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| author | nfenwick <nfenwick@pglaf.org> | 2025-05-18 08:21:04 -0700 |
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Jahn in Rudolstadt. + + + + + Inhalt + + + Vorwort V + Onkelchens Traum 1 + Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett 243 + Das Krokodil 321 + + + + + Vorwort + + +Die beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen Erzählungen +stehen im Anschluß an Dostojewskis humoristischen Roman „Das Gut +Stepantschikowo“. Sie teilen mit ihm die allgemeine humoristische +Anschauung und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung +„Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett“ bestand ursprünglich aus +zwei getrennten Geschichten („Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige +Gatte“), die erst später von Dostojewski zu einer einzigen +zusammengezogen wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre: die +Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach wie vor einen +Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen ist. + +Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine +politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische Satire aus dem Jahre 1864. +Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen Band mit +eingestellt. + + E. K. R. + + + + + Onkelchens Traum + + + Aus den Mordassoffschen Chroniken + + + I. + +Marja Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die erste Dame in Mordassoff +– darüber kann kein Zweifel bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie +sich um keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von ihr allein +abhängig. Freilich wird sie infolgedessen auch von keinem Menschen +geliebt. Freilich hassen sie deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen. +Aber dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es, was sie +gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch ist, meine ich, ein +Beweis hoher politischer Begabung. Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja +Alexandrowna, die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht +nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren hat: wie kommt +es, frage ich, daß sie sich bei alledem so zu benehmen weiß, daß bei +ihrem Anblick kein Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die +erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch Mordassoffs vor sich +zu haben? O, ganz im Gegenteil: man ist überzeugt, daß ihre bloße +Anwesenheit jeden Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer +erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern werden und +kein anderes Gespräch mit ihr möglich ist, als eines über die höchsten +Themata. Sie weiß z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so kapitale +und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit erzählen und so +beweisen würde, wie nur sie allein Ähnliches zu beweisen versteht, in +Mordassoff sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen +würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen, was diese Dinge +anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im äußersten Fall, Freundinnen. +Sie erschreckt nur den Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht +es vor, den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten, anstatt sie +endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit, das nennt man Taktik! Marja +Alexandrowna zeichnet sich unter uns durch ihr einwandsloses +^Comme-il-faut^ aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser +Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie versteht zum +Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem einzigen Wort zu zerschmettern, +zu vernichten, zu töten; währenddessen aber tut sie, als hätte sie +überhaupt nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen. +Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten Gesellschaft +eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen Taktfragen hätte sie sogar einen +Pinelli[1] glänzend besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele, +die Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert von ihrem +Empfang und korrespondierten nachher noch lange mit der freundlichen +Gastgeberin. Einer ihrer Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht +verewigt, das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste zeigte. Ein +durchreisender Literat hatte ihr sogar eine Novelle gewidmet, die er auf +einer Abendgesellschaft bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und +guten Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter aus Karlsruhe, der +uns absichtlich mit seinem Besuch beehrte, um hierselbst eine besondere +Würmerart mit Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu +erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in Quart geschrieben +hat, war von dem Empfang und der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas +dermaßen entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe aus der +Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann natürlich nicht +unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna wurde in gewisser Beziehung sogar +mit Napoleon verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur im Scherz und +von ihren Feinden, mehr um der Karikatur als um der Wahrheit willen. +Dessen ungeachtet – und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen +Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige Frage zu +stellen: weshalb – bitte, mir darauf zu antworten – weshalb wurde dem +großen Napoleon schließlich schwindlig, als er gar zu hoch +hinaufgeklettert war? Die Anhänger der alten Dynastie schreiben das dem +Umstand zu, daß Napoleon nicht nur kein Sproß aus königlichem Hause, +sondern nicht einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und daß es +folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche Höhe einen Schrecken +eingejagt habe und ihm bei dem Gedanken an seine geringe Herkunft und +den ihn zukommenden niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden +sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung, die lebhaft an die +Glanzzeit des alten französischen Hofes erinnert, will ich es wagen, +folgende Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna nie und +unter keinen Umständen schwindlig und warum bleibt sie immer und trotz +aller Vorkommnisse die erste Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel +Fälle, in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen, wie +Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre ziehen wird!“ Doch siehe, +die schwierigen Verhältnisse kamen, bestanden, gingen vorüber – und es +geschah nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar noch +besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein jeder dessen erinnern, wie +ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch, infolge von Unbegabtheit oder +Schwachsinn seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch seine +Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals geschickten Revisors erweckt +hatte. Da glaubten denn alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren, +kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln würde. Doch +nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna sah ein, daß sie doch +nichts mehr ausrichten würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren +Einfluß auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb ihr +Haus jetzt denn auch immer noch als das erste Haus in Mordassoff gilt. +Die Frau unseres Staatsanwalts, Anna Nikolajewna Antipowa, die +geschworene Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach allerdings +ihre größte Freundin – frohlockte damals bereits über ihren Sturz. Als +man aber sah, daß Marja Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen +ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer hinabreichten, +als man anfänglich geglaubt hatte. + +Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij Matwejewitsch zu sprechen +gekommen sind, will ich auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß +ich bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung ist +und sogar sehr gute Manieren hat – nur hat er die Angewohnheit, in +kritischen Augenblicken etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er +einen an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich und +würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn er in weißer Binde +erscheint. Leider aber währt der gute Eindruck genau nur bis zu dem +Augenblick, in dem er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann – +Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann würde man sich am liebsten +... sagen wir: die Ohren zuhalten. + +Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna anzugehören: +Das ist die allgemeine Meinung. Einzig dank der Genialität seiner Frau +hatte er denn auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner Ansicht +nach wäre sein Platz von Anfang an in einem Gemüsegarten gewesen, wo er +sich als Vogelscheuche sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und +zwar ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen wirklichen, +unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und deshalb war es von Marja +Alexandrowna sehr klug gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf +ihr drei Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie +hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt, ihr ganzer +Besitz und ihre einzige Einnahmequelle, aus der sie alle Ausgaben +bestreitet, die selbstverständlich nicht gering sind, da sie doch nach +wie vor ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie ihren Gemahl +einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten, weil er eine gute Anstellung +hatte, ein gutes Gehalt bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber +mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende war, da wurde er als +ein vollkommen untaugliches und überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die +Folge davon war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen, +ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten. Afanassij +Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem Lande wie im Wollkorbe. Ich habe +ihn vor kurzem einmal besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm mit +ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene weiße +Halsbinden um, putzt eigenhändig seine Stiefel – nicht weil er keine +Bedienung hätte, sondern nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern, +wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er Tee, nimmt mit +besonderer Vorliebe ein Bad und ist vollkommen zufrieden. Und entsinnen +Sie sich noch der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa +anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der einzigen Tochter Marja +Alexandrownas und Afanassij Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist +fraglos eine Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen, aber – +sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist noch nicht verheiratet. +Unter den Gründen, mit denen man diese Tatsache zu erklären versucht, +sind die dunklen Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen Sinas zu +einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch nicht ganz verstummt sind – +sicherlich die am meisten besprochenen. Man spricht noch immer von einem +Liebesbrief, den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff von Hand zu +Hand gewandert sei. Einstweilen aber: wer hat denn diesen Brief oder +Zettel – er soll nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen? +Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er dann schließlich +geblieben? Alle haben von ihm gehört, gesehen aber hat ihn kein +einziger. Ich wenigstens habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst +gesehen hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche +Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht. Nehmen wir aber jetzt +an, daß Sina tatsächlich einen solchen Zettel geschrieben – ich glaube +sogar bestimmt, daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle +Hochachtung haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas? Wie geschickt +und mit welcher Sicherheit sie dem unangenehmen, skandalösen Klatsch die +Spitze abzubrechen verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung +ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen Verleumdung +überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr! Indessen aber – nur Gott allein +wird es wissen, wie sie gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen +Tochter unbefleckt zu erhalten. Und andererseits: ist es denn nicht sehr +begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet hat: was gibt es denn hier +für Freier? Und Sina kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat +jemand, frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit gesehen? +Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man sagt, Mosgljäkoff werbe um +sie, aber es ist nicht anzunehmen, daß sie ihn heiraten wird. Was ist +denn dieser Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht häßlich, ein +Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne Schulden, Petersburger. Aber +immerhin – der Kopf ist nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit +irgendwelchen allerneuesten Ideen! Und was sind denn schließlich +hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei den neuesten Ideen! Nein, ich +habe es gleich gesagt – aus dieser Heirat wird nichts! + +Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat, ist von mir vor +ganzen fünf Monaten geschrieben worden, und zwar nur aus Begeisterung. +Ich will es nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine kleine +Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, etwas in der Art einer +Verherrlichung dieser großen Frau zu schreiben, vielleicht in der Form +eines scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster der Briefe, +die in der alten, goldenen, doch – Gott sei Dank! – unwiederbringlichen +Zeit in der „Nordischen Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen. +Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und mir außerdem noch +eine gewisse literarische Schüchternheit angeboren ist, so blieb mein +Manuskript in meinem Schreibtischfach als literarischer Versuch und als +Erinnerung an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der Muße und des +Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen fünf Monate, bis schließlich +eines Tages unsere liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh +morgens rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K. kam an und +stieg im Hause Marja Alexandrownas ab. + +Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der Fürst hielt sich nur +drei Tage in Mordassoff auf, doch diese drei Tage sind uns allen +unauslöschlich in der Erinnerung geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß +der Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt hat. Die +Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich die bemerkenswertesten +Seiten in den Annalen der Stadt Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun +literarisch zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser zu +unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem Schwanken endgültig +entschlossen. + +Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte Geschichte der +Erhöhung, des größten Ruhmes und des feierlichen Falles Marja +Alexandrownas und ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und +für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht sich, vorher +muß ich noch erklären, weshalb es ein solches Ereignis war, daß der +Fürst K. in die Stadt gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg. +Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von der Person des +Fürsten erzählen. So werde ich es auch tun. Zudem ist die Kenntnis der +Lebensgeschichte dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren +Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können. Also, ich beginne. + + + II. + +Ich muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren nach durchaus noch kein +Greis war. Doch dessenungeachtet kam einem bei seinem Anblick +unwillkürlich der Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse: +dermaßen verlebt oder verbraucht war der Mann und sah er aus. In +Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten stets äußerst sonderbare, +mitunter selbst phantastische Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der +alte Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden aber alle, daß +ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend Seelen besaß, unter seinen +Verwandten bekannte Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur +gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte spielen können, +auf seinem prächtigen Gut von aller Welt völlig zurückgezogen lebte. +Viele Honoratioren hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als +er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie versicherten, +daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen können und alles eher als +ein Einsiedler gewesen sei. + +Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus glaubwürdigster Quelle +Folgendes von seiner Lebensgeschichte erfahren: + +Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange her ist, war der Fürst +in glänzendster Weise ins Leben eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war +mehrmals im Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots gemacht +und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet. Wie es sich +wohl von selbst versteht, verlebte er sein ganzes Vermögen, so daß er +sich, als das Alter kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm +irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln, das bereits +versteigert werden sollte, und so war er denn nach Mordassoff gefahren +und hatte dort ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt zu +denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und die Folge davon +war, daß er in diesem halben Jahr das Letzte, was ihm noch geblieben +war, gleichfalls durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf +verschiedene Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen verzichten konnte. +Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger Mensch war, freilich nicht ohne +einige besondere fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die aber in +Mordassoff für als ausschließlich der höchsten Gesellschaft eigen +angesehen wurden, und daher, statt Verdruß zu erwecken, sogar einen +guten Eindruck machten. Namentlich die Damen waren von ihrem lieben Gast +außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar manche interessante +Erinnerung an ihn. Unter anderem erzählte man, daß der Fürst einen +halben Tag zum Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus +zusammensetzbaren Stücken bestände. Niemand wußte sich zu erklären, wann +und wo er sich aller der ihm fehlenden Körperteile zu entledigen +vermocht hatte. Er trug eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart, +und sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war unecht. Ihm +war buchstäblich jedes Haar angeklebt und jedes glänzte im schönsten +Schwarz. Er schminkte und puderte sich täglich. Es wurde sogar +behauptet, daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen Haaren +unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln in seinem Gesicht +glätte. Auch hieß es, daß er ein Korsett trage, da er bei einem +ungeschickten Sprung aus dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in +Italien – sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit dem linken Fuß hinkte +er. Es wurde behauptet, daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten +in Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers eingebüßt +habe und zum Ersatz ihm ein Holz- oder Korkfuß angesetzt worden sei. +Aber schließlich, was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch, daß +sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein sehr teures, sehr +kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne waren alle unecht. Ganze Tage lang +wusch er sich mit den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten, +parfümierte und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens entsinnt man +sich, daß der Fürst damals schon merklich gealtert war und entsetzlich +schwatzhaft wurde. Seine Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle +wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber geschehen, daß +gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten, eine uralte Greisin, die +beständig in Paris lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten +hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem Monat ihren einzigen +Erben begraben hatte. So wurde plötzlich und unerwartet der Fürst ihr +gesetzmäßiger Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles +Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt er ganz allein. +Ohne lange zu säumen, machte er sich nach Petersburg auf, um dort die +Angelegenheit zu erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem lieben +Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam bezahlten, wozu eine +Kollekte veranstaltet worden war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem +Abend bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und gelacht und +die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt. Zum Schluß habe er versprochen, +sich so bald als möglich in Duchanowo, so hieß sein neues Gut, +niederzulassen, und dann – darauf habe er sein Wort gegeben – würde er +fortwährend Feste, Picknicks, Bälle und italienische Nächte mit +Feuerwerk und Lampions veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner +Abfahrt sprachen die Damen nur von den verhießenen Freuden und +erwarteten ihren alten Freund mit größter Ungeduld. Inzwischen aber +begnügte man sich mit kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte +Herrenhaus und der große Park besichtigt wurden. In diesem Park gab es +Akazienhecken, die zu Löwen und anderen Tieren zurechtgestutzt waren, +künstliche Hünengräber, Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit +holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben, Pavillons, +Monplaisirs und noch viele andere Späße. + +Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen Verwunderung und +Enttäuschung zeigte er sich nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich +auf seinem Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten +sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann man sagen, daß die +Lebensgeschichte des Fürsten seit eben dieser Zeit schleierhaft und +phantastisch wird. So erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht +gerade Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und dereinstigen +Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche unter irgend jemandes +Vormundschaft hätten stellen wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er +wieder sein ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten +sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe einsperren wollen, doch +einer seiner Verwandten, ein angesehener Mann, sei für ihn eingetreten +und habe den anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem ja +ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich bald von selbst +sterben würde – und dann bekämen sie das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch +ich sage nochmals: wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch dazu +bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem Vorhaben seiner Verwandten +sollen den armen Fürsten so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen +Charakter vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte! Einige +unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit Glückwünschen zu ihm aufs Gut +gefahren: doch sie waren entweder überhaupt nicht, oder in sehr +seltsamer Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe seine +früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder habe sie nicht erkennen +wollen. + +Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm. Er kehrte mit der +Nachricht zurück, daß der Fürst seiner Meinung nach tatsächlich „etwas +verdreht“ sei, und er machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn +man ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die Damen sprachen laut +ihren Unwillen darüber aus. Endlich erfuhr man einen Umstand von +erschütternder Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte +Stepanida Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe, Gott weiß was für +eine Weibsperson, die aus Petersburg mit ihm angekommen war, dick und +bejahrt, die nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in der Hand +umherging; daß der Fürst ihr in allem wie ein Kind gehorche und ohne +ihre Erlaubnis keinen Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig +bediene, sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und wie einen Säugling +einlulle, und schließlich, daß sie es sei, die jeden Besuch von ihm +fernhalte, namentlich seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum +Zweck verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo +kamen. In Mordassoff wurde viel über diese unbegreifliche Verbindung +gesprochen, besonders seitens der Damen. Zu alledem wurde noch +hinzugefügt, daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des +Fürsten unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt das +Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter und Förster absetze und +die Einnahmen empfange – doch mache sie alles so gut, daß die +Leibeigenen ihr Schicksal geradezu priesen. + +Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte man, daß er seine Tage +fast ausschließlich im Ankleidezimmer zubrachte und sich nur mit dem +Anpassen von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige Zeit in +der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe, mit ihr Karten spiele, +sich die Karten lege, hin und wieder auf einer frommen englischen Stute +ausreite, wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in einem gedeckten +Wagen begleite – „für alle Fälle“, versteht sich: denn der Fürst reite +nur aus Eitelkeit, könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen +hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem eleganten Paletot, +breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem Damenhalstuch, mit seinem Monokel +im Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze, und mit +Kornblumen in der linken Hand. Stepanida Matwejewna begleitete ihn +regelmäßig und hinter ihm gingen zwei galonierte Diener und folgte – +„für alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen: kam ihnen +unterwegs ein Bauer entgegen und grüßte er sie, zur Seite tretend, tief +und ehrerbietig: „Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden +unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich sein Monokel auf ihn +und antwortete freundlich mit gnädigem Kopfnicken: „^Bonjour, mon ami, +bonjour!^“ + +Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff von Mund zu Mund. Es +schien ganz unmöglich zu sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte +ja auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war die Verwunderung, +als eines schönen Morgens das Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst, +dieser Einsiedler und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff +angelangt und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen sei. Alles geriet +in Aufregung, alle erwarteten eine Aufklärung, alle fragten einander, +was das zu bedeuten habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja +Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten erschien ihnen als +ein gar zu großes Wunder. Sie schrieben sich Zettelchen, machten +einander Morgenvisiten, schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf +Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber, daß der Fürst +gerade bei Marja Alexandrowna abgestiegen war. Und am meisten ärgerte +sich darüber Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über Tanten, +Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt mit ihr verwandt war. Aber +ich sehe, um alle diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja +Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin uns zu folgen wir +den verehrten Leser untertänigst bitten. Es ist allerdings noch früh, +kaum zehn Uhr, aber ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde, +nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen wird. + + + III. + +Zehn Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja Alexandrownas, an der großen +Straße, in jenem Zimmer, das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten +„^mon salon^“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar ein Boudoir. In diesem +Salon ist der Fußboden gut gestrichen und die Wände sind mit hübschen +Tapeten versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende Farbe. An +einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin ein Spiegel, vor dem Spiegel +eine bronzene Stutzuhr mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack +zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel, von denen die +Überzüge entfernt sind. Vor diesen Spiegeln stehen auf kleinen Tischen +wieder Uhren. An der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina +verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem brennenden Kamin +sind weiche Polstermöbel gruppiert, nach Möglichkeit in malerischer +Unordnung, zwischen ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende +des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer blendend weißen +Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner Ssamowar neben einem reizenden +Teeservice. Das Eingießen des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna +Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja Alexandrownas bei dieser +lebt. Zwei Worte über sie. Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt, +brünett, mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen Augen. +Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren Charakter, lacht viel und +gern, ist ziemlich schlau, klatscht natürlich, und versteht es, ihr +Schäfchen ins trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide +irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal heiraten; ihr erster Mann +war aktiver Offizier. Im übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf. + +Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am Kamin in vorzüglicher +Stimmung und in einem hellgrünen Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist +unsäglich erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig mit seiner +Toilette beschäftigt und folglich noch unsichtbar ist. Sie ist so froh, +daß sie ihre Freude nicht einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein +junger Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt. Seinen Augen +sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen gefallen will. Er ist +fünfundzwanzig Jahre alt. Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät +er leicht in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und geistreich +gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich. Aber wir haben ja +schon von ihm gesprochen: das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der +zu großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna findet im stillen, +daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber trotzdem die Liebenswürdigkeit +selbst zu ihm. Er wirbt um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen +Worten, bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick wendet er +sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor und Geist zum Lächeln zu +bringen. Sie aber ist auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In +diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre schmalen Finger +blättern in einem Kalender. Sie gehört zu jenen Erscheinungen, die +allgemeine – ich möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen, wenn +sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum eintreten. Sie ist +unbeschreiblich schön: von hohem, schlankem Wuchs, mit prächtigem +braunen Haar, wundervollen, fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut: +Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin, das Füßchen +verführerisch, der Gang königlich. Heute ist sie ein wenig bleich; dafür +aber wird man ihre blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten +sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen Zähne glänzen, +drei Nächte noch im Traume sehen, wenn man sie einmal in Wirklichkeit +gesehen hat. Sie sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff +scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu fürchten, wenigstens +fühlt er sich nicht ganz geheuer, wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre +Bewegungen sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches +weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders gut; doch übrigens, +was steht ihr nicht gut? An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus +Haar geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht aus dem Haar +der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es +ist. An diesem Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar traurig, +als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist Marja Alexandrowna zu +ununterbrochenem Reden bereit, wenn sie auch mitunter gleichfalls einen +besonderen, gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet – +was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz als fürchte auch sie ihre +Tochter. + +„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“ beteuert sie, „daß +ich es jedem Menschen, der an meinem Hause vorübergeht, aus dem Fenster +zurufen könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden Überraschung, +die Sie mir und Sina bereitet haben, indem Sie zwei Wochen früher +gekommen sind, als Sie es versprochen hatten; das versteht sich von +selbst! Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben Fürsten +hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr ich diesen bezaubernden +alten Herrn liebe! Doch nein, nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie +gehören zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters nie +verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so beredt schildern wollte! +Wissen Sie auch, was er mir in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs +Jahren – weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen: Du warst +ja damals bei deiner Tante zum Besuch ... Sie werden es mir nicht +glauben, Pawel Alexandrowitsch; ich war seine Führerin, seine Schwester, +seine Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war etwas Naives, +Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis zueinander ... Ich weiß +nicht, wie ich es ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb +er sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, ^ce pauvre +prince^! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie ihn damit +vielleicht sogar gerettet haben, daß Sie auf den Gedanken gekommen sind, +ihn zu mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen langen sechs +Jahren an ihn gedacht. Sie werden es mir nicht glauben: mir hat sogar in +der Nacht von ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau habe ihn +behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber Gott sei Dank, jetzt haben +Sie ihn endlich aus diesen Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die +Gelegenheit benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie mir +doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles gelungen ist? Beschreiben +Sie mir so ausführlich als möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als +Sie ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache, während doch +gerade alle diese Details, wie man sagt, den Charakter geben! Ich liebe +über alles die Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich meine +Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und ... solange er noch mit +der Toilette beschäftigt ist ...“ + +„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt habe, Marja +Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff sofort bereitwillig auf, da er es +vielleicht auch noch zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören, +war für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze Nacht durch und, +versteht sich, schlief die ganze Nacht nicht, – Sie können sich denken, +welche Eile ich hatte!“ fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit +einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und auf den Stationen +wegen der Pferde Lärm geschlagen: wenn man es niederschreiben und +drucken lassen wollte, so würde es eine ganze Dichtung im neuesten +Geschmack werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt sechs Uhr +morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo. Zitternd vor Kälte – +ich wollte mich nicht einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden. +Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und ihren Säugling +erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie ihn nicht mehr stillen ... +Wundervoller Sonnenaufgang. Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot +und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem Wort, ich eile +Hals über Kopf weiter. Um die Pferde habe ich regelrecht gekämpft, nahm +sie einem Kollegienassessor fort und forderte ihn fast zum Duell. Man +erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein Fürst von dort +abgefahren sei, er fuhr mit eigenen Pferden, habe dort genächtigt. Höre +nur mit halbem Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich von +der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches in einer modernen +Elegie gelesen. Genau auf der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der +Weg zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich sehe, +etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer Reisewagen liegt auf der +Seite, der Kutscher und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem +Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes Geschrei. +Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte: lieg mal zu auf der Seite, +gehöre nicht zu deiner Gemeinde. Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie +Heine sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich, mein Ssemjon +und der Kutscher – gleichfalls eine russische Seele – eilen zur Hilfe +und so stellen wir, sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage +wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht hat, da sie ja +auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern halfen noch mit Stangen, fuhren +zur Stadt, erhielten von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich +jener alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er selbst, Fürst +Gawrila! Das war eine Überraschung! Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er +aber erkannte mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das heißt, +er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den zweiten Blick. +Einstweilen aber ... unter uns: ich glaube, daß er selbst jetzt noch +nicht recht weiß, wer ich eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für +einen ganz anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten. +Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in Petersburg zum letztenmal +gesehen. Damals war ich, wie Sie sich denken können, noch ein halber +Knabe. Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken +Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie soll er sich noch meiner +entsinnen! Stelle mich vor: er ist entzückt, umarmt mich, selbst aber +zittert er noch von dem Schreck und weint, bei Gott, _weint_, ich habe +es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen dies und das – ich +beredete ihn endlich dazu, in meinen Wagen einzusteigen und – sei’s auch +nur auf einen Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich etwas zu +zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos ein ... Erklärt +mir, daß er in das Kloster Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre, +den er überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna – wer von uns +Verwandten hat nicht von Stepanida Matwejewna gehört? – mich hat sie +noch vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo hinausgejagt –, +daß also seine Stepanida Matwejewna einen Brief erhalten habe, des +Inhalts, daß in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege: ihr +Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht und habe auch kein +Interesse dafür übrig; vielleicht sind es beide, sowohl der Vater wie +die Tochter ... vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort +im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz zu fassen – sie war +dermaßen in Verwirrung geraten, daß sie sich entschlossen hatte, auf +etwa zehn Tage ihren Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um +diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der Fürst saß +inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen zweiten, setzte sich zur Probe +eine Perücke nach der anderen auf, pomadisierte sich, färbte seinen +Schnurrbart, legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference, +allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über seine Kräfte – ohne +Stepanida Matwejewna! Da hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich +ins Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von den dienstbaren +Geistern, der Stepanida Matwejewna sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet, +hatte zwar einiges einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf +bestanden. Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren, hatte in +Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang von der Station +weitergefahren, um genau vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem +berühmten Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast in den +Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn, mit mir zu unserer +gemeinsamen Freundin, der hochverehrten Marja Alexandrowna zu fahren ... +Er sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von allen, die er +jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir hier, der Fürst aber frischt +vorläufig noch seine Toilette auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den +er nicht vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem Fall +und unter keinen Bedingungen vergessen wird, mitzunehmen, denn er würde +eher zu sterben einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne einige +Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen erscheinen würde ... Und +das ist die ganze Historie. – Allerliebst – nicht wahr?“ + +„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du nicht auch, Sina?“ ruft +Marja Alexandrowna entzückt aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er +es zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul – eine Frage: +erklären Sie mir doch einmal ausführlich Ihre Verwandschaft mit dem +Fürsten! Sie nennen ihn Onkel?“ + +„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna, wie und inwiefern ich +mit ihm verwandt bin: ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ... +doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie gesagt. +Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden zuschulden kommen +lassen – ich bin vollkommen schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr +meine Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine Tante Aglaja +Michailowna nichts anderes zu tun, als die ganze Verwandtschaft an den +Fingern herzuzählen. Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser +Reise nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst gefahren. Ich +nenne ihn ganz einfach Onkelchen – und er fühlt sich angeredet. Das aber +ist ja schließlich die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere ganze +Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“ + +„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung, daß nur Gott allein Sie +auf den Gedanken hat bringen können, mit ihm geradeswegs zu mir zu +kommen! Ich zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles +hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus, statt in meines, +geraten wäre! Man hätte ihn ja hier zerrissen, zerrissen, jeden Knochen +zerpflückt, man hätte ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt +wie auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn womöglich +bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen, Pawel Alexandrowitsch, +was es hier für gierige, niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“ + +„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen sollen, wenn nicht zu +Ihnen! – wie Sie wirklich sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja +Petrowna aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht zu Anna +Nikolajewna – was meinen Sie?“ + +„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer nicht sehen läßt? Das ist +doch etwas sonderbar,“ sagt Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig +erhebt. + +„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der wird noch ganze fünf +Stunden zu seiner Toilette brauchen! Zudem, da er ja kein Atom +Gedächtnis mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben, daß +er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein außergewöhnlicher +Mensch, müssen Sie nicht vergessen, Marja Alexandrowna!“ + +„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“ + +„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna, sondern die reinste +Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch halbwegs nur eine Komposition, aber +kein Mensch! Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen noch +vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche! Das ist ja nur noch +eine Erinnerung an einen Menschen, man hat ihn sozusagen nur zu +beerdigen vergessen! Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen, Beine von +Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn, und auch sprechen tut er +nicht anders als mit Hilfe gewisser Federn!“ + +„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger Mensch sind, wie ich +sehe!