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du, welche
+Formen ...“
+
+„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt nach unten und Sie ...“
+
+„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“ rief der Fürst
+erschrocken aus.
+
+„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und da ist es besser, wenn
+wir nicht zusammen erscheinen, zuerst ich, dann Sie.“
+
+„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen Gedanken
+niederschreiben!“
+
+„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken nieder und kommen
+Sie dann ohne zu säumen. Morgen früh aber ...“
+
+„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt zum Prie–stermönch!
+Charmant, charmant! Aber weißt du, ^mon ami^, sie ist wun–derbar schön
+... diese Formen ... und wenn ich nun einmal unbedingt heiraten müßte,
+so würde ich ...“
+
+„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“
+
+„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun, auf Wiedersehen, mein Lieber,
+ich werde sogleich ... ich muß nur noch etwas niederschreiben. A
+pro–pos, ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren
+gelesen?“
+
+„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“
+
+„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich fragen wollte.“
+
+„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen. Auf Wiedersehen!“
+
+„Auf Wiedersehen, ^mon ami^, auf Wiedersehen! Nur war es doch ein
+ent–zückender Traum, ein ent–zückender Traum! ...“
+
+
+ XII.
+
+„Wir kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch Praskowja Iljinitschna
+wollte kommen, und auch Luisa Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna
+Nikolajewna, in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte sie sich rings
+um.
+
+Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich gekleidet und sie
+wußte es selbst vorzüglich, daß sie hübsch war. Sie war überzeugt, in
+einer Ecke des Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken.
+
+„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna wollten kommen,“
+fügte Natalja Dmitrijewna hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen –
+sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen hatten – und die
+unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte.
+
+Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen, das ganz auf dem
+Hinterkopf saß. Seit drei Wochen war sie die beste Freundin Anna
+Nikolajewnas, der sie schon seit langem den Hof gemacht hatte und die
+sie allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte
+hinunterschlucken können – samt allen Knochen.
+
+„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann wohl sagen – Entzücken
+darüber, Sie beide endlich einmal bei mir zu sehen und noch dazu am
+Abend,“ flötete Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten Schreck
+erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches Wunder Sie heute zu
+mir gerufen hat, während ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese
+Ehre aufgegeben! ...“
+
+„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich sind!“ sagte Natalja
+Dmitrijewna süßlich, verschämt, geziert und fast piepend, was einen
+äußerst interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete.
+
+„^Mais, ma charmante^ Marja Alexandrowna,“ zwitscherte wieder Anna
+Nikolajewna dazwischen, „wir müssen doch endlich mit unseren
+Vorbereitungen zu diesem Theater ins reine kommen! Heute noch sagte
+Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe ihn sehr, daß
+wir nicht weiter kämen und uns immer nur stritten. Und da versammelten
+wir uns denn heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja
+Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja Dmitrijewna hat auch
+die anderen benachrichtigt. Alle werden kommen. Und so können wir uns
+denn beraten und die Sache kommt dann endlich in Gang ... Dann darf man
+auch nicht mehr sagen, daß wir uns nur streiten, nicht wahr, ^mon
+ange^?“ fügte sie kokett hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh
+da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit jedem Tag schöner!“
+
+Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina entgegen, um sie zu
+küssen.
+
+„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu verschönen,“ meinte
+süß Natalja Dmitrijewna und rieb ihre großen Hände.
+
+„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige Theater hatte ich
+ganz vergessen! Sie scheinen, weiß Gott, klüger geworden zu sein!“
+dachte Marja Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut.
+
+„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna Nikolajewna fort, „daß
+jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo
+gab es ja früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt und wissen
+jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen, ein Vorhang und sogar
+Kostüme vorhanden sind. Der Fürst war heute bei mir, aber ich war so
+überrascht, daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir hier
+das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden uns beistehen und der
+Fürst wird uns den ganzen Plunder herschicken – das werden Sie sehen!
+Denn bei wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse
+bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch den Fürsten für unsere
+Aufführung gewinnen. Er muß unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist
+doch für die Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen, – er
+ist doch so liebenswürdig und mit allem stets einverstanden. Dann würde
+alles wundervoll gehen!“
+
+„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja doch jede
+beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna
+zweideutig.
+
+Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna nicht betrogen: in jedem
+Augenblick kamen neue Gäste. Die Hausfrau konnte kaum eine jede der
+eintreffenden Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens
+bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder dem guten Ton in
+solchen Fällen verlangt werden.
+
+Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben. Ich sage nur,
+daß einer jeden ganz besondere Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen
+Gesichtern konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte Ungeduld
+lesen. Einige von ihnen waren entschieden mit der Absicht gekommen,
+Augenzeugen eines unerhörten Skandals zu sein, und sie würden sehr
+ungehalten gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen wäre.
+Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig, doch Marja Alexandrowna
+hatte sich nichtsdestoweniger auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht.
+Fragen nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend war eine
+jede dieser Fragen sehr natürlich, aber dennoch enthielt jede eine leise
+Anspielung, verriet jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht;
+man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den Flügel. Sina wurde gebeten,
+etwas zu singen, sie aber antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund
+sei. Ihr bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen.
+Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und gleichzeitig wurde auch noch
+nach anderem gefragt und anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte
+sich auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen
+ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna verzehnfachte sich: sie sah
+alles, selbst das, was in der fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede
+Dame sprach, obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete
+unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte nicht lange nach
+Worten. Sie zitterte für Sina und wunderte sich, daß sie noch nicht
+fortging, wie sie es sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte.
+Auch Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen bemerkt
+worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich alle zum besten zu haben, um auf
+diese Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch hofften sie,
+von dem dummen und aufrichtigen Gatten manches Nähere zu erfahren. Marja
+Alexandrowna beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“. Zudem
+antwortete er auf alle Fragen nur mit einem „Hm!“, tat es aber mit einer
+so unglücklichen und jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der
+Haut zu fahren glaubte.
+
+„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch will mit uns überhaupt
+nicht mehr sprechen!“ rief ihr ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu,
+das entschieden nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen Sie
+ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein muß.“
+
+„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was heute mit ihm geschehen
+ist,“ antwortete Marja Alexandrowna, die ihr Gespräch mit Anna
+Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So
+verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen! Auch mit mir
+spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest du denn Felissata
+Nikolajewna nicht, ^cher Athanase^?“
+
+„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch selbst ...“ stotterte der
+verwunderte Gatte. Er stand in diesem Augenblick gerade am brennenden
+Kamin, hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst ersonnen
+– untergebracht und schickte sich an, Tee zu trinken. Die Fragen der
+Damen verwirrten ihn dermaßen, daß er wie ein Mädchen errötete. Als er
+jedoch die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing er einen
+so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß er vor Schreck fast die
+Besinnung verlor. Da er nicht wußte, was er tun sollte, andererseits
+aber sein Vergehen gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen
+wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck Tee. Der Tee war aber
+heiß, und da er einen unverhältnismäßig großen Schluck genommen hatte,
+verbrannte er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen, der Tee ging
+in die Luftröhre, und er begann darauf so heftig zu husten, daß er das
+Zimmer verlassen mußte, während die Anwesenden in staunender
+Verständnislosigkeit zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau war
+alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits alles wußten und
+sich mit den schlimmsten Absichten bei ihr versammelt hatten. Die
+Situation war gefährlich: sie konnten in ihrer Gegenwart den
+schwachsinnigen Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme Dinge
+durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten ihr sogar den Fürsten
+streitig machen, konnten ihn ihr noch am selben Abend fortnehmen, d. h.
+einfach mitlocken. Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte ihr
+aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht: in der Tür
+erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff glaubte. Sie hätte alles
+eher als ihn an diesem Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie
+gestochen worden.
+
+Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien beim Anblick der vielen
+Gäste etwas verwirrt zu werden. Er konnte seine Aufregung nicht
+bezwingen: man sah sie ihm wenigstens deutlich an.
+
+„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen mehrere Damen aus.
+
+„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch! Aber wie, Marja
+Alexandrowna, Sie sagten doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde
+gesagt, daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten, Pawel
+Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna.
+
+„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem etwas verzerrten Lächeln.
+„Ein sonderbarer Ausdruck! Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich
+verberge mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen zu
+verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick auf Marja Alexandrowna
+hinzu.
+
+Marja Alexandrowna erzitterte.
+
+„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“ fragte sie sich
+und sah ihn prüfend von der Seite an. „Das wäre das Schlimmste ...“
+
+„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den Abschied erhalten haben
+... im Staatsdienst, versteht sich?“ fragte die naseweise Felissata
+Michailowna und blickte ihm spöttisch offen in die Augen.
+
+„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe ganz einfach umgesattelt.
+Ich lasse mich nach Petersburg versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff
+trocken.
+
+„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr Felissata Michailowna
+fort. „Und wir erschraken schon, als wir hörten, daß Sie sich um eine
+Anstellung hier in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die
+Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man sich versieht,
+fliegt man.“
+
+„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule; dort gäbe es noch
+eine Vakanz,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna.
+
+Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna verlegen wurde und
+ihre boshafte Freundin heimlich mit dem Fuß stieß.
+
+„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch einwilligen würde, die
+Anstellung eines Kreisschullehrers anzunehmen?“ fragte Felissata
+Michailowna.
+
+Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er ihnen den Rücken und wollte
+fortgehen, stieß aber im selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch
+zusammen, der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff
+reichte ihm dummerweise nicht die Hand und verbeugte sich nur spöttisch
+auffallend tief vor ihm. Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr
+haßerfüllt in die Augen und raunte ihr zu:
+
+„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken. Warten Sie, heute abend
+noch werde ich Ihnen zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“
+
+„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch jetzt,“ antwortete Sina mit
+lauter Stimme und maß ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick
+vom Kopf bis zu den Füßen.
+
+Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute Antwort hatte ihn
+denn doch erschreckt.
+
+„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich schließlich Marja
+Alexandrowna zu fragen.
+
+„Nein, ich komme von meinem Onkel.“
+
+„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben beim Fürsten gewesen?“
+
+„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht? Und uns wurde
+gesagt, daß er noch schlafe!“ Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert,
+und der Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu
+durchbohrend.
+
+„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja Dmitrijewna,“
+antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht und, Gott sei Dank, wieder
+bei vollem Verstande. Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst bei
+Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch endgültig, so daß er
+beinahe seinen letzten Verstand verlor, der ja bei ihm ohnehin nicht
+groß ist. Jetzt aber haben wir uns beide zum Glück aussprechen können,
+und so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er wird sogleich
+erscheinen, um sich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verabschieden und
+für Ihre Gastfreundschaft zu danken. Morgen aber werden wir in aller
+Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich ihn persönlich nach
+Duchanowo begleiten, um ein abermaliges Umgeworfenwerden zu verhüten. In
+Duchanowo wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna empfangen –
+die bis dahin unfehlbar aus Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann
+ist es natürlich ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise
+unternimmt – dafür garantiere ich.“
+
+Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff mit aufrichtigem Haß zu
+Marja Alexandrowna hinüber. Diese saß, als hätte sie vor Schreck die
+Sprache verloren. Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine Heldin
+zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde.
+
+„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort? Wie denn das?“ fragte
+Natalja Dmitrijewna, sich an Marja Alexandrowna wendend.
+
+„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen Seiten. „Und wir haben
+gehört ... das ist doch wirklich sonderbar!“
+
+Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten sollte. Da wurde die
+allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich durch den ungewöhnlichsten
+Zwischenfall abgelenkt: aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch
+und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich stürzte unvermutet
+unverhofft Ssofja Petrowna Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon.
+
+Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste Dame in ganz
+Mordassoff: so exzentrisch war sie, daß die Gesellschaft der Stadt in
+jüngster Zeit beschlossen hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß
+noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um sieben Uhr ein paar
+Gläschen kippte – für den Magen, wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung
+befand sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten Stimmung –
+gelinde ausgedrückt. Und in dieser Stimmung stürzte sie jetzt in den
+Salon Marja Alexandrownas.
+
+„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“ schrie sie, „also so gehen
+Sie mit mir um! Beunruhigen Sie sich nicht, ich bin nur auf einen
+Augenblick gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen. Ich bin
+absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen, ob es wahr ist,
+was man mir erzählt hat. Ah! also Sie geben Bälle, Banketts, feiern
+Verlobungen, Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und Strümpfe
+stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen, nur ich nicht! Vorhin aber war
+ich für Sie ‚liebe Freundin‘ und ‚^mon ange^‘ als ich herkam, um zu
+erzählen, was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten gemacht wurde. Und
+jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna, über die Sie vorhin so geschimpft
+haben, und die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause.
+Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche nicht Ihre
+Schokolade ^à la santé^ zu zehn Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause
+öfter als Sie!“
+
+„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna.
+
+„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja Alexandrowna aus,
+hochrot vor Zorn, „was ist heute mit Ihnen? So kommen Sie doch zur
+Besinnung, wenigstens!“
+
+„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna, ich habe alles, alles
+erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna mit ihrer schrillen, kreischenden
+Stimme, umringt von allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene
+zu ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre holde Nastassja ist
+selbst zu mir gelaufen, um mir alles zu erzählen. Sie haben diesen
+Jammerkerl, diesen Fürsten, eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und
+dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja, bei Ihrer Tochter,
+die niemand mehr heiraten will, und jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich
+ein, daß auch Sie mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger
+Vogel geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen – daß Gott
+erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht, ich selbst bin die Frau eines
+Obersten! Und wenn Sie mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so
+pfeife ich auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen verkehrt
+als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij diniert, und der
+Oberkommissar Kurotschkin hat bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre
+Einladung brauchte, – Gott bewahre! ...“
+
+„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig ruhig an,
+obgleich sie aus der Haut zu fahren meinte, „Sie können mir glauben, daß
+man nicht in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt und
+noch dazu in einem _solchen Zustande_, und wenn Sie mich jetzt nicht
+sofort von Ihrer Anwesenheit und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich
+unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“
+
+„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten befehlen, mich
+hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde selbst den Weg
+hinausfinden. Leben Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber,
+Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen: ich pfeife auf
+Ihre Schokolade! Ich bin zwar nicht hierher eingeladen worden, habe aber
+auch nicht vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen Sie
+denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff hat sich inzwischen das
+Bein gebrochen, ist soeben erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie,
+Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka nicht sagen,
+rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie nicht jeden Tag unter
+meinen Fenstern brüllt, so werde _ich_ Ihrer Matrjoschka die Beine
+brechen. Leben Sie wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! – Daß
+Gott erbarm’!“
+
+Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja Alexandrowna wußte
+nicht, was sie tun oder sagen sollte.
+
+„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich Natalja
+Dmitrijewna.
+
+„Aber immerhin – diese Frechheit!“
+
+„^Quelle abominable femme!^“
+
+„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“
+
+„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“
+
+„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung? Was ist das für eine
+Verlobung?“ fragte Felissata Michailowna spöttisch.
+
+„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich Marja Alexandrowna.
+„Und diese Ungeheuer sind es ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte
+verbreiten! Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß solche
+Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, – nein, am erstaunlichsten
+ist, daß man diese Damen nicht entbehren zu können scheint, daß man sie
+überhaupt anhört, sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“
+
+„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste ^unisono^.
+
+„Ach, Gott! ^Ce cher prince!^“
+
+„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich die ganze Wahrheit
+erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer Nachbarin zu.
+
+
+ XIII.
+
+Der Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf den Lippen. Die ganze
+Aufregung, in die Mosgljäkoff vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz
+versetzt hatte, verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz
+wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden Freuderufen. Im
+allgemeinen wurde unser Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen
+meist sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie mit seiner
+durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu zerstreuen. Felissata
+Michailowna hatte am Vormittag sogar behauptet – natürlich nur
+scherzweise –, daß sie bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn
+es ihm angenehm wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter Herr,
+ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna verschlang ihn geradezu mit den
+Blicken, bemüht, wenigstens etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu
+erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen würde. Eines war
+jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte etwas Gefährliches angerichtet. Ihr
+ganzer Plan war stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten
+war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe wie immer.
+
+„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben Sie erwartet und
+erwartet!“ riefen einige der Damen aus.
+
+„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“ flöteten andere.
+
+„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der Fürst und setzte sich
+an den Tisch, auf dem der Ssamowar stand. Die Damen umringten ihn im
+Augenblick. Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna blieben bei der
+Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch lächelte ehrerbietig;
+Mosgljäkoff lächelte gleichfalls und blickte herausfordernd Sina an, die
+ihm jedoch nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat zum Vater
+und setzte sich neben ihn am Kamin in einen Lehnstuhl.
+
+„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie uns verlassen wollen?“
+fragte Felissata Michailowna.
+
+„Nun ja, ^mesdames^, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich ins Aus–land
+fahren.“
+
+„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles im Chor, „was ist Ihnen
+eingefallen?“
+
+„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt, „und wissen Sie, ich
+will namentlich wegen der neuen Ideen hin–fahren.“
+
+„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher neuen Ideen?“ fragten die
+Damen, die untereinander Blicke austauschten.
+
+„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fürst noch einmal,
+offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren alle wegen der neuen Ideen hin.
+Und so will auch ich mir neue Ide–en an–legen.“
+
+„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten, mein bester
+Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff, der sich augenscheinlich vor den
+Damen durch geistreiche Bemerkungen auszeichnen wollte.
+
+„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“ antwortete der Onkel
+überraschenderweise. „Ich habe früher in alten Zeiten tatsächlich zu
+einer Frei–maurerloge gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich habe
+sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt. Ich beab–sichtigte
+damals, viel für die zeitgenössische Aufklärung zu tun und in Frank–furt
+beschloß ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land mitgenommen
+hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner Verwun–derung selbst von
+mir fort. Er war ein sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich ihm
+einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit einer Mamsell auf den
+Boulevards. Er sah mich an und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die
+Mamsell war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“
+
+„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal, wenn Sie ins Ausland
+fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“ rief Mosgljäkoff laut auflachend
+aus.
+
+„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten, mein Lieber!“ antwortete der
+Fürst ohne zu zögern. „Es ist gerade meine Absicht, sie alle aus
+Leibeigenen zu freien Bauern zu machen.“
+
+„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch alle im Augenblick von
+Ihnen fortlaufen, und wer wird Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“
+wandte Felissata Michailowna ein.
+
+„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt Anna Nikolajewna.
+
+„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“ fragte der Fürst
+verwundert.
+
+„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen und Sie allein
+lassen!“ versicherte auch Natalja Dmitrijewna.
+
+„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht freigeben. Wie gesagt, es
+war von mir auch nur so gemeint.“
+
+„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“ meinte Mosgljäkoff.
+
+Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört und beobachtet. Es schien
+ihr, daß der Fürst sie vollkommen vergessen hatte ...
+
+„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll, „daß ich Ihnen
+meinen Mann vorstelle – Afanassij Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom
+Gut hergekommen, sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir abgestiegen
+seien.“
+
+Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine strammere Haltung an. Er
+glaubte, daß man ihn gelobt habe.
+
+„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij Matwejewitsch!
+Erlauben Sie, mir fällt etwas ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja,
+das ist dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant, freut mich wie
+gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte sich an Mosgljäkoff – „das ist doch
+derselbe, weißt du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das doch? Kaum
+ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt die Frau ... nun ja, auch die Frau
+geht irgend wohin.“
+
+„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau
+schon aus dem Haus‘ – das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen
+Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna auf.
+
+„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se es immer. Charmant,
+charmant! Und Sie sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen
+zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch, ohne
+sich vom Stuhl zu erheben, die Hand. „Nun und wie geht es mit Ihrer
+Gesundheit?“
+
+„Hm ...“
+
+„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete Marja Alexandrowna
+eilig.
+
+„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist. Und Sie leben immer auf
+dem Gute? Nun ja, es freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die
+ganze Zeit freut er sich ...“
+
+Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich und klappte sogar die
+Absätze zusammen. Nach der letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht
+mehr an sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise in
+lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob sich. Die Damen wieherten
+förmlich vor Vergnügen. Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden
+Augen Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor Wut. Es war
+höchste Zeit, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.
+
+„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte sie sich mit honigsüßer
+Stimme, während sie gleichzeitig durch einen zornigen Blick ihrem Gatten
+zu verstehen gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen
+hatte.
+
+„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der Fürst, „und wissen Sie,
+ich habe einen ent–zück–enden Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“
+
+„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn man Träume erzählt,“ rief
+Felissata Michailowna aus.
+
+„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“ stimmte ihr Natalja
+Dmitrijewna bei.
+
+„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der Fürst mit süßem Lächeln,
+„dafür aber ist er das größte Geheim–nis!“
+
+„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber dann muß es ja ein ganz
+außergewöhnlicher Traum sein?“ fragte Anna Nikolajewna.
+
+„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der Fürst, der mit Vergnügen die
+Neugier der Damen reizte.
+
+„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“
+
+„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend einer Schönheit auf den
+Knien gelegen und eine Liebeserklärung gemacht hat,“ rief Felissata
+Michailowna aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts anderes
+ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen Sie es nur!“
+
+„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde von allen Seiten
+gebeten.
+
+Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne diese Ausrufe. Die
+Annahme Felissata Michailownas schmeichelte seiner Eigenliebe ganz
+außerordentlich. Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen
+geleckt.
+
+„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das größ–te Geheim–nis ist,“
+antwortete er schließlich, „so bin ich doch gezwungen, einzugestehen,
+daß Sie, meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung vollkom–men
+erra–ten haben.“
+
+„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert aus. „Nun, Fürst! Jetzt
+machen Sie, was Sie wollen, aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese
+Schönheit ist!“
+
+„Das müssen Sie unbedingt!“
+
+„Ist es eine hiesige?“
+
+„Ach, _lieber_ Fürst, sagen Sie es uns doch!“
+
+„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns, sagen Sie es uns!“
+ertönte es von allen Seiten.
+
+„^Mesdames, mesdames!^ ... Wenn Sie es wirk–lich so nachdrücklich wissen
+wollen, so kann ich Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das
+bezau–berndste und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen ist von
+allen, die ich kenne!“
+
+Der Fürst zerfloß vor Wonne.
+
+„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige! Wer könnte das sein?“
+fragten sich die Damen, die bedeutsame Blicke und Winke austauschten.
+
+„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste Schönheit gilt,“
+sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre roten Riesenhände und blickte mit
+ihren Katzenaugen vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch die
+Blicke aller anderen Sina zu.
+
+„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume haben – weshalb heiraten
+Sie dann nicht in Wirklichkeit?“ fragte die naseweise Felissata
+Michailowna mit einem vielsagenden Blick ringsum.
+
+„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“ griff eine andere Dame auf.
+
+„Ach, _lieber_ Fürst, heiraten Sie doch, bitte, bitte!“
+
+„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von allen Seiten. „Weshalb
+sollen Sie denn nicht heiraten? ...“
+
+„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“ meinte auch der
+Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz konfus geworden war.
+
+„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen.
+
+„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt, ^mesdames^, ich bin
+nicht mehr fähig zu heiraten, und nachdem ich hier einen bezau–bernden
+Abend bei unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe, werde ich
+mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl in die Ein–siedelei begeben
+und von dort dann direkt ins Ausland fahren, um bequemer die
+Fortschritte der europä–ischen Bildung verfol–gen zu können.“
+
+Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch Marja Alexandrowna hatte
+sich schon entschlossen. Bis hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft,
+denn sie sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich
+begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige Hydra mit
+einem einzigen Schlage zu besiegen. Majestätisch erhob sie sich aus
+ihrem Lehnstuhl, trat mit festen Schritten an den Tisch und maß mit
+stolzem Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung
+leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen, alle diese
+gehässigen Klatschbasen vor den Kopf zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff
+einfach zu vernichten, wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem
+einzigen entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen verlorenen
+Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder zu erobern. Versteht sich,
+dazu gehörte eine ungewöhnliche kalte Frechheit, um die aber war Marja
+Alexandrowna nie verlegen.
+
+„^Mesdames^,“ hub sie feierlich und majestätisch an (Marja Alexandrowna
+liebte überhaupt sehr Feierlichkeit), „^mesdames^, ich habe lange Ihrem
+Gespräch zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und ich
+finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich kommt, auch ein Wort
+zu sagen. Wie Sie wissen, haben wir uns hier alle ganz zufällig
+zusammengefunden – und das freut mich so unsäglich, so unsäglich!
+Niemals würde ich mich entschlossen haben, das wichtige
+Familiengeheimnis als erste allen kund zu tun und es früher zu
+verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl verlangt. Vor allem
+bitte ich deshalb meinen lieben Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber,
+daß er selbst durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand
+aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken kommen läßt, daß ihm
+die formelle und feierliche Mitteilung unseres Familiengeheimnisses
+nicht nur keineswegs unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu
+gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche mich doch nicht?“
+
+„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut mich, freut mich sehr
+...“ sagte der Fürst, der nicht im geringsten begriff, wovon die Rede
+war.
+
+Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks einen Augenblick
+inne, um Atem zu schöpfen. Sie übersah die ganze Gesellschaft: alle
+Gäste horchten mit einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte.
+Mosgljäkoff zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich, und Afanassij
+Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung eines außergewöhnlichen
+Ereignisses, auf alle Fälle.
+
+„Ja, ^mesdames^, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein
+Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute, nach dem Mittagessen hat der
+Fürst, hingerissen von der Schönheit und ... den Vorzügen meiner
+Tochter, mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten. Fürst!“ schloß
+sie mit einer Stimme, die von Tränen und Aufregung zitterte, „Sie dürfen
+nicht, Sie können mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein! Nur
+die übergroße Freude hat es vermocht, meinem Herzen vorzeitig dieses
+liebe Geheimnis zu entreißen und ... welche Mutter würde mich deshalb
+verurteilen?“
+
+Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern, den Marja
+Alexandrownas unerwartete Mitteilung machte. Alle schienen erstarrt zu
+sein vor Verwunderung. Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja
+Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen, daß sie bereits alles
+wußten, die sie mit der vorzeitigen Aufdeckung des Geheimnisses – und
+zwar nur in der Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren
+jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet. Und
+dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht einer inneren Kraft: „Folglich
+wird der Fürst tatsächlich freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er
+nicht in die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen
+worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks verheiratet?
+Folglich fürchtet Marja Alexandrowna nichts und niemanden? Folglich läßt
+sich diese Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet
+doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick hörte man allgemeines
+Getuschel, das sich dann plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste
+stürzte Natalja Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in ihre Arme
+zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna und dieser Felissata
+Michailowna. Alle sprangen von ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in
+ein unentwirrbares Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor Wut. Sina
+wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar an Afanassij Matwejewitsch
+klammerte man sich. Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus
+und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust. Nur der Fürst
+allein blickte mit einer gewissen sonderbaren Verwunderung auf die ganze
+Szene, wenn er auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens gefiel
+ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die Mutter ihr Kind umarmte,
+da zog er sein Schnupftuch hervor und wischte sich eine Träne aus seinem
+Auge. Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit Glückwünschen.
+
+„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte es von allen Seiten.
+
+„Also Sie heiraten?“
+
+„Sie heiraten also wirklich?“
+
+„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“
+
+„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit den Glückwünschen und
+der Aufregung sehr zufrieden war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am
+meisten Ihre liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen und
+die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals. Charmant, charmant! Sie
+haben mich sogar bis zu Trä–nen gerührt ...“
+
+„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das Geschrei aller anderen
+Felissata Michailowna.
+
+„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon er von allen
+Seiten beständig unterbrochen wurde, „am meisten wundert es mich, daß
+Marja Iwa–now–na, unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so
+frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten hat. Ganz als hätte sie
+ihn an meiner Stelle gesehen! Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat!
+Auf–fallender Scharf–blick!“
+
+„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“
+
+„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“ drängten die ihn
+umringenden Damen.
+
+„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das Geheimnis aufzudecken!“
+sagte Marja Alexandrowna entschlossen und streng. „Ich habe Ihre
+feinfühlige Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit dem
+Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu veröffentlichen wünschten.
+Ja, ^mesdames^, es ist wahr: heute ist der Fürst _im wachen Zustande_
+und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet und hat ihr in aller
+Form einen Heiratsantrag gemacht.“
+
+„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar mit denselben
+Neben–um–ständen,“ bestätigte der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort,
+sich mit ungewöhnlicher Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich noch
+nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich schwöre Ihnen, daß ich
+nie–mals Ihren Namen zu nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren
+vor mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder Traum, und ich
+schätze mich dop–pelt glücklich, daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann.
+Charmant! Charmant! ...“
+
+„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er redet immer noch von
+einem Traum?“ flüsterte Anna Nikolajewna der erregten und etwas bleichen
+Marja Alexandrowna zu.
+
+Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das Herz auch ohne diese
+Fragen.
+
+„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander und tauschten
+vielsagende Blicke aus.
+
+„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna mit schmerzlich
+verzogenem Lächeln an, „ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in
+Erstaunen setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die Sie da
+haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im Glauben, daß Sie nur
+scherzten, aber ... Wenn es ein Scherz sein soll, so ist er zum
+mindesten sehr unangebracht ... Ich werde ... ich will es Ihrer
+Zerstreutheit zuschreiben, aber ...“
+
+„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“ meinte
+auch Natalja Dmitrijewna.
+
+„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“ bestätigte der Fürst,
+der immer noch nicht begriff, um was es sich handelte und was man von
+ihm eigentlich wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich
+eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet man mich ein, in Petersburg war
+es, zu einer Ein–sargung, es war ^une maison bourgeoise mais honnette^,
+und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest. Das Namensfest war aber
+schon vor einer Woche gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett
+für die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein eh–renwerter,
+bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so daß ich mich nur wun–derte. Und ich
+wuß–te gar nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“
+
+„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche Geschichten zu tun!“
+unterbrach ihn Marja Alexandrowna ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht
+nötig, Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr selbst hier
+an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu
+veranlaßt ... Ich kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ...
+Versteht sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber ich schob ihn
+auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich bin Mutter ... sie ist mein Kind ...
+Sie haben soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte, Sie wollten
+in der Form einer Allegorie von Ihrer Verlobung erzählen. Ich weiß sehr
+wohl, daß man Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne sogar,
+wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst, erklären Sie sich
+schneller, ausführlicher. Solche Scherze darf man sich nicht in einem
+vornehmen Hause erlauben ...“
+
+„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause
+erlauben,“ pflichtete ihr der Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er
+doch etwas unruhig.
+
+„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, Fürst! Ich ersuche
+Sie, mir entscheidend zu antworten: bestätigen Sie, bestätigen Sie es
+hier vor allen Anwesenden, daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter
+angehalten haben.“
+
+„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt, ich habe das alles
+schon erzählt und Felissata Jakowlewna hat meinen Traum vollkom–men
+erraten.“
+
+„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna wütend aus. „Es war
+kein Traum, sondern Wirklichkeit, Fürst, Wirklichkeit, hören Sie:
+Wirklichkeit.“
+
+„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert aus und erhob sich
+vor Überraschung. „Da hörst du’s, mein Lieber! Was du vorhin
+pro–phezei–test, ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff
+zu. „Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna, daß Sie sich
+täuschen! Ich bin voll–kom–men ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt
+hat!“
+
+„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die Hände zusammen.
+
+„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“ mischte sich Natalja
+Dmitrijewna ein, „der Fürst hat es vielleicht nur vergessen ... er wird
+sich dessen wieder entsinnen.“
+
+„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“ entgegnete Marja
+Alexandrowna unwillig, „kann man denn so etwas vergessen? Wer vergißt
+denn so etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich über uns
+lustig machen? Oder wollen Sie einem der Gecken nachäffen, wie sie zur
+Zeit der Régence in der Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend
+einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß es Ihren Jahren nicht
+ansteht, wird es Ihnen auch nicht gelingen! Meine Tochter ist keine
+französische Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden
+und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da sind Sie hier vor ihr
+niedergekniet und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere
+doch nicht! Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe ich
+oder schlafe ich nicht?“
+
+„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht ...“ antwortete der
+verwirrte Fürst. „Ich will nur sagen, daß ich jetzt, glaube ich, _nicht_
+schla–fe. Vorhin, sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch
+geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“
+
+„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht, schlief nicht –
+schlief! Da soll der Teufel daraus klug werden! Sie phantasieren doch
+nicht, Fürst?“
+
+„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ... übrigens, ich glaube,
+daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept gekommen bin ...“ murmelte der Fürst
+mit unruhigen Blicken auf seine Umgebung.
+
+„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen können, wenn ich Ihnen
+diesen Traum mit allen Einzelheiten erzähle, während Sie ihn doch noch
+keinem einzigen Menschen erzählt haben!“
+
+„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch schon irgend einem
+mitgeteilt hat,“ meinte Natalja Dmitrijewna.
+
+„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand schon mitgeteilt
+habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus gewordene Fürst.
+
+„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer
+Nachbarin zu.
+
+„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld reißen!“ rief Marja
+Alexandrowna aus und sie rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen
+eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben Sie denn, daß auch dies
+Ihnen nur geträumt hat?“
+
+„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch gesungen,“ murmelte der
+Fürst in Gedanken versunken.
+
+Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht.
+
+„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff wendend, „ich hatte es
+ganz vergessen, dir vorhin zu sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas
+wie eine Roman–ze sang und in dieser Romanze war die Rede von Schlössern
+und dann war dort auch noch irgend ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne
+mich dessen ... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich in der
+größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen, als ob es tatsächlich
+in Wirk–lich–keit gewesen wäre und nicht nur im Traum.“
+
+„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff möglichst ruhig,
+obgleich seine Stimme von innerer Aufregung zu zittern schien, „offen
+gestanden, mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu lösen
+ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört haben. Sinaïda
+Afanassjewna singt vorzüglich. Nach Tisch sind Sie hierher geführt
+worden und Sinaïda Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen. Ich
+war damals nicht hier, Sie aber haben sich wahrscheinlich hinreißen
+lassen, haben an die guten alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die
+Stunden, in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ... mit der
+Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage erzählten. Nun und dann,
+als Sie Ihr Schläfchen machten, hat Ihnen infolge der angenehmen
+Eindrücke geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag
+machten ...“
+
+Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine solche Frechheit hätte sie
+denn doch nicht für möglich gehalten.
+
+„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“ rief der Fürst
+begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen Ein–drücke! Ich erinnere
+mich ganz deut–lich dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde ...
+deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und die Vicomtesse war
+gleichfalls ... Nein, wie klug du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun
+ja, ich bin jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur im Traum
+gesehen habe! Marja Wassiljewna! Ich versichere Sie, daß es mir nur
+geträumt hat! Es war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht mit
+Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“
+
+„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel hat!“ schrie Marja
+Alexandrowna, außer sich vor Wut, und sie wandte sich an Mosgljäkoff.
+„Sie sind es, mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das
+alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie einen Korb erhielten,
+diesem unglücklichen Idioten den Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du
+mir aber bezahlen, du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du mir
+bezahlen, bezahlen!“
+
+„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot wie ein Krebs, „Ihre Worte
+sind dermaßen ... Ich weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich
+weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben wird ... ich verteidige
+zum mindesten meinen Verwandten. Sie müssen doch zugeben, daß, einen
+alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle zu locken ...“
+
+„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der Fürst, der sich hinter
+Mosgljäkoff zu verstecken versuchte.
+
+„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna mit einer ihr
+ganz fremden Stimme. „Hören Sie denn nicht, wie wir beschimpft und
+entehrt werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht uns
+gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater, sondern nur
+ein lebloser Holzklotz? Was blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte
+hätte schon längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem Blute
+abgewaschen! ...“
+
+„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig an, offenbar sehr
+stolz darauf, daß man endlich auch seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir
+das schließlich nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du
+aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine Art verdreht
+... –“
+
+Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt, seine scharfsinnige
+Erklärung zu Ende sprechen zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an
+sich gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude den Anschein
+würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber brach alles in schallendes,
+unbändiges Gelächter aus. Marja Alexandrowna, die ihr ganzes
+Comme-il-faut vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten
+stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde aber mit Gewalt
+zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna aber benutzte die Gelegenheit, um
+noch etwas Gift hinzuzuträufeln.
+
+„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,
+seien Sie doch nicht so heftig,“ sagte sie mit honigsüßer Stimme.
+
+„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen sein!“ schrie Marja
+Alexandrowna, die noch nicht recht begriff.
+
+„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen vor ...“
+
+„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna auf.
+
+„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“
+
+„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen es, mir das offen ins Gesicht zu
+sagen!“
+
+„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“ meinte Felissata
+Michailowna.
+
+„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“ murmelte auch der
+Fürst.
+
+„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte Marja Alexandrowna, die
+Hände zusammenschlagend.
+
+„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna! Denken Sie doch daran, daß
+Gott es ist, der uns Träume schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will
+er allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt es sich gar nicht
+mehr, sich zu ärgern.“
+
+„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern ...“ pflichtete
+der Fürst bei.
+
+„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte Marja Alexandrowna vor
+Aufregung kaum noch hervor. Das ging denn doch über menschliche Kraft!
+Sie suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“. Alles stürzte
+zu ihr.
+
+„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“ flüsterte Natalja
+Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr.
+
+In diesem Augenblick der größten Bestürzung und der höchsten Spannung
+trat plötzlich eine neue Person vor, eine, die bis dahin kein Wort
+gesprochen hatte, und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren
+Charakter ...
+
+
+ XIV.
+
+Sinaïda Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen, sehr romantisch
+veranlagt. Ich weiß nicht, ob das gerade daher kam, daß sie, wie Marja
+Alexandrowna behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar zu viel mit
+„ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls aber hatte sich Sina noch nie
+zuvor einen so außergewöhnlich romantischen, oder richtiger, heroischen
+Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben will.
+
+Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd vor Aufregung
+trat sie, wunderbar schön in ihrer Empörung, mit langsamen Schritten
+vor. Mit langem, herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden
+ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen Stille an
+die Mutter, die schon bei ihrer ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder
+erwacht war und die Augen weit aufgerissen hatte.
+
+„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu sich durch Lügen erniedrigen?
+Es ist ja alles ohnehin schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht
+der erniedrigenden Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“
+
+„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind? Besinne dich!“ rief erschrocken
+Marja Alexandrowna aus, und sie sprang auf.
+
+„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt, Mama, daß ich diese
+ganze Schmach nicht ertragen werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn
+wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln? Aber weißt du, Mama,
+ich nehme alles auf mich, denn ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe
+durch meine Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige
+gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich; du glaubtest nach deiner
+Auffassung, so wie du es verstehst, mein Glück zu schaffen. Dir kann man
+noch verzeihen, mir aber, mir – niemals!“
+
+„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O Gott! Ich ahnte es, daß
+dieser Dolchstoß meinem Herzen nicht erspart bleiben würde!“
+
+„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beschimpft, wir alle sind
+beschimpft! ...“
+
+„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und weißt nicht, was du
+sprichst! Und wozu willst du denn erzählen? Was hat das für einen Sinn?
+... Die Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen, daß
+die Schande nicht auf uns fällt ...“
+
+„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme zitterte vor Zorn, „ich will
+nicht mehr schweigen vor diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und
+die hergekommen sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich will ihre
+Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen. Keine einzige von ihnen hat
+das Recht, mich mit Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit,
+noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du, Mama, getan haben.
+Dürfen sie, können sie überhaupt unsere Richter sein? ...“
+
+„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was soll denn das bedeuten!
+_Uns_ zu beleidigen?“ hörte man von allen Seiten.
+
+„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie spricht!“ sagte
+Natalja Dmitrijewna.
+
+Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna vollkommen recht.
+Wenn Sina diese Damen für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb
+würdigte sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt handelte sie wohl
+etwas übereilt, – das war späterhin auch die Meinung der besten Köpfe in
+Mordassoff. Alles hätte noch gut werden können! Alles hätte beigelegt
+werden können! Es ist ja wahr: auch Marja Alexandrowna hatte sich selbst
+vieles eingebrockt an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung
+und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen Greis nur auszulachen
+gebraucht! Und eventuell vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich,
+jeder gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower Weisheit zuwider, an
+den Fürsten.
+
+„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung sogleich von
+seinem Platz erhob – dermaßen imponierte sie ihm in diesem Augenblick.
+„Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen, wir haben
+Sie in die Falle gelockt ...“
+
+„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“ rief Marja
+Alexandrowna in größter Verzweiflung dazwischen.
+
+„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! ^Ma charmante enfant^ ...“ stotterte
+der Fürst maßlos bestürzt.
+
+Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade phantastische Charakter
+Sinas zog sie mit sich fort und ließ sie alle, von der Wirklichkeit
+geforderten Anstandsregeln vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die
+sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich geradezu in
+Krämpfen wand.
+
+„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine Mutter, indem sie Sie
+veranlassen wollte, mich zu heiraten, und ich, indem ich auf ihren
+Vorschlag einging. Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt,
+ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen zu verstellen ... Sie,
+der Schwache, Schutzlose, wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich
+ausdrückt, umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres Fürstentitels
+willen. Alles das war entsetzlich niedrig und ich will es büßen. Aber
+ich schwöre Ihnen, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer
+schändlichen Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch, was soll
+das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit, sich in einer solchen
+Angelegenheit noch rechtfertigen zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich,
+wenn ich etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug, Ihre
+Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin gewesen wäre ... Das hatte ich
+mir geschworen und heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß
+ich!“
+
+Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. Die Gäste
+schienen alle sprachlos zu sein und hörten nur mit weit aufgerissenen
+Augen zu. Der unerwartete und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas
+stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der Fürst war bis zu Tränen
+gerührt, obschon er kaum die Hälfte davon verstand, was Sina sagte.
+
+„Aber ich werde Sie hei–raten, ^ma belle enfant^, wenn Sie es so gern
+wollen,“ stotterte er, „und es wird mir eine große Eh–re sein. Nur
+versichere ich Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen
+ist ... Aber als ob man keine Träume hätte! Weshalb sich daher
+beun–ruhigen? Es ist mir sogar, als hätte ich noch nichts begrif–fen,
+^mon ami^,“ fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre du es
+mir, bit–te! ...“
+
+„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach ihn Sina, sich gleichfalls
+an Mosgljäkoff wendend, „Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie
+auf meinen zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich jetzt so
+grausam an mir gerächt haben, – haben Sie sich wirklich zu diesen Leuten
+gesellen können, um mich herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und
+Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir kommt es zu, Ihnen
+Vorwürfe zu machen! Ich bin schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt
+und beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen
+hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag als Beweis des Gegenteils
+gesagt habe, war Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt
+und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten, so hätte ich es
+nur getan, um irgendwohin fortfahren zu können, fort aus dieser
+verwünschten Stadt, und um diesen ganzen Schmutz hier endlich
+abschütteln zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben, wenn ich
+Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute und treue Frau gewesen
+... Sie haben sich grausam an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz
+schmeicheln kann ...“
+
+„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff.
+
+„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“
+
+„Sinaïda Afanassjewna!!!“
+
+„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die aufsteigenden Tränen
+unterdrückend, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“
+
+„Sinaïda Afanassjewna!!!“
+
+„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja Alexandrowna.
+
+„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich bin ein Schuft und weiter
+nichts!“ behauptete Mosgljäkoff und alles geriet in große Aufregung.
+Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens wurden laut, doch Mosgljäkoff
+stand wie angewurzelt auf einem Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens
+bar. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen.
+
+Für schwache und leere Charaktere, die an ewige Unterwerfung gewöhnt
+sind und sich dann einmal entschließen, sich aufzulehnen und zu
+protestieren, mit einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese
+Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das nahe Ende ihrer
+kurzen Festigkeit und Entschlossenheit ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang
+überaus energisch zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur
+Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen Augen auf die
+Hindernisse und laden sich fast stets eine für ihre Kräfte zu große Last
+auf die Schultern. Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze
+erreicht, so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über sich
+selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: „Was habe ich da
+angerichtet?“ – worauf er alsbald seinen ganzen Heroismus verliert,
+womöglich sogar weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um
+Verzeihung bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen,
+jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ... Fast dasselbe
+geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem er sich empört, das Unglück
+heraufbeschworen, das er jetzt bereits nur sich allein zuschrieb,
+nachdem er seinem Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich
+selbst in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er nun
+plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor dem unerwarteten
+Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte vernichteten ihn endgültig. Aus dem
+einen Extrem ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk eines
+Augenblicks.
+
+„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er in einem Anfall
+verzweifelter Reue aus. „Nein! Was Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich
+bin unvergleichlich schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen
+beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen, daß auch ein
+Esel ein edler Mensch sein kann! Onkel! Ich habe Sie betrogen! _Ich_,
+_ich_, _ich_ allein habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie
+haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den Heiratsantrag gemacht,
+ich aber, ich Schuft, habe aus Rache, weil man mir einen Korb gegeben
+hatte, aus Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt hätte.“
+
+„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier aufgedeckt werden!“
+tuschelte Natalja Dmitrijewna ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr.
+
+„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige dich, bit–te. Du hast
+mich wirklich erschreckt mit deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß
+du im Irr–tum bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit,
+wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du hast mir doch noch selbst
+gesagt, daß es mir nur geträumt habe ...“
+
+„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen Sie mir, sagen Sie
+mir, wie ich ihn jetzt überzeugen kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch
+eine wichtige Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit!
+Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie doch nach!“
+
+„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke nach. Wart mal, laß mich
+alles erst einmal mir ins Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von
+meinem Kutscher Fe–o–fil ...“
+
+„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren Feofil!“
+
+„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um ihn handle. Dann
+träumte mir von Napo–le–on, und dann war es so, als wenn wir getrunken
+hätten und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei uns auf ...“
+
+„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in einem Augenblick der
+Verfinsterung seines Gedächtnisses, „das hat Ihnen doch Marja
+Alexandrowna selbst nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt! Ich
+war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich hatte mich versteckt
+und sah und lauschte durch einen Türspalt ...“
+
+„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“ schrie Natalja
+Dmitrijewna dazwischen. „Dann haben Sie es also auch dem Fürsten
+erzählt, daß ich bei Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte!
+Dann komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“
+
+„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ schrie Marja Alexandrowna, zur
+Verzweiflung gebracht.
+
+„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen Sie nicht mit mir
+sprechen! ... Also ich soll bei Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon
+lange gehört, daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir hat
+Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ... Also ich stehle bei
+Ihnen Zucker? ...“
+
+„Aber, ^mesdames^,“ rief der Fürst dazwischen, „das hat mir ja nur
+geträumt! Als ob mir nicht vieles träu–men kann? ...“
+
+„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja Alexandrowna halblaut.
+
+„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte Natalja Dmitrijewna. „Und
+wer sind Sie denn, wenn man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß
+Sie mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ... ich habe
+wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur einen Tölpel ...“
+
+„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar die Rede,“ murmelte
+ahnungslos der Fürst, der sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna
+entsann.
+
+„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine vornehme Dame
+beschimpfen? Wie wagen Sie es überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so
+sind Sie ein einbeiniger Krüppel ...“
+
+„Wer, ich einbeinig?“
+
+„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein Bein fehlt, Ihnen fehlen auch
+alle Zähne, damit Sie’s wissen!“
+
+„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja Alexandrowna.
+
+„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein Korsett!“ fügte Natalja
+Dmitrijewna hinzu.
+
+„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“
+
+„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“
+
+„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“ schrie Marja
+Alexandrowna.
+
+„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch we–nigstens, Marja
+Stepa–nowna!“ unterbrach der Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen
+ganz kopfscheu machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten! Du hast es
+erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“
+
+„Onkelchen!“
+
+„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger blei–ben! Bring mich
+irgendwohin fort ... ^quelle société^? Wohin hast du mich eigentlich
+ge–bracht, Gott im Himmel!“
+
+„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna.
+
+„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst. „Ich habe im
+Au–genblick nur ein wenig verges–sen, weshalb ich herge–kom–men bin,
+aber ich werde mich dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, ^mon ami^,
+bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich hier noch. Zudem
+... zudem muß ich schnell einen neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“
+
+„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich werde Sie sofort ins
+Gasthaus bringen und auch selbst mit Ihnen übersiedeln ...“
+
+„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, ^ma charmante enfant^ ... Sie allein ...
+nur Sie allein ... sind gut und tugend–haft. Sie sind ein ed–les
+Mäd–chen! ... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“
+
+Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen Szene nach dem Fortgang
+des Fürsten zu beschreiben versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren
+die Gäste ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück – unter
+den Trümmern ihres früheren Ruhmes. Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze
+Bedeutung – alles war an diesem einen Abend eingestürzt und
+untergegangen. Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich nie mehr zu
+derselben Höhe würde erheben können. Ihre langjährige despotische
+Herrschaft in der Gesellschaft war endgültig dahingeschwunden. Was blieb
+ihr jetzt noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte
+nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht. Sina war entehrt und der
+Klatsch würde kein Ende nehmen! Entsetzlich!
+
+Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken, daß am meisten
+unter dieser Stimmung Afanassij Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter
+Letzt verkroch er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum Morgen
+furchtbar fror.
+
+Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue Tag sollte nichts
+Gutes bringen. Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein.
+
+
+ XV.
+
+Wenn das Schicksal einem einmal Unglück beschert, so hört es damit so
+bald nicht auf. Das ist eine altbekannte Tatsache. Als ob diese ganze
+Schmach und Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna!
+Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr noch anderes vor.
+
+Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete sich in der Stadt
+ganz plötzlich ein seltsames, fast unglaubliches Gerücht, das von allen
+mit auffallender Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder
+ungewöhnliche Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben Nächsten
+zustößt.
+
+„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham und jedes Gewissen zu
+verlieren!“ hieß es allgemein. „Sich dermaßen zu erniedrigen, sich
+dermaßen über jeden gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen
+die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr.
+
+Es war folgendes geschehen:
+
+Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes altes Weib eilig ins Haus
+Marja Alexandrownas gekommen und hatte die Stubenmagd unter Tränen
+beschworen, das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken, aber heimlich, so
+daß Marja Alexandrowna nichts davon erführe. Sina war im Augenblick
+erschienen, erschrocken und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr
+niedergeworfen, ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt, und sie
+angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen, der die ganze Nacht so
+schwer, so schwer geatmet habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag
+überleben werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä selbst
+sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr Abschied nehmen zu
+können, daß er sie bei allen heiligen Engeln beschwöre, bei allem was
+früher zwischen ihnen gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht
+käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben. Sina hatte sich
+sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich doch die Erfüllung dieser
+Bitte alle früheren Gerüchte von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen
+Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen mußte.
+
+Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie einen Pelz umgenommen und
+war dann mit der Alten fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze
+Stadt in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am Ende einer
+einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe Hütte, deren Fenster mehr an
+Spalten oder Löcher erinnerten, und die ringsum von hohen Schneebergen
+umgeben war.
+
+In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem Geruch erfüllt
+war und in dem der riesige Ofen genau die Hälfte des ganzen Raumes
+einnahm, lag in einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei
+Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem alten
+Uniformmantel[2] zugedeckt war. Sein Gesicht war bleich und abgezehrt,
+seine Augen hatten den flackernden Glanz Fieberkranker, seine Hände
+waren schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme waren wie Stöcke;
+er atmete schwer und rauh; seine Stimme war heiser. Man sah es ihm an,
+daß er einmal schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte die
+zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und es tat weh, ihn
+anzublicken, wie der Anblick eines jeden Schwindsüchtigen oder
+Sterbenden weh tut. Seine alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und
+fast bis zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka wieder
+gesund werden würde, mußte sich endlich sagen, daß ihr Sohn nicht mehr
+lange in dieser Welt bleiben konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden
+Lager, die Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie sah ihn
+an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm – konnte es nicht
+begreifen, wenn sie es auch wußte, daß nach wenigen Tagen dort draußen
+auf dem Armenfriedhof die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken
+und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen würde. Doch Wassjä sah sie
+jetzt nicht. Sein ganzes abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit.
+Endlich, endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze anderthalb
+Jahre im Wachen geträumt und die ihm in jedem Traum erschienen war, an
+die er Tag und Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten
+seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß sie ihm verziehen hatte,
+da sie wie ein Engel Gottes in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen
+war. Sie preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah ihn
+wieder mit ihren wundervollen Augen an und – und alles Vergangene,
+Unwiederbringliche begann in der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das
+Leben flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als wolle es dem
+Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal zu fühlen geben, wie schwer das
+Scheiden von ihm ist.
+
+„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über mich, gräme dich nicht,
+sei nicht traurig darüber, daß ich bald sterben muß. Ich werde dich
+ansehen, – so wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder
+beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde deine Hände küssen,
+wie früher – weißt du noch? – und ich werde sterben, vielleicht ohne den
+Tod zu spüren. Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel, mit welcher
+Güte du mich ansiehst ... Aber weißt du noch, wie du früher lachtest?
+Weißt du noch ... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung, ich
+will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen ist, denn sieh, wenn
+du mir vielleicht auch verziehen hast, so werde ich mir doch nie
+verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare
+Nächte, und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen und
+gedacht, lange und viel, gedacht und da bin ich zur Einsicht gekommen,
+daß es für mich besser ist, zu sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte
+nicht zum Leben, Sina!“
+
+Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als hätte sie ihn damit im
+Sprechen aufhalten wollen.
+
+„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der Kranke fort. „Weil ich
+sterbe, nur weil ich sterbe? Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja
+doch schon längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als ich, du
+hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt du auch, daß ich ein
+schlechter Mensch bin. Kannst du mich denn lieben? Was mich das gekostet
+hat, diesen Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein
+schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel Eigenliebe hierin war,
+vielleicht auch edelmütige ... ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund,
+mein ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt, immer nur
+geträumt und nicht gelebt. Ich war stolz, ich verachtete die Masse ...
+Auf was aber war ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst
+nicht. Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja alles nur in
+Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen, als es aber zur Tat kam, da
+bewies ich glänzend meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene
+Gesinnung! ...“
+
+„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ... Das war ja alles nicht so
+... du marterst dich ganz unnütz!“
+
+„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß, du hast mir verziehen,
+und vielleicht schon vor langer Zeit; aber du hast über mich
+nachgedacht, das Urteil gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber
+quält mich ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina! Du warst auch
+dann, als es zur Tat kam, als es handeln hieß, auch dann warst du
+ehrlich und großzügig: du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß
+du mich und keinen anderen heiraten würdest, und du hättest dein Wort
+gehalten, denn bei dir ist Wort und Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich!
+Als es zur Tat kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar nicht,
+was du für mich geopfert hättest, wenn es zur Heirat gekommen wäre! Ich
+konnte es damals überhaupt nicht begreifen, daß du als meine Frau vor
+Hunger vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja keinen
+Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten würdest, mich, den
+großen Dichter – den zukünftigen, versteht sich – und ich wollte jene
+Gründe überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als du mich
+batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich machte dir Vorwürfe, ich
+quälte, tyrannisierte, verachtete dich und schließlich kam es zu meiner
+Drohung, jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein Schuft in
+diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump! O, wie du mich verachtet
+haben mußt! Es ist gut, daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte
+dein Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen unserer
+Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen! Vielleicht hätte ich dich sogar
+gehaßt – als Hindernis in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist
+es viel besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen mein Herz
+gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein wenig lieb, so wie du mich
+früher lieb gehabt hast! Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich
+weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber ... aber ... Mein
+Liebling, mein Liebling, du!“
+
+Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals ihn zu unterbrechen,
+doch er beachtete es nicht. Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr
+auszuschütten, was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn fort zu
+sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend erstickender Stimme.
+
+„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht in mich verliebt, so
+würdest du jetzt leben!“ sagte Sina. „Ach, warum, warum haben wir uns
+kennen gelernt!“
+
+„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine Vorwürfe, weil ich
+sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin an allem schuld! Gott,
+wieviel Eigenliebe hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir
+ausführlich meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina! Sieh, hier war
+vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer Räuber und Mörder, als es aber
+zum Bestrafen kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger
+Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht bestrafen würde und so
+verschaffte er sich Branntwein, tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank
+ihn dann aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut und Galle,
+weißt du, und das dauerte so lange an, daß seine Lungen arg darunter
+litten. Er wurde ins Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb
+er an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich dachte damals an
+ihn, an jenem Tage ... du weißt ... nach dem Brief ... und ich beschloß,
+mich ebenso zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb ich
+gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte mich doch erhängen oder
+ertränken können? Glaubst du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ...
+Aber es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht ohne
+schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte doch immer daran, wie
+hübsch es sein würde, wenn ich im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank,
+und du wirst dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du mich
+schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner Reue zu mir kommst,
+auf die Knie vor mir niederfällst ... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen
+Armen ... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“
+
+„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht davon! Du bist nicht so
+... laß uns lieber an anderes denken, an unsere schönen, glücklichen
+Stunden.“
+
+„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich auch davon. Anderthalb
+Jahre lang habe ich dich nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt
+meine ganze Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze Zeit
+seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und es hat, glaube ich,
+dennoch keine Minute gegeben, in der ich nicht an dich gedacht hätte, du
+mein Herzenslieb, mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann! ...
+Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas getan hätte, etwas
+Großes, Gutes, um dich zu zwingen, deine Meinung über mich zu ändern.
+Ich glaubte ja bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde.
+Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch lange mit einer
+kranken Brust umher. – Und wieviel lächerliche Wünsche ich hatte! Zum
+Beispiel dachte ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in
+den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu veröffentlichen, wie
+es bis jetzt noch keines gegeben hat. Ich wollte in ihm alle meine
+Gefühle ausgießen, meine ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein
+mochtest, stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an mich erinnert
+hätte durch meine Verse, und mein schönster Traum war, wie du dann
+endlich nachdenklich werden und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch
+kein so schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka, dumm
+nicht wahr?“
+
+„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend aus.
+
+Sie warf sich über seine Brust und küßte seine Hände.
+
+„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält hat! Ich glaube –
+ich wäre gestorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ
+dich beobachten, ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er
+wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den Mosgljäkoff nicht
+geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh, mein Engel, du! Wirst du dich auch
+jemals meiner erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich nicht
+vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen, dein Herz wird
+abkühlen, erkalten, es wird Winter in der Seele und dann wirst du mich
+doch vergessen, Sinotschka! ...“
+
+„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ... Du bist der erste ...
+der letzte ... ewig werde ich dich lieben!“
+
+„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen ... Sogar unsere
+edelsten Gefühle sterben. An ihre Stelle tritt vernünftiges Denken.
+Weshalb dawider murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe
+glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb gewinnst – man
+kann doch nicht immerfort einen Toten lieben! Nur denk zuweilen auch an
+mich, nur hin und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb
+das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch Gutes gegeben.
+Sinotschka! Oh, die wundervollen, unwiederbringlichen Tage! ... Hör
+mich, mein Engel, ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang
+geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn die Sonne untergeht! Oh, nein,
+nein! Wozu sterben! Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte!
+Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese Zeit! Damals
+war Frühling, die Sonne schien so hell, die Blumen blühten, rings um uns
+schien es Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“
+
+Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand auf das trübe, befrorene
+kleine Fenster. Dann ergriff er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an
+seine Augen und schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen
+schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen.
+
+Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte. Sina tröstete ihn, so
+gut sie es konnte, denn auch sie war fast zu Tode gequält. Sie sagte,
+daß sie ihn nie vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn
+geliebt. Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte, küßte ihre Hände,
+doch die Erinnerungen an das Vergangene brannten in seinem Herzen und es
+war ihm, als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der ganze Tag.
+Marja Alexandrowna hatte inzwischen nicht viel weniger als zehnmal
+nachgeschickt und Sina flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu
+kommen und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich zu
+machen. Endlich in der Dämmerung, vor Angst kaum noch ihrer Sinne
+mächtig, entschloß sie sich, selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre
+Tochter in die andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien an,
+diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz zu stoßen“. Sina
+ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl, was ihre Mutter sprach, begriff aber
+nicht den Sinn der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen vor
+Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung
+wieder fortgehen. Sina hatte beschlossen, in der Hütte bei dem
+Sterbenden zu übernachten.
+
+Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit dem Kranken wurde es immer
+schlechter. Wieder brach der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr
+vorhanden, daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte Mutter ging
+wie eine Irrsinnige umher, als verstehe sie nichts mehr. Sie gab ihrem
+Sohn die Arzneien, die er dann nicht nehmen wollte. Der
+Todeskampf dauerte lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur
+unzusammenhängende, heisere Laute drangen zuweilen aus seiner Brust. Bis
+zum letzten Augenblick sah er immer noch unverwandt Sina an, suchte er
+noch immer ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann,
+suchte seine unsicher irrende Hand immer noch ihre Hände, um sie zu
+drücken. Der kurze Wintertag verging. Und während der letzte
+Sonnenstrahl die Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube rot
+erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf ewig seinen
+abgezehrten Körper.
+
+Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten Wassjä vor
+sich sah, schlug sie die Hände zusammen und warf sich mit einem Schrei
+auf den Toten.
+
+„Das hast du getan, _du_ falsche, arglistige Schlange, _du_ hast ihn
+behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung Sina zu. „_Du_, du verfluchte
+Verführerin, _du_, du Mörderin, _du_, du hast ihn umgebracht!“
+
+Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über den Toten gebeugt.
+Endlich schien sie wieder zu sich zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte
+ihn und verließ fast mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und ihr
+schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die zwei schlaflosen Nächte
+hatten ihren Kopf leer und tot gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre
+ganze Vergangenheit sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und nun ein
+neues Leben begann, ein finsteres, drohendes ... Sie war kaum zehn
+Schritte gegangen, als Mosgljäkoff wie aus der Erde gewachsen vor ihr
+stand. Er schien sie erwartet zu haben.
+
+„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich ängstlichen
+Geflüster und nachdem er sich eilig rings umgeschaut hatte, denn es war
+immerhin noch ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich
+ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich jetzt nicht mehr ein Esel,
+denn, sehen Sie, es war schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber
+ich bereue es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens habe ich mich
+da verhauen, glaube ich ... aber Sie werden es verzeihen ... das hat
+seine verschiedenen Gründe ...“
+
+Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte schweigend ihren Weg
+fort. Da das hohe Brettertrottoir für zwei nebeneinander nicht breit
+genug war und Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte
+ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging neben ihr im
+Schnee der Fahrstraße, während er ihr immer wieder ins Gesicht blickte.
+
+„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe es mir überlegt, und
+wenn Sie wollen, bin ich bereit, meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin
+sogar bereit, alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze
+Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur mit einer
+Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind, das Ganze noch ein
+Geheimnis bleibt. Sie werden möglichst bald von hier fortfahren und ich
+heimlich gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer
+trauen, so daß es niemand hört und sieht und fahren dann sofort nach
+Petersburg, wenn möglich mit unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen
+kleinen Koffer mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda
+Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann nicht so lange warten, man
+könnte uns sehen ...“
+
+Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie sah ihn aber so an,
+daß er sofort alles begriff, den Hut zog und in der ersten Querstraße
+verschwand.
+
+„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern abend war es ihr
+noch so nah gegangen und sie beschuldigte sich vor allen anderen ...
+nahm die ganze Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem
+Tage anders ist!“
+
+Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis gefolgt. Eines davon
+war sogar sehr tragisch: der Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus
+gebracht hatte, war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich
+erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten Morgen. Kalist
+Stanislawitsch verließ den Kranken fast keinen Augenblick. Am Abend fand
+ein Konzilium aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung war ihnen
+in lateinischer Sprache zugesandt worden. Aber ungeachtet der
+lateinischen Sprache verlor der Fürst bereits das Bewußtsein,
+phantasierte, bat Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen
+und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien er plötzlich zu
+erschrecken, worauf er jedesmal des längeren schrie. Die Ärzte kamen in
+ihrer Beratung dahin überein, daß sich beim Fürsten infolge der
+Mordassower Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt habe und
+diese mittlerweile – wahrscheinlich auf dem Wege ins Gasthaus – in den
+Kopf gestiegen sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung
+nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war jedenfalls, daß der
+Fürst schon seit langer Zeit zum Sterben „disponiert“ gewesen und
+deshalb unfehlbar sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch
+nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des dritten Tages.
+Sein Tod überraschte die Mordassower nicht wenig: einen so ernsten
+Ausgang hatte niemand erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause,
+wo die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten sich noch
+mehr, schüttelten die Köpfe und es endete damit, daß die „Mörder des
+unglücklichen Fürsten“ – damit meinte man Marja Alexandrowna und deren
+Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle begriffen, daß dieser
+Zwischenfall allein schon von seiner skandalösen Seite eine unangenehme
+Verbreitung finden und womöglich noch in weite Kreise dringen konnte und
+– doch ist es wohl nicht gut möglich, alles wiederzugeben, was
+gesprochen und befürchtet wurde.
+
+Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald hierhin bald dorthin,
+bis ihm schließlich der Kopf rund ging. In dieser Stimmung war es, daß
+er dann auch mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig: er
+hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst zu Marja Alexandrowna
+und von dieser ins Gasthaus, und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit
+der Leiche tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen? Sollte
+er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er doch gewissermaßen der
+„Neffe“ des Verstorbenen. Er zitterte, wenn er daran dachte, daß man
+vielleicht noch ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben könnte.
+
+„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg dringen, man kann
+sie sogar in der höchsten Gesellschaft erfahren!“ dachte er mit bangem
+Herzen.
+
+Von den Mordassowern war kein Rat zu holen: allen schien plötzlich bange
+zu sein, alle zogen sich von dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in
+einer geradezu düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas ganz
+Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von Grund aus ändern.
+
+Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des Fürsten traf in der Stadt
+ein vornehmer Herr ein. Von diesem Herrn sprach im Augenblick ganz
+Mordassoff, nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll
+von ihm gesprochen, und als er durch die große Straße zum Gouverneur
+fuhr, da lauerte alles nur durch Türspalten und Gardinen auf den hohen
+Gast. Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll etwas betreten
+gewesen sein und nicht gewußt haben, wie er sich zu ihm verhalten
+sollte. Dieser Gast war der ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff,
+ein Verwandter des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann von
+etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes und Achselschnüren.
+Diese Achselschnüre machten einen so mächtigen Eindruck auf die
+Beamtenwelt, daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln
+über den Rücken lief und alle sich strammer hielten. Der Polizeimeister,
+zum Beispiel, verlor ganz und gar den Kopf, d. h. nur bildlich
+gesprochen, versteht sich, also moralisch sozusagen. Physisch erschien
+er in eigener Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht.
+
+Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst Schtschepetiloff aus
+Petersburg gekommen und unterwegs über Duchanowo gefahren war. Da er den
+Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren nach
+Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag die Nachricht vom Tode des
+Verwandten und die Gerüchte über die näheren Umstände und Ursachen
+seiner Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur – soll
+sogar sehr verlegen gewesen sein, als er ihm die nötigen Aufschlüsse
+geben mußte. Übrigens gingen alle Mordassower mit gewissermaßen
+schuldbewußten Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste Fürst
+ein so strenges, unzufriedenes Gesicht hatte, obgleich er doch unmöglich
+über die Erbschaft ungehalten sein konnte?!
+
+Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort selbst in die Hand.
+Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich vor dem wirklichen, nicht nur
+angeblichen Verwandten und verschwand – unbekannt wohin.
+
+Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins Kloster zu schaffen,
+wo auch das Totenamt gehalten werden sollte. Der Fürst gab seine
+Anordnungen trocken, streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und
+sachlich.
+
+Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins Kloster begeben. Unter den
+Damen hatte sich das unsinnige Gerücht verbreitet, daß Marja
+Alexandrowna persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge
+kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld flehen werde und daß
+es so nach dem Gesetz geschehen müsse. Natürlich war das Torheit und
+Marja Alexandrowna dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen. Übrigens
+habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas Rückkehr ins Haus, diese und
+ihre Mutter noch an demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja
+Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt für unmöglich
+gehalten hatte. Von dort aus verfolgte sie aufgeregt die neuen Gerüchte,
+schickte ihre Leute in die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen
+Fürsten in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze Zeit wie im
+Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster nach Duchanowo führte kaum eine
+Werst weit von dem Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so konnte
+diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession verfolgen, die
+sich nach dem Totenamt aus dem Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst
+beigesetzt werden sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen
+geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe von Equipagen hin, die
+dem Leichenwagen bis zum Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen
+und in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die schwarze
+Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder dahin, hinter dem
+hohen, schwarzen Leichenwagen, der sich nur langsam mit
+ehrfurchtgebietender Majestät weiterbewegte. Marja Alexandrowna
+vermochte nicht lange zuzusehen und trat fort vom Fenster.
+
+Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann nach Moskau,
+und nach einem Monat erfuhr man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und
+ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So hatte denn Mordassoff
+auf ewig seine tonangebende, seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich
+ging es auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So wurde zum
+Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt Afanassij Matwejewitsch verkauft
+werde ...
+
+Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann noch ein drittes und
+Marja Alexandrowna geriet fast ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt
+es nun einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch erzählt, daß sie
+sich in einer anderen Gouvernementsstadt niedergelassen und in der
+Nähe derselben ein neues Gut gekauft habe, und daß sie dort
+selbstverständlich wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht
+verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch wozu diese Gerüchte
+wiederholen – es ist ja kein wahres Wort an ihnen.
+
+ * * * * *
+
+Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem ich die letzte Zeile
+dieser schönen Geschichte aus der Mordassower Chronik geschrieben, und
+wer hätte es sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript
+aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung würde hinzufügen
+müssen! Doch zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch
+Mosgljäkoff.
+
+Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg gefahren, wo er
+denn auch glücklich durch Protektion jene gute Anstellung erhalten
+hatte, die ihm schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle
+Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel großstädtischen
+Lebens – auf der Wassiljeff-Insel und am Galeerenhafen – untergetaucht,
+hatte gespielt und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem
+Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten, hatte noch
+einmal einen Korb verwunden, und noch bevor er damit ganz fertig war,
+hatte er sich in seinem Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an
+einer Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete unseres
+grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um dort irgend etwas zu
+revidieren oder zu einem ähnlichen Zweck – genau weiß ich es nicht. Die
+Expedition durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf
+schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des „fernen
+Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab sich zum Generalgouverneur.
+Das war ein strenger General, von großem Wuchs und hager, ein alter
+Krieger mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt, mit zwei
+Sternen auf der Brust und einem weißen Kreuz am Halse. Würdevoll und
+gemessen empfing er die Expedition und lud darauf alle Vertreter
+derselben zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages zur Feier
+des Namenstages der Generalgouverneurin gegeben werden sollte.
+Mosgljäkoff war sehr zufrieden damit. Er warf sich in seinen
+tadellosesten Petersburger Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu
+machen gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten den
+festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort etwas bescheidener, als er
+plötzlich so unerwartet viele Uniformen mit dick-gewundenen goldenen
+Raupen auf den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor sich
+sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin, von der er gehört
+hatte, daß sie jung und schön sei, seinen Bückling machen. Er begab sich
+flott und selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm
+stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck,
+stolz, schön und hochmütig.
+
+Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig über sein Gesicht
+und sie wandte sich dann an einen anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt
+trat Mosgljäkoff zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen jungen
+Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben schien, seitdem er sich auf
+dem Ball beim Generalgouverneur befand: Mosgljäkoff machte sich sofort
+daran, ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante Dinge.
+Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur erst vor zwei Jahren
+geheiratet habe, als er einmal aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau
+gereist war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen und
+vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar schön“, ja man könne sie
+sogar die schönste aller Schönheiten nennen, nur sei sie sehr stolz und
+tanze nur mit Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle,
+sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen Staatsräte mit
+inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin eine Mutter habe, die auch
+hier bei ihr lebe, und daß diese Frau Mutter aus der höchsten
+Gesellschaft stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber selbst die Frau
+Mutter sich widerspruchslos dem Willen ihrer Tochter unterordne und der
+Generalgouverneur bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei.
+Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij Matwejewitsch, aber
+im „fernen Grenzgebiet“ hatte man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu
+sich gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden Zimmer und fand
+bald auch Marja Alexandrowna, die prächtig aufgeputzt sich mit einem
+teuren Fächer zufächelte und äußerst lebhaft mit einem der höchsten
+Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer Kreis gebildet,
+offenbar Bewerber um ihre Gunst – und sie – sie war zu allen sehr
+liebenswürdig.
+
+Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja Alexandrowna schien im
+ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken, faßte sich aber sofort. Mit
+liebenswürdigem Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen, hierauf
+erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten und fragte ihn unter
+anderem auch, weshalb er nicht im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff
+erwähnte sie mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt hätte.
+Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines wichtigen Petersburger
+Fürsten genannt und sich nach seinem Befinden erkundigt hatte –
+Mosgljäkoff hatte keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und
+inwiefern Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein konnte – wandte sie
+sich unauffällig an einen auf sie zutretenden Würdenträger, dessen
+Haupthaar schon silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie
+den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen. Mit
+sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand, kehrte er in den großen
+Ballsaal zurück. Er glaubte sich verletzt und sogar beleidigt und
+beschloß daher, nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft
+eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend teuflisches
+Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule gelehnt – der Saal war wie
+absichtlich mit Säulen versehen – stand er während des ganzen Balles auf
+einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina mit seinen
+Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen, ungewöhnlichen
+Stellungen, verzweifelten Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina
+bemerkte ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich mit steifen
+Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen Stehen – wütend, gereizt und mit
+mordsmäßigem Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch nicht
+zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier zurück. Er fühlte
+sich vollkommen erschöpft und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er
+in seinem Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes. Am
+nächsten Morgen mußte auf Grund einer inzwischen eingetroffenen
+Nachricht jemand von der Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff
+bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ, atmete er
+förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder neue Lebensgeister in sich.
+Auf der ungeheuren flachen Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern,
+fern am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder hin.
+
+Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine Lust war, und die
+Hufe schleuderten feste Schneestückchen auf die Schlittendecke.
+
+Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang weit durch die klare
+Winterluft. Mosgljäkoff wurde nachdenklich, schließlich träumerisch und
+dann schlief er seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte
+er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken.
+
+
+
+
+ Die fremde Frau
+ und der Mann unter dem Bett
+
+
+ I.
+
+„Verzeihung, mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“
+
+Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte etwas erschrocken einen
+Herrn in einem Waschbärpelz an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr
+abends auf der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder
+Petersburger, wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße plötzlich anredet,
+auch wenn er es noch so höflich tut.
+
+Also der Vorübergehende zuckte zusammen und erschrak ein wenig.
+
+„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der Herr im Waschbärpelz
+fort, „aber ich ... ich, wirklich, ich weiß nicht ... Sie werden mich,
+hoffe ich, entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus der
+Fassung gebracht ...“
+
+Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche – einem kürzeren
+Pelzüberrock –, daß der Herr im Waschbärpelz allerdings nichts weniger
+als gefaßt aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine Stimme
+unsicher, und seine Gedanken schienen sich gänzlich verwirrt zu haben:
+schnell und unüberlegt stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an,
+daß es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem Rang und der
+gesellschaftlichen Stellung nach offenbar unter ihm stehende
+Persönlichkeit zu wenden. Hinzu kam noch, daß diese Bitte an und für
+sich höchst peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen so soliden
+Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack und so bedeutsame Abzeichen
+auf diesem Frack trug, zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles
+dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen bewußt, und es
+verwirrte ihn so sehr, daß er seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen
+konnte, seine Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen
+der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen hatte, ein Ende
+machte.
+
+„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise nicht ganz bewußt.
+Aber Sie kennen mich nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß
+ich Sie aufgehalten habe ...“
+
+Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell.
+
+„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“
+
+Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits in der Dunkelheit
+verschwunden, und dem jungen Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt
+nachzusehen.
+
+„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich verwundert, stand noch ein
+Weilchen und vergaß dann den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen
+Gedanken zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße auf und nieder
+zu gehen begann, ohne dabei die Tür eines endlos hohen Hauses aus dem
+Auge zu lassen. Es war neblig geworden, was dem jungen Mann eine Sorge
+vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte sein unermüdliches Hin- und
+Hergehen den Menschen weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem
+müßigen Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren
+Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete.
+
+„Entschuldigen Sie!“
+
+Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah zu seiner Verwunderung
+wieder jenen Herrn im Waschbärpelz vor sich stehen.
+
+„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann er von neuem, „doch Sie
+... Sie sind ganz gewiß ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht
+... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten
+Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es nicht das, was ich sagen wollte.
+Aber ... fassen Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein Herr,
+steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden Bitte an Sie wenden muß
+...“
+
+„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt es sich?“
+
+„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten will!“ Der
+geheimnisvolle Herr verzog den Mund zu einem Lächeln, erbleichte und
+lachte hysterisch auf.
+
+„Aber ich bitte Sie ...“
+
+„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen Sie, aber ich
+kann mich selbst nicht ertragen! Betrachten Sie mich als einen
+Unzurechnungsfähigen, einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht
+etwa –“
+
+„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der junge Mann, zwar in
+aufmunterndem Tone, doch mit merklich ungeduldigem Kopfnicken.
+
+„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger Mann wie Sie – erinnern
+mich an das Wichtige, ganz als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich
+muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als was erscheine ich
+Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung, sagen Sie es mir aufrichtig?“
+
+Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an, sagte jedoch nichts.
+
+„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben Sie hier nicht eine
+Dame gesehen? Darin besteht meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich
+der Herr im Waschbärpelz kurz entschlossen.
+
+„Eine Dame?“
+
+„Jawohl, eine Dame.“
+
+„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind ihrer so viele hier
+vorübergegangen ...“
+
+„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle kleine Herr mit einem
+bitteren Lächeln. „Ich bin etwas zerstreut und verwirrt im Kopf, es war
+nicht das, was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine
+Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze aus dunklem Samt und einem
+schwarzen Schleier gesehen haben?“
+
+„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein, ich glaube, eine
+solche nicht bemerkt zu haben.“
+
+„Ah! dann – entschuldigen Sie!“
+
+Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas fragen, doch der Herr
+im Waschbärpelz war bereits wieder verschwunden und sein geduldiger
+Zuhörer konnte ihm wieder nur verdutzt nachsehen.
+
+„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich bei sich, zog offenbar
+ärgerlich seinen Biberkragen fester um den Hals und nahm von neuem den
+unterbrochenen Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln zu
+vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen.
+Er ärgerte sich.
+
+„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er. „Bald ist es acht Uhr!“
+
+Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht.
+
+„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“
+
+„Entschuldigen Sie! ...“
+
+„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen mir so plötzlich vor
+die Füße, daß ich geradezu erschrak,“ entschuldigte sich der junge Mann,
+doch klang es diesmal schon fast unwirsch.
+
+„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß ich Ihnen seltsam
+erscheinen ...“
+
+„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären. Ich habe bis
+jetzt noch nicht erfahren können, was Sie eigentlich von mir wünschen
+...“
+
+„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie mal. Ich werde Ihnen alles
+ganz offen erzählen, ohne ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die
+Umstände bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was ihre Charaktere
+betrifft, im Grunde ganz verschieden sind ... Doch ich sehe, Sie sind
+ungeduldig, junger Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich nicht
+einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich suche eine Dame – Sie
+sehen, ich habe mich schon entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie
+gesagt, unbedingt erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin
+diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke ich, wird Sie nicht
+interessieren, junger Mann.“
+
+„Nun, nun, weiter! weiter!“
+
+„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt, verzeihen Sie, vielleicht
+hat es Sie gekränkt, daß ich Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich
+versichere Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn Sie mir einen
+unermeßlichen Gefallen erweisen wollten, dann also, wie gesagt: diese
+eine Dame ... das heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige
+Dame ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt bin ... und
+da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen Sie, ich habe selbst keine
+Familie ...“
+
+„Nun und?“
+
+„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger Mann! – Ach, wieder!
+Verzeihen Sie, bitte! Ich nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick
+ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame ... aber können
+Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem Hause wohnt?“
+
+„Ja ... hier wohnen sehr viele.“
+
+„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte schnell der Herr
+im Waschbärpelz und er lachte kurz auf, wie um die Situation zu retten.
+„Ich sehe, daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb
+schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie sehen, gebe ich doch
+offenherzig zu, daß ich mich nicht ganz treffend ausgedrückt habe, so
+daß Sie, wenn Sie ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge
+erniedrigt gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame von anständigem
+Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich
+bin so verwirrt. Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da hat
+man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de Kocks Romane leichten
+Inhalts seien, während doch bei seinen Romanen das ganze Malheur, wie
+gesagt ... nun eben ...“
+
+Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im Waschbärpelz an, der sich
+schließlich rettungslos verwirrt hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln
+ansah, während seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund immer
+wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen griff.
+
+„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge Mann, ein wenig
+zurückweichend.
+
+„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“
+
+„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter anderen Ssofja
+Osstafjewna,“ sagte der junge Mann flüsternd und sogar mit einem
+gewissen Mitgefühl.
+
+„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt etwas Näheres, junger
+Mann!“
+
+„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ... Ich habe nur so
+kombiniert, so nach Ihrem verstörten Aussehen ...“
+
+„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren, daß sie in dieses
+Haus hier geht; doch Sie sind in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das
+heißt, ich will sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ...
+sie kennt sie ja gar nicht ...“
+
+„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“
+
+„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert, junger Mann,“ bemerkte
+der seltsame Herr mit bitterer Ironie.