“ ruft Marja Alexandrowna aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und +schämen Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als Verwandter! – +so von diesem ehrwürdigen alten Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts +von seiner grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe +aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie doch, daß er sozusagen ein +Überbleibsel, eine Ruine, ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist. +Mein Freund, ^mon ami^! Ich begreife vollkommen, daß Sie infolge +irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig sprechen, den +Leichtsinnigen spielen. Aber, mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu +Ihren neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer neuen Richtung edel +und ehrenhaft ist. Ich fühle es, daß es in diesen neuen Ideen sogar +etwas Erhabenes gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen +wir, die praktische Seite der Sache zu sehen. Ich habe in der Welt +gelebt, ich habe mehr als Sie gesehen, und schließlich, ich bin Mutter, +Sie aber sind noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet ihm in +unseren Augen vielleicht manches Lächerliche an. Ja, das letzte Mal +sprachen Sie sogar davon, daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und +daß man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber das kommt alles +nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll Shakespeare haben! Glauben Sie mir, +Pawel Alexandrowitsch, Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit +abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde er bei all seinem +ganzen Verstande doch keine Silbe von unserem gegenwärtigen Leben +begreifen. Wenn es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes und +Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und allein in der höheren +und höchsten Gesellschaft. Ein Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst, +ist auch in einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da hat +sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna fast ein Schloß gebaut, +aber dennoch ist er nur der Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr! +Und auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich auch mit +fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer nur die frühere Natalja +Dmitrijewna und wird nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil +gleichfalls ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie von ihr +abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine Fremde in ihrem Kreise – +das aber ist ein schlechtes Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt. +Übrigens werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen, +als ich, ^mon cher Paul^, und Sie werden Ihren Shakespeare mit der Zeit +hübsch vergessen. Das sage ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen. +Ich bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig sind und sich +nur so ... nach der Mode richten. Ach, da bin ich nun ins Schwatzen +hineingekommen. Bleiben Sie ruhig hier, ^mon cher Paul^, und vergessen +Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben gehen und mich nach +dem Fürsten erkundigen. Vielleicht bedarf er irgend wessen, und mit +meinen Dienstboten ...“ + +Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das Zimmer, denn sie dachte an +ihre Dienstboten. + +„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu sein, daß der Fürst +nicht bei dieser Modedame, der Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat +diese unverschämte Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm verwandt +sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen wollen vor Ärger!“ +bemerkte Nastassja Petrowna. Als sie aber bemerkte, daß ihr nicht +geantwortet wurde, sah sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel +Alexandrowitsch genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache stand, +und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte sie irgend etwas +vergessen, das sie zum Tee brauchte. Übrigens wußte sie sich sofort +dafür zu entschädigen: sie versteckte sich hinter der Tür und horchte. + +Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick zu Sina. Er war +unbeschreiblich erregt, seine Stimme zitterte. + +„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht böse?“ fragte er mit +zaghafter und flehender Miene. + +„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die leicht errötete und ihre +wundervollen Augen zu ihm erhob. + +„Weil ich früher als verabredet hergekommen bin! Sinaïda Afanassjewna, +ich hielt es nicht aus, ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten +... Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin hergeeilt, um +meinen Schicksalsspruch zu erfahren ... Doch Sie ziehen die Brauen +zusammen, Sie ärgern sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts +Positives erfahren?“ + +Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt. + +„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie wieder darauf +zurückkommen würden,“ antwortete sie, nachdem sie den Blick gesenkt +hatte, mit fester und strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet. +„Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war, so ist es – je +schneller abgetan, um so besser. Sie verlangen oder bitten wieder um +eine Antwort. Wie Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal +wiederholen, denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie. Ich sage es +Ihnen nochmals – ich habe mich noch nicht entschlossen und kann Ihnen +daher auch nicht das Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches +Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel +Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge ich hinzu, daß ich Ihnen +noch nicht endgültig absage. Und merken Sie sich noch eines: wenn ich +Ihnen jetzt noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem +Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe Nachsicht habe. Ich +wiederhole es: ich will vollkommen frei sein und wenn ich Ihnen +schließlich sagen sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht +beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche Hoffnungen +gemacht habe. So, das ist alles!“ + +„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff mit kläglicher Stimme +aus. „Ist denn das eine Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die +geringste Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“ + +„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, und dann schließen Sie +daraus, auf was Sie wollen. Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts +mehr hinzufügen. Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern sage nur: +warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen: daß ich die volle +Freiheit habe, Ihnen endgültig abzusagen, sobald ich will. Und dann noch +eines, Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die Antwort +verabredeten Termin gekommen sind, um auf Umwegen etwas zu erreichen, in +der Hoffnung, vielleicht auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen wir +an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so haben Sie sich in Ihrer +Berechnung sehr getäuscht. Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie? +Doch jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich bis dahin mit +keinem Wort mehr daran.“ + +Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und ohne die geringsten +Stockungen gesprochen, als hätte sie sie früher schon auswendig gelernt. +Monsieur Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In dem +Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück. Ihr folgte fast auf dem +Fuße Frau Sjäblowa. + +„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina! Nastassja Petrowna, +bereiten Sie schnell neuen Tee!“ – Die Dame schien nicht wenig erregt zu +sein. + +„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen. Ihre Zofe Anjutka ist in +unsere Küche gekommen, um auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“ +rief Nastassja Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem Ssamowar. + +„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna über die Schulter. +„Als ob ich mich dafür interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! +Sie können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre Küche schicken +werde. Und es wundert mich, es wundert mich aufrichtig, weshalb Sie mich +immer für eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, und nicht +nur Sie allein, sondern die ganze Stadt. Ich verlasse mich auf Sie, +Pawel Alexandrowitsch! Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst, +weshalb sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? Dieser +Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag sie doch, mag sie doch die Erste +sein! Ich werde als erste zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen. +Und schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme sie stets in +Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen! Sie wird von allen +verleumdet. Aber weshalb fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung +und putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung nach ist es +aber doch besser, Putz zu lieben, als etwas anderes, wie zum Beispiel +Natalja Dmitrijewna, die ... so etwas liebt, daß man es nicht einmal +aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna Nikolajewna ewig zu Besuch +fährt und nie zu Hause sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch +überhaupt keine Erziehung, keine Bildung genossen, und daher fällt es +ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen und sich zwei Minuten +nacheinander mit ein und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und +liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht. Aber weshalb +versichert man ihr denn ewig, daß sie hübsch sei, wenn sie nur ein +weißes Gesicht hat und nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die +Zuschauer – schön! Aber weshalb beteuert man ihr denn fortwährend, daß +sie so wundervoll tanze? Sie trägt ganz entsetzliche Hüte und noch +ärgeren Kopfputz, – aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen +Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so viel +Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei, ein Konfektpapier ins +Haar zu stecken – und sie wird es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber +das ist doch hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier nicht? +Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens und abends zu ihr und +womöglich auch noch in der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch bis +fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem gibt es hier so viel +schlechte Beispiele! Und schließlich ist das alles _vielleicht_ nur +Verleumdung. Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen! +... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der Fürst! Das ist er, er! Jetzt +würde ich ihn unter Tausenden erkannt haben! Endlich sehe ich Sie +wieder, ^mon prince^!“ rief Marja Alexandrowna aus und eilte dem +eintretenden Fürsten entgegen. + + + IV. + +Auf den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen Fürsten durchaus nicht +für einen alten Mann, geschweige denn für einen Greis halten. Erst nach +näherem und aufmerksamerem Beobachten werden Sie sehen, daß er +gewissermaßen eine auf Federn gespannte Leiche ist. Alle Künste sind +angewandt, um diese Mumie als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich +naturgetreue Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart und die Fliege +glänzen im schönsten Schwarz und bedecken die Hälfte des Gesichts. Das +übrige Gesicht ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie +überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? – Das vermag niemand zu +erklären. Gekleidet ist er nach neuester Mode, als wäre er aus einem +Modejournal ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas +Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich ist, jedenfalls +etwas höchst Modernes und Neues, das ausschließlich für Morgenvisiten +geschaffen ist. Handschuhe, Binde, Weste, Wäsche – alles ist von +blendender Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der Fürst hinkt ein +wenig, tut es aber so geschickt, als wäre auch das Hinken von der Mode +vorgeschrieben. In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar in +demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt eine Wolke von +Wohlgeruch. Wenn er spricht, zieht er manche Worte ganz besonders in die +Länge, – vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht +deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht jedoch auch um +des größeren Eindrucks willen. Einige Silben spricht er ganz +ungewöhnlich süß aus, den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum +Beispiel, klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher, wenn +möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse Nachlässigkeit, in +der er sich im Laufe seines langjährigen Lebemannslebens fleißig geübt +hat. Übrigens, wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten +Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von ihm aus gewissermaßen +unbewußt geschehen, wie etwa eine alte, unklare Erinnerung, eine längst +durchlebte Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle Korsetts, +Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen machen können. Und deshalb +tun wir besser, wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht +gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis schon vor langer +Zeit verloren hat, oft sogar vergißt, was er vor einer Minute +gesprochen, sich beständig versieht, viel zusammenlügt und aufschneidet. +Es gehört sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch führen +zu können. Marja Alexandrowna aber verläßt sich auf sich und so gerät +sie beim Erscheinen des Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung. + +„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht im geringsten +verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide Hände des Gastes und führt ihn +zu einem bequemen Ruhestuhl. „Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst. +Sechs Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, und keinen +Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen Zeit von Ihnen erhalten! +O, Sie haben mir großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen +gewesen bin, ^mon cher prince^! Aber, – Tee, Tee! Ach, mein Gott! +Nastassja Petrowna, Tee!“ + +„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt der Fürst (wir haben zu +erwähnen vergessen, daß er auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut +er, als wäre es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld! und +den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr wollte ich Sie un–be–dingt +be–suchen,“ fährt er langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man +riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“ + +„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“ sagt Marja +Alexandrowna. + +„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt sich Mosgljäkoff +ein, da er sich bemerkbar zu machen wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn +mit einem strengen Blick. + +„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges ... Und so unterblieb +es. Und was macht Ihr Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer +noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“ + +„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna stockend. „Mein Mann ist nicht +Staatsanwalt ...“ + +„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für Anna Nikolajewna +Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige Mosgljäkoff aus, verstummte aber +sogleich, denn Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden. + +„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und ... es entfällt mir immer! – +nun ja, Antipowna, wie gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst. + +„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt Marja Alexandrowna mit +bitterem Lächeln. „Ich bin nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur +gestehe – ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht erkannt +zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt, Fürst. Ich bin Ihre +einstige Freundin, bin Marja Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich +ihrer noch? ...“ + +„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich! Und ich war ge–rade der +Mei–nung, daß Sie eben – wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna +Wassil–jewna seien ... ^C’est délicieux!^ Al–so, ich bin nicht dorthin +gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß du mich gerade zu dieser +Anna Mat–wejewna brächtest. ^C’est charmant!^ Anbei ... das kommt nicht +selten bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin ich will. +Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer zufrieden, was auch geschehen +möge. Dann sind Sie al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist +in–teressant ...“ + +„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja Alexandrowna. O wieviel ich +Ihnen jetzt verzeihen muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten +Freunde vergessen!“ + +„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“ lispelt der Fürst und +mustert Sina. + +„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch nicht, Fürst. Sie war +damals nicht hier, als Sie uns besuchten, wissen Sie noch, vor sechs +Jahren?“ + +„Das ist Ihre Tochter! ^Charmante! charmante!^“ brummt der Fürst und +mustert gierig das junge Mädchen. „^Mais quelle beauté!^“ flüstert er, +sichtlich überrascht, erstaunt. + +„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna und lenkt die +Aufmerksamkeit des Fürsten auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem +Präsentierteller vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse und +betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen hat. + +„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was für ein net–ter Knabe! U–u–nd +sicherlich ... führt er sich gut auf?“ + +„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna eilig, „ich habe ja von +einem so entsetzlichen Unglück gehört! Glauben Sie mir, ich war außer +mir vor Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen? Sehen Sie sich +vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“ + +„In den Graben! In den Graben! In den Graben hat mich der Kutscher +geworfen!“ ruft der Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte, +es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges, und ich erschrak +dermaßen, sage ich Ihnen, daß – vergieb mir, Herr! ... Der Himmel +erschien mir so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das hatte ich +nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus nicht erwartet! Und schuld +daran ist ganz allein mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem auf +dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und untersuche die +Angelegenheit gründ–lich. Ich bin ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben +abgesehen hatte.“ + +„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch, „werde alles +untersuchen. Nur hören Sie mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur +Feier des heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“ + +„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen! Ich bin ü–ber–zeugt, +daß es von ihm ein Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von +Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie sich: er hat, +wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt! Es hat sich in ihm +eine ge–wis–se Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein Kommunist +im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe sogar Angst, ihm auch nur zu +begegnen!“ + +„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen haben, Fürst!“ ruft +Marja Alexandrowna aus. „Sie werden es mir nicht glauben, wie sehr ich +selbst unter diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen Sie +sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt, aber sie sind so dumm, +daß ich wirklich vom Morgen bis zum Abend meine liebe Not mit ihnen +habe. Sie können es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“ + +„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte ... ich habe es sogar +ganz gern, wenn der Die–ner zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der +wie alle alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig +zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei – und es macht seine Wür–de +aus, wenn er treuherzig und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen Fällen. +Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine gewisse Fei–erlichkeit kommt +in sein Gesicht, wie gesagt, es verleiht ihm eine gewisse +Wohlerzogenheit, ich aber verlange von einem _Menschen_ vor allen Dingen +_Wohl–erzogenheit_. Da habe ich meinen Terentij. Du erinnerst dich doch +noch Terentijs, mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte +ich ihn von vornherein zum Portier. Du sollst mein Portier sein, sagte +ich. Phä–no–menal dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber +welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein Doppelkinn so frisch +und rosig! Nun, und in der weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler +Gala macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe ihn von Herzen +lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich ihn ansehe und schließlich alles +darüber vergesse: entschieden, als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe, +– so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der deutsche +Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter, fetter Truthahn. +Vollkommenes Comme-il-faut eines bedienenden Menschen! ...“ + +Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und klatscht sogar leise +Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert ihr bereitwillig: ihn +interessiert der Onkel außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa +lacht. Und sogar Sina lächelt. + +„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel Esprit Sie haben, +Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden +noch so kleinen Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft +zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen vier Wänden +einzuschließen! Bei solchem Talent! Aber Sie könnten ja sogar +schriftstellern, Fürst! Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol +wiederholen! ...“ + +„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm berührt. „Ich könnte +wieder–ho–len ... und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich. +Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville geschrieben. Und es kamen +darin auch einige ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber nie +gespielt worden ...“ + +„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr Vaudeville lesen könnte! +Und, weißt du, Sina, gerade jetzt käme es uns so zustatten! Man plant +hier nämlich eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen Zweck, +Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und da nun Ihr Vaudeville!“ + +„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu schreiben ... nur, wie +gesagt, habe ich es voll–kommen vergessen. Ich weiß nur noch, es waren +da zwei oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt graziös seine +Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich im Aus–lande war, machte ich +tat–säch–lich Fu–rore. Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen auf +freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener Kongreß tanzte er be–zau–bernd +den Krakowjak.“ + +„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“ + +„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt, vielleicht war es auch nicht +Lord Byron, sondern irgend ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord +Byron, ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, sondern ein +Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne ich mich vollkommen. Das war ein äußerst +origi–neller Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später aber stellte +es sich heraus, daß er nur so etwas wie ein Koch war. Nur tanzte er +ent–zück–end den Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein. +Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn: + + Unser wun–der–voller Po–le + Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ... + +Und dann ... und dann ... das habe ich nun lei–der vergessen ... wie es +weiter ging ... + + Doch als er sich brach das Bein, + Da stellte er das Tanzen ein ...“ + +„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ ruft Mosgljäkoff aus, +dessen Stimmung immer heiterer wird. + +„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet Onkelchen, „oder in der +Art we–nigstens. Wie gesagt, vielleicht war es auch anders, nur war es +ein sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ... ich habe jetzt einige +Er–leb–nisse vergessen. Das kommt bei mir von der Beschäftigung ...“ + +„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie sich denn während dieser +ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit beschäftigt?“ erkundigt sich Marja +Alexandrowna interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, ^mon cher +prince^, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld, Näheres darüber +zu erfahren ...“ + +„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt, wissen Sie, +verschiedenes. Wenn man ... sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber, +wissen Sie, gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“ + +„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft, Onkelchen?“ + +„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde ich mir so etwas ein, daß +ich mich später über mich selbst wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A +propos! Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur von Kadujeff?“ + +„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“ ruft Pawel +Alexandrowitsch aus. + +„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die ganze Zeit für den +Vi–ze-Gou–verneur, und denke noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein +ganz an–deres Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so +wür–de–volles, klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich kluger Mensch war er +und fortwährend schrieb er Gedichte, bei verschiedenen Ge–le–genheiten. +Ein wenig, so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“ + +„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, „ich schwöre es +Ihnen, mit einem solchen Leben richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf +ganze fünf Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören! Sie +sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, wen Sie wollen, von +denen, die Ihnen wirklich zugetan sind – und ein jeder wird Ihnen sagen, +daß Sie ein verlorener Mensch sind!“ + +„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus. + +„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu Ihnen, wie Ihre +Schwester! Ich sage es Ihnen nur deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil +die Erinnerung an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich für +einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln wollte? Nein, Sie müssen +Ihr Leben von Grund aus verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken, +sich überanstrengen, werden Sie sterben ...“ + +„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ fragt erschrocken der +Fürst. „Und denken Sie sich, Sie haben es erraten: mich quälen +ent–setz–lich meine Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ... +Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der Gelegenheit +er–staun–liche Symptome – ich werde sie Ihnen ausführlich beschreiben +... Erstens ...“ + +„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“ unterbricht ihn +Pawel Alexandrowitsch, „jetzt aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“ + +„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das ist vielleicht auch nicht so +in–ter–es–sant. Ich habe es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch +im–mer–hin eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene +E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein Lieber, ich werde dir am Abend +einen Fall aus–führ–lich erzählen ...“ + +„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen, sich im Auslande davon +zu heilen,“ unterbricht ihn noch einmal Marja Alexandrowna. + +„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde un–be–dingt ins Aus–land +fahren. Ich entsinne mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande +war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte fast geheiratet, ^une +Vicomtesse^, eine Fran–zö–sin. Ich war damals sehr ver–liebt und wollte +ihr mein ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te +sie, sondern ein an–derer. Und welch ein selt–samer Zufall: ich war nur +auf zwei Stunden fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher +Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang in einer Irrenanstalt.“ + +„Aber, ^cher prince^, ich habe einzig deshalb davon gesprochen, weil Sie +im Ernst an Ihre Gesundheit denken müssen. Im Auslande gibt es so gute +Ärzte ... und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung auf sich +hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo verlassen, wenigstens für +einige Zeit!“ + +„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer Zeit entschlossen, und +wissen Sie, ich beabsichtige, mich hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“ + +„Hydropathisch?“ + +„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch behandeln lassen. +Ich war damals in einem Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich +habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische Dame, sie +wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein. Und bei ihr befand sich auch ihre +Tochter, die war fünfzig Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge +hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in Ver–sen. Später +hat–te sie noch ein Miß–geschick: sie hatte ihre leibeigene Magd +erschlagen und war dafür vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen +ein, mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt, nichts. Nun +ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus +Höf–lich–keit, denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke: +vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden. Ich trank und +trank, trank und trank, trank einen ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen +Sie, diese Hy–dro–pathie ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen +gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt wäre, +jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein würde ...“ + +„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung, Onkelchen! Sagen +Sie, Onkelchen, haben Sie jemals Logik getrieben?“ + +„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt streng die pikierte +Marja Alexandrowna. + +„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur ist es sehr lange +her. Ich habe auch Phi–lo–sophie gelernt in Deutsch–land, habe einen +ganzen Kursus durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder +ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben mich mit diesen +Krankheiten der–ma–ßen erschreckt, daß ich ganz er–schüttert bin. Wie +gesagt, ich werde sogleich wiederkommen ...“ + +„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte Marja +Alexandrowna aus. + +„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen neuen Gedanken +nie–der–schreiben ... ^au revoir^ ...“ + +„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch und biegt sich +vor Lachen. + +Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld. + +„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber Sie lachen!“ +beginnt sie mit Eifer. „Über einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen +Verwandten, zu lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen, +und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für Sie errötet, Pawel +Alexandrowitsch! Aber so sagen Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so +lächerlich an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an ihm +finden!“ + +„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er den größten Unsinn +zusammenschwatzt? ...“ + +„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen Lebens, seines +fünfjährigen Gefängnislebens unter der Aufsicht dieses höllischen +Weibes! Man muß ihn bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar +_mich_ nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist doch +sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man muß ihn unbedingt retten! +Ich berede ihn nur aus dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich +hoffe, daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen wird!“ + +„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten, Marja Alexandrowna!“ ruft +Pawel Alexandrowitsch aus. + +„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich, Monsieur Mosgljäkoff!“ + +„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede ich ganz im Ernst! Warum +soll man ihn denn nicht verheiraten? Das ist doch eine Idee! ^C’est une +idée comme une autre!^ Was kann ihm das schaden, sagen Sie doch, bitte! +Er ist, im Gegenteil, in einer solchen Lage, daß dieses Mittel ihn +retten könnte! Nach dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens +wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild – verzeihen Sie den +Ausdruck – befreit sein. Zweitens – und das ist die Hauptsache – nehmen +wir an, daß er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe, eine +nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen arme Witwe, die ihn +wie eine Tochter pflegt, und die auch begreift, wie viel sie ihm dafür +Dank schuldig ist, daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann +man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes, herzliches und edles +Wesen, das beständig bei ihm ist, anstelle dieses ... Weibes? Versteht +sich, sie darf nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die +Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna fixiert hat?“ + +„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche Braut finden?“ fragte +Nastassja Petrowna Sjäblowa, die aufmerksam zuhört. + +„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht Sie, wenn Sie nur +wollen! Erlauben Sie: weshalb sollten Sie zum Fürsten _nicht_ passen? +Erstens – Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe, drittens – +adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja tatsächlich nicht reich), +fünftens – Sie sind eine sehr vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn +lieben, auf den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin ist, +mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn ins Ausland bringen, +werden ihn mit Brei und Konfekt füttern, und alles das bis zu der +Minute, in der er das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre +geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb Monaten. +Dann sind Sie Fürstin, Witwe, reich, und zur Belohnung heiraten Sie +einen Marquis oder einen Generalintendanten! ^C’est joli, n’est-ce +pas?^“ + +„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube ich, aus lauter Dankbarkeit +in ihn verlieben, wenn er mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“ +ruft Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen Augen blitzen +auf. „Nur ist das alles – Scherz!“ + +„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie mich mal recht nett, und +dann schneiden Sie mir einen Finger ab, wenn Sie nicht heute noch +verlobt sind! Es ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu +irgend etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘ Sie haben es +doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn so, daß er selbst nichts davon +merkt. Wir können ihn ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu +seinem Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens auf alle Fälle +etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“ + +Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft. Und wie vernünftig +Frau Sjäblowa auch sein mag – ihr wässert dennoch der Mund. + +„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß ich heute ganz unmöglich +angekleidet bin,“ antwortet sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und +schon lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn heute nicht +wirklich wie – eine – Köchin aus?“ + +Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna mit eigentümlich +starrer Miene unbeweglich auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn +ich sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel Alexandrowitschs mit +einem gewissen Schreck vernahm und im Augenblick geradezu erstarrte ... +Endlich besann sie sich. + +„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber es bleibt doch ein +Scherz und eine Ungereimtheit, und vor allem ist es hier durchaus +unschicklich,“ unterbricht sie Mosgljäkoff scharf. + +„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna, weshalb soll es denn +eine Ungeschicklichkeit und unschicklich sein?“ + +„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb, weil Sie in meinem +Hause sind und der Fürst mein Gast ist, und weil ich niemandem erlauben +werde, die meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich fasse Ihre +Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. Aber Gott sei Dank! Da +ist ja der Fürst!“ + +„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins Zimmer eintretend. „Es +ist er–staunlich, ^cher ami^, wie viel neue Gedan–ken ich heute habe. +Zu–wei–len aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten, +zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht. Und so sitze ich oft +einen ganzen Tag.“ + +„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall im Wagen, Onkelchen. Das +hat Ihre Nerven erschüttert und nun ...“ + +„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem Um–stande zu, und finde +den Fall sogar nütz–lich. Deshalb habe ich mich auch entschlossen, +meinem Fe–o–fil zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er es nicht +auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst du dazu? Zudem ist er sowieso +vor kurzem bestraft worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“ + +„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er hat doch einen Bart von der +Größe des Königreichs Preußen!“ + +„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen. Wie gesagt, mein Lieber, +du hast voll–kom–men recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein +künst–licher Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall: plötzlich +schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man hat eine neue Sendung Bär–te +aus dem Aus–lande erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te, +sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches usw., und alle von +vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten Prei–sen. Wart, denke ich, ich +werde doch einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu sehen, wie ein +falscher aussieht. Und ich bestellte einen Kut–scherbart, denn so ein +Bart macht doch stattlicher. Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen +natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist. Wie gesagt, was +tun: soll man den echten abnehmen lassen oder den geschickten +zurücksenden und den natürlichen tragen? Ich dachte und dachte, und +beschloß, ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“ + +„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der Natur steht, +Onkelchen?“ + +„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als ihm der Bart +abgeschnit–ten wurde! Als hätte er mit seinem Bart seine ganze Karrie–re +verloren ... Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“ + +„Ich bin bereit, Onkelchen.“ + +„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur fahren werden!“ ruft +Marja Alexandrowna erregt aus. „Sie gehören jetzt _mir_, mein Fürst, Sie +gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich werde Ihnen natürlich +nichts über die hiesige Gesellschaft sagen. Vielleicht wollen Sie auch +Anna Nikolajewna besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen nehmen! +Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt, daß die Zeit Ihnen die Augen +öffnen wird. Vergessen Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre +Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben Sie mir, Fürst, +ich zittere für Sie! Sie kennen sie nicht, nein, Sie kennen diese +Menschen noch nicht, wenigstens vorläufig nicht ...“ + +„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna. Es wird so sein, wie +ich es Ihnen versprochen habe,“ sagt Mosgljäkoff. + +„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen! Ich erwarte Sie zum +Mittag zurück, Fürst. Wir speisen früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein +Mann auf dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen! Wenn Sie +wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie liebt!“ + +„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen Mann?“ fragt der Fürst. + +„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! Sie haben ja alles, +alles vergessen, was früher war! Mein Mann Afanassij Matwejitsch – +entsinnen Sie sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber +Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen Sie sich nicht, Fürst +– Afanassij Matwejitschs? ...“ + +„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken Sie sich, ^mais c’est +delicieux^! Dann haben Sie also auch einen Mann? Was für ein +son–der–barer Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes +Vau–de–ville: Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da ... wie war es doch, +da habe ich es nun vergessen! Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie +gesagt, sehr geistvoll ...“ + +„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau schon aus dem +Haus‘, Onkelchen,“ souffliert Mosgljäkoff. + +„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber, gerade ‚aus dem Haus‘. +Charmant, charmant! So daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du +verfällst immer auf den richtigen Vers, mein Lieber. Nun ja: ich entsann +mich noch ganz genau, daß die Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant! +Wie gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede war ... +Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein Lieber. ^Au revoir, madame, adieu +ma charmante demoiselle!^“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt sich vor Sina +und küßt seine Fingerspitzen. + +„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie es nicht, schnell +zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja Alexandrowna nach. + + + V. + +„Wenn Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas in der Küche nach dem +Rechten sehen wollten,“ sagt sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet +hat. „Ich habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das Essen +unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß er betrunken ist ...“ + +Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft sie Marja Alexandrowna +einen mißtrauischen Blick zu und bemerkt sogleich, daß diese sich in +ungewöhnlicher Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen +Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den Saal, von dort durch +einen Korridor in ihr Zimmer und von dort in eine kleine dunkle Kammer, +in der einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen und in +Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses aufbewahrt wird. Auf den +Fußspitzen schleicht sie zu einer verschlossenen Tür, hält den Atem an, +beugt sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht. Diese Tür +ist eine der drei Türen desselben Zimmers, in dem jetzt Sina und deren +Mutter allein zurückgeblieben sind. + +Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna zwar für eine durchtriebene, +aber doch mehr leichtsinnige Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der +Gedanke gekommen, daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen würde, an +den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick ist aber Marja Alexandrowna +so beschäftigt und aufgeregt, daß sie keine Zeit hat, an +Vorsichtsmaßregeln zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und +blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen Blick und eine +bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf. + +„Sina!“ + +Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter zu und erhebt den +Blick ihrer dunklen, verträumten Augen. + +„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr Ernstes zu reden.“ + +Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter, faltet die Hände, lehnt +sich an den Flügel und wartet. In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und +Spott wieder, was sie übrigens zu verbergen sucht. + +„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute _jener_ Mosgljäkoff gefallen +hat?“ + +„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“ antwortet Sina gleichsam +wider Willen. + +„Ja, ^mon enfant^; aber es scheint mir, daß er mit seinem ... Werben gar +zu lästig wird.“ + +„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte seine +Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“ + +„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig entschuldigt. +Im Gegenteil, du fielst immer über ihn her, sobald ich nur von ihm +sprach.“ + +„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer verteidigtest und +jetzt als erste über ihn herfällst.“ + +„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina: früher wollte ich dich +gern mit ihm verheiratet wissen. Es war mir schwer, deinen ewigen +Kummer, deine Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel, +was du auch von mir denkst! – und die meinen Schlaf in jeder Nacht +vergiftet. Ich hatte mich überzeugt, daß nur eine einschneidende +Veränderung in deinem Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung +soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und können zum Beispiel +nicht ins Ausland fahren. Die hiesigen Esel wundern sich, daß du +dreiundzwanzig Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden +allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem unserer Räte geben +oder Iwan Iwanowitsch, unserm Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich? +Mosgljäkoff ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch der beste +von allen. Er ist aus guter Familie, er hat einflußreiche Verwandschaft, +er besitzt hundertundfünfzig Seelen – das ist doch immerhin besser, als +von Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern zu leben. +Deshalb hatte ich auch mein Auge auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es +dir, ich habe nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin +überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten hat. Und wenn Gott +dir jetzt etwas Besseres geschickt hat – o! Wie gut ist es dann, daß du +ihm noch nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute nichts +Bindendes gesagt, Sina?“ + +„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch alles mit zwei Worten +sagen läßt?“ fragt Sina gereizt. + +„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort kannst du deiner Mutter +sagen? Doch was rede ich unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht +mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber für deine Mutter.“ + +„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns beide noch wegen eines Wortes +streiten! Verstehen wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit +genug gehabt, uns kennen zu lernen!“ + +„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst nicht, daß ich zu allem, +zu allem bereit bin, um dich sicher zu stellen!“ + +Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an. + +„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten, um mich +_sicher zu stellen_?“ fragte sie mit einem seltsamen Lächeln. + +„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da du selbst darauf zu +sprechen kommst, so will ich dir sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du +den Fürsten heiraten könntest.“ + +„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“ rief Sina heftig aus. +„Der größte Unsinn! Und auch finde ich, Mama, daß du gar zu viel +dichterische Begeisterung hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein +weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt. Du hast beständig +Projekte. Deren Unmöglichkeit und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab. +Noch als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn hattest. Und als +Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte und beteuerte, daß man den alten +Mann verkuppeln müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken +gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du daran denken und gerade +_das_ mir jetzt vorschlagen wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne +in bezug auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich quälen, so +bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen Projekt mehr zu sprechen, +hörst du, Mama, – kein Wort, und es würde mich freuen, wenn du das +behieltest!“ Sie war atemlos vor Zorn. + +„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes Kind!“ entgegnete Marja +Alexandrowna mit gerührter Stimme, in der Tränen zu zittern schienen. +„Du sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine Mutter würde das +ertragen, was ich täglich von dir ertrage! Aber du bist gereizt, du bist +krank, du leidest, ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß +dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn ich nun tatsächlich an +diese Verbindung gedacht hätte – weshalb hältst du diesen Gedanken für +unsinnig? Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen, als +vorhin, – ich meine, als er bewies, daß der Fürst heiraten müsse, nur, +versteht sich, nicht diesen Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich +natürlich versehen.“ + +„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das nur so, aus Neugierde, oder +mit einer bestimmten Absicht?“ + +„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“ + +„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem auch ein solches +Schicksal beschieden sein kann!“ rief Sina aus und stampfte mit dem Fuß +vor Empörung. „Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen von +allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche eines Greises +auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu heiraten, diesen Klappergreis, um +ihm dann sein Geld abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu +wünschen, das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern außerdem noch +so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu solchen Gedanken nicht Glück +wünschen kann, Mama!“ + +Eine ganze Minute dauerte das Schweigen. + +„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor zwei Jahren war?“ + +Sina zuckte zusammen. + +„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du hast mir feierlich +gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“ + +„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir nur dieses eine Mal +zu erlauben, das Versprechen, das ich bis jetzt noch niemals vergessen +habe, zurückzuziehen. Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache +zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre Schweigen waren entsetzlich! +So kann es nicht weitergehen! ... Ich bin bereit, dich auf den Knien +anzuflehen – erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen! Hörst du, +Sina, deine leibliche Mutter fleht dich auf den Knien an! Und ich gebe +dir feierlich mein Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die ihre +Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner Form, und in keinem Fall, +selbst wenn es sich um die Rettung meines Lebens handelte, davon mehr +sprechen werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal geht es +nicht anders, ich muß!“ + +Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden Erfolg dieser +Worte. + +„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde. + +„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu deinem verstorbenen Bruder +Mitjä ein junger Lehrer ...“ + +„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama! Wozu diese ganze +Redekunst, alle diese Einzelheiten, die doch vollkommen überflüssig +sind, die doch nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt sind?“ +unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie angeekelt. + +„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen bin, mich vor dir zu +rechtfertigen. Zudem will ich dir diese Angelegenheit von einem ganz +anderen Standpunkt aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt aus, +von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt bist. Und schließlich, damit du +die Folgerung begreifst, die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube +nicht, mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will! Nein, Sina, du +wirst in mir eine wirkliche Mutter finden, und vielleicht wirst du +tränenüberströmt zu meinen Füßen, zu den Füßen der ‚_niedrigen Frau_‘, +wie du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten, die du so +lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht hast. Darum will ich +alles sagen, Sina, alles, von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“ + +„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen die Notwendigkeit +dieser Rede verwünschte. + +„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der Kreisschule, fast noch ein +Knabe, machte auf dich einen mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck. +Ich vertraute zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen Stolz und +hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es muß doch einmal alles gesagt +werden –, um auch nur das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und +plötzlich kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen, daß du ihn zu +heiraten beabsichtigst! Sina! Das war ein Dolchstich in mein Herz! Ich +schrie nur auf und verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich ja +noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig, meine ganze Macht zu +gebrauchen, die du damals Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer +Knabe, der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur zwölf Rubel +hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die nur aus Mitleid in der +„Bibliothek zur Aufklärung“ abgedruckt werden und der von nichts anderem +als nur von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß – dieser +Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs! Aber das ist ja ein Ding +der Unmöglichkeit! Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran +bringt mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab; aber keine Macht der +Welt vermag dich aufzuhalten. Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur +mit den Augen und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du aber +bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du kommst sogar mit ihm +zusammen, und was am furchtbarsten ist, du entschließt dich, mit ihm zu +korrespondieren. In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte. Mir werden +von allen Seiten Stiche versetzt; man freut sich, man posaunt es schon +aus, und plötzlich gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es +kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich als deiner +vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel – ich kann ihn unmöglich einen +Mann nennen! – und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum zu +zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß du ihm eine Ohrfeige +gibst. Ja, Sina, auch dieses weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der +Unglückliche zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem Lump +Sanschin und nach einer Stunde befindet sich dieser Brief in den Händen +Natalja Dmitrijewnas, meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser +Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich zu vergiften. Kurz, es +ist ein entsetzlicher Skandal zu erwarten! Dieser Schmierpinsel +Nastassja kommt erschrocken zu mir gelaufen mit der furchtbaren +Nachricht, daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in den +Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach zwei Stunden wird die ganze +Stadt um deine Schmach wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in +Ohnmacht, – aber mit welchen Schlägen hast du mein Herz getroffen, Sina! +Diese Schamlose, dieses Scheusal Nastassja verlangt zweihundert Rubel +bar und dafür schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich selbst +laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden Bumstein und verpfände +meinen Schmuck, das Andenken meiner seligen Mutter! ... Nach zwei +Stunden ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn gestohlen. +Sie hat die Schatulle erbrochen – deine Ehre ist gerettet, der Beweis +vernichtet! Aber in welcher Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen +lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal in meinem Leben, +daß ich vereinzelte graue Haare hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über +diesen Knaben urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht mit +einem bitteren Lächeln, daß es der größte Wahnsinn gewesen wäre, ihm +dein Leben anzuvertrauen. Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind, +du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn – denn er ist +deiner stets unwürdig gewesen –, sondern das Phantom deines einstigen +Glücks kannst du nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf +dem Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber, in deiner +Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange er noch lebt, um sein Herz +nicht zu zerreißen, denn er quält sich noch immer mit seiner Eifersucht +herum, wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit einer so +tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß, seitdem er von +Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt er spionieren, auflauern und +ausfragen. Du schonst ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott +allein weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt habe! ...“ + +„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher Qual. „Das mit +dem Kissen war wohl sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es +denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“ + +„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich auf mich, mein Kind! +Meine Augen sind in diesen zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich +habe meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir, ich selbst +habe mich in dieser Zeit in vielem verändert! Ich habe längst deine +Gefühle begriffen und ich gestehe es, erst jetzt kann ich die ganze +Größe deines Schmerzes nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf +machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit nur für Romantik hielt, +die dieser verwünschte Shakespeare heraufbeschworen hat, dieser +Dummkopf, der seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht +haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines Schreckens, wegen der +Maßregeln, die ich ergriff, wegen der Strenge meines Urteils verdammen? +Jetzt aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren gesehen +habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle. Glaube mir, ich habe +dich vielleicht besser verstanden, als du dich selbst verstehst. Ich bin +überzeugt, daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine eigenen +goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine erhabenen Ideale. Auch ich +habe geliebt und vielleicht noch leidenschaftlicher als du. Auch ich +habe gelitten. Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und darum +– wer kann mich deshalb verurteilen, und vor allem – kannst du mich +deshalb verurteilen, weil ich die Verbindung mit dem Fürsten für die +beste Rettung halte, für das Notwendigste, was du in deiner +augenblicklichen Lage tun kannst und tun mußt?“ + +Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede an, denn sie wußte, daß +ihre Mutter nicht ohne Grund einen solchen Ton anschlug. Die letzte +unerwartete Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf. + +„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit diesem Fürsten zu +verheiraten?“ rief sie verwundert aus und sah erschrocken die Mutter an. +„Dann sind es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine feste +Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten? Und ... und ... +inwiefern wird mich denn diese Heirat retten und weshalb ist sie so +notwendig? Und ... und ... was hat das damit zu schaffen, was du soeben +hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte? ... Ich verstehe dich +nicht, Mama!“ + +„Ich wundere mich, ^mon ange^, wie du das nicht verstehen kannst!“ ruft +Marja Alexandrowna aus, die jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein +das, daß du in eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere +Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest, das für dich voll ist +von unangenehmen Erinnerungen, in dem du keinen einzigen Freund hast, +weder unter den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet +worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich wegen deiner Schönheit +hassen. Du könntest noch in diesem Frühling nach Italien fahren, in die +Schweiz, nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra ist, der +Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen hier mit dem +unanständigen Namen ...“ + +„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits verheiratet wäre +oder zum mindesten als hätte der Fürst bereits um mich angehalten!“ + +„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß, was ich rede. Erlaube, +daß ich fortfahre. Den ersten Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt +der zweite: ich begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen +du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest ...“ + +„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn niemals geheiratet +hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach Sina heftig und ihre Augen +blitzten. + +„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife, mein Kind! Es ist +furchtbar, einem zu gehören, den einem Manne Liebe schwören müssen, den +man nicht liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den man +nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine Liebe: nur ihretwegen würde +er dich heiraten, das sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft, +wenn du dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –! Ich habe +es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe zur Genüge ausgekostet! Dein +Vater hat mich unglücklich gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend +ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“ + +„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“ sagte Sina. + +„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach, Sina! Mir wollte das +Herz zerspringen, als ich – aus Berechnung – deine Vermählung mit +Mosgljäkoff wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht zu +verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn nicht lieben kannst +... und er ist ja auch garnicht _fähig_, solche Liebe zu verlangen ...“ + +„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch, daß du dich von Grund +aus täuschst, von Anfang an, gerade in der Hauptsache! Begreife doch, +daß ich mich nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich überhaupt +nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe unverheiratet! Du hast +mich zwei Jahre lang gefoltert, bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du +wirst dich damit aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt! So +wird es sein!“ + +„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen nicht so auf, noch +bevor du alles gehört hast! Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube +mir, daß ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre und du +wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der Fürst wird vielleicht noch ein +Jahr leben, zwei wäre viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine +junge Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen davon, daß du +nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich und unabhängig bist! Mein Kind, +du hörst vielleicht mit Verachtung all diese Berechnungen – +Berechnungen, die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind. Aber – +ich bin Mutter und welche Mutter wird mich wegen meiner Fürsorge +verurteilen? Und schließlich, wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben +immer noch bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er noch +lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten habe, – so denk doch +nur, daß du, wenn du den Fürsten heiratest, ihn seelisch auferstehen +machst, ihm eine große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde +Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß Eifersucht auf den +Fürsten unmöglich ist, sie wäre lächerlich. Er wird begreifen, daß du +aus Berechnung geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich +begreifen, daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten kannst, wenn +du willst ...“ + +„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten, nimm ihm das +Geld ab, warte dann auf seinen Tod, um nachher den Geliebten zu +heiraten. Du verstehst sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich +dazu verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe dich, Mama, +verstehe dich vollkommen! Du kannst dich nie enthalten, selbst in einer +schändlichen Angelegenheit nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du +doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine Schändlichkeit, +aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige ein.‘ Das wäre wenigstens +aufrichtig gewesen.“ + +„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt nur von diesem +Standpunkt aus die Sache ansehen, – vom Gesichtspunkte des Betruges und +der Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich, für Betrug? +Aber, um aller Heiligen willen, wo ist denn hier Betrug, was ist hier +schändlich? Geh zum Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man +ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du, die du eine solche +Schönheit bist, du opferst diesem Greise deine besten Jahre! Du wirst +wie ein wundervoller Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie ein +grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie diese Nessel, diese +schamlose Person, die ihn behext hat und seine Säfte aussaugt? Ist denn +sein Geld, sein Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn +hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht, was du sprichst, +Sina!“ + +„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man einen Krüppel heiraten +muß! Betrug bleibt immer Betrug, Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“ + +„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man kann es sogar von einem sehr +hohen, sogar von einem christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind! +Du hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn gesagt, daß du +barmherzige Schwester werden wolltest. Dein Herz hat gelitten und ist +jetzt verstockt. Du hast gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben +könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so wende deine +Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande zu, tue es aufrichtig wie ein +Kind mit dem ganzen Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und Gott +wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls gelitten, er ist +unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne ihn seit mehreren Jahren und +habe stets eine unbegreifliche Sympathie für ihn empfunden, eine Art +Liebe sogar, als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein Freund, sei ihm +eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug – wenn einmal alles gesagt +werden muß! – Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun, um +der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das nicht. Er ist ein +halber Mensch, – hab Mitleid mit ihm: du bist Christin! Zwinge dich +dazu: solche Taten werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt. +Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu verbinden, die +übelriechende Lazarettluft einzuatmen. Es gibt aber Engel Gottes, die +alle diese Pflichten erfüllen und obendrein Gott für ihre Bestimmung +noch danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes Herz – eine +Beschäftigung, eine große Tat, und deine Wunden würden vernarben. Wo ist +hier nun Egoismus, wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir nicht! Du +denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn ich dir von Pflichten +und großen Taten rede. Du kannst es nicht verstehen, daß ich, eine +weltliche, eitle Frau, ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann? +Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber gib wenigstens zu, +daß ihre Worte vernünftig sind. Wenn du willst, so denk, daß nicht ich +rede, sondern irgend ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre mir +den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare Stimme zu dir +spricht ... Dich verwirrt doch hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst, +für Geld geschehen solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte doch +auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte nur das Notwendigste +für dich und alles übrige verteile unter die Armen. Hilf zum Beispiel +ihm, diesem unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“ + +„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise, wie zu sich selbst. + +„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“ antwortete die +triumphierende Marja Alexandrowna, „sie wird sie hinter seinem Rücken +annehmen. Du hast deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt +hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem halben Jahr. Ich +weiß es. Ich weiß auch, daß die Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um +ihren unglücklichen Sohn ernähren zu können.“ + +„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“ + +„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja Alexandrowna sofort auf, +und wahre Begeisterung erfaßte sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte +sie beglückt, „ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei +schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist denn das, der das +sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte ich mich bei Kalist Stanislawitsch +nach ihm: ich interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina. +Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit allerdings +gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich überzeugt, daß es +Schwindsucht nicht sein könne, sondern nur so – ein ziemlich ernstes +Brustleiden. Du kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte +mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen Verhältnissen, +namentlich in einem anderen Klima, nach einem Luftwechsel und unter +anderen Eindrücken sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir, +daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon gehört, sogar gelesen +– daß bei Spanien eine besondere Insel sei, Madeira, glaube ich – +jedenfalls hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke, sondern +auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund geworden sind. Viele +fahren nur zu dem Zweck hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu +lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch Kaufleute, +jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra, diese Myrten, diese +Zitronenbäume und diese Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese +Umgebung muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine poetische Natur +machen. Du glaubst vielleicht, daß er deine Unterstützung, dein Geld für +diese Reise nicht annehmen wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut! +Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. Mach ihm +Hoffnung, versprich ihm deine Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst, +wenn du Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen Weise sagen. +Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem unterstützen, Sina. Du tust es, +um sein Leben zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles +erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er wird selbst seiner +Gesundheit mehr Aufmerksamkeit schenken, wird Medizin einnehmen und die +Vorschriften der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen, um das +verheißene Glück genießen zu können. Und wenn er gesund geworden ist, so +wirst du ihn zwar nicht heiraten, aber er wird dann doch wenigstens +gesund sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich kann +man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht hat ihn das Leben inzwischen +zum Besseren verändert, und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du +ihn ja später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig. Du kannst, +wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung in der Welt verschaffen, er +kann durch dich Karriere machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher +sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände euch bevor, +wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet? Allgemeine Verachtung, +Armut. Schulbuben an ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit +seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares, ewiges +Leben in Mordassoff und dann sein unvermeidlicher, naher Tod. Während du +ihm so, wenn du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu einem +nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit gibst. Indem du ihm +verzeihst – zwingst du ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein +schändlicher Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines neuen +Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn mit der Hoffnung und +söhnst ihn mit sich selbst aus. Er kann dann in den Staatsdienst treten, +kann sogar zu Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht gesund +wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt mit sich selbst, +in deinen Armen – denn du kannst ja selbst in diesem Augenblick bei ihm +sein –, überzeugt von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten der +Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel! O, Sina! Alles das ist +in deiner Macht! Alle Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles +durch die Verbindung mit dem Fürsten!“ + +Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es folgte ein ziemlich +langes Schweigen. Sina befand sich in unbeschreiblicher Aufregung. + +Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben und wir +können sie auch nicht alle erraten. Es scheint, daß Marja Alexandrowna +den richtigen Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da sie nicht +wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz befand, hatte sie zuerst alle +Möglichkeiten versucht, bis sie zu guter Letzt erriet, welcher der +richtige Weg war. Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten +Stellen dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich nicht +ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen, obschon sie wußte, daß sie +damit Sina nicht täuschen würde. + +„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna, „sie wird mir +doch nicht glauben. Wenn man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn +ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr offen nicht +sagen darf!“ + +Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los und erreichte es +auch: Sina hörte schließlich gespannt zu, ihre Wangen glühten und sie +atmete erregt. + +„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn auch das totenblasse +Gesicht deutlich aussprach, was dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama +...“ + +In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch im Vorzimmer und +einer schrillen, scharfen Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte, +unterbrochen. Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf. + +„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel schickt mir diese Elster auf +den Hals! Aber ich habe sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen! +Was soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen! Ich muß! +Sie kommt bestimmt mit Nachrichten, sonst würde sie es doch nicht wagen, +zu erscheinen. Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt wissen ... +Ich darf nichts unbeachtet lassen! – Aber nein, wie dankbar ich Ihnen +bin für Ihren Besuch!“ rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden +Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur meiner erinnert, +meine teure Ssofja Petrowna? Welch eine ent–zück–ende Überraschung!“ + +Sina lief aus dem Zimmer. + + + VI. + +Ssofja Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten, glich nur seelisch +einer Elster. Körperlich erinnerte sie eher an einen dünnen Sperling. +Sie war eine kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden Augen +in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen und anderen gelben Flecken +bedeckt war. Ihr kleiner, ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen, +festen Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid, das +beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur zwei Sekunden lang, sich +ruhig verhalten konnte. Sie war eine geradezu bösartige, rachsüchtige +Klatschbase. Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen zu Kopf +gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft beraubt hatte. Mit ihrem +Mann jedoch, dem Oberst a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm +bei der Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie jeden Morgen +vier Gläschen Branntwein und am Abend dieselbe Portion, und haßte bis +zum Wahnsinn Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche die Tür +gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna Paskudina, die dabei geholfen +hatte. + +„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, ^mon ange^,“ begann +sie mit ihrer kreischenden Stimme. „Es ist ganz überflüssig, daß ich +mich gesetzt habe. Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns +geschehen. Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und das wegen dieses +Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen – ^vous comprenez!^ – suchen ihn, +fangen ihn, reißen ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu +sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es nicht glauben! Sie +glauben es nicht! Aber wie haben Sie sich nur entschließen können, ihn +von sich fortzulassen? Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja +Dmitrijewna ist?“ + +„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna auf und sprang mit +einem Satz von ihrem Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum +Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, aber nur +auf einen Augenblick!“ + +„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie Sie ihn wieder einfangen +können! Den Gouverneur hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er +zu Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben, daß er bei ihr +speisen würde, Nataschka aber, die jetzt in einem fort bei ihr sitzt, +hat ihn sofort zum Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt +Ihren Fürsten!“ + +„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch versprochen ...“ + +„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch gleichfalls hingefahren! +Seien Sie froh, wenn er dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und +wieder alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst wird an +den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft werden. Und was sie da +alles klatscht, diese Nataschka! Sie sagt es ganz ungeniert und laut, +daß Sie sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen Zwecken – +^vous comprenez^? Sie setzt es ihm selbst auseinander. Er begreift +natürlich nichts, sitzt da wie ein begossener Pudel und sagt zu allem: +‚Nun ja, nun ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort +hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich: fünfzehn Jahre +alt und immer noch zieht sie dem Mädchen kurze Kleider an! Immer noch +bis zu den Knien, wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie nach +der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls im kurzen Kleide, +nur war das noch kürzer, nicht einmal bis zu den Knien, – ich habe es +durch mein Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen rote Mützen mit +Federn gesetzt – was das zu bedeuten hatte, weiß ich nicht! Und dann +mußten diese beiden Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen! +Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er schnalzte! ‚Diese +Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘ und betrachtete sie vom Kopf bis zu +den Füßen durch sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide ganz +erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm, und das soll ein Tanz +sein! Ich habe selbst getanzt, wissen Sie, mit einem Schal, als ich +Madame Jarnies Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich einen +wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar Senatoren klatschten mir +Beifall! Dort wurden nur Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier +aber war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham, ich verging, ich +verging! Ich hielt es einfach nicht aus! ...“ + +„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna? Sie sind doch ...“ + +„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt. Ich sage das einem +jeden ganz offen. ^Mais, ma chère^, ich wollte wenigstens durch einen +Türspalt diesen Fürsten mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich +ihn denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren sein, wenn +es sich nicht um diesen elenden Fürsten gehandelt hätte? Denken Sie +sich: allen wird Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst +spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht getan ... Diese +Verleumderin! Ich werde ihr aber jetzt! ... Doch adieu, ^mon ange^, +adieu, ich eile, ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna +zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur sagen Sie jetzt Ihrem +Fürsten Lebewohl! Den werden Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er +hat ja kein Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt bei +sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie ... ^vous comprenez?^ – in +bezug auf Sina ...“ + +„^Quelle horreur!^“ + +„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze Stadt spricht nur noch +davon. Anna Nikolawjewna will ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten +und dann, versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum Trotz, um +Sie zu schikanieren, ^mon ange^. Ich habe durch einen Zaunspalt in ihren +Hof gelauert: ein Hasten und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der +Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt ... sogar nach +Champagner ist geschickt worden. Eilen Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn +unterwegs auf, wenn er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt! +Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur, damit diese +geriebene, abgefeimte, ungebildete Person über uns lachen kann! Sie ist +nicht einmal meine Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt ist! +Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin in Madame Jarnies +aristokratischer Pension erzogen worden ... ^Mais adio, mon ange!^ Ich +habe meinen Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“ + +Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna zitterte vor +Aufregung, aber der erteilte Rat war äußerst klar und praktisch. Sie +hatte keine Zeit zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte +Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna eilte in das Zimmer +ihrer Tochter. + +Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den Kopf gesenkt, bleich +und verstört in ihrem Zimmer umher. Ihre Augen waren verweint, doch in +ihrem Blick, den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit. Sie +unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches Lächeln erschien +auf ihren Lippen. + +„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen, „du hast viel von +deiner Redekunst an mich vergeudet, gar zu viel. Du hast mich aber doch +nicht blind gemacht. Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich +gegebenenfalls die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte, wenn +ich dazu nicht im geringsten berufen bin, eine niedrige Handlungsweise +mit edlen Zielen rechtfertigen zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der +mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht betören können und ich +will, daß du das vor allem weißt!“ + +„Aber, ^mon ange^!“ rief etwas ängstlich Marja Alexandrowna aus. + +„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich bis zu Ende anzuhören. Trotz +der vollen Erkenntnis dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz +meiner vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit dieser +Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen Vorschlag vollkommen ein, hörst +du: _vollkommen_, und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den +Fürsten zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen +Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem Heiratsantrag zu bringen. +Wozu ich es tue? – Das ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich +entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen: ich werde +ihm die Stiefel reichen, ich werde seine Wärterin sein, ich werde ihm zu +seinem Vergnügen vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu verdecken; +ich werde alles, alles tun, nur damit er es nicht bereut, daß er mich +geheiratet hat! Doch als Gegenleistung für meinen Entschluß verlange +ich, daß du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen willst, +daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem Tone davon zu sprechen +angefangen hast, so – ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen +Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben aufrichtig! Diese +Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung, die ich stelle. Ich kann nicht +darauf eingehen, wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“ + +Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten Entschluß ihrer Tochter so +bestürzt, daß sie eine ganze Weile wie taub und stumm vor ihr stand und +sie nur aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch nicht einmal +denken vor Verwunderung. Sie hatte sich darauf gefaßt gemacht, lange +noch mit der trotzigen „Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes +Anstandsgefühl sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und nun +hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem einverstanden und zu +allem bereit war, und sogar gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es _so_ +stand, dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“, – und +Freude erglänzte in Marja Alexandrownas Augen. + +„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du bist mein Fleisch und +mein Blut!“ + +Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte zur Tochter, um sie in +ihre Arme zu schließen. + +„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine Umarmungen gebeten, Mama!“ +wehrte sich Sina mit angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein +Entzücken nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf meine Frage +und nichts weiter.“ + +„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind! Ich vergöttere dich, du +aber stößt mich von dir ... ich tue es doch nur in der Sorge um dein +Glück ...“ + +Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna liebte ihre Tochter +tatsächlich, nur tat sie es – auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der +Erfolg und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina begriff, daß die +Mutter sie liebte und – diese Liebe bedrückte sie. + +„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so aufgeregt,“ sagte sie, um +die Mutter zu beruhigen. + +„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“ versicherte +Marja Alexandrowna, im Augenblick wieder belebt, „ich begreife es doch, +daß du erregt bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit +... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen aufrichtig, glaube mir: +Wenn du mir nur glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen +bestimmten Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre, noch nicht habe, +Sinachen, und das ist ja auch ganz unmöglich. Du, als kluges Köpfchen, +wirst doch verstehen, weshalb nicht. Ich sehe sogar einige +Schwierigkeiten voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase da die Ohren +vollgeblasen ... Ach, mein Gott! Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin +vollkommen aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde das +Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine Überzeugung ist +durchaus nicht poetischer Natur, wie du vorhin sagtest, mein Engel. Sie +beruht auf der Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der +völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber ist doch derart! ... +ist doch ein solcher Kanevas, daß man alles auf ihm ausnähen kann – was +man nur will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört! Aber wie +sollen denn diese Gänse mich überlisten!“ rief Marja Alexandrowna stolz +aus, schlug mit der Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß +nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste, daß man sofort +beginnt ... Wenn es nur irgend geht, muß heute noch das Hauptsächlichste +erledigt werden.“ + +„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... _aufrichtiges Geständnis_: Weißt +du, weshalb ich mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht +traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen kann. Ich habe dir +gesagt, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit entschlossen habe, wenn +aber die Einzelheiten deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu +schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann nicht +aushalten und mich dann von dem ganzen Vorhaben zurückziehen werde. Ich +weiß, daß das eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit +zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in dem sie schwimmt, – doch +was soll ich tun? Es wird ja bestimmt so sein! ...“ + +„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere Schändlichkeiten, +^mon ange^?“ wagte die Mutter schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es +sich doch nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen sich +doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt aus zu sehen, und +alles wird dann sogar sehr anständig erscheinen ...“ + +„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht Verstecken mit mir! Du +siehst doch, ich bin mit allem, mit allem, einverstanden! – was willst +du denn noch mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge bei +ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das jetzt – meine einzige +Beruhigung.“ + +Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen. + +„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann in den Gedanken nicht +ganz übereinstimmen und dennoch sich gegenseitig achten. Nur, – wenn +dich die Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie schmutzig +sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen mir: ich schwöre dir, +daß kein Tröpfelchen Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn +vor allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich und alles wird +vorzüglich und durchaus anständig arrangiert werden, die Hauptsache ist +– durchaus anständig, sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten +Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines, unvermeidliches +Skandälchen geben sollte, – so ... irgendwie! – so sind wir dann doch +schon über alle Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen sie +dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns an? Sie werden uns +ja doch nur beneiden. Und sind diese Menschen es denn überhaupt wert, +daß man sich um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen, sei +mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz sie so fürchtest!“ + +„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du willst mich nur nicht +verstehen!“ antwortete Sina gereizt. + +„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich sage ja nur, daß sie +selbst an jedem Tage, den Gott werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du +aber würdest dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber was fällt mir +ein! Was rede ich dumme Person! Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist +hier eine Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du +sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir. Ich werde es dir +beweisen, mein Kind. Erstens, ich wiederhole: es hängt alles nur davon +ab, von welchem Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“ + +„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“ unterbrach Sina sie +zornig und stampfte mit dem Fuß auf. + +„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde nicht! Ich habe mich +wieder verplappert ...“ + +Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna folgte unruhig +ihrer Tochter und suchte zaghaft deren Blick, wie etwa ein kleines, +unartig gewesenes Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht. + +„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen willst,“ sagte Sina, die +ihren Ekel niederrang. „Ich bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen +wirst. Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich, Mama, wird +es eine Schande sein.“ + +„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein Engel – deshalb mach dir +keine Sorgen! Ich bitte dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns +einigen – um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen. +Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern ich mich trocken +herausgearbeitet habe! Ich habe noch ganz anderes erlebt und +durchgehalten! Nun, erlaub mir nur wenigstens, dies da zu versuchen! +Jedenfalls ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich mit +dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles übrige wird nur davon +abhängen! Aber ich fühle auch das schon alles voraus. Sie werden sich +alle empören, aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen +wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“ + +„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich. + +„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich nicht, Sinachen! Ich +schwöre dir, ich werde ihn so weit bringen, daß er uns noch helfen wird! +Du kennst mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was ich in der +Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen! Vorhin, als ich von der +Ankunft dieses Fürsten hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im +Augenblick wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’ doch selbst, +wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet bei uns absteigen +würde? Eine solche Gelegenheit wird es ja in tausend Jahren nicht wieder +geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist ehrlos, daß du einen +Greis und Krüppel heiratest, sondern daß du einen heiratest, den du +verabscheust und nicht ertragen kannst und dennoch in _Wirklichkeit_ +seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du doch nicht eine +wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist doch keine Ehe! Das ist einfach +ein häuslicher Kontrakt! Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem Esel, +gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du weißt ja gar nicht, wie +schön du heute bist! Du bist nicht nur schön, du bist geradezu +wunderbar! Ich würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich +verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel sind sie alle! Wie soll man +diese Hand nicht küssen?“ – Und Marja Alexandrowna küßte +leidenschaftlich der Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper, +mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht anders, mit Gewalt zur +Heirat zwingen, den Esel! Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du +wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im Glück lebst? Wir +haben uns ja oft gestritten, mein Engelchen, aber immerhin hast du doch +keinen so treuen Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“ + +„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast, so ist es vielleicht gut +für dich ... etwas zu tun. Hier aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina +ungeduldig. + +„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es höchste Zeit, daß ich +gehe! Ach! Ich habe hier so lange geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam +zur Besinnung. „Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen. Ich +fahre im Augenblick! Ich werde einfach vorfahren, Mosgljäkoff +herausrufen lassen und dann ... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen, +wenn’s darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen, mein +Täubchen, laß den Mut nicht sinken, zweifle nicht, sei nicht traurig, +vor allem – sei nicht traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst +vornehm arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von welchem +Standpunkt aus man die Sache auffaßt ... nun, leb wohl, leb wohl! ...“ + +Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte dann in ihr Zimmer, +drehte sich dort einen Augenblick vor dem Spiegel und zwei Minuten +später rollte sie schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für +den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die Straßen von +Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte „^en grand^“. + +„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“ dachte sie, als +sie in ihrem Wagen saß. „Sina ist einverstanden, folglich ist die halbe +Arbeit schon getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn! +Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ... endlich! Also auch auf dein +Köpfchen können andere Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr +aber auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die Wirkung hat +endlich einmal nicht versagt: Aber ... es ist ja ganz unfaßlich, wie +schön sie heute aussieht! Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach +meinem Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ... Der Shakespeare wird ihr +schon aus dem Kopf kommen, wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge +kennen lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und ihren Lehrer! ... Hm +... Aber was für eine Fürstin sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an +ihr. Diese Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr – und eine +Königin hat einen angesehen! Wie, wie soll man denn nicht seinen eigenen +Vorteil begreifen? Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch +das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin bei ihr sein. Ich werde +schon dafür sorgen, daß sie in allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne +mich aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin sein, auch +in Petersburg wird man mich kennen lernen. Leb wohl dann, erbärmliches +Städtchen! Dieser Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird sterben +und dann werde ich sie mit einem regierenden Fürsten verheiraten! ... +Nur eines macht mir Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut? +Bin ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht? Sorgen +macht sie mir, weiß Gott ... ich fürchte sie fast ...“ + +Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es läßt sich nicht leugnen: +sie hatte allen Grund, besorgt zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen +ganz mit Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft. + +Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch lange auf und ab in +ihrem Zimmer, die Arme verschränkt und mit ihren Gedanken beschäftigt. +Sie dachte über vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder: +„Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit dazu gewesen!“ Was +hatte dieser Ausruf zu bedeuten? Mehr als einmal blitzten Tränen in +ihren langen, seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer Stimmung +Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer Mutter waren ganz überflüssig. +Umsonst bemühte sie sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen: +Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle Folgen gefaßt +gemacht. + +„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa, als sie nach der Abfahrt +der Frau Oberst Karpuchina aus der dunklen Kleiderkammer wieder +hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa Schleife anstecken, +für diesen elenden Fürsten! Auch ich dumme Gans glaubte, daß er mich +heiraten würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber Marja +Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel sein, ich soll mich mit +zweihundert Rubel bestechen lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas +abließe oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich nahm das Geld +auf ehrliche Weise; ich nahm es für die mit dem Vorhaben verknüpften +Ausgaben ... Vielleicht habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das +dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen oder andere +dafür bezahlt habe! Ich habe doch für dich gearbeitet und du schonst +deine Hände! Du willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal, ich +werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch beiden zeigen, was für +ein Schmierpinsel ich bin! Ihr sollt einmal Nastassja Petrowna und deren +ganze Bescheidenheit kennen lernen!“ + + + VII. + +Doch Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer Eingebung fortreißen. Sie +hatte einen großen und gewagten Plan. Ihre Tochter an einen Krösus, +einen Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß niemand es +erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche und Schutzlosigkeit ihres +Gastes, sie gewissermaßen auf „diebische Weise“, wie ihre Feinde +unfehlbar sagen würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt, +sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan verlockend +vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens wurde die, welche ihn entworfen +hatte, doch wohl mit ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe mich +aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“ hatte sie zu +Sina gesagt und sie hatte recht. Was wäre sie denn auch sonst für eine +Heldin gewesen! + +Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig einem Überfall auf offener +Straße, doch Marja Alexandrowna schenkte auch dem nicht gar zu viel +Aufmerksamkeit. Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich richtigen +Gedanken: „Sind sie erst getraut, so können sie die Trauung nicht mehr +ungeschehen machen,“ – ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke, +der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen Vorteilen anlockte, daß es +Marja Alexandrowna bei der blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt +überlief und sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte. Überhaupt +befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung und saß wie auf Nadeln. Als +inspirationsfähige Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte +sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich, vorläufig noch +skizzenhaft, überhaupt – ^en grand^, halb noch schleierhaft sah sie ihn +vor ihrem geistigen Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und +verschiedene unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja Alexandrowna +glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht etwa aus Furcht vor dem +Mißlingen auf, – o nein! Sie wollte nur schneller beginnen, sich +schneller in den Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte +sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse und möglichen +Zwischenfälle. Ich will das deutlicher erklären. Die größte Gefahr ahnte +und erwartete Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern, den +Mordassowern, und vornehmlich von der höheren Gesellschaft der +Mordassower Damen, deren unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte. +Zum Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in der Stadt +bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich noch niemand ein Wort +darüber gesprochen hatte. Aus mehrfach gemachter trauriger Erfahrung +wußte sie, daß es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben hatte, +selbst wenn es das geheimste war, das nicht binnen zwölf Stunden jedes +Hökerweib auf dem Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht +sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die Gefahren, aber +solche Vorahnungen betrogen sie nie. Auch diesmal betrogen sie sie +nicht. Was aber inzwischen geschehen war und was sie noch nicht mit +ganzer Sicherheit wußte, war folgendes: + +Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach der Ankunft des Fürsten +in Mordassoff, verbreiteten sich in der Stadt absonderliche Gerüchte. +Wie und wo sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet hatten +sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten einander, daß Marja +Alexandrowna ihre Sina mit dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß +Mosgljäkoff der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so gut wie +besiegelt und unterschrieben sei. Was war die Veranlassung zu diesen +Gerüchten gewesen? Sollten die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut +gekannt haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer +tiefinnerlichen Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder die +Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der gewöhnlichen Ordnung der +Dinge – denn so etwas läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde +abmachen – noch die freie Erfindung derselben – denn es vermochte +niemand anzugeben, woher dieses Gerücht stammte – konnten den +Mordassowern den Glauben daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich +hartnäckig weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger wurde. Am +erstaunlichsten ist aber, daß es sich schon zu der Zeit zu verbreiten +begann, als Marja Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit Sina +anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn der Provinzler sein. +Der Instinkt des Kleinstädters grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare +– und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf dem intimsten, +langjährigen Studium des Nächsten, das mit größtem Interesse getrieben +wird. Ein jeder Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt +absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor seinen ehrenwerten +Mitbürgern zu verbergen. Alle kennen einen auswendig, ja sie wissen +sogar das, was man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der +Kleinstädter müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach Psychologe +und Gedankenleser sein. Deshalb hat es mich auch zuweilen aufrichtig +gewundert, daß ich in der Provinz so oft statt dieser Psychologen und +Gedankenleser so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch das war nur +nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige Bemerkung. + +Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung. Die Verheiratung mit dem +Fürsten erschien einem jeden dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“, +daß das Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen weiter +auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken: Sina wurde fast noch mehr +gehaßt, als Marja Alexandrowna, – weshalb? – das vermag ich nicht zu +sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der Grund zu diesem Haß. +Vielleicht kam auch noch hinzu, daß Marja Alexandrowna immerhin von +„unserem Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde man es – +wer weiß? – noch bedauert haben. Sie unterhielt die Gesellschaft mit +ihren beständigen Geschichten. Ohne sie wäre es vielleicht langweilig +gewesen. Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in den Wolken und +nicht in der Stadt Mordassoff. Sie paßte nicht zu diesen Leuten, sie +stand nicht auf ihrer Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm +sich vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich +hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte „diese Sina“, von der man +sich sogar „skandalöse Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina – +Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft +hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet ist, heiratet sie +dann vielleicht einen Herzog, vielleicht sogar einen General oder +vielleicht gar einen Gouverneur – und der Gouverneur unseres +Gouvernements war gerade Witwer und hatte eine große Schwäche für das +schöne Geschlecht. Dann würde sie die erste Dame im Gouvernement sein – +und, versteht sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich, +weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen Unwillen in +Mordassoff hätte hervorrufen können, als diese von der Vermählung Sinas +mit dem Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von allen +Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde und eine Gemeinheit. Man +sagte, der Alte sei nicht bei vollem Verstande, er sei betrogen worden, +übertölpelt und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche. Einige +meinten sogar, daß man den Alten aus diesen blutgierigen Krallen +erretten müsse, daß es geradezu Räuberei sei, und schließlich – +inwiefern sei denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch andere +junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten! + +Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen ahnte Marja Alexandrowna +vorläufig nur, aber das genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle, +aber auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich war, zu +greifen bereit wären, um die Verwirklichung ihrer Pläne zu verhindern. +Wollte man doch den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß +sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es ihr auch gelingen +sollte, den Fürsten wieder einzufangen, so konnte sie ihn in ihrem Hause +doch nicht festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute, daß +vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps der Mordassower Damen +in ihrem Salon erscheinen würde und noch dazu unter solchem Vorwande, +daß man sie unmöglich _nicht_ empfangen konnte? Läßt man an der Tür +absagen, so kommen sie durch das Fenster herein: ein fast unmöglicher +Fall, sollte man meinen, der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff +vorgekommen ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde zu verlieren – +und dabei war noch nichts getan worden, nicht einmal angefangen hatte +sie ihr Werk! Da kam ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im +Augenblick in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall werden wir an +der richtigen Stelle nicht zu sprechen vergessen, vorläufig aber sagen +wir nur, daß unsere Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von +Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu einem +regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich sein sollte, um +sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen. Sie wußte noch nicht, wie sie +es machen und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie mit +unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff untergehen +würde, als daß auch nur ein Jota ihrer Absichten nicht in Erfüllung +ginge. + +Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet hätte. Sie traf +den Fürsten auf der Straße an und brachte ihn zu sich zum Mittagessen. +Wenn man jetzt fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer +Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna Nikolajewna mit einer +langen Nase auf den Gast vergeblich warten zu lassen, so bin ich +gewissermaßen verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage +geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas halte. _Sie_ sollte +irgend so eine Anna Nikolajewna Antipowa nicht besiegen können? Sie +verhaftete einfach den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer +Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas Rücksicht zu nehmen +– und dazu gehörten auch die Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen +Skandal befürchtete – setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage. +Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna vor ihren Feindinnen +aus, daß sie in entscheidenden Momenten nicht viel nach anderen fragte +und nicht einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun einmal zu +ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg alles rechtfertige. +Freilich leistete auch der Fürst keinen bedeutenden Widerstand, vergaß +vielmehr nach seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und war +dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne Unterlaß, war bei sehr +guter Laune, machte Witzchen und erzählte Anekdoten, die er nicht +beendete, oder er ging von der einen auf eine andere über, ohne es +selbst zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei Glas Champagner +getrunken. Bei Tisch trank er auch noch, denn Marja Alexandrowna +schenkte ihm eigenhändig ein, bis er dann endgültig den letzten Rest +seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor. Das Essen an sich +war tadellos. Der „schändliche“ Nikitka hatte es zum Glück nicht +verdorben. Die Hausfrau belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer +bezaubernden Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen Anwesenden um +so langweiliger. Sina war gewissermaßen feierlich stumm. Mosgljäkoff +fühlte sich offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er schien +über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich selten an ihm zu +bemerken war, so beunruhigte es Marja Alexandrowna nicht wenig. +Nastassja Petrowna Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und +machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche Zeichen, die +dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte. Wäre die Hausfrau nicht so +liebenswürdig und heiter gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an +einen Leichenschmaus erinnert. + +Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in unbeschreiblicher +Aufregung. Allein schon Sinas ernstes Gesicht und ihre verweinten Augen +ängstigten sie unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große +Schwierigkeit überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt keinen +Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte Mosgljäkoff aber sitzt und +rührt sich nicht, wie ein alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und +nur andere stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart! Marja +Alexandrowna erhob sich mit besorgtem, fast angstvollem Herzen. Wie groß +war daher ihre Verwunderung, ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so +ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie die Tafel +aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet erklärte, daß er zu +seinem größten Leidwesen, versteht sich – sie verlassen müsse. + +„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna mit ungeheurem Mitgefühl. + +„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff etwas unruhig und +betreten an, „es ist mir etwas äußerst Seltsames passiert. Ich weiß +nicht einmal, wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um +Gotteswillen einen Rat!“ + +„Was, was ist es denn?“ + +„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener Kaufmann ... der kam mir +heute auf der Straße entgegen. Der gute Alte ist mir entschieden böse, +macht mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin ich zum +dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht ein einziges Mal bei ihm +gewesen. Nun und heute mußte er mich fassen und da hat er mich denn +aufgefordert: ‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist es punkt +vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten Sitte, sobald er vom +Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr um fünf. Was soll ich tun? gewiß, +es ist ja, Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes! Er hat +doch meinen seligen Vater aus der Schlinge gezogen, damals, als dieser +Kronsgelder verspielt hatte. Und deshalb wurde er dann auch mein Pate. +Wenn meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande kommt – nun, ich +habe doch nur hundertundfünfzig Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital +von einer Million Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr. +Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er einem schließlich +noch Hunderttausend testamentarisch. Und siebzig Jahre alt – bedenken +Sie doch nur!“ + +„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch! Weshalb zögern Sie denn?“ +rief Marja Alexandrowna in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so +fahren Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin! Mit solchen +Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb! – ich wunderte mich die ganze +Zeit während des Essens. Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, ^mon +ami^, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon gleich am Morgen +Ihre Aufwartung machen müssen, um ihm zu zeigen, daß seine +Freundlichkeit Ihnen schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach, +diese Jugend, diese Jugend!“ + +„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“ rief Mosgljäkoff +verwundert aus, „Sie haben doch noch selbst verschiedene absprechende +Bemerkungen über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch vor +kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen Bart, stehe mit +Schankwirten auf gleicher Stufe, mit ganz gewöhnlichen Leuten?“ + +„Ach, ^mon ami^! Ich kann mich doch auch einmal irren, ich bin nicht +unfehlbar! Ich entsinne mich dessen nicht mehr so genau ... vielleicht +war ich in einer Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten Sie +noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich war das Egoismus +meinerseits, aber jetzt muß ich doch unwillkürlich von einem anderen +Standpunkte aus urteilen, und welche Mutter würde es mir in diesem Falle +verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern Sie keinen Augenblick! +Sie müssen auch den Abend bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! – +erzählen Sie ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe und +überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie es nur nicht +ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott! Wie konnte ich nicht früher +darauf verfallen! Ich hätte Sie sofort hinschicken müssen!“ + +„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff war entzückt. +„Von nun an, Ehrenwort, werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben +Sie mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ... Nun, auf +Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen Sie mich, bitte, +bei Sinaïda Afanassjewna. Aber ich kehre ja ...“ + +„Ich segne Sie, ^mon ami^! Sehen Sie nur zu, daß Sie nicht vergessen, +ihm von mir zu erzählen! Er ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe +schon längst meine Meinung über ihn geändert ... Und übrigens habe ich +immer dieses Altrussische, Unverfälschte an ihm geliebt ... ^Au revoir, +mon ami, au revoir!^“ + +„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom Halse nimmt! Nein, da +sieht man, Gott selbst steht mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor +Freude. + +Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer und zog seinen Pelz +an, als plötzlich, wie aus der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna +Sjäblowa vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet. + +„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am Arm fest. + +„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate – er hat geruht, mich aus +der Taufe zu heben ... Ein reicher Alter, wird mir vielleicht was +hinterlassen, da muß man ihn günstig stimmen!“ ... + +Mosgljäkoff war in der besten Stimmung. + +„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf die Braut!“ sagte Nastassja +Petrowna schroff. + +„Wieso verzichten?“ + +„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon gehört! Machen Sie doch +nur die Augen auf: da will man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe +es selbst gehört.“ + +„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja Petrowna!“ + +„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht gefällig, sich selbst +davon zu überzeugen? Werfen Sie den Pelz fort und kommen Sie!“ + +Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von den Schultern und +folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen. Sie führte ihn in dieselbe +dunkle Kleiderkammer, in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte. + +„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe entschieden nicht! +...“ + +„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein wenig bücken und zuhören. +Die Komödie wird sicherlich bald beginnen.“ + +„Was für eine Komödie?“ + +„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie besteht darin, daß man Sie +einfach betrügt. Am Vormittag, als Sie mit dem Fürsten ausgefahren +waren, hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde beredet, +diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch solche Köder ausgehängt, +daß mir geradezu übel wurde. Ich habe hier alles gehört. Sina willigte +ein. Und wie reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält Sie +einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz offen, daß sie Sie unter +keiner Bedingung heiraten würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte +mir noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“ + +„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist, wenn das wahr ist!“ +stotterte Mosgljäkoff, der mit dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna +ansah. + +„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch ganz andere Dinge hören.“ + +„Wo soll ich denn horchen?“ + +„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“ + +„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht fähig, andere zu +belauschen ...“ + +„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber, stecken Sie die Ehre mal in +die Tasche: sind Sie hergekommen, so horchen Sie!“ + +„Aber ...“ + +„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen Sie bitte mit langer +Nase ab! ... Ich tue es nur zu seinem Besten und er wird jetzt noch +hochmütig! Mir kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal bis +zum Abend hier bleiben ...“ + +Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum Spalt. Sein Herz +schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte das Blut. Er wußte kaum, was er +tat. + + + VIII. + +„So haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht bei Natalja +Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja Alexandrowna, die mit gierigem Blick +das Feld der bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit einem +möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte. Das Herz klopfte ihr vor +Aufregung und Erwartung. + +Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt worden, in dem ihn +die Hausfrau auch am Morgen empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge +geschahen bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf den sie sehr stolz +war. Der alte Herr konnte sich nach den sechs Glas Champagner nicht mehr +ganz sicher auf den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß. Marja +Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit nur von kurzer Dauer sein +könnte und der Gast bald schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den +Augenblick ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige Greis mit +eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete und ihr Mutterherz +erzitterte vor Glück. + +„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst. „Und wissen Sie, eine +beispiellose Frau, diese Natalja Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“ + +Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch mit ihren großen Plänen war, +so traf sie doch ein so lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz. + +„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und ihre Augen blitzten. „Wenn +sogar diese Natalja Dmitrijewna eine beispiellose Frau sein soll, dann +weiß ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann kennen Sie +ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten! Das ist doch nichts als +eine Ausstellung der eigenen Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine +Komödie, nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese Schale etwas +auf und Sie werden eine ganze Hölle unter Blumen entdecken, ein ganzes +Wespennest, in dem Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“ + +„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das wun–dert mich!“ + +„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, ^mon prince^! Hör, Sina, ich muß, ich +muß doch dem Fürsten diesen lächerlichen und beschämenden Vorfall mit +dieser Natalja erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt doch noch? +Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen gepriesene Natalja Dmitrijewna, +die Sie so entzückt hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich +bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen – nur um Sie +zu erheitern, um Ihnen hier in einer lebenden Probe, sozusagen durch ein +optisches Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor zwei +Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir. Es wurde Kaffee gereicht, +ich aber mußte aus irgend einem Grunde den Salon auf einen Augenblick +verlassen. Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch an Stückzucker +in der silbernen Dose hatte: sie war noch ganz voll. Ich kehre zurück +und was sehe ich? – es liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der +Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im Zimmer gewesen. Wie +finden Sie das! Sie ist eine reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine +Zwischenfall ist natürlich lächerlich, aber hiernach können Sie auf die +Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“ + +„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig erstaunt. „Was für eine +un–natürliche Habgier! Und sie hat alles allein aufgegessen?“ + +„Nun sehen Sie, was für eine _beispiellose_ Frau sie ist, mein Fürst! +Wie gefällt Ihnen diese schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich, +noch in derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so +widerlichen Handlung entschlossen hätte!“ + +„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist doch immerhin ^belle +femme^.“ + +„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber ich bitte Sie, Fürst, sie ist +doch einfach ein Marktweib! Ah, ^mon prince, mon prince^! Was haben Sie +da gesagt! Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet ...“ + +„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie, sie ist so gebaut ... Nun +ja, und dieses Mädchen, das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut +...“ + +„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein Kind, Fürst! Sie ist +erst vierzehn Jahre alt!“ + +„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös und bei ihr +entwickeln sich gleichfalls ... Formen. So ein net–tes Ding. Und die +an–de–re, die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls ...“ + +„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird von ihnen oft ins Haus +gerufen.“ + +„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig, wie gesagt, wenn sie doch +we–nig–stens die Hände vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie +gesagt, gleichfalls ver–führerisch ...“ + +Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst Sina immer aufmerksamer +und immer lüsterner durch sein Lorgnon. + +„^Mais quelle charmante personne!^“ murmelte er halblaut und schnalzte +fast vor Wonne. + +„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns ein Lied! Wenn Sie +wüßten, wie schön sie singt, Fürst! Man kann sagen, sie ist eine +Künstlerin, eine vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“ +fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina zum Flügel ging – sie +hatte einen so ruhigen, fast schwebenden Gang, der dem Alten noch den +letzten Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für eine Tochter sie +ist! Wie sie zu lieben versteht, wie zärtlich sie zu mir ist! Welche +Gefühle, welch ein Herz!“ + +„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich habe nur eine einzige Frau +gekannt, in meinem ganzen Leben, mit der ich ihre Schön–heit +ver–glei–chen könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer mehr +wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin Nainskij, sie starb vor et–wa +dreißig Jahren. Eine wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher +Schönheit ... später heiratete sie noch ihren Koch ...“ + +„Ihren Koch, Fürst!?“ + +„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen ... im Aus–lande. Sie hatte +ihm dort im Aus–lande einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine gu–te +Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ... mit einem kleinen Schnurr–bart +...“ + +„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein Fürst?“ + +„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen bald auseinander. +Er plünderte sie vollkommen aus und fuhr dann fort. Sie waren wegen +einer Sau–ce in Streit geraten ...“ + +„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina. + +„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie sie singt Fürst! Lieben +Sie Musik?“ + +„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr Musik. Im Aus–lande war ich +mit Beet–ho–ven bekannt.“ + +„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war mit Beethoven bekannt!“ +wiederholt Marja Alexandrowna entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich +mit Beethoven bekannt?“ + +„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem Fuß. Seine Nase hatte er +be–ständig in der Tabaksdose. So ein komischer Mensch!“ + +„Beethoven?“ + +„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt, auch nicht +Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr +viel Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt ...“ + +„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina. + +„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt du noch, soviel +mittelalterlich Ritterliches war, diese Schloßherrin und ihr Troubadour +... Ach, Fürst! Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen, +diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben! Diese Troubadours, +Herolde, Turniere ... Ich werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich +hierher, Fürst, etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“ + +„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch, diese Burgen,“ murmelte +der Fürst entzückt, während er sein einziges Auge in Sina geradezu +hineinbohrte. „Aber ... ^mon Dieu!^ – diese Romanze! ... Aber ... ich +kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer Zeit gehört ... Sie +er–in–nert mich so daran ... Ah, ^mon Dieu^!“ + +Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit dem Fürsten geschah, +als Sina sang. Sie sang eine alte französische Ballade, die einmal sehr +beliebt gewesen war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr reiner, +klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein; ihr wundervolles +Gesicht mit den herrlichen Augen, ihre schmalen, zarten Finger, mit +denen sie die Blätter umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu +einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich hebende und senkende +junge Brust, ihre ganze Gestalt, die stolz, schön und edel vor ihm stand +– alles das schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann. Er +verschlang sie mit den Blicken, als sie sang, er schluckte nur noch vor +Aufregung. Sein Greisenherz, das von Champagner, Musik und Erinnerungen, +die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer schneller und +lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft hatte. Er hätte vor Sina +niederknieen und weinen mögen, nachdem sie geendet hatte. + +„Oh, ^ma charmante enfant^!“ rief er aus und küßte ihre Hand, „^vous me +ravissez!^ Erst jetzt, erst jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ... +aber ... oh, ^ma charmante enfant^ ...“ + +Und die Stimme versagte ihm sogar. + +Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick gekommen war. + +„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich dazwischen. +„Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft, soviel seelischer Reichtum, und Sie +graben sich für Ihr ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man +sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen! Das ist doch +unverzeihlich! Besinnen Sie sich, Fürst! So sehen Sie doch mit klarem +Blick auf das Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes in Ihrem +Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend, an die heiteren sorglosen +Tage: erwecken Sie sie wieder, lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie +doch wieder in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins Ausland, +nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, Fürst. Brauchen Sie einen +Führer, ein Herz, das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt? +Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur ein Wink genügt und sie +werden in Scharen angelaufen kommen! Ich werde die erste sein, die alles +hinwirft und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich habe unsere +Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich werde meinen Mann +verlassen und Ihnen folgen ... und selbst wenn ich noch jünger wäre, +wenn ich so schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich Ihre +Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre Frau, wenn Sie es nur +wünschten!“ + +„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie ^une charmante personne^ waren, zu +Ih–rer Zeit,“ sagte der Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren +feucht. + +„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete Marja Alexandrowna mit +hohem Gefühl. „Ich habe gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist +sie – meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der ich alle meine +Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben Bewerber zurückgewiesen, nur um +sich nicht von mir trennen zu müssen.“ + +„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn Sie mich ins Ausland +be–glei–ten? In dem Fall werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief +der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt fahren! Und wenn ich +mir mit der Hoffnung schmeicheln könnte ... Aber sie ist ja ein +be–zau–berndes, ein be–rück–endes Kind! Oh, ^ma charmante enfant^ ...“ +Und der Fürst küßte ihr von neuem die Hand. Der Arme, er wollte sogar +vor ihr niederknien! + +„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich mit der Hoffnung +schmeicheln könnten?“ griff Marja Alexandrowna auf, die neue +Beredsamkeit in sich fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten +Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der Beachtung einer Frau? +Nicht Jugend macht die Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie +sozusagen ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant der +feinsten, der ritterlichsten Gefühle und ... Manieren! Hat sich denn +Maria nicht in den alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen, +daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe Louis ... ich habe +vergessen, des wievielten – noch in alten Jahren, als Greis, das Herz +einer der ersten Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat Ihnen +gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat Sie auf diesen Gedanken +gebracht? Können denn Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit +Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit, Geist, +Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie brauchen ja nur irgendwo im +Auslande, in einem Kurort mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer +Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede nicht unbedingt von +ihr, ich führe sie nur als Beispiel an – und Sie werden sehen, was für +einen kolossalen Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück +Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten! Sie führen +sie am Arm feierlich in die Säle. Sie wird in den glänzendsten +Gesellschaften singen und Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen +um sich streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen, um +dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird davon reden, denn alle Zeitungen, +alle Feuilletons in den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, ^mon +prince^! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der Hoffnung schmeicheln +dürften?“ + +„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das ist in den Zeitungen ...“ +murmelte der Fürst, der die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und +immer gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det hat – +singen Sie mir dann noch einmal diese Ro–man–ze vor, die Sie soeben +sangen!“ + +„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere Romanzen, noch bessere +... Entsinnen Sie sich noch des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben +es sicherlich gehört!“ + +„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich habe es ver–ges–sen. +Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze, dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen +hat! Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze hören ...“ +bat der Fürst wie ein eigensinniges Kind. + +Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der Arme nicht mehr bezwingen +und sank vor ihr auf die Knie nieder. Er weinte sogar. + +„Oh, ^ma belle châtelaine^!“ Seine Stimme zitterte vor Altersschwäche +und Aufregung. „Oh ^ma charmante châtelaine^! O, mein liebes Kind! Sie +haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes ... Ich +glaubte immer, daß alles besser werden würde, als es dann wurde. Ich +sang damals Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze ... +jetzt aber ... ich weiß nicht mehr, was jetzt ist ...“ + +Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und stockend hervor. Seine +Zunge wurde merklich steif. Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man +sah nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war – und so +beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl ins Feuer zu gießen. + +„^Mon prince!^ Aber Sie werden sich ja schließlich noch in meine Sina +verlieben!“ rief sie aus. Sie fühlte, daß der Augenblick entscheidend +war. + +Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen. + +„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief der Alte aus, plötzlich +wie neu belebt, während er immer noch vor ihr kniete und vor Aufregung +am ganzen Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben! Und +wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber er–he–ben Sie mich, ich bin ein +we–nig schwach ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen dürf–te, ihr +mein Herz an–zu–bieten, so ... würde ich ... sie würde mir jeden Tag +Ro–manzen vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ... im–mer +an–se–hen ... Ah, ^mon Dieu^!“ + +„^Mon prince, mon prince!^ Sie halten um ihre Hand an! Sie wollen sie +mir fortnehmen, meine Sina, meinen Liebling, meinen Engel, mein +Sinachen! Kind, ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich mir +aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich nicht! – aus den +Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna stürzte sich auf die Tochter und +umschlang sie krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark +zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas zu eifrig. Sina litt mit +jeder Fiber und sah mit unerträglichem Ekel auf die ganze Komödie. Aber +sie schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter zur +Durchführung ihres Planes nötig hatte. + +„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht von ihrer Mutter trennen +zu müssen!“ beteuerte Marja Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz +die bevorstehende Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf, wie sie Sie +ansah ... Sie haben sie mit Ihrem Aristokratismus besiegt, Fürst, mit +dieser ausgesuchten Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! – das +fühle ich!“ + +„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer noch wie ein +Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor. + +„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna aus und warf +sich von neuem der Tochter an den Hals. + +Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende zu machen. Sie reichte +dem Fürsten stumm ihre wundervolle Hand und zwang sich sogar zu einem +Lächeln. Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen und +bedeckte es mit hundert Küssen. + +„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor, hingerissen in +seiner Begeisterung. + +„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an, „siehe diesen Menschen! Er +ist der ehrenhafteste, der edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das +ist ein mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie weiß es, +zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb sind Sie hergekommen! Ich übergebe +Ihnen meinen kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie ihn, +Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche Mutter würde mir meinen +Schmerz nicht nachfühlen?“ + +„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu. + +„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren, Fürst! Ihr Degen wird den +Verleumder oder den Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu +strafen wissen!“ + +„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“ + +„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt erst beginne ich zu +leben ... Ich will, daß die Hochzeit sofort sei, im Augenblick ... ich +... Ich will so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe ich +Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen ...“ + +„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle Gefühle!“ rief Marja +Alexandrowna aus. „Und Sie konnten, Fürst, Sie konnten sich so +vergraben, sich so von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen +tausendmal vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an diese höllische +...“ + +„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche Angst!“ stammelte der Fürst +halb weinend mit unsicherer Stimme. „Sie wollten mich in eine +Ir–ren–an–stalt ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“ + +„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese unmenschlichen +Menschen! O, diese Niedertracht! ^mon prince^ – ich habe schon früher +davon gehört! Aber das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und +weshalb nur, aus welchem Grunde?“ + +„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“ antwortete der Alte, +der sich vor Schwäche hinsetzte. „Ich, wissen Sie, ich war auf einem +Ball und erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te ihnen nicht +ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand die Ge–schich–te!“ + +„Und das allein war der Grund, Fürst?“ + +„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt, mit Fürst Pjotr +De–men–tjitsch, und war ohne sechs ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge +und drei Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei Kö–ni–ge ... +Nein! einen König! Und dann erst kamen die Da–men ...“ + +„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit! Sie weinen, +mein Fürst! Aber jetzt brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde +ich bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von Sina trennen, +und dann wollen wir doch sehen, ob sie noch ein Wort zu sagen wagen!! – +... Und Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie wird sie +beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen, daß Sie dann noch fähig +sind ... das heißt, sie werden sich sagen, daß eine solche Schönheit +doch nicht einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie stolz das +Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die Augen sehen ...“ + +„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die Augen sehen,“ murmelte der +Fürst und die Augen fielen ihm zu. + +„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“ dachte Marja +Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz meine Worte!