+
+„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas unsicher, „ich kenne
+allerdings nicht die Ursache Ihrer gegenwärtigen ... Verfassung, aber
+sagen Sie doch offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“
+
+Der junge Mann lächelte verständnisvoll.
+
+„... Wir werden uns dann wenigstens schneller verstehen,“ fügte er
+lächelnd hinzu und seine ganze Gestalt verriet die großmütige
+Bereitwilligkeit, sogleich eine leichte Verbeugung zu machen.
+
+„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe Ihnen ganz offen –
+Sie haben vollkommen erraten, um was es sich – ... Aber wem kann das
+nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief. Unter jungen
+Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch zugeben ... Übrigens bin ich ja
+nicht mehr ganz jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das
+Junggesellenleben, wie gesagt, unter uns Junggesellen, na, Sie wissen
+schon ...“
+
+„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit kann ich Ihnen nun
+dienen?“
+
+„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch bei Ssofja Osstafjewna
+... Übrigens weiß ich noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame
+begeben hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause befindet. Als
+ich Sie nun hier auf und ab gehen sah – ich selbst spazierte dort auf
+jener Seite – dachte ich, wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich
+diese Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich mit ihr
+zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig auseinandersetzen, wie
+wenig anständig, wie schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie
+verstehen mich ...“
+
+„Hm! Nun?“
+
+„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie nur nicht etwa ... O nein!
+Das ist eine ganz fremde Frau! Der Mann steht dort auf der
+Wosnessenskij-Brücke; er will sie hier überrumpeln, kann sich aber nicht
+entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder Gatte ...“ Hier
+machte der Herr im Waschbärpelz wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich
+bin nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir doch zugeben, daß
+ich als Mensch, der sich sozusagen einer gewissen, allgemeinen Achtung
+erfreut, nicht wohl derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten
+offenbar geneigt sind, – das ist doch klar!“
+
+„Selbstverständlich. Nun, und?“
+
+„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin beauftragt – Sie
+verstehen – Der arme Mann! Aber ich weiß, daß die listige junge Frau –
+ewig hat sie einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin
+überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt
+durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen gestanden, nur die Köchin
+gesagt, daß sie hierhergehe, und da bin ich denn wie ein Sinnloser
+hergestürzt, kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer habhaft
+werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich habe ja schon längst
+Verdacht geschöpft. Deshalb wollte ich Sie fragen – Sie gehen hier auf
+und ab ... Sie ... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“
+
+„Ja, _was_ denn? Was wünschen Sie zu wissen?“
+
+„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht das Vergnügen, Sie zu
+kennen, und, offen gestanden, ich wage auch gar nicht, eine solche
+Neugierde zu bekunden, zum Beispiel, ... ich meine ... wer und ... was
+... und weshalb ... Jedenfalls aber werden Sie erlauben, daß wir uns,
+wie gesagt ...“
+
+Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die Hand des jungen Mannes
+und schüttelte sie kräftig und mit glühender Aufrichtigkeit.
+
+„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich sogleich tun sollen,“
+fuhr er erregt fort, „aber man ist mitunter so zerfahren, daß man alles
+vergißt!“
+
+Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still stehen, blickte nach
+links, nach rechts, trat von einem Bein aufs andere, fast zappelnd vor
+Ungeduld, und griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm,
+fortwährend nach einem Knopf oder einem Aufschlag der Pekesche des
+jungen Mannes.
+
+„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in voller Freundschaft
+an Sie wenden – verzeihen Sie die Freiheit – und wollte Sie bitten:
+könnten Sie nicht dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses,
+wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so, wissen Sie, hin
+und her? Und ich – ich werde dasselbe tun, bloß hier, vor dem
+Haupteingang, damit sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen
+Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne vielleicht doch
+unbemerkt durchschlüpfen. Das aber darf auf keinen Fall geschehen. Und
+Sie, sobald Sie sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie und
+halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich bin verrückt! Jetzt erst
+begreife ich die ganze Dummheit und Unanständigkeit meines Vorschlages!“
+
+„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“
+
+„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. Ich bin
+unzurechnungsfähig, ich ... ich kann meine Gedanken nicht mehr
+zusammenhalten! Das ist mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich
+mein Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen – ich bin ganz
+offen und ehrlich mit Ihnen, junger Mann – ja, ich habe anfangs _Sie_
+für den Liebhaber gehalten!“
+
+„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was ich hier tue?“
+
+„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei mir fern, daß _Sie_ der
+Betreffende sein könnten! Es sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur
+in Gedanken mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ... aber können Sie
+mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß Sie kein Liebhaber sind? ...“
+
+„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber bin, nur nicht
+derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre ich jetzt nicht auf der Straße,
+sondern bei ihr, wie Sie wohl zugeben werden.“
+
+„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann? Ich bin
+unverheiratet, bin, wie gesagt, Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja
+... ich bin selbst ein Liebhaber ...“
+
+„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der Brücke ...“
+
+„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe? Aber sehen Sie, es gibt
+noch andere ... Verwicklungen! Und Sie werden mir doch zugeben, junger
+Mann, daß eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden
+Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“
+
+„Schon gut, schon gut, aber um was ...“
+
+„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“
+
+„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber jetzt bitte ich Sie,
+nachdem ich Sie beruhigt habe, auch mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen
+das leichter wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu rufen.
+Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben, sich zurückzuziehen und mir
+den Weg gefälligst frei zu geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“
+
+„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen! Ich kann
+Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld Ihres Herzens nur zu gut
+nachfühlen. Ich verstehe das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt
+verstehe!“
+
+„Ja, was ...“
+
+„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie, junger Mann, ich komme
+wieder zu Ihnen ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ...
+Geben Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der Liebhaber
+sind!“
+
+„Herr des Himmels! ...“
+
+„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der Familienname des Mannes
+Ihrer ... das heißt, ich wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie
+sich interessieren?“
+
+„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist es nicht der
+Ihrige. Doch jetzt basta!“
+
+„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“
+
+„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen Sie, daß Sie davon kommen.
+So verlieren Sie nur Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal
+unbemerkt aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen Sie denn noch? Die, die
+Sie suchen, ist in einem Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die,
+die ich suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues Samthütchen
+... Was wollen Sie mehr?“
+
+„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja gleichfalls einen karierten
+Umwurf und ein solches Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der
+plötzlich wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand.
+
+„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall, mein Herr, so etwas
+kommt vor. Doch wozu rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt
+ja nicht dorthin zu gehen!“
+
+„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die _Sie_ erwarten?“
+
+„Interessiert Sie das?“
+
+„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“
+
+„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt kein Schamgefühl! Na,
+zum Kuckuck, ich will es Ihnen sagen: die, die _ich_ erwarte, hat hier
+Bekannte in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses. So, und
+was wollen Sie jetzt noch wissen? Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch
+die Namen zu hören wünschen!“
+
+„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten Stockwerk, hier im
+Vorderhause ... General ...“
+
+„General? ...“
+
+„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, auch sagen, welch
+ein General ... es ist General Polowizyn.“
+
+„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“ versetzte er schnell gefaßt
+– im geheimen aber fluchte er ganz gotteslästerlich:
+
+„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“
+
+„Nicht die?“
+
+„Nein.“
+
+Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos einander an.
+
+„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“ fuhr plötzlich der junge
+Mann auf, ärgerlich die Starrheit von sich abschüttelnd.
+
+Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig.
+
+„Ich, ich, offen gestanden ...“
+
+„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig reden. Die
+Sache geht uns beide an. Erklären Sie mir: wen haben Sie dort?“
+
+„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“
+
+„Ja, Ihre Bekannten ...“
+
+„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren Augen an, daß ich es
+erraten habe!“
+
+„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel! Sind Sie denn etwa
+blind? Ich stehe doch leibhaftig vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei
+ihr sein. Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der Teufel, mir
+ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie reden oder nicht!“
+
+Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem Absatz um, schlug mit der
+Hand eine bezeichnende Gebärde und stampfte sogar mit dem Fuß auf.
+
+„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich bin gern bereit, Ihnen
+als einem Ehrenmanne alles zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein
+zu ihnen – sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen – und ich ahnte
+natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht lag mir vollkommen fern.
+Gestern aber traf ich auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu
+meiner Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen die
+Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber ... das heißt, was sage ich!
+– nicht _meine_ Frau, sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet,
+wie gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese Dame also hat aber
+gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen bei ihnen gewesen sei und zwar hier
+in dieser Wohnung ... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß die Wohnung
+Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn mit Namen, gemietet habe ...“
+
+„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“
+
+„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“
+
+„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich an, ob Sie außer sich sind
+oder nur entsetzt! Ach! Da, da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen
+Sie?“
+
+„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘ und ich komme sofort ...“
+
+„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher doch noch nicht
+vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“
+
+„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und kehrte wie der Wind
+zurück, atemlos vor Schreck und Aufregung. „Was? was? Wo?“
+
+„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß wissen, wie diese
+Dame heißt?“
+
+„Glaf...“
+
+„Glafira ...?“
+
+„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ... verzeihen Sie, aber ich
+kann Ihnen ihren Namen nicht nennen.“
+
+Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß wie Kalk.
+
+„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira, das weiß ich
+selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch jene heißt nicht Glafira ...
+Doch übrigens, bei wem ist sie denn dort?“
+
+„Wo?“
+
+„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der Henker drein!“
+
+Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille stehn vor Wut.
+
+„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß sie Glafira heißt?“
+
+„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch Sie noch auf dem Halse!
+Aber Sie sagen doch selbst, daß diejenige, die _Sie_ suchen, nicht
+Glafira heißt! ...“
+
+„Mein Herr, welch ein Ton!“
+
+„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um den Ton zu tun! Was
+ist sie denn? – Ihre Frau etwa?“
+
+„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ... Nur finde ich es
+anstößig, so einem unglücklichen Menschen, so einem Menschen, der – ich
+will nicht sagen: der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch so
+einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort ‚hol’s der Teufel‘ zu
+sagen. Von Ihnen aber hört man ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s
+der Teufel, hol’s der Teufel‘!“
+
+„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da haben Sie es wieder,
+freuen Sie sich darüber!“
+
+„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige ich. Mein Gott, wer
+ist das?“
+
+„Wo?“
+
+Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig gekleidete Mädchen traten
+aus dem Hause. Beide Herren stürzten ihnen entgegen.
+
+„Nein! So sehen Sie doch! ...“
+
+„Was wollen Sie?“
+
+„Nein, das ist sie nicht!“
+
+„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? – He! Droschke!“
+
+„Wohin will sie denn, Fräulein?“
+
+„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“
+
+„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los! Aber daß du schnell
+fährst ...“
+
+Die Droschke fuhr davon.
+
+„Woher mögen die gekommen sein?“
+
+„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber sollte man nicht hingehen?“
+
+„Wohin?“
+
+„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“
+
+„Nein, das geht nicht ...“
+
+„Weshalb nicht?“
+
+„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas anderes, sie ...
+würde den Spieß umdrehen; ich kenne sie! Sie würde sagen, daß sie
+absichtlich gekommen sei, um mich bei irgend einer zu überraschen und
+damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“
+
+„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist! Ja aber, hören Sie –
+ich weiß nicht – aber weshalb schließlich nicht den Versuch riskieren?
+Hören Sie, gehen Sie zum General ...“
+
+„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“
+
+„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist doch hingegangen, und
+Sie gehen gleichfalls hin – verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie
+nichts von seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen
+Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen, nun und so
+weiter!“
+
+„Und dann?“
+
+„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen bei Bobynizyn. Pfui
+Teufel, ist das aber ein Rüp...“
+
+„Ja, aber was haben _Sie_ denn davon, wenn ich dort jemanden ertappe?
+Sehen Sie, sehen Sie!“
+
+„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach du Grundgütiger! Haben Sie denn
+schon jegliches Schamgefühl verloren, Sie ...“
+
+„Ja, aber weshalb regen _Sie_ sich denn deshalb so auf? Offenbar wollen
+Sie wissen ...“
+
+„Was? was will ich wissen? was? Ach nun, zum Teufel mit Ihnen, jetzt
+ist’s mir nicht um Sie zu tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie,
+gehen Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie, nun, aber
+schnell!“
+
+„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr im Waschbärpelz
+verzweifelt.
+
+„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“ fragte der junge Mann
+durch die Zähne, in seiner Wut mit geballter Faust auf den Herrn im
+Waschbärpelz eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber vergesse ich mich?!“
+knirschte er zornbebend.
+
+„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“
+
+„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse, wer, wie ist Ihr
+Name?“
+
+„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll, junger Mann. Wozu denn
+meinen Namen? ... Ich, ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen
+gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben, ich bin zu allem
+bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich habe wirklich höflichere Ausdrücke
+verdient! Man soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn Sie
+aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung gebracht sind – und ich
+errate die Ursache – so brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu
+vergessen ... Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“
+
+„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind! Machen Sie, daß Sie
+fortkommen, was laufen Sie hier herum? ...“
+
+„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch noch gar nicht so alt!
+Allerdings, daß ich es schon weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe
+durchaus nicht hier herum ...“
+
+„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich zum Teufel ...“
+
+„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe; das können Sie mir nicht
+verbieten; ich bin gleichfalls beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“
+
+„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“
+
+Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf zum dritten Stockwerk.
+Es war ziemlich dunkel.
+
+„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“
+
+„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“
+
+„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“
+
+„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich ...“ Der Herr im
+Waschbärpelz befühlte hastig alle seine Taschen.
+
+„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür muß es sein ...“
+
+„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“
+
+„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch lauter! Können Sie denn
+nicht still sein? Halten Sie den Schnabel.“
+
+„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt, ich, ich muß mir Gewalt
+antun ... Sie sind ein ungezogener, frecher Mensch!“
+
+Das Streichholz flammte zischend auf.
+
+„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da steht ja: Bobynizyn; sehen Sie:
+Bobynizyn? ...“
+
+„Ich sehe, ich sehe!“
+
+„Lei–se! Was, ausgelöscht?“
+
+„Ja, ausgelöscht.“
+
+„Soll man klopfen?“
+
+„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz.
+
+„Dann klopfen Sie!“
+
+„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen Sie zuerst an die Tür.“
+
+„Memme!“
+
+„Sie sind selbst eine Memme!“
+
+„So packen Sie sich doch!“
+
+„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis eingeweiht zu
+haben. Sie ...“
+
+„Ich? Nun, was?“
+
+„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie haben gesehen, wie ich
+...“
+
+„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur lächerlich und damit basta!“
+
+„Weshalb sind Sie denn hier?“
+
+„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“
+
+„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte höchst unwillig der Herr
+im Waschbärpelz.
+
+„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn selbst?“
+
+„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“
+
+„Was?“
+
+„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte Gatte ein ... ein
+Pantoffelheld!“
+
+„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet doch dort auf der Brücke?
+Weshalb regen Sie sich denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt
+in fremde Angelegenheiten?“
+
+„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der Liebhaber sind! ...“
+
+„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen, daß meiner
+Überzeugung nach kein anderer – Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie!
+Es gibt aber auch noch eine andere Benennung dafür.“
+
+„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann bin!“ versetzte der Herr
+im Waschbärpelz wie mit heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen
+Schritt zurückweichend.
+
+„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“
+
+„Das ist sie!“
+
+„Nein!“
+
+„Wie dunkel es hier ist.“
+
+Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der Wohnung Bobynizyns ließ
+sich allerdings Geräusch vernehmen.
+
+„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“ flüsterte der Kleine im
+Waschbärpelz.
+
+„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster beleidigt gefühlt!“
+
+„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“
+
+„Schweigen Sie!“
+
+„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch sehr junger Mann sind
+...“
+
+„Schweigen Sie! zum ...“
+
+„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen einverstanden, daß der
+Gatte in einer solchen Lage ein Pantoffelheld ist ...“
+
+„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch einmal!“
+
+„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des unglücklichen Gatten?
+...“
+
+„Das ist sie!“
+
+Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch.
+
+„Ist sie es?“
+
+„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn so auf? Was geht das
+Sie als fremden Menschen an?“
+
+„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im Waschbärpelz mit
+versagender, erstickender Stimme, aus der es fast wie ein Schluchzen
+klang. „Ich ... versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich
+zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht, aber morgen ...
+übrigens werden wir uns morgen sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich
+mich nicht zu fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens bin ja
+gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie gesagt, der auf der
+Wosnessenskij-Brücke wartet. Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist
+seine Frau, wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich ... ich
+versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm bekannt; erlauben Sie, ich
+werde Ihnen alles erzählen. Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn –
+würde ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück nehmen? Und
+Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja selbst gesagt, unzählige Mal gesagt:
+wozu heiratest du? Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht
+wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen Posten, weshalb also
+willst du das alles gegen die Launen einer Koketten eintauschen? oder
+zum mindesten doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein, aber, –
+ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ... Da hat er jetzt sein
+Familienglück! Zuerst hatte er selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam
+die Reihe an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen,
+diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit entrissen! ... Er ist
+ein unglücklicher Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“
+
+Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz zu versagen und der
+junge Mann hörte so etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen
+Ernstes zu weinen begonnen.
+
+„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch wahrlich genug
+Dummköpfe in der Welt! Wer sind Sie denn eigentlich?“
+
+Der junge Mann knirschte vor Wut.
+
+„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ... ich handelte edel und
+offen ... Sie aber schlagen jetzt wieder einen solchen Ton an!“
+
+„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter Familienname?“
+
+„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen zu schaffen?“
+
+„Ah!!“
+
+„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu nennen ...“
+
+„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich der junge Mann.
+
+„Schabrin!!!“
+
+„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte sich, die Stimme des
+älteren ein wenig nachzuäffen. „Haben Sie jetzt begriffen?“
+
+„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte mit hervorquellenden
+Augen der Herr im Waschbärpelz. „Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein
+Ehrenmann, ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten kann ich
+mir nur durch Ihre Eifersucht erklären, die Sie vollkommen
+unzurechnungsfähig macht.“
+
+„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine käufliche Seele, ein
+Prozentschneider, ein Betrüger, der die Kasse bestohlen hat! Bald wird
+er vors Gericht gebracht werden!“
+
+„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz, der bleich geworden
+war, „Sie kennen ihn nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen
+unbekannt sein.“
+
+„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne ich aber um so
+besser das Wesen seiner werten Person aus gewissen ihm sehr
+nahestehenden Quellen.“
+
+„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ... so zerstreut, wie Sie sehen
+...“
+
+„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein eifersüchtiger Pantoffelheld,
+der seine Frau nicht zu bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich
+damit ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“
+
+„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen sich in Ihrem Eifer,
+junger Mann ...“
+
+„Ach!“
+
+„Ach!“
+
+In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch vernehmen. Die Tür
+wurde aufgeschlossen, Stimmen wurden laut.
+
+„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne ihre
+Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ... Glauben Sie mir, das ist sie
+nicht!“ versicherte der Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während
+sein Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde.
+
+„Schweigen Sie!“
+
+Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um nicht gesehen zu werden.
+
+„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich sehr.“
+
+„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie!“
+
+„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“
+
+„Weshalb gehen Sie denn nicht?“
+
+Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im Waschbärpelz eilte wie der
+Blitz die Treppe hinab.
+
+Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame vorüber und sein Herz
+drohte stille zu stehen ... Er vernahm nur eine helle, bekannte
+Frauenstimme und dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz
+unbekannt war.
+
+„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten nehmen,“ sagte die
+rauhe Stimme.
+
+„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“
+
+„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“ Und damit
+verschwand der Herr. Die Dame blieb allein zurück.
+
+„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der junge Mann in der Pekesche,
+die Dame am Handgelenk fassend.
+
+„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff? Mein Gott im Himmel! Was
+tun Sie hier?“
+
+„Wer war jener Herr?“
+
+„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie, gehen Sie, er wird
+sogleich zurückkehren ... von Polowizyns. So gehen Sie doch fort, um
+Gottes willen, gehen Sie!“
+
+„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor drei Wochen ausgezogen!
+Ich weiß alles!“
+
+„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie konnte die Treppe hinab.
+Der junge Mann holte sie aber doch noch ein.
+
+„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame.
+
+„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch, der sich hier in
+nächster Nähe befindet, der – vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“
+
+Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz – stand in der Tat
+auf der Treppe dicht vor seiner Gemahlin.
+
+„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl.
+
+„Ah, ^c’est vous^?“ rief Glafira Petrowna, die mit ungefälschter Freude
+zu ihm stürzte. „O Gott! Was mir alles zugestoßen ist! Ich war bei
+Polowizyns; und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen jetzt
+an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt du noch? Und dort stieg
+ich in einen Schlitten. Die Pferde scheuten, jagten dahin,
+zerschmetterten den Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von
+hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde aufs Polizeibureau
+gebracht; ich war natürlich außer mir. Zum Glück kam da Monsieur
+Tworogoff ...“
+
+„Was?“
+
+Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem es zur Salzsäule geworden,
+als Herrn Tworogoff.
+
+„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so liebenswürdig, mich zu
+begleiten. Doch jetzt sind Sie hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach
+Hause fahren, und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich Sie meiner
+ganzen Dankbarkeit versichere.“
+
+Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten Herrn Tworogoff die
+Hand, die sie aber so stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte.
+
+„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn ihrem Gatten vor. „Ein
+Bekannter von mir. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei
+Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich dir von ihm schon
+erzählt habe? Entsinnst du dich nicht, Coco?“
+
+„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut entsinne ich mich!“
+versicherte eilfertig der Herr im Waschbärpelz, der Coco genannt worden
+war. „Freut mich, freut mich ungemein!“
+
+Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte des Herrn Tworogoff.
+
+„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn das zu bedeuten? Ich warte ...“
+ertönte plötzlich eine rauhe Stimme.
+
+Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer Herr, der ein Lorgnon
+hervorzog und den Herrn im Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann.
+
+„Ach, ^voilà^ Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in den süßesten Tönen.
+„Woher kommen Sie denn, wenn man danach fragen darf? Das nenne ich eine
+Begegnung! Denken Sie sich, mich haben die Pferde soeben aus dem
+Schlitten geworfen ... Doch hier mein Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich
+auf dem Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“
+
+„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich ein Gefährt
+besorgen, mein Kind.“
+
+„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich bebe von dem
+Schreck. Mir ist gar nicht wohl ... Heute abend auf dem Maskenball,“
+flüsterte sie schnell Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl,
+Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen auf dem Ball bei
+Karpoffs wiedersehen?“
+
+„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein; ich werde morgen ...
+wenn es jetzt nicht geht ...“ brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen
+den Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war, machte mit
+seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte sich in seinen Schlitten und
+fuhr von dannen.
+
+Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame setzte sich hinein, doch
+der Herr im Waschbärpelz zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war
+er noch nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit völlig
+sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen Mann in der Pekesche an,
+worauf dieser nichts als ein Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln,
+das auffallend wenig geistreich war.
+
+„Ich weiß nicht ...“
+
+„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,“ versetzte der
+junge Mann mit einem leichten Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da
+er plötzlich so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte, wie
+sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ...
+
+„Freut mich, freut mich sehr ...“
+
+„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“
+
+„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Ich habe mir immer
+Gummigaloschen anschaffen wollen ...“
+
+„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren, sagt man,“
+bemerkte der junge Mann, allem Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme.
+
+„Jean! So komm doch endlich!“
+
+„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man hört. Sogleich, sogleich,
+Herzchen, im Augenblick, wir haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja,
+gerade wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren ...
+Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“
+
+„O, ich bitte!“
+
+„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben
+...“
+
+Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine Gemahlin in den
+verdeckten Schlitten. Die Pferde griffen aus.
+
+Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich und blickte dem
+entschwundenen Paare verwundert nach.
+
+
+ II.
+
+Am Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen Oper“ irgendeine
+Aufführung statt. Der Saal war bereits brechend voll und der erste Akt
+hatte schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter
+Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem Platz schoß.
+Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch, der Besitzer jenes Waschbärpelzes.
+Noch nie hatte man ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt, wie
+er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war aber um so befremdender,
+als man die Vorliebe Iwan Andrejewitschs, sich im Saale der
+„Italienischen Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den Armen wiegen
+zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen Armen durch mehr oder minder
+vernehmbares Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte. Auch
+hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön es sei, im Traum die
+Primadonna „so zärtlich wie ein weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne
+durch das Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich schon
+lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens ein halbes Jahr, wenn
+nicht länger. Jetzt war alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan
+Andrejewitsch nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem Bette schlafen
+...
+
+Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal geschossen, dieses fast
+fünfzigjährige graue Männchen – das übrigens doch noch nicht ganz grau
+war. Mit einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang, und – o,
+Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie war hier! Sie saß in einer
+Loge mit General Polowizyn, dessen Gattin und Schwägerin. Und in
+derselben Loge befand sich noch der Adjutant des Generals – ein äußerst
+gewandter und liebenswürdiger Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ...
+
+Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur größtmöglichen Schärfe
+an, doch – o, Angst und Pein! Dieser Unbekannte in Zivil machte sich
+hinter dem Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig
+unkenntlich.
+
+Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt nicht hier sein
+werde!
+
+Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira Petrowna auf Schritt und
+Tritt an den Tag legte, war es, was den guten Iwan Andrejewitsch
+vernichtete! Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends zur
+Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank er in seinen Sessel.
+Weshalb nur diese Verzweiflung, fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war
+doch sehr einfach ...
+
+Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in seiner Verzweiflung hatte
+niedersinken lassen, befand sich dicht an den Parterrelogen und in
+gerader Linie unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn
+nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten Ungemach nicht einmal
+sehen konnte, was dort vor sich ging. Wie verständlich ist’s daher, daß
+die Wut in ihm wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom ganzen
+ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt, das Beste an der Musik sei,
+daß man sie mit jedem beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer
+sich freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen Trauer –
+was will man mehr? Doch in den Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein
+ganzer Sturm zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen Seiten
+so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein Herz müsse zerspringen.
+Endlich war der erste Akt zu Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der
+Vorhang sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames, daß die
+Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben.
+
+Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der Brüstung einer der
+höchsten Logen ein Theaterzettel langsam herabfällt. Ist das betreffende
+Schauspiel langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm damit
+eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu teilnahmsvoll verfolgen
+die Blicke den im Zickzack zurückgelegten Flug des weichen, leichten
+Papiers, wobei sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche
+Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt, über dem
+buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es ist allerdings auch sehr
+interessant zu beobachten, wie dieser Kopf dann plötzlich erschrickt,
+wie verwirrt er sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im
+ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr verwirrt sein. Auch
+wegen der Operngläser, die die Damen so unvorsichtig auf den
+Logenbrüstungen liegen lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich
+kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar auf
+irgendjemandes vollständig unvorbereitetes Haupt herabfallen werden.
+
+Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas, das bisher noch keinem Menschen
+widerfahren oder das wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf
+sein ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes schon ziemlich
+beraubt war – fiel kein Theaterzettel. Ich spüre, daß es mir eigentlich
+recht peinlich ist, das Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es
+ist doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das ehrenwerte,
+entblößte Haupt des eifersüchtigen und schwer gereizten Iwan
+Andrejewitsch tatsächlich ein so unmoralischer Gegenstand fiel, wie es
+z. B. ein süßduftender Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme Iwan
+Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher als eine solche
+Überraschung erwartete, so heftig zusammen, als habe er auf seinem
+ehrenwerten Haupte zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes
+wildes Tier verspürt.
+
+Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man ihm nur zu deutlich an.
+Erstens war er auf zartem, verräterisch duftendem Papier geschrieben und
+zweitens war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem Handschuh
+hätte verbergen können. Gefallen war er offenbar während der Übergabe,
+vielleicht beim Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief
+geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht war auch nur eine
+unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten die Ursache gewesen, daß der
+Brief aus dem Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn
+bemerken und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der Jüngling in Zivil
+nur den Theaterzettel, mit dem er dann entschieden nichts anzufangen
+wußte. Fürwahr, eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben,
+daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um ein Bedeutendes unangenehmer
+war.
+
+„^C’est prédestiné^,“ murmelte er, indes kalter Schweiß ihm aus den
+Poren trat und er den kleinen Brief krampfhaft in der Hand
+zusammenpreßte, als wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen,
+„^prédestiné^! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“ zuckte es durch
+seine Gedanken. „Nein, das ist nicht das Richtige! Was habe ich
+verbrochen, daß ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er
+sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen. Doch wer vermag
+all die Gedanken aufzuzählen, die ein Gehirn nach solch einer
+Erschütterung gebiert!
+
+Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als wäre er in der Tat das
+gewesen, was er zu sein schien: weder tot noch lebendig. Er war
+überzeugt, daß das ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt
+hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang unter schallendem
+Applaus gefallen war und ein wahrer Sturm die Primadonna hervorrief.
+Doch er war so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu
+erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste geschehen, das ein
+Mensch sich nur ausdenken kann.
+
+„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu seinem Nachbarn zur
+Linken, einem auffallenden Gecken.
+
+Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase befand, unermüdlich
+in die Hände klatschte und sogar mit den Füßen scharrte, warf nur einen
+flüchtigen, zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann
+geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen Mund und rief
+dumpf brüllend den Namen der Sängerin. Iwan Andrejewitsch, der noch
+nichts Ähnliches vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts
+bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und wandte sich
+zurück. Doch der dicke Herr, der hinter seinem Rücken saß, stand jetzt,
+ihm seinerseits den Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas
+die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch. In den
+Reihen vor ihm hatte man natürlich nichts gesehen. Schüchtern, doch voll
+froher Hoffnung wagte er einen Blick in die Parterreloge zu werfen,
+neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der unangenehmsten
+Empfindung zusammen, denn was er dort erblickt hatte, war wenig
+trostreich: er sah eine schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt,
+krampfhaft ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig lachte.
+
+„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und knirschte Iwan
+Andrejewitsch und schlängelte sich schleunigst zur Ausgangstür, bemüht,
+dem Publikum nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten.
+
+Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch darauf, anzunehmen, daß
+dieser Liebesbrief gerade aus der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es
+doch über dem zweiten Rang noch einen und dann noch einen und dann noch
+die Galerie – im ganzen gab es fünf Ränge. Weshalb sollte er
+ausgerechnet aus jener bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein,
+warum nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch gleichfalls
+Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas Außerordentliches und
+Eifersucht die außerordentliche Leidenschaft, die sich nicht irrt.
+
+Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür erreicht hatte, ins
+Foyer, blieb bei der nächsten Lampe stehen, erbrach das Kuvert und las:
+
+„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße im Hause K–offs, im
+dritten Stockwerk, rechts von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei
+dort. ^Sans faute!^“
+
+Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt, doch eines stand für
+ihn fest: daß es eine Bestellung zu einem Rendezvous war. Sein erster
+Gedanke war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das Übel verhüten, so
+lange es noch nicht zu spät war!“
+
+Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die Schuldigen sogleich zu
+überführen, sofort, hier im Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan
+Andrejewitsch eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang, besann
+sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte vor der Logentür wieder
+Kehrt. Er wußte entschieden nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich
+überhaupt lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die andere
+Seite und blickte durch die offene Tür der gegenüberliegenden Loge.
+Tatsächlich: in jeder der fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über
+seinem Platz befanden, saßen junge Damen und junge Herren. Der
+Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich fallen können, um so mehr, als
+Iwan Andrejewitsch die Insassen aller fünf gegen sich verschworen
+glaubte. Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb Iwan
+Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den ganzen zweiten Akt verbrachte
+er in den Korridoren, die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne
+Seelenruhe finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse, um vom
+Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber zu erfahren – doch leider
+war die Kasse schon geschlossen. Endlich erschallte Applaus, helle
+Stimmen, die Bravo und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung
+war zu Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes im
+Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte in die G–straße, um
+dort „an Ort und Stelle zu überführen, abzufangen, und überhaupt
+energischer vorzugehen als gestern“. Bald hatte er auch das Haus
+gefunden, und er war gerade im Begriff einzutreten, als plötzlich, fast
+unter seinem Arm, eine Männergestalt in einem geckenhaften Paletot durch
+die Tür schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte.
+Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der junge Fant von gestern gewesen
+sei, obschon er sein Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen
+hatte. Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen Vorsprung
+von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm zuvorkommen? Da hörte Iwan
+Andrejewitsch wie eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne
+Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden. Iwan Andrejewitsch
+erreichte diese Tür, als der junge Mann kaum hinter ihr verschwunden und
+noch niemand sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar
+noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen Schritt zu
+erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und jenes noch zu befürchten
+und sich dann erst zu etwas Endgültigem zu entschließen. Da wollte es
+das Schicksal, daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor das Haus
+rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür wurde geräuschvoll aufgerissen
+und jemandes schwere Schritte begannen, begleitet von Husten und
+Gekrächz, langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation war
+Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er klinkte die Tür auf und betrat
+mit der ganzen Feierlichkeit des hintergangenen, sich im Recht fühlenden
+Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine Kammerzofe trat ihm
+sehr erregt entgegen, ihr folgte auf dem Fuß ein Diener, doch nichts
+vermochte Iwan Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war der
+Gatte!
+
+Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung, so flog er in das nächste
+Gemach, durchschritt zwei fast dunkle Zimmer und befand sich plötzlich
+in einem Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn zitternd
+und verständnislos anstarrte. Da erschallten aber, noch bevor Iwan
+Andrejewitsch zu sich gekommen war, schwere Schritte im Nebenzimmer und
+näherten sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die Iwan
+Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen hatte.
+
+„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame entsetzt, bleicher als ihr
+Peignoir, und sie rang hilflos die Hände.
+
+Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse geraten, aus der es
+kein Entrinnen gab, fühlte, daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die
+nun nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die Tür, schon trat
+der schwere Mann – nach seinen schweren Schritten zu urteilen – ins
+Zimmer ... Ich weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich in
+diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu sagen, was ihn davon
+abhielt, dem Fremden frank und frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu
+erklären, für seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich dann
+zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht heldenhaft – aber man
+hätte es doch immerhin eine anständige, offene Handlungsweise nennen
+müssen.
+
+Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie ein Schulbube, der
+nicht weiß, was Überlegung ist, oder als hätte er sich für einen zweiten
+Don Juan gehalten.
+
+Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem Bettvorhang, doch schon
+nach zwei Sekunden brach er vor Angst in die Knie und kroch, jedes
+Gedankens bar, auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares.
+Der Schreck hatte in ihm jede Regung der Vernunft gelähmt – nur so läßt
+es sich erklären, daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener
+Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt, nun tat, als tue
+er das, was ihm widerfuhr, selbst einem andern an. Vielleicht konnte er
+es bloß nicht übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese ihm
+wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart hervorzurufen. Doch wie dem
+auch gewesen sein mag, Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne
+selbst zu begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste war
+aber für ihn in diesem Augenblick, daß die Dame es widerspruchslos hatte
+geschehen lassen. Sie hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich
+vor ihr aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann, um darauf
+ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden. Anzunehmen ist, daß
+sie vor Schreck die Sprache verloren hatte.
+
+Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach und Weh ihr schwerer Gatte
+ins Zimmer getreten. Mit greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner
+Frau einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen Sessel
+fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige Last Holz hereingetragen.
+Darauf folgte ein langanhaltender Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der
+sich aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt hatte und nun
+zitterte und zagte wie ein Mausejunges vor einem Kater, wagte kaum zu
+atmen, obwohl er doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte, daß
+nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch das kam ihm gar nicht
+in den Sinn – sei es aus Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend
+einem anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur leise
+tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen Orientierungsversuch, um
+seine Gliedmaßen in eine etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie
+groß aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung, als
+seine tastende Hand plötzlich an einen Gegenstand stieß, der sich
+bewegte und ihn seinerseits mit einer Hand anfaßte!
+
+Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch!
+
+„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd und zitternd.
+
+„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“ kam es flüsternd, doch mit
+deutlicher Ironie zurück. „Liegen Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie
+in die Falle geraten sind!“
+
+„Mein Herr, Ihr Ton ...“
+
+„Still!“
+
+Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte unter dem fremden Ehebett
+vollkommen genügt – dieser freche Mensch preßte die Hand Iwan
+Andrejewitschs so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz fast
+aufgeschrien hätte.
+
+„Mein Herr, mein Herr ...“
+
+„Sst!“
+
+„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand! oder ich schreie!“
+
+„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“
+
+Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der Unbekannte schien kein
+Erbarmen zu kennen. Vielleicht war er schon so manches Mal der
+Verfolgung des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich
+infolgedessen nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan Andrejewitsch
+war aber jedenfalls ein Neuling in dieser Situation und glaubte daher,
+schier vergehen zu müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf.
+Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt auf dem Bauch. Da
+faßte er sich in Demut und schwieg.
+
+„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte, „ich war, mein
+Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir begannen Préférence zu spielen, aber
+weißt du, köchö-köch-köch!“ – er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein
+Rücken ... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“
+
+Und der Greis hustete endlos.
+
+„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher Stimme fort, sich die
+Tränen aus den Augen wischend, „begann so zu schmerzen ... von diesen
+verwünschten Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ... noch
+sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“
+
+Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres Leben
+bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten hatte. Ließ der Husten
+etwas nach, so brummte er mitunter ein paar unverständliche Worte, die
+bald wieder im Husten erstickt waren.
+
+„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi willen etwas zur
+Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan Andrejewitsch.
+
+„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen Platz!“
+
+„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich nicht lange so
+liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal in einer solchen Lage.“
+
+„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer Nachbarschaft.“
+
+„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“
+
+„Still!“
+
+„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger Mann, daß Ihre Redeweise,
+gelinde gesagt, sehr unhöflich ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind
+Sie noch sehr jung; ich bin älter als Sie.“
+
+„Schweigen Sie!“
+
+„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit wem Sie reden!“
+
+„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett liegt ...“
+
+„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt ... Sie aber,
+wenn ich mich nicht täusche, Ihre Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“
+
+„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“
+
+„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage Ihnen ...“
+
+„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir hier auf _einem_
+Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht mit Ihren Händen ins Gesicht
+zu fahren!“
+
+„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts sehen. Verzeihen Sie,
+aber ich habe ja doch keinen Platz.“
+
+„Weshalb sind Sie denn so dick?“
+
+„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich in eine so
+erniedrigende Lage gebracht!“
+
+„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“
+
+„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich weiß zwar nicht, wer Sie
+sind, ich weiß auch nicht, wie das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß
+ich irrtümlicherweise hierher geraten bin – ich bin nicht das, was Sie
+von mir glauben ...“
+
+„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn Sie mich nicht immer
+stoßen würden. So schweigen Sie doch endlich!“
+
+„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme ich einen Schlaganfall!
+Sie werden meinen Tod zu verantworten haben. Ich versichere Ihnen ...
+Ich bin ein ehrenwerter Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich
+doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“
+
+„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche Lage gebracht.
+Na, rücken Sie doch weiter, dann haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr
+gibt’s davon nicht.“
+
+„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger Mann! Ich sehe, daß
+ich mich in Ihnen getäuscht habe ...“ begann Iwan Andrejewitsch in
+aufwallender Dankbarkeit, indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine
+glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre eigene
+Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man tun? Ich sehe, daß Sie
+schlecht von mir denken. Erlauben Sie, daß ich meine Reputation in Ihren
+Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen auseinandersetze,
+wer ich bin, wie ich mich gegen meinen Willen hierher verirrt habe –
+nochmals, ich versichere Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den
+Sie annehmen ... Ich fürchte mich entsetzlich ...“
+
+„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal! Begreifen Sie denn
+nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn man Sie hört? Sst! Er wird sogleich
+aufhören zu husten!“
+
+In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen und dieser schickte
+sich wieder an, zu sprechen.
+
+„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam und mit kläglicher
+Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch! Ach! diese Plage! Fedossei
+Iwanowitsch sagte mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! –
+‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘. Hörst du, Herzchen?“
+
+„Ich höre, mein Freund.“
+
+„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee trinken.‘ Ich
+sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘. Er aber sagte: ‚Nein,
+Alexander Demjanowitsch, Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein
+gutes Purgativ, sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was
+meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach, Schöpfer! Köch-köch!
+... Also du meinst, Schafgarbentee wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach
+Gott! Köch! ...“ usw., usw.
+
+„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses Mittel zu
+versuchen,“ meinte die junge Frau.
+
+„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht sogar die
+Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte: ‚Nein, Podagra, und außerdem
+einen Magenkatarrh ...‘ Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch
+Schwindsucht.‘ Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen:
+habe ich die Schwindsucht? Köch!“
+
+„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch! Welch ein
+Unsinn das ist!“
+
+„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen, könntest dich jetzt
+auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch! Ich habe aber heute, köch!
+heute Schnupfen.“
+
+„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage unter dem Bett.
+„Um Gottes und Christi willen, rücken Sie weiter!“
+
+„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern: können Sie denn keinen
+Augenblick still sein? ...“
+
+„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie wollen mich verletzen,
+das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich der Liebhaber dieser Dame?“
+
+„Schweigen Sie!“
+
+„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht erlauben, hier zu
+kommandieren! Ganz gewiß sind Sie der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt,
+bin ich vollkommen unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“
+
+„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach ihn der junge Mann
+zähneknirschend, „werde ich sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß
+Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann wird man
+wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber dieser Dame sei.“
+
+„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen! Wissen Sie auch, daß
+meine Geduld reißen kann?“
+
+„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren! Sie sind mein
+Unglück! So sagen Sie doch, weshalb sind Sie hier? Ohne Sie würde ich
+ruhig bis zum Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender
+Gelegenheit fortgehen ...“
+
+„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so liegen, ich bin doch
+ein denkender Mensch! Ich habe Verbindungen, habe Protektion ... Was
+meinen Sie, wird er wirklich hier schlafen?“
+
+„Wer?“
+
+„Nun, dieser Greis?“
+
+„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle Männer so wie Sie.
+Einige übernachten auch zu Hause.“
+
+„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch erkaltend vor Schreck,
+„seien Sie überzeugt, daß auch ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist
+das erstemal ... Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen!
+Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne Umschweife, ich flehe
+Sie an, aus uneigennützigster Liebe bitte ich Sie darum, – wer sind
+Sie?“
+
+„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche Gewalt ...“
+
+„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen erzähle, mein Herr, daß
+ich Ihnen diese ganze entsetzliche Geschichte erkläre ...“
+
+„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts wissen, lassen Sie
+mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“
+
+„Aber ich kann doch nicht ...“
+
+Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür um so
+verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch verstummte.
+
+„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“
+
+„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“
+
+Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit ihrem alten Gatten
+reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart noch nicht völlig
+wiedererlangt zu haben schien, was ihre erschrockene Stimme und ihre
+Verwirrung verriet.
+
+„Was für ein Kater?“
+
+„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging ich in mein
+Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so vor sich hin. Ich fragte ihn:
+was hast du, Wassenjka? Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich:
+ach ihr Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“
+
+„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen Sie sich!“
+
+„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke, daß ich
+sterben könnte, ist dir unangenehm, sei aber nicht böse deshalb. Ich
+sagte es nur so. Aber du könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt
+auskleiden und zu Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange
+sitzen ... Köch-köch-köch!“
+
+„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später ...“
+
+„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es wirklich so, als
+raschelten hier Mäuse ...“
+
+„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu hören! Ich weiß nicht,
+was heute mit Ihnen ist!“
+
+„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch! Ach, du mein
+großer Gott! Köch!“
+
+„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es glücklich gehört hat!“
+flüsterte der junge Mann seinem Nachbar zu, während der Alte hustete.
+
+„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine Nase blutet ...“
+
+„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten Sie, bis er
+fortgegangen ist.“
+
+„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in meine Lage: ich weiß
+doch nicht einmal, mit wem ich hier liege.“
+
+„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn Sie’s wüßten? Ich
+interessiere mich nicht im geringsten für Ihren Namen. Und wenn schon –
+Na, wie lautet er denn, sagen Sie doch zuerst?“
+
+„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur erklären, durch welchen
+sinnlosen Zufall ...“
+
+„Sst ... er hat aufgehört ...“
+
+„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich flüstern
+gehört!“
+
+„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich nur die Watte in
+Ihren Ohren verschoben haben.“
+
+„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ... über uns ... Koch ...
+in der Wohnung über uns, hier, köch-köch-köch!“ usw.
+
+„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der Teufel! Und ich dachte,
+dies sei das letzte Stockwerk! Ist denn dies erst das zweite?“
+
+„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch wie von jemandem
+gekniffen auf, „was sagen Sie da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert
+Sie das? Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte
+Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein Stockwerk?“
+
+„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand sein,“ sagte der
+Greis, dessen Husten sich wieder gelegt hatte.
+
+„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen Hand wie eine eiserne
+Klammer Iwan Andrejewitschs Hände packte.
+
+„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das ist Vergewaltigung!
+Lassen Sie los!“
+
+„Sst!“
+
+Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder vollständige Stille
+folgte.
+
+„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis fort.
+
+„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge Frau.
+
+„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer netten Dame auf
+der Treppe begegnet bin? ... oder habe ich es vergessen, zu erzählen ...
+Mein Gedächtnis ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“
+
+„Was?“
+
+„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das helfe ...
+Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt man.“
+
+„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge Mann, knirschend.
+
+„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“ fragte die junge
+Frau.
+
+„Wie?“
+
+„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“
+
+„Wem das?“
+
+„Aber dir doch!“
+
+„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“
+
+„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der junge Mann unterm Bett,
+der dem vergeßlichen Greise am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß
+versetzt hätte.
+
+„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott, mein Gott! was höre ich?
+Das ist ja wie gestern, ganz wie gestern! ...“
+
+„Sst!“
+
+„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender Käfer! So
+blanke Augen ... unter einem hellblauen Hütchen ...“
+
+„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“
+
+„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut! Mein Gott, mein
+Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch wie ein Verzweifelter.
+
+„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd, doch mit
+unheimlichem Händedruck.
+
+„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch, „er spricht!“
+
+„Zum Teufel! ... Teufel ...“
+
+„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut tragen ...“ flüsterte Iwan
+Andrejewitsch zaghaft.
+
+„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr der Greis fort,
+„köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen Bekannten. Und immer
+liebäugelt sie. Zu diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte
+...“
+
+„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine junge Frau. „Ich
+begreife nicht, wie einen so etwas interessieren kann.“
+
+„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“ beschwichtigte sie
+wieder der Greis „ich ... ich – Köch! – ich werde nicht mehr davon
+erzählen, wenn du es nicht willst. Du bist heute nicht bei ganz guter
+Laune ...“
+
+„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte plötzlich in
+gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm Bett.
+
+„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich dafür zu
+interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt nicht anhören!“
+
+„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich. Aber seien Sie dann
+still! Hol’s der Teufel, die Geschichte ist, bei Gott! um aus der Haut
+zu fahren ...“
+
+„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht! Ich weiß nicht, was ich
+rede! Ich ... ich wollte nur sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für
+den Zwischenfall interessieren werden ... Aber wer sind Sie, junger
+Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber wer sind Sie nun
+eigentlich! Mein Gott! Ich weiß selbst nicht mehr, was ich rede!“
+
+„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei er innerlich mit
+anderem beschäftigt.
+
+„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken vielleicht, daß ich
+nicht erzählen werde, daß ich Ihnen böse bin, nicht? Hier haben Sie
+meine Hand! Ich bin nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das
+ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie sind Sie
+hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem Zweck sind Sie in dieses
+Haus gekommen? Was mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich
+bin Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf. Nur wird sie
+nicht allzu sauber sein, denn hier ist es etwas staubig. Aber was will
+das besagen!? Auf das Gefühl kommt es an!“
+
+„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum, daß man hier Platz hat,
+platt auf dem Bauch zu liegen – da will er noch Armverrenkungen
+versuchen!“
+
+„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre ich, mit Erlaubnis zu
+sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete Iwan Andrejewitsch in einer
+Aufwallung der keuschesten Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man
+sie sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln Sie mich nur
+ein wenig höflicher – hören Sie? – nur ein wenig höflicher, und ich
+werde Ihnen alles erzählen! Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin
+sogar bereit, Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir nicht
+beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz offen. Sie sind auf
+einem Irrwege, junger Mann, Sie wissen nicht ...“
+
+„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte der junge Mann vor sich
+hin, offenbar in größter Aufregung. „Vielleicht wartet sie dort auf mich
+... Nein, ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“
+
+„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem reden Sie, junger Mann?
+Sie glauben, daß hier oben über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür
+werde ich so gestraft?!“
+
+Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner Verzweiflung, auf
+den Rücken kehren, doch der Versuch mißlang, was ihn noch unglücklicher
+machte.
+
+„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel! – ich krieche hinaus!
+...“
+
+„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo soll ich denn bleiben?“
+stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt und er klammerte sich an die
+Frackschöße des anderen.
+
+„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein hier. Oder wenn Sie
+das nicht wollen, kann ich ja sagen, daß Sie mein Onkel seien, der sein
+Vermögen durchgebracht hat, damit der Klappergreis nicht auf den
+Gedanken kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu sehen.“
+
+„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen!
+Wer wird Ihnen denn das glauben, daß ich Ihr Onkel sei? Kein
+dreijähriges Kind wird es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem
+Tone Iwan Andrejewitsch.
+
+„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen Sie sich platt! Sie
+können doch hier ruhig übernachten und dann morgen sehen, wie Sie
+entkommen. Kein Mensch wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon
+herausgekrochen ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem Bett
+vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert fühlen. Übrigens
+wiegen Sie allein ein ganzes Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich
+krieche hinaus.“
+
+„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn ich zu husten beginne?
+Man muß doch alles voraussehen ...“
+
+„Sst!“
+
+„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns hat wieder ein
+Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis, der inzwischen wohl
+eingeschlummert war, mit schläfriger Stimme.
+
+„Über uns?“
+
+„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“
+
+„Ich höre, – nun!“
+
+„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“
+
+„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal ein Strich durch die
+Rechnung gemacht ist, dann – ... Aber wissen Sie, was ich stark vermute?
+Daß Sie, gerade Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind! –
+Verstanden?“
+
+„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten Sie das wirklich? Aber
+weshalb denn gerade ein Ehemann ... ich bin doch nicht verheiratet ...“
+
+„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“
+
+„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es doch nicht
+wissen!“
+
+„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“
+
+„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen alles erzählen.
+Vernehmen Sie also meine Beichte, – die Beichte eines Verzweifelten.
+Nicht ich bin der Betreffende, ich bin nicht verheiratet. Ich bin
+gleichfalls Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund, mein
+Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber bin ein Liebhaber ...
+Da sagt er mir eines Tages: ‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß
+den bittersten Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘ Aber,
+Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie denn? ... Aber Sie hören
+mich ja gar nicht! So hören Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist
+lächerlich, sage ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber
+sagt: ‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie gesagt ... ich
+leere den Kelch, den bittersten Kelch ... d. h. ich habe sie im Verdacht
+...‘ – Du bist mein Jugendfreund, sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam
+Blumen gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ... Mein Gott,
+ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen die ganze Zeit, junger
+Mann. Sie werden mich noch verrückt machen!“
+
+„Das sind Sie ja schon.“
+
+„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir das sagen würden, als ich
+das Wort noch nicht einmal ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es!
+Lachen Sie nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich
+gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt! Ach, ja! – jetzt
+aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt werden!“
+
+„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand geniest?“ fragte
+wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit. „Warst du es, mein
+Herzchen?“
+
+„Oh, ^mon Dieu^!“ stöhnt die arme junge Frau.
+
+„Sst!“ hörte man unter dem Bett.
+
+„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte die junge Frau in
+ihrer Herzensangst. Unter dem Bett wurde es schon allzu verräterisch
+laut und immer lauter.
+
+„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig. „Über uns! ...
+Habe ich dir schon erzählt, daß ich einem jungen Mann – Köch-köch! einem
+jungen Mann mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein Gott und
+Vater! – mein Rücken! ... einem jungen Fant soeben begegnet bin, mit
+einem Schnurrbärtchen ...“
+
+„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind gewiß Sie!“ flüsterte
+Iwan Andrejewitsch entsetzt.
+
+„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier unter dem Bett,
+liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann er mir denn begegnet sein! Aber so
+fahren Sie mir doch nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“
+
+„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“
+
+In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung darüber allerdings großen
+Lärm.
+
+„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der junge Mann.
+
+„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie mir!“
+
+„Sst!“
+
+„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist ja fast ein
+Höllenspektakel dort oben. Und das gerade über deinem Schlafzimmer.
+Sollte man da nicht hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“
+
+„Ach, das fehlte noch!“
+
+„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du heute so böse?“
+
+„Oh, ^mon Dieu^! Werden Sie nicht bald schlafen gehn?“
+
+„Lisa, du liebst mich gar nicht.“
+
+„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen, ich bin so müde.“
+
+„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“
+
+„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge Frau plötzlich
+angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen Sie!“
+
+„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du, ich soll fortgehen, bald
+wieder, ich soll hierbleiben ... Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit
+zum ... Köch-köch! Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ...
+Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger Puppe sah ich bei der
+Kleinen, köch-köch! ...“
+
+„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“
+
+„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ... Köch-köch!“
+
+„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge Mann seinem
+Leidensgenossen zu, „er geht und dann können wir sogleich
+hinausschlüpfen. Hören Sie? So freuen Sie sich doch!“
+
+„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“
+
+„Das war eine Lehre für Sie ...“
+
+„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich fühle, daß ... Doch Sie
+sind noch zu jung, Sie können mir keine Lehre geben.“
+
+„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“
+
+„Gott! Ich will niesen! ...“
+
+„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“
+
+„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach Mäusen, ich habe Staub
+eingeatmet! Ich kann doch nicht! Geben Sie mir mein Taschentuch, aus
+meiner Rocktasche, um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O
+Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“
+
+„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft werden, das will ich
+Ihnen sogleich sagen: Sie sind eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher
+Zweifel rennen Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt,
+brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen in ihren
+Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“
+
+„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“
+
+„Schweigen Sie!“
+
+„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht Moral predigen! Ich bin
+moralischer als Sie!“
+
+„Schweigen Sie!“
+
+„O Gott, o Gott!“
+
+„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne junge Frau, die
+nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen soll, und die vielleicht noch
+krank werden wird von dieser ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen
+ehrwürdigen Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin schon
+genug gequält wird, einen Greis, der vor allen Dingen der Ruhe bedarf, –
+und das alles aus welchem Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen
+Unsinn in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle Gassen und
+in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch, begreifen Sie auch, in
+welches Licht Sie sich selbst gestellt haben, als was Sie dastehen, was
+man von Ihnen denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so,
+wie es sich gehört?“
+
+„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben kein Recht ...“
+
+„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht oder kein Recht! Begreifen
+Sie denn nicht, wie tragisch das enden kann? Begreifen Sie denn nicht,
+daß dieser Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach
+irrsinnig werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem Bett seiner Frau
+hervorkriechen? Doch nein, Sie können nicht die Ursache einer Tragödie
+sein! Wenn Sie hervorkriechen, muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen
+krummbiegen. Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal bei Licht
+betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch sein!“
+
+„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett hervorkriechend, würden
+Sie gleichfalls lächerlich sein. Auch ich würde Sie gern einmal bei
+Licht betrachten.“
+
+„Sie!!“
+
+„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit
+aufgedrückt sein, junger Mann!“
+
+„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen! Woher wissen
+Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich bin irrtümlicherweise hierher
+geraten, ich wollte eine Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen,
+weshalb man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst jemanden
+erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls nicht Sie. Ich
+versteckte mich sofort unter dem Bett, als ich Ihre Schritte hörte und
+als ich sah, daß die Dame so heftig erschrak. Zudem war es hier noch
+ziemlich dunkel. Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit
+noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein Herr, nichts als ein
+lächerlicher eifersüchtiger Alter! Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie
+denken vielleicht, ich fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre
+schon längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben.
+Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben, wenn ich Sie verließe.
+Sie würden ja wie ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich
+ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer zurechtfinden
+...“
+
+„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade wie dieser Gegenstand?
+Konnten Sie mich nicht mit einem anderen vergleichen, junger Mann?
+Weshalb sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde mich
+sehr gut zurechtfinden!“
+
+„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt! Das kommt alles von
+Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses
+elende Vieh kann noch zu unserem Verräter werden!“
+
+In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis dahin ruhig auf seinem
+Kissen in der Ecke geschlafen hatte, war plötzlich aufgewacht, hatte ein
+wenig geschnuppert und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett
+gestürzt.
+
+„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan Andrejewitsch, halb tot
+vor Schreck und Angst. „Es wird uns bestimmt verraten! Es wird alles
+offenbar werden! Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein
+Gott!“
+
+„Durch Ihre Feigheit natürlich!“
+
+„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend, die junge
+Frau. „^Ici, ici, viens ici!^“
+
+Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern griff mutig Iwan
+Andrejewitsch an.
+
+„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn Amischka so laut?“
+fragte der Greis. „Sind etwa Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der
+Kater? Deshalb – ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ... Und du
+weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“
+
+„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann. „Rühren Sie sich
+nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht beruhigen.“
+
+„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände frei! Weshalb halten Sie
+sie?“
+
+„Sst! still!“
+
+„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund beißt mich in die Nase!
+Sie wollen wohl, daß ich meine Nase verliere?“
+
+Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch schließlich
+gelang, seine Hände zu befreien. Das Hündchen bellte wie rasend;
+plötzlich aber quietschte es auf und verstummte.
+
+„Ach!“ schrie die Dame auf.
+
+„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend. „Sie verraten uns!
+Weshalb haben Sie den Hund gepackt? Teufel, der Kerl würgt ihn noch
+obendrein! So hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen!
+Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine Ahnung von einem
+Weiberherzen? Sie wird uns beide noch an den Galgen bringen, wenn Sie
+ihren Hund erwürgen!“
+
+Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub gemacht: er hörte auf
+nichts. Es war ihm gelungen, den kleinen Köter am Kragen zu fassen: und
+da hatte er ihm denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit
+einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit geblieben war,
+noch einmal zu quieken, bevor es den Geist aufgab.
+
+„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann.
+
+„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „^Mon Dieu^, was haben sie mit
+meinem Ami gemacht! Amischka, Amischka! ^Ici!^ O, diese Schändlichen!
+Diese Barbaren! Mein Gott, mir wird schlecht!“
+
+„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“ sagte der Greis,
+der wohl gerade im Begriff gewesen war, ein wenig einzuschlummern, „was
+hast du, mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka, Amischka,
+Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit der Zunge, schnippte mit
+den Fingern, doch es half alles nicht: Amischka kam nicht wieder zum
+Vorschein. „Wo ist er denn geblieben? Amischka! ^Ici.^ Wirst du wohl! Es
+kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen hat?
+Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen, meine Liebe, er ist schon einen
+ganzen Monat nicht mehr bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde
+morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu meint. Aber um Gottes
+willen, mein Herz, was ist mit dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser!
+Hilfe! Hilfe!“
+
+Und der Alte stürzte kopflos zur Tür.
+
+„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame und sank auf die
+Chaiselongue.
+
+„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her.
+
+„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort ... unter meinem Bett! Oh,
+^mon Dieu^! Amischka, Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“
+
+„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen? Amischka ... Nein, zuerst Leute
+her, Leute! Leute! Wer ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor
+Aufregung, und er griff nach dem Licht und beugte sich, um unter das
+Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe! Leute! ...“
+
+Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben dem Leichnam
+Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte aufmerksam jede Bewegung des
+Alten. Plötzlich sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort
+niederbeugte. Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor, während der
+Alte die Einbrecher auf der anderen Seite des Ehebettes suchte.
+
+„^Mon Dieu!^“ murmelte die Dame ganz erstaunt, als sie plötzlich einen
+jungen eleganten Mann vor sich stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte
+...“
+
+„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der junge Mann leise und
+schnell. „Er ist schuld an Amischkas Tod!“
+
+„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf.
+
+Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer.
+
+„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel! Ein Bein!“ keuchte der
+Alte, der Iwan Andrejewitsch am Fuß hervorzuziehen versuchte.
+
+„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“ jammerte die Dame.
+
+„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie der Alte, mit den Beinen
+auf den Teppich stampfend. „Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was
+wollen Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“
+
+„Das sind ja Mörder!“
+
+„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi willen!“ flehte Iwan
+Andrejewitsch, der auf allen Vieren hervorkroch, sich kniend erhob und
+flehend die Hände faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes
+willen, Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Exzellenz, rufen
+Sie keine Menschen herbei! Das ... das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie
+können mich nicht vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch
+einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist ein Irrtum, Exzellenz,
+ich habe mich nur geirrt! Ich werde Ihnen sogleich alles erklären,
+Exzellenz, alles, alles, alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit
+versagender Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau schuld, das heißt,
+nicht meine Frau, sondern eine fremde Frau, – denn ich bin ja gar nicht
+verheiratet, ich bin nur so ... Das ist mein Schulkamerad und
+Jugendfreund ...“
+
+„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er stampfte zornig mit
+dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb, ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen
+wollten Sie! ... Aber nicht Jugendfreund! ...“
+
+„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich sein Jugendfreund
+... ich ... ich habe mich nur zufällig verirrt, ich habe nur die
+Haustüren verwechselt! ...“
+
+„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“
+
+„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie täuschen sich! Ich
+versichere Ihnen, daß Sie sich in einem grausamen Irrtum befinden,
+Exzellenz! Sehen Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an
+allen Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann. Exzellenz! Ew.
+Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch, sich mit beschwörender Gebärde an
+die junge Frau wendend. „Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame eher
+verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht ... Aber ich bin
+nicht schuld daran ... bei Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt,
+nicht meine, sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein
+unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“
+
+„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben – es wird wohl nicht nur
+_ein_ Kelch gewesen sein, nach Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind
+Sie hierher gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“
+schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er sich selbst
+eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher Dieb sein
+konnte. „Ich frage Sie: wie – sind – Sie – hierher gekommen? Zum
+Donnerwetter! ... Daß Sie kein Räuber sind ...“
+
+„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz! Ich ... ich bin
+nur in eine andere Tür ... bei Gott, ich bin kein Räuber! Das kommt
+alles nur daher, daß ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles
+erzählen, Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem
+Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem leiblichen Vater, denn den
+Jahren nach könnte ich Sie doch für meinen Vater halten!“
+
+„Was?! Für Ihren Vater?!“
+
+„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht verletzt! – o,
+verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so junge Dame ... und Ihre Jahre
+... sehr-sehr-sehr angenehm, Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ...
+eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ... Rufen Sie nur
+nicht die Leute herbei, um Gottes willen, rufen Sie nicht Ihre Leute her
+... die würden nur lachen ... ich kenne sie ... Das heißt, ich will
+damit nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, – ich habe
+selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie, die ... Esel! Exzellenz
+... Ich glaube, mich nicht getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich
+habe doch die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“
+
+„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin ... ein Privatmann.
+Und ich bitte Sie, mich mit Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit
+ihnen bei mir einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht
+gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie hierher gekommen
+sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“
+
+„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ... verzeihen Sie, ich
+dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe mich versehen, es war ein Irrtum,
+verzeihen Sie ... das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten
+Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten, Herrn Pusyreff, die Ehre
+hatte, einmal zu sehen ... Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten
+bekannt, ich habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen:
+Sie können mich nicht für das halten, für was Sie mich halten! Ich bin
+kein Räuber, ich bin kein Dieb! Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um
+Gottes willen, haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch: wenn Sie
+die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“
+
+„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die Dame. „Wer sind Sie
+überhaupt?“
+
+„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die Frage auf. „Und ich,
+mein Herzchen, glaubte wirklich, es sei der Kater Wassjka, der da
+irgendwo schnurrt! Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ...
+Wer sind Sie? So reden Sie doch!“
+
+Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor Ungeduld.
+
+„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört haben ... Was
+mich betrifft, so ist es eine lächerliche Geschichte, Exzellenz. Ich
+werde Ihnen alles erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären
+lassen ... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht fremde Leute
+her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben Sie Erbarmen mit mir ... Das
+hat nichts zu sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat
+mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die lächerlichste
+Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“ wandte sich der arme Iwan
+Andrejewitsch flehentlich an die junge Frau. „Namentlich Sie, meine
+Gnädigste, wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen vor
+sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen, erniedrige ich mich
+selbst, tue es selbst und freiwillig! Allerdings bin ich es, der
+Amischka erwürgt hat, aber ... Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich
+rede!“
+
+„Aber wie, _wie_ sind Sie denn hierher gekommen?“
+
+„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem ich mich der
+Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen Sie, Exzellenz! Ich
+bitte Sie kniefällig um Verzeihung! Ich bin nur ein gekränkter Gatte,
+nichts weiter! Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei!
+Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin ist sehr
+tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich so auszudrücken. Sie ist rein
+und unschuldig, glauben Sie es mir!“
+
+„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie der Alte, ganz rot im
+Gesicht, und wieder trampelte er mit den Füßen. „Sind Sie verrückt
+geworden? übergeschnappt? Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau zu
+reden?“
+
+„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami erwürgt hat!“ rief die
+junge Frau empört aus. Sie war in Tränen aufgelöst ob des Verlustes
+ihres Amischka. „Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“
+
+„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“ beteuerte
+halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch. „Betrachten Sie mich, wenn Sie
+wollen, als Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen, wenn
+Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Sie mir damit
+einen großen Dienst erweisen. Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber
+ich wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel ... das
+heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich für den Liebhaber halten
+darf ... Gott! Ich weiß wieder nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht
+kränken wollen, Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie
+sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist – dieses zarte
+Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich da wieder! ... Ich will nur
+sagen, daß ich ein Greis bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon
+bejahrter Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich will damit
+sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein kann, meine Gnädigste, daß
+ein Liebhaber immer ^à la^ Mister Richardson oder ^à la^ Don Juan zu
+sein pflegt, ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen doch
+jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die
+Literatur kennt. Sie lächeln, meine Gnädigste. Es freut mich, es freut
+mich ungemein, daß ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es
+mich freut, daß Sie lächeln!“
+
+„^Mon Dieu!^ Was das für ein komischer Mensch ist!“ bemerkte die Dame,
+die sich die Lippen biß, um jetzt nicht wirklich laut aufzulachen.
+
+„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte, sichtlich
+erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein Herzchen, weißt du, ich
+denke, er kann kein Dieb sein. Aber wie ist er hierher gekommen?“
+
+„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar noch mehr als
+sonderbar! Wirklich, so etwas kommt sonst nur in Romanen vor! Wie? Um
+Mitternacht in der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem
+Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das nicht seltsam,
+entsetzlich? ^À la^ Rinaldo Rinaldini, nicht wahr? Doch das hat nichts
+auf sich, das hat alles nichts zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen
+alles erzählen ... Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich
+ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein ebenso
+entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle und so kleinen Beinchen,
+daß es keine zwei Schritte zu gehen vermag: es verwickelt sich sonst in
+seinem eigenen Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit
+Zuckerstückchen. Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich werde es
+unfehlbar besorgen!“
+
+„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen über den armen Iwan
+Andrejewitsch. „^Mon Dieu, mon Dieu^, wie ist er komisch!“
+
+„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum Lachen ... köch! und so
+zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“
+
+„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen glücklich! Ich
+würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich wage es nicht, meine
+Gnädigste, ich fühle, daß ich mich seither geirrt habe, in allem, doch
+jetzt öffne ich die Augen! Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein
+und unschuldig ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“
+
+„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die ihr Lachen nicht mehr
+meistern konnte.
+
+„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das hätte ich nicht gedacht!
+Hahaha! Köch-köch-köch!“
+
+„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem schuld ... das
+heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich verdächtigte sie; ich wußte,
+daß hier in diesem Hause ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten
+Stockwerk, hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in meine Hände
+geraten. Ich versah mich aber, ich dachte, vor der richtigen Tür bereits
+angelangt zu sein, und da lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich
+dessen versah ...“
+
+„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“
+
+„Hahahahaha!“
+
+„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch zu lachen. „O,
+wie glücklich ich bin! O, wie rührend es ist, uns alle so friedlich und
+einträchtig miteinander zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß ich
+jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest überzeugt. Nicht wahr,
+so muß es doch sein, meine Gnädigste?“
+
+„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer das ist?“ wandte sich
+lachend und hustend der Alte an seine Frau.
+
+„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“
+
+„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen, das mit
+allen kokettiert! Das ist sie! Ich könnte wetten, daß das seine Frau
+ist!“
+
+„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere meinen; ich bin
+vollkommen überzeugt davon ...“
+
+„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann Ihre kostbare Zeit!“
+unterbrach ihn die Dame, indem sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie
+doch! Gehen Sie nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“
+
+„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach oben eilen. Doch ich
+weiß, daß ich niemanden antreffen werde, gnädige Frau. Das kann nicht
+meine Frau sein, davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause!
+Ich allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen Eifersucht
+zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder werde ich sie wirklich dort
+antreffen, gnädige Frau?“
+
+„Hahahahaha!“
+
+„He–he–he! Köch-köch!“
+
+„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an unserer Tür vorüberkommen,
+dann treten Sie ein und erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder
+nein: kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit: ich will sie
+kennen lernen.“
+
+„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich werde sie unfehlbar
+mitbringen. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich
+bin glücklich und froh, daß alles so schnell und gut seine Lösung
+gefunden hat!“
+
+„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“
+
+„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar bringen!“ beteuerte
+Iwan Andrejewitsch, der bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein
+Zuckerstückchen und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem
+seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es hat mich sehr, sehr,
+sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, sehr gefreut!“
+
+Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand.
+
+„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie zurück ... köch-köch!“ rief
+ihm plötzlich die heisere Stimme des Alten nach.
+
+Iwan Andrejewitsch kehrte zurück.
+
+„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen Sie, war er nicht unter
+dem Bett, als Sie dort waren?“
+
+„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens, es freut mich wirklich,
+Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre
+an ...“
+
+„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer und niest! Man muß ihn
+wieder einmal prügeln.“
+
+„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei Haustieren sehr
+angebracht.“
+
+„Was?“
+
+„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei Haustieren sehr
+angebracht sind, um sie an Gehorsam zu gewöhnen.“
+
+„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war alles, was ich wissen wollte,
+besten Dank! Köch-köch!“
+
+Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb er lange Zeit
+regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte er im Augenblick einen
+Schlaganfall. Dann nahm er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten
+Schweiß von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich nach
+Haus.
+
+Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause angelangt, erfuhr,
+daß Glafira Petrowna schon längst aus dem Theater zurückgekehrt war, daß
+ihre Zähne zu schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und nach
+Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag und voll Ungeduld ihren
+Gatten erwartete.
+
+Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn, dann verlangte er
+Wasser und Bürsten, um sich zu waschen und zu reinigen, und erst nachdem
+dies geschehen war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu
+betreten.
+
+„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen! So sehen Sie
+doch, wie Sie aussehen! Wo waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen:
+während die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann in der
+ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie? Oder waren Sie wieder auf
+der Suche nach mir, um mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich
+Gott weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn nicht? Das will
+ein Mann sein! Bald wird man mit dem Finger auf Sie weisen!“
+
+„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte er schon im
+selben Augenblick eine solche Rührung, daß er nach seinem Taschentuch
+greifen mußte, da es ihm zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft
+gebrach ... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles
+Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch
+hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel! Er war sich dessen
+gar nicht bewußt, daß er im Augenblick der größten Verzweiflung, als er
+gezwungen war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines
+Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art
+Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen und somit
+der Strafe zu entgehen.
+
+„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein totes Hündchen! Gott!
+Woher kommt das? ... Was fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie
+sofort, wo Sie waren!“
+
+„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen eigenes Herz beinahe
+stille stand, „Herzchen! ...“
+
+Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen, denn hier setzt
+etwas ganz Neues ein, das mit seinen früheren Abenteuern nichts
+Gemeinsames hat. Es ist möglich, daß ich noch einmal alle diese
+Unglücksfälle mit ihren Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen
+Sie, meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht eine
+unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr als das: sogar ein –
+Unglück! ...
+
+
+
+
+ Das Krokodil
+
+
+ Eine außergewöhnliche Begebenheit
+ oder
+ Eine Passage in der Passage
+
+Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit, wie ein
+gewisser Herr in der Passage von einem Krokodil ganz und gar
+verschlungen wurde und welche Folgen das hatte.
+
+
+ I.
+
+Am dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach plötzlich um halb ein
+Uhr mittags Jelena Iwanowna, die Gattin Iwan Matwejewitschs, meines
+gelehrten Freundes, Kollegen und halb und halb sogar entfernten
+Verwandten, den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man gegen eine
+gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der Passage bewundern konnte,
+mit eigenen Augen zu sehen. Iwan Matwejewitsch, der das Billett für
+seine Reise ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen, als aus
+Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits in der Tasche hatte, sich
+also vom Dienst schon quasi entbunden betrachtete und sich demzufolge an
+diesem Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte nicht nur
+nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden, sondern entbrannte alsbald sogar
+selber in reger Wißbegier für die Sehenswürdigkeit.
+
+„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen wir das Krokodil
+in Augenschein! Es ist nicht übel, wenn man, bevor man ins Ausland
+reist, erst einmal gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen
+gelernt hat.“
+
+Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin den Arm, um mit ihr
+in die Passage zu gehen. Wie gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn
+ich war und bin ja der Hausfreund.
+
+Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer Laune gesehen, als an
+diesem denkwürdigen Vormittage, – wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht
+ahnen, was uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte er sich
+ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als wir beim
+Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings in der Hauptstadt
+eingetroffene Ungeheuer bewundern konnte, angelangt waren, wünschte er
+aus eigenem Antriebe auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem
+Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem noch nie von
+ihm aus geschehen war. Wir wurden in ein nicht sehr großes Zimmer
+geführt, in dem sich außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige
+Kakadus und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere Affen
+befanden. Gleich beim Eingang aber, links von der Tür, stand ein großer
+Blechkasten – der Form nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein
+starkes Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen Zoll tief
+Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag ein riesengroßes
+Krokodil, lag regungslos wie ein Balken und hatte in unserem feuchten,
+ungastlichen Klima augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften
+eingebüßt. Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge, daß es in
+uns durchaus kein besonderes Interesse für sich hervorzurufen vermochte.
+
+„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna, fast mitleidig in
+gezogenem Tone, „und ich dachte, daß es ... ganz anders aussähe.“
+
+Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht hatte.
+
+Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers, ein Deutscher,
+sehr stolz und sehr selbstzufrieden an.
+
+„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu, „denn ihm gebührt die
+Ehre, augenblicklich der einzige Mensch zu sein, der in Rußland ein
+Krokodil besitzt.“
+
+Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs schreibe ich
+gleichfalls seiner gehobenen Stimmung zu, da er sonst recht neidisch zu
+sein pflegte.
+
+„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“ äußerte sich Jelena
+Iwanowna, pikiert durch die Haltung des Deutschen, mit graziösem Lächeln
+sich an ihn wendend, um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver,
+das die Frauen ja so gern üben.
+
+„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem Russisch und
+begann sogleich, indem er das Drahtnetz aufhob, mit einem Stückchen das
+Krokodil auf den Kopf zu stoßen.
+
+Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum Beweise seiner
+Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu bewegen, dann rührte es auch die
+Vorderpfoten und erhob ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es
+einen eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein langsames
+Schnarchen erinnerte.
+
+„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche schmeichelnd,
+sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe.
+
+„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich, als es sich zu
+bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna noch koketter. „Jetzt werde ich
+es womöglich im Traume sehen!“
+
+„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte mit einem Anflug von
+Galanterie der Deutsche, worauf er als erster über seine eigenen Worte
+zu lachen begann; von uns jedoch lachte niemand.
+
+„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich Jelena Iwanowna
+ausschließlich an mich, „sehen wir uns lieber die Affen an. Ich liebe
+Affen über alles! Einzelne sind geradezu süß, sind so reizend! ... das
+Krokodil aber ist einfach abscheulich.“
+
+„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan Matwejewitsch nach,
+dem es angenehm war, vor seiner Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser
+schläfrige Landsmann Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er blieb
+beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem Handschuh die Nase
+des Krokodils, um es, wie er später selbst eingestand, zu veranlassen,
+nochmals zu schnarchen. Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena
+Iwanowna, als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus interessanteren
+Affenkäfig.
+
+Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand hätte etwas Schlimmes
+voraussehen können. Jelena Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin,
+in das die Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise
+auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an mich, um mich bald auf
+diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam zu machen, von denen jeder
+auffallende Ähnlichkeit mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben
+sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die Ähnlichkeit war
+bisweilen in der Tat ganz verblüffend. Nur der Menageriebesitzer, der
+von Jelena Iwanowna als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen
+oder ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum Schluß sehr
+brummig. Doch gerade in dem Augenblick, als mir die Übellaunigkeit des
+Deutschen auffiel, erschütterte plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich
+kann sogar sagen, ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte nicht,
+was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als ich hörte, daß auch
+Jelena Iwanowna aufschrie – da wandte ich mich zurück und ... was
+erblickte ich! Ich erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan
+Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils, das ihn in der
+Mitte des Körpers gefaßt hatte. Ich sah ihn nur noch einen Augenblick,
+wie er, horizontal in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit den
+Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden war.
+
+Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher schildern.
+Während des ganzen Vorgangs stand ich wie ein lebloser Gegenstand, der
+nur hörte und sah – deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich
+nicht, jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem Vorgang
+zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick tat. „Denn,“ dachte
+ich bei mir – soviel Überlegungskraft besaß ich doch noch! – „wie, wenn
+das, anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre – wie groß
+würde dann die Unannehmlichkeit sein!“ Doch zur Sache.
+
+Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan Matwejewitsch in seinem
+Rachen mit den Beinen zu sich drehte und dann einmal schluckte, – und
+seine Beine waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es wie ein
+Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren Iwan Matwejewitsch wieder ein
+wenig hervorstieß, so daß dieser, der sich vergeblich bemühte,
+herauszuspringen, sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte –
+schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein Freund verschwand bis
+zu den Lenden. Dann, nachdem es wieder aufgestoßen, schluckte es noch
+einmal, und dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch vor
+unseren Augen im Ungeheuer verschwand. Endlich, nachdem es zum
+letztenmal geschluckt, hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund
+tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der Oberfläche des
+Krokodils Wölbungen hervor, an denen man erkennen konnte, wie Iwan
+Matwejewitsch mit all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres
+zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder aufzuschreien, als
+das Schicksal sich noch einmal gewissenlos über uns lustig machte: das
+Krokodil blähte sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene
+Portion doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß seinen
+entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen mit dem Aufstoß oder
+gewissermaßen als dessen Personifikation noch einmal, zum letztenmal,
+auf einen Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr und wieder
+verschwand, sodaß wir nur eine Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht
+gesehen hatten, von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des
+Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser auf dem
+Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast den Anschein, als sei dieser
+verzweifelte Kopf nur deshalb hervorgekommen, um noch einmal, zum
+letztenmal, einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt von
+allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch die Frist war gar zu
+kurz bemessen: das Krokodil hatte schon einige Kräfte gesammelt und
+schluckte von neuem und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht
+mehr zum Vorschein zu kommen.
+
+Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden Menschenkopfes
+war so entsetzlich, gleichzeitig aber – sei es infolge der Überraschung,
+der Geschwindigkeit oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es
+so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte. Natürlich
+besann ich mich sogleich – es ging doch nicht an, daß ich in meiner
+Eigenschaft als Hausfreund in einem solchen Augenblick lachte! – wandte
+mich daher schnell zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als
+möglich:
+
+„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“
+
+Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena Iwanownas während
+des ganzen Vorgangs zu schildern, nicht gewachsen. Ich kann nur sagen,
+daß sie nach dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener
+Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig, nur mit weit
+aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden Augen dem Vorgang zusah;
+erst als das Haupt ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht
+wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück und sie
+begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte ich mir nicht anders zu
+helfen, als ihre Hände zu erfassen und sie krampfhaft festzuhalten. In
+diesem Augenblick erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er
+griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie:
+
+„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen! Mutter, Mutter,
+Mutter!“
+
+Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“ erschien: eine
+bejahrte, rotwangige Frau mit einer Haube auf dem Kopf, doch sonst
+ziemlich unordentlich gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes
+sah, stürzte sie ganz verstört herbei.
+
+Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna rief immer nur dies
+eine Wort: „Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald
+zum Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach anflehte –
+wohl in einem Augenblick des Vergessens und der Selbstverleugnung –
+irgend jemanden oder irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und
+die „Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten wie die
+Kettenhunde an ihrem Blechkasten.
+
+„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen ganzen Menschen
+verschlungen!“ schrie der Besitzer des „Karlchen“.
+
+„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß sterben!“ jammerte
+die Mutter.
+
+„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos geworden!“ schrie
+wieder der Deutsche, und –
+
+„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die Mutter.
+
+„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen das Tier
+schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna, die sich an den Rock des
+Deutschen klammerte.
+
+„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr Mann mein Krokodil
+gereizt?“ schrie der Deutsche. „Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen
+Sie ihn mir bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen! Das war
+mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“
+
+Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des eingewanderten
+Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner unordentlichen „Mutter“ nicht
+wenig entrüstet war. Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte
+Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt dachte ich an
+die Möglichkeit, daß jeden Augenblick gerade aus einem der anstoßenden
+Lokale der Passage, in dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein
+Vegetarianer die Menagerie betreten konnte – und was konnte es da nicht
+alles für Mißverständnisse geben, wenn sie noch lange fortfuhr, immer
+nur diese eine Bitte flehentlich und angstvoll zu wiederholen? Und in
+der Tat sollte es sich bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht
+grundlos waren: Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang,
+der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte, zur Seite gezogen
+wurde und im Türrahmen eine bärtige Gestalt mit einer Beamtenmütze in
+der Hand erschien, eine Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten
+stand, sondern die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen
+jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht war,
+diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht wegen des
+Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar nicht zu zahlen gewillt
+war, vom Direktor der Menagerie belästigt zu werden.
+
+„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte, bemüht, das
+Gleichgewicht nicht zu verlieren, „macht Ihrer geistigen Entwicklung
+wenig Ehre und ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem Gehirn
+zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn die
+Repräsentanten des Fortschritts und der Humanität Sie in ihren
+satirischen Zeitschriften der nötigen Kritik unterwerfen, und ...“
+
+Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu beenden, denn als
+der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen einen Menschen im
+„Ausstellungsraume“ sprechen hörte, der für dieses Vergnügen nichts
+gezahlt hatte, stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn,
+den humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen
+Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur noch ihre wortreiche
+Auseinandersetzung hinter dem Vorhang. Doch der Deutsche kehrte sehr
+bald zurück, um seine Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der
+armen Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine Operation
+seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten zu retten.
+
+„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch aufgeschlitzt werden
+soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch Ihren Mann aufschlitzen! ... _Mein_
+Krokodil! Mein Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater hat
+das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder zeigen, und so lange
+ich lebe werde ich es gleichfalls zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich
+bin in ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa bekannt,
+deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden, Madame!“
+
+„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau Mutter bei, „wir
+werden Sie verklagen, wenn unser Karlchen platzt!“
+
+„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“ wandte ich
+ziemlich ruhig ein, um Jelena Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu
+bewegen, nach Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan
+Matwejewitsch wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in den
+Gefilden der Seligen befinden.“
+
+„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die Stimme Iwan
+Matwejewitschs, die uns alle erstarren machte, „mein Freund, du
+täuschest dich. Mein Rat wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses
+Quartals zu wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser
+Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“
+
+Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem Tone gesprochen
+waren und in dieser Lage doch eine seltene Geistesgegenwart verrieten,
+waren so überwältigend, daß wir unseren Ohren nicht trauten.
+Nichtsdestoweniger eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und
+lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als unfreiwilliger
+Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen. Seine Stimme klang wie
+diejenige eines Menschen, der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen
+vor den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das Gespräch
+zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen Fluß getrennt sich von Ufer
+zu Ufer allerlei zuschreien, – ein Scherz, den ich einmal auf einem
+Polterabend das Vergnügen hatte, kennen zu lernen.
+
+„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du noch?“ fragte Jelena
+Iwanowna bebend.
+
+„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan Matwejewitschs fernher
+leise schreiende Stimme, „denn ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne
+jede Körperverletzung verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur die
+Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen werden; denn
+wenn man das Billett zu einer Auslandsreise in der Tasche hat und dabei
+nur in das Innere eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf
+Scharfsinn schließen.“
+
+„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen des
+Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache ist doch, daß man
+dich irgendwie von dort herauszieht.“
+
+„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus. „Das lasse ich
+einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal so viel Publikum geben und
+ich werde fünfzig Kopeken statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und
+Karlchen fällt’s nicht ein, zu platzen!“
+
+„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu.
+
+„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch, „zuerst kommt das
+ökonomische Prinzip.“
+
+„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst laut zu, „ich werde
+mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten begeben, denn mir ahnt,
+daß wir allein hier nichts werden ausrichten können.“
+
+„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch, „nur wird es in unserer
+Zeit der Handelskrisis schwer halten, ohne finanzielle Entschädigung den
+Leib des Krokodils aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage
+aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil verlangen? Und
+diese Frage zieht eine zweite nach sich: wer wird es bezahlen? Denn wie
+du weißt, bin ich kein Kapitalist! ...“
+
+„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte ich schüchtern
+vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils unterbrach mich sogleich:
+
+„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich kann dafür dreitausend
+Rubel verlangen, ich kann sogar viertausend verlangen! Jetzt wird das
+Publikum herbeiströmen – ich kann auch fünftausend verlangen für mein
+Krokodil!“
+
+Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier leuchtete in
+seinen Augen.
+
+„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich empört, zu.
+
+„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei Ossipytsch fahren
+und ihn durch meine Tränen zu erweichen suchen!“ sagte Jelena Iwanowna
+erregt.
+
+„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan Matwejewitsch
+schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen Groll gegen diesen
+Andrei Ossipytsch: er wußte, daß seine Frau sehr gern zu diesem
+Allmächtigen gefahren wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen
+zu zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir, Ssemjon
+Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte ich gleichfalls abraten,
+zu meinen Vorgesetzten zu gehen; man kann nicht wissen, was daraus
+schließlich noch entsteht. Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch,
+so, weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer und etwas
+beschränkter Mensch, dafür aber solide und, was die Hauptsache ist,
+gerade heraus. Grüße ihn von mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich
+schulde ihm noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei also
+so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das wird den Alten
+günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns sein Rat zur Richtschnur dienen.
+Jetzt aber sei so freundlich und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ...
+Beruhige dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde geworden
+von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen. Hier ist es zum Glück
+warm und weich, obschon ich noch nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in
+meinem neuen Heim umzusehen ...“
+
+„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig, doch
+sichtlich erfreut Jelena Iwanowna.
+
+„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“ antwortete der arme
+Gefangene, „aber ich kann mit den Händen fühlen und mich hier tastend
+orientieren ... Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir
+nicht deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber, Ssemjon
+Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her, und damit du es, bei deiner
+bekannten Vergeßlichkeit, diesmal nicht wieder vergißt, binde dir
+sogleich einen Knoten ins Taschentuch ...“
+
+Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu können, denn
+erstens war ich vom Stehen müde geworden und zweitens wurde es mir
+allmählich langweilig. Ich reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die
+durch die Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung
+meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie.
+
+„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“ rief uns noch
+der Deutsche nach.
+
+„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna, die in jeden
+Spiegel zwischen den Schaufenstern der Passage einen Blick warf und sich
+augenscheinlich dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst
+aussah.
+
+„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer angeregter
+Stimmung, stolz auf meine Dame, die neidisch von den Vorübergehenden
+betrachtet wurde.
+
+„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit koketter Langsamkeit,
+„ich habe nichts von alledem begriffen, was Iwan Matwejewitsch dort
+sprach, namentlich nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“
+
+„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich eilfertig und
+begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung fremden Kapitals
+auseinanderzusetzen, Ansichten, die ich am Morgen desselben Tages in den
+„Petersburger Nachrichten“ gelesen hatte.
+
+„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich, als sie mir eine
+Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie doch endlich auf, Sie
+Plagegeist! Welch einen Unsinn Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich
+sehr rot im Gesicht?“
+
+„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die Gelegenheit, ihr eine
+Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen.
+
+„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der arme Iwan
+Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, kokett das
+Köpfchen auf die Seite neigend, „er tut mir wirklich leid. Ach, mein
+Gott!“ rief sie plötzlich ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch,
+wie wird er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ... wie wird
+er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“
+
+„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich, gleichfalls
+bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese Möglichkeit noch gar
+nicht gedacht. Da haben wir wieder einen Beweis dafür, daß in
+Lebensfragen die Frauen weit praktischer sind als wir Männer!“
+
+„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ... Und nun sitzt er da, so
+ganz ohne Unterhaltung! Und außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie
+dumm, daß ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich denn jetzt
+eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit berückendem Lächeln,
+sichtlich interessiert für ihren neuen Stand. „Hm! ... aber er tut mir
+doch trotzdem leid! ...“
+
+Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche und natürliche
+Sehnsucht einer jungen, interessanten Frau nach ihrem Manne. Endlich
+waren wir in ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen
+Beruhigungsversuchen, während welcher ich mit ihr zu Mittag gespeist
+hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen aromatischen Kaffees
+auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch zu begeben, denn ich nahm an, daß
+um diese Zeit alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen
+sind.
+
+Übrigens:
+
+Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben habe, der mir
+der betreffenden Erzählung angepaßt scheint, gedenke ich fernerhin einen
+minder hochtrabenden anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon
+ich den verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze.
+
+
+ II.
+
+Timofei Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher Eile und, wie es mir
+schien, sogar Verwirrung. Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und
+schloß die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht stören,“ sagte
+er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer Handbewegung forderte er
+mich auf, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, während er sich selbst
+in einen bequemen Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich
+abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug und auf alle
+Fälle eine gewissermaßen offizielle, fast sogar strenge Miene aufsetzte,
+obgleich er doch weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter war,
+sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar guten Bekannten
+gegolten hatte.
+
+„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine Rede beendet hatte,
+„muß ich Sie bitten, in Erwägung zu ziehen, daß ich kein Vorgesetzter
+bin, sondern auf gleicher Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch
+stehe ... Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb ich
+mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“
+
+Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber, daß er bereits alles
+zu wissen schien. Nichtsdestoweniger erzählte ich ihm noch einmal die
+ganze Geschichte, und zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr
+erregt, denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen
+Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne jede Verwunderung
+zu, dafür aber mit allen Anzeichen des Mißtrauens.
+
+„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe schon immer vermutet,
+daß gerade so etwas mit ihm geschehen würde.“
+
+„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser Fall ist doch an sich,
+sollte ich meinen, noch viel mehr als außergewöhnlich ...“
+
+„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon immer, während seiner
+ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade zu einem solchen Abschluß. Er war
+gar zu hitzig, war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘ im
+Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht man jetzt, wohin das
+führt!“
+
+„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich, man kann ihn
+daher doch nicht als Beweis gegen alle fortschrittlich Gesinnten
+ausspielen ...“
+
+„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben Sie mir, was ich sage.
+Das kommt, sehen Sie mal, von übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die
+übermäßig Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken,
+vornehmlich dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens ist es ja
+möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er sich plötzlich, offenbar
+gekränkt. „Ich bin schon alt und überdies nicht gar so gebildet; ich bin
+Soldatenkind und habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich
+mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“
+
+„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie! Im Gegenteil, Iwan
+Matwejewitsch wartet nur auf Ihren Rat, er vertraut sich ganz Ihrer
+Leitung an. Er wartet nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen
+tränenden Auges ...“
+
+„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese Tränen werden wohl
+Krokodilstränen sein, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Weshalb,
+sagen Sie mir das doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und
+mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein Vermögen.“
+
+„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei Ssemjonytsch,“
+versetzte ich mitleidig. „Er wollte ja nur auf drei Monate verreisen ...
+in die Schweiz ... in die Heimat Wilhelm Tells ...“
+
+„Wilhelm Tells? Hm!“
+
+„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte die Museen
+besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“
+
+„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es einfach aus Stolz. Was für
+Tiere denn? Tiere! Gibt es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben
+Menagerien, Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in nächster Nähe von
+Petersburg. Aber da ist er ja nun glücklich selbst in ein Tier
+hineingeraten, und noch dazu in ein Krokodil!“
+
+„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch ist im Unglück, der
+Mensch wendet sich an Sie als Freund, wie man sich etwa an einen älteren
+Verwandten wendet, er bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm
+Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit Jelena Iwanowna Mitleid!“
+
+„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes Dämchen,“ meinte Timofei
+Ssemjonytsch, augenscheinlich etwas aufgeweckter, und schnupfte mit
+Genuß seinen Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o ... rundlich,
+und das Köpfchen hält sie immer so ein wenig zur Seite geneigt, so ein
+wenig ... Ja. Sehr angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern
+von ihr.“
+
+„Er _sprach_ von ihr?“
+
+„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken. Die Büste, sagte
+er, der Blick, die Coiffure – ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein
+Frauenzimmer, und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch
+junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als wolle er
+trompeten.
+
+„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen Mann, und sehen Sie,
+was der sich plötzlich für eine exzentrische Laufbahn wählt ...“
+
+„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes, Timofei
+Ssemjonytsch!“
+
+„Gewiß, gewiß.“
+
+„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“
+
+„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“
+
+„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas, sagen Sie, was wir
+tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener Mensch! Welche Schritte soll
+man tun? Soll man durch die Vorgesetzten oder ...“
+
+„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“ versetzte Timofei
+Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen Rat zu hören wünschen, so muß man
+die Sache zuerst vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn
+der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen. Das ist
+die Hauptsache, daß es sich hier um etwas Noch-nie-dagewesenes handelt,
+es hat hierfür noch kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und
+schon deshalb ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor allem
+Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen. Man muß abwarten,
+abwarten muß man ...“
+
+„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch? Und wie, wenn
+er dort erstickt?“
+
+„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube ich, daß er sich dort
+ganz behaglich fühle?“
+
+Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von Anfang an. Timofei
+Ssemjonytsch wurde nachdenklich.
+
+„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose in der Hand drehte.
+„Meiner Ansicht nach kann es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang
+abliegt, anstatt sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal in
+Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig, dabei zu ersticken,
+deshalb wäre es angebracht, gewisse Vorkehrungen zur Erhaltung der
+Gesundheit zu treffen, sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen,
+vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen betrifft, so ist er,
+meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus in seinem Recht, denn es ist
+_sein_ Krokodil, in das Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um
+Erlaubnis zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht der
+Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon übrigens dieser,
+soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen hat. Nun, das Krokodil
+ist aber in diesem Fall persönliches Eigentum, folglich kann man es
+nicht so ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer den
+geforderten Schadenersatz zu zahlen.“
+
+„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“
+
+„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also wenden Sie sich an
+diese.“
+
+„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch bei uns vermißt
+werden. Man kann vielleicht irgendwelche Aufschlüsse von ihm verlangen,
+ihn zu Rate ziehen wollen ...“
+
+„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ... Zudem hat er ja jetzt Ferien,
+folglich ignorieren wir ihn und sein Treiben, – mag er dort inzwischen
+Europa besichtigen, was geht es uns an! Eine andere Sache ist es, wenn
+er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint. Nun, dann werden wir
+uns erkundigen, Nachforschungen anstellen ...“
+
+„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich!“
+
+„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat ihn gebeten, ins Krokodil
+zu kriechen? Das käme ja schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm
+noch eine Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen.
+Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches Eigentum, folglich
+tritt hier bereits das sogenannte ökonomische Prinzip in Aktion. Das
+ökonomische Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach
+Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka Andrejewitsch
+ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie kennen doch Ignatij Prokofjitsch?
+Ein Kapitalist, ^homme d’affaires^, und er redet, wissen Sie, ganz
+vorzüglich. ‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘ Wir
+müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst gebären. Dazu
+müssen wir zuerst Kapital schaffen, das heißt, der Mittelstand, die
+sogenannte Bourgeoisie muß geboren werden. Da wir aber hierzulande
+selbst kein Kapital haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen.
+Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die hier den
+Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke kaufen wollen, mit
+günstigeren Bedingungen entgegenkommen. ‚Dieses Gemeindewesen, wie wir
+es jetzt haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen Besitz,
+der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist einfach Gift,‘ sagte er,
+‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen Sie, er redet so mit Feuer, mit
+Temperament. Nun, ihm steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist
+etwas anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘ sagt er,
+‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere Landwirtschaft heben. Die
+ausländischen Gesellschaften müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land
+ankaufen und dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen,
+teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘ – und wissen Sie,
+er sagt das so kategorisch: _tei_–len, _tei_–len, sagt er und schneidet
+so mit der Hand – ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern
+verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben wollen. Oder auch
+nicht einmal verkaufen, sondern einfach verpachten. Wenn dann das ganze
+Land in den Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘ sagt er,
+‚dann kann man jeden beliebigen Preis als Pacht ansetzen. Folglich wird
+der Bauer allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten, wie er
+jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt, kündigt man ihm. Folglich wird
+er sich in acht nehmen, wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache
+von dem, was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was fehlt
+ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor Hunger nicht sterben
+wird, na, und da faulenzt er eben und säuft. So aber würde hier Geld aus
+allen Ländern zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine
+Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung, The Times, die
+vor nicht langer Zeit einen Artikel über unsere Finanzen gebracht hat,
+daß unsere Finanzen sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen
+Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel gibt und keine
+arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij Prokofjitsch spricht gut,
+das muß man ihm lassen. Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine
+Schrift einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und nachher
+will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen. Tja, das ist etwas
+anderes als Gedichte machen, wie sie ein Iwan Matwejewitsch schreibt
+...“
+
+„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“ lenkte ich
+wieder ein, nachdem ich den Alten hatte ausreden lassen.
+
+Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern einmal aus, um bei
+der Gelegenheit zu beweisen, daß er nicht etwa zurückgeblieben, sondern
+von allen neuen Strömungen wenigstens unterrichtet war.
+
+„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das ist es ja, wovon ich
+rede. Da bemühen wir uns nun um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum
+hat sich das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch Iwan
+Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt jetzt die Gelegenheit
+zu benutzen und den ausländischen Besitzer zu protegieren, im Gegenteil
+nichts weniger als seinem Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich
+bitt’ Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich Iwan
+Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines Vaterlandes wäre,
+aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen und stolz darauf sein, daß er
+durch seine Person den Wert des ausländischen Krokodils verdoppelt oder
+gar verdreifacht hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu einer
+erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt es hier dem ersten,
+dann wird auch der zweite nicht lange auf sein Erscheinen warten lassen,
+und der dritte wird dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile
+mitbringen, und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren.
+Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja, man muß eben begünstigen,
+begünstigen ...“
+
+„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief ich aus, „Sie verlangen
+ja eine ganz übermenschliche Selbstaufopferung vom armen Iwan
+Matwejewitsch!“
+
+„Ich _verlange_ nichts, und vor allem bitte ich Sie – wie ich es schon
+einmal getan – nicht zu vergessen, daß ich nicht sein Vorgesetzter bin
+und somit von niemandem etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn
+meines Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘, wie
+eine unserer großen Zeitungen sich nennt, sondern als gewöhnlicher Sohn
+meines Vaterlandes. Und überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in
+dieses Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein solider
+Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen Rang erreicht hat,
+außerdem rechtmäßig verheiratet ist, und plötzlich – solch ein Schritt!
+Sagen Sie doch selbst!“
+
+„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig, nur aus Versehen!“
+
+„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse soll dem Deutschen
+das Krokodil bezahlt werden? – wenn Sie mir das gefälligst sagen
+könnten.“
+
+„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“
+
+„Wird das ausreichen?“
+
+„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer zugeben. „Der
+Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn er glaubte, sein Krokodil
+würde platzen; dann aber, als er sich überzeugt hatte, daß alles
+glücklich abgelaufen war, wurde er gerader größenwahnsinnig und freute
+sich sehr über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“
+
+„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum wird sich jetzt um
+Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer ist nicht so dumm, daß
+er das nicht auszunutzen verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan
+Matwejewitsch vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich zu
+übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er sich im Krokodil
+befindet, aber möge man es nicht offiziell wissen. In dieser Hinsicht
+trifft es sich sogar sehr gut, daß er offiziell als verreist gilt und
+man ihn im Auslande glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er
+sich im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht glauben.
+Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache ist also nur:
+abwarten. Ja, und es hat doch damit gar keine Eile ...“
+
+„Aber wenn er zum Beispiel ...“
+
+„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig ...“
+
+„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“
+
+„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es ein sehr
+verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt man hier nicht vorwärts.
+Aber das Schlimmste ist, daß wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben,
+wie gesagt: uns fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur
+einen einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches
+ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden? Fängt man
+an nachzudenken, so kann er lange warten ...“
+
+Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke.
+
+„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich ihn, „daß man, wenn
+er nun einmal im Bauche des Krokodils ist und dieses dank himmlischer
+Vorsehung nicht früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen
+eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als Dienst anrechne?
+...“
+
+„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet und
+selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen braucht ...“
+
+„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“
+
+„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“
+
+„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt, als sei er dorthin
+abkommandiert ...“
+
+„Was! – wohin?“
+
+„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen zur Nachforschung
+und Untersuchung der Tatsachen an Ort und Stelle. Das würde natürlich
+etwas Neues sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde
+es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“
+
+Timofei Ssemjonytsch überlegte.
+
+„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere eines Krokodils
+abzukommandieren, mit _besonderen_ Aufträgen, versteht sich, ist meiner
+persönlichen Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht
+vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge sein?“
+
+„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung der Naturvorgänge
+an Ort und Stelle, mitten im Leben sozusagen. Heutzutage ist doch
+Naturwissenschaft Trumpf ... Da könnte er denn dort leben und alles
+mitteilen ... nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich
+geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten, oder sonst
+etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial zu sammeln ...“
+
+„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer analytischen
+Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich sagen, daß ich nicht viel
+davon verstehe, ich bin kein Philosoph. Sie sagen: Tatsachenmaterial, –
+wir sind doch ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen nicht,
+was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt, daß diese Statistik auch
+noch gefährlich ist ...“
+
+„Inwiefern denn das?“
+
+„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie doch einsehen – würde er
+die Tatsachen mitteilen, indem er auf der Seite liegt. Was ist aber das
+für ein Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon wieder eine
+Neueinführung, die außerdem gefährlich ist. Und weiter: es fehlt uns
+jegliches Beispiel. Tja, wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild
+nennen könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so ließe es
+sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch machen, daß man ihn dorthin
+abkommandiert.“
+
+„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil nach Rußland
+gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“
+
+„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen, ist diese Ihre Einwendung
+richtig und könnte sogar zur Basis eines entsprechenden Verfahrens in
+dieser Angelegenheit dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder in
+Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender Krokodile die Beamten
+anfangen würden zu verschwinden, und bald würden sie alle verlangen,
+zumal es dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden, um dann auf
+der Bärenhaut liegen zu können ... das ist doch, nicht wahr, ein
+schlechtes Beispiel! So kann ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um
+auf diese Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“
+
+„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort für ihn einlegen,
+Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit: Iwan Matwejewitsch hat mich
+gebeten, Ihnen eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren
+es, glaube ich.“
+
+„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch. Ich weiß.
+Und wie guter Laune er damals war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“
+
+Der alte Mann war aufrichtig gerührt.
+
+„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“
+
+„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen, nur um zu
+sondieren ... Aber übrigens – könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir,
+inoffiziell, so auf Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer
+nötigen Falles für sein Krokodil verlangen würde?“
+
+Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden.
+
+„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie erlauben, werde ich
+bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es erfahren habe.“
+
+„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu Hause? Langweilt sich?“
+
+„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“
+
+„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und jetzt ist es ja eine
+so günstige Gelegenheit ... Tja, was ihn nur geplagt haben mag, das
+Krokodil zu besehen. Übrigens werde ich es mir doch auch einmal
+anschauen müssen ...“
+
+„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“
+
+„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen meinen Schritt keine
+Hoffnung machen. Ich werde eben nur als Privatperson hingehen ... Nun,
+auf Wiedersehen, ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch; werden
+Sie dort sein?“
+
+„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“
+
+„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist doch ein Leichtsinn,
+ein Leichtsinn!“
+
+Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken gingen mir durch
+den Kopf. Dieser Timofei Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und
+grundehrlicher Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich
+doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern
+konnte und solche Timofei Ssemjonytschs immerhin schon eine Seltenheit
+bei uns geworden sind.
+
+Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage, um dem armen Iwan
+Matwejewitsch das Ergebnis meiner Unterredung mit unserem erfahrenen
+Kollegen mitzuteilen. Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier
+nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich dort im Krokodil
+eingerichtet und wie konnte ein Mensch überhaupt in einem Krokodil
+leben? Wie war das möglich? Mitunter schien es mir wahrlich nur ein
+ungeheuerlicher Traum zu sein, um so mehr, als es sich um ein Ungeheuer
+handelte ...
+
+
+ III.
+
+Und doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare Wirklichkeit. Würde
+ich es denn sonst überhaupt erzählen! Aber ich fahre fort ...
+
+Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich in der Passage
+anlangte. In die Menagerie konnte ich nur durch eine Hintertür gelangen,
+da der Besitzer seine „Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte.
+Er selbst ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener
+mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher. Man sah es ihm auf den
+ersten Blick an, daß er nichts mehr befürchtete und das Publikum an
+diesem Nachmittage sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“
+erschien erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es schien, nur
+deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie und ihr Gatte steckten oft die
+Köpfe zusammen und tuschelten geschäftig. Obschon die „Ausstellung“
+geschlossen war, verlangte er von mir doch noch die üblichen
+fünfundzwanzig Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene
+Akkuratesse!
+
+„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen. Das übrige Publikum zahlt
+jetzt einen Rubel pro Person, von Ihnen aber nehme ich nur
+fünfundzwanzig Kopeken, denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten
+Freundes und Freundschaft respektiere ich ...“
+
+„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut, indem ich den
+Deutschen stehen ließ und zum Krokodil eilte. Im geheimen hoffte ich,
+daß mein lauter Ruf bis zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe
+schmeicheln würde.
+
+Ich hatte mich nicht getäuscht.
+
+„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der Tiefe des Raumes
+zurück, oder wie unter einem Kissen hervor, obwohl ich fast schon beim
+Krokodil angelangt war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ...
+Wie steht es?“
+
+Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann ihn eilig und
+teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu überschütten: wie er sich fühle, wie
+es denn dort im Krokodil aussehe und was dort im Magen noch außer
+ihm sei? – wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes
+Freundschaftsverhältnis verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig
+unterbrach er mich.
+
+„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter heiserer
+Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr unsympathisch war. Übrigens
+hatte er sich mir gegenüber oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt.
+
+Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit allen Details, was
+Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte. Übrigens bemühte ich mich doch, durch
+den Tonfall meiner Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt
+fühlte.
+
+„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch kategorisch, wie er
+gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte. „Liebe praktische Menschen und
+kann sentimentale Memmen nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben,
+daß auch deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht ganz
+barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen, das sowohl
+wissenschaftlich wie sittlich neu ist. Doch jetzt nimmt das alles eine
+andere, ganz unerwartete Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des
+Gehalts zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“
+
+„Nein, ich stehe.“
+
+„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den Fußboden, und höre
+aufmerksam zu.“
+
+Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich hin, daß
+die Beine laut aufschlugen.
+
+„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum hat es heute eine
+Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte der Raum die Menschen gar nicht
+fassen, die eintreten wollten. Der Ordnung halber erschien die Polizei.
+Gegen acht Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die
+Ausstellung, erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um sich
+besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird es hier ein ganzer
+Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen, daß mit der Zeit alle
+gebildeten Leute unserer Hauptstadt, alle Damen der vornehmen
+Gesellschaft, alle Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren
+und Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das: man wird aus
+allen Provinzen unseres großen, neugierigen Reiches herkommen, um das
+Wunder anzustaunen. Daraus ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich
+unsichtbar, doch die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse
+belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung, mich als
+Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen! Werde, um im Bilde zu
+reden, ein Katheder sein, von dem herab ich die Menschheit unterweise.
+Schon allein die naturwissenschaftlichen Aufschlüsse, die ich über das
+von mir bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und deshalb
+murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall, der mich hierherbefördert
+hat, sondern hoffe, dank diesem Zufall, die glänzendste Karriere zu
+machen.“
+
+„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich trocken.
+
+Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich sprach, das
+persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr gebrauchte, – so voll war er
+von sich! Nichtsdestoweniger machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was
+bildet sich dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu
+empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch großtun!“
+
+„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf meine Bemerkung,
+„denn ich bin durchdrungen von großen Ideen. Kann erst jetzt zum
+erstenmal in Muße über die Verbesserung der Lebensbedingungen der
+Menschheit nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit und
+das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine neue, meine eigene Theorie
+für die ökonomischen Verhältnisse erfinden und stolz auf sie sein können
+– was mir bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen
+Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen, werde meine
+Gegenbeweise vorbringen und ein neuer Charles Fourier werden. Hast du
+Timofei Ssemjonytsch die sieben Rubel gegeben?“
+
+„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so, daß allein schon
+der Ton meiner Stimme sagte, daß ich seine Schuld aus meiner Tasche
+bezahlt hatte.
+
+„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig. „Erwarte unbedingt
+eine Gehaltserhöhung, denn wem sollte man sonst eine zusprechen, wenn
+nicht mir? Ich bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. – Meine
+Frau?“
+
+„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena Iwanownas erkundigen?“
+
+„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes Weib.
+
+Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch innerlich knirschend
+erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna nach Hause begleitet und verlassen
+hatte. Er unterbrach mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte.
+
+„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte er gereizt. „Werde ich
+_hier_ berühmt, nun, so will ich, daß sie _dort_ berühmt werde. Alle
+Gelehrten, Dichter, Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische,
+alle Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir am Vormittage,
+am Abend in ihrem Salon erscheinen. In der nächsten Woche muß sie jeden
+Abend bei sich empfangen. Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel
+geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr gut nur mit
+Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen wir über den Kostenpunkt
+weiter kein Wort zu verlieren. Hier wie dort wird man nur von mir reden.
+Habe mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir reden machen
+könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses Wunsches versagt, da ich
+durch meinen Rang und meine Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank
+dem einen ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht. Jedes
+meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder Ausspruch erörtert,
+weitergegeben, gedruckt werden. Werde mich ihnen offenbaren! Sie werden
+begreifen, welche Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast
+haben umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister sein und ein
+ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen. Inwiefern, sag’ doch
+selbst, inwiefern bin ich schlechter als irgend solch ein Garnier-Pagès
+oder wie sie da heißen? Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein:
+ich glänze durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und
+Liebenswürdigkeit. ‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine Frau,‘
+werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend, _weil sie seine Frau ist_,‘
+werden die anderen den Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß
+sie sich sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll, das
+von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist, um über alles reden zu
+können. Doch soll sie vor allen Dingen stets den Leitartikler in den
+‚St. Petersburger Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des
+‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen wird, mich
+bisweilen mit dem Krokodil in den Salon meiner Frau zu bringen. Werde
+dann auf dem Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon stehen
+und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen an zurechtlegen kann, nur
+so um mich werfen. Dem Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen;
+mit dem Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen werde ich
+unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja jetzt für ihre Männer ganz
+ungefährlich bin. Allen übrigen werde ich als Vorbild dienen, als
+Beispiel demutvoller Ergebung und Unterordnung meines Willens unter
+denjenigen der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer glänzenden
+literarischen Erscheinung machen, ich werde sie hervorheben und dem
+Publikum erklären; als meine Frau muß sie die größten Vorzüge haben, und
+wenn man mit Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset
+nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere Eugenie Tour
+nennen.“
+
+Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein Iwan Matwejewitsch,
+obschon dieser ganze Unsinn an den ehemaligen Iwan Matwejewitsch
+erinnerte, zur Zeit, wenn auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so
+doch hohes Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im Grunde war
+es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch, nur – wie soll ich
+sagen? – etwa durch ein zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen.
+
+„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst du, bei diesem Leben
+ein hohes Alter zu erreichen? Und überhaupt, sage doch: bist du gesund?
+Was ißt du, wie schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und du
+wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich ist, um mein
+Interesse nicht natürlich erscheinen zu lassen.“
+
+„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“ widersprach er
+ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem befriedigen. Du fragst, wie ich
+mich hier im Leibe des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das
+Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen Leeres erwiesen.
+Sein Inneres besteht gleichsam aus einem großen leeren Sack, der an jene
+Gummigegenstände erinnert, die man in den Schaufenstern der großen
+Kaufläden an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht irre, auch
+auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt sieht. Denn – sage es dir
+doch selbst – wie könnte ich mich sonst hier aufhalten?“
+
+„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung aus. „Ist das
+Krokodil wirklich ganz leer?“
+
+„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch streng und
+nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das gemäß den
+Gesetzen seiner Natur. Das Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen
+Rachen, der mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen
+Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau genommen. In der Mitte
+aber zwischen diesen zwei Extremitäten ist ein leerer Raum, der von
+einer kautschukartigen Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es
+wirklicher Kautschuk ...“
+
+„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber, das Herz?“
+unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt.
+
+„Davon gibt’s hier n–_nichts_, absolut nichts, und aller
+Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas hier gegeben.
+Alles das ist nur eine freie Erfindung der müßigen Phantasie
+leichtsinniger Reisender. Wie man ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen
+aufbläst, so kann ich jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist
+bis zur Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als Hausfreund
+hier Platz finden, wenn du so großmütig wärest, mir Gesellschaft leisten
+zu wollen. Ich habe sogar daran gedacht, im äußersten Fall Jelena
+Iwanowna hierher zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit
+des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen Angaben überein.
+Denn, nehmen wir zum Beispiel an, daß dir der Auftrag zuteil würde, ein
+neues Krokodil zu schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die
+Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils? Die Antwort
+liegt auf der Hand: Menschen zu verschlingen. – Wie nun das Innere des
+Krokodils zweckmäßig schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr
+Menschen verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort noch
+leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt, hat die Physik
+bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet. Infolgedessen wird durch
+diese Leere, die die Natur nicht duldet, die Funktion des Krokodils
+hervorgerufen, denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben
+kann, muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und folglich
+greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in ihrem Bereich
+befindet. Damit hast du den Grund, weshalb alle Krokodile Menschen
+verschlingen. Das ist das Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch
+gilt es selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders ist zum
+Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel der Kopf eines
+Menschen ist, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich zu füllen, doch
+ist das wiederum nur als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu
+betrachten. Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und alles,
+was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand erschlossen, durch
+eigene Anschauung, während ich mich im Eingeweide der Natur selbst
+befand, an der Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag
+lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein, denn allein
+schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit. Krokodil – Crocodillo
+– ist zweifellos ein italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit
+stammt, in der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort, das
+offenbar das französische Wort ^croquer^ zur Wurzel hat. Was ich dir
+soeben gesagt habe, gedenke ich als erste Lektion zu lesen, vor dem
+Publikum, versteht sich, das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln
+wird, wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“
+
+„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine erleichternde
+Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich. „Er hat Fieber, er
+fiebert, er muß hochgradiges Fieber haben!“ dachte ich angstvoll.
+
+„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre eine Purganz in
+meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz angebracht. Übrigens konnte ich es
+mir denken, daß du unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“
+
+„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt etwas zu dir
+nehmen? Hast du heute zu Mittag gespeist?“
+
+„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und werde
+höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen. Doch auch dieses
+ist durchaus erklärlich: indem ich das ganze Innere des Krokodils
+erfülle, mache ich es auf ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang
+nicht zu füttern. Und andererseits: indem das Krokodil durch mich satt
+ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem Körper. Das ist
+ungefähr dieselbe Ernährungsmethode, die raffinierte Schönheiten
+anwenden, wenn sie zur Nacht ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts
+bedecken, und dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder
+frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So erhalte ich,
+indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle Nahrungssäfte zurück,
+folglich ernähren wir uns gegenseitig. Da es aber selbst einem Krokodil
+schwer fallen dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu
+verdauen, so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere im Magen
+empfindet – obwohl es keinen Magen hat. Doch das tut nichts zur Sache.
+Deshalb bewege ich mich hier so wenig als möglich, obschon mich nichts
+hindern würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität. Diese
+geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige, was ich an meinem
+gegenwärtigen Zustande auszusetzen hätte, und im allegorischen Sinne hat
+Timofei Ssemjonytsch durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der
+Bärenhaut. Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend das Schicksal
+der Menschheit umstürzen kann. Alle großen Ideen und alle neuen
+Tendenzen unserer Zeitungen und Zeitschriften stammen augenscheinlich
+von Leuten, die auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund,
+weshalb man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens – gleichviel wie
+man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz spezielles System erfinden, – du
+ahnst nicht, wie leicht das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die
+Einsamkeit zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten, die
+Augen zu schließen, und im Nu hat man ein ganzes Paradies für die
+Menschheit erfunden. Vorhin, als ihr mich verließt, machte ich mich
+sogleich daran, zu erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich
+ganze drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten. Es ist
+wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen, man muß einfach alles
+umstürzen; aber aus dem Krokodil heraus ist das so leicht; ja aus dem
+Krokodil gesehen wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es
+hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches: es
+ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie mit Schleim bedeckt und
+außerdem riecht es nach Gummi, ganz genau so wie meine alten Galoschen
+vom vorigen Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln gibt
+...“
+
+„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was du da redest, erscheint
+mir so wunderlich, daß ich kaum meinen Ohren traue. Aber sage mir doch
+wenigstens das eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr
+zu essen?“
+
+„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du dich sorgst! Ich rede von
+großen Ideen, du aber ... So höre denn, daß mich die großen Ideen
+sättigen und die Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens
+hat der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils, sich mit
+seiner herzensguten Mutter beraten und da haben sie beide beschlossen,
+mir jeden Morgen durch den Rachen des Krokodils ein gebogenes
+Metallröhrchen zuzustecken, damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder
+Bouillon mit aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist
+bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der
+Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus. Zu leben
+aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn es wahr ist, daß ein
+Krokodil so lange leben kann ... Jawohl! gut, daß ich das nicht
+vergessen habe: sieh doch morgen in einer Naturgeschichte nach und teile
+mir dann mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß ich
+es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere verwechsle. Nur
+eines erregt mein Bedenken: wie du weißt, bin ich angekleidet und zwar
+ist mein Anzug aus russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel,
+daher kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu kommt, daß
+ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung mit meiner ganzen
+Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise will ich mich nicht in
+das verwandeln, in was sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein
+solches Ende gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber,
+daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist nicht
+standhalten wird; er kann, als minderwertige russische Ware, früher
+verwesen und dann würde ich ohne diesen äußeren Schutz trotz meines
+ganzen Unwillens oder Willens, vielleicht doch verdaut werden, denn wenn
+ich es auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde, so kann mich
+doch in der Nacht, wenn der Wille mich im Schlaf verläßt, das
+gewöhnliche Schicksal einer genossenen Kartoffel oder Fleischpastete
+ereilen. Diese Möglichkeit, oder auch nur der bloße Gedanke an diese
+Möglichkeit macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde müßte man
+den Zolltarif ändern und den Import englischer Stoffe begünstigen, denn
+da sie fester sind, würden sie den zersetzenden Einflüssen der Natur
+länger Widerstand bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein
+Krokodil hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches Projekt
+bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne vorlegen und gleichzeitig
+auch den Berichterstattern unserer Tageszeitungen. Mögen sie es
+erörtern! Hoffe aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen
+werden. Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze Schar dieser Leute
+sich um mich drängen wird, um diesen Blechkasten, um meine Beurteilungen
+der neuesten Telegramme zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen
+lasse, gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die Zukunft im
+rosigsten Licht ...“
+
+„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir.
+
+„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine Ansichten kennen zu
+lernen. „Du bist doch jetzt geradezu ein Gefangener in einem dunklen
+Verließ, während der wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“
+
+„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete Antwort. „Nur die
+Wilden lieben Unabhängigkeit, weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn
+es aber keine Ordnung gibt ...“
+
+„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus.
+
+„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn
+unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich mein Geist so hoch
+emporgeschwungen wie jetzt. In meiner engen Wohnung fürchte ich
+augenblicklich nur – die literarische Kritik unserer dicken
+Tageszeitungen und den Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte,
+daß die leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung, die
+Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten, mich werden
+lächerlich machen wollen. Doch ich werde Maßregeln zu ergreifen wissen.
+Erwarte nur mit Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch
+hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe morgen alle
+Zeitungen mit, wenn du kommst!“
+
+„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“
+
+„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon Besprechungen zu
+erwarten, gewöhnlich werden bei uns Neuigkeiten erst nach vier Tagen
+besprochen. Doch von nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu
+mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu benutzen. Du
+wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich werde dir meine Gedanken
+diktieren und Aufträge geben. Vor allen Dingen aber vergiß nicht die
+neuesten Telegramme. Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen
+Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst jetzt schlafen
+wollen. Geh also nach Hause und denke darüber nach, was ich dir soeben
+über die Kritik gesagt habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet
+sich selbst in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und
+tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal gehoben.
+Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes, oder dieser und jener
+zugleich – das wird meine zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“
+
+So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte hohes Fieber
+haben! – beeilte sich mein Freund Iwan Matwejewitsch, mich seine
+Ansichten wissen zu lassen, jenen charakterschwachen alten Frauenzimmern
+nicht unähnlich, von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis
+bewahren können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was er da von der
+inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt hatte, äußerst verdächtig
+erschien. Wie war es möglich, daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz,
+keine Lungen hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus
+Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch nur, um mich zu
+kränken, zu erniedrigen. Freilich war er krank, und zu einem Kranken muß
+man gut sein, doch wenn ich anstatt gut offen sein will, so muß ich
+sagen, daß ich meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen
+können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit an, habe ich mich von
+seiner Vormundschaft nicht befreien können. Tausendmal wollte ich ihm
+den Laufpaß geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als hätte ich
+im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend etwas beweisen oder irgend
+etwas heimzahlen zu können. Ein wunderliches Ding war diese
+Freundschaft! Ich kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu
+neun Zehnteln aus Wut bestand.
+
+Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast gefühlvoll.
+
+„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir halblaut der
+Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um mich hinauszugeleiten. Er
+hatte die ganze Zeit aufmerksam unserem Gespräch zugehört.
+
+„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht vergesse: wieviel
+würden Sie für Ihr Krokodil verlangen, im Fall man es von Ihnen kaufen
+wollte?“
+
+Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben mußte, schien mit
+besonderer Spannung auf die Antwort zu warten. Offenbar wollte er nicht,
+daß der Deutsche wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir
+nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das entfernt an ein
+Grunzen erinnerte.
+
+Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon hören, ja er wurde
+sogar ärgerlich.
+
+„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung kaufen!“ schrie er,
+im Jähzorn rot wie ein gekochter Krebs. „Ich will mein Krokodil
+überhaupt nicht verkaufen! Geben Sie mir eine Million Taler – ich
+verkauf’ es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler vom Publikum
+eingenommen und morgen werde ich zehntausend Taler einnehmen und dann
+hunderttausend Taler Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht
+verkaufen!“
+
+Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen.
+
+Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten Deutschen
+scheinbar ganz kaltblütig, sich die Sache zu überlegen, zumal seine
+Berechnungen meiner Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit
+übereinstimmten, daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich
+einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen sein müsse, und
+damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt. Und außerdem stehe unser
+aller Leben und Tod in Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch
+noch irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken und sogar
+sterben usw. usw.
+
+Der Deutsche wurde nachdenklich.
+
+„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“ meinte er dann
+schließlich nach reiflicher Überlegung, „dann wird er nicht sterben.“
+
+„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben Sie auch das in
+Erwägung gezogen, daß Sie es mit der Polizei und dem Gericht zu tun
+bekommen können? Die Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren
+gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie haben nun die
+Absicht, reich zu werden, haben Sie aber auch die Absicht, seiner Frau
+eine Entschädigung, etwa eine Pension zu zahlen?“
+
+„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen der
+Deutsche.
+
+„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit merklicher Bosheit die
+Mutter.
+
+„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer, jetzt sogleich und mit
+einemmal eine zwar geringere, doch dafür sichere Summe zu empfangen, als
+sich der Ungewißheit anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als meine
+Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus persönlicher Neugier
+frage.“
+
+Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab sich mit ihr in den
+fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem größten und widerlichsten aller
+Affen stand, um sich dort flüsternd mit ihr zu beraten.
+
+„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in vielsagendem Tone zu mir.
+
+Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges Verlangen
+verspürte, erstens den Deutschen gründlich zu verprügeln, zweitens, noch
+gründlicher seine Frau; und drittens – am gründlichsten und
+schmerzhaftesten meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen seiner
+unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch nichts im Vergleich zu
+der Antwort des habgierigen Deutschen.
+
+Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner besseren Hälfte
+beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend Rubel, zahlbar in Papieren der
+jüngsten inneren Anleihe, außerdem ein steinernes Haus an der
+Gorochowaja, und zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und
+außerdem noch den Rang eines russischen Obersten.
+
+„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich sagte es dir!
+Ausgenommen den letzten unbegründeten Wunsch, hat er vollkommen recht,
+denn wie du siehst, versteht er den Wert seines Eigentums richtig zu
+schätzen. Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“
+
+„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen zu, „so sagen
+Sie mir doch, wozu Sie den Rang und Titel eines Obersten brauchen? Was
+für eine Heldentat haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf,
+welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich auf dem
+Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem nicht einfach verrückt?“
+
+„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter Würde aus. „Nein,
+nicht verrückt, sondern sehr vernünftig, Sie aber sind das Gegenteil!
+Ich habe den Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen
+kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber kann ein
+solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat gefüllt ist, der Welt
+nicht zeigen! Ich bin ein sehr kluger Mensch und deshalb will ich ein
+Oberst sein!“
+
+„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend meinem Freunde zu
+und eilte aus dem Ausstellungsraum.
+
+Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch an einem Haar hing.
+Die hirnverbrannten Hoffnungen dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus
+der Haut bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend und
+meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich aus, rief energisch eine
+Droschke heran, fuhr nach Haus, kleidete mich aus und ging zu Bett. Am
+meisten ärgerte mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein
+Sekretär zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen und
+mich noch über das erhebende Gefühl, nur die Pflicht eines aufrichtigen
+Freundes zu erfüllen, freuen! Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor
+Ärger über mich, und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht
+und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der Faust auf den
+Kopf und noch auf andere Teile meines Körpers. Dieses verschaffte mir
+bedeutende Erleichterung und endlich schlief ich ein, schlief sogar
+ziemlich fest, denn ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele
+Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber träumte mir von
+Jelena Iwanowna ...
+
+
+ IV.
+
+Die Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur deshalb im Traum
+belästigt, weil ich sie tags zuvor im Käfig beim Krokodilbesitzer
+gesehen hatte; doch Jelena Iwanowna war ein besonderes Kapitel.
+
+Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese Dame; doch ich
+beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen: ich liebte sie wie ein
+Vater, nicht mehr und nicht weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich
+daraus, daß ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen
+oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie getan habe, so
+hätte ich doch – wenn man einmal alles beichten soll! – ganz sicherlich
+mich nicht geweigert, sie sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre
+Lippen waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen
+bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter Perlen, zwischen dem
+Rot der Lippen schimmerten, wenn sie lachte. Und sie lachte sehr oft.
+Iwan Matwejewitsch nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße
+Absurdität“ – was man als eine durchaus gerechte und charakteristische
+Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon und nichts weiter. Deshalb
+blieb es mir auch unerklärlich, weshalb nun dieser selbe Iwan
+Matwejewitsch in seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu
+sehen begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ mein
+Traum – abgesehen von den Affen – den angenehmsten Eindruck in mir, und
+so beschloß ich, während ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des
+letzten Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf dem Wege in
+die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen, was ja übrigens in meiner
+Eigenschaft als Hausfreund auch meine Pflicht war.
+
+In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach, das von ihnen „der
+kleine Salon“ genannt wurde, obwohl auch der große Salon nur ein kleines
+Zimmer war, saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen
+Teetischchen in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna und trank
+aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein kleines Biskuitplätzchen
+bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie war verführerisch anzusehen, doch
+schien sie mir etwas nachdenklich gestimmt zu sein.
+
+„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie mich mit zerstreutem
+Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie
+gestern? Wie haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem
+Maskenball?“
+
+„Waren _Sie_ denn gestern auf dem Maskenball? ... Ich ... ich pflege
+keine Bälle zu besuchen ... zudem habe ich den Abend bei unserem
+Gefangenen verbracht ...“
+
+Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das Täßchen.
+
+„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen? ... Ach, so! ... Ja, der
+Arme! ... Nun, was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ... ich
+wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann doch jetzt eine
+Scheidung verlangen?“
+
+„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der Hand gefallen. „Dahinter
+steckt der Brünette!“ dachte ich empört bei mir.
+
+Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem dunklen
+Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung, der sie in letzter Zeit
+auffallend oft besucht hatte und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu
+gefallen verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für ihn
+empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern abend entweder
+mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht sogar hier in ihrer Wohnung
+gewesen war und ihr bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den
+Kopf gesetzt hatte!
+
+„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna plötzlich ungeduldig, und
+alles, was sie sagte, schien ihr ein anderer gesagt zu haben, „wie wird
+denn das sein, er wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein
+ganzes Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier sitzen und
+vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß zu Hause wohnen, aber nicht
+in einem Krokodil ...“
+
+„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann ich in
+begreiflicher Erregung zu widersprechen.
+
+„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will nichts hören, nichts,
+nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich jeden weiteren Einwand ab. „Sie
+sind unausstehlich, ewig müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann
+man wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie einem zu
+raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß ich vollauf genügenden
+Scheidungsgrund hätte, allein schon deshalb, weil doch Iwan
+Matwejewitsch jetzt kein Gehalt mehr bekommen wird.“
+
+„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief ich fast pathetisch
+aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese Gedanken eingeflüstert? Und
+übrigens wird ein so nichtssagender Vorwand, wie die Einbuße des
+Gehalts, nicht als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme Iwan
+Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram! Noch gestern
+abend, während Sie sich auf dem Maskenball ihres Lebens freuten, sprach
+er davon, daß er sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als
+seine rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils zu
+kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr geräumig erwiesen hat,
+so daß nicht nur zwei, sondern sogar drei Menschen Raum in ihm hätten
+...“
+
+Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil meiner
+letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch.
+
+„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung aus. „Sie wollen, daß
+ich gleichfalls dorthin krieche! zu Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch!
+Ja und wie sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und der
+ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und wonach wird denn das
+aussehen, wenn ich hineinkrieche und ... und jemand womöglich noch
+zusieht? ... Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ... und wie ist
+denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott, was Sie sich nicht ausgedacht
+haben! ... Und was gibt es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen,
+es rieche dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein, wenn wir beide
+in Streit geraten? Da müssen wir doch beieinander liegen bleiben? Pfui,
+wie widerlich das ist!“
+
+„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine
+teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich sie mit jenem begreiflichen
+Eifer, der einen stets erfaßt, wenn man fühlt, daß man im Recht ist,
+„nur haben Sie eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch
+wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu sich ruft; folglich
+handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche, treue, sehnsüchtige
+Liebe ... Sie haben die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena
+Iwanowna, die Liebe!“
+
+„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will davon überhaupt
+nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen, reizenden Hand, an der die
+soeben gebürsteten und polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt
+ab. „Pfui, wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum Weinen. So
+kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es Ihnen dort so angenehm zu sein
+scheint! Sie sind doch sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus
+Freundschaft neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend
+eine langweilige Wissenschaft ...“
+
+„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken lustig,“ unterbrach
+ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen, „Iwan Matwejewitsch hat mich
+bereits zu sich eingeladen. _Sie_ würde die Pflicht hinführen, mich
+dagegen nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch, als er mir
+gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des Krokodils erzählte, deutlich
+zu verstehen gegeben, daß er, da nicht nur zwei, sondern ganze drei
+Menschen bequem dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund,
+erwartet, und deshalb ...“
+
+„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna und ihre Augen
+blickten mich fragend an. „Ja, wie werden wir denn ... so alle drei dort
+beisammen sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha! Ich würde
+Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie Taugenichts, hahaha! Hahaha!“
+
+Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen. Doch dieses Lachen
+und diese Tränen waren so bezaubernd, daß ich nicht lange widerstehen
+konnte und ganz begeistert nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen
+zu bedecken, was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie
+mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr.
+
+Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen, und ich schickte mich
+an, ihr ausführlich alle ihre Person betreffenden Pläne Iwan
+Matwejewitschs zu erzählen. Der Gedanke, in einem glänzenden Salon eine
+auserlesene Gesellschaft zu empfangen, sagte ihr sehr zu.
+
+„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“ bemerkte sie lebhaft.
+„Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir möglichst bald und möglichst viel
+Geld senden soll ... Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie
+nachdenklich fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in meinen Salon
+bringen? Das ... das wäre doch lächerlich! Ich will nicht, daß man
+meinen Mann in einem solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde
+mich ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ... Nein, ich
+will nicht, ich will nicht ...“
+
+„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern Timofei Ssemjonytsch
+bei Ihnen?“
+
+„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten, und denken Sie
+sich, wir haben die ganze Zeit Karten gespielt. Wenn er verlor, hatte
+ich eine Bonbonniere gewonnen, wenn ich verlor, durfte er mir die Hände
+küssen. Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie wohl: – fast
+wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren, – nein, wirklich!“
+
+„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn – wen bezaubern Sie nicht,
+Sie Zauberin!“
+
+„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien! Warten Sie, dafür
+werde ich Sie zum Abschied einmal kneifen – das verstehe ich nämlich
+vorzüglich. Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie sagten
+vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von mir gesprochen?“
+
+„N–n–nein, nicht gerade _sehr_ viel ... Ich muß gestehen, daß er jetzt
+eigentlich mehr an das Schicksal der ganzen Menschheit denkt und die
+Absicht hat ...“
+
+„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich langweilt er sich
+entsetzlich. Ich werde ihn einmal besuchen. Morgen vielleicht. Heute
+geht es nicht: ich habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein
+... Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau, und mit den
+Fingern auf mich weisen ... Schrecklich! Nun, leben Sie wohl. Am Abend
+werden Sie doch ... dort sein, bei ihm?“
+
+„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“
+
+„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei ihm und lesen Sie ihm
+die Zeitungen vor. Zu mir aber kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin
+nicht ganz wohl, oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten
+besuchen, ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie Schwerenöter.“
+
+„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“ dachte ich bei mir.
+
+In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste merken. Ich
+tat, als wüßte ich überhaupt nicht, was Sorgen sind. Doch bald fiel es
+mir auf, daß einige unserer fortschrittlichen Blätter an diesem
+Vormittage auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine Kollegen
+sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre vertieften. Die erste
+Zeitung, die ich erhielt, war der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne
+jede besondere Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human,
+weshalb es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger aber
+doch gelesen wurde.
+
+Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes:
+
+„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen Hauptstadt ein
+äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen bestätigt hat. Ein
+gewisser Gastronom, der zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den
+die kulinarischen Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu bieten
+vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien am Nachmittage in der
+Menagerie unserer Passage, wo zurzeit ein großes, soeben erst hier
+eingetroffenes Krokodil zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen
+Rücksprache mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil
+zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen Wassertier nur die besten
+Stücke seiner saftigsten Körperteile – d. h. der Körperteile des
+Krokodils – mit einem Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das
+ganze Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht viel
+gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger Begleiter, der
+Ichneumon, gefolgt, denn weshalb sollte dieser nicht ebenso gut
+schmecken? Wir haben natürlich gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den
+ausländischen Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist, nichts
+einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln, die bevorstehende größere
+Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen zu haben. Die englischen
+Lords und Reisenden fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande
+etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften zusammen und
+verzehren dann das ^à la^ Beefsteak zubereitete Rückenfleisch der Beute
+mit Senf, Sauce und Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land
+gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem Rückenfleisch vor
+– vielleicht nur den Engländern zum Trotz, die ein mitleidiges Lächeln
+nicht verbergen können, wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in
+heißer Asche backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl
+die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und können wir daher von
+uns aus nur freudig diesen neuen Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an
+einem solchen fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten
+Vaterlande. Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte es wohl
+kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu Hunderten importieren wird.
+Weshalb sollte man sie übrigens nicht in Rußland akklimatisieren? Falls
+das Newawasser für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so
+gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb der Stadt noch
+andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen. Weshalb sollten sie nicht z.
+B. in Pawlowsk oder Pargolowo leben können, oder in Moskau, wo doch die
+Pressnenskischen Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für unsere
+Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel wären, würden
+sie den an den Teichen spazierenden Damen eine interessante Zerstreuung
+bieten und die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen Jahren
+bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten Krokodile lassen sich zudem
+die verschiedensten Gegenstände herstellen, wie z. B. Futterale,
+Reisekoffer, Zigarettenetuis, Brieftaschen usw., und vielleicht wird
+noch so manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten Sorte –
+wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen – in Krokodilshaut
+aufbewahrt werden. Hoffen wir, daß uns noch öfter Gelegenheit geboten
+werden wird, auf dieses Thema zurückzukommen.“
+
+Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte mich dieser
+Artikel nicht wenig. Da niemand neben mir saß, mit dem ein
+Meinungsaustausch möglich gewesen wäre, wandte ich mich an den mir
+gegenübersitzenden Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß dieser
+müßig auf seinem Platz und schien mich schon längere Zeit beobachtet zu
+haben, die Zeitung „Woloß“ zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm
+er von mir den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“, indem
+er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete, auf den er
+mich ersichtlich aufmerksam machen wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war
+ein sehr eigentümlicher Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der
+sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort sprach – obschon
+sich das Sprechen in einer Kanzlei unter Kollegen schwer vermeiden läßt
+– ein Mensch, der immer seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals
+einem anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist bisher
+noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß er ein einsames Leben
+führt.
+
+Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht hatte, lautete wie
+folgt:
+
+„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit Recht
+fortschrittlich gesinnt und human nennen können und daß wir Europa in
+dieser Beziehung nicht nachstehen wollen. Doch ungeachtet aller Wünsche
+und der Bemühungen unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘
+zu sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern in der
+Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich beweist. (Es sei hier
+darauf aufmerksam gemacht, daß wir es bereits vorausgesagt haben.)
+
+Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer ein, der ein
+lebendiges Krokodil mit sich führte, das jetzt in der Passage
+ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich, den ausländischen Vertreter
+dieses neuen, nützlichen und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem
+großen Vaterlande zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen zu
+heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags gegen fünf Uhr, wie uns
+gestern gemeldet wurde, ein außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz
+nüchternem Zustande (gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis,
+und kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch dem
+Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem vorher etwas
+gesagt zu haben. Das Krokodil war durch seinen natürlichen
+Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den Menschen zu verschlingen, da es
+doch wohl nicht ersticken wollte. Doch der verschlungene Unbekannte
+richtet sich im Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die
+Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner
+zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf den Unbekannten
+Eindruck zu machen. Selbst der Ruf, man werde die Polizei holen, bleibt
+erfolglos. Aus dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und die
+Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (^Sic!^) Währenddem vergießt das
+arme Tier, das gezwungen war, eine solche Masse zu verschlingen, ganz
+vergeblich seine Tränen. „Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes
+russisches Sprichwort, „ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen
+des Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche Mensch will
+seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen. Wir wissen nicht, wie wir
+eine so barbarische Handlungsweise erklären sollen, was uns um so
+peinlicher ist, als sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in
+den Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder ein
+glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen Natur. Jetzt fragt
+es sich nur: was wollte der ungebetene Gast damit erreichen? Etwa einen
+warmen und luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch
+unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet sind:
+sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen, eine Wasserleitung, die
+die Mieter mit Newawasser versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und
+nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier. Doch lenken
+wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit unserer Leser auch noch auf
+die rohe Behandlung des importierten Tieres. Natürlich wird es dem
+Krokodil schwer fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt
+es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch aufgeblasen von
+der übergroßen verschlungenen Portion, und erwartet unter unerträglichen
+Qualen den Tod. In Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich
+bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung, unserer
+neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind _wir_ noch immer in Unwissenheit
+und Roheit befangen.
+
+‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile alt‘, um Gribojedoff
+zu zitieren. Leider entspricht nicht einmal dieses vollkommen der
+Wahrheit, denn auch die Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind.
+Jedenfalls erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten Mal, daß
+im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der Petersburger Seite die
+Treppenstufen, die aus der Küche in die Wohnung führen, schon seit
+langer Zeit verfault sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie
+jetzt endlich eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja
+Skapidarowa, die die Bedienung übernommen hatte und stets Gefahr lief,
+von der Treppe zu fallen – namentlich wenn sie Wasser oder Holz
+hineintrug – gestern abend gegen halb neun Uhr tatsächlich mit der
+Suppenterrine gefallen ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider
+wissen wir noch nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe
+bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig, doch
+können wir mitteilen, daß das Opfer dieser Schwerfälligkeit bereits ins
+Hospital gebracht worden ist. Desgleichen ermüden wir nicht, darauf
+aufmerksam zu machen, daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite
+von den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden
+deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen, zumal es nur geringe
+Mühe kosten würde, den Schmutz, wie man es im Auslande tut, zu Haufen
+zusammenzufegen,“ usw. usw. ...
+
+„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor Ssawitsch
+anblickend. „Was soll das alles?“
+
+„Was?“
+
+„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch zu bedauern,
+bemitleiden sie hier das Krokodil!“
+
+„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein Tier, ein unvernünftiges
+Tier bemitleidet. Inwiefern stehen sie jetzt noch Europa nach? Dort tut
+man es doch ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte
+sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach kein Wort
+weiter.
+
+Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche und versorgte
+mich außerdem noch mit mehreren alten Nummern der „Nachrichten“ und des
+„Woloß“. An diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst. Zwar
+war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich früher in die Passage
+gehen, um wenigstens von weitem zu sehen, was dort vorging, um
+Meinungsäußerungen des Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu
+lernen. Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes Gedränge
+geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle den Mantelkragen hoch,
+denn aus irgend einem Grunde schämte ich mich, gesehen zu werden – so
+wenig haben wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich fühle, daß
+ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses außergewöhnliche Ereignis,
+meine eigenen prosaischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen.
+
+
+
+
+ Fußnoten
+
+
+[1] Bekannter Musiker und Dirigent. E. K. R.
+
+[2] In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen Uniform. E. K.
+R.
+
+
+ Anmerkungen zur Transkription
+
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen
+Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und
+Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert
+nach:
+
+ F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.
+ Zweite Abteilung: Siebzehnter Band
+ R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918.
+
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen
+Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den
+ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr,
+Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt
+nach der Titelseite eingefügt.
+
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+
+Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
+Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
+
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen
+(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von
+Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der
+Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben
+„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde
+vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+
+ Ssamowar (Samowar)
+
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere
+Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier
+aufgeführt (vorher/nachher):
+
+ [S. 38]:
+ ... Lebemannsleben fleißig geübt hat. Übrigens, ...
+ ... Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens, ...
+
+ [S. 53]:
+ ... Zimmer eintretend! „Es ist er–staunlich, cher ami, ...
+ ... Zimmer eintretend. „Es ist er–staunlich, cher ami, ...
+
+ [S. 87]:
+ ... dann nur ein einziges Mal Leben ... aber ...
+ ... dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber ...
+
+
+
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 ***
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+<title>Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken | Project Gutenberg</title>
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+ <!-- TITLE="Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken" -->
+ <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" -->
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+ <!-- PUBLISHER="Piper, München" -->
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+<div style='text-align:center'>*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 ***</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="ser">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke
+</p>
+
+<p class="ed">
+<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,</span><br>
+<span class="line2">Dmitri Philossophoff und anderen</span><br>
+<span class="line3">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span>
+</p>
+
+<p class="trn">
+Übertragen von E. K. Rahsin
+</p>
+
+<p class="division">
+Zweite Abteilung: Siebzehnter Band
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="aut">
+F. M. Dostojewski
+</p>
+
+<h1 class="title">
+Onkelchens Traum<br>
+und andere<br>
+Humoresken
+</h1>
+
+<div class="centerpic logo">
+<img src="images/logo.jpg" alt=""></div>
+
+<p class="pub">
+<span class="line1">München und Leipzig R. Piper &amp; Co. Verlag</span>
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="frontmatter chapter">
+<p class="impr">
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München und Leipzig, 1918
+</p>
+
+<p class="cop">
+Copyright 1918 by R. Piper &amp; Co., G. m. b. H.,<br>
+Verlag in München und Leipzig
+</p>
+
+<p class="printer">
+Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt.
+</p>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="toc" id="part-1">
+Inhalt
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="table">
+<table class="toc">
+<tbody>
+ <tr>
+ <td class="col1"><em>Vorwort</em></td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-V">V</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Onkelchens Traum</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-243">243</a></td>
+ </tr>
+ <tr>
+ <td class="col1">Das Krokodil</td>
+ <td class="col_page"><a href="#page-321">321</a></td>
+ </tr>
+</tbody>
+</table>
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="intro" id="part-2">
+<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a>
+Vorwort
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen
+Erzählungen stehen im Anschluß an Dostojewskis
+humoristischen Roman „Das Gut Stepantschikowo“. Sie
+teilen mit ihm die allgemeine humoristische Anschauung
+und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung
+„Die fremde Frau und der Mann unter dem
+Bett“ bestand ursprünglich aus zwei getrennten Geschichten
+(„Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige Gatte“),
+die erst später von Dostojewski zu einer einzigen zusammengezogen
+wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre:
+die Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach
+wie vor einen Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen
+ist.
+</p>
+
+<p>
+Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische
+Satire aus dem Jahre 1864.
+Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen
+Band mit eingestellt.
+</p>
+
+<p class="sign">
+E. K. R.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-3">
+<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a>
+Onkelchens Traum
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="subt">
+Aus den Mordassoffschen Chroniken
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-1">
+<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">arja</span> Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die
+erste Dame in Mordassoff – darüber kann kein Zweifel
+bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie sich um
+keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von
+ihr allein abhängig. Freilich wird sie infolgedessen
+auch von keinem Menschen geliebt. Freilich hassen sie
+deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen. Aber
+dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es,
+was sie gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch
+ist, meine ich, ein Beweis hoher politischer Begabung.
+Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja Alexandrowna,
+die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht
+nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren
+hat: wie kommt es, frage ich, daß sie sich bei
+alledem so zu benehmen weiß, daß bei ihrem Anblick kein
+Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die
+erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch
+Mordassoffs vor sich zu haben? O, ganz im Gegenteil:
+man ist überzeugt, daß ihre bloße Anwesenheit jeden
+Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer
+erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern
+werden und kein anderes Gespräch mit ihr möglich
+ist, als eines über die höchsten Themata. Sie weiß
+<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a>
+z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so
+kapitale und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit
+erzählen und so beweisen würde, wie nur sie
+allein Ähnliches zu beweisen versteht, in Mordassoff
+sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen
+würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen,
+was diese Dinge anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im
+äußersten Fall, Freundinnen. Sie erschreckt nur den
+Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht es vor,
+den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten,
+anstatt sie endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit,
+das nennt man Taktik! Marja Alexandrowna zeichnet
+sich unter uns durch ihr einwandsloses <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Comme-il-faut</span>
+aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser
+Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie
+versteht zum Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem
+einzigen Wort zu zerschmettern, zu vernichten, zu töten;
+währenddessen aber tut sie, als hätte sie überhaupt
+nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen.
+Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten
+Gesellschaft eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen
+Taktfragen hätte sie sogar einen Pinelli<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> glänzend
+besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele, die
+Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert
+von ihrem Empfang und korrespondierten nachher
+noch lange mit der freundlichen Gastgeberin. Einer ihrer
+Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht verewigt,
+das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste
+zeigte. Ein durchreisender Literat hatte ihr sogar eine
+Novelle gewidmet, die er auf einer Abendgesellschaft
+<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a>
+bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und guten
+Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter
+aus Karlsruhe, der uns absichtlich mit seinem Besuch
+beehrte, um hierselbst eine besondere Würmerart mit
+Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu
+erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in
+Quart geschrieben hat, war von dem Empfang und
+der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas dermaßen
+entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe
+aus der Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann
+natürlich nicht unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna
+wurde in gewisser Beziehung sogar mit Napoleon
+verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur
+im Scherz und von ihren Feinden, mehr um der Karikatur
+als um der Wahrheit willen. Dessen ungeachtet
+– und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen
+Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige
+Frage zu stellen: weshalb – bitte, mir darauf
+zu antworten – weshalb wurde dem großen Napoleon
+schließlich schwindlig, als er gar zu hoch hinaufgeklettert
+war? Die Anhänger der alten Dynastie
+schreiben das dem Umstand zu, daß Napoleon nicht
+nur kein Sproß aus königlichem Hause, sondern nicht
+einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und
+daß es folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche
+Höhe einen Schrecken eingejagt habe und ihm bei dem
+Gedanken an seine geringe Herkunft und den ihn zukommenden
+niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden
+sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung,
+die lebhaft an die Glanzzeit des alten französischen
+Hofes erinnert, will ich es wagen, folgende
+<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a>
+Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna
+nie und unter keinen Umständen schwindlig und warum
+bleibt sie immer und trotz aller Vorkommnisse die erste
+Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel Fälle,
+in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen,
+wie Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre
+ziehen wird!“ Doch siehe, die schwierigen Verhältnisse
+kamen, bestanden, gingen vorüber – und es geschah
+nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar
+noch besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein
+jeder dessen erinnern, wie ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch,
+infolge von Unbegabtheit oder Schwachsinn
+seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch
+seine Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals
+geschickten Revisors erweckt hatte. Da glaubten denn
+alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren,
+kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln
+würde. Doch nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna
+sah ein, daß sie doch nichts mehr ausrichten
+würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren Einfluß
+auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb
+ihr Haus jetzt denn auch immer noch als das erste
+Haus in Mordassoff gilt. Die Frau unseres Staatsanwalts,
+Anna Nikolajewna Antipowa, die geschworene
+Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach
+allerdings ihre größte Freundin – frohlockte damals
+bereits über ihren Sturz. Als man aber sah, daß Marja
+Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen
+ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer
+hinabreichten, als man anfänglich geglaubt hatte.
+</p>
+
+<p>
+Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij
+<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a>
+Matwejewitsch zu sprechen gekommen sind, will ich
+auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß ich
+bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung
+ist und sogar sehr gute Manieren hat – nur
+hat er die Angewohnheit, in kritischen Augenblicken
+etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er einen
+an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich
+und würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn
+er in weißer Binde erscheint. Leider aber währt der
+gute Eindruck genau nur bis zu dem Augenblick, in dem
+er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann
+– Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann
+würde man sich am liebsten ... sagen wir: die Ohren
+zuhalten.
+</p>
+
+<p>
+Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna
+anzugehören: Das ist die allgemeine Meinung.
+Einzig dank der Genialität seiner Frau hatte er denn
+auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner
+Ansicht nach wäre sein Platz von Anfang an in einem
+Gemüsegarten gewesen, wo er sich als Vogelscheuche
+sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und zwar
+ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen
+wirklichen, unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und
+deshalb war es von Marja Alexandrowna sehr klug
+gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf ihr drei
+Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie
+hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt,
+ihr ganzer Besitz und ihre einzige Einnahmequelle,
+aus der sie alle Ausgaben bestreitet, die selbstverständlich
+nicht gering sind, da sie doch nach wie vor
+ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie
+<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a>
+ihren Gemahl einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten,
+weil er eine gute Anstellung hatte, ein gutes Gehalt
+bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber
+mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende
+war, da wurde er als ein vollkommen untaugliches und
+überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die Folge davon
+war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen,
+ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten.
+Afanassij Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem
+Lande wie im Wollkorbe. Ich habe ihn vor kurzem einmal
+besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm
+mit ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene
+weiße Halsbinden um, putzt eigenhändig seine
+Stiefel – nicht weil er keine Bedienung hätte, sondern
+nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern,
+wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er
+Tee, nimmt mit besonderer Vorliebe ein Bad und ist
+vollkommen zufrieden. Und entsinnen Sie sich noch
+der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa
+anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der
+einzigen Tochter Marja Alexandrownas und Afanassij
+Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist fraglos eine
+Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen,
+aber – sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist
+noch nicht verheiratet. Unter den Gründen, mit denen
+man diese Tatsache zu erklären versucht, sind die dunklen
+Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen
+Sinas zu einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch
+nicht ganz verstummt sind – sicherlich die am meisten
+besprochenen. Man spricht noch immer von einem Liebesbrief,
+den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff
+<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a>
+von Hand zu Hand gewandert sei. Einstweilen
+aber: wer hat denn diesen Brief oder Zettel – er soll
+nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen?
+Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er
+dann schließlich geblieben? Alle haben von ihm gehört,
+gesehen aber hat ihn kein einziger. Ich wenigstens
+habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst gesehen
+hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche
+Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht.
+Nehmen wir aber jetzt an, daß Sina tatsächlich einen
+solchen Zettel geschrieben – ich glaube sogar bestimmt,
+daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle Hochachtung
+haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas?
+Wie geschickt und mit welcher Sicherheit sie dem
+unangenehmen, skandalösen Klatsch die Spitze abzubrechen
+verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung
+ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen
+Verleumdung überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr!
+Indessen aber – nur Gott allein wird es wissen, wie sie
+gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen Tochter unbefleckt
+zu erhalten. Und andererseits: ist es denn
+nicht sehr begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet
+hat: was gibt es denn hier für Freier? Und Sina
+kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat jemand,
+frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit
+gesehen? Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man
+sagt, Mosgljäkoff werbe um sie, aber es ist nicht anzunehmen,
+daß sie ihn heiraten wird. Was ist denn dieser
+Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht
+häßlich, ein Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne
+Schulden, Petersburger. Aber immerhin – der Kopf ist
+<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a>
+nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit irgendwelchen
+allerneuesten Ideen! Und was sind denn
+schließlich hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei
+den neuesten Ideen! Nein, ich habe es gleich gesagt
+– aus dieser Heirat wird nichts!
+</p>
+
+<p>
+Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat,
+ist von mir vor ganzen fünf Monaten geschrieben worden,
+und zwar nur aus Begeisterung. Ich will es
+nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine
+kleine Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht,
+etwas in der Art einer Verherrlichung dieser großen
+Frau zu schreiben, vielleicht in der Form eines
+scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster
+der Briefe, die in der alten, goldenen, doch – Gott
+sei Dank! – unwiederbringlichen Zeit in der „Nordischen
+Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen.
+Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und
+mir außerdem noch eine gewisse literarische Schüchternheit
+angeboren ist, so blieb mein Manuskript in meinem
+Schreibtischfach als literarischer Versuch und als Erinnerung
+an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der
+Muße und des Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen
+fünf Monate, bis schließlich eines Tages unsere
+liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh morgens
+rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K.
+kam an und stieg im Hause Marja Alexandrownas ab.
+</p>
+
+<p>
+Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der
+Fürst hielt sich nur drei Tage in Mordassoff auf, doch
+diese drei Tage sind uns allen unauslöschlich in der Erinnerung
+geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß der
+Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt
+<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a>
+hat. Die Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich
+die bemerkenswertesten Seiten in den Annalen der Stadt
+Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun literarisch
+zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser
+zu unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem
+Schwanken endgültig entschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte
+Geschichte der Erhöhung, des größten Ruhmes
+und des feierlichen Falles Marja Alexandrownas und
+ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und
+für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht
+sich, vorher muß ich noch erklären, weshalb es ein
+solches Ereignis war, daß der Fürst K. in die Stadt
+gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg.
+Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von
+der Person des Fürsten erzählen. So werde ich es
+auch tun. Zudem ist die Kenntnis der Lebensgeschichte
+dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren
+Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können.
+Also, ich beginne.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-2">
+<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a>
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren
+nach durchaus noch kein Greis war. Doch dessenungeachtet
+kam einem bei seinem Anblick unwillkürlich der
+Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse: dermaßen
+verlebt oder verbraucht war der Mann und sah
+er aus. In Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten
+stets äußerst sonderbare, mitunter selbst phantastische
+Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der alte
+Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden
+aber alle, daß ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend
+Seelen besaß, unter seinen Verwandten bekannte
+Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur
+gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte
+spielen können, auf seinem prächtigen Gut von aller
+Welt völlig zurückgezogen lebte. Viele Honoratioren
+hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als
+er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie
+versicherten, daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen
+können und alles eher als ein Einsiedler gewesen
+sei.
+</p>
+
+<p>
+Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus
+glaubwürdigster Quelle Folgendes von seiner Lebensgeschichte
+erfahren:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a>
+Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange
+her ist, war der Fürst in glänzendster Weise ins Leben
+eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war mehrmals im
+Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots
+gemacht und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet.
+Wie es sich wohl von selbst versteht, verlebte
+er sein ganzes Vermögen, so daß er sich, als das Alter
+kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm
+irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln,
+das bereits versteigert werden sollte, und so
+war er denn nach Mordassoff gefahren und hatte dort
+ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt
+zu denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und
+die Folge davon war, daß er in diesem halben Jahr
+das Letzte, was ihm noch geblieben war, gleichfalls
+durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf verschiedene
+Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen
+verzichten konnte. Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger
+Mensch war, freilich nicht ohne einige besondere
+fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die
+aber in Mordassoff für als ausschließlich der höchsten
+Gesellschaft eigen angesehen wurden, und daher, statt
+Verdruß zu erwecken, sogar einen guten Eindruck machten.
+Namentlich die Damen waren von ihrem lieben
+Gast außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar
+manche interessante Erinnerung an ihn. Unter anderem
+erzählte man, daß der Fürst einen halben Tag zum
+Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus zusammensetzbaren
+Stücken bestände. Niemand wußte sich
+zu erklären, wann und wo er sich aller der ihm fehlenden
+Körperteile zu entledigen vermocht hatte. Er trug
+<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a>
+eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart, und
+sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war
+unecht. Ihm war buchstäblich jedes Haar angeklebt
+und jedes glänzte im schönsten Schwarz. Er schminkte
+und puderte sich täglich. Es wurde sogar behauptet,
+daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen
+Haaren unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln
+in seinem Gesicht glätte. Auch hieß es, daß er ein
+Korsett trage, da er bei einem ungeschickten Sprung aus
+dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in Italien
+– sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit
+dem linken Fuß hinkte er. Es wurde behauptet,
+daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten in
+Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers
+eingebüßt habe und zum Ersatz ihm ein Holz-
+oder Korkfuß angesetzt worden sei. Aber schließlich,
+was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch,
+daß sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein
+sehr teures, sehr kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne
+waren alle unecht. Ganze Tage lang wusch er sich mit
+den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten, parfümierte
+und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens
+entsinnt man sich, daß der Fürst damals schon merklich
+gealtert war und entsetzlich schwatzhaft wurde. Seine
+Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle
+wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber
+geschehen, daß gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten,
+eine uralte Greisin, die beständig in Paris
+lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten
+hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem
+Monat ihren einzigen Erben begraben hatte. So wurde
+<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a>
+plötzlich und unerwartet der Fürst ihr gesetzmäßiger
+Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles
+Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt
+er ganz allein. Ohne lange zu säumen, machte er
+sich nach Petersburg auf, um dort die Angelegenheit zu
+erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem
+lieben Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam
+bezahlten, wozu eine Kollekte veranstaltet worden
+war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem Abend
+bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und
+gelacht und die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt.
+Zum Schluß habe er versprochen, sich so bald als möglich
+in Duchanowo, so hieß sein neues Gut, niederzulassen,
+und dann – darauf habe er sein Wort gegeben
+– würde er fortwährend Feste, Picknicks, Bälle
+und italienische Nächte mit Feuerwerk und Lampions
+veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner Abfahrt
+sprachen die Damen nur von den verhießenen
+Freuden und erwarteten ihren alten Freund mit größter
+Ungeduld. Inzwischen aber begnügte man sich mit
+kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte Herrenhaus
+und der große Park besichtigt wurden. In
+diesem Park gab es Akazienhecken, die zu Löwen und
+anderen Tieren zurechtgestutzt waren, künstliche Hünengräber,
+Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit
+holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben,
+Pavillons, Monplaisirs und noch viele andere
+Späße.
+</p>
+
+<p>
+Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen
+Verwunderung und Enttäuschung zeigte er sich
+nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich auf seinem
+<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a>
+Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten
+sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann
+man sagen, daß die Lebensgeschichte des Fürsten seit
+eben dieser Zeit schleierhaft und phantastisch wird. So
+erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht gerade
+Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und
+dereinstigen Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche
+unter irgend jemandes Vormundschaft hätten stellen
+wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er wieder sein
+ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten
+sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe
+einsperren wollen, doch einer seiner Verwandten, ein
+angesehener Mann, sei für ihn eingetreten und habe den
+anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem
+ja ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich
+bald von selbst sterben würde – und dann bekämen sie
+das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch ich sage nochmals:
+wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch
+dazu bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem
+Vorhaben seiner Verwandten sollen den armen Fürsten
+so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen Charakter
+vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte!
+Einige unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit
+Glückwünschen zu ihm aufs Gut gefahren: doch sie waren
+entweder überhaupt nicht, oder in sehr seltsamer
+Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe
+seine früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder
+habe sie nicht erkennen wollen.
+</p>
+
+<p>
+Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm.
+Er kehrte mit der Nachricht zurück, daß der Fürst seiner
+Meinung nach tatsächlich „etwas verdreht“ sei, und er
+<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a>
+machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn man
+ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die
+Damen sprachen laut ihren Unwillen darüber aus.
+Endlich erfuhr man einen Umstand von erschütternder
+Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte Stepanida
+Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe,
+Gott weiß was für eine Weibsperson, die aus Petersburg
+mit ihm angekommen war, dick und bejahrt, die
+nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in
+der Hand umherging; daß der Fürst ihr in allem wie
+ein Kind gehorche und ohne ihre Erlaubnis keinen
+Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig bediene,
+sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und
+wie einen Säugling einlulle, und schließlich, daß sie
+es sei, die jeden Besuch von ihm fernhalte, namentlich
+seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum Zweck
+verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo
+kamen. In Mordassoff wurde viel über diese
+unbegreifliche Verbindung gesprochen, besonders seitens
+der Damen. Zu alledem wurde noch hinzugefügt,
+daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des Fürsten
+unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt
+das Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter
+und Förster absetze und die Einnahmen empfange
+– doch mache sie alles so gut, daß die Leibeigenen
+ihr Schicksal geradezu priesen.