“ + +„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie müssen sich jetzt +unbedingt beruhigen, sich erholen,“ sagte sie gütig zuredend, indem sie +sich mütterlich zu ihm beugte. + +„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“ sagte er. + +„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen ... Warten Sie, +ich werde Sie selbst geleiten ... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen, +wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf dieses Porträt, +Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter, – eines Engels, aber nicht einer +Frau! O, weshalb weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine +Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“ + +„Eine Hei–li–ge? ^c’est joli^ ... Ich habe gleich–falls eine Mutter +gehabt ... ^une princesse^ ... und – denken Sie sich – es war eine +außer–ge–wöhn–lich vol–le Frau ... Aber, wie gesagt, ich wollte etwas +an–de–res sagen ... Ich bin etwas er–mü–det. ^Adieu, ma charmant +enfant!^ ... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ... morgen ... Nun +ja, gleichviel! ^au revoir, au revoir!^“ Er wollte noch mit der Hand +einen Gruß senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre fast +gefallen. + +„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf meinen Arm!“ rief ihm +Marja Alexandrowna zu. + +„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen. „Jetzt erst beginne +ich zu leben ...“ + +Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge eine erdrückende Last auf +ihren Schultern. Ihr ward fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst +verachten mögen. Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften Händen, +zusammengebissenen Zähnen stand sie, den Kopf gesenkt und rührte sich +nicht. Tränen der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde die Tür +aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer. + + + IX. + +Er hatte alles gehört, alles! + +Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein – denn eintreten konnte +man es wahrlich nicht nennen. Sina sah ihn verwundert an. + +„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe ich endlich erfahren, +was Sie sind!“ + +„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie einen Wahnsinnigen +verständnislos ansah; plötzlich aber begriff sie und Zorn blitzte in +ihren Augen. + +„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie trat auf ihn zu. + +„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff feierlich, trat aber +doch unwillkürlich einen Schritt vor ihr zurück. + +„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür gelauscht?“ + +„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser niedrigen Tat +entschlossen, dafür aber habe ich jetzt erfahren, daß Sie die aller ... +Ich weiß nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen +... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während sein Mut unter +ihrem Blick immer mehr dahinschwand. + +„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen können Sie mich denn +beschuldigen? Welch ein Recht haben Sie überhaupt, mir etwas +vorzuwerfen? Welches Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“ + +„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie fragen das noch? Sie heiraten +den Fürsten und ich soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr +Wort gegeben! Ganz einfach!“ + +„Wann?“ + +„Wieso wann?“ + +„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder in mich drangen, +deutlich gesagt, daß ich Ihnen nichts Bestimmtes versprechen könne.“ + +„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht zurückgewiesen, Sie haben +mir nicht endgültig abgesagt! Sie haben mich also für den Notfall +aufbewahrt! Sie haben mich angelockt!“ + +In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches Gefühl wieder; +wie etwa von einem scharfen, durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie +bezwang sich. + +„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete sie langsam und +deutlich, wenn auch in ihrer Stimme ein leises Zittern zu hören war, „so +habe ich es nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten, noch +ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen nicht sofort Nein zu sagen, +sondern Sie näher kennen zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn +Sie sich überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter Mensch bin, +dann werden Sie mich vielleicht doch nicht abweisen‘. Das sind Ihre +eigenen Worte, die Sie zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können +sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir zu sagen, daß ich +Sie angelockt hätte! Sie haben aber doch meinen Widerwillen bemerkt, als +ich Sie zwei Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah, und +diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen, im Gegenteil, ich +habe ihn offen gezeigt. Und Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst +fragten mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher +wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen nicht anlockt, +vor dem man seinen Widerwillen weder verbergen kann noch _will_. Sie +haben es gewagt, mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt. +Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir über Sie etwa folgendes gedacht +habe: ‚Wenn er auch nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so +kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich könnte man +ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich mich zu meinem Glück noch +rechtzeitig überzeugt habe, daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß +noch ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes übrig, als +Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche Reise zu wünschen. Leben Sie +wohl!“ + +Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam das Zimmer. + +Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren hatte und geriet außer +sich. + +„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“ schrie er, „so bin ich +denn ein Dummkopf! Gut! Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde +ich der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter den Fürsten +umgarnt haben, nachdem er von Ihnen genügend angeheitert worden ist! +Allen werde ich es erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“ + +Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um zu antworten, bedachte +sich aber, zuckte nur verächtlich mit der Achsel und schlug die Tür +hinter sich zu. + +Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna in der anderen +Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs letzten Ausruf vernommen, erriet in einer +Sekunde den ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war noch nicht +fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff +konnte ja die Neuigkeit in der ganzen Stadt verbreiten, während doch +gerade die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für noch so kurze +Zeit, die erste Bedingung war! Marja Alexandrowna hatte ihre eigenen +Berechnungen. Nur einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und +dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung Mosgljäkoffs +entworfen. + +„Was haben Sie, ^mon ami^!“ fragte sie, trat auf ihn zu und streckte ihm +freundschaftlich die Hand entgegen. + +„Was! Noch ‚^mon ami^‘!“ schrie Mosgljäkoff in rasender Wut. „Nach +allem, was Sie getan haben, noch ^mon ami^! Das verbitte ich mir, meine +Gnädigste! Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen zu können!“ + +„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie in einer so +_sonderbaren_ Stimmung angetroffen habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist +das für ein Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren Sie +sich einer Dame gegenüber bedienen.“ + +„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles was Sie wollen, nur keine +Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff. Ich weiß nicht, was er eigentlich +sagen wollte, jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen sein. + +Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an. + +„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger Stimme und wies auf +denselben Stuhl, auf dem noch vor wenigen Minuten der Fürst gesessen +hatte. + +„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“ Mosgljäkoff +war ganz verdutzt. „Sie sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir, +sondern womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da – da – das geht +doch nicht! ... Dieser Ton! ... Aber das übersteigt doch jedes Maß der +menschlichen Geduld! ... Wissen Sie das auch?“ + +„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, „Sie werden mir erlauben, +Sie immer noch so zu nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als +mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich, Sie sind mitten ins Herz +getroffen – und deshalb wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem +solchen Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen, Ihnen alles +aufzudecken, mein ganzes Herz, um so mehr, als ich mich selbst ein wenig +schuldbewußt vor Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“ + +Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend, weich und auch in ihrem +Gesicht drückte sich Leiden aus. Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr +gegenüber. + +„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone fort und sah ihn +vorwurfsvoll an. + +„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich es nicht getan hätte! +Dann wäre ich ja der richtige Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles +erfahren, was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er frech. Sein +eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn noch mehr auf. + +„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich zu einer solchen +Handlung entschließen können? – O, mein Gott!“ + +Mosgljäkoff sprang auf. + +„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch unerhört! Denken Sie doch +gefälligst daran, wozu _Sie_ sich bei _Ihrer_ Erziehung und Ihren +Grundsätzen entschlossen haben, und dann verurteilen Sie andere!“ + +„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine Heftigkeit zu +beachten, „wer hat Sie dazu verleitet, uns zu belauschen, wer hat es +Ihnen erzählt, wer hat hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst +wissen will.“ + +„Verzeihung – das sage ich nicht.“ + +„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe gesagt, ^cher Paul^, daß +ich schuldbewußt vor Ihnen dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann +werden Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine solche +zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß ich Ihnen das Beste +gewünscht habe.“ + +„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über die Hutschnur! Glauben Sie mir, +daß Sie mich jetzt nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer +Junge!“ + +Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in den Fugen knackte. + +„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger zu sein, wenn es Ihnen +möglich ist. Hören Sie mir aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst +in allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen sogleich +alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von mir den ganzen Sachverhalt bis +auf die kleinsten Details erfahren, ohne sich durch Belauschen +erniedrigen zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt +habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das Ganze doch noch nichts +als ein in der Luft schwebender Plan war. Es konnte ja ebensogut auch +nichts daraus werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen. Zweitens: +beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina liebt Sie bis zum Wahnsinn +und es hat mir unglaubliche Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und +durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“ + +„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen gehabt, den +glänzendsten Beweis für diese Liebe _bis zum Wahnsinn_ zu vernehmen,“ +bemerkte Mosgljäkoff ironisch. + +„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? Soll das die Rede +eines Verliebten sein? Und schließlich – welcher wohlerzogene Mensch +spricht in diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“ + +„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht um den Ton! Aber am +Vormittag, nachdem Sie so liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben +Sie mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach verleumdet! +Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben ihr nur Schlechtes von mir +gesagt! Ich weiß alles, alles!“ + +„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“ fragte Marja +Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln. „Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich +habe Sie angeschwärzt, ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt, und ich +gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben habe. Aber beweist das +nicht – daß ich gezwungen war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu +verleumden – beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas Einwilligung, +sich von Ihnen loszusagen, zu erringen war? Wie können Sie so +kurzsichtig sein? Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es +dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich zu machen, in so +unvorteilhaftem Licht zu zeigen – kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu +greifen? Aber Sie wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner +Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen herauszureißen, +und erst nach unglaublichen Anstrengungen habe ich nur eine äußerliche +Einwilligung erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß es +Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen um den Fürsten mit +keinem Wort, keinem Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit +hat sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen hat sie wie ein +Automat. Ihre ganze Seele wand sich vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr +machte ich der Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort. Ich +bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein war. Als Sie +eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt haben ...“ + +Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er ins Zimmer gestürzt +war, Tränen in ihren Augen bemerkt hatte. + +„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen mich gewesen, Marja +Alexandrowna? Warum haben Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet – +was Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“ + +„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn Sie gleich zu Anfang so +vernünftig gefragt hätten, dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja, +Sie haben recht! Alles das habe _ich_ getan und nur _ich_ allein. Sina +lassen Sie hier ganz aus dem Spiel. Und weshalb ich es getan habe? Meine +Antwort ist: in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem +Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, macht sie eine +glänzende Partie. Und schließlich, wenn er sterben sollte, was +vielleicht sogar sehr bald geschehen kann – denn wir sind ja alle mehr +oder weniger sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin, in der +besten Gesellschaft und unermeßlich reich. Dann kann sie heiraten, wen +sie will, sie kann die glänzendste Partie machen – doch wird sie +selbstverständlich nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen +Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein schon die Reue +würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen, den sie früher geliebt, +wieder gut zu machen ...“ + +„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich seine Stiefel betrachtete. + +„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“ fuhr Marja +Alexandrowna fort, „denn Sie werden das vielleicht nicht einmal +begreifen. Sie lesen Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen +Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie, wenn auch _sehr +gutmütig_, so doch noch zu jung, – ich aber bin Mutter, Pawel +Alexandrowitsch! So hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum +Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will ich ihn retten. +Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten, geradezu ritterlichen Greis +auch früher schon geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich in +den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird ihn noch unter die Erde +bringen! Gott hat es gesehen, daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat +habe bewegen können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat der +Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich von dem Edelmut, von +der Begeisterung für die große Überwindung fortreißen lassen. Sie hat +selbst viel Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine +Christenpflicht ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das Kind, die +Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein, dem vielleicht nur noch ein +einziges Lebensjahr vergönnt ist. Ihn würde dann nicht dieses +schändliche Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten +Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, Freundschaft und Liebe. +Diese letzten Tage würde er im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus +– sagen Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer barmherzigen +Schwester, aber nicht Egoismus!“ + +„Dann ... dann haben Sie es also nur für den Fürsten getan und aus +Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“ brummte Mosgljäkoff spöttisch. + +„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch, sie ist recht +deutlich. Sie glauben vielleicht, daß hier die Vorteile des Fürsten mit +den eigenen Vorteilen jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen? +Vielleicht habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur war sie nicht +jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich weiß, daß Sie sich über ein so +offenes Geständnis wundern werden, aber ich bitte Sie nur um eines, +Pawel Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit im Spiel +ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet nicht, sie versteht +nur zu lieben – mein liebes Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet +hat, so bin ich es, _ich allein_! Aber fragen Sie doch in allem Ernst +Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer hätte an meiner Stelle im gegebenen +Fall nicht berechnet? Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren +uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt, +unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei alle, indem sie sich selbst +versichern, daß sie es nur aus Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht +betrügen: ich gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner +Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob ich _meinen_ Vorteil +berechnet habe? Ich brauche nichts mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe +mein Leben abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel, mein +Kind, und – welche Mutter würde mir das in diesem Fall zum Vorwurf +machen?“ + +Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas. Mosgljäkoff hörte in +höchster Verwunderung diese ganze offenherzige Beichte an und blinzelte +nur verständnislos mit den Augen. + +„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich. „Sie verstehen gut +zu reden, Marja Alexandrowna, – aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr +Wort gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was glauben Sie wohl, +wie mir jetzt zumute ist? Denken Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer +langen Nase abziehen!“ + +„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie gedacht habe, ^mon +cher Paul^! Ich sage Ihnen: in allen diesen Berechnungen lag für Sie ein +so großer Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem +Unternehmen entschlossen habe.“ + +„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie denn das?“ + +„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig sein!“ rief Marja +Alexandrowna mit beredtem Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da +sehen wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare liest, träumt +und sich einbildet zu leben – während man nur mit fremdem Verstande und +mit fremden Gedanken lebt! Mein _guter_ Pawel Alexandrowitsch, Sie +fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben Sie, daß ich zur +besseren Übersicht etwas abweiche: Sina liebt Sie – darüber kann kein +Zweifel bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz ihrer +offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen zu Ihnen in ihr +verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe +bemerkt, daß sie sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu +Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und ihres Mißtrauens. Haben +Sie das nicht auch selbst bemerkt, Pawel Alexandrowitsch?“ + +„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar heute ... Aber was wollen +Sie denn damit sagen, Marja Alexandrowna?“ + +„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt! Folglich täusche ich +mich nicht. Und sie mißtraut gerade der Beständigkeit Ihrer guten +Neigungen. Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was im +Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen Sie sich vor, daß Sie, +anstatt mit Vorwürfen und fast sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie +zu reizen, zu kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und +stolz vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem Argwohn +bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken, – stellen Sie sich +jetzt vor, daß Sie statt dessen diese Nachricht ruhig, mit Tränen des +Bedauerns oder sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem Edelmut, +der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen hätten ...“ + +„Hm! ...“ + +„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. Ich will +Ihnen dieses ganze Bild ausmalen, das auch unfehlbar Eindruck auf Sie +machen wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr getreten +wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe dich mehr als mein Leben, +doch Familienrücksichten trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns +scheiden. Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr, mich +gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir. Sei glücklich, wenn du +es kannst!‘ und hierauf hätten Sie sie noch einmal angesehen, mit einem +Blick – mit dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so +ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen Sie sich dann, +welch einen Eindruck diese Worte auf ihr Herz gemacht hätten!“ + +„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, daß es sich so verhält; ich +begreife das sehr wohl ... aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und +wäre dann doch leer abgezogen ...“ + +„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie mich nicht! Ich will +unbedingt das ganze Bild entrollen, mit allen späteren Folgen, um Sie zu +überzeugen. Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach einiger Zeit +ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen. Sie treffen sich irgendwo auf +einem Ball, bei strahlender Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer +Musik, inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen Frohsinns +ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich, bleich und folgen nur +ihr allein mit den Blicken, an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß +man Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft bewegt. +Sie tanzt. Die berauschenden Klänge Straußscher Walzer umschmeicheln +Sie, der Esprit der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber sind +einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft! Was wird dann +in Sinaïda vor sich gehen – denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen +wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken, ‚ich konnte an +diesem Menschen zweifeln, der mir alles, alles geopfert und sein Herz um +meinetwillen zerrissen hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde dann +mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“ + +Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um Atem zu schöpfen. +Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich auf seinem Stuhle, daß dieser zum +zweiten Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna fuhr fort. + +„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina mit ihm ins Ausland, +nach Italien, nach Spanien, – nach Spanien, wo Myrten und Orangen +blühen, wo der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir rauscht, – in +das Land der Liebe, in dem man nicht leben kann, ohne zu lieben, wo +Rosen und Küsse sozusagen in der Luft schweben! Und Sie fahren +gleichfalls dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre +Verbindungen, alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer +Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien – mein Gott! Versteht sich – Ihre +Liebe ist lauter, ist heilig, aber schließlich wird der gegenseitige +Anblick Sie doch beide quälen. Sie verstehen mich, ^mon ami^! Natürlich +werden sich niedrige, boshafte Menschen finden, Abscheuliche, die da +behaupten werden, daß durchaus nicht nur die verwandtschaftliche +Zuneigung zu dem leidenden alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich +aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil eben diese Leute +ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben werden. Aber ich bin Mutter, +Pawel Alexandrowitsch, – sollte _ich_ Sie Schlechtes lehren? ... +Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu +beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann man denn nur auf Grund +dessen einer so schändlichen Verleumdung glauben? Und eines Tages wird +er sterben und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt sagen Sie: +wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht Sie? Sie sind mit dem Fürsten +ja nur weitläufig verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese +Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung, reich, schön, +vornehm, – und das zu welcher Zeit? – wenn die vornehmsten und reichsten +Aristokraten es sich zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu +dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die höchsten Kreise, durch +ihre Frau werden Sie plötzlich eine bedeutende Stellung erhalten, Titel, +Orden! Jetzt haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber werden +Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament alles vorsehen: dafür +werde ich schon Sorge tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich +endgültig von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen überzeugt +haben und Sie werden ihr plötzlich als Held des Edelmutes und der +Selbstverleugnung erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier +Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind sein, um diesen Vorteil +nicht einzusehen, nicht zu verstehen, nicht zu berechnen – wenn sie zwei +Schritt vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst sagt: +‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel Alexandrowitsch, ich bitte +Sie!“ + +„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand sich in unbeschreiblicher +Aufregung. „Jetzt habe ich alles begriffen! Ich habe roh, niedrig, +schändlich an ihr gehandelt!“ + +Er sprang auf und raufte sich das Haar. + +„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna hinzu, „vor allen Dingen +unüberlegt!“ + +„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er verzweifelt aus. „Jetzt +ist alles verloren, denn ich liebe sie bis zum Wahnsinn!“ + +„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte Frau Moskalewa +halblaut vor sich hin, als überlege sie etwas. + +„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen Sie mir! Retten Sie +mich!“ + +Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus. + +„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig und reichte ihm die +Hand, „Sie haben es aus übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender +Leidenschaft, folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in Verzweiflung, +Sie waren außer sich! Das wird sie doch einsehen müssen ...“ + +„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, alles für sie +hinzugeben!“ + +„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen versuchen ...“ + +„Marja Alexandrowna!“ + +„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen. Und Sie +werden ihr dann alles so erklären, wie ich es Ihnen soeben erklärt +habe!“ + +„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! ... Nur ... könnte man +es nicht sofort machen!?“ + +„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind, mein Freund! Sie ist so +stolz! Sie würde es für eine neue Beleidigung halten, für eine +Frechheit! Morgen werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen +Sie irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ... am Abend können Sie +vielleicht wiederkommen, aber selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“ + +„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten mich! Nur noch eine Frage: +wenn nun aber der Fürst nicht so bald stirbt?“ + +„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, ^mon cher Paul^! Im Gegenteil, wir +müssen zu Gott beten, daß er ihm noch ein paar Wochen Gesundheit +schenkt. Man muß diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn +von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben wünschen! Ich werde +unter Tränen Tag und Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch +leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten ist nicht allzu +zuverlässig! Zudem wird er jetzt in die Residenz fahren und Sina in der +Gesellschaft einführen müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß +ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß geben werden! Doch +wir wollen beten, ^cher Paul^, und das übrige steht in Gottes Hand! ... +Sie gehen schon? Ich segne Sie, ^mon ami^! Hoffen Sie, gedulden Sie +sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien Sie ein ganzer Mann! +Ich habe nie an dem Adel Ihrer Gefühle gezweifelt ...“ + +Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff schlich sich auf den +Fußspitzen aus dem Zimmer. + +„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie triumphierend. „Jetzt +kommen andere an die Reihe ...“ + +Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend bleich und ihre +Augen blitzten. + +„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende oder ich ertrage es +nicht! Es ist dermaßen schmutzig und ekelhaft, daß ich aus dem Hause +laufen möchte! Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich? Mir +wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem ganzen Schmutz!“ + +„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ... du hast gelauscht!“ rief +Marja Alexandrowna aus und sah ängstlich forschend Sina an. + +„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb vielleicht auch so +beschämen wie jenen Dummkopf? – Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange +so quälen und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche Rollen +zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und mache einfach ein Ende +damit! Es ist genug, daß ich in die Hauptsache eingewilligt, daß ich +mich zu dieser allergrößten Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ... +ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem Schmutz! ...“ + +Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu. + +Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach und wurde nachdenklich. + +„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend. „Sina ist die +größte Gefahr, und wenn alle diese Schurken uns nicht allein lassen und +die Nachricht noch in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt +schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie würde diesem +ganzen Skandal nicht standhalten und sich zurückziehen. Man muß den +Fürsten unbedingt aufs Land bringen – was es auch koste! Ich werde +sofort hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu irgend etwas +muß er sich doch schließlich verwenden lassen! ... Und dort wird sich +der Alte ausschlafen und dann ... – also: fahren wir!“ + +Sie klingelte. + +„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie den eingetretenen +Diener. + +„Schon längst bereit!“ antwortete dieser. + +Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den Fürsten nach oben ins +Fremdenzimmer geleitet hatte. + +Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick zu Sina, um +dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß mitzuteilen, und, wenn möglich, +auch noch einzuschärfen, wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina +wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett und hatte das +Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte verzweifelt. Ihre wundervollen +Hände hatte sie in ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich +alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme abhoben. Zuweilen +zuckte sie zusammen, wie wenn plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre +Glieder lief. Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber Sina +erhob nicht einmal den Kopf. + +Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte, ging sie besorgt +hinaus und befahl dem Kutscher, um sich anderwärts dafür zu +entschädigen, im Galopp auf ihr Gut zu fahren. + +„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte sie, als sie in +ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich habe Mosgljäkoff fast mit +denselben Worten beredet wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt +vielleicht beleidigt fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache +ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die anderen davon Wind +bekommen! Doch – wenn mein Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“ + +Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher Wut erfaßt – die dem +armen Afanassij Matwejewitsch nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen +Augenblick ruhig sitzen. + + + X. + +Die Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt, daß ein genialer +Gedanke Marja Alexandrowna am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr, +um ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke war: den Fürsten +zu „konfiszieren“ und so bald als möglich auf ihr Gut in der Nähe der +Stadt zu bringen, wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos +und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh. Wir wollen es +nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna immer mehr von einer +unerklärlichen Unruhe gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit +wirklichen Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie ihr Ziel +erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser Instinkt sagte ihr, +daß es gefährlich war, in Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf +dem Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt hier auf den Kopf +stellen!“ Selbstverständlich durfte man auch auf dem Lande nicht unnütz +Zeit verlieren. Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles +mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den Feinden unserer Heldin +späterhin über sie verbreitet wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in +diesem Augenblick sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe. +Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit dem Fürsten +verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte sie zur Hand. Dort auf dem Gute +konnte sie der Dorfgeistliche trauen. Die Trauung konnte gleich +übermorgen stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen. Hatte es doch +Trauungen gegeben, die binnen zwei Stunden vollzogen worden waren! Dem +Fürsten mußte man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien und +Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als das Neueste ^comme il +faut^ hinstellen: man mußte ihm beweisen, daß es so „grandioser“ sei. +Außerdem konnte man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen +und somit die empfindsamste Seite im Herzen des alten Mannes zum Klingen +bringen. Und schlimmstenfalls konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“ +oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei halber +Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch geschehen sollte – Sina +würde dann immerhin schon Fürstin _sein_! Und falls es auch nicht ohne +einen Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau zum Beispiel, wo +die Verwandten des Fürsten lebten, so gab es auch hierfür einen Trost: +erstens war das noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna +überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft fast immer einen Skandal +geben müsse, namentlich in Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar +„guter Ton“ sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft ihrer +Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere zu sein pflegten, etwa +in der Art der Skandale eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable +– daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt von ihrer +Mama, um im Augenblick alle und alles zu besiegen, und daß dann keine +einzige von allen Gräfinnen und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche +würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna allen gemeinsam +oder auch einzeln der Reihe nach zu verabfolgen schon verstehen würde. +Die Folge dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna jetzt mit +Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij Matwejewitsch abzuholen, +dessen sie nach ihrer Berechnung jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den +Fürsten aufs Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch +bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht durchaus nicht machen +wollte –, war bedenklich. Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch +persönlich aufforderte, so war das eben etwas ganz anderes. Zudem konnte +das Erscheinen eines bejahrten, würdigen Familienvaters, in Frack und +weißer Binde, den Hut in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und +wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste Kunde vom Fürsten +aus der Ferne herbeigeeilt sei, so konnte das der Eigenliebe des Fürsten +nur schmeicheln. Nach einer so umständlichen Galaeinladung war es auch +schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna. Endlich hatten die Pferde +die drei Werst zurückgelegt, und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor +der Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen Gutsgebäudes, +das mit seiner langen Fensterreihe und umstanden von alten Linden schon +ziemlich baufällig aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz +geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas Sommerresidenz. Im Hause +brannte bereits Licht. + +„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna, die wie ein Sturm durch +die Zimmer raste. „Weshalb liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich +getrocknet! Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft er seinen Tee! +Was glotzt du mich an, du Dummkopf! Weshalb ist sein Haar nicht +geschnitten? Grischka! Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn +nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der vergangenen Woche +anbefohlen habe?“ + +Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht gehabt, viel freundlicher +ihren Gemahl zu begrüßen; als sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad +gestiegen war und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte sie +ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel Mühen und Sorgen +ihrerseits und soviel seliger Quietismus von seiten des zu nichts +tauglichen, vollständig überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser +Kontrast traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel, oder +höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde, in sprachlosem Schrecken +vor seinem Ssamowar, sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine +Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde gemacht hatte. +In der Tür zum Vorzimmer stand die vierschrötige Gestalt Grischkas, der +beständig etwas verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur +augenblinzelnd die Szene ansah. + +„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht geschnitten,“ +sagte er mürrisch mit seiner klanglosen Stimme. „Zehnmal bin ich mit der +Schere gekommen, – nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen und +dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir nicht geschoren sind, was +sollen wir dann machen? Sie aber sagten: nein, wart, ich werde mir +Sonntag Locken einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“ + +„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir Locken ein? Was sind +denn das für Marotten? Und wie steht denn das zu deinem dummen Kopf? +Gott, was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht es hier? Ich +frage dich, Monstrum, wonach es hier riecht?“ schrie Marja Alexandrowna, +die über den unschuldigen und zu Tode erschrockenen Afanassij +Matwejewitsch in immer größere Wut geriet. + +„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der angstvolle Gatte, ohne +sich vom Stuhl zu erheben und nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge, +„Mü ... mütterchen! ...“ + +„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem Eselskopf eingebläut, +daß ich für dich durchaus kein Mütterchen bin! Was bin ich für ein +Mütterchen, du Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine +vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft, aber nicht +neben einem Esel wie du wäre, mit solchen Namen anzureden!“ + +„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine gesetzmäßige Frau ... +und deshalb sage ich auch ... wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“ +versuchte zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob aber +gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um seine Haare zu schützen. + +„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals eine dümmere Antwort gehört? +Gesetzmäßige Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige Frauen? +Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft gebraucht jetzt noch +dieses dumme, dieses seminaristische, dieses ekelhaft gemeine Wort: +‚gesetzmäßige Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran zu +erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus allen Kräften, aus +ganzer Seele gerade dieses eine wieder zu vergessen bemühe, daß ich +deine Frau bin! Was hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was +für Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden in drei +Stunden nicht trocken werden! Wie soll man jetzt mit ihm hinfahren? Wie +soll man ihn fremden Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“ + +Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung, während sie im +Zimmer auf und ab raste. Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ +sich ja leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren +herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen. Das +beständige Ausgießen ihres Zornes über dem Haupte des armen Afanassij +Matwejewitsch war ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist eine +Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und dann – wir wissen doch, zu +welchen Kontrasten manche zartfühlenden Damen einer gewissen +Gesellschaftsklasse bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind, +und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben. + +Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen seiner Gattin +und schwitzte vor Angst. + +„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an! Frack, Beinkleider, +weiße Binde, Weste – schneller! Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist +seine Kopfbürste?“ + +„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der Wanne gekommen, – ich kann +mich doch erkälten, erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“ + +„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“ + +„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“ + +„Das werden wir im Augenblick trocken machen! Grischka, nimm die +Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker! stärker! stärker! So! So ist’s +recht!“ + +Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und ergebene Grischka aus +Leibeskräften den Kopf seines Herrn, den er um der größeren +Bequemlichkeit halber an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts +striegelte, ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers fast an den +Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog das Gesicht kraus und war nahe +daran, zu weinen. + +„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo ist die Pomade? Beuge dich, +beug dich, Nichtsnutz, beug dich, sag ich dir!“ + +Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig ihren Gemahl zu +salben, während sie ihn unbarmherzig an seinem dichten, +grauuntermischten Haarschopf zog, den er zum Unglück nicht +vorschriftsmäßig hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch +seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges Mal, sondern ertrug +ergeben die ganze gewaltsame Einsalbung. + +„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du Schmutzfink!“ schrie Marja +Alexandrowna. „So beug dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“ + +„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen, Mütterchen?“ fragte der +Gatte zaghaft und beugte den Kopf so tief als nur irgend möglich. + +„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen! Jetzt kämm dich. +Und den Rock ihm an. Aber schnell.“ + +Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte mit +inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell der Bekleidung ihres +Gatten. Dieser hatte sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut +geschöpft. Als es zum Binden der weißen Krawatte kam, wagte er sogar, +eine persönliche Bemerkung über die Form und Schönheit des Knotens zu +äußern. Und als der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack +angezogen hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete sein +Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht. + +„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“ fragte er +selbstgefällig. + +Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht. + +„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie wagst du überhaupt, mich +zu fragen, wohin ich dich bringe?“ + +„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“ + +„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich Mütterchen zu nennen, +namentlich dort, wohin wir jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du +mir dann ohne einen Tropfen Tee!“ + +Erschrocken verstummte der Gemahl. + +„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich verdient, dieser +Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem Blick auf seinen schwarzen +Frack. + +Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch gekränkt. + +„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten und ich bin Rat, +aber kein Taugenichts!