+</p>
+
+<p>
+Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte
+man, daß er seine Tage fast ausschließlich im Ankleidezimmer
+zubrachte und sich nur mit dem Anpassen
+von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige
+Zeit in der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe,
+<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a>
+mit ihr Karten spiele, sich die Karten lege, hin
+und wieder auf einer frommen englischen Stute ausreite,
+wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in
+einem gedeckten Wagen begleite – „für alle Fälle“,
+versteht sich: denn der Fürst reite nur aus Eitelkeit,
+könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen
+hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem
+eleganten Paletot, breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem
+Damenhalstuch, mit seinem Monokel im
+Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze,
+und mit Kornblumen in der linken Hand. Stepanida
+Matwejewna begleitete ihn regelmäßig und hinter ihm
+gingen zwei galonierte Diener und folgte – „für
+alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen:
+kam ihnen unterwegs ein Bauer entgegen und
+grüßte er sie, zur Seite tretend, tief und ehrerbietig:
+„Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden
+unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich
+sein Monokel auf ihn und antwortete freundlich mit
+gnädigem Kopfnicken: „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Bonjour, mon ami, bonjour!</span>“
+</p>
+
+<p>
+Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff
+von Mund zu Mund. Es schien ganz unmöglich zu
+sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte ja
+auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war
+die Verwunderung, als eines schönen Morgens das
+Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst, dieser Einsiedler
+und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff angelangt
+und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen
+sei. Alles geriet in Aufregung, alle erwarteten eine
+Aufklärung, alle fragten einander, was das zu bedeuten
+<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a>
+habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja
+Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten
+erschien ihnen als ein gar zu großes Wunder. Sie
+schrieben sich Zettelchen, machten einander Morgenvisiten,
+schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf
+Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber,
+daß der Fürst gerade bei Marja Alexandrowna
+abgestiegen war. Und am meisten ärgerte sich darüber
+Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über
+Tanten, Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt
+mit ihr verwandt war. Aber ich sehe, um alle
+diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja
+Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin
+uns zu folgen wir den verehrten Leser untertänigst bitten.
+Es ist allerdings noch früh, kaum zehn Uhr, aber
+ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde,
+nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen
+wird.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-3">
+<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a>
+III.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">Z</span><span class="postfirstchar">ehn</span> Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja
+Alexandrownas, an der großen Straße, in jenem Zimmer,
+das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon salon</span>“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar
+ein Boudoir. In diesem Salon ist der Fußboden gut
+gestrichen und die Wände sind mit hübschen Tapeten
+versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende
+Farbe. An einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin
+ein Spiegel, vor dem Spiegel eine bronzene Stutzuhr
+mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack
+zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel,
+von denen die Überzüge entfernt sind. Vor diesen
+Spiegeln stehen auf kleinen Tischen wieder Uhren. An
+der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina
+verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem
+brennenden Kamin sind weiche Polstermöbel gruppiert,
+nach Möglichkeit in malerischer Unordnung, zwischen
+ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende
+des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer
+blendend weißen Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner
+Ssamowar neben einem reizenden Teeservice. Das Eingießen
+des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna
+Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja
+Alexandrownas bei dieser lebt. Zwei Worte über sie.
+<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a>
+Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt, brünett,
+mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen
+Augen. Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren
+Charakter, lacht viel und gern, ist ziemlich schlau,
+klatscht natürlich, und versteht es, ihr Schäfchen ins
+trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide
+irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal
+heiraten; ihr erster Mann war aktiver Offizier. Im
+übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am
+Kamin in vorzüglicher Stimmung und in einem hellgrünen
+Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist unsäglich
+erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig
+mit seiner Toilette beschäftigt und folglich noch
+unsichtbar ist. Sie ist so froh, daß sie ihre Freude nicht
+einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein junger
+Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt.
+Seinen Augen sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen
+gefallen will. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt.
+Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät er leicht
+in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und
+geistreich gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich.
+Aber wir haben ja schon von ihm gesprochen:
+das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der zu
+großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna
+findet im stillen, daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber
+trotzdem die Liebenswürdigkeit selbst zu ihm. Er wirbt
+um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen Worten,
+bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick
+wendet er sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor
+und Geist zum Lächeln zu bringen. Sie aber ist
+<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a>
+auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In
+diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre
+schmalen Finger blättern in einem Kalender. Sie
+gehört zu jenen Erscheinungen, die allgemeine – ich
+möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen,
+wenn sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum
+eintreten. Sie ist unbeschreiblich schön: von hohem,
+schlankem Wuchs, mit prächtigem braunen Haar, wundervollen,
+fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut:
+Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin,
+das Füßchen verführerisch, der Gang königlich.
+Heute ist sie ein wenig bleich; dafür aber wird man ihre
+blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten
+sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen
+Zähne glänzen, drei Nächte noch im Traume sehen,
+wenn man sie einmal in Wirklichkeit gesehen hat. Sie
+sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff
+scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu
+fürchten, wenigstens fühlt er sich nicht ganz geheuer,
+wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre Bewegungen
+sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches
+weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders
+gut; doch übrigens, was steht ihr nicht gut?
+An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus Haar
+geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht
+aus dem Haar der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie
+gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es ist. An diesem
+Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar
+traurig, als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist
+Marja Alexandrowna zu ununterbrochenem Reden bereit,
+wenn sie auch mitunter gleichfalls einen besonderen,
+<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a>
+gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet
+– was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz
+als fürchte auch sie ihre Tochter.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“
+beteuert sie, „daß ich es jedem Menschen, der an meinem
+Hause vorübergeht, aus dem Fenster zurufen
+könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden
+Überraschung, die Sie mir und Sina bereitet haben,
+indem Sie zwei Wochen früher gekommen sind, als
+Sie es versprochen hatten; das versteht sich von selbst!
+Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben
+Fürsten hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr
+ich diesen bezaubernden alten Herrn liebe! Doch nein,
+nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie gehören
+zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters
+nie verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so
+beredt schildern wollte! Wissen Sie auch, was er mir
+in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs Jahren –
+weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen:
+Du warst ja damals bei deiner Tante zum Besuch ...
+Sie werden es mir nicht glauben, Pawel Alexandrowitsch;
+ich war seine Führerin, seine Schwester, seine
+Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war
+etwas Naives, Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis
+zueinander ... Ich weiß nicht, wie ich es
+ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb er
+sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ce
+pauvre prince</span>! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch,
+daß Sie ihn damit vielleicht sogar gerettet haben,
+daß Sie auf den Gedanken gekommen sind, ihn zu
+mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen
+<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a>
+langen sechs Jahren an ihn gedacht. Sie werden es
+mir nicht glauben: mir hat sogar in der Nacht von
+ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau
+habe ihn behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber
+Gott sei Dank, jetzt haben Sie ihn endlich aus diesen
+Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die Gelegenheit
+benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie
+mir doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles
+gelungen ist? Beschreiben Sie mir so ausführlich als
+möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als Sie
+ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache,
+während doch gerade alle diese Details, wie man
+sagt, den Charakter geben! Ich liebe über alles die
+Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich
+meine Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und
+... solange er noch mit der Toilette beschäftigt
+ist ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt
+habe, Marja Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff
+sofort bereitwillig auf, da er es vielleicht auch noch
+zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören, war
+für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze
+Nacht durch und, versteht sich, schlief die ganze Nacht
+nicht, – Sie können sich denken, welche Eile ich hatte!“
+fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit
+einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und
+auf den Stationen wegen der Pferde Lärm geschlagen:
+wenn man es niederschreiben und drucken lassen wollte,
+so würde es eine ganze Dichtung im neuesten Geschmack
+werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt
+sechs Uhr morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo.
+<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a>
+Zitternd vor Kälte – ich wollte mich nicht
+einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden.
+Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und
+ihren Säugling erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie
+ihn nicht mehr stillen ... Wundervoller Sonnenaufgang.
+Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot
+und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem
+Wort, ich eile Hals über Kopf weiter. Um die Pferde
+habe ich regelrecht gekämpft, nahm sie einem Kollegienassessor
+fort und forderte ihn fast zum Duell. Man
+erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein
+Fürst von dort abgefahren sei, er fuhr mit eigenen
+Pferden, habe dort genächtigt. Höre nur mit halbem
+Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich
+von der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches
+in einer modernen Elegie gelesen. Genau auf
+der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der Weg
+zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich
+sehe, etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer
+Reisewagen liegt auf der Seite, der Kutscher
+und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem
+Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes
+Geschrei. Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte:
+lieg mal zu auf der Seite, gehöre nicht zu deiner Gemeinde.
+Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie Heine
+sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich,
+mein Ssemjon und der Kutscher – gleichfalls eine
+russische Seele – eilen zur Hilfe und so stellen wir,
+sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage
+wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht
+hat, da sie ja auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern
+<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a>
+halfen noch mit Stangen, fuhren zur Stadt, erhielten
+von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich jener
+alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er
+selbst, Fürst Gawrila! Das war eine Überraschung!
+Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er aber erkannte
+mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das
+heißt, er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den
+zweiten Blick. Einstweilen aber ... unter uns: ich
+glaube, daß er selbst jetzt noch nicht recht weiß, wer ich
+eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für einen ganz
+anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten.
+Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in
+Petersburg zum letztenmal gesehen. Damals war ich,
+wie Sie sich denken können, noch ein halber Knabe.
+Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken
+Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie
+soll er sich noch meiner entsinnen! Stelle mich vor: er
+ist entzückt, umarmt mich, selbst aber zittert er noch von
+dem Schreck und weint, bei Gott, <em>weint</em>, ich habe
+es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen
+dies und das – ich beredete ihn endlich dazu, in meinen
+Wagen einzusteigen und – sei’s auch nur auf einen
+Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich
+etwas zu zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos
+ein ... Erklärt mir, daß er in das Kloster
+Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre, den er
+überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna
+– wer von uns Verwandten hat nicht von Stepanida
+Matwejewna gehört? – mich hat sie noch
+vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo
+hinausgejagt –, daß also seine Stepanida Matwejewna
+<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a>
+einen Brief erhalten habe, des Inhalts, daß
+in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege:
+ihr Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht
+und habe auch kein Interesse dafür übrig; vielleicht
+sind es beide, sowohl der Vater wie die Tochter ...
+vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort
+im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz
+zu fassen – sie war dermaßen in Verwirrung geraten,
+daß sie sich entschlossen hatte, auf etwa zehn Tage ihren
+Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um
+diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der
+Fürst saß inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen
+zweiten, setzte sich zur Probe eine Perücke nach der anderen
+auf, pomadisierte sich, färbte seinen Schnurrbart,
+legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference,
+allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über
+seine Kräfte – ohne Stepanida Matwejewna! Da
+hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich ins
+Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von
+den dienstbaren Geistern, der Stepanida Matwejewna
+sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet, hatte zwar einiges
+einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf bestanden.
+Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren,
+hatte in Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang
+von der Station weitergefahren, um genau
+vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem berühmten
+Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast
+in den Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn,
+mit mir zu unserer gemeinsamen Freundin, der hochverehrten
+Marja Alexandrowna zu fahren ... Er
+sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von
+<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a>
+allen, die er jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir
+hier, der Fürst aber frischt vorläufig noch seine Toilette
+auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den er nicht
+vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem
+Fall und unter keinen Bedingungen vergessen
+wird, mitzunehmen, denn er würde eher zu sterben
+einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne
+einige Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen
+erscheinen würde ... Und das ist die ganze Historie.
+– Allerliebst – nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du
+nicht auch, Sina?“ ruft Marja Alexandrowna entzückt
+aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er es
+zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul
+– eine Frage: erklären Sie mir doch einmal ausführlich
+Ihre Verwandschaft mit dem Fürsten! Sie nennen
+ihn Onkel?“
+</p>
+
+<p>
+„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna,
+wie und inwiefern ich mit ihm verwandt bin:
+ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ...
+doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie
+gesagt. Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden
+zuschulden kommen lassen – ich bin vollkommen
+schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr meine
+Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine
+Tante Aglaja Michailowna nichts anderes zu tun, als
+die ganze Verwandtschaft an den Fingern herzuzählen.
+Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser Reise
+nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst
+gefahren. Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen –
+und er fühlt sich angeredet. Das aber ist ja schließlich
+<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a>
+die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere
+ganze Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung,
+daß nur Gott allein Sie auf den Gedanken hat bringen
+können, mit ihm geradeswegs zu mir zu kommen! Ich
+zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles
+hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus,
+statt in meines, geraten wäre! Man hätte ihn ja hier
+zerrissen, zerrissen, jeden Knochen zerpflückt, man hätte
+ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt wie
+auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn
+womöglich bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen,
+Pawel Alexandrowitsch, was es hier für gierige,
+niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen
+sollen, wenn nicht zu Ihnen! – wie Sie wirklich
+sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja Petrowna
+aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht
+zu Anna Nikolajewna – was meinen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer
+nicht sehen läßt? Das ist doch etwas sonderbar,“ sagt
+Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig erhebt.
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der
+wird noch ganze fünf Stunden zu seiner Toilette
+brauchen! Zudem, da er ja kein Atom Gedächtnis
+mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben,
+daß er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein
+außergewöhnlicher Mensch, müssen Sie nicht vergessen,
+Marja Alexandrowna!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“
+</p>
+
+<p>
+„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna,
+<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a>
+sondern die reinste Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch
+halbwegs nur eine Komposition, aber kein Mensch!
+Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen
+noch vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche!
+Das ist ja nur noch eine Erinnerung an einen Menschen,
+man hat ihn sozusagen nur zu beerdigen vergessen!
+Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen,
+Beine von Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn,
+und auch sprechen tut er nicht anders als mit Hilfe
+gewisser Federn!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger
+Mensch sind, wie ich sehe!“ ruft Marja Alexandrowna
+aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und schämen
+Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als
+Verwandter! – so von diesem ehrwürdigen alten
+Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts von seiner
+grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe
+aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie
+doch, daß er sozusagen ein Überbleibsel, eine Ruine,
+ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist. Mein
+Freund, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich begreife vollkommen, daß Sie
+infolge irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig
+sprechen, den Leichtsinnigen spielen. Aber,
+mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu Ihren
+neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer
+neuen Richtung edel und ehrenhaft ist. Ich fühle es,
+daß es in diesen neuen Ideen sogar etwas Erhabenes
+gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen
+wir, die praktische Seite der Sache zu sehen.
+Ich habe in der Welt gelebt, ich habe mehr als Sie
+gesehen, und schließlich, ich bin Mutter, Sie aber sind
+<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a>
+noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet
+ihm in unseren Augen vielleicht manches Lächerliche
+an. Ja, das letzte Mal sprachen Sie sogar davon,
+daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und daß
+man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber
+das kommt alles nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll
+Shakespeare haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexandrowitsch,
+Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit
+abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde
+er bei all seinem ganzen Verstande doch keine Silbe
+von unserem gegenwärtigen Leben begreifen. Wenn
+es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes
+und Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und
+allein in der höheren und höchsten Gesellschaft. Ein
+Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst, ist auch in
+einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da
+hat sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna
+fast ein Schloß gebaut, aber dennoch ist er nur der
+Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr! Und
+auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich
+auch mit fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer
+nur die frühere Natalja Dmitrijewna und wird
+nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil gleichfalls
+ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie
+von ihr abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine
+Fremde in ihrem Kreise – das aber ist ein schlechtes
+Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt. Übrigens
+werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen,
+als ich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>, und Sie werden Ihren
+Shakespeare mit der Zeit hübsch vergessen. Das sage
+ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen. Ich
+<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a>
+bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig
+sind und sich nur so ... nach der Mode richten.
+Ach, da bin ich nun ins Schwatzen hineingekommen.
+Bleiben Sie ruhig hier, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>, und vergessen
+Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben
+gehen und mich nach dem Fürsten erkundigen. Vielleicht
+bedarf er irgend wessen, und mit meinen Dienstboten
+...“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das
+Zimmer, denn sie dachte an ihre Dienstboten.
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu
+sein, daß der Fürst nicht bei dieser Modedame, der
+Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat diese unverschämte
+Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm
+verwandt sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen
+wollen vor Ärger!“ bemerkte Nastassja Petrowna. Als
+sie aber bemerkte, daß ihr nicht geantwortet wurde, sah
+sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel Alexandrowitsch
+genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache
+stand, und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte
+sie irgend etwas vergessen, das sie zum Tee brauchte.
+Übrigens wußte sie sich sofort dafür zu entschädigen:
+sie versteckte sich hinter der Tür und horchte.
+</p>
+
+<p>
+Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick
+zu Sina. Er war unbeschreiblich erregt, seine Stimme
+zitterte.
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht
+böse?“ fragte er mit zaghafter und flehender Miene.
+</p>
+
+<p>
+„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die
+leicht errötete und ihre wundervollen Augen zu ihm
+erhob.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a>
+„Weil ich früher als verabredet hergekommen
+bin! Sinaïda Afanassjewna, ich hielt es nicht aus,
+ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten ...
+Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin
+hergeeilt, um meinen Schicksalsspruch zu erfahren ...
+Doch Sie ziehen die Brauen zusammen, Sie ärgern
+sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts Positives
+erfahren?“
+</p>
+
+<p>
+Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie
+wieder darauf zurückkommen würden,“ antwortete sie,
+nachdem sie den Blick gesenkt hatte, mit fester und
+strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet.
+„Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war,
+so ist es – je schneller abgetan, um so besser. Sie
+verlangen oder bitten wieder um eine Antwort. Wie
+Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal wiederholen,
+denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie.
+Ich sage es Ihnen nochmals – ich habe mich noch
+nicht entschlossen und kann Ihnen daher auch nicht das
+Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches
+Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel
+Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge
+ich hinzu, daß ich Ihnen noch nicht endgültig absage.
+Und merken Sie sich noch eines: wenn ich Ihnen jetzt
+noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem
+Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe
+Nachsicht habe. Ich wiederhole es: ich will vollkommen
+frei sein und wenn ich Ihnen schließlich sagen
+sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht
+<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a>
+beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche
+Hoffnungen gemacht habe. So, das ist alles!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff
+mit kläglicher Stimme aus. „Ist denn das eine
+Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die geringste
+Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“
+</p>
+
+<p>
+„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe,
+und dann schließen Sie daraus, auf was Sie wollen.
+Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts mehr hinzufügen.
+Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern
+sage nur: warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen:
+daß ich die volle Freiheit habe, Ihnen endgültig
+abzusagen, sobald ich will. Und dann noch eines,
+Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die
+Antwort verabredeten Termin gekommen sind, um auf
+Umwegen etwas zu erreichen, in der Hoffnung, vielleicht
+auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen
+wir an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so
+haben Sie sich in Ihrer Berechnung sehr getäuscht.
+Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie? Doch
+jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich
+bis dahin mit keinem Wort mehr daran.“
+</p>
+
+<p>
+Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und
+ohne die geringsten Stockungen gesprochen, als hätte
+sie sie früher schon auswendig gelernt. Monsieur
+Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In
+dem Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück.
+Ihr folgte fast auf dem Fuße Frau Sjäblowa.
+</p>
+
+<p>
+„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina!
+Nastassja Petrowna, bereiten Sie schnell neuen Tee!“
+<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a>
+– Die Dame schien nicht wenig erregt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen.
+Ihre Zofe Anjutka ist in unsere Küche gekommen, um
+auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“ rief Nastassja
+Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem
+Ssamowar.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna
+über die Schulter. „Als ob ich mich dafür
+interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie
+können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre
+Küche schicken werde. Und es wundert mich, es wundert
+mich aufrichtig, weshalb Sie mich immer für
+eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten,
+und nicht nur Sie allein, sondern die ganze Stadt.
+Ich verlasse mich auf Sie, Pawel Alexandrowitsch!
+Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst, weshalb
+sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges?
+Dieser Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag
+sie doch, mag sie doch die Erste sein! Ich werde als erste
+zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen. Und
+schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme
+sie stets in Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen!
+Sie wird von allen verleumdet. Aber weshalb
+fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung und
+putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung
+nach ist es aber doch besser, Putz zu lieben, als
+etwas anderes, wie zum Beispiel Natalja Dmitrijewna,
+die ... so etwas liebt, daß man es nicht
+einmal aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna
+Nikolajewna ewig zu Besuch fährt und nie zu Hause
+sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch überhaupt
+<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a>
+keine Erziehung, keine Bildung genossen, und
+daher fällt es ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen
+und sich zwei Minuten nacheinander mit ein
+und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und
+liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht.
+Aber weshalb versichert man ihr denn ewig, daß sie
+hübsch sei, wenn sie nur ein weißes Gesicht hat und
+nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die Zuschauer
+– schön! Aber weshalb beteuert man ihr
+denn fortwährend, daß sie so wundervoll tanze? Sie
+trägt ganz entsetzliche Hüte und noch ärgeren Kopfputz,
+– aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen
+Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so
+viel Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei,
+ein Konfektpapier ins Haar zu stecken – und sie wird
+es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber das ist doch
+hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier
+nicht? Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens
+und abends zu ihr und womöglich auch noch in
+der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch
+bis fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem
+gibt es hier so viel schlechte Beispiele! Und schließlich
+ist das alles <em>vielleicht</em> nur Verleumdung.
+Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen!
+... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der
+Fürst! Das ist er, er! Jetzt würde ich ihn unter Tausenden
+erkannt haben! Endlich sehe ich Sie wieder,
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>!“ rief Marja Alexandrowna aus und
+eilte dem eintretenden Fürsten entgegen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-4">
+<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a>
+IV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">uf</span> den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen
+Fürsten durchaus nicht für einen alten Mann, geschweige
+denn für einen Greis halten. Erst nach näherem
+und aufmerksamerem Beobachten werden Sie
+sehen, daß er gewissermaßen eine auf Federn gespannte
+Leiche ist. Alle Künste sind angewandt, um diese Mumie
+als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich naturgetreue
+Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart
+und die Fliege glänzen im schönsten Schwarz und bedecken
+die Hälfte des Gesichts. Das übrige Gesicht
+ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie
+überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? –
+Das vermag niemand zu erklären. Gekleidet ist er nach
+neuester Mode, als wäre er aus einem Modejournal
+ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas
+Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich
+ist, jedenfalls etwas höchst Modernes und Neues, das
+ausschließlich für Morgenvisiten geschaffen ist. Handschuhe,
+Binde, Weste, Wäsche – alles ist von blendender
+Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der
+Fürst hinkt ein wenig, tut es aber so geschickt, als
+wäre auch das Hinken von der Mode vorgeschrieben.
+In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar
+<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a>
+in demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt
+eine Wolke von Wohlgeruch. Wenn er spricht,
+zieht er manche Worte ganz besonders in die Länge, –
+vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht
+deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht
+jedoch auch um des größeren Eindrucks willen.
+Einige Silben spricht er ganz ungewöhnlich süß aus,
+den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum Beispiel,
+klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher,
+wenn möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse
+Nachlässigkeit, in der er sich im Laufe seines langjährigen
+<a id="corr-6"></a>Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens,
+wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten
+Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von
+ihm aus gewissermaßen unbewußt geschehen, wie etwa
+eine alte, unklare Erinnerung, eine längst durchlebte
+Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle
+Korsetts, Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen
+machen können. Und deshalb tun wir besser,
+wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht
+gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis
+schon vor langer Zeit verloren hat, oft sogar vergißt,
+was er vor einer Minute gesprochen, sich beständig versieht,
+viel zusammenlügt und aufschneidet. Es gehört
+sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch
+führen zu können. Marja Alexandrowna aber
+verläßt sich auf sich und so gerät sie beim Erscheinen des
+Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht
+im geringsten verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide
+Hände des Gastes und führt ihn zu einem bequemen Ruhestuhl.
+<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a>
+„Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst. Sechs
+Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen,
+und keinen Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen
+Zeit von Ihnen erhalten! O, Sie haben mir
+großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen
+gewesen bin, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher prince</span>! Aber, – Tee,
+Tee! Ach, mein Gott! Nastassja Petrowna, Tee!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt
+der Fürst (wir haben zu erwähnen vergessen, daß er
+auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut er, als wäre
+es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld!
+und den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr
+wollte ich Sie un–be–dingt be–suchen,“ fährt er
+langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man
+riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“
+sagt Marja Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt
+sich Mosgljäkoff ein, da er sich bemerkbar zu machen
+wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn mit einem
+strengen Blick.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges
+... Und so unterblieb es. Und was macht Ihr
+Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer
+noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“
+</p>
+
+<p>
+„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna
+stockend. „Mein Mann ist nicht Staatsanwalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für
+Anna Nikolajewna Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige
+Mosgljäkoff aus, verstummte aber sogleich, denn
+<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a>
+Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und
+... es entfällt mir immer! – nun ja, Antipowna, wie
+gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt
+Marja Alexandrowna mit bitterem Lächeln. „Ich bin
+nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur gestehe –
+ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht
+erkannt zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt,
+Fürst. Ich bin Ihre einstige Freundin, bin Marja
+Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich ihrer
+noch? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich!
+Und ich war ge–rade der Mei–nung, daß Sie eben
+– wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna Wassil–jewna
+seien ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est délicieux!</span> Al–so, ich bin nicht
+dorthin gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß
+du mich gerade zu dieser Anna Mat–wejewna brächtest.
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est charmant!</span> Anbei ... das kommt nicht selten
+bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin
+ich will. Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer
+zufrieden, was auch geschehen möge. Dann sind Sie
+al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist in–teressant
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja
+Alexandrowna. O wieviel ich Ihnen jetzt verzeihen
+muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten
+Freunde vergessen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“
+lispelt der Fürst und mustert Sina.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a>
+„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch
+nicht, Fürst. Sie war damals nicht hier, als Sie uns
+besuchten, wissen Sie noch, vor sechs Jahren?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist Ihre Tochter! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Charmante! charmante!</span>“
+brummt der Fürst und mustert gierig das junge Mädchen.
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais quelle beauté!</span>“ flüstert er, sichtlich
+überrascht, erstaunt.
+</p>
+
+<p>
+„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna
+und lenkt die Aufmerksamkeit des Fürsten
+auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem Präsentierteller
+vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse
+und betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen
+hat.
+</p>
+
+<p>
+„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was
+für ein net–ter Knabe! U–u–nd sicherlich ...
+führt er sich gut auf?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna
+eilig, „ich habe ja von einem so entsetzlichen Unglück gehört!
+Glauben Sie mir, ich war außer mir vor
+Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen?
+Sehen Sie sich vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“
+</p>
+
+<p>
+„In den Graben! In den Graben! In den
+Graben hat mich der Kutscher geworfen!“ ruft der
+Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte,
+es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges,
+und ich erschrak dermaßen, sage ich Ihnen, daß –
+vergieb mir, Herr! ... Der Himmel erschien mir
+so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das
+hatte ich nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus
+nicht erwartet! Und schuld daran ist ganz allein
+<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a>
+mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem
+auf dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und
+untersuche die Angelegenheit gründ–lich. Ich bin
+ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben abgesehen
+hatte.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch,
+„werde alles untersuchen. Nur hören Sie
+mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur Feier des
+heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen!
+Ich bin ü–ber–zeugt, daß es von ihm ein
+Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von
+Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie
+sich: er hat, wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt!
+Es hat sich in ihm eine ge–wis–se
+Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein
+Kommunist im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe
+sogar Angst, ihm auch nur zu begegnen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen
+haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie
+werden es mir nicht glauben, wie sehr ich selbst unter
+diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen
+Sie sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt,
+aber sie sind so dumm, daß ich wirklich vom Morgen bis
+zum Abend meine liebe Not mit ihnen habe. Sie können
+es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte
+... ich habe es sogar ganz gern, wenn der Die–ner
+zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der wie alle
+alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig
+zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei
+<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a>
+– und es macht seine Wür–de aus, wenn er treuherzig
+und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen
+Fällen. Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine
+gewisse Fei–erlichkeit kommt in sein Gesicht, wie gesagt,
+es verleiht ihm eine gewisse Wohlerzogenheit, ich
+aber verlange von einem <em>Menschen</em> vor allen Dingen
+<em>Wohl–erzogenheit</em>. Da habe ich meinen
+Terentij. Du erinnerst dich doch noch Terentijs,
+mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte
+ich ihn von vornherein zum Portier. Du
+sollst mein Portier sein, sagte ich. Phä–no–menal
+dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber
+welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein
+Doppelkinn so frisch und rosig! Nun, und in der
+weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler Gala
+macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe
+ihn von Herzen lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich
+ihn ansehe und schließlich alles darüber vergesse: entschieden,
+als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe, –
+so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der
+deutsche Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter,
+fetter Truthahn. Vollkommenes Comme-il-faut
+eines bedienenden Menschen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und
+klatscht sogar leise Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert
+ihr bereitwillig: ihn interessiert der Onkel
+außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa
+lacht. Und sogar Sina lächelt.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel
+Esprit Sie haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna
+aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden noch so kleinen
+<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a>
+Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft
+zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen
+vier Wänden einzuschließen! Bei solchem Talent!
+Aber Sie könnten ja sogar schriftstellern, Fürst!
+Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol wiederholen!
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm
+berührt. „Ich könnte wieder–ho–len ...
+und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich.
+Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville
+geschrieben. Und es kamen darin auch einige
+ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber
+nie gespielt worden ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr
+Vaudeville lesen könnte! Und, weißt du, Sina, gerade
+jetzt käme es uns so zustatten! Man plant hier nämlich
+eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen
+Zweck, Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und
+da nun Ihr Vaudeville!“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu
+schreiben ... nur, wie gesagt, habe ich es voll–kommen
+vergessen. Ich weiß nur noch, es waren da zwei
+oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt
+graziös seine Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich
+im Aus–lande war, machte ich tat–säch–lich Fu–rore.
+Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen
+auf freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener
+Kongreß tanzte er be–zau–bernd den Krakowjak.“
+</p>
+
+<p>
+„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt,
+vielleicht war es auch nicht Lord Byron, sondern irgend
+<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a>
+ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron,
+ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord
+Byron, sondern ein Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne
+ich mich vollkommen. Das war ein äußerst origi–neller
+Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später
+aber stellte es sich heraus, daß er nur so etwas wie
+ein Koch war. Nur tanzte er ent–zück–end den
+Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein.
+Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn:
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Unser wun–der–voller Po–le</p>
+ <p class="verse">Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ...</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+Und dann ... und dann ... das habe ich nun
+lei–der vergessen ... wie es weiter ging ...
+</p>
+
+<div class="poem-container">
+ <div class="poem">
+ <div class="stanza">
+ <p class="verse">Doch als er sich brach das Bein,</p>
+ <p class="verse">Da stellte er das Tanzen ein ...“</p>
+ </div>
+ </div>
+</div>
+
+<p class="noindent">
+„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“
+ruft Mosgljäkoff aus, dessen Stimmung immer heiterer
+wird.
+</p>
+
+<p>
+„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet
+Onkelchen, „oder in der Art we–nigstens. Wie gesagt,
+vielleicht war es auch anders, nur war es ein
+sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ...
+ich habe jetzt einige Er–leb–nisse vergessen. Das
+kommt bei mir von der Beschäftigung ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie
+sich denn während dieser ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit
+beschäftigt?“ erkundigt sich Marja Alexandrowna
+interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon
+cher prince</span>, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld,
+Näheres darüber zu erfahren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt,
+<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a>
+wissen Sie, verschiedenes. Wenn man ...
+sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber, wissen Sie,
+gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft,
+Onkelchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde
+ich mir so etwas ein, daß ich mich später über mich selbst
+wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A propos!
+Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur
+von Kadujeff?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“
+ruft Pawel Alexandrowitsch aus.
+</p>
+
+<p>
+„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die
+ganze Zeit für den Vi–ze-Gou–verneur, und denke
+noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein ganz an–deres
+Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so wür–de–volles,
+klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich
+kluger Mensch war er und fortwährend schrieb er Gedichte,
+bei verschiedenen Ge–le–genheiten. Ein wenig,
+so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna,
+„ich schwöre es Ihnen, mit einem solchen Leben
+richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf ganze fünf
+Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören!
+Sie sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie,
+wen Sie wollen, von denen, die Ihnen wirklich zugetan
+sind – und ein jeder wird Ihnen sagen, daß Sie ein
+verlorener Mensch sind!“
+</p>
+
+<p>
+„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu
+Ihnen, wie Ihre Schwester! Ich sage es Ihnen nur
+<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a>
+deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil die Erinnerung
+an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich
+für einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln
+wollte? Nein, Sie müssen Ihr Leben von Grund aus
+verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken, sich
+überanstrengen, werden Sie sterben ...“
+</p>
+
+<p>
+„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“
+fragt erschrocken der Fürst. „Und denken Sie sich, Sie
+haben es erraten: mich quälen ent–setz–lich meine
+Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ...
+Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der
+Gelegenheit er–staun–liche Symptome – ich werde
+sie Ihnen ausführlich beschreiben ... Erstens ...“
+</p>
+
+<p>
+„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“
+unterbricht ihn Pawel Alexandrowitsch, „jetzt
+aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das
+ist vielleicht auch nicht so in–ter–es–sant. Ich habe
+es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch im–mer–hin
+eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene
+E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein
+Lieber, ich werde dir am Abend einen Fall aus–führ–lich
+erzählen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen,
+sich im Auslande davon zu heilen,“ unterbricht ihn noch
+einmal Marja Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde
+un–be–dingt ins Aus–land fahren. Ich entsinne
+mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande
+war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte
+fast geheiratet, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une Vicomtesse</span>, eine Fran–zö–sin.
+<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a>
+Ich war damals sehr ver–liebt und wollte ihr mein
+ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te
+sie, sondern ein an–derer. Und welch ein
+selt–samer Zufall: ich war nur auf zwei Stunden
+fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher
+Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang
+in einer Irrenanstalt.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher prince</span>, ich habe einzig deshalb davon
+gesprochen, weil Sie im Ernst an Ihre Gesundheit denken
+müssen. Im Auslande gibt es so gute Ärzte ...
+und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung
+auf sich hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo
+verlassen, wenigstens für einige Zeit!“
+</p>
+
+<p>
+„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer
+Zeit entschlossen, und wissen Sie, ich beabsichtige, mich
+hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hydropathisch?“
+</p>
+
+<p>
+„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch
+behandeln lassen. Ich war damals in einem
+Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich
+habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische
+Dame, sie wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein.
+Und bei ihr befand sich auch ihre Tochter, die war fünfzig
+Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge
+hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in
+Ver–sen. Später hat–te sie noch ein Miß–geschick:
+sie hatte ihre leibeigene Magd erschlagen und war dafür
+vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen ein,
+mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt,
+nichts. Nun ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun
+Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus Höf–lich–keit,
+<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a>
+denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke:
+vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden.
+Ich trank und trank, trank und trank, trank einen
+ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen Sie, diese Hy–dro–pathie
+ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen
+gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt
+wäre, jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein
+würde ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung,
+Onkelchen! Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie
+jemals Logik getrieben?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt
+streng die pikierte Marja Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur
+ist es sehr lange her. Ich habe auch Phi–lo–sophie
+gelernt in Deutsch–land, habe einen ganzen Kursus
+durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder
+ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben
+mich mit diesen Krankheiten der–ma–ßen erschreckt,
+daß ich ganz er–schüttert bin. Wie gesagt, ich werde
+sogleich wiederkommen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte
+Marja Alexandrowna aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen
+neuen Gedanken nie–der–schreiben ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">au revoir</span> ...“
+</p>
+
+<p>
+„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch
+und biegt sich vor Lachen.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber
+Sie lachen!“ beginnt sie mit Eifer. „Über
+einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen Verwandten, zu
+<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a>
+lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen,
+und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für
+Sie errötet, Pawel Alexandrowitsch! Aber so sagen
+Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so lächerlich
+an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an
+ihm finden!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er
+den größten Unsinn zusammenschwatzt? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen
+Lebens, seines fünfjährigen Gefängnislebens unter
+der Aufsicht dieses höllischen Weibes! Man muß ihn
+bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar <em>mich</em>
+nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist
+doch sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man
+muß ihn unbedingt retten! Ich berede ihn nur aus
+dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich hoffe,
+daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen
+wird!“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten,
+Marja Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitsch
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich,
+Monsieur Mosgljäkoff!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede
+ich ganz im Ernst! Warum soll man ihn denn nicht
+verheiraten? Das ist doch eine Idee! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est une idée
+comme une autre!</span> Was kann ihm das schaden,
+sagen Sie doch, bitte! Er ist, im Gegenteil, in einer
+solchen Lage, daß dieses Mittel ihn retten könnte! Nach
+dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens
+wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild –
+<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a>
+verzeihen Sie den Ausdruck – befreit sein. Zweitens
+– und das ist die Hauptsache – nehmen wir an, daß
+er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe,
+eine nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen
+arme Witwe, die ihn wie eine Tochter pflegt, und die
+auch begreift, wie viel sie ihm dafür Dank schuldig ist,
+daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann
+man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes,
+herzliches und edles Wesen, das beständig bei ihm ist,
+anstelle dieses ... Weibes? Versteht sich, sie darf
+nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die
+Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna
+fixiert hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche
+Braut finden?“ fragte Nastassja Petrowna Sjäblowa,
+die aufmerksam zuhört.
+</p>
+
+<p>
+„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht
+Sie, wenn Sie nur wollen! Erlauben Sie: weshalb
+sollten Sie zum Fürsten <em>nicht</em> passen? Erstens –
+Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe,
+drittens – adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja
+tatsächlich nicht reich), fünftens – Sie sind eine sehr
+vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn lieben, auf
+den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin
+ist, mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn
+ins Ausland bringen, werden ihn mit Brei und Konfekt
+füttern, und alles das bis zu der Minute, in der er
+das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre
+geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb
+Monaten. Dann sind Sie Fürstin, Witwe,
+reich, und zur Belohnung heiraten Sie einen Marquis
+<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a>
+oder einen Generalintendanten! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est joli, n’est-ce
+pas?</span>“
+</p>
+
+<p>
+„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube
+ich, aus lauter Dankbarkeit in ihn verlieben, wenn er
+mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“ ruft
+Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen
+Augen blitzen auf. „Nur ist das alles – Scherz!“
+</p>
+
+<p>
+„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie
+mich mal recht nett, und dann schneiden Sie mir einen
+Finger ab, wenn Sie nicht heute noch verlobt sind! Es
+ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu irgend
+etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘
+Sie haben es doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn
+so, daß er selbst nichts davon merkt. Wir können ihn
+ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu seinem
+Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens
+auf alle Fälle etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“
+</p>
+
+<p>
+Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft.
+Und wie vernünftig Frau Sjäblowa auch sein
+mag – ihr wässert dennoch der Mund.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß
+ich heute ganz unmöglich angekleidet bin,“ antwortet
+sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und schon
+lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn
+heute nicht wirklich wie – eine – Köchin aus?“
+</p>
+
+<p>
+Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna
+mit eigentümlich starrer Miene unbeweglich
+auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn ich
+sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel
+Alexandrowitschs mit einem gewissen Schreck vernahm
+<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a>
+und im Augenblick geradezu erstarrte ... Endlich
+besann sie sich.
+</p>
+
+<p>
+„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber
+es bleibt doch ein Scherz und eine Ungereimtheit, und
+vor allem ist es hier durchaus unschicklich,“ unterbricht
+sie Mosgljäkoff scharf.
+</p>
+
+<p>
+„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna,
+weshalb soll es denn eine Ungeschicklichkeit
+und unschicklich sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb,
+weil Sie in meinem Hause sind und der Fürst mein
+Gast ist, und weil ich niemandem erlauben werde, die
+meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich
+fasse Ihre Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch.
+Aber Gott sei Dank! Da ist ja der Fürst!“
+</p>
+
+<p>
+„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins
+Zimmer eintretend<a id="corr-11"></a>. „Es ist er–staunlich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher ami</span>,
+wie viel neue Gedan–ken ich heute habe. Zu–wei–len
+aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten,
+zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht.
+Und so sitze ich oft einen ganzen Tag.“
+</p>
+
+<p>
+„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall
+im Wagen, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erschüttert
+und nun ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem
+Um–stande zu, und finde den Fall sogar nütz–lich.
+Deshalb habe ich mich auch entschlossen, meinem Fe–o–fil
+zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er
+es nicht auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst
+du dazu? Zudem ist er sowieso vor kurzem bestraft
+worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a>
+„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er
+hat doch einen Bart von der Größe des Königreichs
+Preußen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen.
+Wie gesagt, mein Lieber, du hast voll–kom–men
+recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein künst–licher
+Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall:
+plötzlich schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man
+hat eine neue Sendung Bär–te aus dem Aus–lande
+erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te,
+sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches
+usw., und alle von vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten
+Prei–sen. Wart, denke ich, ich werde doch
+einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu
+sehen, wie ein falscher aussieht. Und ich bestellte einen
+Kut–scherbart, denn so ein Bart macht doch stattlicher.
+Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen
+natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist.
+Wie gesagt, was tun: soll man den echten abnehmen
+lassen oder den geschickten zurücksenden und den natürlichen
+tragen? Ich dachte und dachte, und beschloß,
+ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der
+Natur steht, Onkelchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als
+ihm der Bart abgeschnit–ten wurde! Als hätte er
+mit seinem Bart seine ganze Karrie–re verloren ...
+Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin bereit, Onkelchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur
+fahren werden!“ ruft Marja Alexandrowna erregt
+<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a>
+aus. „Sie gehören jetzt <em>mir</em>, mein Fürst, Sie
+gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich
+werde Ihnen natürlich nichts über die hiesige Gesellschaft
+sagen. Vielleicht wollen Sie auch Anna Nikolajewna
+besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen
+nehmen! Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt,
+daß die Zeit Ihnen die Augen öffnen wird. Vergessen
+Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre
+Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben
+Sie mir, Fürst, ich zittere für Sie! Sie kennen
+sie nicht, nein, Sie kennen diese Menschen noch nicht,
+wenigstens vorläufig nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna.
+Es wird so sein, wie ich es Ihnen versprochen habe,“
+sagt Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen!
+Ich erwarte Sie zum Mittag zurück, Fürst. Wir speisen
+früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein Mann auf
+dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen!
+Wenn Sie wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie
+liebt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen
+Mann?“ fragt der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst!
+Sie haben ja alles, alles vergessen, was früher war!
+Mein Mann Afanassij Matwejitsch – entsinnen Sie
+sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber
+Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen
+Sie sich nicht, Fürst – Afanassij Matwejitschs? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken
+Sie sich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mais c’est delicieux</span>! Dann haben Sie also
+<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a>
+auch einen Mann? Was für ein son–der–barer
+Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes Vau–de–ville:
+Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da
+... wie war es doch, da habe ich es nun vergessen!
+Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie gesagt, sehr
+geistvoll ...“
+</p>
+
+<p>
+„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt
+die Frau schon aus dem Haus‘, Onkelchen,“ souffliert
+Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber,
+gerade ‚aus dem Haus‘. Charmant, charmant! So
+daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du verfällst
+immer auf den richtigen Vers, mein Lieber.
+Nun ja: ich entsann mich noch ganz genau, daß die
+Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant! Wie
+gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede
+war ... Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein
+Lieber. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Au revoir, madame, adieu ma charmante
+demoiselle!</span>“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt
+sich vor Sina und küßt seine Fingerspitzen.
+</p>
+
+<p>
+„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie
+es nicht, schnell zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja
+Alexandrowna nach.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-5">
+<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a>
+V.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">enn</span> Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas
+in der Küche nach dem Rechten sehen wollten,“ sagt
+sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet hat. „Ich
+habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das
+Essen unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß
+er betrunken ist ...“
+</p>
+
+<p>
+Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft
+sie Marja Alexandrowna einen mißtrauischen Blick zu
+und bemerkt sogleich, daß diese sich in ungewöhnlicher
+Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen
+Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den
+Saal, von dort durch einen Korridor in ihr Zimmer
+und von dort in eine kleine dunkle Kammer, in der
+einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen
+und in Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses
+aufbewahrt wird. Auf den Fußspitzen schleicht sie zu
+einer verschlossenen Tür, hält den Atem an, beugt
+sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht.
+Diese Tür ist eine der drei Türen desselben Zimmers,
+in dem jetzt Sina und deren Mutter allein zurückgeblieben
+sind.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna
+zwar für eine durchtriebene, aber doch mehr leichtsinnige
+<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a>
+Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der Gedanke gekommen,
+daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen
+würde, an den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick
+ist aber Marja Alexandrowna so beschäftigt und aufgeregt,
+daß sie keine Zeit hat, an Vorsichtsmaßregeln
+zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und
+blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen
+Blick und eine bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf.
+</p>
+
+<p>
+„Sina!“
+</p>
+
+<p>
+Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter
+zu und erhebt den Blick ihrer dunklen, verträumten
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr
+Ernstes zu reden.“
+</p>
+
+<p>
+Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter,
+faltet die Hände, lehnt sich an den Flügel und wartet.
+In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und Spott wieder,
+was sie übrigens zu verbergen sucht.
+</p>
+
+<p>
+„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute <em>jener</em>
+Mosgljäkoff gefallen hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“
+antwortet Sina gleichsam wider Willen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon enfant</span>; aber es scheint mir, daß er mit
+seinem ... Werben gar zu lästig wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte
+seine Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig
+entschuldigt. Im Gegenteil, du fielst immer
+über ihn her, sobald ich nur von ihm sprach.“
+</p>
+
+<p>
+„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer
+verteidigtest und jetzt als erste über ihn herfällst.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a>
+„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina:
+früher wollte ich dich gern mit ihm verheiratet wissen.
+Es war mir schwer, deinen ewigen Kummer, deine
+Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel,
+was du auch von mir denkst! – und die meinen
+Schlaf in jeder Nacht vergiftet. Ich hatte mich überzeugt,
+daß nur eine einschneidende Veränderung in deinem
+Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung
+soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und
+können zum Beispiel nicht ins Ausland fahren. Die
+hiesigen Esel wundern sich, daß du dreiundzwanzig
+Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden
+allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem
+unserer Räte geben oder Iwan Iwanowitsch, unserm
+Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich? Mosgljäkoff
+ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch
+der beste von allen. Er ist aus guter Familie, er hat
+einflußreiche Verwandschaft, er besitzt hundertundfünfzig
+Seelen – das ist doch immerhin besser, als von
+Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern
+zu leben. Deshalb hatte ich auch mein Auge
+auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es dir, ich habe
+nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin
+überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten
+hat. Und wenn Gott dir jetzt etwas Besseres geschickt
+hat – o! Wie gut ist es dann, daß du ihm noch
+nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute
+nichts Bindendes gesagt, Sina?“
+</p>
+
+<p>
+„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch
+alles mit zwei Worten sagen läßt?“ fragt Sina gereizt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a>
+„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort
+kannst du deiner Mutter sagen? Doch was rede ich
+unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht
+mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber
+für deine Mutter.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns
+beide noch wegen eines Wortes streiten! Verstehen
+wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit
+genug gehabt, uns kennen zu lernen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst
+nicht, daß ich zu allem, zu allem bereit bin, um dich
+sicher zu stellen!“
+</p>
+
+<p>
+Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an.
+</p>
+
+<p>
+„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten,
+um mich <em>sicher zu stellen</em>?“ fragte sie
+mit einem seltsamen Lächeln.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da
+du selbst darauf zu sprechen kommst, so will ich dir
+sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du den Fürsten
+heiraten könntest.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“
+rief Sina heftig aus. „Der größte Unsinn! Und auch
+finde ich, Mama, daß du gar zu viel dichterische Begeisterung
+hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein
+weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt.
+Du hast beständig Projekte. Deren Unmöglichkeit
+und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab. Noch
+als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn
+hattest. Und als Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte
+und beteuerte, daß man den alten Mann verkuppeln
+müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken
+<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a>
+gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du
+daran denken und gerade <em>das</em> mir jetzt vorschlagen
+wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne in bezug
+auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich
+quälen, so bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen
+Projekt mehr zu sprechen, hörst du, Mama, – kein
+Wort, und es würde mich freuen, wenn du das behieltest!“
+Sie war atemlos vor Zorn.
+</p>
+
+<p>
+„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes
+Kind!“ entgegnete Marja Alexandrowna mit gerührter
+Stimme, in der Tränen zu zittern schienen. „Du
+sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine
+Mutter würde das ertragen, was ich täglich von dir ertrage!
+Aber du bist gereizt, du bist krank, du leidest,
+ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß
+dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn
+ich nun tatsächlich an diese Verbindung gedacht hätte
+– weshalb hältst du diesen Gedanken für unsinnig?
+Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen,
+als vorhin, – ich meine, als er bewies, daß
+der Fürst heiraten müsse, nur, versteht sich, nicht diesen
+Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich natürlich
+versehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das
+nur so, aus Neugierde, oder mit einer bestimmten
+Absicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem
+auch ein solches Schicksal beschieden sein kann!“ rief
+Sina aus und stampfte mit dem Fuß vor Empörung.
+<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a>
+„Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen
+von allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche
+eines Greises auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu
+heiraten, diesen Klappergreis, um ihm dann sein Geld
+abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu wünschen,
+das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern
+außerdem noch so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu
+solchen Gedanken nicht Glück wünschen kann, Mama!“
+</p>
+
+<p>
+Eine ganze Minute dauerte das Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor
+zwei Jahren war?“
+</p>
+
+<p>
+Sina zuckte zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du
+hast mir feierlich gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“
+</p>
+
+<p>
+„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir
+nur dieses eine Mal zu erlauben, das Versprechen, das
+ich bis jetzt noch niemals vergessen habe, zurückzuziehen.
+Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache
+zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre
+Schweigen waren entsetzlich! So kann es nicht weitergehen!
+... Ich bin bereit, dich auf den Knien anzuflehen
+– erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen!
+Hörst du, Sina, deine leibliche Mutter fleht dich
+auf den Knien an! Und ich gebe dir feierlich mein
+Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die
+ihre Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner
+Form, und in keinem Fall, selbst wenn es sich um die
+Rettung meines Lebens handelte, davon mehr sprechen
+werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal
+geht es nicht anders, ich muß!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a>
+Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden
+Erfolg dieser Worte.
+</p>
+
+<p>
+„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu
+deinem verstorbenen Bruder Mitjä ein junger
+Lehrer ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama!
+Wozu diese ganze Redekunst, alle diese Einzelheiten,
+die doch vollkommen überflüssig sind, die doch
+nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt
+sind?“ unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie
+angeekelt.
+</p>
+
+<p>
+„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen
+bin, mich vor dir zu rechtfertigen. Zudem will ich dir
+diese Angelegenheit von einem ganz anderen Standpunkt
+aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt
+aus, von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt
+bist. Und schließlich, damit du die Folgerung begreifst,
+die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube nicht,
+mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will!
+Nein, Sina, du wirst in mir eine wirkliche Mutter finden,
+und vielleicht wirst du tränenüberströmt zu meinen
+Füßen, zu den Füßen der ‚<em>niedrigen Frau</em>‘, wie
+du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten,
+die du so lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht
+hast. Darum will ich alles sagen, Sina, alles,
+von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“
+</p>
+
+<p>
+„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen
+die Notwendigkeit dieser Rede verwünschte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der
+Kreisschule, fast noch ein Knabe, machte auf dich einen
+<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a>
+mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck. Ich vertraute
+zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen
+Stolz und hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es
+muß doch einmal alles gesagt werden –, um auch nur
+das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und plötzlich
+kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen,
+daß du ihn zu heiraten beabsichtigst! Sina! Das war
+ein Dolchstich in mein Herz! Ich schrie nur auf und
+verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich
+ja noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig,
+meine ganze Macht zu gebrauchen, die du damals
+Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer Knabe,
+der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur
+zwölf Rubel hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die
+nur aus Mitleid in der „Bibliothek zur Aufklärung“
+abgedruckt werden und der von nichts anderem als nur
+von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß –
+dieser Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs!
+Aber das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit!
+Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran bringt
+mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab;
+aber keine Macht der Welt vermag dich aufzuhalten.
+Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur mit den Augen
+und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du
+aber bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du
+kommst sogar mit ihm zusammen, und was am furchtbarsten
+ist, du entschließt dich, mit ihm zu korrespondieren.
+In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte.
+Mir werden von allen Seiten Stiche versetzt; man
+freut sich, man posaunt es schon aus, und plötzlich
+gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es
+<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a>
+kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich
+als deiner vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel
+– ich kann ihn unmöglich einen Mann nennen! –
+und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum
+zu zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß
+du ihm eine Ohrfeige gibst. Ja, Sina, auch dieses
+weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der Unglückliche
+zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem
+Lump Sanschin und nach einer Stunde befindet sich
+dieser Brief in den Händen Natalja Dmitrijewnas,
+meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser
+Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich
+zu vergiften. Kurz, es ist ein entsetzlicher Skandal zu
+erwarten! Dieser Schmierpinsel Nastassja kommt erschrocken
+zu mir gelaufen mit der furchtbaren Nachricht,
+daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in
+den Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach
+zwei Stunden wird die ganze Stadt um deine Schmach
+wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in Ohnmacht,
+– aber mit welchen Schlägen hast du mein
+Herz getroffen, Sina! Diese Schamlose, dieses Scheusal
+Nastassja verlangt zweihundert Rubel bar und dafür
+schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich
+selbst laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden
+Bumstein und verpfände meinen Schmuck, das Andenken
+meiner seligen Mutter! ... Nach zwei Stunden
+ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn
+gestohlen. Sie hat die Schatulle erbrochen – deine
+Ehre ist gerettet, der Beweis vernichtet! Aber in welcher
+Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen
+lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal
+<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a>
+in meinem Leben, daß ich vereinzelte graue Haare
+hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über diesen Knaben
+urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht
+mit einem bitteren Lächeln, daß es der größte
+Wahnsinn gewesen wäre, ihm dein Leben anzuvertrauen.
+Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind,
+du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn
+– denn er ist deiner stets unwürdig gewesen –, sondern
+das Phantom deines einstigen Glücks kannst du
+nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf dem
+Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber,
+in deiner Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange
+er noch lebt, um sein Herz nicht zu zerreißen, denn er
+quält sich noch immer mit seiner Eifersucht herum,
+wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit
+einer so tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß,
+seitdem er von Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt
+er spionieren, auflauern und ausfragen. Du schonst
+ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott allein
+weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt
+habe! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher
+Qual. „Das mit dem Kissen war wohl
+sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es
+denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“
+</p>
+
+<p>
+„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich
+auf mich, mein Kind! Meine Augen sind in diesen
+zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich habe
+meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir,
+ich selbst habe mich in dieser Zeit in vielem verändert!
+Ich habe längst deine Gefühle begriffen und ich gestehe
+<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a>
+es, erst jetzt kann ich die ganze Größe deines Schmerzes
+nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf
+machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit
+nur für Romantik hielt, die dieser verwünschte Shakespeare
+heraufbeschworen hat, dieser Dummkopf, der
+seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht
+haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines
+Schreckens, wegen der Maßregeln, die ich ergriff,
+wegen der Strenge meines Urteils verdammen? Jetzt
+aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren
+gesehen habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle.
+Glaube mir, ich habe dich vielleicht besser verstanden,
+als du dich selbst verstehst. Ich bin überzeugt,
+daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine
+eigenen goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine
+erhabenen Ideale. Auch ich habe geliebt und vielleicht
+noch leidenschaftlicher als du. Auch ich habe gelitten.
+Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und
+darum – wer kann mich deshalb verurteilen, und vor
+allem – kannst du mich deshalb verurteilen, weil ich
+die Verbindung mit dem Fürsten für die beste Rettung
+halte, für das Notwendigste, was du in deiner augenblicklichen
+Lage tun kannst und tun mußt?“
+</p>
+
+<p>
+Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede
+an, denn sie wußte, daß ihre Mutter nicht ohne Grund
+einen solchen Ton anschlug. Die letzte unerwartete
+Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit
+diesem Fürsten zu verheiraten?“ rief sie verwundert
+aus und sah erschrocken die Mutter an. „Dann sind
+es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine
+<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a>
+feste Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten?
+Und ... und ... inwiefern wird mich denn diese
+Heirat retten und weshalb ist sie so notwendig? Und
+... und ... was hat das damit zu schaffen, was
+du soeben hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte?
+... Ich verstehe dich nicht, Mama!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich wundere mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>, wie du das nicht
+verstehen kannst!“ ruft Marja Alexandrowna aus, die
+jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein das, daß du in
+eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere
+Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest,
+das für dich voll ist von unangenehmen Erinnerungen,
+in dem du keinen einzigen Freund hast, weder unter
+den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet
+worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich
+wegen deiner Schönheit hassen. Du könntest noch in
+diesem Frühling nach Italien fahren, in die Schweiz,
+nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra
+ist, der Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen
+hier mit dem unanständigen Namen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits
+verheiratet wäre oder zum mindesten als hätte
+der Fürst bereits um mich angehalten!“
+</p>
+
+<p>
+„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß,
+was ich rede. Erlaube, daß ich fortfahre. Den ersten
+Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt der zweite: ich
+begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen
+du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn
+<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a>
+niemals geheiratet hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach
+Sina heftig und ihre Augen blitzten.
+</p>
+
+<p>
+„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife,
+mein Kind! Es ist furchtbar, einem zu gehören, den
+einem Manne Liebe schwören müssen, den man nicht
+liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den
+man nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine
+Liebe: nur ihretwegen würde er dich heiraten, das
+sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft, wenn du
+dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –!
+Ich habe es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe
+zur Genüge ausgekostet! Dein Vater hat mich unglücklich
+gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend
+ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“
+sagte Sina.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach,
+Sina! Mir wollte das Herz zerspringen, als ich –
+aus Berechnung – deine Vermählung mit Mosgljäkoff
+wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht
+zu verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn
+nicht lieben kannst ... und er ist ja auch garnicht <em>fähig</em>,
+solche Liebe zu verlangen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch,
+daß du dich von Grund aus täuschst, von Anfang an,
+gerade in der Hauptsache! Begreife doch, daß ich mich
+nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich
+überhaupt nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe
+unverheiratet! Du hast mich zwei Jahre lang gefoltert,
+bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du wirst dich damit
+<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a>
+aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt!
+So wird es sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen
+nicht so auf, noch bevor du alles gehört hast!
+Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube mir, daß
+ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre
+und du wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der
+Fürst wird vielleicht noch ein Jahr leben, zwei wäre
+viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine junge
+Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen
+davon, daß du nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich
+und unabhängig bist! Mein Kind, du hörst vielleicht
+mit Verachtung all diese Berechnungen – Berechnungen,
+die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind.
+Aber – ich bin Mutter und welche Mutter wird mich
+wegen meiner Fürsorge verurteilen? Und schließlich,
+wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben immer noch
+bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er
+noch lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten
+habe, – so denk doch nur, daß du, wenn du den Fürsten
+heiratest, ihn seelisch auferstehen machst, ihm eine
+große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde
+Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß
+Eifersucht auf den Fürsten unmöglich ist, sie wäre
+lächerlich. Er wird begreifen, daß du aus Berechnung
+geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich begreifen,
+daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten
+kannst, wenn du willst ...“
+</p>
+
+<p>
+„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten,
+nimm ihm das Geld ab, warte dann auf seinen Tod,
+um nachher den Geliebten zu heiraten. Du verstehst
+<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a>
+sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich dazu
+verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe
+dich, Mama, verstehe dich vollkommen! Du kannst
+dich nie enthalten, selbst in einer schändlichen Angelegenheit
+nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du
+doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine
+Schändlichkeit, aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige
+ein.‘ Das wäre wenigstens aufrichtig gewesen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt
+nur von diesem Standpunkt aus die Sache ansehen,
+– vom Gesichtspunkte des Betruges und der
+Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich,
+für Betrug? Aber, um aller Heiligen willen, wo ist
+denn hier Betrug, was ist hier schändlich? Geh zum
+Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man
+ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du,
+die du eine solche Schönheit bist, du opferst diesem
+Greise deine besten Jahre! Du wirst wie ein wundervoller
+Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie
+ein grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie
+diese Nessel, diese schamlose Person, die ihn behext hat
+und seine Säfte aussaugt? Ist denn sein Geld, sein
+Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn
+hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht,
+was du sprichst, Sina!“
+</p>
+
+<p>
+„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man
+einen Krüppel heiraten muß! Betrug bleibt immer Betrug,
+Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man
+kann es sogar von einem sehr hohen, sogar von einem
+christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind! Du
+<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a>
+hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn
+gesagt, daß du barmherzige Schwester werden wolltest.
+Dein Herz hat gelitten und ist jetzt verstockt. Du hast
+gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben
+könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so
+wende deine Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande
+zu, tue es aufrichtig wie ein Kind mit dem ganzen
+Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und
+Gott wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls
+gelitten, er ist unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne
+ihn seit mehreren Jahren und habe stets eine unbegreifliche
+Sympathie für ihn empfunden, eine Art Liebe sogar,
+als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein
+Freund, sei ihm eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug
+– wenn einmal alles gesagt werden muß! –
+Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun,
+um der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das
+nicht. Er ist ein halber Mensch, – hab Mitleid mit
+ihm: du bist Christin! Zwinge dich dazu: solche Taten
+werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt.
+Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu
+verbinden, die übelriechende Lazarettluft einzuatmen.
+Es gibt aber Engel Gottes, die alle diese Pflichten erfüllen
+und obendrein Gott für ihre Bestimmung noch
+danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes
+Herz – eine Beschäftigung, eine große Tat, und deine
+Wunden würden vernarben. Wo ist hier nun Egoismus,
+wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir
+nicht! Du denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn
+ich dir von Pflichten und großen Taten rede. Du kannst
+es nicht verstehen, daß ich, eine weltliche, eitle Frau,
+<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a>
+ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann?
+Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber
+gib wenigstens zu, daß ihre Worte vernünftig sind.
+Wenn du willst, so denk, daß nicht ich rede, sondern irgend
+ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre
+mir den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare
+Stimme zu dir spricht ... Dich verwirrt doch
+hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst, für Geld geschehen
+solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte
+doch auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte
+nur das Notwendigste für dich und alles übrige verteile
+unter die Armen. Hilf zum Beispiel ihm, diesem
+unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“
+</p>
+
+<p>
+„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise,
+wie zu sich selbst.
+</p>
+
+<p>
+„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“
+antwortete die triumphierende Marja Alexandrowna,
+„sie wird sie hinter seinem Rücken annehmen. Du hast
+deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt
+hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem
+halben Jahr. Ich weiß es. Ich weiß auch, daß die
+Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um ihren unglücklichen
+Sohn ernähren zu können.“
+</p>
+
+<p>
+„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja
+Alexandrowna sofort auf, und wahre Begeisterung erfaßte
+sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte sie beglückt,
+„ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei
+schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist
+denn das, der das sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte
+ich mich bei Kalist Stanislawitsch nach ihm: ich
+<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a>
+interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina.
+Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit
+allerdings gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich
+überzeugt, daß es Schwindsucht nicht sein könne, sondern
+nur so – ein ziemlich ernstes Brustleiden. Du
+kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte
+mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen
+Verhältnissen, namentlich in einem anderen Klima,
+nach einem Luftwechsel und unter anderen Eindrücken
+sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir,
+daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon
+gehört, sogar gelesen – daß bei Spanien eine besondere
+Insel sei, Madeira, glaube ich – jedenfalls
+hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke,
+sondern auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund
+geworden sind. Viele fahren nur zu dem Zweck
+hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu
+lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch
+Kaufleute, jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra,
+diese Myrten, diese Zitronenbäume und diese
+Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese Umgebung
+muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine
+poetische Natur machen. Du glaubst vielleicht, daß er
+deine Unterstützung, dein Geld für diese Reise nicht annehmen
+wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut!
+Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich.
+Mach ihm Hoffnung, versprich ihm deine
+Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst, wenn du
+Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen
+Weise sagen. Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem
+unterstützen, Sina. Du tust es, um sein Leben
+<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a>
+zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles
+erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er
+wird selbst seiner Gesundheit mehr Aufmerksamkeit
+schenken, wird Medizin einnehmen und die Vorschriften
+der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen,
+um das verheißene Glück genießen zu können. Und
+wenn er gesund geworden ist, so wirst du ihn zwar nicht
+heiraten, aber er wird dann doch wenigstens gesund
+sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich
+kann man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht
+hat ihn das Leben inzwischen zum Besseren verändert,
+und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du ihn ja
+später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig.
+Du kannst, wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung
+in der Welt verschaffen, er kann durch dich Karriere
+machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher
+sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände
+euch bevor, wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet?
+Allgemeine Verachtung, Armut. Schulbuben an
+ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit
+seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares,
+ewiges Leben in Mordassoff und dann sein
+unvermeidlicher, naher Tod. Während du ihm so, wenn
+du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu
+einem nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit
+gibst. Indem du ihm verzeihst – zwingst du
+ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein schändlicher
+Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines
+neuen Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn
+mit der Hoffnung und söhnst ihn mit sich selbst aus.
+Er kann dann in den Staatsdienst treten, kann sogar zu
+<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a>
+Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht
+gesund wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt
+mit sich selbst, in deinen Armen – denn du kannst
+ja selbst in diesem Augenblick bei ihm sein –, überzeugt
+von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten
+der Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel!
+O, Sina! Alles das ist in deiner Macht! Alle
+Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles durch
+die Verbindung mit dem Fürsten!“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es
+folgte ein ziemlich langes Schweigen. Sina befand
+sich in unbeschreiblicher Aufregung.
+</p>
+
+<p>
+Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben
+und wir können sie auch nicht alle erraten.
+Es scheint, daß Marja Alexandrowna den richtigen
+Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da
+sie nicht wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz
+befand, hatte sie zuerst alle Möglichkeiten versucht, bis
+sie zu guter Letzt erriet, welcher der richtige Weg war.
+Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten Stellen
+dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich
+nicht ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen,
+obschon sie wußte, daß sie damit Sina nicht
+täuschen würde.
+</p>
+
+<p>
+„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna,
+„sie wird mir doch nicht glauben. Wenn
+man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn
+ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr
+offen nicht sagen darf!“
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los
+und erreichte es auch: Sina hörte schließlich gespannt
+<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a>
+zu, ihre Wangen glühten und sie atmete
+erregt.
+</p>
+
+<p>
+„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn
+auch das totenblasse Gesicht deutlich aussprach, was
+dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama ...“
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch
+im Vorzimmer und einer schrillen, scharfen
+Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte, unterbrochen.
+Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel
+schickt mir diese Elster auf den Hals! Aber ich habe
+sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen! Was
+soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen!
+Ich muß! Sie kommt bestimmt mit Nachrichten,
+sonst würde sie es doch nicht wagen, zu erscheinen.
+Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt
+wissen ... Ich darf nichts unbeachtet lassen! –
+Aber nein, wie dankbar ich Ihnen bin für Ihren Besuch!“
+rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden
+Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur
+meiner erinnert, meine teure Ssofja Petrowna? Welch
+eine ent–zück–ende Überraschung!“
+</p>
+
+<p>
+Sina lief aus dem Zimmer.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-6">
+<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a>
+VI.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">S</span><span class="postfirstchar">sofja</span> Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten,
+glich nur seelisch einer Elster. Körperlich erinnerte
+sie eher an einen dünnen Sperling. Sie war eine
+kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden
+Augen in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen
+und anderen gelben Flecken bedeckt war. Ihr kleiner,
+ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen, festen
+Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid,
+das beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur
+zwei Sekunden lang, sich ruhig verhalten konnte. Sie
+war eine geradezu bösartige, rachsüchtige Klatschbase.
+Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen
+zu Kopf gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft
+beraubt hatte. Mit ihrem Mann jedoch, dem Oberst
+a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm bei der
+Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie
+jeden Morgen vier Gläschen Branntwein und am
+Abend dieselbe Portion, und haßte bis zum Wahnsinn
+Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche
+die Tür gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna
+Paskudina, die dabei geholfen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen,
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>,“ begann sie mit ihrer kreischenden Stimme.
+<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a>
+„Es ist ganz überflüssig, daß ich mich gesetzt habe.
+Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns geschehen.
+Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und
+das wegen dieses Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen
+– <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez!</span> – suchen ihn, fangen ihn, reißen
+ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu
+sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es
+nicht glauben! Sie glauben es nicht! Aber wie haben
+Sie sich nur entschließen können, ihn von sich fortzulassen?
+Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja
+Dmitrijewna ist?“
+</p>
+
+<p>
+„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna
+auf und sprang mit einem Satz von ihrem
+Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum
+Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna,
+aber nur auf einen Augenblick!“
+</p>
+
+<p>
+„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie
+Sie ihn wieder einfangen können! Den Gouverneur
+hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er zu
+Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben,
+daß er bei ihr speisen würde, Nataschka aber,
+die jetzt in einem fort bei ihr sitzt, hat ihn sofort zum
+Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt Ihren
+Fürsten!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch
+versprochen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch
+gleichfalls hingefahren! Seien Sie froh, wenn er
+dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und wieder
+alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst
+<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a>
+wird an den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft
+werden. Und was sie da alles klatscht, diese Nataschka!
+Sie sagt es ganz ungeniert und laut, daß Sie
+sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen
+Zwecken – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez</span>? Sie setzt es ihm selbst
+auseinander. Er begreift natürlich nichts, sitzt da wie
+ein begossener Pudel und sagt zu allem: ‚Nun ja, nun
+ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort
+hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich:
+fünfzehn Jahre alt und immer noch zieht sie dem Mädchen
+kurze Kleider an! Immer noch bis zu den Knien,
+wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie
+nach der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls
+im kurzen Kleide, nur war das noch kürzer, nicht
+einmal bis zu den Knien, – ich habe es durch mein
+Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen
+rote Mützen mit Federn gesetzt – was das zu bedeuten
+hatte, weiß ich nicht! Und dann mußten diese beiden
+Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen!
+Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er
+schnalzte! ‚Diese Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘
+und betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen durch
+sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide
+ganz erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm,
+und das soll ein Tanz sein! Ich habe selbst getanzt,
+wissen Sie, mit einem Schal, als ich Madame Jarnies
+Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich
+einen wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar
+Senatoren klatschten mir Beifall! Dort wurden nur
+Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier aber
+war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham,
+<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a>
+ich verging, ich verging! Ich hielt es einfach nicht
+aus! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna?
+Sie sind doch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt.
+Ich sage das einem jeden ganz offen. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, ma chère</span>,
+ich wollte wenigstens durch einen Türspalt diesen Fürsten
+mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich ihn
+denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren
+sein, wenn es sich nicht um diesen elenden Fürsten
+gehandelt hätte? Denken Sie sich: allen wird
+Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst
+spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht
+getan ... Diese Verleumderin! Ich werde ihr aber
+jetzt! ... Doch adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>, adieu, ich eile,
+ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna
+zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur
+sagen Sie jetzt Ihrem Fürsten Lebewohl! Den werden
+Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er hat ja kein
+Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt
+bei sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie
+... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez?</span> – in bezug auf Sina ...“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Quelle horreur!</span>“
+</p>
+
+<p>
+„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze
+Stadt spricht nur noch davon. Anna Nikolawjewna will
+ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten und dann,
+versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum
+Trotz, um Sie zu schikanieren, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>. Ich habe
+durch einen Zaunspalt in ihren Hof gelauert: ein Hasten
+und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der
+Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt
+<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a>
+... sogar nach Champagner ist geschickt worden. Eilen
+Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn unterwegs auf, wenn
+er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt!
+Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur,
+damit diese geriebene, abgefeimte, ungebildete Person
+über uns lachen kann! Sie ist nicht einmal meine
+Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt
+ist! Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin
+in Madame Jarnies aristokratischer Pension erzogen
+worden ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais adio, mon ange!</span> Ich habe meinen
+Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“
+</p>
+
+<p>
+Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna
+zitterte vor Aufregung, aber der erteilte Rat
+war äußerst klar und praktisch. Sie hatte keine Zeit
+zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte
+Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna
+eilte in das Zimmer ihrer Tochter.
+</p>
+
+<p>
+Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den
+Kopf gesenkt, bleich und verstört in ihrem Zimmer umher.
+Ihre Augen waren verweint, doch in ihrem Blick,
+den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit.
+Sie unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches
+Lächeln erschien auf ihren Lippen.
+</p>
+
+<p>
+„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen,
+„du hast viel von deiner Redekunst an mich vergeudet,
+gar zu viel. Du hast mich aber doch nicht blind gemacht.
+Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich gegebenenfalls
+die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte,
+wenn ich dazu nicht im geringsten berufen bin,
+eine niedrige Handlungsweise mit edlen Zielen rechtfertigen
+zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der
+<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a>
+mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht
+betören können und ich will, daß du das vor allem
+weißt!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>!“ rief etwas ängstlich Marja
+Alexandrowna aus.
+</p>
+
+<p>
+„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich
+bis zu Ende anzuhören. Trotz der vollen Erkenntnis
+dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz meiner
+vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit
+dieser Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen
+Vorschlag vollkommen ein, hörst du: <em>vollkommen</em>,
+und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den Fürsten
+zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen
+Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem
+Heiratsantrag zu bringen. Wozu ich es tue? – Das
+ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich
+entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen:
+ich werde ihm die Stiefel reichen, ich werde
+seine Wärterin sein, ich werde ihm zu seinem Vergnügen
+vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu
+verdecken; ich werde alles, alles tun, nur damit er es
+nicht bereut, daß er mich geheiratet hat! Doch als
+Gegenleistung für meinen Entschluß verlange ich, daß
+du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen
+willst, daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem
+Tone davon zu sprechen angefangen hast, so
+– ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen
+Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben
+aufrichtig! Diese Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung,
+die ich stelle. Ich kann nicht darauf eingehen,
+wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a>
+Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten
+Entschluß ihrer Tochter so bestürzt, daß sie eine ganze
+Weile wie taub und stumm vor ihr stand und sie nur
+aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch
+nicht einmal denken vor Verwunderung. Sie hatte
+sich darauf gefaßt gemacht, lange noch mit der trotzigen
+„Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes Anstandsgefühl
+sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und
+nun hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem
+einverstanden und zu allem bereit war, und sogar
+gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es <em>so</em> stand,
+dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“,
+– und Freude erglänzte in Marja Alexandrownas
+Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du
+bist mein Fleisch und mein Blut!“
+</p>
+
+<p>
+Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte
+zur Tochter, um sie in ihre Arme zu schließen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine
+Umarmungen gebeten, Mama!“ wehrte sich Sina mit
+angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein Entzücken
+nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf
+meine Frage und nichts weiter.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind!
+Ich vergöttere dich, du aber stößt mich von dir ...
+ich tue es doch nur in der Sorge um dein Glück ...“
+</p>
+
+<p>
+Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna
+liebte ihre Tochter tatsächlich, nur tat sie es
+– auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der Erfolg
+und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina
+<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a>
+begriff, daß die Mutter sie liebte und – diese Liebe
+bedrückte sie.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so
+aufgeregt,“ sagte sie, um die Mutter zu beruhigen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“
+versicherte Marja Alexandrowna, im Augenblick
+wieder belebt, „ich begreife es doch, daß du erregt
+bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit
+... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen
+aufrichtig, glaube mir: Wenn du mir nur
+glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen bestimmten
+Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre,
+noch nicht habe, Sinachen, und das ist ja auch ganz
+unmöglich. Du, als kluges Köpfchen, wirst doch verstehen,
+weshalb nicht. Ich sehe sogar einige Schwierigkeiten
+voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase
+da die Ohren vollgeblasen ... Ach, mein Gott!
+Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin vollkommen
+aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde
+das Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine
+Überzeugung ist durchaus nicht poetischer Natur, wie
+du vorhin sagtest, mein Engel. Sie beruht auf der
+Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der
+völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber
+ist doch derart! ... ist doch ein solcher Kanevas, daß
+man alles auf ihm ausnähen kann – was man nur
+will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört!
+Aber wie sollen denn diese Gänse mich überlisten!“
+rief Marja Alexandrowna stolz aus, schlug mit der
+Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß
+nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste,
+<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a>
+daß man sofort beginnt ... Wenn es nur irgend geht,
+muß heute noch das Hauptsächlichste erledigt werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... <em>aufrichtiges
+Geständnis</em>: Weißt du, weshalb ich
+mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht
+traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen
+kann. Ich habe dir gesagt, daß ich mich zu dieser
+Schändlichkeit entschlossen habe, wenn aber die Einzelheiten
+deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu
+schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann
+nicht aushalten und mich dann von dem ganzen
+Vorhaben zurückziehen werde. Ich weiß, daß das
+eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit
+zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in
+dem sie schwimmt, – doch was soll ich tun? Es wird
+ja bestimmt so sein! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere
+Schändlichkeiten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>?“ wagte die Mutter
+schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es sich doch
+nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen
+sich doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt
+aus zu sehen, und alles wird dann sogar sehr
+anständig erscheinen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht
+Verstecken mit mir! Du siehst doch, ich bin mit allem,
+mit allem, einverstanden! – was willst du denn noch
+mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge
+bei ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das
+jetzt – meine einzige Beruhigung.“
+</p>
+
+<p>
+Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann
+<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a>
+in den Gedanken nicht ganz übereinstimmen und dennoch
+sich gegenseitig achten. Nur, – wenn dich die
+Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie
+schmutzig sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen
+mir: ich schwöre dir, daß kein Tröpfelchen
+Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn vor
+allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich
+und alles wird vorzüglich und durchaus anständig arrangiert
+werden, die Hauptsache ist – durchaus anständig,
+sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten
+Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines,
+unvermeidliches Skandälchen geben sollte, – so ...
+irgendwie! – so sind wir dann doch schon über alle
+Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen
+sie dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns
+an? Sie werden uns ja doch nur beneiden. Und sind
+diese Menschen es denn überhaupt wert, daß man sich
+um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen,
+sei mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz
+sie so fürchtest!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du
+willst mich nur nicht verstehen!“ antwortete Sina gereizt.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich
+sage ja nur, daß sie selbst an jedem Tage, den Gott
+werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du aber würdest
+dann nur ein einziges Mal <a id="corr-15"></a>im Leben ... aber
+was fällt mir ein! Was rede ich dumme Person!
+Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist hier eine
+Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du
+sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir.
+<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a>
+Ich werde es dir beweisen, mein Kind. Erstens, ich
+wiederhole: es hängt alles nur davon ab, von welchem
+Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“
+unterbrach Sina sie zornig und stampfte mit dem Fuß
+auf.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde
+nicht! Ich habe mich wieder verplappert ...“
+</p>
+
+<p>
+Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna
+folgte unruhig ihrer Tochter und suchte zaghaft
+deren Blick, wie etwa ein kleines, unartig gewesenes
+Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht.
+</p>
+
+<p>
+„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen
+willst,“ sagte Sina, die ihren Ekel niederrang. „Ich
+bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen wirst.
+Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich,
+Mama, wird es eine Schande sein.“
+</p>
+
+<p>
+„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein
+Engel – deshalb mach dir keine Sorgen! Ich bitte
+dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns einigen –
+um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen.
+Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern
+ich mich trocken herausgearbeitet habe! Ich habe noch
+ganz anderes erlebt und durchgehalten! Nun, erlaub
+mir nur wenigstens, dies da zu versuchen! Jedenfalls
+ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich
+mit dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles
+übrige wird nur davon abhängen! Aber ich fühle auch
+das schon alles voraus. Sie werden sich alle empören,
+aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen
+wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a>
+„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich
+nicht, Sinachen! Ich schwöre dir, ich werde ihn so
+weit bringen, daß er uns noch helfen wird! Du kennst
+mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was
+ich in der Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen!
+Vorhin, als ich von der Ankunft dieses Fürsten
+hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im Augenblick
+wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’
+doch selbst, wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet
+bei uns absteigen würde? Eine solche Gelegenheit
+wird es ja in tausend Jahren nicht wieder
+geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist
+ehrlos, daß du einen Greis und Krüppel heiratest, sondern
+daß du einen heiratest, den du verabscheust und
+nicht ertragen kannst und dennoch in <em>Wirklichkeit</em>
+seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du
+doch nicht eine wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist
+doch keine Ehe! Das ist einfach ein häuslicher Kontrakt!
+Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem
+Esel, gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du
+weißt ja gar nicht, wie schön du heute bist! Du bist
+nicht nur schön, du bist geradezu wunderbar! Ich
+würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich
+verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel
+sind sie alle! Wie soll man diese Hand nicht küssen?“
+– Und Marja Alexandrowna küßte leidenschaftlich der
+Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper,
+mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht
+anders, mit Gewalt zur Heirat zwingen, den Esel!
+Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du
+<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a>
+wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im
+Glück lebst? Wir haben uns ja oft gestritten, mein
+Engelchen, aber immerhin hast du doch keinen so treuen
+Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast,
+so ist es vielleicht gut für dich ... etwas zu tun. Hier
+aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina ungeduldig.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es
+höchste Zeit, daß ich gehe! Ach! Ich habe hier so lange
+geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam zur Besinnung.
+„Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen.
+Ich fahre im Augenblick! Ich werde einfach
+vorfahren, Mosgljäkoff herausrufen lassen und dann
+... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen, wenn’s
+darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen,
+mein Täubchen, laß den Mut nicht sinken,
+zweifle nicht, sei nicht traurig, vor allem – sei nicht
+traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst vornehm
+arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von
+welchem Standpunkt aus man die Sache auffaßt ...
+nun, leb wohl, leb wohl! ...“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte
+dann in ihr Zimmer, drehte sich dort einen Augenblick
+vor dem Spiegel und zwei Minuten später rollte sie
+schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für
+den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die
+Straßen von Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>“.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“
+dachte sie, als sie in ihrem Wagen saß. „Sina
+ist einverstanden, folglich ist die halbe Arbeit schon
+<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a>
+getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn!
+Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ...
+endlich! Also auch auf dein Köpfchen können andere
+Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr aber
+auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die
+Wirkung hat endlich einmal nicht versagt: Aber ...
+es ist ja ganz unfaßlich, wie schön sie heute aussieht!
+Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach meinem
+Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ...
+Der Shakespeare wird ihr schon aus dem Kopf kommen,
+wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge kennen
+lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und
+ihren Lehrer! ... Hm ... Aber was für eine Fürstin
+sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an ihr. Diese
+Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr
+– und eine Königin hat einen angesehen! Wie, wie
+soll man denn nicht seinen eigenen Vorteil begreifen?
+Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch
+das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin
+bei ihr sein. Ich werde schon dafür sorgen, daß sie in
+allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne mich
+aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin
+sein, auch in Petersburg wird man mich kennen
+lernen. Leb wohl dann, erbärmliches Städtchen! Dieser
+Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird
+sterben und dann werde ich sie mit einem regierenden
+Fürsten verheiraten! ... Nur eines macht mir
+Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut? Bin
+ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht?
+Sorgen macht sie mir, weiß Gott ... ich
+fürchte sie fast ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a>
+Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es
+läßt sich nicht leugnen: sie hatte allen Grund, besorgt
+zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen ganz mit
+Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft.
+</p>
+
+<p>
+Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch
+lange auf und ab in ihrem Zimmer, die Arme verschränkt
+und mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie dachte über
+vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder:
+„Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit
+dazu gewesen!“ Was hatte dieser Ausruf zu bedeuten?
+Mehr als einmal blitzten Tränen in ihren langen,
+seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer
+Stimmung Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer
+Mutter waren ganz überflüssig. Umsonst bemühte sie
+sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen:
+Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle
+Folgen gefaßt gemacht.
+</p>
+
+<p>
+„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa,
+als sie nach der Abfahrt der Frau Oberst Karpuchina
+aus der dunklen Kleiderkammer wieder
+hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa
+Schleife anstecken, für diesen elenden Fürsten! Auch
+ich dumme Gans glaubte, daß er mich heiraten
+würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber
+Marja Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel
+sein, ich soll mich mit zweihundert Rubel bestechen
+lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas abließe
+oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich
+nahm das Geld auf ehrliche Weise; ich nahm es für die
+mit dem Vorhaben verknüpften Ausgaben ... Vielleicht
+habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das
+<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a>
+dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen
+oder andere dafür bezahlt habe! Ich habe doch
+für dich gearbeitet und du schonst deine Hände! Du
+willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal,
+ich werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch
+beiden zeigen, was für ein Schmierpinsel ich bin! Ihr
+sollt einmal Nastassja Petrowna und deren ganze Bescheidenheit
+kennen lernen!“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-7">
+<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a>
+VII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">och</span> Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer
+Eingebung fortreißen. Sie hatte einen großen und gewagten
+Plan. Ihre Tochter an einen Krösus, einen
+Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß
+niemand es erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche
+und Schutzlosigkeit ihres Gastes, sie gewissermaßen auf
+„diebische Weise“, wie ihre Feinde unfehlbar sagen
+würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt,
+sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan
+verlockend vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens
+wurde die, welche ihn entworfen hatte, doch wohl mit
+ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe
+mich aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“
+hatte sie zu Sina gesagt und sie hatte recht.
+Was wäre sie denn auch sonst für eine Heldin gewesen!
+</p>
+
+<p>
+Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig
+einem Überfall auf offener Straße, doch Marja Alexandrowna
+schenkte auch dem nicht gar zu viel Aufmerksamkeit.
+Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich
+richtigen Gedanken: „Sind sie erst getraut,
+so können sie die Trauung nicht mehr ungeschehen machen,“
+– ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke,
+<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a>
+der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen
+Vorteilen anlockte, daß es Marja Alexandrowna bei der
+blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt überlief und
+sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte.
+Überhaupt befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung
+und saß wie auf Nadeln. Als inspirationsfähige
+Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte
+sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich,
+vorläufig noch skizzenhaft, überhaupt – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>,
+halb noch schleierhaft sah sie ihn vor ihrem geistigen
+Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und verschiedene
+unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja
+Alexandrowna glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht
+etwa aus Furcht vor dem Mißlingen auf, – o nein!
+Sie wollte nur schneller beginnen, sich schneller in den
+Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte
+sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse
+und möglichen Zwischenfälle. Ich will das deutlicher
+erklären. Die größte Gefahr ahnte und erwartete
+Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern,
+den Mordassowern, und vornehmlich von der
+höheren Gesellschaft der Mordassower Damen, deren
+unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte. Zum
+Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in
+der Stadt bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich
+noch niemand ein Wort darüber gesprochen hatte. Aus
+mehrfach gemachter trauriger Erfahrung wußte sie, daß
+es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben
+hatte, selbst wenn es das geheimste war, das nicht
+binnen zwölf Stunden jedes Hökerweib auf dem
+Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht
+<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a>
+sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die
+Gefahren, aber solche Vorahnungen betrogen sie nie.
+Auch diesmal betrogen sie sie nicht. Was aber inzwischen
+geschehen war und was sie noch nicht mit ganzer
+Sicherheit wußte, war folgendes:
+</p>
+
+<p>
+Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach
+der Ankunft des Fürsten in Mordassoff, verbreiteten sich
+in der Stadt absonderliche Gerüchte. Wie und wo
+sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet
+hatten sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten
+einander, daß Marja Alexandrowna ihre Sina mit
+dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß Mosgljäkoff
+der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so
+gut wie besiegelt und unterschrieben sei. Was war die
+Veranlassung zu diesen Gerüchten gewesen? Sollten
+die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut gekannt
+haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer tiefinnerlichen
+Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder
+die Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der
+gewöhnlichen Ordnung der Dinge – denn so etwas
+läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde abmachen
+– noch die freie Erfindung derselben – denn
+es vermochte niemand anzugeben, woher dieses Gerücht
+stammte – konnten den Mordassowern den Glauben
+daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich hartnäckig
+weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger
+wurde. Am erstaunlichsten ist aber, daß es
+sich schon zu der Zeit zu verbreiten begann, als Marja
+Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit
+Sina anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn
+der Provinzler sein. Der Instinkt des Kleinstädters
+<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a>
+grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare –
+und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf
+dem intimsten, langjährigen Studium des Nächsten,
+das mit größtem Interesse getrieben wird. Ein jeder
+Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt
+absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor
+seinen ehrenwerten Mitbürgern zu verbergen. Alle
+kennen einen auswendig, ja sie wissen sogar das, was
+man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der Kleinstädter
+müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach
+Psychologe und Gedankenleser sein. Deshalb hat es
+mich auch zuweilen aufrichtig gewundert, daß ich in
+der Provinz so oft statt dieser Psychologen und Gedankenleser
+so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch
+das war nur nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige
+Bemerkung.
+</p>
+
+<p>
+Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung.
+Die Verheiratung mit dem Fürsten erschien einem jeden
+dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“, daß das
+Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen
+weiter auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken:
+Sina wurde fast noch mehr gehaßt, als Marja Alexandrowna,
+– weshalb? – das vermag ich nicht zu
+sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der
+Grund zu diesem Haß. Vielleicht kam auch noch hinzu,
+daß Marja Alexandrowna immerhin von „unserem
+Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde
+man es – wer weiß? – noch bedauert haben. Sie
+unterhielt die Gesellschaft mit ihren beständigen Geschichten.
+Ohne sie wäre es vielleicht langweilig gewesen.
+Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in
+<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a>
+den Wolken und nicht in der Stadt Mordassoff. Sie
+paßte nicht zu diesen Leuten, sie stand nicht auf ihrer
+Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm sich
+vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich
+hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte
+„diese Sina“, von der man sich sogar „skandalöse
+Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina –
+Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft
+hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet
+ist, heiratet sie dann vielleicht einen Herzog,
+vielleicht sogar einen General oder vielleicht gar einen
+Gouverneur – und der Gouverneur unseres Gouvernements
+war gerade Witwer und hatte eine große
+Schwäche für das schöne Geschlecht. Dann würde
+sie die erste Dame im Gouvernement sein – und, versteht
+sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich,
+weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen
+Unwillen in Mordassoff hätte hervorrufen können,
+als diese von der Vermählung Sinas mit dem
+Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von
+allen Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde
+und eine Gemeinheit. Man sagte, der Alte sei nicht
+bei vollem Verstande, er sei betrogen worden, übertölpelt
+und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche.
+Einige meinten sogar, daß man den Alten
+aus diesen blutgierigen Krallen erretten müsse, daß es
+geradezu Räuberei sei, und schließlich – inwiefern sei
+denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch
+andere junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten!
+</p>
+
+<p>
+Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen
+<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a>
+ahnte Marja Alexandrowna vorläufig nur, aber das
+genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle, aber
+auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich
+war, zu greifen bereit wären, um die Verwirklichung
+ihrer Pläne zu verhindern. Wollte man doch
+den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß
+sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es
+ihr auch gelingen sollte, den Fürsten wieder einzufangen,
+so konnte sie ihn in ihrem Hause doch nicht
+festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute,
+daß vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps
+der Mordassower Damen in ihrem Salon erscheinen
+würde und noch dazu unter solchem Vorwande, daß
+man sie unmöglich <em>nicht</em> empfangen konnte? Läßt man
+an der Tür absagen, so kommen sie durch das Fenster
+herein: ein fast unmöglicher Fall, sollte man meinen,
+der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff vorgekommen
+ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde
+zu verlieren – und dabei war noch nichts getan worden,
+nicht einmal angefangen hatte sie ihr Werk! Da kam
+ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im Augenblick
+in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall
+werden wir an der richtigen Stelle nicht zu sprechen
+vergessen, vorläufig aber sagen wir nur, daß unsere
+Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von
+Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu
+einem regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich
+sein sollte, um sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen.
+Sie wußte noch nicht, wie sie es machen
+und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie
+mit unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff
+<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a>
+untergehen würde, als daß auch nur ein Jota
+ihrer Absichten nicht in Erfüllung ginge.
+</p>
+
+<p>
+Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet
+hätte. Sie traf den Fürsten auf der Straße an und
+brachte ihn zu sich zum Mittagessen. Wenn man jetzt
+fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer
+Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna
+Nikolajewna mit einer langen Nase auf den Gast vergeblich
+warten zu lassen, so bin ich gewissermaßen
+verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage
+geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas
+halte. <em>Sie</em> sollte irgend so eine Anna Nikolajewna
+Antipowa nicht besiegen können? Sie verhaftete einfach
+den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer
+Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas
+Rücksicht zu nehmen – und dazu gehörten auch die
+Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen Skandal befürchtete
+– setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage.
+Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna
+vor ihren Feindinnen aus, daß sie in entscheidenden
+Momenten nicht viel nach anderen fragte und nicht
+einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun
+einmal zu ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg
+alles rechtfertige. Freilich leistete auch der Fürst
+keinen bedeutenden Widerstand, vergaß vielmehr nach
+seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und
+war dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne
+Unterlaß, war bei sehr guter Laune, machte Witzchen
+und erzählte Anekdoten, die er nicht beendete, oder er
+ging von der einen auf eine andere über, ohne es selbst
+zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei
+<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a>
+Glas Champagner getrunken. Bei Tisch trank er auch
+noch, denn Marja Alexandrowna schenkte ihm eigenhändig
+ein, bis er dann endgültig den letzten Rest
+seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor.
+Das Essen an sich war tadellos. Der „schändliche“
+Nikitka hatte es zum Glück nicht verdorben. Die Hausfrau
+belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer bezaubernden
+Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen
+Anwesenden um so langweiliger. Sina war gewissermaßen
+feierlich stumm. Mosgljäkoff fühlte sich
+offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er
+schien über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich
+selten an ihm zu bemerken war, so beunruhigte es
+Marja Alexandrowna nicht wenig. Nastassja Petrowna
+Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und
+machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche
+Zeichen, die dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte.
+Wäre die Hausfrau nicht so liebenswürdig und heiter
+gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an einen
+Leichenschmaus erinnert.
+</p>
+
+<p>
+Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in
+unbeschreiblicher Aufregung. Allein schon Sinas ernstes
+Gesicht und ihre verweinten Augen ängstigten sie
+unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große Schwierigkeit
+überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt
+keinen Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte
+Mosgljäkoff aber sitzt und rührt sich nicht, wie ein
+alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und nur andere
+stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart!
+Marja Alexandrowna erhob sich mit besorgtem,
+fast angstvollem Herzen. Wie groß war daher ihre Verwunderung,
+<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a>
+ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so
+ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie
+die Tafel aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet
+erklärte, daß er zu seinem größten Leidwesen,
+versteht sich – sie verlassen müsse.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna
+mit ungeheurem Mitgefühl.
+</p>
+
+<p>
+„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff
+etwas unruhig und betreten an, „es ist mir etwas
+äußerst Seltsames passiert. Ich weiß nicht einmal,
+wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um Gotteswillen
+einen Rat!“
+</p>
+
+<p>
+„Was, was ist es denn?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener
+Kaufmann ... der kam mir heute auf der Straße entgegen.
+Der gute Alte ist mir entschieden böse, macht
+mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin
+ich zum dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht
+ein einziges Mal bei ihm gewesen. Nun und heute
+mußte er mich fassen und da hat er mich denn aufgefordert:
+‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist
+es punkt vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten
+Sitte, sobald er vom Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr
+um fünf. Was soll ich tun? gewiß, es ist ja,
+Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes!
+Er hat doch meinen seligen Vater aus der Schlinge
+gezogen, damals, als dieser Kronsgelder verspielt hatte.
+Und deshalb wurde er dann auch mein Pate. Wenn
+meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande
+kommt – nun, ich habe doch nur hundertundfünfzig
+Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital von einer Million
+<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a>
+Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr.
+Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er
+einem schließlich noch Hunderttausend testamentarisch.
+Und siebzig Jahre alt – bedenken Sie doch nur!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch!
+Weshalb zögern Sie denn?“ rief Marja Alexandrowna
+in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so fahren
+Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin!
+Mit solchen Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb!
+– ich wunderte mich die ganze Zeit während des Essens.
+Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon
+ami</span>, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon
+gleich am Morgen Ihre Aufwartung machen müssen,
+um ihm zu zeigen, daß seine Freundlichkeit Ihnen
+schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach, diese
+Jugend, diese Jugend!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“
+rief Mosgljäkoff verwundert aus, „Sie haben
+doch noch selbst verschiedene absprechende Bemerkungen
+über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch
+vor kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen
+Bart, stehe mit Schankwirten auf gleicher Stufe, mit
+ganz gewöhnlichen Leuten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich kann mich doch auch einmal
+irren, ich bin nicht unfehlbar! Ich entsinne mich dessen
+nicht mehr so genau ... vielleicht war ich in einer
+Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten
+Sie noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich
+war das Egoismus meinerseits, aber jetzt muß ich doch
+unwillkürlich von einem anderen Standpunkte aus urteilen,
+und welche Mutter würde es mir in diesem
+<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a>
+Falle verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern
+Sie keinen Augenblick! Sie müssen auch den Abend
+bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! – erzählen Sie
+ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe
+und überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie
+es nur nicht ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott!
+Wie konnte ich nicht früher darauf verfallen! Ich hätte
+Sie sofort hinschicken müssen!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“
+Mosgljäkoff war entzückt. „Von nun an, Ehrenwort,
+werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben Sie
+mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ...
+Nun, auf Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen
+Sie mich, bitte, bei Sinaïda Afanassjewna.
+Aber ich kehre ja ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich segne Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Sehen Sie nur zu,
+daß Sie nicht vergessen, ihm von mir zu erzählen! Er
+ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe schon
+längst meine Meinung über ihn geändert ... Und
+übrigens habe ich immer dieses Altrussische, Unverfälschte
+an ihm geliebt ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Au revoir, mon ami,
+au revoir!</span>“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom
+Halse nimmt! Nein, da sieht man, Gott selbst steht
+mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor Freude.
+</p>
+
+<p>
+Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer
+und zog seinen Pelz an, als plötzlich, wie aus
+der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna Sjäblowa
+vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a>
+„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am
+Arm fest.
+</p>
+
+<p>
+„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate
+– er hat geruht, mich aus der Taufe zu heben ... Ein
+reicher Alter, wird mir vielleicht was hinterlassen, da
+muß man ihn günstig stimmen!“ ...
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff war in der besten Stimmung.
+</p>
+
+<p>
+„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf
+die Braut!“ sagte Nastassja Petrowna schroff.
+</p>
+
+<p>
+„Wieso verzichten?“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon
+gehört! Machen Sie doch nur die Augen auf: da will
+man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe es selbst
+gehört.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja
+Petrowna!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht
+gefällig, sich selbst davon zu überzeugen? Werfen Sie
+den Pelz fort und kommen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von
+den Schultern und folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen.
+Sie führte ihn in dieselbe dunkle Kleiderkammer,
+in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe
+entschieden nicht! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein
+wenig bücken und zuhören. Die Komödie wird sicherlich
+bald beginnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Was für eine Komödie?“
+</p>
+
+<p>
+„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie
+besteht darin, daß man Sie einfach betrügt. Am Vormittag,
+<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a>
+als Sie mit dem Fürsten ausgefahren waren,
+hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde
+beredet, diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch
+solche Köder ausgehängt, daß mir geradezu übel wurde.
+Ich habe hier alles gehört. Sina willigte ein. Und wie
+reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält
+Sie einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz
+offen, daß sie Sie unter keiner Bedingung heiraten
+würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte mir
+noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist,
+wenn das wahr ist!“ stotterte Mosgljäkoff, der mit
+dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna ansah.
+</p>
+
+<p>
+„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch
+ganz andere Dinge hören.“
+</p>
+
+<p>
+„Wo soll ich denn horchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht
+fähig, andere zu belauschen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber,
+stecken Sie die Ehre mal in die Tasche: sind Sie hergekommen,
+so horchen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen
+Sie bitte mit langer Nase ab! ... Ich tue es nur zu
+seinem Besten und er wird jetzt noch hochmütig! Mir
+kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal
+bis zum Abend hier bleiben ...“
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum
+Spalt. Sein Herz schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte
+das Blut. Er wußte kaum, was er tat.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-8">
+<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a>
+VIII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>S</span><span class="postfirstchar">o</span> haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht
+bei Natalja Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja
+Alexandrowna, die mit gierigem Blick das Feld der
+bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit
+einem möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte.
+Das Herz klopfte ihr vor Aufregung und Erwartung.
+</p>
+
+<p>
+Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt
+worden, in dem ihn die Hausfrau auch am Morgen
+empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge geschahen
+bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf
+den sie sehr stolz war. Der alte Herr konnte sich nach
+den sechs Glas Champagner nicht mehr ganz sicher auf
+den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß.
+Marja Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit
+nur von kurzer Dauer sein könnte und der Gast bald
+schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den Augenblick
+ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige
+Greis mit eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete
+und ihr Mutterherz erzitterte vor Glück.
+</p>
+
+<p>
+„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst.
+„Und wissen Sie, eine beispiellose Frau, diese Natalja
+Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“
+</p>
+
+<p>
+Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch
+<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a>
+mit ihren großen Plänen war, so traf sie doch ein so
+lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz.
+</p>
+
+<p>
+„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und
+ihre Augen blitzten. „Wenn sogar diese Natalja Dmitrijewna
+eine beispiellose Frau sein soll, dann weiß
+ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann
+kennen Sie ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten!
+Das ist doch nichts als eine Ausstellung der eigenen
+Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine Komödie,
+nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese
+Schale etwas auf und Sie werden eine ganze Hölle unter
+Blumen entdecken, ein ganzes Wespennest, in dem
+Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“
+</p>
+
+<p>
+„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das
+wun–dert mich!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>!
+Hör, Sina, ich muß, ich muß doch dem Fürsten diesen
+lächerlichen und beschämenden Vorfall mit dieser Natalja
+erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt
+doch noch? Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen
+gepriesene Natalja Dmitrijewna, die Sie so entzückt
+hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich
+bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen
+– nur um Sie zu erheitern, um Ihnen hier in
+einer lebenden Probe, sozusagen durch ein optisches
+Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor
+zwei Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir.
+Es wurde Kaffee gereicht, ich aber mußte aus irgend
+einem Grunde den Salon auf einen Augenblick verlassen.
+Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch
+an Stückzucker in der silbernen Dose hatte: sie war noch
+<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a>
+ganz voll. Ich kehre zurück und was sehe ich? – es
+liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der
+Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im
+Zimmer gewesen. Wie finden Sie das! Sie ist eine
+reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine Zwischenfall ist natürlich
+lächerlich, aber hiernach können Sie auf die
+Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig
+erstaunt. „Was für eine un–natürliche Habgier! Und
+sie hat alles allein aufgegessen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun sehen Sie, was für eine <em>beispiellose</em>
+Frau sie ist, mein Fürst! Wie gefällt Ihnen diese
+schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich, noch in
+derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so
+widerlichen Handlung entschlossen hätte!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist
+doch immerhin <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">belle femme</span>.“
+</p>
+
+<p>
+„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber
+ich bitte Sie, Fürst, sie ist doch einfach ein Marktweib!
+Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince, mon prince</span>! Was haben Sie da gesagt!
+Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie,
+sie ist so gebaut ... Nun ja, und dieses Mädchen,
+das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut ...“
+</p>
+
+<p>
+„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein
+Kind, Fürst! Sie ist erst vierzehn Jahre alt!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös
+und bei ihr entwickeln sich gleichfalls ... Formen.
+So ein net–tes Ding. Und die an–de–re,
+<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a>
+die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird
+von ihnen oft ins Haus gerufen.“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig,
+wie gesagt, wenn sie doch we–nig–stens die Hände
+vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie gesagt,
+gleichfalls ver–führerisch ...“
+</p>
+
+<p>
+Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst
+Sina immer aufmerksamer und immer lüsterner durch
+sein Lorgnon.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais quelle charmante personne!</span>“ murmelte
+er halblaut und schnalzte fast vor Wonne.
+</p>
+
+<p>
+„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns
+ein Lied! Wenn Sie wüßten, wie schön sie singt,
+Fürst! Man kann sagen, sie ist eine Künstlerin, eine
+vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“
+fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina
+zum Flügel ging – sie hatte einen so ruhigen, fast
+schwebenden Gang, der dem Alten noch den letzten
+Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für
+eine Tochter sie ist! Wie sie zu lieben versteht, wie
+zärtlich sie zu mir ist! Welche Gefühle, welch ein
+Herz!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich
+habe nur eine einzige Frau gekannt, in meinem ganzen
+Leben, mit der ich ihre Schön–heit ver–glei–chen
+könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer
+mehr wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin
+Nainskij, sie starb vor et–wa dreißig Jahren. Eine
+wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher
+<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a>
+Schönheit ... später heiratete sie noch ihren
+Koch ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ihren Koch, Fürst!?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen
+... im Aus–lande. Sie hatte ihm dort im Aus–lande
+einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine
+gu–te Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ...
+mit einem kleinen Schnurr–bart ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein
+Fürst?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen
+bald auseinander. Er plünderte sie vollkommen aus
+und fuhr dann fort. Sie waren wegen einer Sau–ce
+in Streit geraten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie
+sie singt Fürst! Lieben Sie Musik?“
+</p>
+
+<p>
+„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr
+Musik. Im Aus–lande war ich mit Beet–ho–ven
+bekannt.“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war
+mit Beethoven bekannt!“ wiederholt Marja Alexandrowna
+entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich
+mit Beethoven bekannt?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem
+Fuß. Seine Nase hatte er be–ständig in der Tabaksdose.
+So ein komischer Mensch!“
+</p>
+
+<p>
+„Beethoven?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt,
+auch nicht Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein
+an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr viel
+<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a>
+Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt
+du noch, soviel mittelalterlich Ritterliches war, diese
+Schloßherrin und ihr Troubadour ... Ach, Fürst!
+Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen,
+diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben!
+Diese Troubadours, Herolde, Turniere ... Ich
+werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich hierher, Fürst,
+etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch,
+diese Burgen,“ murmelte der Fürst entzückt, während er
+sein einziges Auge in Sina geradezu hineinbohrte. „Aber
+... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu!</span> – diese Romanze! ... Aber ...
+ich kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer
+Zeit gehört ... Sie er–in–nert mich so daran ...
+Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“
+</p>
+
+<p>
+Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit
+dem Fürsten geschah, als Sina sang. Sie sang eine
+alte französische Ballade, die einmal sehr beliebt gewesen
+war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr
+reiner, klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein;
+ihr wundervolles Gesicht mit den herrlichen Augen,
+ihre schmalen, zarten Finger, mit denen sie die Blätter
+umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu
+einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich
+hebende und senkende junge Brust, ihre ganze Gestalt,
+die stolz, schön und edel vor ihm stand – alles das
+schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann.
+Er verschlang sie mit den Blicken, als sie sang,
+<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a>
+er schluckte nur noch vor Aufregung. Sein Greisenherz,
+das von Champagner, Musik und Erinnerungen,
+die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer
+schneller und lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft
+hatte. Er hätte vor Sina niederknieen und weinen
+mögen, nachdem sie geendet hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante enfant</span>!“ rief er aus und
+küßte ihre Hand, „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous me ravissez!</span> Erst jetzt, erst
+jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ... aber ...
+oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante enfant</span> ...“
+</p>
+
+<p>
+Und die Stimme versagte ihm sogar.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick
+gekommen war.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich
+dazwischen. „Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft,
+soviel seelischer Reichtum, und Sie graben sich für Ihr
+ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man
+sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen!
+Das ist doch unverzeihlich! Besinnen Sie sich,
+Fürst! So sehen Sie doch mit klarem Blick auf das
+Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes
+in Ihrem Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend,
+an die heiteren sorglosen Tage: erwecken Sie sie wieder,
+lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie doch wieder
+in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins
+Ausland, nach Italien, nach Spanien – nach Spanien,
+Fürst. Brauchen Sie einen Führer, ein Herz,
+das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt?
+Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur
+ein Wink genügt und sie werden in Scharen angelaufen
+kommen! Ich werde die erste sein, die alles hinwirft
+<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a>
+und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich
+habe unsere Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich
+werde meinen Mann verlassen und Ihnen folgen ...
+und selbst wenn ich noch jünger wäre, wenn ich so
+schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich
+Ihre Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre
+Frau, wenn Sie es nur wünschten!“
+</p>
+
+<p>
+„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une charmante
+personne</span> waren, zu Ih–rer Zeit,“ sagte der
+Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren feucht.
+</p>
+
+<p>
+„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete
+Marja Alexandrowna mit hohem Gefühl. „Ich habe
+gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist sie –
+meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der
+ich alle meine Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben
+Bewerber zurückgewiesen, nur um sich nicht von mir
+trennen zu müssen.“
+</p>
+
+<p>
+„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn
+Sie mich ins Ausland be–glei–ten? In dem Fall
+werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief
+der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt
+fahren! Und wenn ich mir mit der Hoffnung schmeicheln
+könnte ... Aber sie ist ja ein be–zau–berndes,
+ein be–rück–endes Kind! Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante
+enfant</span> ...“ Und der Fürst küßte ihr von neuem
+die Hand. Der Arme, er wollte sogar vor ihr niederknien!
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich
+mit der Hoffnung schmeicheln könnten?“ griff Marja
+Alexandrowna auf, die neue Beredsamkeit in sich
+<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a>
+fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten
+Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der
+Beachtung einer Frau? Nicht Jugend macht die
+Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie sozusagen
+ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant
+der feinsten, der ritterlichsten Gefühle und
+... Manieren! Hat sich denn Maria nicht in den
+alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen,
+daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe
+Louis ... ich habe vergessen, des wievielten – noch
+in alten Jahren, als Greis, das Herz einer der ersten
+Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat
+Ihnen gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat
+Sie auf diesen Gedanken gebracht? Können denn
+Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit
+Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit,
+Geist, Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie
+brauchen ja nur irgendwo im Auslande, in einem Kurort
+mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer
+Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede
+nicht unbedingt von ihr, ich führe sie nur als Beispiel
+an – und Sie werden sehen, was für einen kolossalen
+Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück
+Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten!
+Sie führen sie am Arm feierlich in die Säle.
+Sie wird in den glänzendsten Gesellschaften singen und
+Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen um sich
+streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen,
+um dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird
+davon reden, denn alle Zeitungen, alle Feuilletons in
+den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon
+<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a>
+prince</span>! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der
+Hoffnung schmeicheln dürften?“
+</p>
+
+<p>
+„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das
+ist in den Zeitungen ...“ murmelte der Fürst, der
+die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und immer
+gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det
+hat – singen Sie mir dann noch einmal diese
+Ro–man–ze vor, die Sie soeben sangen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere
+Romanzen, noch bessere ... Entsinnen Sie sich noch
+des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben es sicherlich
+gehört!“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich
+habe es ver–ges–sen. Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze,
+dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen hat!
+Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze
+hören ...“ bat der Fürst wie ein eigensinniges
+Kind.
+</p>
+
+<p>
+Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der
+Arme nicht mehr bezwingen und sank vor ihr auf die
+Knie nieder. Er weinte sogar.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma belle châtelaine</span>!“ Seine Stimme zitterte
+vor Altersschwäche und Aufregung. „Oh <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma
+charmante châtelaine</span>! O, mein liebes Kind! Sie
+haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes
+... Ich glaubte immer, daß alles besser
+werden würde, als es dann wurde. Ich sang damals
+Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze
+... jetzt aber ... ich weiß nicht mehr,
+was jetzt ist ...“
+</p>
+
+<p>
+Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und
+<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a>
+stockend hervor. Seine Zunge wurde merklich steif.
+Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man sah
+nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war
+– und so beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl
+ins Feuer zu gießen.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon prince!</span> Aber Sie werden sich ja schließlich
+noch in meine Sina verlieben!“ rief sie aus. Sie
+fühlte, daß der Augenblick entscheidend war.
+</p>
+
+<p>
+Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief
+der Alte aus, plötzlich wie neu belebt, während er immer
+noch vor ihr kniete und vor Aufregung am ganzen
+Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben!
+Und wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber
+er–he–ben Sie mich, ich bin ein we–nig schwach
+ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen
+dürf–te, ihr mein Herz an–zu–bieten, so ...
+würde ich ... sie würde mir jeden Tag Ro–manzen
+vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ...
+im–mer an–se–hen ... Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon prince, mon prince!</span> Sie halten um ihre
+Hand an! Sie wollen sie mir fortnehmen, meine Sina,
+meinen Liebling, meinen Engel, mein Sinachen! Kind,
+ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich
+mir aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich
+nicht! – aus den Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna
+stürzte sich auf die Tochter und umschlang sie
+krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark
+zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas
+zu eifrig. Sina litt mit jeder Fiber und sah mit unerträglichem
+<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a>
+Ekel auf die ganze Komödie. Aber sie
+schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter
+zur Durchführung ihres Planes nötig hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht
+von ihrer Mutter trennen zu müssen!“ beteuerte Marja
+Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz die bevorstehende
+Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf,
+wie sie Sie ansah ... Sie haben sie mit Ihrem
+Aristokratismus besiegt, Fürst, mit dieser ausgesuchten
+Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! –
+das fühle ich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer
+noch wie ein Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor.
+</p>
+
+<p>
+„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna
+aus und warf sich von neuem der Tochter an
+den Hals.
+</p>
+
+<p>
+Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende
+zu machen. Sie reichte dem Fürsten stumm ihre wundervolle
+Hand und zwang sich sogar zu einem Lächeln.
+Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen
+und bedeckte es mit hundert Küssen.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor,
+hingerissen in seiner Begeisterung.
+</p>
+
+<p>
+„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an,
+„siehe diesen Menschen! Er ist der ehrenhafteste, der
+edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das ist ein
+mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie
+weiß es, zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb
+sind Sie hergekommen! Ich übergebe Ihnen meinen
+kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie
+<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a>
+ihn, Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche
+Mutter würde mir meinen Schmerz nicht nachfühlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu.
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren,
+Fürst! Ihr Degen wird den Verleumder oder den
+Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu strafen
+wissen!“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt
+erst beginne ich zu leben ... Ich will, daß die Hochzeit
+sofort sei, im Augenblick ... ich ... Ich will
+so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe
+ich Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle
+Gefühle!“ rief Marja Alexandrowna aus. „Und Sie
+konnten, Fürst, Sie konnten sich so vergraben, sich so
+von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen tausendmal
+vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an
+diese höllische ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche
+Angst!“ stammelte der Fürst halb weinend mit unsicherer
+Stimme. „Sie wollten mich in eine Ir–ren–an–stalt
+ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“
+</p>
+
+<p>
+„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese
+unmenschlichen Menschen! O, diese Niedertracht! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon
+prince</span> – ich habe schon früher davon gehört! Aber
+das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und weshalb
+nur, aus welchem Grunde?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“
+antwortete der Alte, der sich vor Schwäche hinsetzte.
+<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a>
+„Ich, wissen Sie, ich war auf einem Ball und
+erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te
+ihnen nicht ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand
+die Ge–schich–te!“
+</p>
+
+<p>
+„Und das allein war der Grund, Fürst?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt,
+mit Fürst Pjotr De–men–tjitsch, und war ohne sechs
+ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge und drei
+Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei
+Kö–ni–ge ... Nein! einen König! Und dann
+erst kamen die Da–men ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit!
+Sie weinen, mein Fürst! Aber jetzt
+brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde ich
+bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von
+Sina trennen, und dann wollen wir doch sehen, ob
+sie noch ein Wort zu sagen wagen!! – ... Und
+Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie
+wird sie beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen,
+daß Sie dann noch fähig sind ... das heißt, sie
+werden sich sagen, daß eine solche Schönheit doch nicht
+einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie
+stolz das Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die
+Augen sehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die
+Augen sehen,“ murmelte der Fürst und die Augen fielen
+ihm zu.
+</p>
+
+<p>
+„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“
+dachte Marja Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz
+meine Worte!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie
+<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a>
+müssen sich jetzt unbedingt beruhigen, sich erholen,“
+sagte sie gütig zuredend, indem sie sich mütterlich zu
+ihm beugte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“
+sagte er.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen
+... Warten Sie, ich werde Sie selbst geleiten
+... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen,
+wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf
+dieses Porträt, Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter,
+– eines Engels, aber nicht einer Frau! O, weshalb
+weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine
+Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“
+</p>
+
+<p>
+„Eine Hei–li–ge? <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">c’est joli</span> ... Ich habe
+gleich–falls eine Mutter gehabt ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une princesse</span>
+... und – denken Sie sich – es war eine außer–ge–wöhn–lich
+vol–le Frau ... Aber, wie gesagt,
+ich wollte etwas an–de–res sagen ... Ich bin
+etwas er–mü–det. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Adieu, ma charmant enfant!</span>
+... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ...
+morgen ... Nun ja, gleichviel! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">au revoir, au
+revoir!</span>“ Er wollte noch mit der Hand einen Gruß
+senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre
+fast gefallen.
+</p>
+
+<p>
+„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf
+meinen Arm!“ rief ihm Marja Alexandrowna zu.
+</p>
+
+<p>
+„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen.
+„Jetzt erst beginne ich zu leben ...“
+</p>
+
+<p>
+Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge
+eine erdrückende Last auf ihren Schultern. Ihr ward
+fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst verachten mögen.
+<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a>
+Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften
+Händen, zusammengebissenen Zähnen stand
+sie, den Kopf gesenkt und rührte sich nicht. Tränen
+der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde
+die Tür aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-9">
+<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a>
+IX.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">r</span> hatte alles gehört, alles!
+</p>
+
+<p>
+Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein
+– denn eintreten konnte man es wahrlich nicht nennen.
+Sina sah ihn verwundert an.
+</p>
+
+<p>
+„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe
+ich endlich erfahren, was Sie sind!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie
+einen Wahnsinnigen verständnislos ansah; plötzlich
+aber begriff sie und Zorn blitzte in ihren Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie
+trat auf ihn zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff
+feierlich, trat aber doch unwillkürlich einen Schritt vor
+ihr zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür
+gelauscht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser
+niedrigen Tat entschlossen, dafür aber habe ich jetzt
+erfahren, daß Sie die aller ... Ich weiß nicht einmal,
+wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen
+... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während
+sein Mut unter ihrem Blick immer mehr dahinschwand.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a>
+„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen
+können Sie mich denn beschuldigen? Welch ein Recht
+haben Sie überhaupt, mir etwas vorzuwerfen? Welches
+Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie
+fragen das noch? Sie heiraten den Fürsten und ich
+soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr
+Wort gegeben! Ganz einfach!“
+</p>
+
+<p>
+„Wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso wann?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder
+in mich drangen, deutlich gesagt, daß ich Ihnen
+nichts Bestimmtes versprechen könne.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht
+zurückgewiesen, Sie haben mir nicht endgültig abgesagt!
+Sie haben mich also für den Notfall aufbewahrt!
+Sie haben mich angelockt!“
+</p>
+
+<p>
+In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches
+Gefühl wieder; wie etwa von einem scharfen,
+durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie bezwang sich.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete
+sie langsam und deutlich, wenn auch in ihrer Stimme
+ein leises Zittern zu hören war, „so habe ich es
+nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten,
+noch ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen
+nicht sofort Nein zu sagen, sondern Sie näher kennen
+zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn Sie sich
+überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter
+Mensch bin, dann werden Sie mich vielleicht doch nicht
+abweisen‘. Das sind Ihre eigenen Worte, die Sie
+zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können
+<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a>
+sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir
+zu sagen, daß ich Sie angelockt hätte! Sie haben aber
+doch meinen Widerwillen bemerkt, als ich Sie zwei
+Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah,
+und diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen,
+im Gegenteil, ich habe ihn offen gezeigt. Und
+Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst fragten
+mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher
+wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen
+nicht anlockt, vor dem man seinen Widerwillen
+weder verbergen kann noch <em>will</em>. Sie haben es gewagt,
+mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt.
+Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir
+über Sie etwa folgendes gedacht habe: ‚Wenn er auch
+nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so
+kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich
+könnte man ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich
+mich zu meinem Glück noch rechtzeitig überzeugt habe,
+daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß noch
+ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes
+übrig, als Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche
+Reise zu wünschen. Leben Sie wohl!“
+</p>
+
+<p>
+Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam
+das Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren
+hatte und geriet außer sich.
+</p>
+
+<p>
+„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“
+schrie er, „so bin ich denn ein Dummkopf! Gut!
+Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde ich
+der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter
+den Fürsten umgarnt haben, nachdem er von Ihnen
+<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a>
+genügend angeheitert worden ist! Allen werde ich es
+erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“
+</p>
+
+<p>
+Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um
+zu antworten, bedachte sich aber, zuckte nur verächtlich
+mit der Achsel und schlug die Tür hinter sich zu.
+</p>
+
+<p>
+Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna
+in der anderen Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs
+letzten Ausruf vernommen, erriet in einer Sekunde den
+ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war
+noch nicht fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der
+Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff konnte ja die Neuigkeit
+in der ganzen Stadt verbreiten, während doch gerade
+die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für
+noch so kurze Zeit, die erste Bedingung war! Marja
+Alexandrowna hatte ihre eigenen Berechnungen. Nur
+einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und
+dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung
+Mosgljäkoffs entworfen.
+</p>
+
+<p>
+„Was haben Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>!“ fragte sie, trat auf
+ihn zu und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen.
+</p>
+
+<p>
+„Was! Noch ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>‘!“ schrie Mosgljäkoff in
+rasender Wut. „Nach allem, was Sie getan haben,
+noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Das verbitte ich mir, meine Gnädigste!
+Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen
+zu können!“
+</p>
+
+<p>
+„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie
+in einer so <em>sonderbaren</em> Stimmung angetroffen
+habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist das für ein
+Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren
+Sie sich einer Dame gegenüber bedienen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a>
+„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles
+was Sie wollen, nur keine Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff.
+Ich weiß nicht, was er eigentlich sagen wollte,
+jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen
+sein.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an.
+</p>
+
+<p>
+„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger
+Stimme und wies auf denselben Stuhl, auf dem noch
+vor wenigen Minuten der Fürst gesessen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“
+Mosgljäkoff war ganz verdutzt. „Sie
+sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir, sondern
+womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da –
+da – das geht doch nicht! ... Dieser Ton! ...
+Aber das übersteigt doch jedes Maß der menschlichen
+Geduld! ... Wissen Sie das auch?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna,
+„Sie werden mir erlauben, Sie immer noch so zu
+nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als
+mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich,
+Sie sind mitten ins Herz getroffen – und deshalb
+wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem solchen
+Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen,
+Ihnen alles aufzudecken, mein ganzes Herz, um so
+mehr, als ich mich selbst ein wenig schuldbewußt vor
+Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“
+</p>
+
+<p>
+Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend,
+weich und auch in ihrem Gesicht drückte sich Leiden aus.
+Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr gegenüber.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone
+fort und sah ihn vorwurfsvoll an.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a>
+„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich
+es nicht getan hätte! Dann wäre ich ja der richtige
+Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles erfahren,
+was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er
+frech. Sein eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn
+noch mehr auf.
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich
+zu einer solchen Handlung entschließen können? –
+O, mein Gott!“
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff sprang auf.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch
+unerhört! Denken Sie doch gefälligst daran, wozu
+<em>Sie</em> sich bei <em>Ihrer</em> Erziehung und Ihren Grundsätzen
+entschlossen haben, und dann verurteilen Sie
+andere!“
+</p>
+
+<p>
+„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine
+Heftigkeit zu beachten, „wer hat Sie dazu verleitet,
+uns zu belauschen, wer hat es Ihnen erzählt, wer hat
+hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst wissen
+will.“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihung – das sage ich nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe
+gesagt, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher Paul</span>, daß ich schuldbewußt vor Ihnen
+dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann werden
+Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine
+solche zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß
+ich Ihnen das Beste gewünscht habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über
+die Hutschnur! Glauben Sie mir, daß Sie mich jetzt
+nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer
+Junge!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a>
+Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in
+den Fugen knackte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger
+zu sein, wenn es Ihnen möglich ist. Hören Sie mir
+aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst in
+allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen
+sogleich alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von
+mir den ganzen Sachverhalt bis auf die kleinsten Details
+erfahren, ohne sich durch Belauschen erniedrigen
+zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt
+habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das
+Ganze doch noch nichts als ein in der Luft schwebender
+Plan war. Es konnte ja ebensogut auch nichts daraus
+werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen.
+Zweitens: beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina
+liebt Sie bis zum Wahnsinn und es hat mir unglaubliche
+Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und
+durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen
+gehabt, den glänzendsten Beweis für diese
+Liebe <em>bis zum Wahnsinn</em> zu vernehmen,“ bemerkte
+Mosgljäkoff ironisch.
+</p>
+
+<p>
+„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen?
+Soll das die Rede eines Verliebten sein? Und
+schließlich – welcher wohlerzogene Mensch spricht in
+diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht
+um den Ton! Aber am Vormittag, nachdem Sie so
+liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben Sie
+mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach
+verleumdet! Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben
+<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a>
+ihr nur Schlechtes von mir gesagt! Ich weiß alles,
+alles!“
+</p>
+
+<p>
+„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“
+fragte Marja Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln.
+„Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich habe Sie angeschwärzt,
+ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt,
+und ich gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben
+habe. Aber beweist das nicht – daß ich gezwungen
+war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu verleumden
+– beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas
+Einwilligung, sich von Ihnen loszusagen, zu erringen
+war? Wie können Sie so kurzsichtig sein?
+Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es
+dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich
+zu machen, in so unvorteilhaftem Licht zu zeigen –
+kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu greifen? Aber Sie
+wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner
+Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen
+herauszureißen, und erst nach unglaublichen Anstrengungen
+habe ich nur eine äußerliche Einwilligung
+erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß
+es Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen
+um den Fürsten mit keinem Wort, keinem
+Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit hat
+sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen
+hat sie wie ein Automat. Ihre ganze Seele wand sich
+vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr machte ich der
+Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort.
+Ich bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein
+war. Als Sie eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt
+haben ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a>
+Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er
+ins Zimmer gestürzt war, Tränen in ihren Augen bemerkt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen
+mich gewesen, Marja Alexandrowna? Warum haben
+Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet – was
+Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn
+Sie gleich zu Anfang so vernünftig gefragt hätten,
+dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja, Sie
+haben recht! Alles das habe <em>ich</em> getan und nur <em>ich</em>
+allein. Sina lassen Sie hier ganz aus dem Spiel.
+Und weshalb ich es getan habe? Meine Antwort ist:
+in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem
+Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet,
+macht sie eine glänzende Partie. Und schließlich,
+wenn er sterben sollte, was vielleicht sogar sehr bald geschehen
+kann – denn wir sind ja alle mehr oder weniger
+sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin,
+in der besten Gesellschaft und unermeßlich reich.
+Dann kann sie heiraten, wen sie will, sie kann die glänzendste
+Partie machen – doch wird sie selbstverständlich
+nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen
+Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein
+schon die Reue würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen,
+den sie früher geliebt, wieder gut zu machen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich
+seine Stiefel betrachtete.
+</p>
+
+<p>
+„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“
+fuhr Marja Alexandrowna fort, „denn Sie
+werden das vielleicht nicht einmal begreifen. Sie lesen
+<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a>
+Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen
+Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie,
+wenn auch <em>sehr gutmütig</em>, so doch noch zu jung,
+– ich aber bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch! So
+hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum
+Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will
+ich ihn retten. Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten,
+geradezu ritterlichen Greis auch früher schon
+geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich
+in den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird
+ihn noch unter die Erde bringen! Gott hat es gesehen,
+daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat habe bewegen
+können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat
+der Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich
+von dem Edelmut, von der Begeisterung für die große
+Überwindung fortreißen lassen. Sie hat selbst viel
+Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine Christenpflicht
+ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das
+Kind, die Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein,
+dem vielleicht nur noch ein einziges Lebensjahr vergönnt
+ist. Ihn würde dann nicht dieses schändliche
+Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten
+Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht,
+Freundschaft und Liebe. Diese letzten Tage würde er
+im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus – sagen
+Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer
+barmherzigen Schwester, aber nicht Egoismus!“
+</p>
+
+<p>
+„Dann ... dann haben Sie es also nur für den
+Fürsten getan und aus Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“
+brummte Mosgljäkoff spöttisch.
+</p>
+
+<p>
+„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch,
+<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a>
+sie ist recht deutlich. Sie glauben vielleicht, daß
+hier die Vorteile des Fürsten mit den eigenen Vorteilen
+jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen? Vielleicht
+habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur
+war sie nicht jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich
+weiß, daß Sie sich über ein so offenes Geständnis wundern
+werden, aber ich bitte Sie nur um eines, Pawel
+Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit
+im Spiel ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet
+nicht, sie versteht nur zu lieben – mein liebes
+Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet hat, so
+bin ich es, <em>ich allein</em>! Aber fragen Sie doch in
+allem Ernst Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer
+hätte an meiner Stelle im gegebenen Fall nicht berechnet?
+Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren
+uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt,
+unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei
+alle, indem sie sich selbst versichern, daß sie es nur aus
+Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht betrügen: ich
+gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner
+Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob
+ich <em>meinen</em> Vorteil berechnet habe? Ich brauche nichts
+mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe mein Leben
+abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel,
+mein Kind, und – welche Mutter würde mir das
+in diesem Fall zum Vorwurf machen?“
+</p>
+
+<p>
+Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas.
+Mosgljäkoff hörte in höchster Verwunderung diese
+ganze offenherzige Beichte an und blinzelte nur verständnislos
+mit den Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich.
+<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a>
+„Sie verstehen gut zu reden, Marja Alexandrowna,
+– aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr Wort
+gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was
+glauben Sie wohl, wie mir jetzt zumute ist? Denken
+Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer langen Nase
+abziehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie
+gedacht habe, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>! Ich sage Ihnen: in
+allen diesen Berechnungen lag für Sie ein so großer
+Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem
+Unternehmen entschlossen habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie
+denn das?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig
+sein!“ rief Marja Alexandrowna mit beredtem
+Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da sehen
+wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare
+liest, träumt und sich einbildet zu leben – während
+man nur mit fremdem Verstande und mit fremden Gedanken
+lebt! Mein <em>guter</em> Pawel Alexandrowitsch,
+Sie fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben
+Sie, daß ich zur besseren Übersicht etwas abweiche:
+Sina liebt Sie – darüber kann kein Zweifel
+bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz
+ihrer offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen
+zu Ihnen in ihr verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren
+Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe bemerkt, daß sie
+sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu
+Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und
+ihres Mißtrauens. Haben Sie das nicht auch selbst bemerkt,
+Pawel Alexandrowitsch?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a>
+„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar
+heute ... Aber was wollen Sie denn damit sagen,
+Marja Alexandrowna?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt!
+Folglich täusche ich mich nicht. Und sie mißtraut
+gerade der Beständigkeit Ihrer guten Neigungen.
+Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was
+im Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen
+Sie sich vor, daß Sie, anstatt mit Vorwürfen und fast
+sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie zu reizen, zu
+kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und stolz
+vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem
+Argwohn bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken,
+– stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie statt dessen
+diese Nachricht ruhig, mit Tränen des Bedauerns oder
+sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem
+Edelmut, der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen
+hätten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch.
+Ich will Ihnen dieses ganze Bild ausmalen,
+das auch unfehlbar Eindruck auf Sie machen
+wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr
+getreten wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe
+dich mehr als mein Leben, doch Familienrücksichten
+trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns scheiden.
+Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr,
+mich gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir.
+Sei glücklich, wenn du es kannst!‘ und hierauf hätten
+Sie sie noch einmal angesehen, mit einem Blick – mit
+dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so
+<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a>
+ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen
+Sie sich dann, welch einen Eindruck diese Worte auf
+ihr Herz gemacht hätten!“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an,
+daß es sich so verhält; ich begreife das sehr wohl ...
+aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und wäre
+dann doch leer abgezogen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie
+mich nicht! Ich will unbedingt das ganze Bild entrollen,
+mit allen späteren Folgen, um Sie zu überzeugen.
+Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach
+einiger Zeit ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen.
+Sie treffen sich irgendwo auf einem Ball, bei strahlender
+Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer Musik,
+inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen
+Frohsinns ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich,
+bleich und folgen nur ihr allein mit den Blicken,
+an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß man
+Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft
+bewegt. Sie tanzt. Die berauschenden Klänge
+Straußscher Walzer umschmeicheln Sie, der Esprit
+der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber
+sind einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft!
+Was wird dann in Sinaïda vor sich gehen
+– denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen
+wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken,
+‚ich konnte an diesem Menschen zweifeln, der mir
+alles, alles geopfert und sein Herz um meinetwillen zerrissen
+hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde
+dann mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a>
+Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um
+Atem zu schöpfen. Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich
+auf seinem Stuhle, daß dieser zum zweiten
+Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna
+fuhr fort.
+</p>
+
+<p>
+„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina
+mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien, –
+nach Spanien, wo Myrten und Orangen blühen, wo
+der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir
+rauscht, – in das Land der Liebe, in dem man nicht
+leben kann, ohne zu lieben, wo Rosen und Küsse sozusagen
+in der Luft schweben! Und Sie fahren gleichfalls
+dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre Verbindungen,
+alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer
+Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien –
+mein Gott! Versteht sich – Ihre Liebe ist lauter, ist
+heilig, aber schließlich wird der gegenseitige Anblick Sie
+doch beide quälen. Sie verstehen mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Natürlich
+werden sich niedrige, boshafte Menschen finden,
+Abscheuliche, die da behaupten werden, daß durchaus
+nicht nur die verwandtschaftliche Zuneigung zu dem leidenden
+alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich
+aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil
+eben diese Leute ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben
+werden. Aber ich bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch,
+– sollte <em>ich</em> Sie Schlechtes lehren? ...
+Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu
+beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann
+man denn nur auf Grund dessen einer so schändlichen
+Verleumdung glauben? Und eines Tages wird er sterben
+und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt
+<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a>
+sagen Sie: wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht
+Sie? Sie sind mit dem Fürsten ja nur weitläufig
+verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese
+Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung,
+reich, schön, vornehm, – und das zu welcher Zeit? –
+wenn die vornehmsten und reichsten Aristokraten es sich
+zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu
+dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die
+höchsten Kreise, durch ihre Frau werden Sie plötzlich
+eine bedeutende Stellung erhalten, Titel, Orden! Jetzt
+haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber
+werden Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament
+alles vorsehen: dafür werde ich schon Sorge
+tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich endgültig
+von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen
+überzeugt haben und Sie werden ihr plötzlich
+als Held des Edelmutes und der Selbstverleugnung
+erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier
+Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind
+sein, um diesen Vorteil nicht einzusehen, nicht zu verstehen,
+nicht zu berechnen – wenn sie zwei Schritt
+vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst
+sagt: ‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel
+Alexandrowitsch, ich bitte Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand
+sich in unbeschreiblicher Aufregung. „Jetzt habe ich
+alles begriffen! Ich habe roh, niedrig, schändlich an
+ihr gehandelt!“
+</p>
+
+<p>
+Er sprang auf und raufte sich das Haar.
+</p>
+
+<p>
+„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna
+hinzu, „vor allen Dingen unüberlegt!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a>
+„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er
+verzweifelt aus. „Jetzt ist alles verloren, denn ich liebe
+sie bis zum Wahnsinn!“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte
+Frau Moskalewa halblaut vor sich hin, als überlege sie
+etwas.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen
+Sie mir! Retten Sie mich!“
+</p>
+
+<p>
+Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig
+und reichte ihm die Hand, „Sie haben es aus
+übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender Leidenschaft,
+folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in
+Verzweiflung, Sie waren außer sich! Das wird sie
+doch einsehen müssen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit,
+alles für sie hinzugeben!“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen
+versuchen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen.
+Und Sie werden ihr dann alles so erklären,
+wie ich es Ihnen soeben erklärt habe!“
+</p>
+
+<p>
+„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna!
+... Nur ... könnte man es nicht sofort machen!?“
+</p>
+
+<p>
+„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind,
+mein Freund! Sie ist so stolz! Sie würde es für eine
+neue Beleidigung halten, für eine Frechheit! Morgen
+werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen Sie
+irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ...
+<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a>
+am Abend können Sie vielleicht wiederkommen, aber
+selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten
+mich! Nur noch eine Frage: wenn nun aber der Fürst
+nicht so bald stirbt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>!
+Im Gegenteil, wir müssen zu Gott beten, daß er ihm
+noch ein paar Wochen Gesundheit schenkt. Man muß
+diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn
+von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben
+wünschen! Ich werde unter Tränen Tag und
+Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch
+leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten
+ist nicht allzu zuverlässig! Zudem wird er jetzt
+in die Residenz fahren und Sina in der Gesellschaft einführen
+müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß
+ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß
+geben werden! Doch wir wollen beten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher Paul</span>, und
+das übrige steht in Gottes Hand! ... Sie gehen schon?
+Ich segne Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Hoffen Sie, gedulden Sie
+sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien
+Sie ein ganzer Mann! Ich habe nie an dem Adel
+Ihrer Gefühle gezweifelt ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff
+schlich sich auf den Fußspitzen aus dem Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie
+triumphierend. „Jetzt kommen andere an die Reihe ...“
+</p>
+
+<p>
+Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend
+bleich und ihre Augen blitzten.
+</p>
+
+<p>
+„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende
+oder ich ertrage es nicht! Es ist dermaßen schmutzig
+<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a>
+und ekelhaft, daß ich aus dem Hause laufen möchte!
+Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich?
+Mir wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem
+ganzen Schmutz!“
+</p>
+
+<p>
+„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ...
+du hast gelauscht!“ rief Marja Alexandrowna aus und
+sah ängstlich forschend Sina an.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb
+vielleicht auch so beschämen wie jenen Dummkopf? –
+Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange so quälen
+und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche
+Rollen zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und
+mache einfach ein Ende damit! Es ist genug, daß ich in
+die Hauptsache eingewilligt, daß ich mich zu dieser allergrößten
+Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ...
+ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem
+Schmutz! ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter
+sich zu.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach
+und wurde nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend.
+„Sina ist die größte Gefahr, und wenn alle diese
+Schurken uns nicht allein lassen und die Nachricht noch
+in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt
+schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie
+würde diesem ganzen Skandal nicht standhalten und sich
+zurückziehen. Man muß den Fürsten unbedingt aufs
+Land bringen – was es auch koste! Ich werde sofort
+hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu
+irgend etwas muß er sich doch schließlich verwenden
+<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a>
+lassen! ... Und dort wird sich der Alte ausschlafen und
+dann ... – also: fahren wir!“
+</p>
+
+<p>
+Sie klingelte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie
+den eingetretenen Diener.
+</p>
+
+<p>
+„Schon längst bereit!“ antwortete dieser.
+</p>
+
+<p>
+Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den
+Fürsten nach oben ins Fremdenzimmer geleitet hatte.
+</p>
+
+<p>
+Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick
+zu Sina, um dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß
+mitzuteilen, und, wenn möglich, auch noch einzuschärfen,
+wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina
+wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett
+und hatte das Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte
+verzweifelt. Ihre wundervollen Hände hatte sie in
+ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich
+alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme
+abhoben. Zuweilen zuckte sie zusammen, wie wenn
+plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre Glieder lief.
+Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber
+Sina erhob nicht einmal den Kopf.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte,
+ging sie besorgt hinaus und befahl dem Kutscher, um
+sich anderwärts dafür zu entschädigen, im Galopp auf
+ihr Gut zu fahren.
+</p>
+
+<p>
+„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte
+sie, als sie in ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich
+habe Mosgljäkoff fast mit denselben Worten beredet
+wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt vielleicht beleidigt
+fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache
+ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die
+<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a>
+anderen davon Wind bekommen! Doch – wenn mein
+Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“
+</p>
+
+<p>
+Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher
+Wut erfaßt – die dem armen Afanassij Matwejewitsch
+nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen Augenblick
+ruhig sitzen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-10">
+<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a>
+X.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt,
+daß ein genialer Gedanke Marja Alexandrowna
+am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr, um
+ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke
+war: den Fürsten zu „konfiszieren“ und so bald als
+möglich auf ihr Gut in der Nähe der Stadt zu bringen,
+wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos
+und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh.
+Wir wollen es nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna
+immer mehr von einer unerklärlichen Unruhe
+gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit wirklichen
+Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie
+ihr Ziel erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser
+Instinkt sagte ihr, daß es gefährlich war, in
+Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf dem
+Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt
+hier auf den Kopf stellen!“ Selbstverständlich durfte
+man auch auf dem Lande nicht unnütz Zeit verlieren.
+Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles
+mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den
+Feinden unserer Heldin späterhin über sie verbreitet
+wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in diesem Augenblick
+sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe.
+<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a>
+Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit
+dem Fürsten verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte
+sie zur Hand. Dort auf dem Gute konnte sie der Dorfgeistliche
+trauen. Die Trauung konnte gleich übermorgen
+stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen.
+Hatte es doch Trauungen gegeben, die binnen zwei
+Stunden vollzogen worden waren! Dem Fürsten mußte
+man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien
+und Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als
+das Neueste <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">comme il faut</span> hinstellen: man mußte ihm
+beweisen, daß es so „grandioser“ sei. Außerdem konnte
+man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen
+und somit die empfindsamste Seite im Herzen
+des alten Mannes zum Klingen bringen. Und schlimmstenfalls
+konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“
+oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei
+halber Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch
+geschehen sollte – Sina würde dann immerhin schon
+Fürstin <em>sein</em>! Und falls es auch nicht ohne einen
+Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau
+zum Beispiel, wo die Verwandten des Fürsten lebten,
+so gab es auch hierfür einen Trost: erstens war das
+noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna
+überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft
+fast immer einen Skandal geben müsse, namentlich in
+Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar „guter Ton“
+sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft
+ihrer Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere
+zu sein pflegten, etwa in der Art der Skandale
+eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable –
+daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt
+<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a>
+von ihrer Mama, um im Augenblick alle und alles
+zu besiegen, und daß dann keine einzige von allen Gräfinnen
+und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche
+würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna
+allen gemeinsam oder auch einzeln der Reihe
+nach zu verabfolgen schon verstehen würde. Die Folge
+dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna
+jetzt mit Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij
+Matwejewitsch abzuholen, dessen sie nach ihrer Berechnung
+jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den Fürsten aufs
+Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch
+bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht
+durchaus nicht machen wollte –, war bedenklich.
+Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch persönlich aufforderte,
+so war das eben etwas ganz anderes. Zudem
+konnte das Erscheinen eines bejahrten, würdigen
+Familienvaters, in Frack und weißer Binde, den Hut
+in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und
+wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste
+Kunde vom Fürsten aus der Ferne herbeigeeilt sei, so
+konnte das der Eigenliebe des Fürsten nur schmeicheln.
+Nach einer so umständlichen Galaeinladung war
+es auch schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna.
+Endlich hatten die Pferde die drei Werst zurückgelegt,
+und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor der
+Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen
+Gutsgebäudes, das mit seiner langen Fensterreihe und
+umstanden von alten Linden schon ziemlich baufällig
+aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz
+geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas
+Sommerresidenz. Im Hause brannte bereits Licht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a>
+„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna,
+die wie ein Sturm durch die Zimmer raste. „Weshalb
+liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich getrocknet!
+Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft
+er seinen Tee! Was glotzt du mich an, du Dummkopf!
+Weshalb ist sein Haar nicht geschnitten? Grischka!
+Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn
+nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der
+vergangenen Woche anbefohlen habe?“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht
+gehabt, viel freundlicher ihren Gemahl zu begrüßen; als
+sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad gestiegen war
+und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte
+sie ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel
+Mühen und Sorgen ihrerseits und soviel seliger Quietismus
+von seiten des zu nichts tauglichen, vollständig
+überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser Kontrast
+traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel,
+oder höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde,
+in sprachlosem Schrecken vor seinem Ssamowar,
+sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine
+Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde
+gemacht hatte. In der Tür zum Vorzimmer stand
+die vierschrötige Gestalt Grischkas, der beständig etwas
+verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur
+augenblinzelnd die Szene ansah.
+</p>
+
+<p>
+„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht
+geschnitten,“ sagte er mürrisch mit seiner klanglosen
+Stimme. „Zehnmal bin ich mit der Schere gekommen,
+– nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen
+und dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir
+<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a>
+nicht geschoren sind, was sollen wir dann machen? Sie
+aber sagten: nein, wart, ich werde mir Sonntag Locken
+einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir
+Locken ein? Was sind denn das für Marotten? Und
+wie steht denn das zu deinem dummen Kopf? Gott,
+was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht
+es hier? Ich frage dich, Monstrum, wonach es hier
+riecht?“ schrie Marja Alexandrowna, die über den unschuldigen
+und zu Tode erschrockenen Afanassij Matwejewitsch
+in immer größere Wut geriet.
+</p>
+
+<p>
+„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der
+angstvolle Gatte, ohne sich vom Stuhl zu erheben und
+nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge, „Mü ...
+mütterchen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem
+Eselskopf eingebläut, daß ich für dich durchaus kein
+Mütterchen bin! Was bin ich für ein Mütterchen, du
+Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine
+vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft,
+aber nicht neben einem Esel wie du wäre, mit
+solchen Namen anzureden!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine
+gesetzmäßige Frau ... und deshalb sage ich auch ...
+wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“ versuchte
+zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob
+aber gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um
+seine Haare zu schützen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals
+eine dümmere Antwort gehört? Gesetzmäßige
+Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige
+<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a>
+Frauen? Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft
+gebraucht jetzt noch dieses dumme, dieses seminaristische,
+dieses ekelhaft gemeine Wort: ‚gesetzmäßige
+Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran
+zu erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus
+allen Kräften, aus ganzer Seele gerade dieses eine wieder
+zu vergessen bemühe, daß ich deine Frau bin! Was
+hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was für
+Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden
+in drei Stunden nicht trocken werden! Wie soll
+man jetzt mit ihm hinfahren? Wie soll man ihn fremden
+Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung,
+während sie im Zimmer auf und ab raste.
+Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ sich ja
+leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren
+herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen.
+Das beständige Ausgießen ihres Zornes über
+dem Haupte des armen Afanassij Matwejewitsch war
+ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist
+eine Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und
+dann – wir wissen doch, zu welchen Kontrasten manche
+zartfühlenden Damen einer gewissen Gesellschaftsklasse
+bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind,
+und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben.
+</p>
+
+<p>
+Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen
+seiner Gattin und schwitzte vor Angst.
+</p>
+
+<p>
+„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an!
+Frack, Beinkleider, weiße Binde, Weste – schneller!
+Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist seine Kopfbürste?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a>
+„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der
+Wanne gekommen, – ich kann mich doch erkälten,
+erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das werden wir im Augenblick trocken machen!
+Grischka, nimm die Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker!
+stärker! stärker! So! So ist’s recht!“
+</p>
+
+<p>
+Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und
+ergebene Grischka aus Leibeskräften den Kopf seines
+Herrn, den er um der größeren Bequemlichkeit halber
+an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts striegelte,
+ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers
+fast an den Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog
+das Gesicht kraus und war nahe daran, zu weinen.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo
+ist die Pomade? Beuge dich, beug dich, Nichtsnutz,
+beug dich, sag ich dir!“
+</p>
+
+<p>
+Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig
+ihren Gemahl zu salben, während sie ihn unbarmherzig
+an seinem dichten, grauuntermischten Haarschopf
+zog, den er zum Unglück nicht vorschriftsmäßig
+hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch
+seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges
+Mal, sondern ertrug ergeben die ganze gewaltsame
+Einsalbung.
+</p>
+
+<p>
+„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du
+Schmutzfink!“ schrie Marja Alexandrowna. „So beug
+dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen,
+<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a>
+Mütterchen?“ fragte der Gatte zaghaft und beugte den
+Kopf so tief als nur irgend möglich.
+</p>
+
+<p>
+„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen!
+Jetzt kämm dich. Und den Rock ihm an. Aber
+schnell.“
+</p>
+
+<p>
+Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte
+mit inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell
+der Bekleidung ihres Gatten. Dieser hatte
+sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut geschöpft.
+Als es zum Binden der weißen Krawatte kam,
+wagte er sogar, eine persönliche Bemerkung über die
+Form und Schönheit des Knotens zu äußern. Und als
+der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack angezogen
+hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete
+sein Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“
+fragte er selbstgefällig.
+</p>
+
+<p>
+Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht.
+</p>
+
+<p>
+„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie
+wagst du überhaupt, mich zu fragen, wohin ich dich
+bringe?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich
+Mütterchen zu nennen, namentlich dort, wohin wir
+jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du mir dann
+ohne einen Tropfen Tee!“
+</p>
+
+<p>
+Erschrocken verstummte der Gemahl.
+</p>
+
+<p>
+„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich
+verdient, dieser Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem
+Blick auf seinen schwarzen Frack.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a>
+Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch
+gekränkt.
+</p>
+
+<p>
+„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten
+und ich bin Rat, aber kein Taugenichts!“ sagte er mit
+edlem Unwillen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt?
+Ach du! Bauer, du! Schade, daß ich jetzt
+keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst würde
+ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen!
+Gib ihm den Hut, Grischka! Gib ihm den
+Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit diese drei
+Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer,
+gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den
+Spiegeln die Bezüge abnehmen! von den Uhren gleichfalls!
+Und sieh zu, daß alles in einer Stunde fertig
+ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten
+gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“
+</p>
+
+<p>
+Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij
+Matwejewitsch wunderte sich und Marja Alexandrowna
+überlegte im stillen, wie sie dem schwerfälligen
+Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln
+möglichst klar, einfach und verständlich einschärfen
+sollte. Doch ihr Gatte kam ihr zuvor.
+</p>
+
+<p>
+„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich
+habe heute einen sehr originellen Traum gehabt,“ meldete
+er plötzlich mitten im beiderseitigen Schweigen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte
+schon, daß jetzt weiß Gott was kommen würde! Sein
+Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit deinen
+Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt
+du denn auch, was originell bedeutet? Hör, ich sage
+<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a>
+dir jetzt zum letzten Mal: wenn du heute wagst, auch
+nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder gleichviel
+wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir
+tun! Paß jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen.
+Entsinnst du dich noch des Fürsten K.? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb
+ist er denn zu dir gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt
+ihn mit besonderer Liebenswürdigkeit – als Hausherr
+– sofort auf unser Gut einladen. Deshalb bringe ich
+dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort
+fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen
+Abend, oder morgen, oder übermorgen oder gleichviel
+wann, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, so werde
+ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich
+hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges
+Wort. Und das ist alles, was du zu tun hast. –
+Hast du verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber – wenn man mich etwas fragt?“
+</p>
+
+<p>
+„Gleichviel – schweige!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte,
+Marja Alexandrowna!“
+</p>
+
+<p>
+„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges,
+zum Beispiel: ‚Hm!‘ oder etwas in der Art,
+– gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein
+kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor
+du antwortetst.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“
+</p>
+
+<p>
+„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde
+sagen, daß du auf die Nachricht von der Ankunft des
+Fürsten, vor Freude über seinen Besuch, sofort zur
+<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a>
+Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen
+und ihn zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel!
+Antworte darauf, was ich dich frage!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst,
+nur – weshalb soll ich denn den Fürsten einladen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht
+das dich an, weshalb! Und wie wagst du überhaupt,
+das zu fragen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll
+ich ihn denn einladen, wenn du mir fortwährend zu
+schweigen befiehlst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde für dich reden, du aber mach nur
+deine Verbeugung – hörst du? – mach nur deine
+Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast
+du mich verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt,
+und selbst wenn es nicht an dich gerichtet ist, so antworte
+auf alles nur mit einem gutmütigen und heiteren
+Lächeln, – hörst du?“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“
+</p>
+
+<p>
+„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten!
+Sage einfach und offen: hast du gehört oder
+nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie
+sollte ich denn nicht hören. Das ‚hm‘ sage ich nur,
+weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es befohlen
+<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a>
+hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn
+das sein: wenn der Fürst etwas sagt und du befiehlst,
+ihn nur anzusehen und zu lächeln! Aber wenn er mich
+nun etwas fragt?“
+</p>
+
+<p>
+„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe
+dir doch gesagt: schweige! Ich werde für dich antworten,
+du aber sieh ihn nur an und lächle.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm
+bin!“
+</p>
+
+<p>
+„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er
+<em>nicht</em> merken, daß du <em>dumm</em> bist.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas
+fragen?“
+</p>
+
+<p>
+„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand
+zugegen sein. Und falls dennoch jemand kommen
+sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas
+fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort
+mit einem sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das
+ist – ein sarkastisches Lächeln?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn
+von dir Esel ein geistvolles Lächeln verlangen! Einfach
+ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch verächtliches.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“
+</p>
+
+<p>
+„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja
+Alexandrowna innerlich seufzend. „Er hat sich entschieden
+geschworen, mich zur Verzweiflung zu bringen!
+Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt
+nicht hinzubringen!“
+</p>
+
+<p>
+Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle
+<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a>
+Unruhe und erbitterte Selbstvorwürfe folgten, beugte
+sich Marja Alexandrowna beständig zum Fenster ihres
+Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch
+größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien
+es immer noch zu langsam vorwärts zu gehen. Afanassij
+Matwejewitsch saß schweigend in seiner Ecke und
+wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen.
+Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten
+sie vor dem Hause Marja Alexandrownas.
+</p>
+
+<p>
+Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie
+auch schon einen zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit
+dampfenden Pferden erblickte, der plötzlich gleichfalls
+vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem
+Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten
+saßen zwei Damen. Die eine war Anna Nikolajewna
+und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit einiger
+Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der
+anderen.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber
+noch hatte sie keinen Schrei ausgestoßen, als schon eine
+zweite Kutsche vorfuhr, in der sich offenbar gleichfalls
+Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch
+freudige Begrüßungsworte.
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij
+Matwejewitsch! Angekommen! Woher denn
+das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu
+Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“
+</p>
+
+<p>
+Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten
+wie Schwalben durcheinander. Marja Alexandrowna
+traute ihren Augen und Ohren nicht.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a>
+„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das
+sieht mir ganz nach einer Verschwörung aus! Das
+muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche
+Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-11">
+<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a>
+XI.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">osgljäkoff</span> verließ Marja Alexandrowna wie es
+schien, vollkommen beruhigt. Sie hatte es verstanden,
+ihn für ihren Plan zu gewinnen. Einstweilen aber
+ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn
+nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und
+heroischen Träume, die ihn plötzlich überkam, ließ ihm
+keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche Aussprache
+mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden
+Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf
+dem glänzenden Petersburger Ball, an Spanien, den
+Guadalquivir, an seine Liebe und den sterbenden Fürsten,
+der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider
+Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne
+Frau, die ihm treu ergeben ist und ihn täglich
+ob seines Heldenmutes und seiner erhabenen Gefühle
+anstaunt; nebenbei – im stillen – an die Aufmerksamkeit
+irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“,
+in die er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des
+Fürsten K., unfehlbar hineingelangen würde; ferner
+an den Posten eines Vizegouverneurs, an das viele
+Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna
+so beredt ausgemalt hatte, zog noch einmal
+durch seine restlos zufriedene Seele, beglückend und
+<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a>
+verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd.
+Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das
+eigentlich erklären soll –, als er von dieser ganzen
+Begeisterung bereits müde zu werden begann, kam ihm
+plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß nämlich
+das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß
+er vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase
+sitzen bliebe. Als ihm dieser Gedanke kam, bemerkte
+er auch, daß er sehr weit gegangen war und sich in einer
+einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs
+befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen
+gleichsam in die Erde hineingewachsene Häuschen
+standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde, die, wie
+gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen
+sich erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen
+und auch nichts zu stehlen gibt. Es begann
+zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen. Selten
+nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib
+im Pelz und in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn
+mit einemmal – ein sehr schlechtes Zeichen, da uns
+bei einer günstigen Wendung der Dinge im Gegenteil
+alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel
+Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis
+jetzt in Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte
+es sehr gern, wenn man ihm in jedem Hause andeutete,
+daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu dieser
+Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht
+stolz darauf, Heiratskandidat zu sein. Und
+nun sollte er plötzlich als – Verschmähter dastehen!
+Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er kann
+doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch
+<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a>
+nicht einem jeden von den Petersburger Bällen in
+säulenverzierten Sälen und vom Guadalquivir erzählen!
+Während er so dies und das überlegte, sich selbst
+quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm
+schließlich etwas in den Sinn, das schon seit einiger
+Zeit halb unbewußt an seinem Herzen genagt hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn
+auch genau so in Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna
+es ausgemalt hat?“
+</p>
+
+<p>
+Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna
+eine äußerst schlaue Dame war und, wie sehr sie die
+allgemeine Achtung auch verdient haben mochte, dennoch
+klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er
+sah ein, daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich
+ihre besonderen Gründe dazu gehabt hatte, und schließlich
+– ausmalen kann ja ein jeder. Auch an Sina
+dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts
+weniger als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen
+hatte; und zum Überfluß fiel ihm da noch
+ein, daß er von ihr immerhin einen Korb erhalten
+und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem
+Gedanken blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt
+stehen und errötete vor Scham bis zu Tränen.
+Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem
+Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl
+und flog in einen Schneehaufen. Während er nun
+in dem losen, weichen Schnee kniete und sich wieder
+aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit
+geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen
+Seiten auf ihn los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer
+hatte sogar die Unverschämtheit, sich hinten an
+<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a>
+seinen Pelz zu hängen. Mit lautem Geschimpf schüttelte
+er die Hunde ab und trottete dann mit hinten zerrissenem
+Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst
+hier gewahr zu werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich
+kann kein Mensch, der sich in einem ihm unbekannten
+Stadtteil verirrt hat – und namentlich noch
+in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende
+gehen: immer wieder wird ihn eine unbekannte Macht
+in alle Querstraßen und Nebengassen einzubiegen zwingen.
+Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme aus
+der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig.
+</p>
+
+<p>
+„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte
+er im Innersten und spie aus vor Wut. „Und der Teufel
+hole euch alle samt euren edlen Gefühlen und
+Guadalquiviren!“
+</p>
+
+<p>
+Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem
+Augenblick anziehend gewesen sei.
+</p>
+
+<p>
+Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält
+beim Hause Marja Alexandrownas an. Als
+er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah, wunderte
+er sich.
+</p>
+
+<p>
+„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch
+sein?“ fragte er sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn
+heute eine Abendgesellschaft?“ Er erkundigte sich beim
+Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem
+Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der
+in Frack und weißer Binde erschienen sei – zurückgekehrt
+war und daß der Fürst zwar geruht habe, aus
+dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch
+nicht nach unten zu den Gästen herabgestiegen wäre.
+Mosgljäkoff begab sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauf
+<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a>
+zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer
+Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter
+fähig ist, sich zu allem zu entschließen, selbst zum
+schmählichsten Racheakt, ohne daran zu denken, daß er
+dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen
+wird.
+</p>
+
+<p>
+Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl
+sitzend vor seinem Reisenecessaire mit vollkommen kahlem
+Schädel, aber die Fliege und der Backenbart waren
+bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in
+den Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners
+und besonderen Lieblings, Iwan Pachomytschs, der sie
+mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger Miene bürstete.
+</p>
+
+<p>
+Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht
+recht zu sich gekommen zu sein schien, bot einen ziemlich
+traurigen Anblick dar: er schien ganz und gar erschlafft
+zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und
+sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal
+im Leben.
+</p>
+
+<p>
+„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“
+erkundigte sich dieser.
+</p>
+
+<p>
+„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte
+ihn der Fürst. „Ich war ein wenig eingeschlafen.
+Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich
+bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“
+</p>
+
+<p>
+„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich
+... ich werde Ihnen helfen, wenn Sie meiner Hilfe
+bedürfen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren!
+Ich habe doch ge–sagt, daß man die Tür
+<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a>
+verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt mir
+jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein
+Geheim–nis niemand aufdecken und niemand sagen
+wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“
+</p>
+
+<p>
+„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich
+denn für einen, der dazu fähig wäre?“ Mosgljäkoff
+wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken gewinnen
+...
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß
+du ein edler Mensch bist – mag es dann so sein, ich
+werde dich in Erstaunen setzen ... und dir meine Geheimnisse
+aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir
+mein Schnurrbart?“
+</p>
+
+<p>
+„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar!
+Wie haben Sie ihn nur so lange und so tadellos
+erhalten können?“
+</p>
+
+<p>
+„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der
+Fürst mit triumphierendem Blick auf Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber
+der Backenbart? Gestehen Sie es nur, Onkelchen, den
+färben Sie doch?“
+</p>
+
+<p>
+„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls
+vollkommen – fal–sch!“
+</p>
+
+<p>
+„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber
+das glaube ich nicht! Sie wollen sich über mich lustig
+machen!“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Parole d’honneur, mon ami!</span>“ beteuerte der
+Fürst stolz. „Und denk dir, alle, aber auch alle lassen
+sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida Matwejewna
+glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen
+selbst anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein
+<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a>
+Lieber, daß du mein Geheimnis bewahren wirst. Gib
+mir dein Ehrenwort.“
+</p>
+
+<p>
+„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten.
+Und glauben Sie denn wirklich, daß ich dazu
+fähig wäre?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit
+gefallen bin! Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal
+um–geworfen!“
+</p>
+
+<p>
+„Zum zweitenmal? Wann denn das?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden,
+nicht mehr. Ich fuhr ins Kloster, er aber warf
+die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz steht
+noch still davon.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ...
+wie gesagt, ich ... Also, wie gesagt, vielleicht habe
+ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur
+im Traum erlebt! Sie haben hier doch die ganze Zeit
+seit dem Mittag geschlafen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum
+gesehen. Aber, wie gesagt, ich habe alles behalten,
+was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von einem
+grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von
+einem Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit
+Hör–nern ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a>
+„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff,
+Onkelchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte
+mir von Napo–leon Buonaparte. Weißt du, mein
+Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon Buonaparte
+ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ...
+aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger
+Papst aussehen! Was findest du, mein Lieber, habe
+ich Ähnlichkeit von einem Papst?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, das wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en face</span>. Wie gesagt, ich
+finde es selbst auch, mein Lieber. Und ich sah ihn im
+Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie gesagt,
+er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein
+Witz–bold ... so daß er mich un–gemein erheitert
+hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff
+mit nachdenklichem Blick auf den Fürsten. Ihm war
+plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein Einfall,
+über den er sich vorläufig noch nicht recht
+klar war.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über
+Phi–lo–sophie. Und weißt du, mein Lieber, es tut
+mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng
+mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man
+ihn nicht an der Kette gehalten, so würde er sich wieder
+auf die anderen gestürzt haben. Ein toller Mensch!
+Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht
+so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte
+Insel gesetzt ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a>
+„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte
+Mosgljäkoff zerstreut.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te,
+aber auf eine, auf der nur vernünf–tige Menschen
+wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene Zerstreu–ungen
+für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett
+... und alles auf Kosten des Staates. Spazieren
+zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur unter Auf–sicht
+erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder entschlüpft.
+Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben.
+Nun, dann würde man ihm eben täglich diese Pasteten
+gebacken haben. Ich hätte sozusagen väterlich für ihn
+gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht gehabt! ...“
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst
+halberwachten Greises zu und trommelte mit seinen
+Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch auf
+die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst
+nicht, weshalb er es wollte, doch ein unbezwingliches
+Rachegelüst kochte in seiner Brust. Plötzlich stieß der
+Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei der
+Überraschung.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich habe ja ganz vergessen, dir
+zu sagen! Denk doch, ich habe heute einen Heiratsantrag
+gemacht!“
+</p>
+
+<p>
+„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff
+ungemein belebt.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du
+gehst schon? Nun gut. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est une charmante personne
+... Mais</span> ... ich will dir gestehen, mein
+Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe
+ich es ein. Ach, Gott im Himmel!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a>
+„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie
+es denn getan?“
+</p>
+
+<p>
+„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal
+genau, wann. Oder sollte mir das nur geträumt
+haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch ist!“
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine
+glänzende Idee!
+</p>
+
+<p>
+„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag
+gemacht, Onkelchen?“ fragte er ungeduldig.
+</p>
+
+<p>
+„Der Tochter des Hauses hier, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span> ...
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cette belle personne</span> ... wie gesagt, ich habe vergessen,
+wie sie heißt. Nur, sieh mal, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, ich
+kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt
+tun?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten,
+wenn Sie heiraten wollten. Aber erlauben Sie
+eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch überzeugt,
+daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie
+das, daß sie zum zweiten Mal mit der Kutsche umfielen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir
+auch nur geträumt! ... Jetzt weiß ich ja gar nicht,
+wie ich mich dort verhal–ten soll! ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon ami</span>,
+auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren,
+ob ich bei ihr angesprochen habe oder nicht?
+Denn sonst, denk doch nur, in welcher Lage ich jetzt
+bin!“
+</p>
+
+<p>
+„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt
+nichts zu erfahren.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a>
+„Wieso?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt
+hat.“
+</p>
+
+<p>
+„Der Meinung bin ich auch, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, um so
+mehr, als ich oft ähn–liche Träume habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie
+zum Frühstück ein wenig getrunken haben, dann zum
+Mittag wieder und schließlich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht
+rührt es auch nur da–von her.“
+</p>
+
+<p>
+„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt
+gewesen sein mochten, einen so unüberlegten
+Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit machen
+können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein
+überaus vernünftiger Mensch und ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja.“
+</p>
+
+<p>
+„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das
+Ihre Verwandten erführen, die Ihnen doch ohnehin
+nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus.
+„Was würden die dazu sagen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann
+schreien, daß Sie es nicht bei vollem Verstande hätten
+tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß man Sie
+unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen
+habe, und zu guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren,
+wo Sie unter Aufsicht leben müßten.“
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den
+größten Schrecken einjagen konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein
+Espenblatt. „Würde man mich wirklich einsperren!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a>
+„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen:
+wie hätten Sie einen so unüberlegten Heiratsantrag
+in Wirklichkeit machen können? Sie kennen doch
+Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent,
+daß Sie das alles nur im Traum gesehen haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“
+bestätigte der erschrockene Fürst. „Nein, wie vernünftig
+du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke dir
+von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“
+</p>
+
+<p>
+„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen
+habe. Denken Sie doch nur: ohne mich hätten Sie
+sich tatsächlich täuschen, hätten Sie glauben können,
+daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr angesprochen
+haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam
+zu ihr nach unten gegangen! Denken Sie doch
+nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... gefährlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig
+Jahre alt ist; niemand will sie nehmen
+und plötzlich kommen Sie, ein reicher und vornehmer
+Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch
+sofort zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich
+angesprochen haben: und verkuppeln Sie womöglich
+mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie
+vielleicht bald sterben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wirklich?“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch
+mit Ihren Vorzügen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit
+...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a>
+„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch
+eine ganz andere Partie machen, wenn Sie wirklich aus
+irgend einem Grund heiraten müßten. Und denken
+Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen
+würden!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, sie würden mich ja dann ganz
+und gar vernichten! Ich habe von ihnen schon soviel
+Böses und Unheimliches erfahren ... Denk dir, ich
+vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt
+bringen wollten. Nun sag doch bloß, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, das
+geht doch nicht! Nun, was würde ich denn dort in der
+Ir–ren–anstalt an–fangen?“
+</p>
+
+<p>
+„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich
+Sie jetzt auch nicht verlassen, wenn Sie nach unten
+gehen. Dort sind Gäste.“
+</p>
+
+<p>
+„Gäste? Gott im Himmel!“
+</p>
+
+<p>
+„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde
+bei Ihnen sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du
+bist geradezu mein Retter! Aber weißt du: ich werde
+lieber fortfahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr.
+Heute aber müssen Sie sich noch von allen verabschieden
+und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie
+gesagt, zum Pater Missaïl ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, mon ami</span>,
+wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“
+</p>
+
+<p>
+„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei
+Ihnen sein. Und schließlich, was man Ihnen auch
+sagen oder zu verstehen geben sollte, bleiben Sie dabei,
+<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a>
+daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja
+auch tatsächlich verhält ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt
+du, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, es war doch ein be–zau–bernder
+Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du,
+welche Formen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt
+nach unten und Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“
+rief der Fürst erschrocken aus.
+</p>
+
+<p>
+„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und
+da ist es besser, wenn wir nicht zusammen erscheinen,
+zuerst ich, dann Sie.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen
+Gedanken niederschreiben!“
+</p>
+
+<p>
+„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken
+nieder und kommen Sie dann ohne zu säumen.
+Morgen früh aber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt
+zum Prie–stermönch! Charmant, charmant!
+Aber weißt du, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, sie ist wun–derbar schön
+... diese Formen ... und wenn ich nun einmal
+unbedingt heiraten müßte, so würde ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun,
+auf Wiedersehen, mein Lieber, ich werde sogleich ...
+ich muß nur noch etwas niederschreiben. A pro–pos,
+ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren
+gelesen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a>
+„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich
+fragen wollte.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen.
+Auf Wiedersehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Auf Wiedersehen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, auf Wiedersehen!
+Nur war es doch ein ent–zückender Traum, ein ent–zückender
+Traum! ...“
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-12">
+<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a>
+XII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">ir</span> kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch
+Praskowja Iljinitschna wollte kommen, und auch Luisa
+Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna Nikolajewna,
+in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte
+sie sich rings um.
+</p>
+
+<p>
+Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich
+gekleidet und sie wußte es selbst vorzüglich, daß sie
+hübsch war. Sie war überzeugt, in einer Ecke des
+Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken.
+</p>
+
+<p>
+„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna
+wollten kommen,“ fügte Natalja Dmitrijewna
+hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen –
+sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen
+hatten – und die unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte.
+</p>
+
+<p>
+Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen,
+das ganz auf dem Hinterkopf saß. Seit drei Wochen
+war sie die beste Freundin Anna Nikolajewnas, der sie
+schon seit langem den Hof gemacht hatte und die sie
+allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte
+hinunterschlucken können – samt allen Knochen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann
+<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a>
+wohl sagen – Entzücken darüber, Sie beide endlich
+einmal bei mir zu sehen und noch dazu am Abend,“ flötete
+Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten
+Schreck erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches
+Wunder Sie heute zu mir gerufen hat, während
+ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese Ehre
+aufgegeben! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich
+sind!“ sagte Natalja Dmitrijewna süßlich, verschämt,
+geziert und fast piepend, was einen äußerst
+interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, ma charmante</span> Marja Alexandrowna,“
+zwitscherte wieder Anna Nikolajewna dazwischen, „wir
+müssen doch endlich mit unseren Vorbereitungen zu diesem
+Theater ins reine kommen! Heute noch sagte
+Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe
+ihn sehr, daß wir nicht weiter kämen und uns
+immer nur stritten. Und da versammelten wir uns denn
+heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja
+Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja
+Dmitrijewna hat auch die anderen benachrichtigt.
+Alle werden kommen. Und so können wir uns denn beraten
+und die Sache kommt dann endlich in Gang ...
+Dann darf man auch nicht mehr sagen, daß wir uns
+nur streiten, nicht wahr, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>?“ fügte sie kokett
+hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh
+da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit
+jedem Tag schöner!“
+</p>
+
+<p>
+Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina
+entgegen, um sie zu küssen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu
+<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a>
+verschönen,“ meinte süß Natalja Dmitrijewna und rieb
+ihre großen Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige
+Theater hatte ich ganz vergessen! Sie scheinen,
+weiß Gott, klüger geworden zu sein!“ dachte Marja
+Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna
+Nikolajewna fort, „daß jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen
+weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo gab es ja
+früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt
+und wissen jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen,
+ein Vorhang und sogar Kostüme vorhanden sind. Der
+Fürst war heute bei mir, aber ich war so überrascht,
+daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir
+hier das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden
+uns beistehen und der Fürst wird uns den ganzen Plunder
+herschicken – das werden Sie sehen! Denn bei
+wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse
+bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch
+den Fürsten für unsere Aufführung gewinnen. Er muß
+unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist doch für die
+Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen,
+– er ist doch so liebenswürdig und mit allem
+stets einverstanden. Dann würde alles wundervoll
+gehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann
+ihn ja doch jede beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte
+Natalja Dmitrijewna zweideutig.
+</p>
+
+<p>
+Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna
+nicht betrogen: in jedem Augenblick kamen neue Gäste.
+Die Hausfrau konnte kaum eine jede der eintreffenden
+<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a>
+Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens
+bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder
+dem guten Ton in solchen Fällen verlangt werden.
+</p>
+
+<p>
+Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben.
+Ich sage nur, daß einer jeden ganz besondere
+Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen Gesichtern
+konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte
+Ungeduld lesen. Einige von ihnen waren entschieden
+mit der Absicht gekommen, Augenzeugen eines unerhörten
+Skandals zu sein, und sie würden sehr ungehalten
+gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen
+wäre. Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig,
+doch Marja Alexandrowna hatte sich nichtsdestoweniger
+auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht. Fragen
+nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend
+war eine jede dieser Fragen sehr natürlich,
+aber dennoch enthielt jede eine leise Anspielung, verriet
+jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht;
+man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den
+Flügel. Sina wurde gebeten, etwas zu singen, sie aber
+antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund sei. Ihr
+bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen.
+Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und
+gleichzeitig wurde auch noch nach anderem gefragt und
+anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte sich
+auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen
+ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna
+verzehnfachte sich: sie sah alles, selbst das, was in der
+fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede Dame sprach,
+obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete
+unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte
+<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a>
+nicht lange nach Worten. Sie zitterte für Sina und
+wunderte sich, daß sie noch nicht fortging, wie sie es
+sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte. Auch
+Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen
+bemerkt worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich
+alle zum besten zu haben, um auf diese
+Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch
+hofften sie, von dem dummen und aufrichtigen Gatten
+manches Nähere zu erfahren. Marja Alexandrowna
+beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“.
+Zudem antwortete er auf alle Fragen nur mit einem
+„Hm!“, tat es aber mit einer so unglücklichen und
+jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der Haut
+zu fahren glaubte.
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch
+will mit uns überhaupt nicht mehr sprechen!“ rief ihr
+ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu, das entschieden
+nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen
+Sie ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein
+muß.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was
+heute mit ihm geschehen ist,“ antwortete Marja Alexandrowna,
+die ihr Gespräch mit Anna Nikolajewna und
+Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So
+verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen!
+Auch mit mir spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest
+du denn Felissata Nikolajewna nicht, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher
+Athanase</span>?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch
+selbst ...“ stotterte der verwunderte Gatte. Er stand
+in diesem Augenblick gerade am brennenden Kamin,
+<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a>
+hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst
+ersonnen – untergebracht und schickte sich an, Tee zu
+trinken. Die Fragen der Damen verwirrten ihn dermaßen,
+daß er wie ein Mädchen errötete. Als er jedoch
+die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing
+er einen so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß
+er vor Schreck fast die Besinnung verlor. Da er nicht
+wußte, was er tun sollte, andererseits aber sein Vergehen
+gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen
+wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck
+Tee. Der Tee war aber heiß, und da er einen unverhältnismäßig
+großen Schluck genommen hatte, verbrannte
+er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen,
+der Tee ging in die Luftröhre, und er begann darauf so
+heftig zu husten, daß er das Zimmer verlassen mußte,
+während die Anwesenden in staunender Verständnislosigkeit
+zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau
+war alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits
+alles wußten und sich mit den schlimmsten Absichten bei
+ihr versammelt hatten. Die Situation war gefährlich:
+sie konnten in ihrer Gegenwart den schwachsinnigen
+Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme
+Dinge durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten
+ihr sogar den Fürsten streitig machen, konnten ihn ihr
+noch am selben Abend fortnehmen, d. h. einfach mitlocken.
+Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte
+ihr aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht:
+in der Tür erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff
+glaubte. Sie hätte alles eher als ihn an diesem
+Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie
+gestochen worden.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a>
+Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien
+beim Anblick der vielen Gäste etwas verwirrt zu werden.
+Er konnte seine Aufregung nicht bezwingen: man
+sah sie ihm wenigstens deutlich an.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen
+mehrere Damen aus.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch!
+Aber wie, Marja Alexandrowna, Sie sagten
+doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde gesagt,
+daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten,
+Pawel Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem
+etwas verzerrten Lächeln. „Ein sonderbarer Ausdruck!
+Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich verberge
+mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen
+zu verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick
+auf Marja Alexandrowna hinzu.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna erzitterte.
+</p>
+
+<p>
+„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“
+fragte sie sich und sah ihn prüfend von der Seite
+an. „Das wäre das Schlimmste ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den
+Abschied erhalten haben ... im Staatsdienst, versteht
+sich?“ fragte die naseweise Felissata Michailowna und
+blickte ihm spöttisch offen in die Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe
+ganz einfach umgesattelt. Ich lasse mich nach Petersburg
+versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff trocken.
+</p>
+
+<p>
+„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr
+Felissata Michailowna fort. „Und wir erschraken schon,
+als wir hörten, daß Sie sich um eine Anstellung hier
+<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a>
+in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die
+Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man
+sich versieht, fliegt man.“
+</p>
+
+<p>
+„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule;
+dort gäbe es noch eine Vakanz,“ bemerkte Natalja
+Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna
+verlegen wurde und ihre boshafte Freundin
+heimlich mit dem Fuß stieß.
+</p>
+
+<p>
+„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch
+einwilligen würde, die Anstellung eines Kreisschullehrers
+anzunehmen?“ fragte Felissata Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er
+ihnen den Rücken und wollte fortgehen, stieß aber im
+selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch zusammen,
+der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff
+reichte ihm dummerweise nicht die Hand und
+verbeugte sich nur spöttisch auffallend tief vor ihm.
+Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr haßerfüllt
+in die Augen und raunte ihr zu:
+</p>
+
+<p>
+„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken.
+Warten Sie, heute abend noch werde ich Ihnen
+zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch
+jetzt,“ antwortete Sina mit lauter Stimme und maß
+ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick
+vom Kopf bis zu den Füßen.
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute
+Antwort hatte ihn denn doch erschreckt.
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich
+schließlich Marja Alexandrowna zu fragen.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a>
+„Nein, ich komme von meinem Onkel.“
+</p>
+
+<p>
+„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben
+beim Fürsten gewesen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht?
+Und uns wurde gesagt, daß er noch schlafe!“
+Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert, und der
+Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu
+durchbohrend.
+</p>
+
+<p>
+„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja
+Dmitrijewna,“ antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht
+und, Gott sei Dank, wieder bei vollem Verstande.
+Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst
+bei Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch
+endgültig, so daß er beinahe seinen letzten Verstand verlor,
+der ja bei ihm ohnehin nicht groß ist. Jetzt aber haben
+wir uns beide zum Glück aussprechen können, und
+so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er
+wird sogleich erscheinen, um sich von Ihnen, Marja
+Alexandrowna, zu verabschieden und für Ihre Gastfreundschaft
+zu danken. Morgen aber werden wir in
+aller Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich
+ihn persönlich nach Duchanowo begleiten, um ein abermaliges
+Umgeworfenwerden zu verhüten. In Duchanowo
+wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna
+empfangen – die bis dahin unfehlbar aus
+Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann ist es natürlich
+ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise
+unternimmt – dafür garantiere ich.“
+</p>
+
+<p>
+Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff
+mit aufrichtigem Haß zu Marja Alexandrowna hinüber.
+Diese saß, als hätte sie vor Schreck die Sprache verloren.
+<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a>
+Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine
+Heldin zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort?
+Wie denn das?“ fragte Natalja Dmitrijewna, sich an
+Marja Alexandrowna wendend.
+</p>
+
+<p>
+„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen
+Seiten. „Und wir haben gehört ... das ist doch wirklich
+sonderbar!“
+</p>
+
+<p>
+Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten
+sollte. Da wurde die allgemeine Aufmerksamkeit
+plötzlich durch den ungewöhnlichsten Zwischenfall abgelenkt:
+aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch
+und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich
+stürzte unvermutet unverhofft Ssofja Petrowna
+Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon.
+</p>
+
+<p>
+Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste
+Dame in ganz Mordassoff: so exzentrisch war
+sie, daß die Gesellschaft der Stadt in jüngster Zeit beschlossen
+hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß
+noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um
+sieben Uhr ein paar Gläschen kippte – für den Magen,
+wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung befand
+sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten
+Stimmung – gelinde ausgedrückt. Und in dieser
+Stimmung stürzte sie jetzt in den Salon Marja Alexandrownas.
+</p>
+
+<p>
+„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“
+schrie sie, „also so gehen Sie mit mir um! Beunruhigen
+Sie sich nicht, ich bin nur auf einen Augenblick
+gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen.
+Ich bin absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen,
+<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a>
+ob es wahr ist, was man mir erzählt hat. Ah!
+also Sie geben Bälle, Banketts, feiern Verlobungen,
+Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und
+Strümpfe stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen,
+nur ich nicht! Vorhin aber war ich für Sie ‚liebe
+Freundin‘ und ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>‘ als ich herkam, um zu erzählen,
+was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten
+gemacht wurde. Und jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna,
+über die Sie vorhin so geschimpft haben, und
+die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause.
+Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich
+brauche nicht Ihre Schokolade <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la santé</span> zu zehn
+Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause öfter als Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja
+Alexandrowna aus, hochrot vor Zorn, „was ist heute
+mit Ihnen? So kommen Sie doch zur Besinnung, wenigstens!“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna,
+ich habe alles, alles erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna
+mit ihrer schrillen, kreischenden Stimme, umringt von
+allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene zu
+ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre
+holde Nastassja ist selbst zu mir gelaufen, um mir alles
+zu erzählen. Sie haben diesen Jammerkerl, diesen Fürsten,
+eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und
+dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja,
+bei Ihrer Tochter, die niemand mehr heiraten will, und
+jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich ein, daß auch Sie
+mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger Vogel
+<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a>
+geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen
+– daß Gott erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht,
+ich selbst bin die Frau eines Obersten! Und wenn Sie
+mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so pfeife ich
+auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen
+verkehrt als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij
+diniert, und der Oberkommissar Kurotschkin hat
+bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre Einladung
+brauchte, – Gott bewahre! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig
+ruhig an, obgleich sie aus der Haut zu fahren
+meinte, „Sie können mir glauben, daß man nicht
+in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt
+und noch dazu in einem <em>solchen Zustande</em>,
+und wenn Sie mich jetzt nicht sofort von Ihrer Anwesenheit
+und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich
+unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten
+befehlen, mich hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich
+nicht, ich werde selbst den Weg hinausfinden. Leben
+Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber,
+Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen:
+ich pfeife auf Ihre Schokolade! Ich bin zwar
+nicht hierher eingeladen worden, habe aber auch nicht
+vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen
+Sie denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff
+hat sich inzwischen das Bein gebrochen, ist soeben
+erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie,
+Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka
+nicht sagen, rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie
+nicht jeden Tag unter meinen Fenstern brüllt, so werde
+<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a>
+<em>ich</em> Ihrer Matrjoschka die Beine brechen. Leben Sie
+wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! –
+Daß Gott erbarm’!“
+</p>
+
+<p>
+Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja
+Alexandrowna wußte nicht, was sie tun oder sagen
+sollte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich
+Natalja Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Aber immerhin – diese Frechheit!“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Quelle abominable femme!</span>“
+</p>
+
+<p>
+„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“
+</p>
+
+<p>
+„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung?
+Was ist das für eine Verlobung?“ fragte Felissata
+Michailowna spöttisch.
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich
+Marja Alexandrowna. „Und diese Ungeheuer sind es
+ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte verbreiten!
+Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß
+solche Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, –
+nein, am erstaunlichsten ist, daß man diese Damen nicht
+entbehren zu können scheint, daß man sie überhaupt anhört,
+sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">unisono</span>.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Gott! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ce cher prince!</span>“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich
+die ganze Wahrheit erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna
+ihrer Nachbarin zu.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-13">
+<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a>
+XIII.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf
+den Lippen. Die ganze Aufregung, in die Mosgljäkoff
+vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz versetzt hatte,
+verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz
+wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden
+Freuderufen. Im allgemeinen wurde unser
+Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen meist
+sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie
+mit seiner durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu
+zerstreuen. Felissata Michailowna hatte am Vormittag
+sogar behauptet – natürlich nur scherzweise –, daß sie
+bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn es ihm angenehm
+wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter
+Herr, ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna
+verschlang ihn geradezu mit den Blicken, bemüht, wenigstens
+etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu
+erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen
+würde. Eines war jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte
+etwas Gefährliches angerichtet. Ihr ganzer Plan war
+stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten
+war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe
+wie immer.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben
+<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a>
+Sie erwartet und erwartet!“ riefen einige der Damen
+aus.
+</p>
+
+<p>
+„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“
+flöteten andere.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der
+Fürst und setzte sich an den Tisch, auf dem der Ssamowar
+stand. Die Damen umringten ihn im Augenblick.
+Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna
+blieben bei der Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch
+lächelte ehrerbietig; Mosgljäkoff lächelte gleichfalls
+und blickte herausfordernd Sina an, die ihm jedoch
+nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat
+zum Vater und setzte sich neben ihn am Kamin in einen
+Lehnstuhl.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie
+uns verlassen wollen?“ fragte Felissata Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich
+ins Aus–land fahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles
+im Chor, „was ist Ihnen eingefallen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt,
+„und wissen Sie, ich will namentlich wegen der neuen
+Ideen hin–fahren.“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher
+neuen Ideen?“ fragten die Damen, die untereinander
+Blicke austauschten.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der
+Fürst noch einmal, offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren
+alle wegen der neuen Ideen hin. Und so will auch
+ich mir neue Ide–en an–legen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten,
+<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a>
+mein bester Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff,
+der sich augenscheinlich vor den Damen durch geistreiche
+Bemerkungen auszeichnen wollte.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“
+antwortete der Onkel überraschenderweise. „Ich habe
+früher in alten Zeiten tatsächlich zu einer Frei–maurerloge
+gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich
+habe sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt.
+Ich beab–sichtigte damals, viel für die zeitgenössische
+Aufklärung zu tun und in Frank–furt beschloß
+ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land
+mitgenommen hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner
+Verwun–derung selbst von mir fort. Er war ein
+sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich
+ihm einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit
+einer Mamsell auf den Boulevards. Er sah mich an
+und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die Mamsell
+war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal,
+wenn Sie ins Ausland fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“
+rief Mosgljäkoff laut auflachend aus.
+</p>
+
+<p>
+„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten,
+mein Lieber!“ antwortete der Fürst ohne zu zögern. „Es
+ist gerade meine Absicht, sie alle aus Leibeigenen zu
+freien Bauern zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch
+alle im Augenblick von Ihnen fortlaufen, und wer wird
+Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“ wandte Felissata
+Michailowna ein.
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt
+Anna Nikolajewna.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a>
+„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“
+fragte der Fürst verwundert.
+</p>
+
+<p>
+„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen
+und Sie allein lassen!“ versicherte auch Natalja
+Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht
+freigeben. Wie gesagt, es war von mir auch nur so
+gemeint.“
+</p>
+
+<p>
+„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“
+meinte Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört
+und beobachtet. Es schien ihr, daß der Fürst sie vollkommen
+vergessen hatte ...
+</p>
+
+<p>
+„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll,
+„daß ich Ihnen meinen Mann vorstelle – Afanassij
+Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom Gut hergekommen,
+sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir
+abgestiegen seien.“
+</p>
+
+<p>
+Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine
+strammere Haltung an. Er glaubte, daß man ihn gelobt
+habe.
+</p>
+
+<p>
+„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij
+Matwejewitsch! Erlauben Sie, mir fällt etwas
+ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja, das ist
+dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant,
+freut mich wie gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte
+sich an Mosgljäkoff – „das ist doch derselbe, weißt
+du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das
+doch? Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt
+die Frau ... nun ja, auch die Frau geht irgend wohin.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a>
+„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür
+hinaus, da fährt die Frau schon aus dem Haus‘ –
+das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen
+Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna
+auf.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se
+es immer. Charmant, charmant! Und Sie
+sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen
+zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch,
+ohne sich vom Stuhl zu erheben, die Hand.
+„Nun und wie geht es mit Ihrer Gesundheit?“
+</p>
+
+<p>
+„Hm ...“
+</p>
+
+<p>
+„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete
+Marja Alexandrowna eilig.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist.
+Und Sie leben immer auf dem Gute? Nun ja, es
+freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die
+ganze Zeit freut er sich ...“
+</p>
+
+<p>
+Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich
+und klappte sogar die Absätze zusammen. Nach der
+letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht mehr an
+sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise
+in lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob
+sich. Die Damen wieherten förmlich vor Vergnügen.
+Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden Augen
+Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor
+Wut. Es war höchste Zeit, dem Gespräch eine andere
+Wendung zu geben.
+</p>
+
+<p>
+„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte
+sie sich mit honigsüßer Stimme, während sie gleichzeitig
+durch einen zornigen Blick ihrem Gatten zu verstehen
+<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a>
+gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der
+Fürst, „und wissen Sie, ich habe einen ent–zück–enden
+Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“
+</p>
+
+<p>
+„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn
+man Träume erzählt,“ rief Felissata Michailowna aus.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“
+stimmte ihr Natalja Dmitrijewna bei.
+</p>
+
+<p>
+„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der
+Fürst mit süßem Lächeln, „dafür aber ist er das größte
+Geheim–nis!“
+</p>
+
+<p>
+„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber
+dann muß es ja ein ganz außergewöhnlicher Traum
+sein?“ fragte Anna Nikolajewna.
+</p>
+
+<p>
+„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der
+Fürst, der mit Vergnügen die Neugier der Damen
+reizte.
+</p>
+
+<p>
+„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend
+einer Schönheit auf den Knien gelegen und eine Liebeserklärung
+gemacht hat,“ rief Felissata Michailowna
+aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts
+anderes ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen
+Sie es nur!“
+</p>
+
+<p>
+„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde
+von allen Seiten gebeten.
+</p>
+
+<p>
+Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne
+diese Ausrufe. Die Annahme Felissata Michailownas
+schmeichelte seiner Eigenliebe ganz außerordentlich.
+Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen geleckt.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a>
+„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das
+größ–te Geheim–nis ist,“ antwortete er schließlich,
+„so bin ich doch gezwungen, einzugestehen, daß Sie,
+meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung
+vollkom–men erra–ten haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert
+aus. „Nun, Fürst! Jetzt machen Sie, was Sie wollen,
+aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese Schönheit
+ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Das müssen Sie unbedingt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ist es eine hiesige?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <em>lieber</em> Fürst, sagen Sie es uns doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns,
+sagen Sie es uns!“ ertönte es von allen Seiten.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mesdames, mesdames!</span> ... Wenn Sie es
+wirk–lich so nachdrücklich wissen wollen, so kann ich
+Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das bezau–berndste
+und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen
+ist von allen, die ich kenne!“
+</p>
+
+<p>
+Der Fürst zerfloß vor Wonne.
+</p>
+
+<p>
+„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige!
+Wer könnte das sein?“ fragten sich die Damen, die bedeutsame
+Blicke und Winke austauschten.
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste
+Schönheit gilt,“ sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre
+roten Riesenhände und blickte mit ihren Katzenaugen
+vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch
+die Blicke aller anderen Sina zu.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume
+haben – weshalb heiraten Sie dann nicht in Wirklichkeit?“
+<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a>
+fragte die naseweise Felissata Michailowna
+mit einem vielsagenden Blick ringsum.
+</p>
+
+<p>
+„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“
+griff eine andere Dame auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <em>lieber</em> Fürst, heiraten Sie doch, bitte,
+bitte!“
+</p>
+
+<p>
+„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von
+allen Seiten. „Weshalb sollen Sie denn nicht heiraten?
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“
+meinte auch der Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz
+konfus geworden war.
+</p>
+
+<p>
+„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt,
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich bin nicht mehr fähig zu heiraten,
+und nachdem ich hier einen bezau–bernden Abend bei
+unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe,
+werde ich mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl
+in die Ein–siedelei begeben und von dort dann
+direkt ins Ausland fahren, um bequemer die Fortschritte
+der europä–ischen Bildung verfol–gen zu
+können.“
+</p>
+
+<p>
+Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch
+Marja Alexandrowna hatte sich schon entschlossen. Bis
+hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft, denn sie
+sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich
+begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige
+Hydra mit einem einzigen Schlage zu besiegen.
+Majestätisch erhob sie sich aus ihrem Lehnstuhl, trat
+mit festen Schritten an den Tisch und maß mit stolzem
+<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a>
+Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung
+leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen,
+alle diese gehässigen Klatschbasen vor den Kopf
+zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff einfach zu vernichten,
+wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem einzigen
+entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen
+verlorenen Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder
+zu erobern. Versteht sich, dazu gehörte eine ungewöhnliche
+kalte Frechheit, um die aber war Marja Alexandrowna
+nie verlegen.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mesdames</span>,“ hub sie feierlich und majestätisch
+an (Marja Alexandrowna liebte überhaupt sehr Feierlichkeit),
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich habe lange Ihrem Gespräch
+zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und
+ich finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich
+kommt, auch ein Wort zu sagen. Wie Sie wissen, haben
+wir uns hier alle ganz zufällig zusammengefunden –
+und das freut mich so unsäglich, so unsäglich! Niemals
+würde ich mich entschlossen haben, das wichtige Familiengeheimnis
+als erste allen kund zu tun und es früher
+zu verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl
+verlangt. Vor allem bitte ich deshalb meinen lieben
+Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber, daß er selbst
+durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand
+aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken
+kommen läßt, daß ihm die formelle und feierliche Mitteilung
+unseres Familiengeheimnisses nicht nur keineswegs
+unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu
+gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche
+mich doch nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut
+<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a>
+mich, freut mich sehr ...“ sagte der Fürst, der nicht
+im geringsten begriff, wovon die Rede war.
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks
+einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Sie
+übersah die ganze Gesellschaft: alle Gäste horchten mit
+einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte. Mosgljäkoff
+zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich,
+und Afanassij Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung
+eines außergewöhnlichen Ereignisses, auf alle
+Fälle.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen
+mein Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute,
+nach dem Mittagessen hat der Fürst, hingerissen von
+der Schönheit und ... den Vorzügen meiner Tochter,
+mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten.
+Fürst!“ schloß sie mit einer Stimme, die von Tränen
+und Aufregung zitterte, „Sie dürfen nicht, Sie können
+mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein!
+Nur die übergroße Freude hat es vermocht, meinem
+Herzen vorzeitig dieses liebe Geheimnis zu entreißen
+und ... welche Mutter würde mich deshalb verurteilen?“
+</p>
+
+<p>
+Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern,
+den Marja Alexandrownas unerwartete Mitteilung
+machte. Alle schienen erstarrt zu sein vor Verwunderung.
+Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja
+Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen,
+daß sie bereits alles wußten, die sie mit der vorzeitigen
+Aufdeckung des Geheimnisses – und zwar nur in der
+Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren
+jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet.
+<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a>
+Und dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht
+einer inneren Kraft: „Folglich wird der Fürst tatsächlich
+freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er nicht in
+die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen
+worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks
+verheiratet? Folglich fürchtet Marja Alexandrowna
+nichts und niemanden? Folglich läßt sich diese
+Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet
+doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick
+hörte man allgemeines Getuschel, das sich dann
+plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste stürzte Natalja
+Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in
+ihre Arme zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna
+und dieser Felissata Michailowna. Alle sprangen von
+ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in ein unentwirrbares
+Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor
+Wut. Sina wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar
+an Afanassij Matwejewitsch klammerte man sich.
+Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus
+und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust.
+Nur der Fürst allein blickte mit einer gewissen sonderbaren
+Verwunderung auf die ganze Szene, wenn er
+auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens
+gefiel ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die
+Mutter ihr Kind umarmte, da zog er sein Schnupftuch
+hervor und wischte sich eine Träne aus seinem Auge.
+Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit
+Glückwünschen.
+</p>
+
+<p>
+„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte
+es von allen Seiten.
+</p>
+
+<p>
+„Also Sie heiraten?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a>
+„Sie heiraten also wirklich?“
+</p>
+
+<p>
+„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit
+den Glückwünschen und der Aufregung sehr zufrieden
+war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am meisten Ihre
+liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen
+und die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals.
+Charmant, charmant! Sie haben mich sogar bis zu
+Trä–nen gerührt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das
+Geschrei aller anderen Felissata Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon
+er von allen Seiten beständig unterbrochen wurde,
+„am meisten wundert es mich, daß Marja Iwa–now–na,
+unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so
+frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten
+hat. Ganz als hätte sie ihn an meiner Stelle gesehen!
+Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat! Auf–fallender
+Scharf–blick!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“
+</p>
+
+<p>
+„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“
+drängten die ihn umringenden Damen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das
+Geheimnis aufzudecken!“ sagte Marja Alexandrowna
+entschlossen und streng. „Ich habe Ihre feinfühlige
+Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit
+dem Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu
+veröffentlichen wünschten. Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, es ist
+wahr: heute ist der Fürst <em>im wachen Zustande</em>
+und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet
+<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a>
+und hat ihr in aller Form einen Heiratsantrag gemacht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar
+mit denselben Neben–um–ständen,“ bestätigte
+der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort, sich mit ungewöhnlicher
+Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich
+noch nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich
+schwöre Ihnen, daß ich nie–mals Ihren Namen zu
+nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren vor
+mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder
+Traum, und ich schätze mich dop–pelt glücklich,
+daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann. Charmant!
+Charmant! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er
+redet immer noch von einem Traum?“ flüsterte Anna
+Nikolajewna der erregten und etwas bleichen Marja
+Alexandrowna zu.
+</p>
+
+<p>
+Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das
+Herz auch ohne diese Fragen.
+</p>
+
+<p>
+„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander
+und tauschten vielsagende Blicke aus.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna
+mit schmerzlich verzogenem Lächeln an, „ich
+kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in Erstaunen
+setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die
+Sie da haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im
+Glauben, daß Sie nur scherzten, aber ... Wenn es
+ein Scherz sein soll, so ist er zum mindesten sehr unangebracht
+... Ich werde ... ich will es Ihrer Zerstreutheit
+zuschreiben, aber ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a>
+„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“
+meinte auch Natalja Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“
+bestätigte der Fürst, der immer noch nicht begriff, um
+was es sich handelte und was man von ihm eigentlich
+wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich
+eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet
+man mich ein, in Petersburg war es, zu einer Ein–sargung,
+es war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une maison bourgeoise mais
+honnette</span>, und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest.
+Das Namensfest war aber schon vor einer Woche
+gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett für
+die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein
+eh–renwerter, bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so
+daß ich mich nur wun–derte. Und ich wuß–te gar
+nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche
+Geschichten zu tun!“ unterbrach ihn Marja Alexandrowna
+ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht nötig,
+Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr
+selbst hier an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht.
+Ich habe Sie nicht dazu veranlaßt ... Ich
+kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ... Versteht
+sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber
+ich schob ihn auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich
+bin Mutter ... sie ist mein Kind ... Sie haben
+soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte,
+Sie wollten in der Form einer Allegorie von Ihrer
+Verlobung erzählen. Ich weiß sehr wohl, daß man
+Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne
+sogar, wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst,
+<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a>
+erklären Sie sich schneller, ausführlicher. Solche
+Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause
+erlauben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in
+einem vornehmen Hause erlauben,“ pflichtete ihr der
+Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er doch etwas
+unruhig.
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage,
+Fürst! Ich ersuche Sie, mir entscheidend zu antworten:
+bestätigen Sie, bestätigen Sie es hier vor allen Anwesenden,
+daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter
+angehalten haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt,
+ich habe das alles schon erzählt und Felissata Jakowlewna
+hat meinen Traum vollkom–men erraten.“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna
+wütend aus. „Es war kein Traum, sondern Wirklichkeit,
+Fürst, Wirklichkeit, hören Sie: Wirklichkeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert
+aus und erhob sich vor Überraschung. „Da hörst
+du’s, mein Lieber! Was du vorhin pro–phezei–test,
+ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff zu.
+„Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna,
+daß Sie sich täuschen! Ich bin voll–kom–men
+ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt hat!“
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die
+Hände zusammen.
+</p>
+
+<p>
+„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“
+mischte sich Natalja Dmitrijewna ein, „der Fürst hat
+es vielleicht nur vergessen ... er wird sich dessen wieder
+entsinnen.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a>
+„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“
+entgegnete Marja Alexandrowna unwillig, „kann
+man denn so etwas vergessen? Wer vergißt denn so
+etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich
+über uns lustig machen? Oder wollen Sie einem der
+Gecken nachäffen, wie sie zur Zeit der Régence in der
+Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend
+einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß
+es Ihren Jahren nicht ansteht, wird es Ihnen auch
+nicht gelingen! Meine Tochter ist keine französische
+Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden
+und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da
+sind Sie hier vor ihr niedergekniet und haben ihr einen
+Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere doch nicht!
+Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe
+ich oder schlafe ich nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht
+...“ antwortete der verwirrte Fürst. „Ich will nur
+sagen, daß ich jetzt, glaube ich, <em>nicht</em> schla–fe. Vorhin,
+sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch
+geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht,
+schlief nicht – schlief! Da soll der Teufel daraus klug
+werden! Sie phantasieren doch nicht, Fürst?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ...
+übrigens, ich glaube, daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept
+gekommen bin ...“ murmelte der Fürst mit unruhigen
+Blicken auf seine Umgebung.
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen
+können, wenn ich Ihnen diesen Traum mit allen Einzelheiten
+<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a>
+erzähle, während Sie ihn doch noch keinem
+einzigen Menschen erzählt haben!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch
+schon irgend einem mitgeteilt hat,“ meinte Natalja
+Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand
+schon mitgeteilt habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus
+gewordene Fürst.
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata
+Michailowna ihrer Nachbarin zu.
+</p>
+
+<p>
+„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld
+reißen!“ rief Marja Alexandrowna aus und sie
+rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen
+eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben
+Sie denn, daß auch dies Ihnen nur geträumt hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch
+gesungen,“ murmelte der Fürst in Gedanken versunken.
+</p>
+
+<p>
+Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff
+wendend, „ich hatte es ganz vergessen, dir vorhin zu
+sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas wie eine Roman–ze
+sang und in dieser Romanze war die Rede
+von Schlössern und dann war dort auch noch irgend
+ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne mich dessen
+... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich
+in der größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen,
+als ob es tatsächlich in Wirk–lich–keit gewesen
+wäre und nicht nur im Traum.“
+</p>
+
+<p>
+„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff
+möglichst ruhig, obgleich seine Stimme von innerer
+Aufregung zu zittern schien, „offen gestanden,
+<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a>
+mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu
+lösen ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört
+haben. Sinaïda Afanassjewna singt vorzüglich.
+Nach Tisch sind Sie hierher geführt worden und Sinaïda
+Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen.
+Ich war damals nicht hier, Sie aber haben
+sich wahrscheinlich hinreißen lassen, haben an die guten
+alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die Stunden,
+in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ...
+mit der Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage
+erzählten. Nun und dann, als Sie Ihr Schläfchen
+machten, hat Ihnen infolge der angenehmen Eindrücke
+geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag
+machten ...“
+</p>
+
+<p>
+Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine
+solche Frechheit hätte sie denn doch nicht für möglich
+gehalten.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“
+rief der Fürst begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen
+Ein–drücke! Ich erinnere mich ganz deut–lich
+dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde
+... deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und
+die Vicomtesse war gleichfalls ... Nein, wie klug
+du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun ja, ich bin
+jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur
+im Traum gesehen habe! Marja Wassiljewna!
+Ich versichere Sie, daß es mir nur geträumt hat! Es
+war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht
+mit Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel
+hat!“ schrie Marja Alexandrowna, außer sich vor Wut,
+<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a>
+und sie wandte sich an Mosgljäkoff. „Sie sind es,
+mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das
+alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie
+einen Korb erhielten, diesem unglücklichen Idioten den
+Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du mir aber bezahlen,
+du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du
+mir bezahlen, bezahlen!“
+</p>
+
+<p>
+„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot
+wie ein Krebs, „Ihre Worte sind dermaßen ... Ich
+weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich
+weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben
+wird ... ich verteidige zum mindesten meinen Verwandten.
+Sie müssen doch zugeben, daß, einen
+alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle
+zu locken ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der
+Fürst, der sich hinter Mosgljäkoff zu verstecken versuchte.
+</p>
+
+<p>
+„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna
+mit einer ihr ganz fremden Stimme. „Hören
+Sie denn nicht, wie wir beschimpft und entehrt
+werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht
+uns gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater,
+sondern nur ein lebloser Holzklotz? Was
+blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte hätte schon
+längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem
+Blute abgewaschen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig
+an, offenbar sehr stolz darauf, daß man endlich auch
+seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir das schließlich
+nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du
+<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a>
+aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine
+Art verdreht ... –“
+</p>
+
+<p>
+Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt,
+seine scharfsinnige Erklärung zu Ende sprechen
+zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an sich
+gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude
+den Anschein würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber
+brach alles in schallendes, unbändiges Gelächter aus.
+Marja Alexandrowna, die ihr ganzes Comme-il-faut
+vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten
+stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde
+aber mit Gewalt zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna
+aber benutzte die Gelegenheit, um noch etwas
+Gift hinzuzuträufeln.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch
+wirklich so gewesen, seien Sie doch nicht so heftig,“
+sagte sie mit honigsüßer Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen
+sein!“ schrie Marja Alexandrowna, die noch
+nicht recht begriff.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen
+vor ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna
+auf.
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“
+</p>
+
+<p>
+„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen
+es, mir das offen ins Gesicht zu sagen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“
+meinte Felissata Michailowna.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“
+murmelte auch der Fürst.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a>
+„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte
+Marja Alexandrowna, die Hände zusammenschlagend.
+</p>
+
+<p>
+„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna!
+Denken Sie doch daran, daß Gott es ist, der uns Träume
+schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will er
+allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt
+es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu
+ärgern ...“ pflichtete der Fürst bei.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte
+Marja Alexandrowna vor Aufregung kaum noch hervor.
+Das ging denn doch über menschliche Kraft! Sie
+suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“.
+Alles stürzte zu ihr.
+</p>
+
+<p>
+„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“
+flüsterte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin
+Anna Nikolajewna ins Ohr.
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick der größten Bestürzung und
+der höchsten Spannung trat plötzlich eine neue Person
+vor, eine, die bis dahin kein Wort gesprochen hatte,
+und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren
+Charakter ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-14">
+<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a>
+XIV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">S</span><span class="postfirstchar">inaïda</span> Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen,
+sehr romantisch veranlagt. Ich weiß nicht, ob
+das gerade daher kam, daß sie, wie Marja Alexandrowna
+behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar
+zu viel mit „ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls
+aber hatte sich Sina noch nie zuvor einen so außergewöhnlich
+romantischen, oder richtiger, heroischen
+Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben
+will.
+</p>
+
+<p>
+Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd
+vor Aufregung trat sie, wunderbar schön in ihrer
+Empörung, mit langsamen Schritten vor. Mit langem,
+herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden
+ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen
+Stille an die Mutter, die schon bei ihrer
+ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder erwacht
+war und die Augen weit aufgerissen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu
+sich durch Lügen erniedrigen? Es ist ja alles ohnehin
+schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht der erniedrigenden
+Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“
+</p>
+
+<p>
+„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind?
+<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a>
+Besinne dich!“ rief erschrocken Marja Alexandrowna
+aus, und sie sprang auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt,
+Mama, daß ich diese ganze Schmach nicht ertragen
+werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn
+wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln?
+Aber weißt du, Mama, ich nehme alles auf mich, denn
+ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe durch meine
+Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige
+gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich;
+du glaubtest nach deiner Auffassung, so wie du es verstehst,
+mein Glück zu schaffen. Dir kann man noch verzeihen,
+mir aber, mir – niemals!“
+</p>
+
+<p>
+„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O
+Gott! Ich ahnte es, daß dieser Dolchstoß meinem Herzen
+nicht erspart bleiben würde!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin
+beschimpft, wir alle sind beschimpft! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und
+weißt nicht, was du sprichst! Und wozu willst du denn
+erzählen? Was hat das für einen Sinn? ... Die
+Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen,
+daß die Schande nicht auf uns fällt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme
+zitterte vor Zorn, „ich will nicht mehr schweigen vor
+diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und die hergekommen
+sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich
+will ihre Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen.
+Keine einzige von ihnen hat das Recht, mich mit
+Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit,
+noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du,
+<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a>
+Mama, getan haben. Dürfen sie, können sie überhaupt
+unsere Richter sein? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was
+soll denn das bedeuten! <em>Uns</em> zu beleidigen?“ hörte
+man von allen Seiten.
+</p>
+
+<p>
+„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie
+spricht!“ sagte Natalja Dmitrijewna.
+</p>
+
+<p>
+Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna
+vollkommen recht. Wenn Sina diese Damen
+für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb würdigte
+sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt
+handelte sie wohl etwas übereilt, – das war späterhin
+auch die Meinung der besten Köpfe in Mordassoff.
+Alles hätte noch gut werden können! Alles
+hätte beigelegt werden können! Es ist ja wahr: auch
+Marja Alexandrowna hatte sich selbst vieles eingebrockt
+an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung
+und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen
+Greis nur auszulachen gebraucht! Und eventuell
+vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich, jeder
+gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower
+Weisheit zuwider, an den Fürsten.
+</p>
+
+<p>
+„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung
+sogleich von seinem Platz erhob – dermaßen imponierte
+sie ihm in diesem Augenblick. „Verzeihen Sie
+mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen,
+wir haben Sie in die Falle gelockt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“
+rief Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung
+dazwischen.
+</p>
+
+<p>
+„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ma charmante
+<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a>
+enfant</span> ...“ stotterte der Fürst maßlos bestürzt.
+</p>
+
+<p>
+Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade
+phantastische Charakter Sinas zog sie mit sich fort und
+ließ sie alle, von der Wirklichkeit geforderten Anstandsregeln
+vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die
+sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich
+geradezu in Krämpfen wand.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine
+Mutter, indem sie Sie veranlassen wollte, mich zu heiraten,
+und ich, indem ich auf ihren Vorschlag einging.
+Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt,
+ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen
+zu verstellen ... Sie, der Schwache, Schutzlose,
+wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich ausdrückt,
+umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres
+Fürstentitels willen. Alles das war entsetzlich niedrig
+und ich will es büßen. Aber ich schwöre Ihnen, daß
+ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer schändlichen
+Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch,
+was soll das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit,
+sich in einer solchen Angelegenheit noch rechtfertigen
+zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich, wenn ich
+etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug,
+Ihre Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin
+gewesen wäre ... Das hatte ich mir geschworen und
+heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß
+ich!“
+</p>
+
+<p>
+Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu
+schöpfen. Die Gäste schienen alle sprachlos zu sein und
+hörten nur mit weit aufgerissenen Augen zu. Der unerwartete
+<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a>
+und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas
+stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der
+Fürst war bis zu Tränen gerührt, obschon er kaum die
+Hälfte davon verstand, was Sina sagte.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich werde Sie hei–raten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma belle enfant</span>,
+wenn Sie es so gern wollen,“ stotterte er, „und es
+wird mir eine große Eh–re sein. Nur versichere ich
+Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen
+ist ... Aber als ob man keine Träume hätte!
+Weshalb sich daher beun–ruhigen? Es ist mir sogar,
+als hätte ich noch nichts begrif–fen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>,“
+fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre
+du es mir, bit–te! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach
+ihn Sina, sich gleichfalls an Mosgljäkoff wendend,
+„Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie auf meinen
+zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich
+jetzt so grausam an mir gerächt haben, – haben Sie
+sich wirklich zu diesen Leuten gesellen können, um mich
+herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und
+Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir
+kommt es zu, Ihnen Vorwürfe zu machen! Ich bin
+schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt und
+beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen
+hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag
+als Beweis des Gegenteils gesagt habe, war
+Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt
+und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten,
+so hätte ich es nur getan, um irgendwohin fortfahren
+zu können, fort aus dieser verwünschten Stadt,
+und um diesen ganzen Schmutz hier endlich abschütteln
+<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a>
+zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben,
+wenn ich Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute
+und treue Frau gewesen ... Sie haben sich grausam
+an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz schmeicheln
+kann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna!!!“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die
+aufsteigenden Tränen unterdrückend, „wenn Sie mich
+jemals geliebt haben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna!!!“
+</p>
+
+<p>
+„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja
+Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich
+bin ein Schuft und weiter nichts!“ behauptete Mosgljäkoff
+und alles geriet in große Aufregung. Ausrufe
+der Verwunderung und des Unwillens wurden laut,
+doch Mosgljäkoff stand wie angewurzelt auf einem
+Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens bar. Er konnte
+kein Wort mehr hervorbringen.
+</p>
+
+<p>
+Für schwache und leere Charaktere, die an ewige
+Unterwerfung gewöhnt sind und sich dann einmal entschließen,
+sich aufzulehnen und zu protestieren, mit
+einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese
+Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das
+nahe Ende ihrer kurzen Festigkeit und Entschlossenheit
+ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang überaus energisch
+zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur
+Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen
+<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a>
+Augen auf die Hindernisse und laden sich fast stets
+eine für ihre Kräfte zu große Last auf die Schultern.
+Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze erreicht,
+so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über
+sich selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen:
+„Was habe ich da angerichtet?“ – worauf er alsbald
+seinen ganzen Heroismus verliert, womöglich sogar
+weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um Verzeihung
+bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen,
+jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ...
+Fast dasselbe geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem
+er sich empört, das Unglück heraufbeschworen, das er
+jetzt bereits nur sich allein zuschrieb, nachdem er seinem
+Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich selbst
+in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er
+nun plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor
+dem unerwarteten Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte
+vernichteten ihn endgültig. Aus dem einen Extrem
+ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk
+eines Augenblicks.
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er
+in einem Anfall verzweifelter Reue aus. „Nein! Was
+Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich bin unvergleichlich
+schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen
+beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen,
+daß auch ein Esel ein edler Mensch sein kann!
+Onkel! Ich habe Sie betrogen! <em>Ich</em>, <em>ich</em>, <em>ich</em> allein
+habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie
+haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den
+Heiratsantrag gemacht, ich aber, ich Schuft, habe aus
+Rache, weil man mir einen Korb gegeben hatte, aus
+<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a>
+Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt
+hätte.“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier
+aufgedeckt werden!“ tuschelte Natalja Dmitrijewna
+ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige
+dich, bit–te. Du hast mich wirklich erschreckt mit
+deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß du im Irr–tum
+bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit,
+wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du
+hast mir doch noch selbst gesagt, daß es mir nur geträumt
+habe ...“
+</p>
+
+<p>
+„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen
+Sie mir, sagen Sie mir, wie ich ihn jetzt überzeugen
+kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch eine wichtige
+Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit!
+Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie
+doch nach!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke
+nach. Wart mal, laß mich alles erst einmal mir ins
+Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von meinem
+Kutscher Fe–o–fil ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren
+Feofil!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um
+ihn handle. Dann träumte mir von Napo–le–on,
+und dann war es so, als wenn wir getrunken hätten
+und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei
+uns auf ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in
+einem Augenblick der Verfinsterung seines Gedächtnisses,
+<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a>
+„das hat Ihnen doch Marja Alexandrowna selbst
+nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt!
+Ich war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich
+hatte mich versteckt und sah und lauschte durch einen
+Türspalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“
+schrie Natalja Dmitrijewna dazwischen. „Dann
+haben Sie es also auch dem Fürsten erzählt, daß ich bei
+Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte! Dann
+komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“
+schrie Marja Alexandrowna, zur Verzweiflung gebracht.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen
+Sie nicht mit mir sprechen! ... Also ich soll bei
+Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon lange gehört,
+daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir
+hat Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ...
+Also ich stehle bei Ihnen Zucker? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>,“ rief der Fürst dazwischen,
+„das hat mir ja nur geträumt! Als ob mir nicht vieles
+träu–men kann? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja
+Alexandrowna halblaut.
+</p>
+
+<p>
+„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte
+Natalja Dmitrijewna. „Und wer sind Sie denn, wenn
+man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß Sie
+mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ...
+ich habe wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur
+einen Tölpel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar
+<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a>
+die Rede,“ murmelte ahnungslos der Fürst, der
+sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna entsann.
+</p>
+
+<p>
+„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine
+vornehme Dame beschimpfen? Wie wagen Sie es
+überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so sind Sie
+ein einbeiniger Krüppel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wer, ich einbeinig?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein
+Bein fehlt, Ihnen fehlen auch alle Zähne, damit Sie’s
+wissen!“
+</p>
+
+<p>
+„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja
+Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein
+Korsett!“ fügte Natalja Dmitrijewna hinzu.
+</p>
+
+<p>
+„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“
+</p>
+
+<p>
+„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“
+</p>
+
+<p>
+„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“
+schrie Marja Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch
+we–nigstens, Marja Stepa–nowna!“ unterbrach der
+Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen ganz kopfscheu
+machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten!
+Du hast es erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“
+</p>
+
+<p>
+„Onkelchen!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger
+blei–ben! Bring mich irgendwohin fort ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">quelle
+société</span>? Wohin hast du mich eigentlich ge–bracht,
+Gott im Himmel!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a>
+„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst.
+„Ich habe im Au–genblick nur ein wenig verges–sen,
+weshalb ich herge–kom–men bin, aber ich werde mich
+dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>,
+bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich
+hier noch. Zudem ... zudem muß ich schnell einen
+neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich
+werde Sie sofort ins Gasthaus bringen und auch selbst
+mit Ihnen übersiedeln ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante
+enfant</span> ... Sie allein ... nur Sie allein ... sind gut
+und tugend–haft. Sie sind ein ed–les Mäd–chen!
+... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“
+</p>
+
+<p>
+Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen
+Szene nach dem Fortgang des Fürsten zu beschreiben
+versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren die Gäste
+ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück
+– unter den Trümmern ihres früheren Ruhmes.
+Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze Bedeutung –
+alles war an diesem einen Abend eingestürzt und untergegangen.
+Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich
+nie mehr zu derselben Höhe würde erheben können. Ihre
+langjährige despotische Herrschaft in der Gesellschaft
+war endgültig dahingeschwunden. Was blieb ihr jetzt
+noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte
+nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht.
+Sina war entehrt und der Klatsch würde kein Ende
+nehmen! Entsetzlich!
+</p>
+
+<p>
+Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken,
+daß am meisten unter dieser Stimmung Afanassij
+<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a>
+Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter Letzt verkroch
+er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum
+Morgen furchtbar fror.
+</p>
+
+<p>
+Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue
+Tag sollte nichts Gutes bringen. Ein Unglück kommt
+bekanntlich nie allein.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-3-15">
+<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a>
+XV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">enn</span> das Schicksal einem einmal Unglück beschert,
+so hört es damit so bald nicht auf. Das ist eine altbekannte
+Tatsache. Als ob diese ganze Schmach und
+Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna!
+Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr
+noch anderes vor.
+</p>
+
+<p>
+Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete
+sich in der Stadt ganz plötzlich ein seltsames, fast
+unglaubliches Gerücht, das von allen mit auffallender
+Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder ungewöhnliche
+Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben
+Nächsten zustößt.
+</p>
+
+<p>
+„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham
+und jedes Gewissen zu verlieren!“ hieß es allgemein.
+„Sich dermaßen zu erniedrigen, sich dermaßen über jeden
+gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen
+die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr.
+</p>
+
+<p>
+Es war folgendes geschehen:
+</p>
+
+<p>
+Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes
+altes Weib eilig ins Haus Marja Alexandrownas gekommen
+und hatte die Stubenmagd unter Tränen beschworen,
+das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken,
+aber heimlich, so daß Marja Alexandrowna nichts davon
+<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a>
+erführe. Sina war im Augenblick erschienen, erschrocken
+und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr niedergeworfen,
+ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt,
+und sie angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen,
+der die ganze Nacht so schwer, so schwer geatmet
+habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag überleben
+werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä
+selbst sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr
+Abschied nehmen zu können, daß er sie bei allen heiligen
+Engeln beschwöre, bei allem was früher zwischen ihnen
+gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht
+käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben.
+Sina hatte sich sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich
+doch die Erfüllung dieser Bitte alle früheren Gerüchte
+von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen
+Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen
+mußte.
+</p>
+
+<p>
+Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie
+einen Pelz umgenommen und war dann mit der Alten
+fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze Stadt
+in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am
+Ende einer einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe
+Hütte, deren Fenster mehr an Spalten oder Löcher erinnerten,
+und die ringsum von hohen Schneebergen
+umgeben war.
+</p>
+
+<p>
+In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem
+Geruch erfüllt war und in dem der riesige Ofen
+genau die Hälfte des ganzen Raumes einnahm, lag in
+einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei
+Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem
+<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a>
+alten Uniformmantel<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> zugedeckt war. Sein Gesicht
+war bleich und abgezehrt, seine Augen hatten den flackernden
+Glanz Fieberkranker, seine Hände waren
+schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme
+waren wie Stöcke; er atmete schwer und rauh; seine
+Stimme war heiser. Man sah es ihm an, daß er einmal
+schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte
+die zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und
+es tat weh, ihn anzublicken, wie der Anblick eines jeden
+Schwindsüchtigen oder Sterbenden weh tut. Seine
+alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und fast bis
+zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka
+wieder gesund werden würde, mußte sich endlich sagen,
+daß ihr Sohn nicht mehr lange in dieser Welt bleiben
+konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden Lager, die
+Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie
+sah ihn an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm
+– konnte es nicht begreifen, wenn sie es auch wußte,
+daß nach wenigen Tagen dort draußen auf dem Armenfriedhof
+die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken
+und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen
+würde. Doch Wassjä sah sie jetzt nicht. Sein ganzes
+abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit. Endlich,
+endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze
+anderthalb Jahre im Wachen geträumt und die ihm
+in jedem Traum erschienen war, an die er Tag und
+Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten
+seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß
+sie ihm verziehen hatte, da sie wie ein Engel Gottes
+<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a>
+in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen war. Sie
+preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah
+ihn wieder mit ihren wundervollen Augen an und –
+und alles Vergangene, Unwiederbringliche begann in
+der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das Leben
+flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als
+wolle es dem Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal
+zu fühlen geben, wie schwer das Scheiden von ihm ist.
+</p>
+
+<p>
+„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über
+mich, gräme dich nicht, sei nicht traurig darüber, daß
+ich bald sterben muß. Ich werde dich ansehen, – so
+wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder
+beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde
+deine Hände küssen, wie früher – weißt du noch? –
+und ich werde sterben, vielleicht ohne den Tod zu spüren.
+Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel,
+mit welcher Güte du mich ansiehst ... Aber
+weißt du noch, wie du früher lachtest? Weißt du noch
+... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung,
+ich will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen
+ist, denn sieh, wenn du mir vielleicht auch verziehen
+hast, so werde ich mir doch nie verzeihen. Es hat lange
+Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare Nächte,
+und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen
+und gedacht, lange und viel, gedacht und da bin
+ich zur Einsicht gekommen, daß es für mich besser ist, zu
+sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte nicht zum
+Leben, Sina!“
+</p>
+
+<p>
+Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als
+hätte sie ihn damit im Sprechen aufhalten wollen.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der
+<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a>
+Kranke fort. „Weil ich sterbe, nur weil ich sterbe?
+Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja doch schon
+längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als
+ich, du hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt
+du auch, daß ich ein schlechter Mensch bin. Kannst du
+mich denn lieben? Was mich das gekostet hat, diesen
+Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein
+schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel
+Eigenliebe hierin war, vielleicht auch edelmütige ...
+ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund, mein
+ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt,
+immer nur geträumt und nicht gelebt. Ich war
+stolz, ich verachtete die Masse ... Auf was aber war
+ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst nicht.
+Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja
+alles nur in Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen,
+als es aber zur Tat kam, da bewies ich glänzend
+meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene Gesinnung!
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ...
+Das war ja alles nicht so ... du marterst dich ganz
+unnütz!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß,
+du hast mir verziehen, und vielleicht schon vor langer
+Zeit; aber du hast über mich nachgedacht, das Urteil
+gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber quält mich
+ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina!
+Du warst auch dann, als es zur Tat kam, als es handeln
+hieß, auch dann warst du ehrlich und großzügig:
+du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß du
+mich und keinen anderen heiraten würdest, und du
+<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a>
+hättest dein Wort gehalten, denn bei dir ist Wort und
+Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich! Als es zur Tat
+kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar
+nicht, was du für mich geopfert hättest, wenn es zur
+Heirat gekommen wäre! Ich konnte es damals überhaupt
+nicht begreifen, daß du als meine Frau vor Hunger
+vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja
+keinen Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten
+würdest, mich, den großen Dichter – den zukünftigen,
+versteht sich – und ich wollte jene Gründe
+überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als
+du mich batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich
+machte dir Vorwürfe, ich quälte, tyrannisierte, verachtete
+dich und schließlich kam es zu meiner Drohung,
+jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein
+Schuft in diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump!
+O, wie du mich verachtet haben mußt! Es ist gut,
+daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte dein
+Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen
+unserer Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen!
+Vielleicht hätte ich dich sogar gehaßt – als Hindernis
+in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist es viel
+besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen
+mein Herz gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein
+wenig lieb, so wie du mich früher lieb gehabt hast!
+Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich
+weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber
+... aber ... Mein Liebling, mein Liebling, du!“
+</p>
+
+<p>
+Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals
+ihn zu unterbrechen, doch er beachtete es nicht.
+Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr auszuschütten,
+<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a>
+was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn
+fort zu sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend
+erstickender Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht
+in mich verliebt, so würdest du jetzt leben!“ sagte Sina.
+„Ach, warum, warum haben wir uns kennen gelernt!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine
+Vorwürfe, weil ich sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich
+allein bin an allem schuld! Gott, wieviel Eigenliebe
+hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir ausführlich
+meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina!
+Sieh, hier war vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer
+Räuber und Mörder, als es aber zum Bestrafen
+kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger
+Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht
+bestrafen würde und so verschaffte er sich Branntwein,
+tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank ihn dann
+aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut
+und Galle, weißt du, und das dauerte so lange an,
+daß seine Lungen arg darunter litten. Er wurde ins
+Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb er
+an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich
+dachte damals an ihn, an jenem Tage ... du weißt
+... nach dem Brief ... und ich beschloß, mich ebenso
+zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb
+ich gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte
+mich doch erhängen oder ertränken können? Glaubst
+du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ... Aber
+es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht
+ohne schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte
+doch immer daran, wie hübsch es sein würde, wenn ich
+<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a>
+im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank, und du wirst
+dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du
+mich schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner
+Reue zu mir kommst, auf die Knie vor mir niederfällst
+... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen Armen
+... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“
+</p>
+
+<p>
+„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht
+davon! Du bist nicht so ... laß uns lieber an anderes
+denken, an unsere schönen, glücklichen Stunden.“
+</p>
+
+<p>
+„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich
+auch davon. Anderthalb Jahre lang habe ich dich
+nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt meine ganze
+Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze
+Zeit seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und
+es hat, glaube ich, dennoch keine Minute gegeben, in
+der ich nicht an dich gedacht hätte, du mein Herzenslieb,
+mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann!
+... Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas
+getan hätte, etwas Großes, Gutes, um dich zu zwingen,
+deine Meinung über mich zu ändern. Ich glaubte ja
+bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde.
+Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch
+lange mit einer kranken Brust umher. – Und wieviel
+lächerliche Wünsche ich hatte! Zum Beispiel dachte
+ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in
+den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu
+veröffentlichen, wie es bis jetzt noch keines gegeben hat.
+Ich wollte in ihm alle meine Gefühle ausgießen, meine
+ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein mochtest,
+stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an
+mich erinnert hätte durch meine Verse, und mein schönster
+<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a>
+Traum war, wie du dann endlich nachdenklich werden
+und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch kein so
+schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka,
+dumm nicht wahr?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend
+aus.
+</p>
+
+<p>
+Sie warf sich über seine Brust und küßte seine
+Hände.
+</p>
+
+<p>
+„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält
+hat! Ich glaube – ich wäre gestorben, wenn ich von
+deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ dich beobachten,
+ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er
+wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den
+Mosgljäkoff nicht geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh,
+mein Engel, du! Wirst du dich auch jemals meiner
+erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich
+nicht vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen,
+dein Herz wird abkühlen, erkalten, es wird
+Winter in der Seele und dann wirst du mich doch vergessen,
+Sinotschka! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ...
+Du bist der erste ... der letzte ... ewig werde ich
+dich lieben!“
+</p>
+
+<p>
+„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen
+... Sogar unsere edelsten Gefühle sterben. An ihre
+Stelle tritt vernünftiges Denken. Weshalb dawider
+murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe
+glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb
+gewinnst – man kann doch nicht immerfort einen Toten
+lieben! Nur denk zuweilen auch an mich, nur hin
+und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb
+<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a>
+das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch
+Gutes gegeben. Sinotschka! Oh, die wundervollen,
+unwiederbringlichen Tage! ... Hör mich, mein Engel,
+ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang
+geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn
+die Sonne untergeht! Oh, nein, nein! Wozu sterben!
+Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte!
+Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese
+Zeit! Damals war Frühling, die Sonne schien so
+hell, die Blumen blühten, rings um uns schien es
+Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“
+</p>
+
+<p>
+Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand
+auf das trübe, befrorene kleine Fenster. Dann ergriff
+er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an seine Augen und
+schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen
+schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen.
+</p>
+
+<p>
+Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte.
+Sina tröstete ihn, so gut sie es konnte, denn auch sie
+war fast zu Tode gequält. Sie sagte, daß sie ihn nie
+vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn geliebt.
+Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte,
+küßte ihre Hände, doch die Erinnerungen an das Vergangene
+brannten in seinem Herzen und es war ihm,
+als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der
+ganze Tag. Marja Alexandrowna hatte inzwischen
+nicht viel weniger als zehnmal nachgeschickt und Sina
+flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu kommen
+und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich
+zu machen. Endlich in der Dämmerung, vor
+Angst kaum noch ihrer Sinne mächtig, entschloß sie sich,
+selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre Tochter in die
+<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a>
+andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien
+an, diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz
+zu stoßen“. Sina ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl,
+was ihre Mutter sprach, begriff aber nicht den Sinn
+der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen
+vor Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna
+in größter Verzweiflung wieder fortgehen. Sina hatte
+beschlossen, in der Hütte bei dem Sterbenden zu übernachten.
+</p>
+
+<p>
+Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit
+dem Kranken wurde es immer schlechter. Wieder brach
+der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr vorhanden,
+daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte
+Mutter ging wie eine Irrsinnige umher, als verstehe
+sie nichts mehr. Sie gab ihrem Sohn die Arzneien, die
+er dann nicht nehmen wollte. Der Todeskampf dauerte
+lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur unzusammenhängende,
+heisere Laute drangen zuweilen
+aus seiner Brust. Bis zum letzten Augenblick sah er
+immer noch unverwandt Sina an, suchte er noch immer
+ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann,
+suchte seine unsicher irrende Hand immer noch
+ihre Hände, um sie zu drücken. Der kurze Wintertag
+verging. Und während der letzte Sonnenstrahl die
+Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube
+rot erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf
+ewig seinen abgezehrten Körper.
+</p>
+
+<p>
+Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten
+Wassjä vor sich sah, schlug sie die Hände zusammen
+und warf sich mit einem Schrei auf den Toten.
+</p>
+
+<p>
+„Das hast du getan, <em>du</em> falsche, arglistige Schlange,
+<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a>
+<em>du</em> hast ihn behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung
+Sina zu. „<em>Du</em>, du verfluchte Verführerin, <em>du</em>,
+du Mörderin, <em>du</em>, du hast ihn umgebracht!“
+</p>
+
+<p>
+Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über
+den Toten gebeugt. Endlich schien sie wieder zu sich
+zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte ihn und verließ fast
+mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und
+ihr schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die
+zwei schlaflosen Nächte hatten ihren Kopf leer und tot
+gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre ganze Vergangenheit
+sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und
+nun ein neues Leben begann, ein finsteres, drohendes
+... Sie war kaum zehn Schritte gegangen, als Mosgljäkoff
+wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand. Er
+schien sie erwartet zu haben.
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich
+ängstlichen Geflüster und nachdem er sich eilig
+rings umgeschaut hatte, denn es war immerhin noch
+ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich
+ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich
+jetzt nicht mehr ein Esel, denn, sehen Sie, es war
+schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber ich bereue
+es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens
+habe ich mich da verhauen, glaube ich ... aber Sie
+werden es verzeihen ... das hat seine verschiedenen
+Gründe ...“
+</p>
+
+<p>
+Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte
+schweigend ihren Weg fort. Da das hohe Brettertrottoir
+für zwei nebeneinander nicht breit genug war und
+Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte
+ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging
+<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a>
+neben ihr im Schnee der Fahrstraße, während er ihr
+immer wieder ins Gesicht blickte.
+</p>
+
+<p>
+„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe
+es mir überlegt, und wenn Sie wollen, bin ich bereit,
+meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin sogar bereit,
+alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze
+Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur
+mit einer Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind,
+das Ganze noch ein Geheimnis bleibt. Sie werden
+möglichst bald von hier fortfahren und ich heimlich
+gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer
+trauen, so daß es niemand hört und sieht und
+fahren dann sofort nach Petersburg, wenn möglich mit
+unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen kleinen Koffer
+mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda
+Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann
+nicht so lange warten, man könnte uns sehen ...“
+</p>
+
+<p>
+Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie
+sah ihn aber so an, daß er sofort alles begriff, den Hut
+zog und in der ersten Querstraße verschwand.
+</p>
+
+<p>
+„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern
+abend war es ihr noch so nah gegangen und sie
+beschuldigte sich vor allen anderen ... nahm die ganze
+Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem
+Tage anders ist!“
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis
+gefolgt. Eines davon war sogar sehr tragisch: der
+Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus gebracht hatte,
+war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich
+erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten
+Morgen. Kalist Stanislawitsch verließ den Kranken
+<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a>
+fast keinen Augenblick. Am Abend fand ein Konzilium
+aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung
+war ihnen in lateinischer Sprache zugesandt worden.
+Aber ungeachtet der lateinischen Sprache verlor
+der Fürst bereits das Bewußtsein, phantasierte, bat
+Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen
+und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien
+er plötzlich zu erschrecken, worauf er jedesmal des längeren
+schrie. Die Ärzte kamen in ihrer Beratung dahin
+überein, daß sich beim Fürsten infolge der Mordassower
+Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt
+habe und diese mittlerweile – wahrscheinlich
+auf dem Wege ins Gasthaus – in den Kopf gestiegen
+sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung
+nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war
+jedenfalls, daß der Fürst schon seit langer Zeit zum
+Sterben „disponiert“ gewesen und deshalb unfehlbar
+sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch
+nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des
+dritten Tages. Sein Tod überraschte die Mordassower
+nicht wenig: einen so ernsten Ausgang hatte niemand
+erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause, wo
+die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten
+sich noch mehr, schüttelten die Köpfe und es endete
+damit, daß die „Mörder des unglücklichen Fürsten“ –
+damit meinte man Marja Alexandrowna und deren
+Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle
+begriffen, daß dieser Zwischenfall allein schon von seiner
+skandalösen Seite eine unangenehme Verbreitung
+finden und womöglich noch in weite Kreise dringen
+konnte und – doch ist es wohl nicht gut möglich,
+<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a>
+alles wiederzugeben, was gesprochen und befürchtet
+wurde.
+</p>
+
+<p>
+Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald
+hierhin bald dorthin, bis ihm schließlich der Kopf rund
+ging. In dieser Stimmung war es, daß er dann auch
+mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig:
+er hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst
+zu Marja Alexandrowna und von dieser ins Gasthaus,
+und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit der Leiche
+tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen?
+Sollte er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er
+doch gewissermaßen der „Neffe“ des Verstorbenen. Er
+zitterte, wenn er daran dachte, daß man vielleicht noch
+ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben
+könnte.
+</p>
+
+<p>
+„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg
+dringen, man kann sie sogar in der höchsten Gesellschaft
+erfahren!“ dachte er mit bangem Herzen.
+</p>
+
+<p>
+Von den Mordassowern war kein Rat zu holen:
+allen schien plötzlich bange zu sein, alle zogen sich von
+dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in einer geradezu
+düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas
+ganz Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von
+Grund aus ändern.
+</p>
+
+<p>
+Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des
+Fürsten traf in der Stadt ein vornehmer Herr ein. Von
+diesem Herrn sprach im Augenblick ganz Mordassoff,
+nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll
+von ihm gesprochen, und als er durch die große
+Straße zum Gouverneur fuhr, da lauerte alles nur
+durch Türspalten und Gardinen auf den hohen Gast.
+<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a>
+Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll
+etwas betreten gewesen sein und nicht gewußt haben,
+wie er sich zu ihm verhalten sollte. Dieser Gast war der
+ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff, ein Verwandter
+des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann
+von etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes
+und Achselschnüren. Diese Achselschnüre machten
+einen so mächtigen Eindruck auf die Beamtenwelt,
+daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln
+über den Rücken lief und alle sich strammer hielten.
+Der Polizeimeister, zum Beispiel, verlor ganz und gar
+den Kopf, d. h. nur bildlich gesprochen, versteht sich,
+also moralisch sozusagen. Physisch erschien er in eigener
+Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht.
+</p>
+
+<p>
+Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst
+Schtschepetiloff aus Petersburg gekommen und unterwegs
+über Duchanowo gefahren war. Da er den
+Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren
+nach Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag
+die Nachricht vom Tode des Verwandten und die Gerüchte
+über die näheren Umstände und Ursachen seiner
+Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur
+– soll sogar sehr verlegen gewesen sein, als er
+ihm die nötigen Aufschlüsse geben mußte. Übrigens
+gingen alle Mordassower mit gewissermaßen schuldbewußten
+Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste
+Fürst ein so strenges, unzufriedenes Gesicht
+hatte, obgleich er doch unmöglich über die Erbschaft
+ungehalten sein konnte?!
+</p>
+
+<p>
+Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort
+selbst in die Hand. Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich
+<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a>
+vor dem wirklichen, nicht nur angeblichen Verwandten
+und verschwand – unbekannt wohin.
+</p>
+
+<p>
+Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins
+Kloster zu schaffen, wo auch das Totenamt gehalten
+werden sollte. Der Fürst gab seine Anordnungen trocken,
+streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und
+sachlich.
+</p>
+
+<p>
+Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins
+Kloster begeben. Unter den Damen hatte sich das unsinnige
+Gerücht verbreitet, daß Marja Alexandrowna
+persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge
+kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld
+flehen werde und daß es so nach dem Gesetz geschehen
+müsse. Natürlich war das Torheit und Marja Alexandrowna
+dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen.
+Übrigens habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas
+Rückkehr ins Haus, diese und ihre Mutter noch an
+demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja
+Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt
+für unmöglich gehalten hatte. Von dort aus verfolgte
+sie aufgeregt die neuen Gerüchte, schickte ihre Leute in
+die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen Fürsten
+in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze
+Zeit wie im Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster
+nach Duchanowo führte kaum eine Werst weit von dem
+Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so
+konnte diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession
+verfolgen, die sich nach dem Totenamt aus dem
+Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst beigesetzt werden
+sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen
+geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe
+<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a>
+von Equipagen hin, die dem Leichenwagen bis zum
+Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen und
+in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die
+schwarze Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder
+dahin, hinter dem hohen, schwarzen Leichenwagen,
+der sich nur langsam mit ehrfurchtgebietender Majestät
+weiterbewegte. Marja Alexandrowna vermochte nicht
+lange zuzusehen und trat fort vom Fenster.
+</p>
+
+<p>
+Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und
+ihrem Mann nach Moskau, und nach einem Monat erfuhr
+man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und
+ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So
+hatte denn Mordassoff auf ewig seine tonangebende,
+seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich ging es
+auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So
+wurde zum Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt
+Afanassij Matwejewitsch verkauft werde ...
+</p>
+
+<p>
+Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann
+noch ein drittes und Marja Alexandrowna geriet fast
+ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt es nun
+einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch
+erzählt, daß sie sich in einer anderen Gouvernementsstadt
+niedergelassen und in der Nähe derselben ein
+neues Gut gekauft habe, und daß sie dort selbstverständlich
+wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht
+verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch
+wozu diese Gerüchte wiederholen – es ist ja kein wahres
+Wort an ihnen.
+</p>
+
+<hr class="tb">
+
+<p class="noindent">
+Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem
+<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a>
+ich die letzte Zeile dieser schönen Geschichte aus der
+Mordassower Chronik geschrieben, und wer hätte es
+sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript
+aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung
+würde hinzufügen müssen! Doch zur Sache!
+Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff.
+</p>
+
+<p>
+Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg
+gefahren, wo er denn auch glücklich durch
+Protektion jene gute Anstellung erhalten hatte, die ihm
+schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle
+Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel
+großstädtischen Lebens – auf der Wassiljeff-Insel
+und am Galeerenhafen – untergetaucht, hatte gespielt
+und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem
+Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten,
+hatte noch einmal einen Korb verwunden, und noch
+bevor er damit ganz fertig war, hatte er sich in seinem
+Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an einer
+Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete
+unseres grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um
+dort irgend etwas zu revidieren oder zu einem ähnlichen
+Zweck – genau weiß ich es nicht. Die Expedition
+durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf
+schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des
+„fernen Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab
+sich zum Generalgouverneur. Das war ein strenger
+General, von großem Wuchs und hager, ein alter Krieger
+mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt,
+mit zwei Sternen auf der Brust und einem weißen
+Kreuz am Halse. Würdevoll und gemessen empfing er
+die Expedition und lud darauf alle Vertreter derselben
+<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a>
+zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages
+zur Feier des Namenstages der Generalgouverneurin
+gegeben werden sollte. Mosgljäkoff war sehr zufrieden
+damit. Er warf sich in seinen tadellosesten Petersburger
+Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu machen
+gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten
+den festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort
+etwas bescheidener, als er plötzlich so unerwartet viele
+Uniformen mit dick-gewundenen goldenen Raupen auf
+den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor
+sich sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin,
+von der er gehört hatte, daß sie jung und schön
+sei, seinen Bückling machen. Er begab sich flott und
+selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm
+stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck,
+stolz, schön und hochmütig.
+</p>
+
+<p>
+Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig
+über sein Gesicht und sie wandte sich dann an einen
+anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt trat Mosgljäkoff
+zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen
+jungen Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben
+schien, seitdem er sich auf dem Ball beim Generalgouverneur
+befand: Mosgljäkoff machte sich sofort daran,
+ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante
+Dinge. Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur
+erst vor zwei Jahren geheiratet habe, als er einmal
+aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau gereist
+war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen
+und vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar
+schön“, ja man könne sie sogar die schönste aller Schönheiten
+nennen, nur sei sie sehr stolz und tanze nur mit
+<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a>
+Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle,
+sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen
+Staatsräte mit inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin
+eine Mutter habe, die auch hier bei ihr lebe,
+und daß diese Frau Mutter aus der höchsten Gesellschaft
+stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber
+selbst die Frau Mutter sich widerspruchslos dem Willen
+ihrer Tochter unterordne und der Generalgouverneur
+bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei.
+Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij
+Matwejewitsch, aber im „fernen Grenzgebiet“ hatte
+man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu sich
+gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden
+Zimmer und fand bald auch Marja Alexandrowna, die
+prächtig aufgeputzt sich mit einem teuren Fächer zufächelte
+und äußerst lebhaft mit einem der höchsten
+Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer
+Kreis gebildet, offenbar Bewerber um ihre Gunst
+– und sie – sie war zu allen sehr liebenswürdig.