“ sagte er mit edlem Unwillen. + +„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt? Ach du! Bauer, du! +Schade, daß ich jetzt keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst +würde ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen! Gib ihm +den Hut, Grischka! Gib ihm den Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit +diese drei Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer, +gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den Spiegeln die Bezüge +abnehmen! von den Uhren gleichfalls! Und sieh zu, daß alles in einer +Stunde fertig ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten +gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“ + +Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij Matwejewitsch +wunderte sich und Marja Alexandrowna überlegte im stillen, wie sie dem +schwerfälligen Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln möglichst +klar, einfach und verständlich einschärfen sollte. Doch ihr Gatte kam +ihr zuvor. + +„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich habe heute einen sehr +originellen Traum gehabt,“ meldete er plötzlich mitten im beiderseitigen +Schweigen. + +„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte schon, daß jetzt weiß +Gott was kommen würde! Sein Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit +deinen Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt du denn auch, was +originell bedeutet? Hör, ich sage dir jetzt zum letzten Mal: wenn du +heute wagst, auch nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder +gleichviel wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir tun! Paß +jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen. Entsinnst du dich noch des +Fürsten K.? ...“ + +„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb ist er denn zu dir +gekommen?“ + +„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt ihn mit besonderer +Liebenswürdigkeit – als Hausherr – sofort auf unser Gut einladen. +Deshalb bringe ich dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort +fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen Abend, oder morgen, +oder übermorgen oder gleichviel wann, auch nur ein einziges Wort zu +sprechen, so werde ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich +hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges Wort. Und das +ist alles, was du zu tun hast. – Hast du verstanden?“ + +„Aber – wenn man mich etwas fragt?“ + +„Gleichviel – schweige!“ + +„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte, Marja +Alexandrowna!“ + +„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges, zum Beispiel: +‚Hm!‘ oder etwas in der Art, – gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein +kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor du antwortetst.“ + +„Hm!“ + +„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde sagen, daß du auf die +Nachricht von der Ankunft des Fürsten, vor Freude über seinen Besuch, +sofort zur Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen und ihn +zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“ + +„Hm!“ + +„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel! Antworte darauf, was +ich dich frage!“ + +„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst, nur – weshalb soll +ich denn den Fürsten einladen?“ + +„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht das dich an, weshalb! Und +wie wagst du überhaupt, das zu fragen?“ + +„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll ich ihn denn einladen, +wenn du mir fortwährend zu schweigen befiehlst?“ + +„Ich werde für dich reden, du aber mach nur deine Verbeugung – hörst du? +– mach nur deine Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast du +mich verstanden?“ + +„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“ + +„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt, und selbst wenn es +nicht an dich gerichtet ist, so antworte auf alles nur mit einem +gutmütigen und heiteren Lächeln, – hörst du?“ + +„Hm!“ + +„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten! Sage einfach und +offen: hast du gehört oder nicht?“ + +„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie sollte ich denn nicht +hören. Das ‚hm‘ sage ich nur, weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es +befohlen hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn das sein: wenn +der Fürst etwas sagt und du befiehlst, ihn nur anzusehen und zu lächeln! +Aber wenn er mich nun etwas fragt?“ + +„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe dir doch gesagt: +schweige! Ich werde für dich antworten, du aber sieh ihn nur an und +lächle.“ + +„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm bin!“ + +„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er _nicht_ merken, daß du +_dumm_ bist.“ + +„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas fragen?“ + +„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand zugegen sein. Und falls +dennoch jemand kommen sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas +fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort mit einem +sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das ist – ein sarkastisches +Lächeln?“ + +„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“ + +„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn von dir Esel ein geistvolles +Lächeln verlangen! Einfach ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch +verächtliches.“ + +„Hm!“ + +„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja Alexandrowna innerlich +seufzend. „Er hat sich entschieden geschworen, mich zur Verzweiflung zu +bringen! Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt nicht +hinzubringen!“ + +Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle Unruhe und erbitterte +Selbstvorwürfe folgten, beugte sich Marja Alexandrowna beständig zum +Fenster ihres Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch +größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien es immer noch zu +langsam vorwärts zu gehen. Afanassij Matwejewitsch saß schweigend in +seiner Ecke und wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen. +Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten sie vor dem +Hause Marja Alexandrownas. + +Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie auch schon einen +zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit dampfenden Pferden erblickte, der +plötzlich gleichfalls vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem +Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten saßen zwei Damen. Die +eine war Anna Nikolajewna und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit +einiger Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der anderen. + +Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber noch hatte sie keinen +Schrei ausgestoßen, als schon eine zweite Kutsche vorfuhr, in der sich +offenbar gleichfalls Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch +freudige Begrüßungsworte. + +„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij Matwejewitsch! +Angekommen! Woher denn das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu +Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“ + +Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten wie Schwalben +durcheinander. Marja Alexandrowna traute ihren Augen und Ohren nicht. + +„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das sieht mir ganz nach einer +Verschwörung aus! Das muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche +Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“ + + + XI. + +Mosgljäkoff verließ Marja Alexandrowna wie es schien, vollkommen +beruhigt. Sie hatte es verstanden, ihn für ihren Plan zu gewinnen. +Einstweilen aber ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn +nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und heroischen Träume, die +ihn plötzlich überkam, ließ ihm keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche +Aussprache mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden +Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf dem glänzenden +Petersburger Ball, an Spanien, den Guadalquivir, an seine Liebe und den +sterbenden Fürsten, der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider +Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne Frau, die ihm +treu ergeben ist und ihn täglich ob seines Heldenmutes und seiner +erhabenen Gefühle anstaunt; nebenbei – im stillen – an die +Aufmerksamkeit irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“, in die +er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des Fürsten K., unfehlbar +hineingelangen würde; ferner an den Posten eines Vizegouverneurs, an das +viele Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna so beredt +ausgemalt hatte, zog noch einmal durch seine restlos zufriedene Seele, +beglückend und verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd. +Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das eigentlich +erklären soll –, als er von dieser ganzen Begeisterung bereits müde zu +werden begann, kam ihm plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß +nämlich das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß er +vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase sitzen bliebe. Als ihm +dieser Gedanke kam, bemerkte er auch, daß er sehr weit gegangen war und +sich in einer einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs +befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen gleichsam in die Erde +hineingewachsene Häuschen standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde, +die, wie gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen sich +erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen und auch nichts zu +stehlen gibt. Es begann zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen. +Selten nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib im Pelz und +in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn mit einemmal – ein sehr +schlechtes Zeichen, da uns bei einer günstigen Wendung der Dinge im +Gegenteil alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel +Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis jetzt in +Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte es sehr gern, wenn man ihm +in jedem Hause andeutete, daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu +dieser Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht stolz +darauf, Heiratskandidat zu sein. Und nun sollte er plötzlich als – +Verschmähter dastehen! Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er +kann doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch nicht einem +jeden von den Petersburger Bällen in säulenverzierten Sälen und vom +Guadalquivir erzählen! Während er so dies und das überlegte, sich selbst +quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm schließlich etwas in +den Sinn, das schon seit einiger Zeit halb unbewußt an seinem Herzen +genagt hatte. + +„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn auch genau so in +Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna es ausgemalt hat?“ + +Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna eine äußerst schlaue +Dame war und, wie sehr sie die allgemeine Achtung auch verdient haben +mochte, dennoch klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er sah ein, +daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich ihre besonderen Gründe +dazu gehabt hatte, und schließlich – ausmalen kann ja ein jeder. Auch an +Sina dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts weniger +als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen hatte; und zum +Überfluß fiel ihm da noch ein, daß er von ihr immerhin einen Korb +erhalten und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem Gedanken +blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt stehen und errötete vor +Scham bis zu Tränen. Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem +Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl und flog in einen +Schneehaufen. Während er nun in dem losen, weichen Schnee kniete und +sich wieder aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit +geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen Seiten auf ihn +los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer hatte sogar die +Unverschämtheit, sich hinten an seinen Pelz zu hängen. Mit lautem +Geschimpf schüttelte er die Hunde ab und trottete dann mit hinten +zerrissenem Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst hier gewahr zu +werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich kann kein Mensch, der +sich in einem ihm unbekannten Stadtteil verirrt hat – und namentlich +noch in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende gehen: immer +wieder wird ihn eine unbekannte Macht in alle Querstraßen und +Nebengassen einzubiegen zwingen. Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme +aus der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig. + +„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte er im Innersten und +spie aus vor Wut. „Und der Teufel hole euch alle samt euren edlen +Gefühlen und Guadalquiviren!“ + +Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem Augenblick anziehend +gewesen sei. + +Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält beim Hause Marja +Alexandrownas an. Als er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah, +wunderte er sich. + +„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch sein?“ fragte er +sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn heute eine Abendgesellschaft?“ Er +erkundigte sich beim Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem +Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der in Frack und weißer +Binde erschienen sei – zurückgekehrt war und daß der Fürst zwar geruht +habe, aus dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch nicht nach +unten zu den Gästen herabgestiegen wäre. Mosgljäkoff begab sich, ohne +ein Wort zu sagen, hinauf zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer +Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter fähig ist, sich zu +allem zu entschließen, selbst zum schmählichsten Racheakt, ohne daran zu +denken, daß er dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen +wird. + +Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl sitzend vor seinem +Reisenecessaire mit vollkommen kahlem Schädel, aber die Fliege und der +Backenbart waren bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in den +Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners und besonderen Lieblings, +Iwan Pachomytschs, der sie mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger +Miene bürstete. + +Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht recht zu sich gekommen zu +sein schien, bot einen ziemlich traurigen Anblick dar: er schien ganz +und gar erschlafft zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und +sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal im Leben. + +„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“ erkundigte sich +dieser. + +„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte ihn der Fürst. „Ich war +ein wenig eingeschlafen. Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich +bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“ + +„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich ... ich werde Ihnen +helfen, wenn Sie meiner Hilfe bedürfen.“ + +„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren! Ich habe doch +ge–sagt, daß man die Tür verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt +mir jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein Geheim–nis +niemand aufdecken und niemand sagen wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“ + +„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich denn für einen, der dazu +fähig wäre?“ Mosgljäkoff wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken +gewinnen ... + +„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß du ein edler Mensch bist – +mag es dann so sein, ich werde dich in Erstaunen setzen ... und dir +meine Geheimnisse aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir mein +Schnurrbart?“ + +„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar! Wie haben Sie ihn nur +so lange und so tadellos erhalten können?“ + +„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der Fürst mit triumphierendem +Blick auf Mosgljäkoff. + +„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber der Backenbart? Gestehen Sie +es nur, Onkelchen, den färben Sie doch?“ + +„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls vollkommen – +fal–sch!“ + +„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber das glaube ich nicht! Sie +wollen sich über mich lustig machen!“ + +„^Parole d’honneur, mon ami!^“ beteuerte der Fürst stolz. „Und denk dir, +alle, aber auch alle lassen sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida +Matwejewna glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen selbst +anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein Lieber, daß du mein Geheimnis +bewahren wirst. Gib mir dein Ehrenwort.“ + +„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten. Und glauben Sie +denn wirklich, daß ich dazu fähig wäre?“ + +„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit gefallen bin! +Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal um–geworfen!“ + +„Zum zweitenmal? Wann denn das?“ + +„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“ + +„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“ + +„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden, nicht mehr. Ich fuhr +ins Kloster, er aber warf die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz +steht noch still davon.“ + +„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“ + +„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ... wie gesagt, ich ... Also, +wie gesagt, vielleicht habe ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“ + +„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur im Traum erlebt! Sie +haben hier doch die ganze Zeit seit dem Mittag geschlafen.“ + +„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich. + +„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum gesehen. Aber, wie gesagt, +ich habe alles behalten, was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von +einem grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von einem +Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit Hör–nern ...“ + +„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff, Onkelchen?“ + +„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte mir von Napo–leon +Buonaparte. Weißt du, mein Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon +Buonaparte ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ... +aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger Papst aussehen! Was findest +du, mein Lieber, habe ich Ähnlichkeit von einem Papst?“ + +„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“ + +„Nun ja, das wäre ^en face^. Wie gesagt, ich finde es selbst auch, mein +Lieber. Und ich sah ihn im Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie +gesagt, er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein Witz–bold +... so daß er mich un–gemein erheitert hat.“ + +„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff mit nachdenklichem Blick +auf den Fürsten. Ihm war plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein +Einfall, über den er sich vorläufig noch nicht recht klar war. + +„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über Phi–lo–sophie. Und weißt +du, mein Lieber, es tut mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng +mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man ihn nicht an der +Kette gehalten, so würde er sich wieder auf die anderen gestürzt haben. +Ein toller Mensch! Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht +so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte Insel gesetzt ...“ + +„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte Mosgljäkoff zerstreut. + +„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te, aber auf eine, auf der +nur vernünf–tige Menschen wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene +Zerstreu–ungen für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett ... und alles +auf Kosten des Staates. Spazieren zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur +unter Auf–sicht erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder +entschlüpft. Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben. Nun, dann +würde man ihm eben täglich diese Pasteten gebacken haben. Ich hätte +sozusagen väterlich für ihn gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht +gehabt! ...“ + +Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst halberwachten Greises +zu und trommelte mit seinen Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch +auf die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst nicht, weshalb +er es wollte, doch ein unbezwingliches Rachegelüst kochte in seiner +Brust. Plötzlich stieß der Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei +der Überraschung. + +„Ach, ^mon ami^! Ich habe ja ganz vergessen, dir zu sagen! Denk doch, +ich habe heute einen Heiratsantrag gemacht!“ + +„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff ungemein belebt. + +„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du gehst schon? Nun gut. +^C’est une charmante personne ... Mais^ ... ich will dir gestehen, mein +Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe ich es ein. Ach, +Gott im Himmel!“ + +„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie es denn getan?“ + +„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal genau, wann. Oder +sollte mir das nur geträumt haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch +ist!“ + +Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine glänzende Idee! + +„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag gemacht, Onkelchen?“ +fragte er ungeduldig. + +„Der Tochter des Hauses hier, ^mon ami^ ... ^cette belle personne^ ... +wie gesagt, ich habe vergessen, wie sie heißt. Nur, sieh mal, ^mon ami^, +ich kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt tun?“ + +„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten, wenn Sie heiraten +wollten. Aber erlauben Sie eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch +überzeugt, daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“ + +„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“ + +„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie das, daß sie zum zweiten +Mal mit der Kutsche umfielen?“ + +„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir auch nur geträumt! ... +Jetzt weiß ich ja gar nicht, wie ich mich dort verhal–ten soll! ... ^Mon +ami^, auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren, ob ich bei +ihr angesprochen habe oder nicht? Denn sonst, denk doch nur, in welcher +Lage ich jetzt bin!“ + +„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt nichts zu +erfahren.“ + +„Wieso?“ + +„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt hat.“ + +„Der Meinung bin ich auch, ^mon ami^, um so mehr, als ich oft ähn–liche +Träume habe.“ + +„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie zum Frühstück ein +wenig getrunken haben, dann zum Mittag wieder und schließlich ...“ + +„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht rührt es auch nur +da–von her.“ + +„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt gewesen sein mochten, +einen so unüberlegten Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit +machen können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein überaus vernünftiger +Mensch und ...“ + +„Nun ja, nun ja.“ + +„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das Ihre Verwandten erführen, +die Ihnen doch ohnehin nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“ + +„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus. „Was würden die dazu +sagen?“ + +„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann schreien, daß Sie es nicht bei +vollem Verstande hätten tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß +man Sie unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen habe, und zu +guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren, wo Sie unter Aufsicht +leben müßten.“ + +Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den größten Schrecken einjagen +konnte. + +„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein Espenblatt. „Würde man +mich wirklich einsperren!“ + +„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen: wie hätten Sie einen +so unüberlegten Heiratsantrag in Wirklichkeit machen können? Sie kennen +doch Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent, daß Sie das +alles nur im Traum gesehen haben.“ + +„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“ bestätigte der erschrockene +Fürst. „Nein, wie vernünftig du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke +dir von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“ + +„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen habe. Denken Sie +doch nur: ohne mich hätten Sie sich tatsächlich täuschen, hätten Sie +glauben können, daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr +angesprochen haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam zu ihr nach +unten gegangen! Denken Sie doch nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“ + +„Nun ja ... gefährlich!“ + +„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig Jahre alt ist; +niemand will sie nehmen und plötzlich kommen Sie, ein reicher und +vornehmer Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch sofort +zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich angesprochen haben: und +verkuppeln Sie womöglich mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie +vielleicht bald sterben ...“ + +„Wirklich?“ + +„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch mit Ihren Vorzügen ...“ + +„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“ + +„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit ...“ + +„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“ + +„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch eine ganz andere Partie +machen, wenn Sie wirklich aus irgend einem Grund heiraten müßten. Und +denken Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen würden!“ + +„Ach, ^mon ami^, sie würden mich ja dann ganz und gar vernichten! Ich +habe von ihnen schon soviel Böses und Unheimliches erfahren ... Denk +dir, ich vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt bringen +wollten. Nun sag doch bloß, ^mon ami^, das geht doch nicht! Nun, was +würde ich denn dort in der Ir–ren–anstalt an–fangen?“ + +„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich Sie jetzt auch nicht +verlassen, wenn Sie nach unten gehen. Dort sind Gäste.“ + +„Gäste? Gott im Himmel!“ + +„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein.“ + +„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du bist geradezu mein +Retter! Aber weißt du: ich werde lieber fortfahren.“ + +„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr. Heute aber müssen Sie +sich noch von allen verabschieden und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“ + +„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie gesagt, zum Pater Missaïl ... +^Mais, mon ami^, wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“ + +„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei Ihnen sein. Und +schließlich, was man Ihnen auch sagen oder zu verstehen geben sollte, +bleiben Sie dabei, daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja auch +tatsächlich verhält ...“ + +„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt du, ^mon ami^, es war doch ein +be–zau–bernder Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du, welche +Formen ...“ + +„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt nach unten und Sie ...“ + +„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“ rief der Fürst +erschrocken aus. + +„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und da ist es besser, wenn +wir nicht zusammen erscheinen, zuerst ich, dann Sie.“ + +„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen Gedanken +niederschreiben!“ + +„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken nieder und kommen +Sie dann ohne zu säumen. Morgen früh aber ...“ + +„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt zum Prie–stermönch! +Charmant, charmant! Aber weißt du, ^mon ami^, sie ist wun–derbar schön +... diese Formen ... und wenn ich nun einmal unbedingt heiraten müßte, +so würde ich ...“ + +„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“ + +„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun, auf Wiedersehen, mein Lieber, +ich werde sogleich ... ich muß nur noch etwas niederschreiben. A +pro–pos, ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren +gelesen?“ + +„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“ + +„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich fragen wollte.“ + +„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen. Auf Wiedersehen!“ + +„Auf Wiedersehen, ^mon ami^, auf Wiedersehen! Nur war es doch ein +ent–zückender Traum, ein ent–zückender Traum! ...“ + + + XII. + +„Wir kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch Praskowja Iljinitschna +wollte kommen, und auch Luisa Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna +Nikolajewna, in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte sie sich rings +um. + +Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich gekleidet und sie +wußte es selbst vorzüglich, daß sie hübsch war. Sie war überzeugt, in +einer Ecke des Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken. + +„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna wollten kommen,“ +fügte Natalja Dmitrijewna hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen – +sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen hatten – und die +unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte. + +Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen, das ganz auf dem +Hinterkopf saß. Seit drei Wochen war sie die beste Freundin Anna +Nikolajewnas, der sie schon seit langem den Hof gemacht hatte und die +sie allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte +hinunterschlucken können – samt allen Knochen. + +„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann wohl sagen – Entzücken +darüber, Sie beide endlich einmal bei mir zu sehen und noch dazu am +Abend,“ flötete Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten Schreck +erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches Wunder Sie heute zu +mir gerufen hat, während ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese +Ehre aufgegeben! ...“ + +„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich sind!“ sagte Natalja +Dmitrijewna süßlich, verschämt, geziert und fast piepend, was einen +äußerst interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete. + +„^Mais, ma charmante^ Marja Alexandrowna,“ zwitscherte wieder Anna +Nikolajewna dazwischen, „wir müssen doch endlich mit unseren +Vorbereitungen zu diesem Theater ins reine kommen! Heute noch sagte +Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe ihn sehr, daß +wir nicht weiter kämen und uns immer nur stritten. Und da versammelten +wir uns denn heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja +Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja Dmitrijewna hat auch +die anderen benachrichtigt. Alle werden kommen. Und so können wir uns +denn beraten und die Sache kommt dann endlich in Gang ... Dann darf man +auch nicht mehr sagen, daß wir uns nur streiten, nicht wahr, ^mon +ange^?“ fügte sie kokett hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh +da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit jedem Tag schöner!“ + +Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina entgegen, um sie zu +küssen. + +„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu verschönen,“ meinte +süß Natalja Dmitrijewna und rieb ihre großen Hände. + +„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige Theater hatte ich +ganz vergessen! Sie scheinen, weiß Gott, klüger geworden zu sein!“ +dachte Marja Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut. + +„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna Nikolajewna fort, „daß +jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo +gab es ja früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt und wissen +jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen, ein Vorhang und sogar +Kostüme vorhanden sind. Der Fürst war heute bei mir, aber ich war so +überrascht, daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir hier +das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden uns beistehen und der +Fürst wird uns den ganzen Plunder herschicken – das werden Sie sehen! +Denn bei wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse +bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch den Fürsten für unsere +Aufführung gewinnen. Er muß unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist +doch für die Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen, – er +ist doch so liebenswürdig und mit allem stets einverstanden. Dann würde +alles wundervoll gehen!“ + +„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann ihn ja doch jede +beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna +zweideutig. + +Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna nicht betrogen: in jedem +Augenblick kamen neue Gäste. Die Hausfrau konnte kaum eine jede der +eintreffenden Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens +bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder dem guten Ton in +solchen Fällen verlangt werden. + +Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben. Ich sage nur, +daß einer jeden ganz besondere Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen +Gesichtern konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte Ungeduld +lesen. Einige von ihnen waren entschieden mit der Absicht gekommen, +Augenzeugen eines unerhörten Skandals zu sein, und sie würden sehr +ungehalten gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen wäre. +Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig, doch Marja Alexandrowna +hatte sich nichtsdestoweniger auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht. +Fragen nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend war eine +jede dieser Fragen sehr natürlich, aber dennoch enthielt jede eine leise +Anspielung, verriet jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht; +man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den Flügel. Sina wurde gebeten, +etwas zu singen, sie aber antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund +sei. Ihr bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen. +Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und gleichzeitig wurde auch noch +nach anderem gefragt und anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte +sich auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen +ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna verzehnfachte sich: sie sah +alles, selbst das, was in der fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede +Dame sprach, obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete +unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte nicht lange nach +Worten. Sie zitterte für Sina und wunderte sich, daß sie noch nicht +fortging, wie sie es sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte. +Auch Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen bemerkt +worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich alle zum besten zu haben, um auf +diese Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch hofften sie, +von dem dummen und aufrichtigen Gatten manches Nähere zu erfahren. Marja +Alexandrowna beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“. Zudem +antwortete er auf alle Fragen nur mit einem „Hm!“, tat es aber mit einer +so unglücklichen und jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der +Haut zu fahren glaubte. + +„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch will mit uns überhaupt +nicht mehr sprechen!“ rief ihr ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu, +das entschieden nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen Sie +ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein muß.“ + +„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was heute mit ihm geschehen +ist,“ antwortete Marja Alexandrowna, die ihr Gespräch mit Anna +Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So +verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen! Auch mit mir +spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest du denn Felissata +Nikolajewna nicht, ^cher Athanase^?“ + +„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch selbst ...“ stotterte der +verwunderte Gatte. Er stand in diesem Augenblick gerade am brennenden +Kamin, hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst ersonnen +– untergebracht und schickte sich an, Tee zu trinken. Die Fragen der +Damen verwirrten ihn dermaßen, daß er wie ein Mädchen errötete. Als er +jedoch die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing er einen +so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß er vor Schreck fast die +Besinnung verlor. Da er nicht wußte, was er tun sollte, andererseits +aber sein Vergehen gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen +wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck Tee. Der Tee war aber +heiß, und da er einen unverhältnismäßig großen Schluck genommen hatte, +verbrannte er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen, der Tee ging +in die Luftröhre, und er begann darauf so heftig zu husten, daß er das +Zimmer verlassen mußte, während die Anwesenden in staunender +Verständnislosigkeit zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau war +alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits alles wußten und +sich mit den schlimmsten Absichten bei ihr versammelt hatten. Die +Situation war gefährlich: sie konnten in ihrer Gegenwart den +schwachsinnigen Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme Dinge +durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten ihr sogar den Fürsten +streitig machen, konnten ihn ihr noch am selben Abend fortnehmen, d. h. +einfach mitlocken. Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte ihr +aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht: in der Tür +erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff glaubte. Sie hätte alles +eher als ihn an diesem Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie +gestochen worden. + +Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien beim Anblick der vielen +Gäste etwas verwirrt zu werden. Er konnte seine Aufregung nicht +bezwingen: man sah sie ihm wenigstens deutlich an. + +„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen mehrere Damen aus. + +„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch! Aber wie, Marja +Alexandrowna, Sie sagten doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde +gesagt, daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten, Pawel +Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna. + +„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem etwas verzerrten Lächeln. +„Ein sonderbarer Ausdruck! Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich +verberge mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen zu +verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick auf Marja Alexandrowna +hinzu. + +Marja Alexandrowna erzitterte. + +„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“ fragte sie sich +und sah ihn prüfend von der Seite an. „Das wäre das Schlimmste ...“ + +„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den Abschied erhalten haben +... im Staatsdienst, versteht sich?“ fragte die naseweise Felissata +Michailowna und blickte ihm spöttisch offen in die Augen. + +„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe ganz einfach umgesattelt. +Ich lasse mich nach Petersburg versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff +trocken. + +„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr Felissata Michailowna +fort. „Und wir erschraken schon, als wir hörten, daß Sie sich um eine +Anstellung hier in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die +Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man sich versieht, +fliegt man.“ + +„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule; dort gäbe es noch +eine Vakanz,“ bemerkte Natalja Dmitrijewna. + +Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna verlegen wurde und +ihre boshafte Freundin heimlich mit dem Fuß stieß. + +„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch einwilligen würde, die +Anstellung eines Kreisschullehrers anzunehmen?“ fragte Felissata +Michailowna. + +Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er ihnen den Rücken und wollte +fortgehen, stieß aber im selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch +zusammen, der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff +reichte ihm dummerweise nicht die Hand und verbeugte sich nur spöttisch +auffallend tief vor ihm. Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr +haßerfüllt in die Augen und raunte ihr zu: + +„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken. Warten Sie, heute abend +noch werde ich Ihnen zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“ + +„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch jetzt,“ antwortete Sina mit +lauter Stimme und maß ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick +vom Kopf bis zu den Füßen. + +Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute Antwort hatte ihn +denn doch erschreckt. + +„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich schließlich Marja +Alexandrowna zu fragen. + +„Nein, ich komme von meinem Onkel.“ + +„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben beim Fürsten gewesen?“ + +„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht? Und uns wurde +gesagt, daß er noch schlafe!“ Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert, +und der Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu +durchbohrend. + +„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja Dmitrijewna,“ +antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht und, Gott sei Dank, wieder +bei vollem Verstande. Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst bei +Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch endgültig, so daß er +beinahe seinen letzten Verstand verlor, der ja bei ihm ohnehin nicht +groß ist. Jetzt aber haben wir uns beide zum Glück aussprechen können, +und so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er wird sogleich +erscheinen, um sich von Ihnen, Marja Alexandrowna, zu verabschieden und +für Ihre Gastfreundschaft zu danken. Morgen aber werden wir in aller +Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich ihn persönlich nach +Duchanowo begleiten, um ein abermaliges Umgeworfenwerden zu verhüten. In +Duchanowo wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna empfangen – +die bis dahin unfehlbar aus Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann +ist es natürlich ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise +unternimmt – dafür garantiere ich.“ + +Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff mit aufrichtigem Haß zu +Marja Alexandrowna hinüber. Diese saß, als hätte sie vor Schreck die +Sprache verloren. Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine Heldin +zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde. + +„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort? Wie denn das?“ fragte +Natalja Dmitrijewna, sich an Marja Alexandrowna wendend. + +„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen Seiten. „Und wir haben +gehört ... das ist doch wirklich sonderbar!“ + +Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten sollte. Da wurde die +allgemeine Aufmerksamkeit plötzlich durch den ungewöhnlichsten +Zwischenfall abgelenkt: aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch +und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich stürzte unvermutet +unverhofft Ssofja Petrowna Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon. + +Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste Dame in ganz +Mordassoff: so exzentrisch war sie, daß die Gesellschaft der Stadt in +jüngster Zeit beschlossen hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß +noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um sieben Uhr ein paar +Gläschen kippte – für den Magen, wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung +befand sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten Stimmung – +gelinde ausgedrückt. Und in dieser Stimmung stürzte sie jetzt in den +Salon Marja Alexandrownas. + +„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“ schrie sie, „also so gehen +Sie mit mir um! Beunruhigen Sie sich nicht, ich bin nur auf einen +Augenblick gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen. Ich bin +absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen, ob es wahr ist, +was man mir erzählt hat. Ah! also Sie geben Bälle, Banketts, feiern +Verlobungen, Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und Strümpfe +stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen, nur ich nicht! Vorhin aber war +ich für Sie ‚liebe Freundin‘ und ‚^mon ange^‘ als ich herkam, um zu +erzählen, was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten gemacht wurde. Und +jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna, über die Sie vorhin so geschimpft +haben, und die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause. +Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich brauche nicht Ihre +Schokolade ^à la santé^ zu zehn Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause +öfter als Sie!“ + +„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna. + +„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja Alexandrowna aus, +hochrot vor Zorn, „was ist heute mit Ihnen? So kommen Sie doch zur +Besinnung, wenigstens!“ + +„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna, ich habe alles, alles +erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna mit ihrer schrillen, kreischenden +Stimme, umringt von allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene +zu ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre holde Nastassja ist +selbst zu mir gelaufen, um mir alles zu erzählen. Sie haben diesen +Jammerkerl, diesen Fürsten, eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und +dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja, bei Ihrer Tochter, +die niemand mehr heiraten will, und jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich +ein, daß auch Sie mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger +Vogel geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen – daß Gott +erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht, ich selbst bin die Frau eines +Obersten! Und wenn Sie mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so +pfeife ich auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen verkehrt +als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij diniert, und der +Oberkommissar Kurotschkin hat bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre +Einladung brauchte, – Gott bewahre! ...“ + +„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig ruhig an, +obgleich sie aus der Haut zu fahren meinte, „Sie können mir glauben, daß +man nicht in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt und +noch dazu in einem _solchen Zustande_, und wenn Sie mich jetzt nicht +sofort von Ihrer Anwesenheit und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich +unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“ + +„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten befehlen, mich +hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich nicht, ich werde selbst den Weg +hinausfinden. Leben Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber, +Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen: ich pfeife auf +Ihre Schokolade! Ich bin zwar nicht hierher eingeladen worden, habe aber +auch nicht vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen Sie +denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff hat sich inzwischen das +Bein gebrochen, ist soeben erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie, +Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka nicht sagen, +rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie nicht jeden Tag unter +meinen Fenstern brüllt, so werde _ich_ Ihrer Matrjoschka die Beine +brechen. Leben Sie wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! – Daß +Gott erbarm’!