+</p>
+
+<p>
+Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja
+Alexandrowna schien im ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken,
+faßte sich aber sofort. Mit liebenswürdigem
+Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen,
+hierauf erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten
+und fragte ihn unter anderem auch, weshalb er nicht
+im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff erwähnte sie
+mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt
+hätte. Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines
+wichtigen Petersburger Fürsten genannt und sich nach
+seinem Befinden erkundigt hatte – Mosgljäkoff hatte
+keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und inwiefern
+<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a>
+Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein
+konnte – wandte sie sich unauffällig an einen auf sie
+zutretenden Würdenträger, dessen Haupthaar schon
+silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie
+den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen.
+Mit sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand,
+kehrte er in den großen Ballsaal zurück. Er glaubte
+sich verletzt und sogar beleidigt und beschloß daher,
+nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft
+eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend
+teuflisches Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule
+gelehnt – der Saal war wie absichtlich mit Säulen
+versehen – stand er während des ganzen Balles auf
+einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina
+mit seinen Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen,
+ungewöhnlichen Stellungen, verzweifelten
+Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina bemerkte
+ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich
+mit steifen Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen
+Stehen – wütend, gereizt und mit mordsmäßigem
+Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch
+nicht zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier
+zurück. Er fühlte sich vollkommen erschöpft
+und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er in seinem
+Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes.
+Am nächsten Morgen mußte auf Grund einer
+inzwischen eingetroffenen Nachricht jemand von der
+Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff
+bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ,
+atmete er förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder
+neue Lebensgeister in sich. Auf der ungeheuren flachen
+<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a>
+Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern, fern
+am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder
+hin.
+</p>
+
+<p>
+Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine
+Lust war, und die Hufe schleuderten feste Schneestückchen
+auf die Schlittendecke.
+</p>
+
+<p>
+Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang
+weit durch die klare Winterluft. Mosgljäkoff wurde
+nachdenklich, schließlich träumerisch und dann schlief er
+seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte
+er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-4">
+<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a>
+Die fremde Frau<br>
+und der Mann unter dem Bett
+</h2>
+
+</div>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-1">
+<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>V</span><span class="postfirstchar">erzeihung,</span> mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“
+</p>
+
+<p>
+Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte
+etwas erschrocken einen Herrn in einem Waschbärpelz
+an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr abends auf
+der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder Petersburger,
+wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße
+plötzlich anredet, auch wenn er es noch so höflich tut.
+</p>
+
+<p>
+Also der Vorübergehende zuckte zusammen und
+erschrak ein wenig.
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der
+Herr im Waschbärpelz fort, „aber ich ... ich, wirklich,
+ich weiß nicht ... Sie werden mich, hoffe ich,
+entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus
+der Fassung gebracht ...“
+</p>
+
+<p>
+Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche
+– einem kürzeren Pelzüberrock –, daß der Herr im
+Waschbärpelz allerdings nichts weniger als gefaßt
+aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine
+Stimme unsicher, und seine Gedanken schienen sich
+gänzlich verwirrt zu haben: schnell und unüberlegt
+stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an, daß
+es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem
+Rang und der gesellschaftlichen Stellung nach offenbar
+<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a>
+unter ihm stehende Persönlichkeit zu wenden. Hinzu
+kam noch, daß diese Bitte an und für sich höchst
+peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen
+so soliden Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack
+und so bedeutsame Abzeichen auf diesem Frack trug,
+zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles
+dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen
+bewußt, und es verwirrte ihn so sehr, daß er
+seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen konnte, seine
+Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen
+der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen
+hatte, ein Ende machte.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise
+nicht ganz bewußt. Aber Sie kennen mich
+nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß ich
+Sie aufgehalten habe ...“
+</p>
+
+<p>
+Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits
+in der Dunkelheit verschwunden, und dem jungen
+Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt nachzusehen.
+</p>
+
+<p>
+„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich
+verwundert, stand noch ein Weilchen und vergaß dann
+den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen Gedanken
+zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße
+auf und nieder zu gehen begann, ohne dabei die Tür
+eines endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen.
+Es war neblig geworden, was dem jungen Mann
+eine Sorge vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte
+sein unermüdliches Hin- und Hergehen den Menschen
+<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a>
+weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem müßigen
+Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren
+Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah
+zu seiner Verwunderung wieder jenen Herrn im Waschbärpelz
+vor sich stehen.
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann
+er von neuem, „doch Sie ... Sie sind ganz gewiß
+ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht
+... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten
+Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es
+nicht das, was ich sagen wollte. Aber ... fassen
+Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein
+Herr, steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden
+Bitte an Sie wenden muß ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt
+es sich?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten
+will!“ Der geheimnisvolle Herr verzog den Mund
+zu einem Lächeln, erbleichte und lachte hysterisch auf.
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen
+Sie, aber ich kann mich selbst nicht ertragen!
+Betrachten Sie mich als einen Unzurechnungsfähigen,
+einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht etwa –“
+</p>
+
+<p>
+„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der
+junge Mann, zwar in aufmunterndem Tone, doch mit
+merklich ungeduldigem Kopfnicken.
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger
+Mann wie Sie – erinnern mich an das Wichtige, ganz
+<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a>
+als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich
+muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als
+was erscheine ich Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung,
+sagen Sie es mir aufrichtig?“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an,
+sagte jedoch nichts.
+</p>
+
+<p>
+„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben
+Sie hier nicht eine Dame gesehen? Darin besteht
+meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich der Herr
+im Waschbärpelz kurz entschlossen.
+</p>
+
+<p>
+„Eine Dame?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, eine Dame.“
+</p>
+
+<p>
+„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind
+ihrer so viele hier vorübergegangen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle
+kleine Herr mit einem bitteren Lächeln. „Ich bin etwas
+zerstreut und verwirrt im Kopf, es war nicht das,
+was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob
+Sie eine Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze
+aus dunklem Samt und einem schwarzen Schleier gesehen
+haben?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein,
+ich glaube, eine solche nicht bemerkt zu haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! dann – entschuldigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas
+fragen, doch der Herr im Waschbärpelz war bereits
+wieder verschwunden und sein geduldiger Zuhörer konnte
+ihm wieder nur verdutzt nachsehen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich
+bei sich, zog offenbar ärgerlich seinen Biberkragen
+fester um den Hals und nahm von neuem den unterbrochenen
+<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a>
+Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln
+zu vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses
+aus dem Auge zu lassen. Er ärgerte sich.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er.
+„Bald ist es acht Uhr!“
+</p>
+
+<p>
+Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht.
+</p>
+
+<p>
+„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen
+mir so plötzlich vor die Füße, daß ich geradezu erschrak,“
+entschuldigte sich der junge Mann, doch klang
+es diesmal schon fast unwirsch.
+</p>
+
+<p>
+„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß
+ich Ihnen seltsam erscheinen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären.
+Ich habe bis jetzt noch nicht erfahren können,
+was Sie eigentlich von mir wünschen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie
+mal. Ich werde Ihnen alles ganz offen erzählen, ohne
+ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die Umstände
+bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was
+ihre Charaktere betrifft, im Grunde ganz verschieden
+sind ... Doch ich sehe, Sie sind ungeduldig, junger
+Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich
+nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich
+suche eine Dame – Sie sehen, ich habe mich schon
+entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie gesagt, unbedingt
+erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin
+diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke
+ich, wird Sie nicht interessieren, junger Mann.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, weiter! weiter!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a>
+„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt,
+verzeihen Sie, vielleicht hat es Sie gekränkt, daß ich
+Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich versichere
+Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn
+Sie mir einen unermeßlichen Gefallen erweisen wollten,
+dann also, wie gesagt: diese eine Dame ... das
+heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige Dame
+ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt
+bin ... und da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen
+Sie, ich habe selbst keine Familie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun und?“
+</p>
+
+<p>
+„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger
+Mann! – Ach, wieder! Verzeihen Sie, bitte! Ich
+nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick
+ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame
+... aber können Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem
+Hause wohnt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... hier wohnen sehr viele.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte
+schnell der Herr im Waschbärpelz und er lachte
+kurz auf, wie um die Situation zu retten. „Ich sehe,
+daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb
+schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie
+sehen, gebe ich doch offenherzig zu, daß ich mich nicht
+ganz treffend ausgedrückt habe, so daß Sie, wenn Sie
+ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge erniedrigt
+gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame
+von anständigem Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten
+Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich bin so verwirrt.
+Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da
+hat man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de
+<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a>
+Kocks Romane leichten Inhalts seien, während doch bei
+seinen Romanen das ganze Malheur, wie gesagt ...
+nun eben ...“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im
+Waschbärpelz an, der sich schließlich rettungslos verwirrt
+hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln ansah, während
+seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund
+immer wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen
+griff.
+</p>
+
+<p>
+„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge
+Mann, ein wenig zurückweichend.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“
+</p>
+
+<p>
+„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter
+anderen Ssofja Osstafjewna,“ sagte der junge Mann
+flüsternd und sogar mit einem gewissen Mitgefühl.
+</p>
+
+<p>
+„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt
+etwas Näheres, junger Mann!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ...
+Ich habe nur so kombiniert, so nach Ihrem verstörten
+Aussehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren,
+daß sie in dieses Haus hier geht; doch Sie sind
+in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das heißt, ich will
+sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ...
+sie kennt sie ja gar nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert,
+junger Mann,“ bemerkte der seltsame Herr mit bitterer
+Ironie.
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas
+unsicher, „ich kenne allerdings nicht die Ursache Ihrer
+<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a>
+gegenwärtigen ... Verfassung, aber sagen Sie doch
+offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann lächelte verständnisvoll.
+</p>
+
+<p>
+„... Wir werden uns dann wenigstens schneller
+verstehen,“ fügte er lächelnd hinzu und seine ganze
+Gestalt verriet die großmütige Bereitwilligkeit, sogleich
+eine leichte Verbeugung zu machen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe
+Ihnen ganz offen – Sie haben vollkommen erraten,
+um was es sich – ... Aber wem kann das
+nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief.
+Unter jungen Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch
+zugeben ... Übrigens bin ich ja nicht mehr ganz
+jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das Junggesellenleben,
+wie gesagt, unter uns Junggesellen, na,
+Sie wissen schon ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit
+kann ich Ihnen nun dienen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch
+bei Ssofja Osstafjewna ... Übrigens weiß ich
+noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame begeben
+hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause
+befindet. Als ich Sie nun hier auf und ab gehen sah
+– ich selbst spazierte dort auf jener Seite – dachte ich,
+wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich diese
+Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich
+mit ihr zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig
+auseinandersetzen, wie wenig anständig, wie
+schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie
+verstehen mich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Nun?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a>
+„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie
+nur nicht etwa ... O nein! Das ist eine ganz fremde
+Frau! Der Mann steht dort auf der Wosnessenskij-Brücke;
+er will sie hier überrumpeln, kann sich aber
+nicht entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder
+Gatte ...“ Hier machte der Herr im Waschbärpelz
+wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich bin
+nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir
+doch zugeben, daß ich als Mensch, der sich sozusagen
+einer gewissen, allgemeinen Achtung erfreut, nicht wohl
+derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten offenbar
+geneigt sind, – das ist doch klar!“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich. Nun, und?“
+</p>
+
+<p>
+„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin
+beauftragt – Sie verstehen – Der arme Mann! Aber
+ich weiß, daß die listige junge Frau – ewig hat sie
+einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin
+überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt
+durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen
+gestanden, nur die Köchin gesagt, daß sie hierhergehe,
+und da bin ich denn wie ein Sinnloser hergestürzt,
+kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer
+habhaft werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich
+habe ja schon längst Verdacht geschöpft. Deshalb wollte
+ich Sie fragen – Sie gehen hier auf und ab ... Sie
+... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, <em>was</em> denn? Was wünschen Sie zu wissen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht
+das Vergnügen, Sie zu kennen, und, offen gestanden,
+ich wage auch gar nicht, eine solche Neugierde zu bekunden,
+zum Beispiel, ... ich meine ... wer und
+<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a>
+... was ... und weshalb ... Jedenfalls aber
+werden Sie erlauben, daß wir uns, wie gesagt ...“
+</p>
+
+<p>
+Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die
+Hand des jungen Mannes und schüttelte sie kräftig und
+mit glühender Aufrichtigkeit.
+</p>
+
+<p>
+„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich
+sogleich tun sollen,“ fuhr er erregt fort, „aber man
+ist mitunter so zerfahren, daß man alles vergißt!“
+</p>
+
+<p>
+Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still
+stehen, blickte nach links, nach rechts, trat von einem
+Bein aufs andere, fast zappelnd vor Ungeduld, und
+griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, fortwährend
+nach einem Knopf oder einem Aufschlag der
+Pekesche des jungen Mannes.
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in
+voller Freundschaft an Sie wenden – verzeihen Sie die
+Freiheit – und wollte Sie bitten: könnten Sie nicht
+dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses,
+wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so,
+wissen Sie, hin und her? Und ich – ich werde
+dasselbe tun, bloß hier, vor dem Haupteingang, damit
+sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen
+Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne
+vielleicht doch unbemerkt durchschlüpfen. Das aber
+darf auf keinen Fall geschehen. Und Sie, sobald Sie
+sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie
+und halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich
+bin verrückt! Jetzt erst begreife ich die ganze Dummheit
+und Unanständigkeit meines Vorschlages!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen.
+<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a>
+Ich bin unzurechnungsfähig, ich ... ich kann
+meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten! Das ist
+mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich mein
+Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen
+– ich bin ganz offen und ehrlich mit Ihnen, junger
+Mann – ja, ich habe anfangs <em>Sie</em> für den Liebhaber
+gehalten!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was
+ich hier tue?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei
+mir fern, daß <em>Sie</em> der Betreffende sein könnten! Es
+sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur in Gedanken
+mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ...
+aber können Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß
+Sie kein Liebhaber sind? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber
+bin, nur nicht derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre
+ich jetzt nicht auf der Straße, sondern bei ihr, wie Sie
+wohl zugeben werden.“
+</p>
+
+<p>
+„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger
+Mann? Ich bin unverheiratet, bin, wie gesagt,
+Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja ... ich bin
+selbst ein Liebhaber ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der
+Brücke ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe?
+Aber sehen Sie, es gibt noch andere ... Verwicklungen!
+Und Sie werden mir doch zugeben, junger Mann, daß
+eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden
+Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schon gut, schon gut, aber um was ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a>
+„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber
+jetzt bitte ich Sie, nachdem ich Sie beruhigt habe, auch
+mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen das leichter
+wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu
+rufen. Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben,
+sich zurückzuziehen und mir den Weg gefälligst frei zu
+geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“
+</p>
+
+<p>
+„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen!
+Ich kann Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld
+Ihres Herzens nur zu gut nachfühlen. Ich verstehe
+das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt verstehe!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was ...“
+</p>
+
+<p>
+„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie,
+junger Mann, ich komme wieder zu Ihnen ... Ich
+weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... Geben
+Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der
+Liebhaber sind!“
+</p>
+
+<p>
+„Herr des Himmels! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der
+Familienname des Mannes Ihrer ... das heißt, ich
+wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie sich interessieren?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist
+es nicht der Ihrige. Doch jetzt basta!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen
+Sie, daß Sie davon kommen. So verlieren Sie nur
+Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal unbemerkt
+aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen
+Sie denn noch? Die, die Sie suchen, ist in einem
+<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a>
+Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die, die ich
+suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues
+Samthütchen ... Was wollen Sie mehr?“
+</p>
+
+<p>
+„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja
+gleichfalls einen karierten Umwurf und ein solches
+Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der plötzlich
+wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall,
+mein Herr, so etwas kommt vor. Doch wozu
+rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt ja
+nicht dorthin zu gehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die <em>Sie</em>
+erwarten?“
+</p>
+
+<p>
+„Interessiert Sie das?“
+</p>
+
+<p>
+„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt
+kein Schamgefühl! Na, zum Kuckuck, ich will
+es Ihnen sagen: die, die <em>ich</em> erwarte, hat hier Bekannte
+in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses.
+So, und was wollen Sie jetzt noch wissen?
+Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch die Namen
+zu hören wünschen!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten
+Stockwerk, hier im Vorderhause ... General ...“
+</p>
+
+<p>
+„General? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie
+wollen, auch sagen, welch ein General ... es ist General
+Polowizyn.“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“
+versetzte er schnell gefaßt – im geheimen aber fluchte
+er ganz gotteslästerlich:
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a>
+„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht die?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein.“
+</p>
+
+<p>
+Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos
+einander an.
+</p>
+
+<p>
+„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“
+fuhr plötzlich der junge Mann auf, ärgerlich die Starrheit
+von sich abschüttelnd.
+</p>
+
+<p>
+Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig.
+</p>
+
+<p>
+„Ich, ich, offen gestanden ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig
+reden. Die Sache geht uns beide an. Erklären
+Sie mir: wen haben Sie dort?“
+</p>
+
+<p>
+„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Ihre Bekannten ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren
+Augen an, daß ich es erraten habe!“
+</p>
+
+<p>
+„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel!
+Sind Sie denn etwa blind? Ich stehe doch leibhaftig
+vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei ihr sein.
+Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der
+Teufel, mir ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie
+reden oder nicht!“
+</p>
+
+<p>
+Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem
+Absatz um, schlug mit der Hand eine bezeichnende Gebärde
+und stampfte sogar mit dem Fuß auf.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich
+bin gern bereit, Ihnen als einem Ehrenmanne alles
+zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein zu ihnen
+– sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen –
+<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a>
+und ich ahnte natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht
+lag mir vollkommen fern. Gestern aber traf ich
+auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu meiner
+Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen
+die Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber
+... das heißt, was sage ich! – nicht <em>meine</em> Frau,
+sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet, wie
+gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese
+Dame also hat aber gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen
+bei ihnen gewesen sei und zwar hier in dieser Wohnung
+... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß
+die Wohnung Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn
+mit Namen, gemietet habe ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich
+an, ob Sie außer sich sind oder nur entsetzt! Ach! Da,
+da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘
+und ich komme sofort ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher
+doch noch nicht vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und
+kehrte wie der Wind zurück, atemlos vor Schreck und
+Aufregung. „Was? was? Wo?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß
+wissen, wie diese Dame heißt?“
+</p>
+
+<p>
+„Glaf...“
+</p>
+
+<p>
+„Glafira ...?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ...
+<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a>
+verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen ihren Namen
+nicht nennen.“
+</p>
+
+<p>
+Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß
+wie Kalk.
+</p>
+
+<p>
+„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira,
+das weiß ich selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch
+jene heißt nicht Glafira ... Doch übrigens, bei wem
+ist sie denn dort?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo?“
+</p>
+
+<p>
+„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der
+Henker drein!“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille
+stehn vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß
+sie Glafira heißt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch
+Sie noch auf dem Halse! Aber Sie sagen doch selbst,
+daß diejenige, die <em>Sie</em> suchen, nicht Glafira heißt! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, welch ein Ton!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um
+den Ton zu tun! Was ist sie denn? – Ihre Frau
+etwa?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ...
+Nur finde ich es anstößig, so einem unglücklichen Menschen,
+so einem Menschen, der – ich will nicht sagen:
+der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch
+so einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort
+‚hol’s der Teufel‘ zu sagen. Von Ihnen aber hört man
+ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s der Teufel, hol’s
+der Teufel‘!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a>
+„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da
+haben Sie es wieder, freuen Sie sich darüber!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige
+ich. Mein Gott, wer ist das?“
+</p>
+
+<p>
+„Wo?“
+</p>
+
+<p>
+Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig
+gekleidete Mädchen traten aus dem Hause. Beide
+Herren stürzten ihnen entgegen.
+</p>
+
+<p>
+„Nein! So sehen Sie doch! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was wollen Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das ist sie nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? –
+He! Droschke!“
+</p>
+
+<p>
+„Wohin will sie denn, Fräulein?“
+</p>
+
+<p>
+„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los!
+Aber daß du schnell fährst ...“
+</p>
+
+<p>
+Die Droschke fuhr davon.
+</p>
+
+<p>
+„Woher mögen die gekommen sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber
+sollte man nicht hingehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wohin?“
+</p>
+
+<p>
+„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das geht nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb nicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas
+anderes, sie ... würde den Spieß umdrehen; ich
+kenne sie! Sie würde sagen, daß sie absichtlich gekommen
+sei, um mich bei irgend einer zu überraschen
+und damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“
+</p>
+
+<p>
+„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist!
+<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a>
+Ja aber, hören Sie – ich weiß nicht – aber weshalb
+schließlich nicht den Versuch riskieren? Hören Sie, gehen
+Sie zum General ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“
+</p>
+
+<p>
+„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist
+doch hingegangen, und Sie gehen gleichfalls hin –
+verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie nichts von
+seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen
+Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen,
+nun und so weiter!“
+</p>
+
+<p>
+„Und dann?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen
+bei Bobynizyn. Pfui Teufel, ist das aber ein
+Rüp...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber was haben <em>Sie</em> denn davon, wenn ich
+dort jemanden ertappe? Sehen Sie, sehen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach
+du Grundgütiger! Haben Sie denn schon jegliches
+Schamgefühl verloren, Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber weshalb regen <em>Sie</em> sich denn deshalb
+so auf? Offenbar wollen Sie wissen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was? was will ich wissen? was? Ach nun,
+zum Teufel mit Ihnen, jetzt ist’s mir nicht um Sie zu
+tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie, gehen
+Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie,
+nun, aber schnell!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr
+im Waschbärpelz verzweifelt.
+</p>
+
+<p>
+„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“
+fragte der junge Mann durch die Zähne, in seiner
+Wut mit geballter Faust auf den Herrn im Waschbärpelz
+<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a>
+eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber
+vergesse ich mich?!“ knirschte er zornbebend.
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse,
+wer, wie ist Ihr Name?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll,
+junger Mann. Wozu denn meinen Namen? ... Ich,
+ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen
+gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben,
+ich bin zu allem bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich
+habe wirklich höflichere Ausdrücke verdient! Man
+soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn
+Sie aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung
+gebracht sind – und ich errate die Ursache – so
+brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu vergessen ...
+Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“
+</p>
+
+<p>
+„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind!
+Machen Sie, daß Sie fortkommen, was laufen Sie
+hier herum? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch
+noch gar nicht so alt! Allerdings, daß ich es schon
+weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe durchaus
+nicht hier herum ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich
+zum Teufel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe;
+das können Sie mir nicht verbieten; ich bin gleichfalls
+beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“
+</p>
+
+<p>
+Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf
+zum dritten Stockwerk. Es war ziemlich dunkel.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a>
+„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“
+</p>
+
+<p>
+„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“
+</p>
+
+<p>
+„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich
+...“ Der Herr im Waschbärpelz befühlte
+hastig alle seine Taschen.
+</p>
+
+<p>
+„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür
+muß es sein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“
+</p>
+
+<p>
+„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch
+lauter! Können Sie denn nicht still sein? Halten Sie
+den Schnabel.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt,
+ich, ich muß mir Gewalt antun ... Sie sind ein ungezogener,
+frecher Mensch!“
+</p>
+
+<p>
+Das Streichholz flammte zischend auf.
+</p>
+
+<p>
+„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da
+steht ja: Bobynizyn; sehen Sie: Bobynizyn? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sehe, ich sehe!“
+</p>
+
+<p>
+„Lei–se! Was, ausgelöscht?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ausgelöscht.“
+</p>
+
+<p>
+„Soll man klopfen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz.
+</p>
+
+<p>
+„Dann klopfen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen
+Sie zuerst an die Tür.“
+</p>
+
+<p>
+„Memme!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind selbst eine Memme!“
+</p>
+
+<p>
+„So packen Sie sich doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis
+eingeweiht zu haben. Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a>
+„Ich? Nun, was?“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie
+haben gesehen, wie ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur
+lächerlich und damit basta!“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb sind Sie denn hier?“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte
+höchst unwillig der Herr im Waschbärpelz.
+</p>
+
+<p>
+„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn
+selbst?“
+</p>
+
+<p>
+„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte
+Gatte ein ... ein Pantoffelheld!“
+</p>
+
+<p>
+„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet
+doch dort auf der Brücke? Weshalb regen Sie sich
+denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt
+in fremde Angelegenheiten?“
+</p>
+
+<p>
+„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der
+Liebhaber sind! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen,
+daß meiner Überzeugung nach kein anderer
+– Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie! Es gibt
+aber auch noch eine andere Benennung dafür.“
+</p>
+
+<p>
+„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann
+bin!“ versetzte der Herr im Waschbärpelz wie mit
+heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen
+Schritt zurückweichend.
+</p>
+
+<p>
+„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist sie!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a>
+„Nein!“
+</p>
+
+<p>
+„Wie dunkel es hier ist.“
+</p>
+
+<p>
+Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der
+Wohnung Bobynizyns ließ sich allerdings Geräusch
+vernehmen.
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“
+flüsterte der Kleine im Waschbärpelz.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster
+beleidigt gefühlt!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch
+sehr junger Mann sind ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie! zum ...“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen
+einverstanden, daß der Gatte in einer solchen Lage ein
+Pantoffelheld ist ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch
+einmal!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des
+unglücklichen Gatten? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist sie!“
+</p>
+
+<p>
+Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch.
+</p>
+
+<p>
+„Ist sie es?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn
+so auf? Was geht das Sie als fremden Menschen
+an?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im
+Waschbärpelz mit versagender, erstickender Stimme,
+aus der es fast wie ein Schluchzen klang. „Ich ...
+versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich
+<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a>
+zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht,
+aber morgen ... übrigens werden wir uns morgen
+sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich mich nicht zu
+fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens
+bin ja gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie
+gesagt, der auf der Wosnessenskij-Brücke wartet.
+Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist seine Frau,
+wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich
+... ich versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm
+bekannt; erlauben Sie, ich werde Ihnen alles erzählen.
+Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn – würde
+ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück
+nehmen? Und Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja
+selbst gesagt, unzählige Mal gesagt: wozu heiratest du?
+Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht
+wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen
+Posten, weshalb also willst du das alles gegen die
+Launen einer Koketten eintauschen? oder zum mindesten
+doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein,
+aber, – ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ...
+Da hat er jetzt sein Familienglück! Zuerst hatte er
+selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam die Reihe
+an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen,
+diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit
+entrissen! ... Er ist ein unglücklicher
+Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“
+</p>
+
+<p>
+Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz
+zu versagen und der junge Mann hörte so
+etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen
+Ernstes zu weinen begonnen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch
+<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a>
+wahrlich genug Dummköpfe in der Welt! Wer sind
+Sie denn eigentlich?“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann knirschte vor Wut.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ...
+ich handelte edel und offen ... Sie aber schlagen jetzt
+wieder einen solchen Ton an!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter
+Familienname?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen
+zu schaffen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ah!!“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu
+nennen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich
+der junge Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Schabrin!!!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte
+sich, die Stimme des älteren ein wenig nachzuäffen.
+„Haben Sie jetzt begriffen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte
+mit hervorquellenden Augen der Herr im Waschbärpelz.
+„Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein Ehrenmann,
+ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten
+kann ich mir nur durch Ihre Eifersucht erklären,
+die Sie vollkommen unzurechnungsfähig macht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine
+käufliche Seele, ein Prozentschneider, ein Betrüger,
+der die Kasse bestohlen hat! Bald wird er vors Gericht
+gebracht werden!“
+</p>
+
+<p>
+„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz,
+der bleich geworden war, „Sie kennen ihn
+<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a>
+nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen unbekannt
+sein.“
+</p>
+
+<p>
+„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne
+ich aber um so besser das Wesen seiner werten Person
+aus gewissen ihm sehr nahestehenden Quellen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ...
+so zerstreut, wie Sie sehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein
+eifersüchtiger Pantoffelheld, der seine Frau nicht zu
+bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich damit
+ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen
+sich in Ihrem Eifer, junger Mann ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“
+</p>
+
+<p>
+In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch
+vernehmen. Die Tür wurde aufgeschlossen,
+Stimmen wurden laut.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne
+ihre Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ...
+Glauben Sie mir, das ist sie nicht!“ versicherte der
+Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während sein
+Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um
+nicht gesehen zu werden.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich
+sehr.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen,
+gehen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a>
+„Weshalb gehen Sie denn nicht?“
+</p>
+
+<p>
+Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im
+Waschbärpelz eilte wie der Blitz die Treppe hinab.
+</p>
+
+<p>
+Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame
+vorüber und sein Herz drohte stille zu stehen ... Er
+vernahm nur eine helle, bekannte Frauenstimme und
+dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz
+unbekannt war.
+</p>
+
+<p>
+„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten
+nehmen,“ sagte die rauhe Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“
+</p>
+
+<p>
+„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“
+Und damit verschwand der Herr. Die Dame
+blieb allein zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der
+junge Mann in der Pekesche, die Dame am Handgelenk
+fassend.
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff?
+Mein Gott im Himmel! Was tun Sie hier?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer war jener Herr?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie,
+gehen Sie, er wird sogleich zurückkehren ... von Polowizyns.
+So gehen Sie doch fort, um Gottes willen,
+gehen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor
+drei Wochen ausgezogen! Ich weiß alles!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie
+konnte die Treppe hinab. Der junge Mann holte sie
+aber doch noch ein.
+</p>
+
+<p>
+„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch,
+<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a>
+der sich hier in nächster Nähe befindet, der
+– vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz
+– stand in der Tat auf der Treppe dicht vor
+seiner Gemahlin.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl.
+</p>
+
+<p>
+„Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">c’est vous</span>?“ rief Glafira Petrowna, die mit
+ungefälschter Freude zu ihm stürzte. „O Gott! Was
+mir alles zugestoßen ist! Ich war bei Polowizyns;
+und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen
+jetzt an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt
+du noch? Und dort stieg ich in einen Schlitten. Die
+Pferde scheuten, jagten dahin, zerschmetterten den
+Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von
+hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde
+aufs Polizeibureau gebracht; ich war natürlich außer
+mir. Zum Glück kam da Monsieur Tworogoff ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem
+es zur Salzsäule geworden, als Herrn Tworogoff.
+</p>
+
+<p>
+„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so
+liebenswürdig, mich zu begleiten. Doch jetzt sind Sie
+hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach Hause fahren,
+und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich
+Sie meiner ganzen Dankbarkeit versichere.“
+</p>
+
+<p>
+Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten
+Herrn Tworogoff die Hand, die sie aber so
+stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte.
+</p>
+
+<p>
+„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn
+ihrem Gatten vor. „Ein Bekannter von mir. Ich
+hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei
+<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a>
+Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich
+dir von ihm schon erzählt habe? Entsinnst du dich
+nicht, Coco?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut
+entsinne ich mich!“ versicherte eilfertig der Herr im
+Waschbärpelz, der Coco genannt worden war. „Freut
+mich, freut mich ungemein!“
+</p>
+
+<p>
+Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte
+des Herrn Tworogoff.
+</p>
+
+<p>
+„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn
+das zu bedeuten? Ich warte ...“ ertönte plötzlich
+eine rauhe Stimme.
+</p>
+
+<p>
+Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer
+Herr, der ein Lorgnon hervorzog und den Herrn im
+Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">voilà</span> Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in
+den süßesten Tönen. „Woher kommen Sie denn, wenn
+man danach fragen darf? Das nenne ich eine Begegnung!
+Denken Sie sich, mich haben die Pferde
+soeben aus dem Schlitten geworfen ... Doch hier mein
+Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich auf dem
+Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich
+ein Gefährt besorgen, mein Kind.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich
+bebe von dem Schreck. Mir ist gar nicht wohl ...
+Heute abend auf dem Maskenball,“ flüsterte sie schnell
+Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl,
+Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen
+auf dem Ball bei Karpoffs wiedersehen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein;
+<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a>
+ich werde morgen ... wenn es jetzt nicht geht ...“
+brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen den
+Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war,
+machte mit seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte
+sich in seinen Schlitten und fuhr von dannen.
+</p>
+
+<p>
+Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame
+setzte sich hinein, doch der Herr im Waschbärpelz
+zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war er noch
+nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit
+völlig sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen
+Mann in der Pekesche an, worauf dieser nichts als ein
+Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln, das auffallend
+wenig geistreich war.
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu
+haben,“ versetzte der junge Mann mit einem leichten
+Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da er plötzlich
+so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte,
+wie sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ...
+</p>
+
+<p>
+„Freut mich, freut mich sehr ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke
+Ihnen! Ich habe mir immer Gummigaloschen anschaffen
+wollen ...“
+</p>
+
+<p>
+„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren,
+sagt man,“ bemerkte der junge Mann, allem
+Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme.
+</p>
+
+<p>
+„Jean! So komm doch endlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man
+hört. Sogleich, sogleich, Herzchen, im Augenblick, wir
+haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja, gerade
+<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a>
+wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren
+... Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, ich bitte!“
+</p>
+
+<p>
+„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft
+gemacht zu haben ...“
+</p>
+
+<p>
+Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine
+Gemahlin in den verdeckten Schlitten. Die Pferde
+griffen aus.
+</p>
+
+<p>
+Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich
+und blickte dem entschwundenen Paare verwundert
+nach.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-4-2">
+<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a>
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">m</span> Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen
+Oper“ irgendeine Aufführung statt. Der
+Saal war bereits brechend voll und der erste Akt hatte
+schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter
+Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem
+Platz schoß. Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch,
+der Besitzer jenes Waschbärpelzes. Noch nie hatte man
+ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt,
+wie er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war
+aber um so befremdender, als man die Vorliebe Iwan
+Andrejewitschs, sich im Saale der „Italienischen
+Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den
+Armen wiegen zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen
+Armen durch mehr oder minder vernehmbares
+Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte.
+Auch hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön
+es sei, im Traum die Primadonna „so zärtlich wie ein
+weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne durch das
+Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich
+schon lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens
+ein halbes Jahr, wenn nicht länger. Jetzt war
+alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan Andrejewitsch
+<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a>
+nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem
+Bette schlafen ...
+</p>
+
+<p>
+Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal
+geschossen, dieses fast fünfzigjährige graue Männchen
+– das übrigens doch noch nicht ganz grau war. Mit
+einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang,
+und – o, Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie
+war hier! Sie saß in einer Loge mit General Polowizyn,
+dessen Gattin und Schwägerin. Und in derselben
+Loge befand sich noch der Adjutant des Generals
+– ein äußerst gewandter und liebenswürdiger
+Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ...
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur
+größtmöglichen Schärfe an, doch – o, Angst und Pein!
+Dieser Unbekannte in Zivil machte sich hinter dem
+Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig unkenntlich.
+</p>
+
+<p>
+Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt
+nicht hier sein werde!
+</p>
+
+<p>
+Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira
+Petrowna auf Schritt und Tritt an den Tag legte, war
+es, was den guten Iwan Andrejewitsch vernichtete!
+Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends
+zur Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank
+er in seinen Sessel. Weshalb nur diese Verzweiflung,
+fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war doch sehr
+einfach ...
+</p>
+
+<p>
+Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in
+seiner Verzweiflung hatte niedersinken lassen, befand
+sich dicht an den Parterrelogen und in gerader Linie
+unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn
+<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a>
+nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten
+Ungemach nicht einmal sehen konnte, was dort vor sich
+ging. Wie verständlich ist’s daher, daß die Wut in ihm
+wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom
+ganzen ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt,
+das Beste an der Musik sei, daß man sie mit jedem
+beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer sich
+freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen
+Trauer – was will man mehr? Doch in den
+Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein ganzer Sturm
+zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen
+Seiten so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein
+Herz müsse zerspringen. Endlich war der erste Akt zu
+Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der Vorhang
+sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames,
+daß die Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben.
+</p>
+
+<p>
+Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der
+Brüstung einer der höchsten Logen ein Theaterzettel
+langsam herabfällt. Ist das betreffende Schauspiel
+langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm
+damit eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu
+teilnahmsvoll verfolgen die Blicke den im Zickzack
+zurückgelegten Flug des weichen, leichten Papiers, wobei
+sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche
+Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt,
+über dem buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es
+ist allerdings auch sehr interessant zu beobachten, wie
+dieser Kopf dann plötzlich erschrickt, wie verwirrt er
+sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im
+ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr
+verwirrt sein. Auch wegen der Operngläser, die die
+<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a>
+Damen so unvorsichtig auf den Logenbrüstungen liegen
+lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich kann
+den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar
+auf irgendjemandes vollständig unvorbereitetes
+Haupt herabfallen werden.
+</p>
+
+<p>
+Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas,
+das bisher noch keinem Menschen widerfahren oder das
+wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf sein
+ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes
+schon ziemlich beraubt war – fiel kein Theaterzettel.
+Ich spüre, daß es mir eigentlich recht peinlich ist, das
+Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es ist
+doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das
+ehrenwerte, entblößte Haupt des eifersüchtigen und
+schwer gereizten Iwan Andrejewitsch tatsächlich ein so
+unmoralischer Gegenstand fiel, wie es z. B. ein süßduftender
+Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme
+Iwan Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher
+als eine solche Überraschung erwartete, so heftig zusammen,
+als habe er auf seinem ehrenwerten Haupte
+zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes
+wildes Tier verspürt.
+</p>
+
+<p>
+Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man
+ihm nur zu deutlich an. Erstens war er auf zartem,
+verräterisch duftendem Papier geschrieben und zweitens
+war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem
+Handschuh hätte verbergen können. Gefallen war er
+offenbar während der Übergabe, vielleicht beim
+Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief
+geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht
+war auch nur eine unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten
+<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a>
+die Ursache gewesen, daß der Brief aus dem
+Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn bemerken
+und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der
+Jüngling in Zivil nur den Theaterzettel, mit dem er
+dann entschieden nichts anzufangen wußte. Fürwahr,
+eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben,
+daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um
+ein Bedeutendes unangenehmer war.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est prédestiné</span>,“ murmelte er, indes kalter
+Schweiß ihm aus den Poren trat und er den kleinen
+Brief krampfhaft in der Hand zusammenpreßte, als
+wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen,
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">prédestiné</span>! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“
+zuckte es durch seine Gedanken. „Nein, das ist
+nicht das Richtige! Was habe ich verbrochen, daß
+ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er
+sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen.
+Doch wer vermag all die Gedanken aufzuzählen, die
+ein Gehirn nach solch einer Erschütterung gebiert!
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als
+wäre er in der Tat das gewesen, was er zu sein schien:
+weder tot noch lebendig. Er war überzeugt, daß das
+ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt
+hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang
+unter schallendem Applaus gefallen war und ein wahrer
+Sturm die Primadonna hervorrief. Doch er war
+so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu
+erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste
+geschehen, das ein Mensch sich nur ausdenken kann.
+</p>
+
+<p>
+„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu
+seinem Nachbarn zur Linken, einem auffallenden Gecken.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a>
+Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase
+befand, unermüdlich in die Hände klatschte und sogar
+mit den Füßen scharrte, warf nur einen flüchtigen,
+zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann
+geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen
+Mund und rief dumpf brüllend den Namen der Sängerin.
+Iwan Andrejewitsch, der noch nichts Ähnliches
+vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts
+bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und
+wandte sich zurück. Doch der dicke Herr, der hinter
+seinem Rücken saß, stand jetzt, ihm seinerseits den
+Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas
+die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch.
+In den Reihen vor ihm hatte man natürlich
+nichts gesehen. Schüchtern, doch voll froher Hoffnung
+wagte er einen Blick in die Parterreloge zu
+werfen, neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der
+unangenehmsten Empfindung zusammen, denn was er
+dort erblickt hatte, war wenig trostreich: er sah eine
+schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt, krampfhaft
+ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig
+lachte.
+</p>
+
+<p>
+„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und
+knirschte Iwan Andrejewitsch und schlängelte sich
+schleunigst zur Ausgangstür, bemüht, dem Publikum
+nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten.
+</p>
+
+<p>
+Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch
+darauf, anzunehmen, daß dieser Liebesbrief gerade aus
+der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es doch
+über dem zweiten Rang noch einen und dann noch
+einen und dann noch die Galerie – im ganzen gab es
+<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a>
+fünf Ränge. Weshalb sollte er ausgerechnet aus jener
+bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein, warum
+nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch
+gleichfalls Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas
+Außerordentliches und Eifersucht die außerordentliche
+Leidenschaft, die sich nicht irrt.
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür
+erreicht hatte, ins Foyer, blieb bei der nächsten Lampe
+stehen, erbrach das Kuvert und las:
+</p>
+
+<p>
+„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße
+im Hause K–offs, im dritten Stockwerk, rechts
+von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei dort.
+<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Sans faute!</span>“
+</p>
+
+<p>
+Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt,
+doch eines stand für ihn fest: daß es eine Bestellung
+zu einem Rendezvous war. Sein erster Gedanke
+war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das
+Übel verhüten, so lange es noch nicht zu spät war!“
+</p>
+
+<p>
+Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die
+Schuldigen sogleich zu überführen, sofort, hier im
+Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan Andrejewitsch
+eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang,
+besann sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte
+vor der Logentür wieder Kehrt. Er wußte entschieden
+nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich überhaupt
+lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die
+andere Seite und blickte durch die offene Tür der
+gegenüberliegenden Loge. Tatsächlich: in jeder der
+fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über seinem
+Platz befanden, saßen junge Damen und junge
+Herren. Der Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich
+<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a>
+fallen können, um so mehr, als Iwan Andrejewitsch
+die Insassen aller fünf gegen sich verschworen glaubte.
+Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb
+Iwan Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den
+ganzen zweiten Akt verbrachte er in den Korridoren,
+die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne Seelenruhe
+finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse,
+um vom Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber
+zu erfahren – doch leider war die Kasse schon geschlossen.
+Endlich erschallte Applaus, helle Stimmen, die Bravo
+und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung war zu
+Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes
+im Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte
+in die G–straße, um dort „an Ort und Stelle zu überführen,
+abzufangen, und überhaupt energischer vorzugehen
+als gestern“. Bald hatte er auch das Haus gefunden,
+und er war gerade im Begriff einzutreten,
+als plötzlich, fast unter seinem Arm, eine Männergestalt
+in einem geckenhaften Paletot durch die Tür
+schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte.
+Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der
+junge Fant von gestern gewesen sei, obschon er sein
+Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen hatte.
+Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen
+Vorsprung von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm
+zuvorkommen? Da hörte Iwan Andrejewitsch wie
+eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne
+Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden.
+Iwan Andrejewitsch erreichte diese Tür, als der junge
+Mann kaum hinter ihr verschwunden und noch niemand
+sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar
+<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a>
+noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen
+Schritt zu erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und
+jenes noch zu befürchten und sich dann erst zu etwas Endgültigem
+zu entschließen. Da wollte es das Schicksal,
+daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor
+das Haus rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür
+wurde geräuschvoll aufgerissen und jemandes schwere
+Schritte begannen, begleitet von Husten und Gekrächz,
+langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation
+war Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er
+klinkte die Tür auf und betrat mit der ganzen Feierlichkeit
+des hintergangenen, sich im Recht fühlenden
+Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine
+Kammerzofe trat ihm sehr erregt entgegen, ihr folgte
+auf dem Fuß ein Diener, doch nichts vermochte Iwan
+Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war
+der Gatte!
+</p>
+
+<p>
+Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung,
+so flog er in das nächste Gemach, durchschritt zwei fast
+dunkle Zimmer und befand sich plötzlich in einem
+Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn
+zitternd und verständnislos anstarrte. Da erschallten
+aber, noch bevor Iwan Andrejewitsch zu sich gekommen
+war, schwere Schritte im Nebenzimmer und näherten
+sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die
+Iwan Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame
+entsetzt, bleicher als ihr Peignoir, und sie rang hilflos
+die Hände.
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse
+<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a>
+geraten, aus der es kein Entrinnen gab, fühlte,
+daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die nun
+nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die
+Tür, schon trat der schwere Mann – nach seinen
+schweren Schritten zu urteilen – ins Zimmer ... Ich
+weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich
+in diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu
+sagen, was ihn davon abhielt, dem Fremden frank und
+frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu erklären, für
+seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich
+dann zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht
+heldenhaft – aber man hätte es doch immerhin eine
+anständige, offene Handlungsweise nennen müssen.
+</p>
+
+<p>
+Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie
+ein Schulbube, der nicht weiß, was Überlegung ist,
+oder als hätte er sich für einen zweiten Don Juan gehalten.
+</p>
+
+<p>
+Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem
+Bettvorhang, doch schon nach zwei Sekunden brach er
+vor Angst in die Knie und kroch, jedes Gedankens bar,
+auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares.
+Der Schreck hatte in ihm jede Regung der
+Vernunft gelähmt – nur so läßt es sich erklären,
+daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener
+Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt,
+nun tat, als tue er das, was ihm widerfuhr, selbst
+einem andern an. Vielleicht konnte er es bloß nicht
+übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese
+ihm wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart
+hervorzurufen. Doch wie dem auch gewesen sein mag,
+Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne selbst zu
+<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a>
+begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste
+war aber für ihn in diesem Augenblick, daß die
+Dame es widerspruchslos hatte geschehen lassen. Sie
+hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich vor ihr
+aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann,
+um darauf ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden.
+Anzunehmen ist, daß sie vor Schreck die
+Sprache verloren hatte.
+</p>
+
+<p>
+Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach
+und Weh ihr schwerer Gatte ins Zimmer getreten. Mit
+greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner Frau
+einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen
+Sessel fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige
+Last Holz hereingetragen. Darauf folgte ein langanhaltender
+Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der sich
+aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt
+hatte und nun zitterte und zagte wie ein Mausejunges
+vor einem Kater, wagte kaum zu atmen, obwohl er
+doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte,
+daß nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch
+das kam ihm gar nicht in den Sinn – sei es aus
+Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend einem
+anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur
+leise tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen
+Orientierungsversuch, um seine Gliedmaßen in eine
+etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie groß
+aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung,
+als seine tastende Hand plötzlich an einen
+Gegenstand stieß, der sich bewegte und ihn seinerseits
+mit einer Hand anfaßte!
+</p>
+
+<p>
+Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch!
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a>
+„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd
+und zitternd.
+</p>
+
+<p>
+„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“
+kam es flüsternd, doch mit deutlicher Ironie zurück. „Liegen
+Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie in die
+Falle geraten sind!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, Ihr Ton ...“
+</p>
+
+<p>
+„Still!“
+</p>
+
+<p>
+Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte
+unter dem fremden Ehebett vollkommen genügt – dieser
+freche Mensch preßte die Hand Iwan Andrejewitschs
+so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz
+fast aufgeschrien hätte.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, mein Herr ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“
+</p>
+
+<p>
+„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand!
+oder ich schreie!“
+</p>
+
+<p>
+„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der
+Unbekannte schien kein Erbarmen zu kennen. Vielleicht
+war er schon so manches Mal der Verfolgung
+des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich infolgedessen
+nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan
+Andrejewitsch war aber jedenfalls ein Neuling in dieser
+Situation und glaubte daher, schier vergehen zu
+müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf.
+Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt
+auf dem Bauch. Da faßte er sich in Demut und
+schwieg.
+</p>
+
+<p>
+„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte,
+<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a>
+„ich war, mein Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir
+begannen Préférence zu spielen, aber weißt du, köchö-köch-köch!“
+– er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein Rücken
+... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“
+</p>
+
+<p>
+Und der Greis hustete endlos.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher
+Stimme fort, sich die Tränen aus den Augen wischend,
+„begann so zu schmerzen ... von diesen verwünschten
+Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ...
+noch sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres
+Leben bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten
+hatte. Ließ der Husten etwas nach, so brummte er mitunter
+ein paar unverständliche Worte, die bald wieder
+im Husten erstickt waren.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi
+willen etwas zur Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan
+Andrejewitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen
+Platz!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich
+nicht lange so liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal
+in einer solchen Lage.“
+</p>
+
+<p>
+„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer
+Nachbarschaft.“
+</p>
+
+<p>
+„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Still!“
+</p>
+
+<p>
+„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger
+Mann, daß Ihre Redeweise, gelinde gesagt, sehr unhöflich
+ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie noch sehr
+jung; ich bin älter als Sie.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit
+wem Sie reden!“
+</p>
+
+<p>
+„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett
+liegt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt
+... Sie aber, wenn ich mich nicht täusche, Ihre
+Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“
+</p>
+
+<p>
+„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage
+Ihnen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir
+hier auf <em>einem</em> Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht
+mit Ihren Händen ins Gesicht zu fahren!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts
+sehen. Verzeihen Sie, aber ich habe ja doch keinen Platz.“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb sind Sie denn so dick?“
+</p>
+
+<p>
+„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich
+in eine so erniedrigende Lage gebracht!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich
+weiß zwar nicht, wer Sie sind, ich weiß auch nicht, wie
+das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß ich irrtümlicherweise
+hierher geraten bin – ich bin nicht das, was
+Sie von mir glauben ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn
+Sie mich nicht immer stoßen würden. So schweigen Sie
+doch endlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme
+ich einen Schlaganfall! Sie werden meinen Tod zu verantworten
+haben. Ich versichere Ihnen ... Ich bin ein ehrenwerter
+<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a>
+Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich
+doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche
+Lage gebracht. Na, rücken Sie doch weiter, dann
+haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr gibt’s davon
+nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger
+Mann! Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe
+...“ begann Iwan Andrejewitsch in aufwallender Dankbarkeit,
+indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine
+glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre
+eigene Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man
+tun? Ich sehe, daß Sie schlecht von mir denken. Erlauben
+Sie, daß ich meine Reputation in Ihren
+Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen
+auseinandersetze, wer ich bin, wie ich mich gegen meinen
+Willen hierher verirrt habe – nochmals, ich versichere
+Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den Sie annehmen
+... Ich fürchte mich entsetzlich ...“
+</p>
+
+<p>
+„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal!
+Begreifen Sie denn nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn
+man Sie hört? Sst! Er wird sogleich aufhören zu
+husten!“
+</p>
+
+<p>
+In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen
+und dieser schickte sich wieder an, zu sprechen.
+</p>
+
+<p>
+„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam
+und mit kläglicher Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch!
+Ach! diese Plage! Fedossei Iwanowitsch sagte
+mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! –
+‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘.
+Hörst du, Herzchen?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a>
+„Ich höre, mein Freund.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee
+trinken.‘ Ich sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘.
+Er aber sagte: ‚Nein, Alexander Demjanowitsch,
+Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein gutes Purgativ,
+sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was
+meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach,
+Schöpfer! Köch-köch! ... Also du meinst, Schafgarbentee
+wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach Gott!
+Köch! ...“ usw., usw.
+</p>
+
+<p>
+„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses
+Mittel zu versuchen,“ meinte die junge Frau.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht
+sogar die Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte:
+‚Nein, Podagra, und außerdem einen Magenkatarrh ...‘
+Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch Schwindsucht.‘
+Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen:
+habe ich die Schwindsucht? Köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch!
+Welch ein Unsinn das ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen,
+könntest dich jetzt auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch!
+Ich habe aber heute, köch! heute Schnupfen.“
+</p>
+
+<p>
+„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage
+unter dem Bett. „Um Gottes und Christi willen,
+rücken Sie weiter!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern:
+können Sie denn keinen Augenblick still sein? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie
+wollen mich verletzen, das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich
+der Liebhaber dieser Dame?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht
+erlauben, hier zu kommandieren! Ganz gewiß sind Sie
+der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt, bin ich vollkommen
+unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach
+ihn der junge Mann zähneknirschend, „werde ich
+sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß Sie mein Onkel
+seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann
+wird man wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber
+dieser Dame sei.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen!
+Wissen Sie auch, daß meine Geduld reißen kann?“
+</p>
+
+<p>
+„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren!
+Sie sind mein Unglück! So sagen Sie doch, weshalb
+sind Sie hier? Ohne Sie würde ich ruhig bis zum
+Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender Gelegenheit
+fortgehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so
+liegen, ich bin doch ein denkender Mensch! Ich habe
+Verbindungen, habe Protektion ... Was meinen Sie,
+wird er wirklich hier schlafen?“
+</p>
+
+<p>
+„Wer?“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, dieser Greis?“
+</p>
+
+<p>
+„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle
+Männer so wie Sie. Einige übernachten auch zu
+Hause.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch
+erkaltend vor Schreck, „seien Sie überzeugt, daß auch
+ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist das erstemal ...
+Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen!
+<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a>
+Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne
+Umschweife, ich flehe Sie an, aus uneigennützigster Liebe
+bitte ich Sie darum, – wer sind Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche
+Gewalt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen
+erzähle, mein Herr, daß ich Ihnen diese ganze entsetzliche
+Geschichte erkläre ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts
+wissen, lassen Sie mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich kann doch nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür
+um so verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch
+verstummte.
+</p>
+
+<p>
+„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“
+</p>
+
+<p>
+„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“
+</p>
+
+<p>
+Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit
+ihrem alten Gatten reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart
+noch nicht völlig wiedererlangt zu haben schien,
+was ihre erschrockene Stimme und ihre Verwirrung verriet.
+</p>
+
+<p>
+„Was für ein Kater?“
+</p>
+
+<p>
+„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging
+ich in mein Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so
+vor sich hin. Ich fragte ihn: was hast du, Wassenjka?
+Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich: ach ihr
+Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen
+Sie sich!“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke,
+daß ich sterben könnte, ist dir unangenehm, sei
+<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a>
+aber nicht böse deshalb. Ich sagte es nur so. Aber du
+könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt auskleiden und zu
+Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange
+sitzen ... Köch-köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es
+wirklich so, als raschelten hier Mäuse ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu
+hören! Ich weiß nicht, was heute mit Ihnen ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch!
+Ach, du mein großer Gott! Köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es
+glücklich gehört hat!“ flüsterte der junge Mann seinem
+Nachbar zu, während der Alte hustete.
+</p>
+
+<p>
+„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine
+Nase blutet ...“
+</p>
+
+<p>
+„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten
+Sie, bis er fortgegangen ist.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in
+meine Lage: ich weiß doch nicht einmal, mit wem ich hier
+liege.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn
+Sie’s wüßten? Ich interessiere mich nicht im geringsten
+für Ihren Namen. Und wenn schon – Na, wie lautet
+er denn, sagen Sie doch zuerst?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur
+erklären, durch welchen sinnlosen Zufall ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sst ... er hat aufgehört ...“
+</p>
+
+<p>
+„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich
+flüstern gehört!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a>
+„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich
+nur die Watte in Ihren Ohren verschoben haben.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ...
+über uns ... Koch ... in der Wohnung über uns, hier,
+köch-köch-köch!“ usw.
+</p>
+
+<p>
+„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der
+Teufel! Und ich dachte, dies sei das letzte Stockwerk! Ist
+denn dies erst das zweite?“
+</p>
+
+<p>
+„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch
+wie von jemandem gekniffen auf, „was sagen Sie
+da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert Sie das?
+Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte
+Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein
+Stockwerk?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand
+sein,“ sagte der Greis, dessen Husten sich wieder gelegt
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen
+Hand wie eine eiserne Klammer Iwan Andrejewitschs
+Hände packte.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das
+ist Vergewaltigung! Lassen Sie los!“
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“
+</p>
+
+<p>
+Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder
+vollständige Stille folgte.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis
+fort.
+</p>
+
+<p>
+„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge
+Frau.
+</p>
+
+<p>
+„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer
+netten Dame auf der Treppe begegnet bin? ... oder
+<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a>
+habe ich es vergessen, zu erzählen ... Mein Gedächtnis
+ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das
+helfe ... Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt
+man.“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge
+Mann, knirschend.
+</p>
+
+<p>
+„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“
+fragte die junge Frau.
+</p>
+
+<p>
+„Wie?“
+</p>
+
+<p>
+„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“
+</p>
+
+<p>
+„Wem das?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber dir doch!“
+</p>
+
+<p>
+„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der
+junge Mann unterm Bett, der dem vergeßlichen Greise
+am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß versetzt hätte.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott,
+mein Gott! was höre ich? Das ist ja wie gestern, ganz
+wie gestern! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“
+</p>
+
+<p>
+„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender
+Käfer! So blanke Augen ... unter einem hellblauen
+Hütchen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut!
+Mein Gott, mein Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch
+wie ein Verzweifelter.
+</p>
+
+<p>
+„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd,
+doch mit unheimlichem Händedruck.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a>
+„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch,
+„er spricht!“
+</p>
+
+<p>
+„Zum Teufel! ... Teufel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut
+tragen ...“ flüsterte Iwan Andrejewitsch zaghaft.
+</p>
+
+<p>
+„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr
+der Greis fort, „köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen
+Bekannten. Und immer liebäugelt sie. Zu
+diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine
+junge Frau. „Ich begreife nicht, wie einen so etwas interessieren
+kann.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“
+beschwichtigte sie wieder der Greis „ich ... ich – Köch!
+– ich werde nicht mehr davon erzählen, wenn du es nicht
+willst. Du bist heute nicht bei ganz guter Laune ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte
+plötzlich in gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm
+Bett.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich
+dafür zu interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt
+nicht anhören!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich.
+Aber seien Sie dann still! Hol’s der Teufel, die Geschichte
+ist, bei Gott! um aus der Haut zu fahren ...“
+</p>
+
+<p>
+„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht!
+Ich weiß nicht, was ich rede! Ich ... ich wollte nur
+sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für den Zwischenfall
+interessieren werden ... Aber wer sind Sie,
+junger Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber
+<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a>
+wer sind Sie nun eigentlich! Mein Gott! Ich weiß
+selbst nicht mehr, was ich rede!“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei
+er innerlich mit anderem beschäftigt.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken
+vielleicht, daß ich nicht erzählen werde, daß ich Ihnen
+böse bin, nicht? Hier haben Sie meine Hand! Ich bin
+nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das
+ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie
+sind Sie hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem
+Zweck sind Sie in dieses Haus gekommen? Was
+mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich bin
+Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf.
+Nur wird sie nicht allzu sauber sein, denn hier ist es
+etwas staubig. Aber was will das besagen!? Auf das
+Gefühl kommt es an!“
+</p>
+
+<p>
+„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum,
+daß man hier Platz hat, platt auf dem Bauch zu liegen –
+da will er noch Armverrenkungen versuchen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre
+ich, mit Erlaubnis zu sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete
+Iwan Andrejewitsch in einer Aufwallung der keuschesten
+Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man sie
+sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln
+Sie mich nur ein wenig höflicher – hören Sie? – nur
+ein wenig höflicher, und ich werde Ihnen alles erzählen!
+Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin sogar bereit,
+Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir
+nicht beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz
+offen. Sie sind auf einem Irrwege, junger Mann, Sie
+wissen nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a>
+„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte
+der junge Mann vor sich hin, offenbar in größter Aufregung.
+„Vielleicht wartet sie dort auf mich ... Nein,
+ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem
+reden Sie, junger Mann? Sie glauben, daß hier oben
+über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür werde ich
+so gestraft?!“
+</p>
+
+<p>
+Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner
+Verzweiflung, auf den Rücken kehren, doch der Versuch
+mißlang, was ihn noch unglücklicher machte.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel!
+– ich krieche hinaus! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo
+soll ich denn bleiben?“ stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt
+und er klammerte sich an die Frackschöße des anderen.
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein
+hier. Oder wenn Sie das nicht wollen, kann ich ja sagen,
+daß Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht
+hat, damit der Klappergreis nicht auf den Gedanken
+kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu
+sehen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich,
+ganz ausgeschlossen! Wer wird Ihnen denn das glauben,
+daß ich Ihr Onkel sei? Kein dreijähriges Kind wird
+es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem Tone
+Iwan Andrejewitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen
+Sie sich platt! Sie können doch hier ruhig übernachten
+und dann morgen sehen, wie Sie entkommen. Kein Mensch
+<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a>
+wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon herausgekrochen
+ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem
+Bett vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert
+fühlen. Übrigens wiegen Sie allein ein ganzes
+Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich krieche hinaus.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn
+ich zu husten beginne? Man muß doch alles voraussehen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns
+hat wieder ein Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis,
+der inzwischen wohl eingeschlummert war, mit schläfriger
+Stimme.
+</p>
+
+<p>
+„Über uns?“
+</p>
+
+<p>
+„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ich höre, – nun!“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal
+ein Strich durch die Rechnung gemacht ist, dann – ...
+Aber wissen Sie, was ich stark vermute? Daß Sie, gerade
+Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind!
+– Verstanden?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten
+Sie das wirklich? Aber weshalb denn gerade ein Ehemann
+... ich bin doch nicht verheiratet ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es
+doch nicht wissen!“
+</p>
+
+<p>
+„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a>
+„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen
+alles erzählen. Vernehmen Sie also meine Beichte, –
+die Beichte eines Verzweifelten. Nicht ich bin der Betreffende,
+ich bin nicht verheiratet. Ich bin gleichfalls
+Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund,
+mein Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber
+bin ein Liebhaber ... Da sagt er mir eines Tages:
+‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß den bittersten
+Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘
+Aber, Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie
+denn? ... Aber Sie hören mich ja gar nicht! So hören
+Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist lächerlich, sage
+ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber sagt:
+‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie
+gesagt ... ich leere den Kelch, den bittersten Kelch ...
+d. h. ich habe sie im Verdacht ...‘ – Du bist mein Jugendfreund,
+sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam Blumen
+gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ...
+Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen
+die ganze Zeit, junger Mann. Sie werden mich noch verrückt
+machen!“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind Sie ja schon.“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir
+das sagen würden, als ich das Wort noch nicht einmal
+ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es! Lachen Sie
+nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich
+gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt!
+Ach, ja! – jetzt aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt
+werden!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand
+<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a>
+geniest?“ fragte wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit.
+„Warst du es, mein Herzchen?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“ stöhnt die arme junge Frau.
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“ hörte man unter dem Bett.
+</p>
+
+<p>
+„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte
+die junge Frau in ihrer Herzensangst. Unter dem
+Bett wurde es schon allzu verräterisch laut und immer
+lauter.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig.
+„Über uns! ... Habe ich dir schon erzählt, daß ich
+einem jungen Mann – Köch-köch! einem jungen Mann
+mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein
+Gott und Vater! – mein Rücken! ... einem jungen
+Fant soeben begegnet bin, mit einem Schnurrbärtchen
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind
+gewiß Sie!“ flüsterte Iwan Andrejewitsch entsetzt.
+</p>
+
+<p>
+„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier
+unter dem Bett, liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann
+er mir denn begegnet sein! Aber so fahren Sie mir doch
+nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“
+</p>
+
+<p>
+In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung
+darüber allerdings großen Lärm.
+</p>
+
+<p>
+„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der
+junge Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie
+mir!“
+</p>
+
+<p>
+„Sst!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich,
+es ist ja fast ein Höllenspektakel dort oben. Und das gerade
+<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a>
+über deinem Schlafzimmer. Sollte man da nicht
+hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, das fehlte noch!“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du
+heute so böse?“
+</p>
+
+<p>
+„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>! Werden Sie nicht bald schlafen
+gehn?“
+</p>
+
+<p>
+„Lisa, du liebst mich gar nicht.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen,
+ich bin so müde.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge
+Frau plötzlich angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen
+Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du,
+ich soll fortgehen, bald wieder, ich soll hierbleiben ...
+Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit zum ... Köch-köch!
+Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ...
+Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger
+Puppe sah ich bei der Kleinen, köch-köch! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“
+</p>
+
+<p>
+„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ...
+Köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge
+Mann seinem Leidensgenossen zu, „er geht und dann
+können wir sogleich hinausschlüpfen. Hören Sie? So
+freuen Sie sich doch!“
+</p>
+
+<p>
+„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Das war eine Lehre für Sie ...“
+</p>
+
+<p>
+„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich
+<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a>
+fühle, daß ... Doch Sie sind noch zu jung, Sie können
+mir keine Lehre geben.“
+</p>
+
+<p>
+„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Gott! Ich will niesen! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach
+Mäusen, ich habe Staub eingeatmet! Ich kann doch nicht!
+Geben Sie mir mein Taschentuch, aus meiner Rocktasche,
+um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O
+Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“
+</p>
+
+<p>
+„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft
+werden, das will ich Ihnen sogleich sagen: Sie sind
+eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher Zweifel rennen
+Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt,
+brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen
+in ihren Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“
+</p>
+
+<p>
+„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht
+Moral predigen! Ich bin moralischer als Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie!“
+</p>
+
+<p>
+„O Gott, o Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne
+junge Frau, die nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen
+soll, und die vielleicht noch krank werden wird von dieser
+ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen ehrwürdigen
+Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin
+schon genug gequält wird, einen Greis, der vor allen
+Dingen der Ruhe bedarf, – und das alles aus welchem
+Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen Unsinn
+<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a>
+in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle
+Gassen und in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch,
+begreifen Sie auch, in welches Licht Sie sich selbst gestellt
+haben, als was Sie dastehen, was man von Ihnen
+denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so,
+wie es sich gehört?“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben
+kein Recht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht
+oder kein Recht! Begreifen Sie denn nicht, wie tragisch
+das enden kann? Begreifen Sie denn nicht, daß dieser
+Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach irrsinnig
+werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem
+Bett seiner Frau hervorkriechen? Doch nein, Sie können
+nicht die Ursache einer Tragödie sein! Wenn Sie hervorkriechen,
+muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen krummbiegen.
+Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal
+bei Licht betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch
+sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett
+hervorkriechend, würden Sie gleichfalls lächerlich sein.
+Auch ich würde Sie gern einmal bei Licht betrachten.“
+</p>
+
+<p>
+„Sie!!“
+</p>
+
+<p>
+„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit
+aufgedrückt sein, junger Mann!“
+</p>
+
+<p>
+„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen!
+Woher wissen Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich
+bin irrtümlicherweise hierher geraten, ich wollte eine
+Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen, weshalb
+man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst
+jemanden erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls
+<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a>
+nicht Sie. Ich versteckte mich sofort unter dem Bett, als
+ich Ihre Schritte hörte und als ich sah, daß die Dame
+so heftig erschrak. Zudem war es hier noch ziemlich dunkel.
+Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit
+noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein
+Herr, nichts als ein lächerlicher eifersüchtiger Alter!
+Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie denken vielleicht, ich
+fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre schon
+längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben.
+Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben,
+wenn ich Sie verließe. Sie würden ja wie
+ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich
+ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer
+zurechtfinden ...“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade
+wie dieser Gegenstand? Konnten Sie mich nicht
+mit einem anderen vergleichen, junger Mann? Weshalb
+sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde
+mich sehr gut zurechtfinden!“
+</p>
+
+<p>
+„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt!
+Das kommt alles von Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben
+Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses elende Vieh
+kann noch zu unserem Verräter werden!“
+</p>
+
+<p>
+In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis
+dahin ruhig auf seinem Kissen in der Ecke geschlafen hatte,
+war plötzlich aufgewacht, hatte ein wenig geschnuppert
+und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett gestürzt.
+</p>
+
+<p>
+„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan
+Andrejewitsch, halb tot vor Schreck und Angst. „Es wird
+uns bestimmt verraten! Es wird alles offenbar werden!
+<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a>
+Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein
+Gott!“
+</p>
+
+<p>
+„Durch Ihre Feigheit natürlich!“
+</p>
+
+<p>
+„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend,
+die junge Frau. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici, ici, viens ici!</span>“
+</p>
+
+<p>
+Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern
+griff mutig Iwan Andrejewitsch an.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn
+Amischka so laut?“ fragte der Greis. „Sind etwa
+Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der Kater? Deshalb
+– ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ...
+Und du weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann.
+„Rühren Sie sich nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht
+beruhigen.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände
+frei! Weshalb halten Sie sie?“
+</p>
+
+<p>
+„Sst! still!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund
+beißt mich in die Nase! Sie wollen wohl, daß ich meine
+Nase verliere?“
+</p>
+
+<p>
+Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch
+schließlich gelang, seine Hände zu befreien.
+Das Hündchen bellte wie rasend; plötzlich aber quietschte
+es auf und verstummte.
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ schrie die Dame auf.
+</p>
+
+<p>
+„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend.
+„Sie verraten uns! Weshalb haben Sie den Hund gepackt?
+Teufel, der Kerl würgt ihn noch obendrein! So
+hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen!
+Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine
+<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a>
+Ahnung von einem Weiberherzen? Sie wird uns beide
+noch an den Galgen bringen, wenn Sie ihren Hund
+erwürgen!“
+</p>
+
+<p>
+Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub
+gemacht: er hörte auf nichts. Es war ihm gelungen, den
+kleinen Köter am Kragen zu fassen: und da hatte er ihm
+denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit
+einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit
+geblieben war, noch einmal zu quieken, bevor es den Geist
+aufgab.
+</p>
+
+<p>
+„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann.
+</p>
+
+<p>
+„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu</span>,
+was haben sie mit meinem Ami gemacht! Amischka,
+Amischka! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici!</span> O, diese Schändlichen! Diese Barbaren!
+Mein Gott, mir wird schlecht!“
+</p>
+
+<p>
+„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“
+sagte der Greis, der wohl gerade im Begriff gewesen
+war, ein wenig einzuschlummern, „was hast du,
+mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka,
+Amischka, Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit
+der Zunge, schnippte mit den Fingern, doch es half alles
+nicht: Amischka kam nicht wieder zum Vorschein. „Wo
+ist er denn geblieben? Amischka! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici.</span> Wirst du wohl!
+Es kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen
+hat? Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen,
+meine Liebe, er ist schon einen ganzen Monat nicht mehr
+bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde
+morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu
+meint. Aber um Gottes willen, mein Herz, was ist mit
+dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser! Hilfe!
+Hilfe!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a>
+Und der Alte stürzte kopflos zur Tür.
+</p>
+
+<p>
+„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame
+und sank auf die Chaiselongue.
+</p>
+
+<p>
+„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her.
+</p>
+
+<p>
+„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort
+... unter meinem Bett! Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>! Amischka,
+Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen?
+Amischka ... Nein, zuerst Leute her, Leute! Leute! Wer
+ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor Aufregung,
+und er griff nach dem Licht und beugte sich, um
+unter das Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe!
+Leute! ...“
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben
+dem Leichnam Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte
+aufmerksam jede Bewegung des Alten. Plötzlich
+sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort niederbeugte.
+Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor,
+während der Alte die Einbrecher auf der anderen Seite
+des Ehebettes suchte.
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu!</span>“ murmelte die Dame ganz erstaunt,
+als sie plötzlich einen jungen eleganten Mann vor sich
+stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte ...“
+</p>
+
+<p>
+„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der
+junge Mann leise und schnell. „Er ist schuld an Amischkas
+Tod!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf.
+</p>
+
+<p>
+Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer.
+</p>
+
+<p>
+„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel!
+Ein Bein!“ keuchte der Alte, der Iwan Andrejewitsch am
+Fuß hervorzuziehen versuchte.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a>
+„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“
+jammerte die Dame.
+</p>
+
+<p>
+„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie
+der Alte, mit den Beinen auf den Teppich stampfend.
+„Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was wollen
+Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Das sind ja Mörder!“
+</p>
+
+<p>
+„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi
+willen!“ flehte Iwan Andrejewitsch, der auf allen Vieren
+hervorkroch, sich kniend erhob und flehend die Hände
+faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes willen,
+Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei!
+Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Das ...
+das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie können mich nicht
+vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch
+einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist
+ein Irrtum, Exzellenz, ich habe mich nur geirrt! Ich
+werde Ihnen sogleich alles erklären, Exzellenz, alles, alles,
+alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit versagender
+Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau
+schuld, das heißt, nicht meine Frau, sondern eine fremde
+Frau, – denn ich bin ja gar nicht verheiratet, ich bin
+nur so ... Das ist mein Schulkamerad und Jugendfreund
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er
+stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb,
+ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen wollten Sie! ...
+Aber nicht Jugendfreund! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich
+sein Jugendfreund ... ich ... ich habe mich nur zufällig
+verirrt, ich habe nur die Haustüren verwechselt! ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a>
+„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“
+</p>
+
+<p>
+„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie
+täuschen sich! Ich versichere Ihnen, daß Sie sich in
+einem grausamen Irrtum befinden, Exzellenz! Sehen
+Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an allen
+Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann.
+Exzellenz! Ew. Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch,
+sich mit beschwörender Gebärde an die junge Frau wendend.
+„Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame
+eher verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht
+... Aber ich bin nicht schuld daran ... bei
+Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt, nicht meine,
+sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein
+unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben –
+es wird wohl nicht nur <em>ein</em> Kelch gewesen sein, nach
+Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind Sie hierher
+gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“
+schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er
+sich selbst eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher
+Dieb sein konnte. „Ich frage Sie: wie –
+sind – Sie – hierher gekommen? Zum Donnerwetter!
+... Daß Sie kein Räuber sind ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz!
+Ich ... ich bin nur in eine andere Tür ... bei Gott,
+ich bin kein Räuber! Das kommt alles nur daher, daß
+ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles erzählen,
+Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem
+Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem
+leiblichen Vater, denn den Jahren nach könnte ich Sie
+doch für meinen Vater halten!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a>
+„Was?! Für Ihren Vater?!“
+</p>
+
+<p>
+„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht
+verletzt! – o, verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so
+junge Dame ... und Ihre Jahre ... sehr-sehr-sehr angenehm,
+Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ...
+eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ...
+Rufen Sie nur nicht die Leute herbei, um Gottes willen,
+rufen Sie nicht Ihre Leute her ... die würden nur lachen
+... ich kenne sie ... Das heißt, ich will damit
+nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, –
+ich habe selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie,
+die ... Esel! Exzellenz ... Ich glaube, mich nicht
+getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich habe doch
+die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin
+... ein Privatmann. Und ich bitte Sie, mich mit
+Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit ihnen bei mir
+einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht
+gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie
+hierher gekommen sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“
+</p>
+
+<p>
+„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ...
+verzeihen Sie, ich dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe
+mich versehen, es war ein Irrtum, verzeihen Sie ...
+das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten
+Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten,
+Herrn Pusyreff, die Ehre hatte, einmal zu sehen ...
+Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten bekannt, ich
+habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen:
+Sie können mich nicht für das halten, für was
+Sie mich halten! Ich bin kein Räuber, ich bin kein Dieb!
+<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a>
+Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um Gottes willen,
+haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch:
+wenn Sie die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die
+Dame. „Wer sind Sie überhaupt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die
+Frage auf. „Und ich, mein Herzchen, glaubte wirklich,
+es sei der Kater Wassjka, der da irgendwo schnurrt!
+Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ...
+Wer sind Sie? So reden Sie doch!“
+</p>
+
+<p>
+Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor
+Ungeduld.
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört
+haben ... Was mich betrifft, so ist es eine lächerliche
+Geschichte, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles
+erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären lassen
+... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht
+fremde Leute her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben
+Sie Erbarmen mit mir ... Das hat nichts zu
+sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat
+mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die
+lächerlichste Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“
+wandte sich der arme Iwan Andrejewitsch flehentlich an
+die junge Frau. „Namentlich Sie, meine Gnädigste,
+wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen
+vor sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen,
+erniedrige ich mich selbst, tue es selbst und freiwillig!
+Allerdings bin ich es, der Amischka erwürgt hat, aber ...
+Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wie, <em>wie</em> sind Sie denn hierher gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a>
+„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem
+ich mich der Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen
+Sie, Exzellenz! Ich bitte Sie kniefällig um Verzeihung!
+Ich bin nur ein gekränkter Gatte, nichts weiter!
+Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei!
+Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin
+ist sehr tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich
+so auszudrücken. Sie ist rein und unschuldig, glauben
+Sie es mir!“
+</p>
+
+<p>
+„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie
+der Alte, ganz rot im Gesicht, und wieder trampelte er mit
+den Füßen. „Sind Sie verrückt geworden? übergeschnappt?
+Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau
+zu reden?“
+</p>
+
+<p>
+„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami
+erwürgt hat!“ rief die junge Frau empört aus. Sie war
+in Tränen aufgelöst ob des Verlustes ihres Amischka.
+„Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“
+</p>
+
+<p>
+„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“
+beteuerte halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch.
+„Betrachten Sie mich, wenn Sie wollen, als
+Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen,
+wenn Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner
+Ehre, daß Sie mir damit einen großen Dienst erweisen.
+Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber ich
+wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel
+... das heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich
+für den Liebhaber halten darf ... Gott! Ich weiß wieder
+nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht kränken wollen,
+Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie
+sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist –
+<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a>
+dieses zarte Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich
+da wieder! ... Ich will nur sagen, daß ich ein Greis
+bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon bejahrter
+Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich
+will damit sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein
+kann, meine Gnädigste, daß ein Liebhaber immer <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span>
+Mister Richardson oder <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span> Don Juan zu sein pflegt,
+ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen
+doch jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter
+Mensch bin, der die Literatur kennt. Sie lächeln, meine
+Gnädigste. Es freut mich, es freut mich ungemein, daß
+ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es
+mich freut, daß Sie lächeln!“
+</p>
+
+<p>
+„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu!</span> Was das für ein komischer Mensch
+ist!“ bemerkte die Dame, die sich die Lippen biß, um jetzt
+nicht wirklich laut aufzulachen.
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte,
+sichtlich erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein
+Herzchen, weißt du, ich denke, er kann kein Dieb sein.
+Aber wie ist er hierher gekommen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar
+noch mehr als sonderbar! Wirklich, so etwas kommt
+sonst nur in Romanen vor! Wie? Um Mitternacht in
+der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem
+Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das
+nicht seltsam, entsetzlich? <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">À la</span> Rinaldo Rinaldini, nicht
+wahr? Doch das hat nichts auf sich, das hat alles nichts
+zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles erzählen ...
+Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich
+ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein
+ebenso entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle
+<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a>
+und so kleinen Beinchen, daß es keine zwei Schritte zu
+gehen vermag: es verwickelt sich sonst in seinem eigenen
+Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit Zuckerstückchen.
+Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich
+werde es unfehlbar besorgen!“
+</p>
+
+<p>
+„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen
+über den armen Iwan Andrejewitsch. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu,
+mon Dieu</span>, wie ist er komisch!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum
+Lachen ... köch! und so zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen
+glücklich! Ich würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich
+wage es nicht, meine Gnädigste, ich fühle, daß ich mich
+seither geirrt habe, in allem, doch jetzt öffne ich die Augen!
+Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein und unschuldig
+ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“
+</p>
+
+<p>
+„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die
+ihr Lachen nicht mehr meistern konnte.
+</p>
+
+<p>
+„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das
+hätte ich nicht gedacht! Hahaha! Köch-köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem
+schuld ... das heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich
+verdächtigte sie; ich wußte, daß hier in diesem Hause
+ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten Stockwerk,
+hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in
+meine Hände geraten. Ich versah mich aber, ich dachte,
+vor der richtigen Tür bereits angelangt zu sein, und da
+lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich dessen versah
+...“
+</p>
+
+<p>
+„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a>
+„Hahahahaha!“
+</p>
+
+<p>
+„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch
+zu lachen. „O, wie glücklich ich bin! O, wie
+rührend es ist, uns alle so friedlich und einträchtig miteinander
+zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß
+ich jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest
+überzeugt. Nicht wahr, so muß es doch sein, meine Gnädigste?“
+</p>
+
+<p>
+„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer
+das ist?“ wandte sich lachend und hustend der Alte an
+seine Frau.
+</p>
+
+<p>
+„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“
+</p>
+
+<p>
+„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen,
+das mit allen kokettiert! Das ist sie! Ich
+könnte wetten, daß das seine Frau ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere
+meinen; ich bin vollkommen überzeugt davon ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann
+Ihre kostbare Zeit!“ unterbrach ihn die Dame, indem
+sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie doch! Gehen Sie
+nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach
+oben eilen. Doch ich weiß, daß ich niemanden antreffen
+werde, gnädige Frau. Das kann nicht meine Frau sein,
+davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause! Ich
+allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen
+Eifersucht zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder
+werde ich sie wirklich dort antreffen, gnädige Frau?“
+</p>
+
+<p>
+„Hahahahaha!“
+</p>
+
+<p>
+„He–he–he! Köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an
+<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a>
+unserer Tür vorüberkommen, dann treten Sie ein und
+erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder nein:
+kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit:
+ich will sie kennen lernen.“
+</p>
+
+<p>
+„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich
+werde sie unfehlbar mitbringen. Es hat mich sehr gefreut,
+Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin glücklich und froh,
+daß alles so schnell und gut seine Lösung gefunden hat!“
+</p>
+
+<p>
+„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“
+</p>
+
+<p>
+„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar
+bringen!“ beteuerte Iwan Andrejewitsch, der
+bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein Zuckerstückchen
+und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem
+seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es
+hat mich sehr, sehr, sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu
+machen, sehr gefreut!“
+</p>
+
+<p>
+Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand.
+</p>
+
+<p>
+„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie
+zurück ... köch-köch!“ rief ihm plötzlich die heisere Stimme
+des Alten nach.
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch kehrte zurück.