“ + +Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja Alexandrowna wußte +nicht, was sie tun oder sagen sollte. + +„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich Natalja +Dmitrijewna. + +„Aber immerhin – diese Frechheit!“ + +„^Quelle abominable femme!^“ + +„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“ + +„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“ + +„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung? Was ist das für eine +Verlobung?“ fragte Felissata Michailowna spöttisch. + +„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich Marja Alexandrowna. +„Und diese Ungeheuer sind es ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte +verbreiten! Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß solche +Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, – nein, am erstaunlichsten +ist, daß man diese Damen nicht entbehren zu können scheint, daß man sie +überhaupt anhört, sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“ + +„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste ^unisono^. + +„Ach, Gott! ^Ce cher prince!^“ + +„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich die ganze Wahrheit +erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer Nachbarin zu. + + + XIII. + +Der Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf den Lippen. Die ganze +Aufregung, in die Mosgljäkoff vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz +versetzt hatte, verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz +wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden Freuderufen. Im +allgemeinen wurde unser Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen +meist sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie mit seiner +durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu zerstreuen. Felissata +Michailowna hatte am Vormittag sogar behauptet – natürlich nur +scherzweise –, daß sie bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn +es ihm angenehm wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter Herr, +ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna verschlang ihn geradezu mit den +Blicken, bemüht, wenigstens etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu +erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen würde. Eines war +jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte etwas Gefährliches angerichtet. Ihr +ganzer Plan war stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten +war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe wie immer. + +„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben Sie erwartet und +erwartet!“ riefen einige der Damen aus. + +„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“ flöteten andere. + +„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der Fürst und setzte sich +an den Tisch, auf dem der Ssamowar stand. Die Damen umringten ihn im +Augenblick. Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna blieben bei der +Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch lächelte ehrerbietig; +Mosgljäkoff lächelte gleichfalls und blickte herausfordernd Sina an, die +ihm jedoch nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat zum Vater +und setzte sich neben ihn am Kamin in einen Lehnstuhl. + +„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie uns verlassen wollen?“ +fragte Felissata Michailowna. + +„Nun ja, ^mesdames^, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich ins Aus–land +fahren.“ + +„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles im Chor, „was ist Ihnen +eingefallen?“ + +„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt, „und wissen Sie, ich +will namentlich wegen der neuen Ideen hin–fahren.“ + +„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher neuen Ideen?“ fragten die +Damen, die untereinander Blicke austauschten. + +„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der Fürst noch einmal, +offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren alle wegen der neuen Ideen hin. +Und so will auch ich mir neue Ide–en an–legen.“ + +„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten, mein bester +Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff, der sich augenscheinlich vor den +Damen durch geistreiche Bemerkungen auszeichnen wollte. + +„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“ antwortete der Onkel +überraschenderweise. „Ich habe früher in alten Zeiten tatsächlich zu +einer Frei–maurerloge gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich habe +sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt. Ich beab–sichtigte +damals, viel für die zeitgenössische Aufklärung zu tun und in Frank–furt +beschloß ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land mitgenommen +hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner Verwun–derung selbst von +mir fort. Er war ein sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich ihm +einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit einer Mamsell auf den +Boulevards. Er sah mich an und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die +Mamsell war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“ + +„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal, wenn Sie ins Ausland +fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“ rief Mosgljäkoff laut auflachend +aus. + +„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten, mein Lieber!“ antwortete der +Fürst ohne zu zögern. „Es ist gerade meine Absicht, sie alle aus +Leibeigenen zu freien Bauern zu machen.“ + +„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch alle im Augenblick von +Ihnen fortlaufen, und wer wird Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“ +wandte Felissata Michailowna ein. + +„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt Anna Nikolajewna. + +„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“ fragte der Fürst +verwundert. + +„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen und Sie allein +lassen!“ versicherte auch Natalja Dmitrijewna. + +„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht freigeben. Wie gesagt, es +war von mir auch nur so gemeint.“ + +„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“ meinte Mosgljäkoff. + +Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört und beobachtet. Es schien +ihr, daß der Fürst sie vollkommen vergessen hatte ... + +„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll, „daß ich Ihnen +meinen Mann vorstelle – Afanassij Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom +Gut hergekommen, sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir abgestiegen +seien.“ + +Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine strammere Haltung an. Er +glaubte, daß man ihn gelobt habe. + +„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij Matwejewitsch! +Erlauben Sie, mir fällt etwas ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja, +das ist dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant, freut mich wie +gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte sich an Mosgljäkoff – „das ist doch +derselbe, weißt du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das doch? Kaum +ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt die Frau ... nun ja, auch die Frau +geht irgend wohin.“ + +„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt die Frau +schon aus dem Haus‘ – das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen +Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna auf. + +„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se es immer. Charmant, +charmant! Und Sie sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen +zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch, ohne +sich vom Stuhl zu erheben, die Hand. „Nun und wie geht es mit Ihrer +Gesundheit?“ + +„Hm ...“ + +„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete Marja Alexandrowna +eilig. + +„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist. Und Sie leben immer auf +dem Gute? Nun ja, es freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die +ganze Zeit freut er sich ...“ + +Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich und klappte sogar die +Absätze zusammen. Nach der letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht +mehr an sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise in +lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob sich. Die Damen wieherten +förmlich vor Vergnügen. Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden +Augen Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor Wut. Es war +höchste Zeit, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben. + +„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte sie sich mit honigsüßer +Stimme, während sie gleichzeitig durch einen zornigen Blick ihrem Gatten +zu verstehen gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen +hatte. + +„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der Fürst, „und wissen Sie, +ich habe einen ent–zück–enden Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“ + +„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn man Träume erzählt,“ rief +Felissata Michailowna aus. + +„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“ stimmte ihr Natalja +Dmitrijewna bei. + +„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der Fürst mit süßem Lächeln, +„dafür aber ist er das größte Geheim–nis!“ + +„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber dann muß es ja ein ganz +außergewöhnlicher Traum sein?“ fragte Anna Nikolajewna. + +„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der Fürst, der mit Vergnügen die +Neugier der Damen reizte. + +„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“ + +„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend einer Schönheit auf den +Knien gelegen und eine Liebeserklärung gemacht hat,“ rief Felissata +Michailowna aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts anderes +ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen Sie es nur!“ + +„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde von allen Seiten +gebeten. + +Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne diese Ausrufe. Die +Annahme Felissata Michailownas schmeichelte seiner Eigenliebe ganz +außerordentlich. Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen +geleckt. + +„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das größ–te Geheim–nis ist,“ +antwortete er schließlich, „so bin ich doch gezwungen, einzugestehen, +daß Sie, meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung vollkom–men +erra–ten haben.“ + +„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert aus. „Nun, Fürst! Jetzt +machen Sie, was Sie wollen, aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese +Schönheit ist!“ + +„Das müssen Sie unbedingt!“ + +„Ist es eine hiesige?“ + +„Ach, _lieber_ Fürst, sagen Sie es uns doch!“ + +„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns, sagen Sie es uns!“ +ertönte es von allen Seiten. + +„^Mesdames, mesdames!^ ... Wenn Sie es wirk–lich so nachdrücklich wissen +wollen, so kann ich Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das +bezau–berndste und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen ist von +allen, die ich kenne!“ + +Der Fürst zerfloß vor Wonne. + +„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige! Wer könnte das sein?“ +fragten sich die Damen, die bedeutsame Blicke und Winke austauschten. + +„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste Schönheit gilt,“ +sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre roten Riesenhände und blickte mit +ihren Katzenaugen vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch die +Blicke aller anderen Sina zu. + +„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume haben – weshalb heiraten +Sie dann nicht in Wirklichkeit?“ fragte die naseweise Felissata +Michailowna mit einem vielsagenden Blick ringsum. + +„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“ griff eine andere Dame auf. + +„Ach, _lieber_ Fürst, heiraten Sie doch, bitte, bitte!“ + +„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von allen Seiten. „Weshalb +sollen Sie denn nicht heiraten? ...“ + +„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“ meinte auch der +Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz konfus geworden war. + +„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen. + +„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt, ^mesdames^, ich bin +nicht mehr fähig zu heiraten, und nachdem ich hier einen bezau–bernden +Abend bei unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe, werde ich +mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl in die Ein–siedelei begeben +und von dort dann direkt ins Ausland fahren, um bequemer die +Fortschritte der europä–ischen Bildung verfol–gen zu können.“ + +Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch Marja Alexandrowna hatte +sich schon entschlossen. Bis hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft, +denn sie sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich +begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige Hydra mit +einem einzigen Schlage zu besiegen. Majestätisch erhob sie sich aus +ihrem Lehnstuhl, trat mit festen Schritten an den Tisch und maß mit +stolzem Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung +leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen, alle diese +gehässigen Klatschbasen vor den Kopf zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff +einfach zu vernichten, wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem +einzigen entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen verlorenen +Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder zu erobern. Versteht sich, +dazu gehörte eine ungewöhnliche kalte Frechheit, um die aber war Marja +Alexandrowna nie verlegen. + +„^Mesdames^,“ hub sie feierlich und majestätisch an (Marja Alexandrowna +liebte überhaupt sehr Feierlichkeit), „^mesdames^, ich habe lange Ihrem +Gespräch zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und ich +finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich kommt, auch ein Wort +zu sagen. Wie Sie wissen, haben wir uns hier alle ganz zufällig +zusammengefunden – und das freut mich so unsäglich, so unsäglich! +Niemals würde ich mich entschlossen haben, das wichtige +Familiengeheimnis als erste allen kund zu tun und es früher zu +verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl verlangt. Vor allem +bitte ich deshalb meinen lieben Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber, +daß er selbst durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand +aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken kommen läßt, daß ihm +die formelle und feierliche Mitteilung unseres Familiengeheimnisses +nicht nur keineswegs unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu +gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche mich doch nicht?“ + +„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut mich, freut mich sehr +...“ sagte der Fürst, der nicht im geringsten begriff, wovon die Rede +war. + +Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks einen Augenblick +inne, um Atem zu schöpfen. Sie übersah die ganze Gesellschaft: alle +Gäste horchten mit einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte. +Mosgljäkoff zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich, und Afanassij +Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung eines außergewöhnlichen +Ereignisses, auf alle Fälle. + +„Ja, ^mesdames^, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen mein +Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute, nach dem Mittagessen hat der +Fürst, hingerissen von der Schönheit und ... den Vorzügen meiner +Tochter, mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten. Fürst!“ schloß +sie mit einer Stimme, die von Tränen und Aufregung zitterte, „Sie dürfen +nicht, Sie können mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein! Nur +die übergroße Freude hat es vermocht, meinem Herzen vorzeitig dieses +liebe Geheimnis zu entreißen und ... welche Mutter würde mich deshalb +verurteilen?“ + +Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern, den Marja +Alexandrownas unerwartete Mitteilung machte. Alle schienen erstarrt zu +sein vor Verwunderung. Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja +Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen, daß sie bereits alles +wußten, die sie mit der vorzeitigen Aufdeckung des Geheimnisses – und +zwar nur in der Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren +jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet. Und +dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht einer inneren Kraft: „Folglich +wird der Fürst tatsächlich freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er +nicht in die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen +worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks verheiratet? +Folglich fürchtet Marja Alexandrowna nichts und niemanden? Folglich läßt +sich diese Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet +doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick hörte man allgemeines +Getuschel, das sich dann plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste +stürzte Natalja Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in ihre Arme +zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna und dieser Felissata +Michailowna. Alle sprangen von ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in +ein unentwirrbares Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor Wut. Sina +wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar an Afanassij Matwejewitsch +klammerte man sich. Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus +und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust. Nur der Fürst +allein blickte mit einer gewissen sonderbaren Verwunderung auf die ganze +Szene, wenn er auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens gefiel +ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die Mutter ihr Kind umarmte, +da zog er sein Schnupftuch hervor und wischte sich eine Träne aus seinem +Auge. Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit Glückwünschen. + +„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte es von allen Seiten. + +„Also Sie heiraten?“ + +„Sie heiraten also wirklich?“ + +„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“ + +„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit den Glückwünschen und +der Aufregung sehr zufrieden war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am +meisten Ihre liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen und +die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals. Charmant, charmant! Sie +haben mich sogar bis zu Trä–nen gerührt ...“ + +„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das Geschrei aller anderen +Felissata Michailowna. + +„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon er von allen +Seiten beständig unterbrochen wurde, „am meisten wundert es mich, daß +Marja Iwa–now–na, unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so +frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten hat. Ganz als hätte sie +ihn an meiner Stelle gesehen! Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat! +Auf–fallender Scharf–blick!“ + +„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“ + +„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“ drängten die ihn +umringenden Damen. + +„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das Geheimnis aufzudecken!“ +sagte Marja Alexandrowna entschlossen und streng. „Ich habe Ihre +feinfühlige Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit dem +Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu veröffentlichen wünschten. +Ja, ^mesdames^, es ist wahr: heute ist der Fürst _im wachen Zustande_ +und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet und hat ihr in aller +Form einen Heiratsantrag gemacht.“ + +„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar mit denselben +Neben–um–ständen,“ bestätigte der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort, +sich mit ungewöhnlicher Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich noch +nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich schwöre Ihnen, daß ich +nie–mals Ihren Namen zu nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren +vor mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder Traum, und ich +schätze mich dop–pelt glücklich, daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann. +Charmant! Charmant! ...“ + +„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er redet immer noch von +einem Traum?“ flüsterte Anna Nikolajewna der erregten und etwas bleichen +Marja Alexandrowna zu. + +Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das Herz auch ohne diese +Fragen. + +„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander und tauschten +vielsagende Blicke aus. + +„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna mit schmerzlich +verzogenem Lächeln an, „ich kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in +Erstaunen setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die Sie da +haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im Glauben, daß Sie nur +scherzten, aber ... Wenn es ein Scherz sein soll, so ist er zum +mindesten sehr unangebracht ... Ich werde ... ich will es Ihrer +Zerstreutheit zuschreiben, aber ...“ + +„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“ meinte +auch Natalja Dmitrijewna. + +„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“ bestätigte der Fürst, +der immer noch nicht begriff, um was es sich handelte und was man von +ihm eigentlich wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich +eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet man mich ein, in Petersburg war +es, zu einer Ein–sargung, es war ^une maison bourgeoise mais honnette^, +und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest. Das Namensfest war aber +schon vor einer Woche gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett +für die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein eh–renwerter, +bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so daß ich mich nur wun–derte. Und ich +wuß–te gar nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“ + +„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche Geschichten zu tun!“ +unterbrach ihn Marja Alexandrowna ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht +nötig, Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr selbst hier +an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht. Ich habe Sie nicht dazu +veranlaßt ... Ich kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ... +Versteht sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber ich schob ihn +auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich bin Mutter ... sie ist mein Kind ... +Sie haben soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte, Sie wollten +in der Form einer Allegorie von Ihrer Verlobung erzählen. Ich weiß sehr +wohl, daß man Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne sogar, +wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst, erklären Sie sich +schneller, ausführlicher. Solche Scherze darf man sich nicht in einem +vornehmen Hause erlauben ...“ + +„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause +erlauben,“ pflichtete ihr der Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er +doch etwas unruhig. + +„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, Fürst! Ich ersuche +Sie, mir entscheidend zu antworten: bestätigen Sie, bestätigen Sie es +hier vor allen Anwesenden, daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter +angehalten haben.“ + +„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt, ich habe das alles +schon erzählt und Felissata Jakowlewna hat meinen Traum vollkom–men +erraten.“ + +„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna wütend aus. „Es war +kein Traum, sondern Wirklichkeit, Fürst, Wirklichkeit, hören Sie: +Wirklichkeit.“ + +„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert aus und erhob sich +vor Überraschung. „Da hörst du’s, mein Lieber! Was du vorhin +pro–phezei–test, ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff +zu. „Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna, daß Sie sich +täuschen! Ich bin voll–kom–men ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt +hat!“ + +„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die Hände zusammen. + +„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“ mischte sich Natalja +Dmitrijewna ein, „der Fürst hat es vielleicht nur vergessen ... er wird +sich dessen wieder entsinnen.“ + +„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“ entgegnete Marja +Alexandrowna unwillig, „kann man denn so etwas vergessen? Wer vergißt +denn so etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich über uns +lustig machen? Oder wollen Sie einem der Gecken nachäffen, wie sie zur +Zeit der Régence in der Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend +einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß es Ihren Jahren nicht +ansteht, wird es Ihnen auch nicht gelingen! Meine Tochter ist keine +französische Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden +und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da sind Sie hier vor ihr +niedergekniet und haben ihr einen Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere +doch nicht! Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe ich +oder schlafe ich nicht?“ + +„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht ...“ antwortete der +verwirrte Fürst. „Ich will nur sagen, daß ich jetzt, glaube ich, _nicht_ +schla–fe. Vorhin, sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch +geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“ + +„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht, schlief nicht – +schlief! Da soll der Teufel daraus klug werden! Sie phantasieren doch +nicht, Fürst?“ + +„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ... übrigens, ich glaube, +daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept gekommen bin ...“ murmelte der Fürst +mit unruhigen Blicken auf seine Umgebung. + +„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen können, wenn ich Ihnen +diesen Traum mit allen Einzelheiten erzähle, während Sie ihn doch noch +keinem einzigen Menschen erzählt haben!“ + +„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch schon irgend einem +mitgeteilt hat,“ meinte Natalja Dmitrijewna. + +„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand schon mitgeteilt +habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus gewordene Fürst. + +„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata Michailowna ihrer +Nachbarin zu. + +„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld reißen!“ rief Marja +Alexandrowna aus und sie rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen +eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben Sie denn, daß auch dies +Ihnen nur geträumt hat?“ + +„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch gesungen,“ murmelte der +Fürst in Gedanken versunken. + +Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht. + +„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff wendend, „ich hatte es +ganz vergessen, dir vorhin zu sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas +wie eine Roman–ze sang und in dieser Romanze war die Rede von Schlössern +und dann war dort auch noch irgend ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne +mich dessen ... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich in der +größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen, als ob es tatsächlich +in Wirk–lich–keit gewesen wäre und nicht nur im Traum.“ + +„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff möglichst ruhig, +obgleich seine Stimme von innerer Aufregung zu zittern schien, „offen +gestanden, mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu lösen +ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört haben. Sinaïda +Afanassjewna singt vorzüglich. Nach Tisch sind Sie hierher geführt +worden und Sinaïda Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen. Ich +war damals nicht hier, Sie aber haben sich wahrscheinlich hinreißen +lassen, haben an die guten alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die +Stunden, in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ... mit der +Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage erzählten. Nun und dann, +als Sie Ihr Schläfchen machten, hat Ihnen infolge der angenehmen +Eindrücke geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag +machten ...“ + +Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine solche Frechheit hätte sie +denn doch nicht für möglich gehalten. + +„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“ rief der Fürst +begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen Ein–drücke! Ich erinnere +mich ganz deut–lich dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde ... +deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und die Vicomtesse war +gleichfalls ... Nein, wie klug du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun +ja, ich bin jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur im Traum +gesehen habe! Marja Wassiljewna! Ich versichere Sie, daß es mir nur +geträumt hat! Es war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht mit +Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“ + +„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel hat!“ schrie Marja +Alexandrowna, außer sich vor Wut, und sie wandte sich an Mosgljäkoff. +„Sie sind es, mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das +alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie einen Korb erhielten, +diesem unglücklichen Idioten den Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du +mir aber bezahlen, du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du mir +bezahlen, bezahlen!“ + +„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot wie ein Krebs, „Ihre Worte +sind dermaßen ... Ich weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich +weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben wird ... ich verteidige +zum mindesten meinen Verwandten. Sie müssen doch zugeben, daß, einen +alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle zu locken ...“ + +„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der Fürst, der sich hinter +Mosgljäkoff zu verstecken versuchte. + +„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna mit einer ihr +ganz fremden Stimme. „Hören Sie denn nicht, wie wir beschimpft und +entehrt werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht uns +gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater, sondern nur +ein lebloser Holzklotz? Was blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte +hätte schon längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem Blute +abgewaschen! ...“ + +„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig an, offenbar sehr +stolz darauf, daß man endlich auch seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir +das schließlich nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du +aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine Art verdreht +... –“ + +Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt, seine scharfsinnige +Erklärung zu Ende sprechen zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an +sich gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude den Anschein +würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber brach alles in schallendes, +unbändiges Gelächter aus. Marja Alexandrowna, die ihr ganzes +Comme-il-faut vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten +stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde aber mit Gewalt +zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna aber benutzte die Gelegenheit, um +noch etwas Gift hinzuzuträufeln. + +„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen, +seien Sie doch nicht so heftig,“ sagte sie mit honigsüßer Stimme. + +„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen sein!“ schrie Marja +Alexandrowna, die noch nicht recht begriff. + +„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen vor ...“ + +„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna auf. + +„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“ + +„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen es, mir das offen ins Gesicht zu +sagen!“ + +„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“ meinte Felissata +Michailowna. + +„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“ murmelte auch der +Fürst. + +„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte Marja Alexandrowna, die +Hände zusammenschlagend. + +„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna! Denken Sie doch daran, daß +Gott es ist, der uns Träume schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will +er allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt es sich gar nicht +mehr, sich zu ärgern.“ + +„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern ...“ pflichtete +der Fürst bei. + +„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte Marja Alexandrowna vor +Aufregung kaum noch hervor. Das ging denn doch über menschliche Kraft! +Sie suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“. Alles stürzte +zu ihr. + +„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“ flüsterte Natalja +Dmitrijewna ihrer Freundin Anna Nikolajewna ins Ohr. + +In diesem Augenblick der größten Bestürzung und der höchsten Spannung +trat plötzlich eine neue Person vor, eine, die bis dahin kein Wort +gesprochen hatte, und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren +Charakter ... + + + XIV. + +Sinaïda Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen, sehr romantisch +veranlagt. Ich weiß nicht, ob das gerade daher kam, daß sie, wie Marja +Alexandrowna behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar zu viel mit +„ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls aber hatte sich Sina noch nie +zuvor einen so außergewöhnlich romantischen, oder richtiger, heroischen +Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben will. + +Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd vor Aufregung +trat sie, wunderbar schön in ihrer Empörung, mit langsamen Schritten +vor. Mit langem, herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden +ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen Stille an +die Mutter, die schon bei ihrer ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder +erwacht war und die Augen weit aufgerissen hatte. + +„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu sich durch Lügen erniedrigen? +Es ist ja alles ohnehin schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht +der erniedrigenden Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“ + +„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind? Besinne dich!“ rief erschrocken +Marja Alexandrowna aus, und sie sprang auf. + +„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt, Mama, daß ich diese +ganze Schmach nicht ertragen werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn +wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln? Aber weißt du, Mama, +ich nehme alles auf mich, denn ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe +durch meine Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige +gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich; du glaubtest nach deiner +Auffassung, so wie du es verstehst, mein Glück zu schaffen. Dir kann man +noch verzeihen, mir aber, mir – niemals!“ + +„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O Gott! Ich ahnte es, daß +dieser Dolchstoß meinem Herzen nicht erspart bleiben würde!“ + +„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin beschimpft, wir alle sind +beschimpft! ...“ + +„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und weißt nicht, was du +sprichst! Und wozu willst du denn erzählen? Was hat das für einen Sinn? +... Die Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen, daß +die Schande nicht auf uns fällt ...“ + +„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme zitterte vor Zorn, „ich will +nicht mehr schweigen vor diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und +die hergekommen sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich will ihre +Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen. Keine einzige von ihnen hat +das Recht, mich mit Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit, +noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du, Mama, getan haben. +Dürfen sie, können sie überhaupt unsere Richter sein? ...“ + +„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was soll denn das bedeuten! +_Uns_ zu beleidigen?“ hörte man von allen Seiten. + +„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie spricht!“ sagte +Natalja Dmitrijewna. + +Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna vollkommen recht. +Wenn Sina diese Damen für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb +würdigte sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt handelte sie wohl +etwas übereilt, – das war späterhin auch die Meinung der besten Köpfe in +Mordassoff. Alles hätte noch gut werden können! Alles hätte beigelegt +werden können! Es ist ja wahr: auch Marja Alexandrowna hatte sich selbst +vieles eingebrockt an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung +und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen Greis nur auszulachen +gebraucht! Und eventuell vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich, +jeder gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower Weisheit zuwider, an +den Fürsten. + +„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung sogleich von +seinem Platz erhob – dermaßen imponierte sie ihm in diesem Augenblick. +„Verzeihen Sie mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen, wir haben +Sie in die Falle gelockt ...“ + +„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“ rief Marja +Alexandrowna in größter Verzweiflung dazwischen. + +„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! ^Ma charmante enfant^ ...“ stotterte +der Fürst maßlos bestürzt. + +Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade phantastische Charakter +Sinas zog sie mit sich fort und ließ sie alle, von der Wirklichkeit +geforderten Anstandsregeln vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die +sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich geradezu in +Krämpfen wand. + +„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine Mutter, indem sie Sie +veranlassen wollte, mich zu heiraten, und ich, indem ich auf ihren +Vorschlag einging. Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt, +ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen zu verstellen ... Sie, +der Schwache, Schutzlose, wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich +ausdrückt, umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres Fürstentitels +willen. Alles das war entsetzlich niedrig und ich will es büßen. Aber +ich schwöre Ihnen, daß ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer +schändlichen Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch, was soll +das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit, sich in einer solchen +Angelegenheit noch rechtfertigen zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich, +wenn ich etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug, Ihre +Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin gewesen wäre ... Das hatte ich +mir geschworen und heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß +ich!“ + +Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu schöpfen. Die Gäste +schienen alle sprachlos zu sein und hörten nur mit weit aufgerissenen +Augen zu. Der unerwartete und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas +stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der Fürst war bis zu Tränen +gerührt, obschon er kaum die Hälfte davon verstand, was Sina sagte. + +„Aber ich werde Sie hei–raten, ^ma belle enfant^, wenn Sie es so gern +wollen,“ stotterte er, „und es wird mir eine große Eh–re sein. Nur +versichere ich Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen +ist ... Aber als ob man keine Träume hätte! Weshalb sich daher +beun–ruhigen? Es ist mir sogar, als hätte ich noch nichts begrif–fen, +^mon ami^,“ fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre du es +mir, bit–te! ...“ + +„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach ihn Sina, sich gleichfalls +an Mosgljäkoff wendend, „Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie +auf meinen zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich jetzt so +grausam an mir gerächt haben, – haben Sie sich wirklich zu diesen Leuten +gesellen können, um mich herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und +Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir kommt es zu, Ihnen +Vorwürfe zu machen! Ich bin schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt +und beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen +hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag als Beweis des Gegenteils +gesagt habe, war Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt +und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten, so hätte ich es +nur getan, um irgendwohin fortfahren zu können, fort aus dieser +verwünschten Stadt, und um diesen ganzen Schmutz hier endlich +abschütteln zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben, wenn ich +Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute und treue Frau gewesen +... Sie haben sich grausam an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz +schmeicheln kann ...“ + +„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff. + +„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“ + +„Sinaïda Afanassjewna!!!“ + +„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die aufsteigenden Tränen +unterdrückend, „wenn Sie mich jemals geliebt haben ...“ + +„Sinaïda Afanassjewna!!!“ + +„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja Alexandrowna. + +„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich bin ein Schuft und weiter +nichts!“ behauptete Mosgljäkoff und alles geriet in große Aufregung. +Ausrufe der Verwunderung und des Unwillens wurden laut, doch Mosgljäkoff +stand wie angewurzelt auf einem Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens +bar. Er konnte kein Wort mehr hervorbringen. + +Für schwache und leere Charaktere, die an ewige Unterwerfung gewöhnt +sind und sich dann einmal entschließen, sich aufzulehnen und zu +protestieren, mit einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese +Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das nahe Ende ihrer +kurzen Festigkeit und Entschlossenheit ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang +überaus energisch zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur +Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen Augen auf die +Hindernisse und laden sich fast stets eine für ihre Kräfte zu große Last +auf die Schultern. Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze +erreicht, so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über sich +selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: „Was habe ich da +angerichtet?“ – worauf er alsbald seinen ganzen Heroismus verliert, +womöglich sogar weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um +Verzeihung bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen, +jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ... Fast dasselbe +geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem er sich empört, das Unglück +heraufbeschworen, das er jetzt bereits nur sich allein zuschrieb, +nachdem er seinem Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich +selbst in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er nun +plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor dem unerwarteten +Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte vernichteten ihn endgültig. Aus dem +einen Extrem ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk eines +Augenblicks. + +„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er in einem Anfall +verzweifelter Reue aus. „Nein! Was Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich +bin unvergleichlich schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen +beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen, daß auch ein +Esel ein edler Mensch sein kann! Onkel! Ich habe Sie betrogen! _Ich_, +_ich_, _ich_ allein habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie +haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den Heiratsantrag gemacht, +ich aber, ich Schuft, habe aus Rache, weil man mir einen Korb gegeben +hatte, aus Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt hätte.“ + +„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier aufgedeckt werden!“ +tuschelte Natalja Dmitrijewna ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr. + +„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige dich, bit–te. Du hast +mich wirklich erschreckt mit deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß +du im Irr–tum bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit, +wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du hast mir doch noch selbst +gesagt, daß es mir nur geträumt habe ...“ + +„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen Sie mir, sagen Sie +mir, wie ich ihn jetzt überzeugen kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch +eine wichtige Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit! +Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie doch nach!“ + +„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke nach. Wart mal, laß mich +alles erst einmal mir ins Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von +meinem Kutscher Fe–o–fil ...“ + +„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren Feofil!“ + +„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um ihn handle. Dann +träumte mir von Napo–le–on, und dann war es so, als wenn wir getrunken +hätten und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei uns auf ...“ + +„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in einem Augenblick der +Verfinsterung seines Gedächtnisses, „das hat Ihnen doch Marja +Alexandrowna selbst nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt! Ich +war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich hatte mich versteckt +und sah und lauschte durch einen Türspalt ...“ + +„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“ schrie Natalja +Dmitrijewna dazwischen. „Dann haben Sie es also auch dem Fürsten +erzählt, daß ich bei Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte! +Dann komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“ + +„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ schrie Marja Alexandrowna, zur +Verzweiflung gebracht. + +„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen Sie nicht mit mir +sprechen! ... Also ich soll bei Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon +lange gehört, daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir hat +Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ... Also ich stehle bei +Ihnen Zucker? ...“ + +„Aber, ^mesdames^,“ rief der Fürst dazwischen, „das hat mir ja nur +geträumt! Als ob mir nicht vieles träu–men kann? ...“ + +„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja Alexandrowna halblaut. + +„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte Natalja Dmitrijewna. „Und +wer sind Sie denn, wenn man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß +Sie mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ... ich habe +wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur einen Tölpel ...“ + +„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar die Rede,“ murmelte +ahnungslos der Fürst, der sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna +entsann. + +„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine vornehme Dame +beschimpfen? Wie wagen Sie es überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so +sind Sie ein einbeiniger Krüppel ...