+</p>
+
+<p>
+„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen
+Sie, war er nicht unter dem Bett, als Sie dort waren?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens,
+es freut mich wirklich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu
+haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre an ...“
+</p>
+
+<p>
+„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer
+und niest! Man muß ihn wieder einmal prügeln.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei
+Haustieren sehr angebracht.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei
+Haustieren sehr angebracht sind, um sie an Gehorsam zu
+gewöhnen.“
+</p>
+
+<p>
+„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war
+alles, was ich wissen wollte, besten Dank! Köch-köch!“
+</p>
+
+<p>
+Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb
+er lange Zeit regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte
+er im Augenblick einen Schlaganfall. Dann nahm
+er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten Schweiß
+von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich
+nach Haus.
+</p>
+
+<p>
+Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause
+angelangt, erfuhr, daß Glafira Petrowna schon längst
+aus dem Theater zurückgekehrt war, daß ihre Zähne zu
+schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und
+nach Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag
+und voll Ungeduld ihren Gatten erwartete.
+</p>
+
+<p>
+Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn,
+dann verlangte er Wasser und Bürsten, um sich zu waschen
+und zu reinigen, und erst nachdem dies geschehen
+war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu
+betreten.
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen!
+So sehen Sie doch, wie Sie aussehen! Wo
+waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen: während
+die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann
+in der ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie?
+Oder waren Sie wieder auf der Suche nach mir, um
+mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich Gott
+weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn
+<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a>
+nicht? Das will ein Mann sein! Bald wird man mit
+dem Finger auf Sie weisen!“
+</p>
+
+<p>
+„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte
+er schon im selben Augenblick eine solche Rührung,
+daß er nach seinem Taschentuch greifen mußte, da es ihm
+zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft gebrach
+... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles
+Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch
+hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel!
+Er war sich dessen gar nicht bewußt, daß er im
+Augenblick der größten Verzweiflung, als er gezwungen
+war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines
+Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art
+Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen
+und somit der Strafe zu entgehen.
+</p>
+
+<p>
+„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein
+totes Hündchen! Gott! Woher kommt das? ... Was
+fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie sofort,
+wo Sie waren!“
+</p>
+
+<p>
+„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen
+eigenes Herz beinahe stille stand, „Herzchen! ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen,
+denn hier setzt etwas ganz Neues ein, das mit seinen
+früheren Abenteuern nichts Gemeinsames hat. Es ist möglich,
+daß ich noch einmal alle diese Unglücksfälle mit ihren
+Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen Sie,
+meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht
+eine unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr
+als das: sogar ein – Unglück! ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="part" id="part-5">
+<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a>
+Das Krokodil
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="subt">
+Eine außergewöhnliche Begebenheit<br>
+oder<br>
+Eine Passage in der Passage
+</p>
+
+<p class="note">
+Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit,
+wie ein gewisser Herr in der Passage von einem
+Krokodil ganz und gar verschlungen wurde und welche
+Folgen das hatte.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-1">
+<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a>
+I.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">m</span> dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach
+plötzlich um halb ein Uhr mittags Jelena Iwanowna, die
+Gattin Iwan Matwejewitschs, meines gelehrten Freundes,
+Kollegen und halb und halb sogar entfernten Verwandten,
+den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man
+gegen eine gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der
+Passage bewundern konnte, mit eigenen Augen zu sehen.
+Iwan Matwejewitsch, der das Billett für seine Reise
+ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen,
+als aus Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits
+in der Tasche hatte, sich also vom Dienst schon quasi
+entbunden betrachtete und sich demzufolge an diesem
+Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte
+nicht nur nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden,
+sondern entbrannte alsbald sogar selber in reger Wißbegier
+für die Sehenswürdigkeit.
+</p>
+
+<p>
+„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen
+wir das Krokodil in Augenschein! Es ist nicht übel,
+wenn man, bevor man ins Ausland reist, erst einmal
+gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen
+gelernt hat.“
+</p>
+
+<p>
+Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin
+<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a>
+den Arm, um mit ihr in die Passage zu gehen. Wie
+gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn ich war und
+bin ja der Hausfreund.
+</p>
+
+<p>
+Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer
+Laune gesehen, als an diesem denkwürdigen Vormittage,
+– wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht ahnen, was
+uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte
+er sich ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als
+wir beim Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings
+in der Hauptstadt eingetroffene Ungeheuer bewundern
+konnte, angelangt waren, wünschte er aus eigenem Antriebe
+auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem
+Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem
+noch nie von ihm aus geschehen war. Wir wurden
+in ein nicht sehr großes Zimmer geführt, in dem sich
+außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige Kakadus
+und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere
+Affen befanden. Gleich beim Eingang aber, links
+von der Tür, stand ein großer Blechkasten – der Form
+nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein starkes
+Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen
+Zoll tief Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag
+ein riesengroßes Krokodil, lag regungslos wie ein Balken
+und hatte in unserem feuchten, ungastlichen Klima
+augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften eingebüßt.
+Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge,
+daß es in uns durchaus kein besonderes Interesse
+für sich hervorzurufen vermochte.
+</p>
+
+<p>
+„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna,
+fast mitleidig in gezogenem Tone, „und ich dachte,
+daß es ... ganz anders aussähe.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a>
+Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht
+hatte.
+</p>
+
+<p>
+Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers,
+ein Deutscher, sehr stolz und sehr selbstzufrieden an.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu,
+„denn ihm gebührt die Ehre, augenblicklich der einzige
+Mensch zu sein, der in Rußland ein Krokodil besitzt.“
+</p>
+
+<p>
+Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs
+schreibe ich gleichfalls seiner gehobenen Stimmung
+zu, da er sonst recht neidisch zu sein pflegte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“
+äußerte sich Jelena Iwanowna, pikiert durch die Haltung
+des Deutschen, mit graziösem Lächeln sich an ihn wendend,
+um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver,
+das die Frauen ja so gern üben.
+</p>
+
+<p>
+„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem
+Russisch und begann sogleich, indem er das Drahtnetz
+aufhob, mit einem Stückchen das Krokodil auf den
+Kopf zu stoßen.
+</p>
+
+<p>
+Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum
+Beweise seiner Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu
+bewegen, dann rührte es auch die Vorderpfoten und erhob
+ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es einen
+eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein
+langsames Schnarchen erinnerte.
+</p>
+
+<p>
+„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche
+schmeichelnd, sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe.
+</p>
+
+<p>
+„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich,
+als es sich zu bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna
+noch koketter. „Jetzt werde ich es womöglich im
+Traume sehen!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a>
+„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte
+mit einem Anflug von Galanterie der Deutsche, worauf
+er als erster über seine eigenen Worte zu lachen begann;
+von uns jedoch lachte niemand.
+</p>
+
+<p>
+„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich
+Jelena Iwanowna ausschließlich an mich, „sehen wir uns
+lieber die Affen an. Ich liebe Affen über alles! Einzelne
+sind geradezu süß, sind so reizend! ... das Krokodil aber
+ist einfach abscheulich.“
+</p>
+
+<p>
+„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan
+Matwejewitsch nach, dem es angenehm war, vor seiner
+Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser schläfrige Landsmann
+Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er
+blieb beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem
+Handschuh die Nase des Krokodils, um es, wie er später
+selbst eingestand, zu veranlassen, nochmals zu schnarchen.
+Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena Iwanowna,
+als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus
+interessanteren Affenkäfig.
+</p>
+
+<p>
+Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand
+hätte etwas Schlimmes voraussehen können. Jelena
+Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin, in das die
+Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise
+auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an
+mich, um mich bald auf diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam
+zu machen, von denen jeder auffallende Ähnlichkeit
+mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben
+sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die
+Ähnlichkeit war bisweilen in der Tat ganz verblüffend.
+Nur der Menageriebesitzer, der von Jelena Iwanowna
+als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen oder
+<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a>
+ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum
+Schluß sehr brummig. Doch gerade in dem Augenblick,
+als mir die Übellaunigkeit des Deutschen auffiel, erschütterte
+plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich kann sogar sagen,
+ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte
+nicht, was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als
+ich hörte, daß auch Jelena Iwanowna aufschrie – da
+wandte ich mich zurück und ... was erblickte ich! Ich
+erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan
+Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils,
+das ihn in der Mitte des Körpers gefaßt hatte.
+Ich sah ihn nur noch einen Augenblick, wie er, horizontal
+in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit
+den Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden
+war.
+</p>
+
+<p>
+Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher
+schildern. Während des ganzen Vorgangs stand ich
+wie ein lebloser Gegenstand, der nur hörte und sah –
+deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich nicht,
+jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem
+Vorgang zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick
+tat. „Denn,“ dachte ich bei mir – soviel Überlegungskraft
+besaß ich doch noch! – „wie, wenn das,
+anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre
+– wie groß würde dann die Unannehmlichkeit sein!“
+Doch zur Sache.
+</p>
+
+<p>
+Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan
+Matwejewitsch in seinem Rachen mit den Beinen zu sich
+drehte und dann einmal schluckte, – und seine Beine
+waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es
+wie ein Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren
+<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a>
+Iwan Matwejewitsch wieder ein wenig hervorstieß, so
+daß dieser, der sich vergeblich bemühte, herauszuspringen,
+sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte –
+schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein
+Freund verschwand bis zu den Lenden. Dann, nachdem
+es wieder aufgestoßen, schluckte es noch einmal, und
+dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch
+vor unseren Augen im Ungeheuer verschwand.
+Endlich, nachdem es zum letztenmal geschluckt,
+hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund
+tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der
+Oberfläche des Krokodils Wölbungen hervor, an denen
+man erkennen konnte, wie Iwan Matwejewitsch mit
+all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres
+zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder
+aufzuschreien, als das Schicksal sich noch einmal gewissenlos
+über uns lustig machte: das Krokodil blähte
+sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene Portion
+doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß
+seinen entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen
+mit dem Aufstoß oder gewissermaßen als dessen
+Personifikation noch einmal, zum letztenmal, auf einen
+Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr
+und wieder verschwand, sodaß wir nur eine
+Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht gesehen hatten,
+von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des
+Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser
+auf dem Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast
+den Anschein, als sei dieser verzweifelte Kopf nur deshalb
+hervorgekommen, um noch einmal, zum letztenmal,
+einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt
+<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a>
+von allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch
+die Frist war gar zu kurz bemessen: das Krokodil hatte
+schon einige Kräfte gesammelt und schluckte von neuem
+und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht mehr
+zum Vorschein zu kommen.
+</p>
+
+<p>
+Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden
+Menschenkopfes war so entsetzlich, gleichzeitig aber –
+sei es infolge der Überraschung, der Geschwindigkeit
+oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es
+so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte.
+Natürlich besann ich mich sogleich – es ging doch nicht
+an, daß ich in meiner Eigenschaft als Hausfreund in
+einem solchen Augenblick lachte! – wandte mich daher schnell
+zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als möglich:
+</p>
+
+<p>
+„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“
+</p>
+
+<p>
+Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena
+Iwanownas während des ganzen Vorgangs zu schildern,
+nicht gewachsen. Ich kann nur sagen, daß sie nach
+dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener
+Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig,
+nur mit weit aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden
+Augen dem Vorgang zusah; erst als das Haupt
+ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht
+wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück
+und sie begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte
+ich mir nicht anders zu helfen, als ihre Hände zu erfassen
+und sie krampfhaft festzuhalten. In diesem Augenblick
+erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er
+griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie:
+</p>
+
+<p>
+„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen!
+Mutter, Mutter, Mutter!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a>
+Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“
+erschien: eine bejahrte, rotwangige Frau mit einer
+Haube auf dem Kopf, doch sonst ziemlich unordentlich
+gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes sah,
+stürzte sie ganz verstört herbei.
+</p>
+
+<p>
+Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna
+rief immer nur dies eine Wort: „Aufschneiden,
+aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald zum
+Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach
+anflehte – wohl in einem Augenblick des Vergessens
+und der Selbstverleugnung – irgend jemanden oder
+irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und die
+„Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten
+wie die Kettenhunde an ihrem Blechkasten.
+</p>
+
+<p>
+„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen
+ganzen Menschen verschlungen!“ schrie der Besitzer des
+„Karlchen“.
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß
+sterben!“ jammerte die Mutter.
+</p>
+
+<p>
+„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos
+geworden!“ schrie wieder der Deutsche, und –
+</p>
+
+<p>
+„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die
+Mutter.
+</p>
+
+<p>
+„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen
+das Tier schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna,
+die sich an den Rock des Deutschen klammerte.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr
+Mann mein Krokodil gereizt?“ schrie der Deutsche.
+„Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen Sie ihn mir
+bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen!
+Das war mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a>
+Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des
+eingewanderten Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner
+unordentlichen „Mutter“ nicht wenig entrüstet war.
+Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte
+Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt
+dachte ich an die Möglichkeit, daß jeden Augenblick
+gerade aus einem der anstoßenden Lokale der Passage, in
+dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein Vegetarianer
+die Menagerie betreten konnte – und was konnte
+es da nicht alles für Mißverständnisse geben, wenn sie
+noch lange fortfuhr, immer nur diese eine Bitte flehentlich
+und angstvoll zu wiederholen? Und in der Tat sollte es sich
+bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht grundlos waren:
+Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang,
+der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte,
+zur Seite gezogen wurde und im Türrahmen eine bärtige
+Gestalt mit einer Beamtenmütze in der Hand erschien, eine
+Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten stand, sondern
+die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen
+jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht
+war, diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht
+wegen des Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar
+nicht zu zahlen gewillt war, vom Direktor der Menagerie
+belästigt zu werden.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte,
+bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren,
+„macht Ihrer geistigen Entwicklung wenig Ehre und
+ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem
+Gehirn zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen
+haben, wenn die Repräsentanten des Fortschritts und der
+<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a>
+Humanität Sie in ihren satirischen Zeitschriften der nötigen
+Kritik unterwerfen, und ...“
+</p>
+
+<p>
+Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu
+beenden, denn als der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen
+einen Menschen im „Ausstellungsraume“ sprechen
+hörte, der für dieses Vergnügen nichts gezahlt hatte,
+stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn, den
+humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen
+Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur
+noch ihre wortreiche Auseinandersetzung hinter dem Vorhang.
+Doch der Deutsche kehrte sehr bald zurück, um seine
+Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der armen
+Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine
+Operation seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten
+zu retten.
+</p>
+
+<p>
+„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch
+aufgeschlitzt werden soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch
+Ihren Mann aufschlitzen! ... <em>Mein</em> Krokodil! Mein
+Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater
+hat das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder
+zeigen, und so lange ich lebe werde ich es gleichfalls
+zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich bin in
+ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa
+bekannt, deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden,
+Madame!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau
+Mutter bei, „wir werden Sie verklagen, wenn unser
+Karlchen platzt!“
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“
+wandte ich ziemlich ruhig ein, um Jelena
+Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu bewegen, nach
+<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a>
+Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan Matwejewitsch
+wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in
+den Gefilden der Seligen befinden.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die
+Stimme Iwan Matwejewitschs, die uns alle erstarren
+machte, „mein Freund, du täuschest dich. Mein Rat
+wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses Quartals zu
+wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser
+Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“
+</p>
+
+<p>
+Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem
+Tone gesprochen waren und in dieser Lage doch eine
+seltene Geistesgegenwart verrieten, waren so überwältigend,
+daß wir unseren Ohren nicht trauten. Nichtsdestoweniger
+eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und
+lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als
+unfreiwilliger Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen.
+Seine Stimme klang wie diejenige eines Menschen,
+der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen vor
+den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das
+Gespräch zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen
+Fluß getrennt sich von Ufer zu Ufer allerlei zuschreien, –
+ein Scherz, den ich einmal auf einem Polterabend das
+Vergnügen hatte, kennen zu lernen.
+</p>
+
+<p>
+„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du
+noch?“ fragte Jelena Iwanowna bebend.
+</p>
+
+<p>
+„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan
+Matwejewitschs fernher leise schreiende Stimme, „denn
+ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne jede Körperverletzung
+verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur
+die Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen
+werden; denn wenn man das Billett zu einer Auslandsreise
+<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a>
+in der Tasche hat und dabei nur in das Innere
+eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf Scharfsinn
+schließen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen
+des Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache
+ist doch, daß man dich irgendwie von dort herauszieht.“
+</p>
+
+<p>
+„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus.
+„Das lasse ich einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal
+so viel Publikum geben und ich werde fünfzig Kopeken
+statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und Karlchen
+fällt’s nicht ein, zu platzen!“
+</p>
+
+<p>
+„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu.
+</p>
+
+<p>
+„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch,
+„zuerst kommt das ökonomische Prinzip.“
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst
+laut zu, „ich werde mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten
+begeben, denn mir ahnt, daß wir allein hier nichts
+werden ausrichten können.“
+</p>
+
+<p>
+„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch,
+„nur wird es in unserer Zeit der Handelskrisis schwer
+halten, ohne finanzielle Entschädigung den Leib des Krokodils
+aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage
+aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil
+verlangen? Und diese Frage zieht eine zweite nach sich:
+wer wird es bezahlen? Denn wie du weißt, bin ich kein
+Kapitalist! ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte
+ich schüchtern vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils
+unterbrach mich sogleich:
+</p>
+
+<p>
+„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich
+<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a>
+kann dafür dreitausend Rubel verlangen, ich kann sogar
+viertausend verlangen! Jetzt wird das Publikum herbeiströmen
+– ich kann auch fünftausend verlangen für mein
+Krokodil!“
+</p>
+
+<p>
+Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier
+leuchtete in seinen Augen.
+</p>
+
+<p>
+„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich
+empört, zu.
+</p>
+
+<p>
+„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei
+Ossipytsch fahren und ihn durch meine Tränen zu erweichen
+suchen!“ sagte Jelena Iwanowna erregt.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan
+Matwejewitsch schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen
+Groll gegen diesen Andrei Ossipytsch: er wußte,
+daß seine Frau sehr gern zu diesem Allmächtigen gefahren
+wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen zu
+zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir,
+Ssemjon Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte
+ich gleichfalls abraten, zu meinen Vorgesetzten zu gehen;
+man kann nicht wissen, was daraus schließlich noch entsteht.
+Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch, so,
+weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer
+und etwas beschränkter Mensch, dafür aber solide und,
+was die Hauptsache ist, gerade heraus. Grüße ihn von
+mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich schulde ihm
+noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei
+also so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das
+wird den Alten günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns
+sein Rat zur Richtschnur dienen. Jetzt aber sei so freundlich
+und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ... Beruhige
+dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde
+<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a>
+geworden von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen.
+Hier ist es zum Glück warm und weich, obschon ich noch
+nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in meinem neuen
+Heim umzusehen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig,
+doch sichtlich erfreut Jelena Iwanowna.
+</p>
+
+<p>
+„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“
+antwortete der arme Gefangene, „aber ich kann mit den
+Händen fühlen und mich hier tastend orientieren ...
+Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir nicht
+deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber,
+Ssemjon Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her,
+und damit du es, bei deiner bekannten Vergeßlichkeit,
+diesmal nicht wieder vergißt, binde dir sogleich einen
+Knoten ins Taschentuch ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu
+können, denn erstens war ich vom Stehen müde geworden
+und zweitens wurde es mir allmählich langweilig. Ich
+reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die durch die
+Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung
+meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie.
+</p>
+
+<p>
+„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“
+rief uns noch der Deutsche nach.
+</p>
+
+<p>
+„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna,
+die in jeden Spiegel zwischen den Schaufenstern
+der Passage einen Blick warf und sich augenscheinlich
+dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst aussah.
+</p>
+
+<p>
+„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer
+angeregter Stimmung, stolz auf meine Dame, die
+neidisch von den Vorübergehenden betrachtet wurde.
+</p>
+
+<p>
+„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit
+<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a>
+koketter Langsamkeit, „ich habe nichts von alledem begriffen,
+was Iwan Matwejewitsch dort sprach, namentlich
+nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“
+</p>
+
+<p>
+„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich
+eilfertig und begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung
+fremden Kapitals auseinanderzusetzen, Ansichten,
+die ich am Morgen desselben Tages in den „Petersburger
+Nachrichten“ gelesen hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich,
+als sie mir eine Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie
+doch endlich auf, Sie Plagegeist! Welch einen Unsinn
+Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich sehr rot im Gesicht?“
+</p>
+
+<p>
+„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die
+Gelegenheit, ihr eine Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt
+vorübergehen zu lassen.
+</p>
+
+<p>
+„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der
+arme Iwan Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen
+Pause fort, kokett das Köpfchen auf die Seite neigend,
+„er tut mir wirklich leid. Ach, mein Gott!“ rief sie plötzlich
+ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch, wie wird
+er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ...
+wie wird er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich,
+gleichfalls bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese
+Möglichkeit noch gar nicht gedacht. Da haben wir wieder
+einen Beweis dafür, daß in Lebensfragen die Frauen weit
+praktischer sind als wir Männer!“
+</p>
+
+<p>
+„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ...
+Und nun sitzt er da, so ganz ohne Unterhaltung! Und
+außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie dumm, daß
+<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a>
+ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich
+denn jetzt eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit
+berückendem Lächeln, sichtlich interessiert für ihren neuen
+Stand. „Hm! ... aber er tut mir doch trotzdem
+leid! ...“
+</p>
+
+<p>
+Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche
+und natürliche Sehnsucht einer jungen, interessanten
+Frau nach ihrem Manne. Endlich waren wir in
+ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen Beruhigungsversuchen,
+während welcher ich mit ihr zu Mittag
+gespeist hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen
+aromatischen Kaffees auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch
+zu begeben, denn ich nahm an, daß um diese Zeit
+alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen
+sind.
+</p>
+
+<p>
+Übrigens:
+</p>
+
+<p>
+Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben
+habe, der mir der betreffenden Erzählung angepaßt
+scheint, gedenke ich fernerhin einen minder hochtrabenden
+anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon ich den
+verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-2">
+II.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">T</span><span class="postfirstchar">imofei</span> Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher
+Eile und, wie es mir schien, sogar Verwirrung.
+Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und schloß
+die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht
+stören,“ sagte er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer
+Handbewegung forderte er mich auf, an seinem Schreibtisch
+Platz zu nehmen, während er sich selbst in einen bequemen
+<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a>
+Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich
+abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug
+und auf alle Fälle eine gewissermaßen offizielle,
+fast sogar strenge Miene aufsetzte, obgleich er doch
+weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter
+war, sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar
+guten Bekannten gegolten hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine
+Rede beendet hatte, „muß ich Sie bitten, in Erwägung zu
+ziehen, daß ich kein Vorgesetzter bin, sondern auf gleicher
+Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch stehe ...
+Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb
+ich mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“
+</p>
+
+<p>
+Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber,
+daß er bereits alles zu wissen schien. Nichtsdestoweniger
+erzählte ich ihm noch einmal die ganze Geschichte, und
+zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr erregt,
+denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen
+Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne
+jede Verwunderung zu, dafür aber mit allen Anzeichen des
+Mißtrauens.
+</p>
+
+<p>
+„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe
+schon immer vermutet, daß gerade so etwas mit ihm geschehen
+würde.“
+</p>
+
+<p>
+„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser
+Fall ist doch an sich, sollte ich meinen, noch viel mehr als
+außergewöhnlich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon
+immer, während seiner ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade
+zu einem solchen Abschluß. Er war gar zu hitzig,
+war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘
+<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a>
+im Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht
+man jetzt, wohin das führt!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich,
+man kann ihn daher doch nicht als Beweis gegen
+alle fortschrittlich Gesinnten ausspielen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben
+Sie mir, was ich sage. Das kommt, sehen Sie mal, von
+übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die übermäßig
+Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken, vornehmlich
+dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens
+ist es ja möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er
+sich plötzlich, offenbar gekränkt. „Ich bin schon alt und
+überdies nicht gar so gebildet; ich bin Soldatenkind und
+habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich
+mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“
+</p>
+
+<p>
+„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie!
+Im Gegenteil, Iwan Matwejewitsch wartet nur auf Ihren
+Rat, er vertraut sich ganz Ihrer Leitung an. Er wartet
+nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen
+tränenden Auges ...“
+</p>
+
+<p>
+„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese
+Tränen werden wohl Krokodilstränen sein, die man nicht
+ernst zu nehmen braucht. Weshalb, sagen Sie mir das
+doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und
+mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein
+Vermögen.“
+</p>
+
+<p>
+„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei
+Ssemjonytsch,“ versetzte ich mitleidig. „Er wollte
+ja nur auf drei Monate verreisen ... in die Schweiz ...
+in die Heimat Wilhelm Tells ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wilhelm Tells? Hm!“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a>
+„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte
+die Museen besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es
+einfach aus Stolz. Was für Tiere denn? Tiere! Gibt
+es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben Menagerien,
+Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in
+nächster Nähe von Petersburg. Aber da ist er ja nun
+glücklich selbst in ein Tier hineingeraten, und noch dazu in
+ein Krokodil!“
+</p>
+
+<p>
+„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch
+ist im Unglück, der Mensch wendet sich an Sie als Freund,
+wie man sich etwa an einen älteren Verwandten wendet, er
+bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm
+Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit
+Jelena Iwanowna Mitleid!“
+</p>
+
+<p>
+„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes
+Dämchen,“ meinte Timofei Ssemjonytsch, augenscheinlich
+etwas aufgeweckter, und schnupfte mit Genuß seinen
+Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o
+... rundlich, und das Köpfchen hält sie immer so ein
+wenig zur Seite geneigt, so ein wenig ... Ja. Sehr
+angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern
+von ihr.“
+</p>
+
+<p>
+„Er <em>sprach</em> von ihr?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken.
+Die Büste, sagte er, der Blick, die Coiffure –
+ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein Frauenzimmer,
+und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch
+junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als
+wolle er trompeten.
+</p>
+
+<p>
+„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen
+<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a>
+Mann, und sehen Sie, was der sich plötzlich für eine
+exzentrische Laufbahn wählt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes,
+Timofei Ssemjonytsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß.“
+</p>
+
+<p>
+„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas,
+sagen Sie, was wir tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener
+Mensch! Welche Schritte soll man tun? Soll
+man durch die Vorgesetzten oder ...“
+</p>
+
+<p>
+„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“
+versetzte Timofei Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen
+Rat zu hören wünschen, so muß man die Sache zuerst
+vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn
+der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen.
+Das ist die Hauptsache, daß es sich hier um
+etwas Noch-nie-dagewesenes handelt, es hat hierfür noch
+kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und schon deshalb
+ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor
+allem Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen.
+Man muß abwarten, abwarten muß man ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch?
+Und wie, wenn er dort erstickt?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube
+ich, daß er sich dort ganz behaglich fühle?“
+</p>
+
+<p>
+Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von
+Anfang an. Timofei Ssemjonytsch wurde nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose
+in der Hand drehte. „Meiner Ansicht nach kann
+es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang abliegt, anstatt
+<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a>
+sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal
+in Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig,
+dabei zu ersticken, deshalb wäre es angebracht, gewisse
+Vorkehrungen zur Erhaltung der Gesundheit zu treffen,
+sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen,
+vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen
+betrifft, so ist er, meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus
+in seinem Recht, denn es ist <em>sein</em> Krokodil, in das
+Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um Erlaubnis
+zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht
+der Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon
+übrigens dieser, soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen
+hat. Nun, das Krokodil ist aber in diesem Fall
+persönliches Eigentum, folglich kann man es nicht so
+ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer
+den geforderten Schadenersatz zu zahlen.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also
+wenden Sie sich an diese.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch
+bei uns vermißt werden. Man kann vielleicht irgendwelche
+Aufschlüsse von ihm verlangen, ihn zu Rate ziehen
+wollen ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ...
+Zudem hat er ja jetzt Ferien, folglich ignorieren wir ihn
+und sein Treiben, – mag er dort inzwischen Europa besichtigen,
+was geht es uns an! Eine andere Sache ist es,
+wenn er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint.
+Nun, dann werden wir uns erkundigen, Nachforschungen
+anstellen ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a>
+„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen
+Sie sich!“
+</p>
+
+<p>
+„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat
+ihn gebeten, ins Krokodil zu kriechen? Das käme ja
+schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm noch eine
+Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen.
+Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches
+Eigentum, folglich tritt hier bereits das sogenannte
+ökonomische Prinzip in Aktion. Das ökonomische
+Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach
+Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka
+Andrejewitsch ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie
+kennen doch Ignatij Prokofjitsch? Ein Kapitalist, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">homme
+d’affaires</span>, und er redet, wissen Sie, ganz vorzüglich.
+‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘
+Wir müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst
+gebären. Dazu müssen wir zuerst Kapital schaffen, das
+heißt, der Mittelstand, die sogenannte Bourgeoisie muß
+geboren werden. Da wir aber hierzulande selbst kein Kapital
+haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen.
+Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die
+hier den Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke
+kaufen wollen, mit günstigeren Bedingungen entgegenkommen.
+‚Dieses Gemeindewesen, wie wir es jetzt
+haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen
+Besitz, der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist
+einfach Gift,‘ sagte er, ‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen
+Sie, er redet so mit Feuer, mit Temperament. Nun, ihm
+steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist etwas
+anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘
+sagt er, ‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere
+<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a>
+Landwirtschaft heben. Die ausländischen Gesellschaften
+müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land ankaufen und
+dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen,
+teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘
+– und wissen Sie, er sagt das so kategorisch: <em>tei</em>–len,
+<em>tei</em>–len, sagt er und schneidet so mit der Hand
+– ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern
+verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben
+wollen. Oder auch nicht einmal verkaufen, sondern einfach
+verpachten. Wenn dann das ganze Land in den
+Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘
+sagt er, ‚dann kann man jeden beliebigen Preis
+als Pacht ansetzen. Folglich wird der Bauer
+allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten,
+wie er jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt,
+kündigt man ihm. Folglich wird er sich in acht nehmen,
+wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache von dem,
+was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was
+fehlt ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor
+Hunger nicht sterben wird, na, und da faulenzt er eben
+und säuft. So aber würde hier Geld aus allen Ländern
+zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine
+Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung,
+The Times, die vor nicht langer Zeit einen Artikel
+über unsere Finanzen gebracht hat, daß unsere Finanzen
+sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen
+Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel
+gibt und keine arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij
+Prokofjitsch spricht gut, das muß man ihm lassen.
+Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine Schrift
+einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und
+<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a>
+nachher will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen.
+Tja, das ist etwas anderes als Gedichte machen, wie sie
+ein Iwan Matwejewitsch schreibt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“
+lenkte ich wieder ein, nachdem ich den Alten
+hatte ausreden lassen.
+</p>
+
+<p>
+Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern
+einmal aus, um bei der Gelegenheit zu beweisen, daß er
+nicht etwa zurückgeblieben, sondern von allen neuen
+Strömungen wenigstens unterrichtet war.
+</p>
+
+<p>
+„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das
+ist es ja, wovon ich rede. Da bemühen wir uns nun
+um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum hat sich
+das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch
+Iwan Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt
+jetzt die Gelegenheit zu benutzen und den ausländischen Besitzer
+zu protegieren, im Gegenteil nichts weniger als seinem
+Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich bitt’
+Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich
+Iwan Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines
+Vaterlandes wäre, aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen
+und stolz darauf sein, daß er durch seine Person den Wert
+des ausländischen Krokodils verdoppelt oder gar verdreifacht
+hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu
+einer erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt
+es hier dem ersten, dann wird auch der zweite nicht lange
+auf sein Erscheinen warten lassen, und der dritte wird
+dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile mitbringen,
+und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren.
+Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja,
+man muß eben begünstigen, begünstigen ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a>
+„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief
+ich aus, „Sie verlangen ja eine ganz übermenschliche
+Selbstaufopferung vom armen Iwan Matwejewitsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Ich <em>verlange</em> nichts, und vor allem bitte ich Sie
+– wie ich es schon einmal getan – nicht zu vergessen,
+daß ich nicht sein Vorgesetzter bin und somit von niemandem
+etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn meines
+Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘,
+wie eine unserer großen Zeitungen sich nennt,
+sondern als gewöhnlicher Sohn meines Vaterlandes. Und
+überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in dieses
+Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein
+solider Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen
+Rang erreicht hat, außerdem rechtmäßig verheiratet ist,
+und plötzlich – solch ein Schritt! Sagen Sie doch
+selbst!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig,
+nur aus Versehen!“
+</p>
+
+<p>
+„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse
+soll dem Deutschen das Krokodil bezahlt werden? – wenn
+Sie mir das gefälligst sagen könnten.“
+</p>
+
+<p>
+„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“
+</p>
+
+<p>
+„Wird das ausreichen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer
+zugeben. „Der Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn
+er glaubte, sein Krokodil würde platzen; dann aber, als
+er sich überzeugt hatte, daß alles glücklich abgelaufen war,
+wurde er gerader größenwahnsinnig und freute sich sehr
+über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“
+</p>
+
+<p>
+„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum
+wird sich jetzt um Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer
+<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a>
+ist nicht so dumm, daß er das nicht auszunutzen
+verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan Matwejewitsch
+vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich
+zu übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er
+sich im Krokodil befindet, aber möge man es nicht offiziell
+wissen. In dieser Hinsicht trifft es sich sogar sehr gut, daß
+er offiziell als verreist gilt und man ihn im Auslande
+glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er sich
+im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht
+glauben. Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache
+ist also nur: abwarten. Ja, und es hat doch damit
+gar keine Eile ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber wenn er zum Beispiel ...“
+</p>
+
+<p>
+„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig
+...“
+</p>
+
+<p>
+„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es
+ein sehr verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt
+man hier nicht vorwärts. Aber das Schlimmste ist, daß
+wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben, wie gesagt: uns
+fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur einen
+einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches
+ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden?
+Fängt man an nachzudenken, so kann er
+lange warten ...“
+</p>
+
+<p>
+Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke.
+</p>
+
+<p>
+„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich
+ihn, „daß man, wenn er nun einmal im Bauche des Krokodils
+ist und dieses dank himmlischer Vorsehung nicht
+früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen
+<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a>
+eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als
+Dienst anrechne? ...“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet
+und selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen
+braucht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“
+</p>
+
+<p>
+„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt,
+als sei er dorthin abkommandiert ...“
+</p>
+
+<p>
+„Was! – wohin?“
+</p>
+
+<p>
+„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen
+zur Nachforschung und Untersuchung der Tatsachen
+an Ort und Stelle. Das würde natürlich etwas Neues
+sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde
+es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“
+</p>
+
+<p>
+Timofei Ssemjonytsch überlegte.
+</p>
+
+<p>
+„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere
+eines Krokodils abzukommandieren, mit <em>besonderen</em>
+Aufträgen, versteht sich, ist meiner persönlichen
+Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht
+vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge
+sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung
+der Naturvorgänge an Ort und Stelle, mitten im Leben
+sozusagen. Heutzutage ist doch Naturwissenschaft Trumpf
+... Da könnte er denn dort leben und alles mitteilen ...
+nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich
+geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten,
+oder sonst etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial
+zu sammeln ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer
+<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a>
+analytischen Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich
+sagen, daß ich nicht viel davon verstehe, ich bin kein Philosoph.
+Sie sagen: Tatsachenmaterial, – wir sind doch
+ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen
+nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt,
+daß diese Statistik auch noch gefährlich ist ...“
+</p>
+
+<p>
+„Inwiefern denn das?“
+</p>
+
+<p>
+„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie
+doch einsehen – würde er die Tatsachen mitteilen, indem
+er auf der Seite liegt. Was ist aber das für ein
+Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon
+wieder eine Neueinführung, die außerdem gefährlich
+ist. Und weiter: es fehlt uns jegliches Beispiel. Tja,
+wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild nennen
+könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so
+ließe es sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch
+machen, daß man ihn dorthin abkommandiert.“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil
+nach Rußland gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“
+</p>
+
+<p>
+„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen,
+ist diese Ihre Einwendung richtig und könnte sogar zur
+Basis eines entsprechenden Verfahrens in dieser Angelegenheit
+dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder
+in Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender
+Krokodile die Beamten anfangen würden zu verschwinden,
+und bald würden sie alle verlangen, zumal es
+dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden,
+um dann auf der Bärenhaut liegen zu können ... das
+ist doch, nicht wahr, ein schlechtes Beispiel! So kann
+<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a>
+ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um auf diese
+Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort
+für ihn einlegen, Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit:
+Iwan Matwejewitsch hat mich gebeten, Ihnen
+eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren
+es, glaube ich.“
+</p>
+
+<p>
+„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch.
+Ich weiß. Und wie guter Laune er damals
+war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“
+</p>
+
+<p>
+Der alte Mann war aufrichtig gerührt.
+</p>
+
+<p>
+„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen,
+nur um zu sondieren ... Aber übrigens –
+könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir, inoffiziell, so auf
+Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer nötigen
+Falles für sein Krokodil verlangen würde?“
+</p>
+
+<p>
+Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden.
+</p>
+
+<p>
+„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie
+erlauben, werde ich bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es
+erfahren habe.“
+</p>
+
+<p>
+„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu
+Hause? Langweilt sich?“
+</p>
+
+<p>
+„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und
+jetzt ist es ja eine so günstige Gelegenheit ... Tja, was
+ihn nur geplagt haben mag, das Krokodil zu besehen.
+Übrigens werde ich es mir doch auch einmal anschauen
+müssen ...“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a>
+„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“
+</p>
+
+<p>
+„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen
+meinen Schritt keine Hoffnung machen. Ich werde eben
+nur als Privatperson hingehen ... Nun, auf Wiedersehen,
+ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch;
+werden Sie dort sein?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“
+</p>
+
+<p>
+„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist
+doch ein Leichtsinn, ein Leichtsinn!“
+</p>
+
+<p>
+Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken
+gingen mir durch den Kopf. Dieser Timofei
+Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und grundehrlicher
+Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich
+doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum
+feiern konnte und solche Timofei Ssemjonytschs
+immerhin schon eine Seltenheit bei uns geworden sind.
+</p>
+
+<p>
+Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage,
+um dem armen Iwan Matwejewitsch das Ergebnis meiner
+Unterredung mit unserem erfahrenen Kollegen mitzuteilen.
+Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier
+nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich
+dort im Krokodil eingerichtet und wie konnte ein Mensch
+überhaupt in einem Krokodil leben? Wie war das möglich?
+Mitunter schien es mir wahrlich nur ein ungeheuerlicher
+Traum zu sein, um so mehr, als es sich um
+ein Ungeheuer handelte ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-3">
+III.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">U</span><span class="postfirstchar">nd</span> doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare
+Wirklichkeit. Würde ich es denn sonst überhaupt erzählen!
+Aber ich fahre fort ...
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a>
+Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich
+in der Passage anlangte. In die Menagerie konnte
+ich nur durch eine Hintertür gelangen, da der Besitzer seine
+„Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte. Er selbst
+ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener
+mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher.
+Man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er nichts
+mehr befürchtete und das Publikum an diesem Nachmittage
+sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“ erschien
+erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es
+schien, nur deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie
+und ihr Gatte steckten oft die Köpfe zusammen und tuschelten
+geschäftig. Obschon die „Ausstellung“ geschlossen
+war, verlangte er von mir doch noch die üblichen fünfundzwanzig
+Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene
+Akkuratesse!
+</p>
+
+<p>
+„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen.
+Das übrige Publikum zahlt jetzt einen Rubel pro Person,
+von Ihnen aber nehme ich nur fünfundzwanzig Kopeken,
+denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten Freundes und
+Freundschaft respektiere ich ...“
+</p>
+
+<p>
+„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut,
+indem ich den Deutschen stehen ließ und zum Krokodil
+eilte. Im geheimen hoffte ich, daß mein lauter Ruf bis
+zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe schmeicheln
+würde.
+</p>
+
+<p>
+Ich hatte mich nicht getäuscht.
+</p>
+
+<p>
+„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der
+Tiefe des Raumes zurück, oder wie unter einem Kissen
+hervor, obwohl ich fast schon beim Krokodil angelangt
+<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a>
+war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ...
+Wie steht es?“
+</p>
+
+<p>
+Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann
+ihn eilig und teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu
+überschütten: wie er sich fühle, wie es denn dort im Krokodil
+aussehe und was dort im Magen noch außer ihm sei?
+– wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes Freundschaftsverhältnis
+verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig
+unterbrach er mich.
+</p>
+
+<p>
+„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter
+heiserer Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr
+unsympathisch war. Übrigens hatte er sich mir gegenüber
+oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt.
+</p>
+
+<p>
+Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit
+allen Details, was Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte.
+Übrigens bemühte ich mich doch, durch den Tonfall meiner
+Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt
+fühlte.
+</p>
+
+<p>
+„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch
+kategorisch, wie er gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte.
+„Liebe praktische Menschen und kann sentimentale Memmen
+nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben, daß auch
+deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht
+ganz barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen,
+das sowohl wissenschaftlich wie sittlich neu ist.
+Doch jetzt nimmt das alles eine andere, ganz unerwartete
+Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des Gehalts
+zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich stehe.“
+</p>
+
+<p>
+„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den
+Fußboden, und höre aufmerksam zu.“
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a>
+Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich
+hin, daß die Beine laut aufschlugen.
+</p>
+
+<p>
+„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum
+hat es heute eine Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte
+der Raum die Menschen gar nicht fassen, die eintreten wollten.
+Der Ordnung halber erschien die Polizei. Gegen acht
+Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die Ausstellung,
+erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um
+sich besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird
+es hier ein ganzer Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen,
+daß mit der Zeit alle gebildeten Leute unserer
+Hauptstadt, alle Damen der vornehmen Gesellschaft, alle
+Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren und
+Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das:
+man wird aus allen Provinzen unseres großen, neugierigen
+Reiches herkommen, um das Wunder anzustaunen. Daraus
+ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich unsichtbar, doch
+die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse
+belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung,
+mich als Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen!
+Werde, um im Bilde zu reden, ein Katheder sein, von dem
+herab ich die Menschheit unterweise. Schon allein die naturwissenschaftlichen
+Aufschlüsse, die ich über das von mir
+bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und
+deshalb murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall,
+der mich hierherbefördert hat, sondern hoffe, dank diesem
+Zufall, die glänzendste Karriere zu machen.“
+</p>
+
+<p>
+„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich
+trocken.
+</p>
+
+<p>
+Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich
+sprach, das persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr
+<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a>
+gebrauchte, – so voll war er von sich! Nichtsdestoweniger
+machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was bildet sich
+dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu
+empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch
+großtun!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf
+meine Bemerkung, „denn ich bin durchdrungen von großen
+Ideen. Kann erst jetzt zum erstenmal in Muße über
+die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit
+nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit
+und das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine
+neue, meine eigene Theorie für die ökonomischen Verhältnisse
+erfinden und stolz auf sie sein können – was mir
+bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen
+Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen,
+werde meine Gegenbeweise vorbringen und ein
+neuer Charles Fourier werden. Hast du Timofei Ssemjonytsch
+die sieben Rubel gegeben?“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so,
+daß allein schon der Ton meiner Stimme sagte, daß ich
+seine Schuld aus meiner Tasche bezahlt hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig.
+„Erwarte unbedingt eine Gehaltserhöhung, denn wem
+sollte man sonst eine zusprechen, wenn nicht mir? Ich
+bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. –
+Meine Frau?“
+</p>
+
+<p>
+„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena
+Iwanownas erkundigen?“
+</p>
+
+<p>
+„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes
+Weib.
+</p>
+
+<p>
+Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch
+<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a>
+innerlich knirschend erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna
+nach Hause begleitet und verlassen hatte. Er unterbrach
+mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte.
+</p>
+
+<p>
+„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte
+er gereizt. „Werde ich <em>hier</em> berühmt, nun, so will ich,
+daß sie <em>dort</em> berühmt werde. Alle Gelehrten, Dichter,
+Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische, alle
+Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir
+am Vormittage, am Abend in ihrem Salon erscheinen.
+In der nächsten Woche muß sie jeden Abend bei sich empfangen.
+Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel
+geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr
+gut nur mit Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen
+wir über den Kostenpunkt weiter kein Wort zu verlieren.
+Hier wie dort wird man nur von mir reden. Habe
+mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir
+reden machen könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses
+Wunsches versagt, da ich durch meinen Rang und meine
+Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank dem einen
+ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht.
+Jedes meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder
+Ausspruch erörtert, weitergegeben, gedruckt werden. Werde
+mich ihnen offenbaren! Sie werden begreifen, welche
+Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast haben
+umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister
+sein und ein ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen.
+Inwiefern, sag’ doch selbst, inwiefern bin ich schlechter als
+irgend solch ein Garnier-Pagès oder wie sie da heißen?
+Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein: ich glänze
+durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und Liebenswürdigkeit.
+‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine
+<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a>
+Frau,‘ werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend,
+<em>weil sie seine Frau ist</em>,‘ werden die anderen den
+Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß sie sich
+sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll,
+das von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist,
+um über alles reden zu können. Doch soll sie vor allen
+Dingen stets den Leitartikler in den ‚St. Petersburger
+Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des
+‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen
+wird, mich bisweilen mit dem Krokodil in den
+Salon meiner Frau zu bringen. Werde dann auf dem
+Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon
+stehen und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen
+an zurechtlegen kann, nur so um mich werfen. Dem
+Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen; mit dem
+Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen
+werde ich unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja
+jetzt für ihre Männer ganz ungefährlich bin. Allen übrigen
+werde ich als Vorbild dienen, als Beispiel demutvoller
+Ergebung und Unterordnung meines Willens unter denjenigen
+der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer
+glänzenden literarischen Erscheinung machen, ich werde sie
+hervorheben und dem Publikum erklären; als meine Frau
+muß sie die größten Vorzüge haben, und wenn man mit
+Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset
+nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere
+Eugenie Tour nennen.“
+</p>
+
+<p>
+Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein
+Iwan Matwejewitsch, obschon dieser ganze Unsinn an den
+ehemaligen Iwan Matwejewitsch erinnerte, zur Zeit, wenn
+auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so doch hohes
+<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a>
+Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im
+Grunde war es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch,
+nur – wie soll ich sagen? – etwa durch ein
+zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen.
+</p>
+
+<p>
+„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst
+du, bei diesem Leben ein hohes Alter zu erreichen? Und
+überhaupt, sage doch: bist du gesund? Was ißt du, wie
+schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und
+du wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich
+ist, um mein Interesse nicht natürlich erscheinen zu
+lassen.“
+</p>
+
+<p>
+„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“
+widersprach er ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem
+befriedigen. Du fragst, wie ich mich hier im Leibe
+des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das
+Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen
+Leeres erwiesen. Sein Inneres besteht gleichsam aus
+einem großen leeren Sack, der an jene Gummigegenstände
+erinnert, die man in den Schaufenstern der großen Kaufläden
+an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht
+irre, auch auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt
+sieht. Denn – sage es dir doch selbst – wie könnte ich
+mich sonst hier aufhalten?“
+</p>
+
+<p>
+„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung
+aus. „Ist das Krokodil wirklich ganz leer?“
+</p>
+
+<p>
+„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch
+streng und nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit
+nach ist es das gemäß den Gesetzen seiner Natur. Das
+Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen Rachen, der
+mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen
+Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau
+<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a>
+genommen. In der Mitte aber zwischen diesen zwei
+Extremitäten ist ein leerer Raum, der von einer kautschukartigen
+Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es
+wirklicher Kautschuk ...“
+</p>
+
+<p>
+„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber,
+das Herz?“ unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt.
+</p>
+
+<p>
+„Davon gibt’s hier n–<em>nichts</em>, absolut nichts, und
+aller Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas
+hier gegeben. Alles das ist nur eine freie Erfindung
+der müßigen Phantasie leichtsinniger Reisender. Wie man
+ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen aufbläst, so kann ich
+jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist bis zur
+Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als
+Hausfreund hier Platz finden, wenn du so großmütig
+wärest, mir Gesellschaft leisten zu wollen. Ich habe sogar
+daran gedacht, im äußersten Fall Jelena Iwanowna hierher
+zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit
+des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen
+Angaben überein. Denn, nehmen wir zum Beispiel an,
+daß dir der Auftrag zuteil würde, ein neues Krokodil zu
+schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die
+Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils?
+Die Antwort liegt auf der Hand: Menschen zu
+verschlingen. – Wie nun das Innere des Krokodils zweckmäßig
+schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr Menschen
+verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort
+noch leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt,
+hat die Physik bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet.
+Infolgedessen wird durch diese Leere, die die Natur
+nicht duldet, die Funktion des Krokodils hervorgerufen,
+<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a>
+denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben kann,
+muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und
+folglich greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in
+ihrem Bereich befindet. Damit hast du den Grund, weshalb
+alle Krokodile Menschen verschlingen. Das ist das
+Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch gilt es
+selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders
+ist zum Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel
+der Kopf eines Menschen ist, um so weniger hat er
+das Bedürfnis, sich zu füllen, doch ist das wiederum nur
+als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu betrachten.
+Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und
+alles, was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand
+erschlossen, durch eigene Anschauung, während ich
+mich im Eingeweide der Natur selbst befand, an der
+Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag
+lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein,
+denn allein schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit.
+Krokodil – Crocodillo – ist zweifellos ein
+italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit stammt, in
+der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort,
+das offenbar das französische Wort <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">croquer</span> zur Wurzel
+hat. Was ich dir soeben gesagt habe, gedenke ich als
+erste Lektion zu lesen, vor dem Publikum, versteht sich,
+das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln wird,
+wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“
+</p>
+
+<p>
+„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine
+erleichternde Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich.
+„Er hat Fieber, er fiebert, er muß hochgradiges
+Fieber haben!“ dachte ich angstvoll.
+</p>
+
+<p>
+„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre
+<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a>
+eine Purganz in meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz
+angebracht. Übrigens konnte ich es mir denken, daß du
+unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“
+</p>
+
+<p>
+„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt
+etwas zu dir nehmen? Hast du heute zu Mittag
+gespeist?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und
+werde höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen.
+Doch auch dieses ist durchaus erklärlich: indem ich
+das ganze Innere des Krokodils erfülle, mache ich es auf
+ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang nicht zu füttern.
+Und andererseits: indem das Krokodil durch mich
+satt ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem
+Körper. Das ist ungefähr dieselbe Ernährungsmethode,
+die raffinierte Schönheiten anwenden, wenn sie zur Nacht
+ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts bedecken, und
+dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder
+frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So
+erhalte ich, indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle
+Nahrungssäfte zurück, folglich ernähren wir uns gegenseitig.
+Da es aber selbst einem Krokodil schwer fallen
+dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu verdauen,
+so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere
+im Magen empfindet – obwohl es keinen Magen hat.
+Doch das tut nichts zur Sache. Deshalb bewege ich mich
+hier so wenig als möglich, obschon mich nichts hindern
+würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität.
+Diese geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige,
+was ich an meinem gegenwärtigen Zustande auszusetzen
+hätte, und im allegorischen Sinne hat Timofei Ssemjonytsch
+durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der Bärenhaut.
+<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a>
+Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend
+das Schicksal der Menschheit umstürzen kann. Alle
+großen Ideen und alle neuen Tendenzen unserer Zeitungen
+und Zeitschriften stammen augenscheinlich von Leuten, die
+auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund, weshalb
+man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens –
+gleichviel wie man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz
+spezielles System erfinden, – du ahnst nicht, wie leicht
+das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die Einsamkeit
+zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten,
+die Augen zu schließen, und im Nu hat man ein
+ganzes Paradies für die Menschheit erfunden. Vorhin,
+als ihr mich verließt, machte ich mich sogleich daran, zu
+erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich ganze
+drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten.
+Es ist wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen,
+man muß einfach alles umstürzen; aber aus dem Krokodil
+heraus ist das so leicht; ja aus dem Krokodil gesehen
+wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es
+hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches:
+es ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie
+mit Schleim bedeckt und außerdem riecht es nach Gummi,
+ganz genau so wie meine alten Galoschen vom vorigen
+Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln
+gibt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was
+du da redest, erscheint mir so wunderlich, daß ich kaum
+meinen Ohren traue. Aber sage mir doch wenigstens das
+eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr
+zu essen?“
+</p>
+
+<p>
+„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du
+<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a>
+dich sorgst! Ich rede von großen Ideen, du aber ... So
+höre denn, daß mich die großen Ideen sättigen und die
+Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens hat
+der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils,
+sich mit seiner herzensguten Mutter beraten und da haben
+sie beide beschlossen, mir jeden Morgen durch den Rachen
+des Krokodils ein gebogenes Metallröhrchen zuzustecken,
+damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder Bouillon mit
+aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist
+bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der
+Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus.
+Zu leben aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn
+es wahr ist, daß ein Krokodil so lange leben kann ...
+Jawohl! gut, daß ich das nicht vergessen habe: sieh doch
+morgen in einer Naturgeschichte nach und teile mir dann
+mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß
+ich es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere
+verwechsle. Nur eines erregt mein Bedenken: wie du
+weißt, bin ich angekleidet und zwar ist mein Anzug aus
+russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel, daher
+kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu
+kommt, daß ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung
+mit meiner ganzen Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise
+will ich mich nicht in das verwandeln, in was
+sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein solches Ende
+gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber,
+daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist
+nicht standhalten wird; er kann, als minderwertige russische
+Ware, früher verwesen und dann würde ich ohne diesen
+äußeren Schutz trotz meines ganzen Unwillens oder Willens,
+vielleicht doch verdaut werden, denn wenn ich es
+<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a>
+auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde,
+so kann mich doch in der Nacht, wenn der Wille mich im
+Schlaf verläßt, das gewöhnliche Schicksal einer genossenen
+Kartoffel oder Fleischpastete ereilen. Diese Möglichkeit,
+oder auch nur der bloße Gedanke an diese Möglichkeit
+macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde
+müßte man den Zolltarif ändern und den Import englischer
+Stoffe begünstigen, denn da sie fester sind, würden sie
+den zersetzenden Einflüssen der Natur länger Widerstand
+bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein Krokodil
+hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches
+Projekt bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne
+vorlegen und gleichzeitig auch den Berichterstattern
+unserer Tageszeitungen. Mögen sie es erörtern! Hoffe
+aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen werden.
+Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze
+Schar dieser Leute sich um mich drängen wird, um diesen
+Blechkasten, um meine Beurteilungen der neuesten Telegramme
+zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen lasse,
+gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die
+Zukunft im rosigsten Licht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir.
+</p>
+
+<p>
+„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine
+Ansichten kennen zu lernen. „Du bist doch jetzt geradezu
+ein Gefangener in einem dunklen Verließ, während der
+wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“
+</p>
+
+<p>
+„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete
+Antwort. „Nur die Wilden lieben Unabhängigkeit,
+weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn es aber
+keine Ordnung gibt ...“
+</p>
+
+<p>
+„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a>
+„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber,
+daß ich ihn unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich
+mein Geist so hoch emporgeschwungen wie jetzt. In meiner
+engen Wohnung fürchte ich augenblicklich nur – die
+literarische Kritik unserer dicken Tageszeitungen und den
+Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte, daß die
+leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung,
+die Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten,
+mich werden lächerlich machen wollen. Doch ich
+werde Maßregeln zu ergreifen wissen. Erwarte nur mit
+Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch
+hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe
+morgen alle Zeitungen mit, wenn du kommst!“
+</p>
+
+<p>
+„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“
+</p>
+
+<p>
+„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon
+Besprechungen zu erwarten, gewöhnlich werden bei uns
+Neuigkeiten erst nach vier Tagen besprochen. Doch von
+nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu
+mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu
+benutzen. Du wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich
+werde dir meine Gedanken diktieren und Aufträge geben.
+Vor allen Dingen aber vergiß nicht die neuesten Telegramme.
+Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen
+Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst
+jetzt schlafen wollen. Geh also nach Hause und denke
+darüber nach, was ich dir soeben über die Kritik gesagt
+habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet sich selbst
+in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und
+tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal
+gehoben. Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes,
+<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a>
+oder dieser und jener zugleich – das wird meine
+zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“
+</p>
+
+<p>
+So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte
+hohes Fieber haben! – beeilte sich mein Freund Iwan
+Matwejewitsch, mich seine Ansichten wissen zu lassen, jenen
+charakterschwachen alten Frauenzimmern nicht unähnlich,
+von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis bewahren
+können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was
+er da von der inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt
+hatte, äußerst verdächtig erschien. Wie war es möglich,
+daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz, keine Lungen
+hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus
+Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch
+nur, um mich zu kränken, zu erniedrigen. Freilich war er
+krank, und zu einem Kranken muß man gut sein, doch wenn
+ich anstatt gut offen sein will, so muß ich sagen, daß ich
+meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen
+können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit
+an, habe ich mich von seiner Vormundschaft nicht
+befreien können. Tausendmal wollte ich ihm den Laufpaß
+geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als
+hätte ich im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend
+etwas beweisen oder irgend etwas heimzahlen zu können.
+Ein wunderliches Ding war diese Freundschaft! Ich
+kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu neun
+Zehnteln aus Wut bestand.
+</p>
+
+<p>
+Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast
+gefühlvoll.
+</p>
+
+<p>
+„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir
+halblaut der Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um
+<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a>
+mich hinauszugeleiten. Er hatte die ganze Zeit aufmerksam
+unserem Gespräch zugehört.
+</p>
+
+<p>
+„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht
+vergesse: wieviel würden Sie für Ihr Krokodil verlangen,
+im Fall man es von Ihnen kaufen wollte?“
+</p>
+
+<p>
+Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben
+mußte, schien mit besonderer Spannung auf die Antwort
+zu warten. Offenbar wollte er nicht, daß der Deutsche
+wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir
+nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das
+entfernt an ein Grunzen erinnerte.
+</p>
+
+<p>
+Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon
+hören, ja er wurde sogar ärgerlich.
+</p>
+
+<p>
+„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung
+kaufen!“ schrie er, im Jähzorn rot wie ein gekochter
+Krebs. „Ich will mein Krokodil überhaupt nicht verkaufen!
+Geben Sie mir eine Million Taler – ich verkauf’
+es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler
+vom Publikum eingenommen und morgen werde ich zehntausend
+Taler einnehmen und dann hunderttausend Taler
+Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht verkaufen!“
+</p>
+
+<p>
+Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen.
+</p>
+
+<p>
+Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten
+Deutschen scheinbar ganz kaltblütig, sich die
+Sache zu überlegen, zumal seine Berechnungen meiner
+Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit übereinstimmten,
+daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich
+einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen
+sein müsse, und damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt.
+Und außerdem stehe unser aller Leben und Tod in
+<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a>
+Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch noch
+irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken
+und sogar sterben usw. usw.
+</p>
+
+<p>
+Der Deutsche wurde nachdenklich.
+</p>
+
+<p>
+„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“
+meinte er dann schließlich nach reiflicher Überlegung,
+„dann wird er nicht sterben.“
+</p>
+
+<p>
+„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben
+Sie auch das in Erwägung gezogen, daß Sie es mit der
+Polizei und dem Gericht zu tun bekommen können? Die
+Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren
+gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie
+haben nun die Absicht, reich zu werden, haben Sie aber
+auch die Absicht, seiner Frau eine Entschädigung, etwa
+eine Pension zu zahlen?“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen
+der Deutsche.
+</p>
+
+<p>
+„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit
+merklicher Bosheit die Mutter.
+</p>
+
+<p>
+„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer,
+jetzt sogleich und mit einemmal eine zwar geringere, doch
+dafür sichere Summe zu empfangen, als sich der Ungewißheit
+anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als
+meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus
+persönlicher Neugier frage.“
+</p>
+
+<p>
+Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab
+sich mit ihr in den fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem
+größten und widerlichsten aller Affen stand, um sich dort
+flüsternd mit ihr zu beraten.
+</p>
+
+<p>
+„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in
+vielsagendem Tone zu mir.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a>
+Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges
+Verlangen verspürte, erstens den Deutschen
+gründlich zu verprügeln, zweitens, noch gründlicher seine
+Frau; und drittens – am gründlichsten und schmerzhaftesten
+meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen
+seiner unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch
+nichts im Vergleich zu der Antwort des habgierigen Deutschen.
+</p>
+
+<p>
+Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner
+besseren Hälfte beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend
+Rubel, zahlbar in Papieren der jüngsten inneren Anleihe,
+außerdem ein steinernes Haus an der Gorochowaja, und
+zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und
+außerdem noch den Rang eines russischen Obersten.
+</p>
+
+<p>
+„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich
+sagte es dir! Ausgenommen den letzten unbegründeten
+Wunsch, hat er vollkommen recht, denn wie du siehst, versteht
+er den Wert seines Eigentums richtig zu schätzen.
+Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“
+</p>
+
+<p>
+„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen
+zu, „so sagen Sie mir doch, wozu Sie den Rang
+und Titel eines Obersten brauchen? Was für eine Heldentat
+haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf,
+welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich
+auf dem Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem
+nicht einfach verrückt?“
+</p>
+
+<p>
+„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter
+Würde aus. „Nein, nicht verrückt, sondern sehr vernünftig,
+Sie aber sind das Gegenteil! Ich habe den
+Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen
+kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber
+<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a>
+kann ein solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat
+gefüllt ist, der Welt nicht zeigen! Ich bin ein sehr
+kluger Mensch und deshalb will ich ein Oberst sein!“
+</p>
+
+<p>
+„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend
+meinem Freunde zu und eilte aus dem Ausstellungsraum.
+</p>
+
+<p>
+Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch
+an einem Haar hing. Die hirnverbrannten Hoffnungen
+dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus der Haut
+bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend
+und meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich
+aus, rief energisch eine Droschke heran, fuhr nach Haus,
+kleidete mich aus und ging zu Bett. Am meisten ärgerte
+mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein Sekretär
+zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen
+und mich noch über das erhebende Gefühl, nur die
+Pflicht eines aufrichtigen Freundes zu erfüllen, freuen!
+Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor Ärger über mich,
+und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht
+und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der
+Faust auf den Kopf und noch auf andere Teile meines
+Körpers. Dieses verschaffte mir bedeutende Erleichterung
+und endlich schlief ich ein, schlief sogar ziemlich fest, denn
+ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele
+Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber
+träumte mir von Jelena Iwanowna ...
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h3 class="chapter" id="chapter-5-4">
+IV.
+</h3>
+
+</div>
+
+<p class="first">
+<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur
+deshalb im Traum belästigt, weil ich sie tags zuvor im
+<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a>
+Käfig beim Krokodilbesitzer gesehen hatte; doch Jelena
+Iwanowna war ein besonderes Kapitel.
+</p>
+
+<p>
+Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese
+Dame; doch ich beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen:
+ich liebte sie wie ein Vater, nicht mehr und nicht
+weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich daraus, daß
+ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen
+oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie
+getan habe, so hätte ich doch – wenn man einmal alles
+beichten soll! – ganz sicherlich mich nicht geweigert, sie
+sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre Lippen
+waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen
+bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter
+Perlen, zwischen dem Rot der Lippen schimmerten, wenn
+sie lachte. Und sie lachte sehr oft. Iwan Matwejewitsch
+nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße Absurdität“
+– was man als eine durchaus gerechte und charakteristische
+Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon
+und nichts weiter. Deshalb blieb es mir auch unerklärlich,
+weshalb nun dieser selbe Iwan Matwejewitsch in
+seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu sehen
+begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ
+mein Traum – abgesehen von den Affen – den
+angenehmsten Eindruck in mir, und so beschloß ich, während
+ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des letzten
+Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf
+dem Wege in die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen,
+was ja übrigens in meiner Eigenschaft als
+Hausfreund auch meine Pflicht war.
+</p>
+
+<p>
+In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach,
+das von ihnen „der kleine Salon“ genannt wurde,
+<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a>
+obwohl auch der große Salon nur ein kleines Zimmer war,
+saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen Teetischchen
+in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna
+und trank aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein
+kleines Biskuitplätzchen bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie
+war verführerisch anzusehen, doch schien sie mir etwas
+nachdenklich gestimmt zu sein.
+</p>
+
+<p>
+„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie
+mich mit zerstreutem Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken
+Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie gestern? Wie
+haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem
+Maskenball?“
+</p>
+
+<p>
+„Waren <em>Sie</em> denn gestern auf dem Maskenball? ...
+Ich ... ich pflege keine Bälle zu besuchen ... zudem
+habe ich den Abend bei unserem Gefangenen verbracht ...“
+</p>
+
+<p>
+Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das
+Täßchen.
+</p>
+
+<p>
+„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen?
+... Ach, so! ... Ja, der Arme! ... Nun,
+was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ...
+ich wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann
+doch jetzt eine Scheidung verlangen?“
+</p>
+
+<p>
+„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der
+Hand gefallen. „Dahinter steckt der Brünette!“ dachte ich
+empört bei mir.
+</p>
+
+<p>
+Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem
+dunklen Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung,
+der sie in letzter Zeit auffallend oft besucht hatte
+und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu gefallen
+verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für
+ihn empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern
+<a id="page-374" class="pagenum" title="374"></a>
+abend entweder mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht
+sogar hier in ihrer Wohnung gewesen war und ihr
+bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den Kopf gesetzt
+hatte!
+</p>
+
+<p>
+„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna
+plötzlich ungeduldig, und alles, was sie sagte, schien ihr ein
+anderer gesagt zu haben, „wie wird denn das sein, er
+wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein ganzes
+Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier
+sitzen und vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß
+zu Hause wohnen, aber nicht in einem Krokodil ...“
+</p>
+
+<p>
+„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann
+ich in begreiflicher Erregung zu widersprechen.
+</p>
+
+<p>
+„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will
+nichts hören, nichts, nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich
+jeden weiteren Einwand ab. „Sie sind unausstehlich, ewig
+müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann man
+wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie
+einem zu raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß
+ich vollauf genügenden Scheidungsgrund hätte, allein schon
+deshalb, weil doch Iwan Matwejewitsch jetzt kein Gehalt
+mehr bekommen wird.“
+</p>
+
+<p>
+„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief
+ich fast pathetisch aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese
+Gedanken eingeflüstert? Und übrigens wird ein so nichtssagender
+Vorwand, wie die Einbuße des Gehalts, nicht
+als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme
+Iwan Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram!
+Noch gestern abend, während Sie sich auf dem
+Maskenball ihres Lebens freuten, sprach er davon, daß er
+sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als seine
+<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a>
+rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils
+zu kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr
+geräumig erwiesen hat, so daß nicht nur zwei, sondern
+sogar drei Menschen Raum in ihm hätten ...“
+</p>
+
+<p>
+Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil
+meiner letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch.
+</p>
+
+<p>
+„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung
+aus. „Sie wollen, daß ich gleichfalls dorthin krieche! zu
+Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch! Ja und wie
+sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und
+der ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und
+wonach wird denn das aussehen, wenn ich hineinkrieche
+und ... und jemand womöglich noch zusieht? ...
+Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ...
+und wie ist denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott,
+was Sie sich nicht ausgedacht haben! ... Und was gibt
+es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen, es rieche
+dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein,
+wenn wir beide in Streit geraten? Da müssen wir doch
+beieinander liegen bleiben? Pfui, wie widerlich das ist!“
+</p>
+
+<p>
+„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit
+Ihnen, meine teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich
+sie mit jenem begreiflichen Eifer, der einen stets erfaßt,
+wenn man fühlt, daß man im Recht ist, „nur haben Sie
+eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch
+wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu
+sich ruft; folglich handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche,
+treue, sehnsüchtige Liebe ... Sie haben
+die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena Iwanowna,
+die Liebe!“
+</p>
+
+<p>
+„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will
+<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a>
+davon überhaupt nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen,
+reizenden Hand, an der die soeben gebürsteten und
+polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt ab. „Pfui,
+wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum
+Weinen. So kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es
+Ihnen dort so angenehm zu sein scheint! Sie sind doch
+sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus Freundschaft
+neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend
+eine langweilige Wissenschaft ...“
+</p>
+
+<p>
+„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken
+lustig,“ unterbrach ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen,
+„Iwan Matwejewitsch hat mich bereits zu sich eingeladen.
+<em>Sie</em> würde die Pflicht hinführen, mich dagegen
+nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch,
+als er mir gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des
+Krokodils erzählte, deutlich zu verstehen gegeben, daß er,
+da nicht nur zwei, sondern ganze drei Menschen bequem
+dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund,
+erwartet, und deshalb ...“
+</p>
+
+<p>
+„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna
+und ihre Augen blickten mich fragend an. „Ja,
+wie werden wir denn ... so alle drei dort beisammen
+sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha!
+Ich würde Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie
+Taugenichts, hahaha! Hahaha!“
+</p>
+
+<p>
+Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen.
+Doch dieses Lachen und diese Tränen waren so bezaubernd,
+daß ich nicht lange widerstehen konnte und ganz begeistert
+nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen zu bedecken,
+was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie
+mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr.
+</p>
+
+<p>
+<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a>
+Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen,
+und ich schickte mich an, ihr ausführlich alle ihre Person
+betreffenden Pläne Iwan Matwejewitschs zu erzählen. Der
+Gedanke, in einem glänzenden Salon eine auserlesene Gesellschaft
+zu empfangen, sagte ihr sehr zu.
+</p>
+
+<p>
+„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“
+bemerkte sie lebhaft. „Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir
+möglichst bald und möglichst viel Geld senden soll ...
+Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie nachdenklich
+fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in
+meinen Salon bringen? Das ... das wäre doch lächerlich!
+Ich will nicht, daß man meinen Mann in einem
+solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde mich
+ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ...
+Nein, ich will nicht, ich will nicht ...“
+</p>
+
+<p>
+„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern
+Timofei Ssemjonytsch bei Ihnen?“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten,
+und denken Sie sich, wir haben die ganze Zeit Karten
+gespielt. Wenn er verlor, hatte ich eine Bonbonniere gewonnen,
+wenn ich verlor, durfte er mir die Hände küssen.
+Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie
+wohl: – fast wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren,
+– nein, wirklich!“
+</p>
+
+<p>
+„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn –
+wen bezaubern Sie nicht, Sie Zauberin!“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien!
+Warten Sie, dafür werde ich Sie zum Abschied
+einmal kneifen – das verstehe ich nämlich vorzüglich.
+Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie
+<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a>
+sagten vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von
+mir gesprochen?“
+</p>
+
+<p>
+„N–n–nein, nicht gerade <em>sehr</em> viel ... Ich muß
+gestehen, daß er jetzt eigentlich mehr an das Schicksal der
+ganzen Menschheit denkt und die Absicht hat ...“
+</p>
+
+<p>
+„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich
+langweilt er sich entsetzlich. Ich werde ihn einmal
+besuchen. Morgen vielleicht. Heute geht es nicht: ich
+habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein ...
+Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau,
+und mit den Fingern auf mich weisen ... Schrecklich!
+Nun, leben Sie wohl. Am Abend werden Sie doch ...
+dort sein, bei ihm?“
+</p>
+
+<p>
+„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“
+</p>
+
+<p>
+„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei
+ihm und lesen Sie ihm die Zeitungen vor. Zu mir aber
+kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin nicht ganz wohl,
+oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten besuchen,
+ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie
+Schwerenöter.“
+</p>
+
+<p>
+„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“
+dachte ich bei mir.
+</p>
+
+<p>
+In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste
+merken. Ich tat, als wüßte ich überhaupt nicht,
+was Sorgen sind. Doch bald fiel es mir auf, daß einige
+unserer fortschrittlichen Blätter an diesem Vormittage
+auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine
+Kollegen sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre
+vertieften. Die erste Zeitung, die ich erhielt, war
+der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne jede besondere
+<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a>
+Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human, weshalb
+es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger
+aber doch gelesen wurde.
+</p>
+
+<p>
+Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes:
+</p>
+
+<p>
+„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen
+Hauptstadt ein äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen
+bestätigt hat. Ein gewisser Gastronom, der
+zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den die kulinarischen
+Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu
+bieten vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien
+am Nachmittage in der Menagerie unserer Passage, wo
+zurzeit ein großes, soeben erst hier eingetroffenes Krokodil
+zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen Rücksprache
+mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil
+zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen
+Wassertier nur die besten Stücke seiner saftigsten Körperteile
+– d. h. der Körperteile des Krokodils – mit einem
+Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das ganze
+Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht
+viel gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger
+Begleiter, der Ichneumon, gefolgt, denn weshalb
+sollte dieser nicht ebenso gut schmecken? Wir haben natürlich
+gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den ausländischen
+Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist,
+nichts einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln,
+die bevorstehende größere Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen
+zu haben. Die englischen Lords und Reisenden
+fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande
+etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften
+zusammen und verzehren dann das <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span> Beefsteak zubereitete
+Rückenfleisch der Beute mit Senf, Sauce und
+<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a>
+Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land
+gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem
+Rückenfleisch vor – vielleicht nur den Engländern zum
+Trotz, die ein mitleidiges Lächeln nicht verbergen können,
+wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in heißer Asche
+backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl
+die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und
+können wir daher von uns aus nur freudig diesen neuen
+Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an einem solchen
+fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten Vaterlande.
+Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte
+es wohl kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu
+Hunderten importieren wird. Weshalb sollte man sie übrigens
+nicht in Rußland akklimatisieren? Falls das Newawasser
+für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so
+gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb
+der Stadt noch andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen.
+Weshalb sollten sie nicht z. B. in Pawlowsk oder Pargolowo
+leben können, oder in Moskau, wo doch die Pressnenskischen
+Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für
+unsere Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel
+wären, würden sie den an den Teichen spazierenden
+Damen eine interessante Zerstreuung bieten und
+die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen
+Jahren bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten
+Krokodile lassen sich zudem die verschiedensten Gegenstände
+herstellen, wie z. B. Futterale, Reisekoffer, Zigarettenetuis,
+Brieftaschen usw., und vielleicht wird noch so
+manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten
+Sorte – wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen
+– in Krokodilshaut aufbewahrt werden. Hoffen wir,
+<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a>
+daß uns noch öfter Gelegenheit geboten werden wird,
+auf dieses Thema zurückzukommen.“
+</p>
+
+<p>
+Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte
+mich dieser Artikel nicht wenig. Da niemand neben
+mir saß, mit dem ein Meinungsaustausch möglich
+gewesen wäre, wandte ich mich an den mir gegenübersitzenden
+Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß
+dieser müßig auf seinem Platz und schien mich schon
+längere Zeit beobachtet zu haben, die Zeitung „Woloß“
+zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm er von mir
+den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“,
+indem er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete,
+auf den er mich ersichtlich aufmerksam machen
+wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war ein sehr eigentümlicher
+Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der
+sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort
+sprach – obschon sich das Sprechen in einer Kanzlei unter
+Kollegen schwer vermeiden läßt – ein Mensch, der immer
+seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals einem
+anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist
+bisher noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß
+er ein einsames Leben führt.
+</p>
+
+<p>
+Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht
+hatte, lautete wie folgt:
+</p>
+
+<p>
+„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit
+Recht fortschrittlich gesinnt und human nennen können und
+daß wir Europa in dieser Beziehung nicht nachstehen wollen.
+Doch ungeachtet aller Wünsche und der Bemühungen
+unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘ zu
+sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern
+in der Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich
+<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a>
+beweist. (Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß
+wir es bereits vorausgesagt haben.)
+</p>
+
+<p>
+Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer
+ein, der ein lebendiges Krokodil mit sich führte, das
+jetzt in der Passage ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich,
+den ausländischen Vertreter dieses neuen, nützlichen
+und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem großen Vaterlande
+zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen
+zu heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags
+gegen fünf Uhr, wie uns gestern gemeldet wurde, ein
+außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz nüchternem Zustande
+(gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis, und
+kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch
+dem Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem
+vorher etwas gesagt zu haben. Das Krokodil war durch
+seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den
+Menschen zu verschlingen, da es doch wohl nicht ersticken
+wollte. Doch der verschlungene Unbekannte richtet sich im
+Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die
+Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner
+zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf
+den Unbekannten Eindruck zu machen. Selbst der Ruf,
+man werde die Polizei holen, bleibt erfolglos. Aus
+dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und
+die Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (<span class="antiqua">Sic!</span>) Währenddem
+vergießt das arme Tier, das gezwungen war, eine
+solche Masse zu verschlingen, ganz vergeblich seine Tränen.
+„Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes russisches Sprichwort,
+„ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen des
+Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche
+Mensch will seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen.
+<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a>
+Wir wissen nicht, wie wir eine so barbarische Handlungsweise
+erklären sollen, was uns um so peinlicher ist, als
+sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in den
+Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder
+ein glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen
+Natur. Jetzt fragt es sich nur: was wollte der ungebetene
+Gast damit erreichen? Etwa einen warmen und
+luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch
+unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet
+sind: sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen,
+eine Wasserleitung, die die Mieter mit Newawasser
+versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und
+nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier.
+Doch lenken wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit
+unserer Leser auch noch auf die rohe Behandlung des importierten
+Tieres. Natürlich wird es dem Krokodil schwer
+fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt
+es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch
+aufgeblasen von der übergroßen verschlungenen Portion,
+und erwartet unter unerträglichen Qualen den Tod. In
+Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich
+bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung,
+unserer neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind
+<em>wir</em> noch immer in Unwissenheit und Roheit befangen.
+</p>
+
+<p>
+‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile
+alt‘, um Gribojedoff zu zitieren. Leider entspricht nicht
+einmal dieses vollkommen der Wahrheit, denn auch die
+Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind. Jedenfalls
+erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten
+Mal, daß im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der
+Petersburger Seite die Treppenstufen, die aus der Küche
+<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a>
+in die Wohnung führen, schon seit langer Zeit verfault
+sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie jetzt endlich
+eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja Skapidarowa,
+die die Bedienung übernommen hatte und stets
+Gefahr lief, von der Treppe zu fallen – namentlich wenn
+sie Wasser oder Holz hineintrug – gestern abend gegen
+halb neun Uhr tatsächlich mit der Suppenterrine gefallen
+ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider wissen wir noch
+nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe
+bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig,
+doch können wir mitteilen, daß das Opfer dieser
+Schwerfälligkeit bereits ins Hospital gebracht worden ist.
+Desgleichen ermüden wir nicht, darauf aufmerksam zu machen,
+daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite von
+den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden
+deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen,
+zumal es nur geringe Mühe kosten würde, den Schmutz,
+wie man es im Auslande tut, zu Haufen zusammenzufegen,“
+usw. usw. ...
+</p>
+
+<p>
+„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor
+Ssawitsch anblickend. „Was soll das alles?“
+</p>
+
+<p>
+„Was?“
+</p>
+
+<p>
+„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch
+zu bedauern, bemitleiden sie hier das Krokodil!“
+</p>
+
+<p>
+„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein
+Tier, ein unvernünftiges Tier bemitleidet. Inwiefern stehen
+sie jetzt noch Europa nach? Dort tut man es doch
+ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte
+sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach
+kein Wort weiter.
+</p>
+
+<p>
+Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche
+<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a>
+und versorgte mich außerdem noch mit mehreren alten
+Nummern der „Nachrichten“ und des „Woloß“. An
+diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst.
+Zwar war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich
+früher in die Passage gehen, um wenigstens von weitem zu
+sehen, was dort vorging, um Meinungsäußerungen des
+Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu lernen.
+Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes
+Gedränge geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle
+den Mantelkragen hoch, denn aus irgend einem Grunde
+schämte ich mich, gesehen zu werden – so wenig haben
+wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich
+fühle, daß ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses
+außergewöhnliche Ereignis, meine eigenen prosaischen Gefühle
+zum Ausdruck zu bringen.
+</p>
+
+<div class="chapter">
+
+<h2 class="footnotes" id="part-6">
+Fußnoten
+</h2>
+
+</div>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bekannter Musiker und Dirigent. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<p class="footnote">
+<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen
+Uniform. <span class="ekr">E. K. R.</span>
+</p>
+
+<div class="trnote chapter">
+<p class="transnote">
+Anmerkungen zur Transkription
+</p>
+
+<p>
+Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung
+der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren
+Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde
+transkribiert nach:
+</p>
+
+<p class="nowrap center">
+F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br>
+Zweite Abteilung: Siebzehnter Band<br>
+R. Piper &amp; Co. Verlag, München und Leipzig, 1918.
+</p>
+
+<p class="skip_in_txt">
+Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen
+Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt.
+</p>
+
+<p>
+Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“
+vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen
+Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw.
+sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt.
+</p>
+
+<p>
+Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt.
+</p>
+
+<p>
+Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben.
+Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert.
+</p>
+
+<p>
+Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“)
+eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen
+wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen.
+</p>
+
+<p>
+Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen:
+Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“.
+Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe
+wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern):
+</p>
+
+<p class="list">
+Ssamowar (Samowar)
+</p>
+
+<p>
+Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert.
+Weitere Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben,
+sind hier aufgeführt (vorher/nachher):
+</p>
+
+
+
+<ul>
+
+<li>
+... <span class="underline">Lebemannsleben</span> fleißig geübt hat. Übrigens, ...<br>
+... <a href="#corr-6"><span class="underline">Lebemannslebens</span></a> fleißig geübt hat. Übrigens, ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... Zimmer eintretend<span class="underline">!</span> „Es ist er–staunlich, cher ami, ...<br>
+... Zimmer eintretend<a href="#corr-11"><span class="underline">.</span></a> „Es ist er–staunlich, cher ami, ...<br>
+</li>
+
+<li>
+... dann nur ein einziges Mal Leben ... aber ...<br>
+... dann nur ein einziges Mal <a href="#corr-15"><span class="underline">im</span></a> Leben ... aber ...<br>
+</li>
+</ul>
+</div>
+
+
+<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 ***</div>
+</body>
+</html>
+
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