“ + +„Wer, ich einbeinig?“ + +„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein Bein fehlt, Ihnen fehlen auch +alle Zähne, damit Sie’s wissen!“ + +„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja Alexandrowna. + +„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein Korsett!“ fügte Natalja +Dmitrijewna hinzu. + +„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“ + +„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“ + +„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“ schrie Marja +Alexandrowna. + +„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch we–nigstens, Marja +Stepa–nowna!“ unterbrach der Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen +ganz kopfscheu machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten! Du hast es +erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“ + +„Onkelchen!“ + +„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger blei–ben! Bring mich +irgendwohin fort ... ^quelle société^? Wohin hast du mich eigentlich +ge–bracht, Gott im Himmel!“ + +„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna. + +„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst. „Ich habe im +Au–genblick nur ein wenig verges–sen, weshalb ich herge–kom–men bin, +aber ich werde mich dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, ^mon ami^, +bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich hier noch. Zudem +... zudem muß ich schnell einen neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“ + +„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich werde Sie sofort ins +Gasthaus bringen und auch selbst mit Ihnen übersiedeln ...“ + +„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, ^ma charmante enfant^ ... Sie allein ... +nur Sie allein ... sind gut und tugend–haft. Sie sind ein ed–les +Mäd–chen! ... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“ + +Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen Szene nach dem Fortgang +des Fürsten zu beschreiben versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren +die Gäste ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück – unter +den Trümmern ihres früheren Ruhmes. Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze +Bedeutung – alles war an diesem einen Abend eingestürzt und +untergegangen. Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich nie mehr zu +derselben Höhe würde erheben können. Ihre langjährige despotische +Herrschaft in der Gesellschaft war endgültig dahingeschwunden. Was blieb +ihr jetzt noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte +nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht. Sina war entehrt und der +Klatsch würde kein Ende nehmen! Entsetzlich! + +Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken, daß am meisten +unter dieser Stimmung Afanassij Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter +Letzt verkroch er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum Morgen +furchtbar fror. + +Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue Tag sollte nichts +Gutes bringen. Ein Unglück kommt bekanntlich nie allein. + + + XV. + +Wenn das Schicksal einem einmal Unglück beschert, so hört es damit so +bald nicht auf. Das ist eine altbekannte Tatsache. Als ob diese ganze +Schmach und Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna! +Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr noch anderes vor. + +Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete sich in der Stadt +ganz plötzlich ein seltsames, fast unglaubliches Gerücht, das von allen +mit auffallender Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder +ungewöhnliche Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben Nächsten +zustößt. + +„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham und jedes Gewissen zu +verlieren!“ hieß es allgemein. „Sich dermaßen zu erniedrigen, sich +dermaßen über jeden gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen +die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr. + +Es war folgendes geschehen: + +Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes altes Weib eilig ins Haus +Marja Alexandrownas gekommen und hatte die Stubenmagd unter Tränen +beschworen, das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken, aber heimlich, so +daß Marja Alexandrowna nichts davon erführe. Sina war im Augenblick +erschienen, erschrocken und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr +niedergeworfen, ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt, und sie +angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen, der die ganze Nacht so +schwer, so schwer geatmet habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag +überleben werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä selbst +sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr Abschied nehmen zu +können, daß er sie bei allen heiligen Engeln beschwöre, bei allem was +früher zwischen ihnen gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht +käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben. Sina hatte sich +sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich doch die Erfüllung dieser +Bitte alle früheren Gerüchte von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen +Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen mußte. + +Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie einen Pelz umgenommen und +war dann mit der Alten fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze +Stadt in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am Ende einer +einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe Hütte, deren Fenster mehr an +Spalten oder Löcher erinnerten, und die ringsum von hohen Schneebergen +umgeben war. + +In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem Geruch erfüllt +war und in dem der riesige Ofen genau die Hälfte des ganzen Raumes +einnahm, lag in einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei +Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem alten +Uniformmantel[2] zugedeckt war. Sein Gesicht war bleich und abgezehrt, +seine Augen hatten den flackernden Glanz Fieberkranker, seine Hände +waren schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme waren wie Stöcke; +er atmete schwer und rauh; seine Stimme war heiser. Man sah es ihm an, +daß er einmal schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte die +zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und es tat weh, ihn +anzublicken, wie der Anblick eines jeden Schwindsüchtigen oder +Sterbenden weh tut. Seine alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und +fast bis zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka wieder +gesund werden würde, mußte sich endlich sagen, daß ihr Sohn nicht mehr +lange in dieser Welt bleiben konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden +Lager, die Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie sah ihn +an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm – konnte es nicht +begreifen, wenn sie es auch wußte, daß nach wenigen Tagen dort draußen +auf dem Armenfriedhof die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken +und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen würde. Doch Wassjä sah sie +jetzt nicht. Sein ganzes abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit. +Endlich, endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze anderthalb +Jahre im Wachen geträumt und die ihm in jedem Traum erschienen war, an +die er Tag und Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten +seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß sie ihm verziehen hatte, +da sie wie ein Engel Gottes in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen +war. Sie preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah ihn +wieder mit ihren wundervollen Augen an und – und alles Vergangene, +Unwiederbringliche begann in der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das +Leben flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als wolle es dem +Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal zu fühlen geben, wie schwer das +Scheiden von ihm ist. + +„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über mich, gräme dich nicht, +sei nicht traurig darüber, daß ich bald sterben muß. Ich werde dich +ansehen, – so wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder +beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde deine Hände küssen, +wie früher – weißt du noch? – und ich werde sterben, vielleicht ohne den +Tod zu spüren. Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel, mit welcher +Güte du mich ansiehst ... Aber weißt du noch, wie du früher lachtest? +Weißt du noch ... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung, ich +will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen ist, denn sieh, wenn +du mir vielleicht auch verziehen hast, so werde ich mir doch nie +verzeihen. Es hat lange Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare +Nächte, und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen und +gedacht, lange und viel, gedacht und da bin ich zur Einsicht gekommen, +daß es für mich besser ist, zu sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte +nicht zum Leben, Sina!“ + +Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als hätte sie ihn damit im +Sprechen aufhalten wollen. + +„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der Kranke fort. „Weil ich +sterbe, nur weil ich sterbe? Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja +doch schon längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als ich, du +hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt du auch, daß ich ein +schlechter Mensch bin. Kannst du mich denn lieben? Was mich das gekostet +hat, diesen Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein +schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel Eigenliebe hierin war, +vielleicht auch edelmütige ... ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund, +mein ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt, immer nur +geträumt und nicht gelebt. Ich war stolz, ich verachtete die Masse ... +Auf was aber war ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst +nicht. Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja alles nur in +Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen, als es aber zur Tat kam, da +bewies ich glänzend meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene +Gesinnung! ...“ + +„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ... Das war ja alles nicht so +... du marterst dich ganz unnütz!“ + +„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß, du hast mir verziehen, +und vielleicht schon vor langer Zeit; aber du hast über mich +nachgedacht, das Urteil gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber +quält mich ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina! Du warst auch +dann, als es zur Tat kam, als es handeln hieß, auch dann warst du +ehrlich und großzügig: du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß +du mich und keinen anderen heiraten würdest, und du hättest dein Wort +gehalten, denn bei dir ist Wort und Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich! +Als es zur Tat kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar nicht, +was du für mich geopfert hättest, wenn es zur Heirat gekommen wäre! Ich +konnte es damals überhaupt nicht begreifen, daß du als meine Frau vor +Hunger vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja keinen +Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten würdest, mich, den +großen Dichter – den zukünftigen, versteht sich – und ich wollte jene +Gründe überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als du mich +batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich machte dir Vorwürfe, ich +quälte, tyrannisierte, verachtete dich und schließlich kam es zu meiner +Drohung, jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein Schuft in +diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump! O, wie du mich verachtet +haben mußt! Es ist gut, daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte +dein Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen unserer +Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen! Vielleicht hätte ich dich sogar +gehaßt – als Hindernis in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist +es viel besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen mein Herz +gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein wenig lieb, so wie du mich +früher lieb gehabt hast! Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich +weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber ... aber ... Mein +Liebling, mein Liebling, du!“ + +Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals ihn zu unterbrechen, +doch er beachtete es nicht. Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr +auszuschütten, was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn fort zu +sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend erstickender Stimme. + +„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht in mich verliebt, so +würdest du jetzt leben!“ sagte Sina. „Ach, warum, warum haben wir uns +kennen gelernt!“ + +„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine Vorwürfe, weil ich +sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich allein bin an allem schuld! Gott, +wieviel Eigenliebe hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir +ausführlich meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina! Sieh, hier war +vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer Räuber und Mörder, als es aber +zum Bestrafen kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger +Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht bestrafen würde und so +verschaffte er sich Branntwein, tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank +ihn dann aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut und Galle, +weißt du, und das dauerte so lange an, daß seine Lungen arg darunter +litten. Er wurde ins Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb +er an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich dachte damals an +ihn, an jenem Tage ... du weißt ... nach dem Brief ... und ich beschloß, +mich ebenso zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb ich +gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte mich doch erhängen oder +ertränken können? Glaubst du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ... +Aber es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht ohne +schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte doch immer daran, wie +hübsch es sein würde, wenn ich im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank, +und du wirst dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du mich +schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner Reue zu mir kommst, +auf die Knie vor mir niederfällst ... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen +Armen ... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“ + +„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht davon! Du bist nicht so +... laß uns lieber an anderes denken, an unsere schönen, glücklichen +Stunden.“ + +„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich auch davon. Anderthalb +Jahre lang habe ich dich nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt +meine ganze Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze Zeit +seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und es hat, glaube ich, +dennoch keine Minute gegeben, in der ich nicht an dich gedacht hätte, du +mein Herzenslieb, mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann! ... +Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas getan hätte, etwas +Großes, Gutes, um dich zu zwingen, deine Meinung über mich zu ändern. +Ich glaubte ja bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde. +Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch lange mit einer +kranken Brust umher. – Und wieviel lächerliche Wünsche ich hatte! Zum +Beispiel dachte ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in +den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu veröffentlichen, wie +es bis jetzt noch keines gegeben hat. Ich wollte in ihm alle meine +Gefühle ausgießen, meine ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein +mochtest, stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an mich erinnert +hätte durch meine Verse, und mein schönster Traum war, wie du dann +endlich nachdenklich werden und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch +kein so schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka, dumm +nicht wahr?“ + +„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend aus. + +Sie warf sich über seine Brust und küßte seine Hände. + +„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält hat! Ich glaube – +ich wäre gestorben, wenn ich von deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ +dich beobachten, ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er +wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den Mosgljäkoff nicht +geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh, mein Engel, du! Wirst du dich auch +jemals meiner erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich nicht +vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen, dein Herz wird +abkühlen, erkalten, es wird Winter in der Seele und dann wirst du mich +doch vergessen, Sinotschka! ...“ + +„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ... Du bist der erste ... +der letzte ... ewig werde ich dich lieben!“ + +„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen ... Sogar unsere +edelsten Gefühle sterben. An ihre Stelle tritt vernünftiges Denken. +Weshalb dawider murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe +glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb gewinnst – man +kann doch nicht immerfort einen Toten lieben! Nur denk zuweilen auch an +mich, nur hin und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb +das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch Gutes gegeben. +Sinotschka! Oh, die wundervollen, unwiederbringlichen Tage! ... Hör +mich, mein Engel, ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang +geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn die Sonne untergeht! Oh, nein, +nein! Wozu sterben! Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte! +Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese Zeit! Damals +war Frühling, die Sonne schien so hell, die Blumen blühten, rings um uns +schien es Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“ + +Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand auf das trübe, befrorene +kleine Fenster. Dann ergriff er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an +seine Augen und schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen +schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen. + +Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte. Sina tröstete ihn, so +gut sie es konnte, denn auch sie war fast zu Tode gequält. Sie sagte, +daß sie ihn nie vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn +geliebt. Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte, küßte ihre Hände, +doch die Erinnerungen an das Vergangene brannten in seinem Herzen und es +war ihm, als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der ganze Tag. +Marja Alexandrowna hatte inzwischen nicht viel weniger als zehnmal +nachgeschickt und Sina flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu +kommen und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich zu +machen. Endlich in der Dämmerung, vor Angst kaum noch ihrer Sinne +mächtig, entschloß sie sich, selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre +Tochter in die andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien an, +diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz zu stoßen“. Sina +ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl, was ihre Mutter sprach, begriff aber +nicht den Sinn der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen vor +Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung +wieder fortgehen. Sina hatte beschlossen, in der Hütte bei dem +Sterbenden zu übernachten. + +Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit dem Kranken wurde es immer +schlechter. Wieder brach der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr +vorhanden, daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte Mutter ging +wie eine Irrsinnige umher, als verstehe sie nichts mehr. Sie gab ihrem +Sohn die Arzneien, die er dann nicht nehmen wollte. Der +Todeskampf dauerte lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur +unzusammenhängende, heisere Laute drangen zuweilen aus seiner Brust. Bis +zum letzten Augenblick sah er immer noch unverwandt Sina an, suchte er +noch immer ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann, +suchte seine unsicher irrende Hand immer noch ihre Hände, um sie zu +drücken. Der kurze Wintertag verging. Und während der letzte +Sonnenstrahl die Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube rot +erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf ewig seinen +abgezehrten Körper. + +Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten Wassjä vor +sich sah, schlug sie die Hände zusammen und warf sich mit einem Schrei +auf den Toten. + +„Das hast du getan, _du_ falsche, arglistige Schlange, _du_ hast ihn +behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung Sina zu. „_Du_, du verfluchte +Verführerin, _du_, du Mörderin, _du_, du hast ihn umgebracht!“ + +Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über den Toten gebeugt. +Endlich schien sie wieder zu sich zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte +ihn und verließ fast mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und ihr +schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die zwei schlaflosen Nächte +hatten ihren Kopf leer und tot gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre +ganze Vergangenheit sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und nun ein +neues Leben begann, ein finsteres, drohendes ... Sie war kaum zehn +Schritte gegangen, als Mosgljäkoff wie aus der Erde gewachsen vor ihr +stand. Er schien sie erwartet zu haben. + +„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich ängstlichen +Geflüster und nachdem er sich eilig rings umgeschaut hatte, denn es war +immerhin noch ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich +ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich jetzt nicht mehr ein Esel, +denn, sehen Sie, es war schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber +ich bereue es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens habe ich mich +da verhauen, glaube ich ... aber Sie werden es verzeihen ... das hat +seine verschiedenen Gründe ...“ + +Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte schweigend ihren Weg +fort. Da das hohe Brettertrottoir für zwei nebeneinander nicht breit +genug war und Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte +ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging neben ihr im +Schnee der Fahrstraße, während er ihr immer wieder ins Gesicht blickte. + +„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe es mir überlegt, und +wenn Sie wollen, bin ich bereit, meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin +sogar bereit, alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze +Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur mit einer +Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind, das Ganze noch ein +Geheimnis bleibt. Sie werden möglichst bald von hier fortfahren und ich +heimlich gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer +trauen, so daß es niemand hört und sieht und fahren dann sofort nach +Petersburg, wenn möglich mit unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen +kleinen Koffer mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda +Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann nicht so lange warten, man +könnte uns sehen ...“ + +Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie sah ihn aber so an, +daß er sofort alles begriff, den Hut zog und in der ersten Querstraße +verschwand. + +„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern abend war es ihr +noch so nah gegangen und sie beschuldigte sich vor allen anderen ... +nahm die ganze Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem +Tage anders ist!“ + +Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis gefolgt. Eines davon +war sogar sehr tragisch: der Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus +gebracht hatte, war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich +erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten Morgen. Kalist +Stanislawitsch verließ den Kranken fast keinen Augenblick. Am Abend fand +ein Konzilium aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung war ihnen +in lateinischer Sprache zugesandt worden. Aber ungeachtet der +lateinischen Sprache verlor der Fürst bereits das Bewußtsein, +phantasierte, bat Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen +und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien er plötzlich zu +erschrecken, worauf er jedesmal des längeren schrie. Die Ärzte kamen in +ihrer Beratung dahin überein, daß sich beim Fürsten infolge der +Mordassower Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt habe und +diese mittlerweile – wahrscheinlich auf dem Wege ins Gasthaus – in den +Kopf gestiegen sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung +nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war jedenfalls, daß der +Fürst schon seit langer Zeit zum Sterben „disponiert“ gewesen und +deshalb unfehlbar sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch +nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des dritten Tages. +Sein Tod überraschte die Mordassower nicht wenig: einen so ernsten +Ausgang hatte niemand erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause, +wo die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten sich noch +mehr, schüttelten die Köpfe und es endete damit, daß die „Mörder des +unglücklichen Fürsten“ – damit meinte man Marja Alexandrowna und deren +Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle begriffen, daß dieser +Zwischenfall allein schon von seiner skandalösen Seite eine unangenehme +Verbreitung finden und womöglich noch in weite Kreise dringen konnte und +– doch ist es wohl nicht gut möglich, alles wiederzugeben, was +gesprochen und befürchtet wurde. + +Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald hierhin bald dorthin, +bis ihm schließlich der Kopf rund ging. In dieser Stimmung war es, daß +er dann auch mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig: er +hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst zu Marja Alexandrowna +und von dieser ins Gasthaus, und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit +der Leiche tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen? Sollte +er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er doch gewissermaßen der +„Neffe“ des Verstorbenen. Er zitterte, wenn er daran dachte, daß man +vielleicht noch ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben könnte. + +„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg dringen, man kann +sie sogar in der höchsten Gesellschaft erfahren!“ dachte er mit bangem +Herzen. + +Von den Mordassowern war kein Rat zu holen: allen schien plötzlich bange +zu sein, alle zogen sich von dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in +einer geradezu düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas ganz +Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von Grund aus ändern. + +Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des Fürsten traf in der Stadt +ein vornehmer Herr ein. Von diesem Herrn sprach im Augenblick ganz +Mordassoff, nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll +von ihm gesprochen, und als er durch die große Straße zum Gouverneur +fuhr, da lauerte alles nur durch Türspalten und Gardinen auf den hohen +Gast. Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll etwas betreten +gewesen sein und nicht gewußt haben, wie er sich zu ihm verhalten +sollte. Dieser Gast war der ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff, +ein Verwandter des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann von +etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes und Achselschnüren. +Diese Achselschnüre machten einen so mächtigen Eindruck auf die +Beamtenwelt, daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln +über den Rücken lief und alle sich strammer hielten. Der Polizeimeister, +zum Beispiel, verlor ganz und gar den Kopf, d. h. nur bildlich +gesprochen, versteht sich, also moralisch sozusagen. Physisch erschien +er in eigener Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht. + +Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst Schtschepetiloff aus +Petersburg gekommen und unterwegs über Duchanowo gefahren war. Da er den +Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren nach +Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag die Nachricht vom Tode des +Verwandten und die Gerüchte über die näheren Umstände und Ursachen +seiner Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur – soll +sogar sehr verlegen gewesen sein, als er ihm die nötigen Aufschlüsse +geben mußte. Übrigens gingen alle Mordassower mit gewissermaßen +schuldbewußten Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste Fürst +ein so strenges, unzufriedenes Gesicht hatte, obgleich er doch unmöglich +über die Erbschaft ungehalten sein konnte?! + +Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort selbst in die Hand. +Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich vor dem wirklichen, nicht nur +angeblichen Verwandten und verschwand – unbekannt wohin. + +Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins Kloster zu schaffen, +wo auch das Totenamt gehalten werden sollte. Der Fürst gab seine +Anordnungen trocken, streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und +sachlich. + +Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins Kloster begeben. Unter den +Damen hatte sich das unsinnige Gerücht verbreitet, daß Marja +Alexandrowna persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge +kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld flehen werde und daß +es so nach dem Gesetz geschehen müsse. Natürlich war das Torheit und +Marja Alexandrowna dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen. Übrigens +habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas Rückkehr ins Haus, diese und +ihre Mutter noch an demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja +Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt für unmöglich +gehalten hatte. Von dort aus verfolgte sie aufgeregt die neuen Gerüchte, +schickte ihre Leute in die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen +Fürsten in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze Zeit wie im +Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster nach Duchanowo führte kaum eine +Werst weit von dem Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so konnte +diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession verfolgen, die +sich nach dem Totenamt aus dem Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst +beigesetzt werden sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen +geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe von Equipagen hin, die +dem Leichenwagen bis zum Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen +und in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die schwarze +Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder dahin, hinter dem +hohen, schwarzen Leichenwagen, der sich nur langsam mit +ehrfurchtgebietender Majestät weiterbewegte. Marja Alexandrowna +vermochte nicht lange zuzusehen und trat fort vom Fenster. + +Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann nach Moskau, +und nach einem Monat erfuhr man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und +ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So hatte denn Mordassoff +auf ewig seine tonangebende, seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich +ging es auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So wurde zum +Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt Afanassij Matwejewitsch verkauft +werde ... + +Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann noch ein drittes und +Marja Alexandrowna geriet fast ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt +es nun einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch erzählt, daß sie +sich in einer anderen Gouvernementsstadt niedergelassen und in der +Nähe derselben ein neues Gut gekauft habe, und daß sie dort +selbstverständlich wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht +verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch wozu diese Gerüchte +wiederholen – es ist ja kein wahres Wort an ihnen. + + * * * * * + +Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem ich die letzte Zeile +dieser schönen Geschichte aus der Mordassower Chronik geschrieben, und +wer hätte es sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript +aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung würde hinzufügen +müssen! Doch zur Sache! Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch +Mosgljäkoff. + +Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg gefahren, wo er +denn auch glücklich durch Protektion jene gute Anstellung erhalten +hatte, die ihm schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle +Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel großstädtischen +Lebens – auf der Wassiljeff-Insel und am Galeerenhafen – untergetaucht, +hatte gespielt und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem +Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten, hatte noch +einmal einen Korb verwunden, und noch bevor er damit ganz fertig war, +hatte er sich in seinem Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an +einer Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete unseres +grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um dort irgend etwas zu +revidieren oder zu einem ähnlichen Zweck – genau weiß ich es nicht. Die +Expedition durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf +schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des „fernen +Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab sich zum Generalgouverneur. +Das war ein strenger General, von großem Wuchs und hager, ein alter +Krieger mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt, mit zwei +Sternen auf der Brust und einem weißen Kreuz am Halse. Würdevoll und +gemessen empfing er die Expedition und lud darauf alle Vertreter +derselben zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages zur Feier +des Namenstages der Generalgouverneurin gegeben werden sollte. +Mosgljäkoff war sehr zufrieden damit. Er warf sich in seinen +tadellosesten Petersburger Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu +machen gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten den +festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort etwas bescheidener, als er +plötzlich so unerwartet viele Uniformen mit dick-gewundenen goldenen +Raupen auf den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor sich +sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin, von der er gehört +hatte, daß sie jung und schön sei, seinen Bückling machen. Er begab sich +flott und selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm +stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck, +stolz, schön und hochmütig. + +Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig über sein Gesicht +und sie wandte sich dann an einen anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt +trat Mosgljäkoff zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen jungen +Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben schien, seitdem er sich auf +dem Ball beim Generalgouverneur befand: Mosgljäkoff machte sich sofort +daran, ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante Dinge. +Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur erst vor zwei Jahren +geheiratet habe, als er einmal aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau +gereist war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen und +vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar schön“, ja man könne sie +sogar die schönste aller Schönheiten nennen, nur sei sie sehr stolz und +tanze nur mit Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle, +sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen Staatsräte mit +inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin eine Mutter habe, die auch +hier bei ihr lebe, und daß diese Frau Mutter aus der höchsten +Gesellschaft stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber selbst die Frau +Mutter sich widerspruchslos dem Willen ihrer Tochter unterordne und der +Generalgouverneur bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei. +Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij Matwejewitsch, aber +im „fernen Grenzgebiet“ hatte man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu +sich gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden Zimmer und fand +bald auch Marja Alexandrowna, die prächtig aufgeputzt sich mit einem +teuren Fächer zufächelte und äußerst lebhaft mit einem der höchsten +Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer Kreis gebildet, +offenbar Bewerber um ihre Gunst – und sie – sie war zu allen sehr +liebenswürdig. + +Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja Alexandrowna schien im +ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken, faßte sich aber sofort. Mit +liebenswürdigem Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen, hierauf +erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten und fragte ihn unter +anderem auch, weshalb er nicht im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff +erwähnte sie mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt hätte. +Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines wichtigen Petersburger +Fürsten genannt und sich nach seinem Befinden erkundigt hatte – +Mosgljäkoff hatte keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und +inwiefern Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein konnte – wandte sie +sich unauffällig an einen auf sie zutretenden Würdenträger, dessen +Haupthaar schon silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie +den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen. Mit +sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand, kehrte er in den großen +Ballsaal zurück. Er glaubte sich verletzt und sogar beleidigt und +beschloß daher, nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft +eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend teuflisches +Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule gelehnt – der Saal war wie +absichtlich mit Säulen versehen – stand er während des ganzen Balles auf +einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina mit seinen +Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen, ungewöhnlichen +Stellungen, verzweifelten Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina +bemerkte ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich mit steifen +Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen Stehen – wütend, gereizt und mit +mordsmäßigem Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch nicht +zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier zurück. Er fühlte +sich vollkommen erschöpft und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er +in seinem Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes. Am +nächsten Morgen mußte auf Grund einer inzwischen eingetroffenen +Nachricht jemand von der Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff +bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ, atmete er +förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder neue Lebensgeister in sich. +Auf der ungeheuren flachen Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern, +fern am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder hin. + +Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine Lust war, und die +Hufe schleuderten feste Schneestückchen auf die Schlittendecke. + +Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang weit durch die klare +Winterluft. Mosgljäkoff wurde nachdenklich, schließlich träumerisch und +dann schlief er seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte +er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken. + + + + + Die fremde Frau + und der Mann unter dem Bett + + + I. + +„Verzeihung, mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“ + +Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte etwas erschrocken einen +Herrn in einem Waschbärpelz an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr +abends auf der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder +Petersburger, wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße plötzlich anredet, +auch wenn er es noch so höflich tut. + +Also der Vorübergehende zuckte zusammen und erschrak ein wenig. + +„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der Herr im Waschbärpelz +fort, „aber ich ... ich, wirklich, ich weiß nicht ... Sie werden mich, +hoffe ich, entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus der +Fassung gebracht ...“ + +Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche – einem kürzeren +Pelzüberrock –, daß der Herr im Waschbärpelz allerdings nichts weniger +als gefaßt aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine Stimme +unsicher, und seine Gedanken schienen sich gänzlich verwirrt zu haben: +schnell und unüberlegt stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an, +daß es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem Rang und der +gesellschaftlichen Stellung nach offenbar unter ihm stehende +Persönlichkeit zu wenden. Hinzu kam noch, daß diese Bitte an und für +sich höchst peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen so soliden +Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack und so bedeutsame Abzeichen +auf diesem Frack trug, zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles +dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen bewußt, und es +verwirrte ihn so sehr, daß er seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen +konnte, seine Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen +der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen hatte, ein Ende +machte. + +„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise nicht ganz bewußt. +Aber Sie kennen mich nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß +ich Sie aufgehalten habe ...“ + +Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell. + +„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“ + +Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits in der Dunkelheit +verschwunden, und dem jungen Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt +nachzusehen. + +„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich verwundert, stand noch ein +Weilchen und vergaß dann den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen +Gedanken zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße auf und nieder +zu gehen begann, ohne dabei die Tür eines endlos hohen Hauses aus dem +Auge zu lassen. Es war neblig geworden, was dem jungen Mann eine Sorge +vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte sein unermüdliches Hin- und +Hergehen den Menschen weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem +müßigen Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren +Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete. + +„Entschuldigen Sie!“ + +Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah zu seiner Verwunderung +wieder jenen Herrn im Waschbärpelz vor sich stehen. + +„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann er von neuem, „doch Sie +... Sie sind ganz gewiß ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht +... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten +Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es nicht das, was ich sagen wollte. +Aber ... fassen Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein Herr, +steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden Bitte an Sie wenden muß +...“ + +„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt es sich?“ + +„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten will!“ Der +geheimnisvolle Herr verzog den Mund zu einem Lächeln, erbleichte und +lachte hysterisch auf. + +„Aber ich bitte Sie ...“ + +„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen Sie, aber ich +kann mich selbst nicht ertragen! Betrachten Sie mich als einen +Unzurechnungsfähigen, einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht +etwa –“ + +„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der junge Mann, zwar in +aufmunterndem Tone, doch mit merklich ungeduldigem Kopfnicken. + +„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger Mann wie Sie – erinnern +mich an das Wichtige, ganz als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich +muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als was erscheine ich +Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung, sagen Sie es mir aufrichtig?“ + +Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an, sagte jedoch nichts. + +„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben Sie hier nicht eine +Dame gesehen? Darin besteht meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich +der Herr im Waschbärpelz kurz entschlossen. + +„Eine Dame?“ + +„Jawohl, eine Dame.“ + +„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind ihrer so viele hier +vorübergegangen ...“ + +„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle kleine Herr mit einem +bitteren Lächeln. „Ich bin etwas zerstreut und verwirrt im Kopf, es war +nicht das, was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob Sie eine +Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze aus dunklem Samt und einem +schwarzen Schleier gesehen haben?“ + +„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein, ich glaube, eine +solche nicht bemerkt zu haben.“ + +„Ah! dann – entschuldigen Sie!“ + +Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas fragen, doch der Herr +im Waschbärpelz war bereits wieder verschwunden und sein geduldiger +Zuhörer konnte ihm wieder nur verdutzt nachsehen. + +„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich bei sich, zog offenbar +ärgerlich seinen Biberkragen fester um den Hals und nahm von neuem den +unterbrochenen Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln zu +vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen. +Er ärgerte sich. + +„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er. „Bald ist es acht Uhr!“ + +Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht. + +„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“ + +„Entschuldigen Sie! ...“ + +„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen mir so plötzlich vor +die Füße, daß ich geradezu erschrak,“ entschuldigte sich der junge Mann, +doch klang es diesmal schon fast unwirsch. + +„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß ich Ihnen seltsam +erscheinen ...“ + +„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären. Ich habe bis +jetzt noch nicht erfahren können, was Sie eigentlich von mir wünschen +...“ + +„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie mal. Ich werde Ihnen alles +ganz offen erzählen, ohne ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die +Umstände bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was ihre Charaktere +betrifft, im Grunde ganz verschieden sind ... Doch ich sehe, Sie sind +ungeduldig, junger Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich nicht +einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich suche eine Dame – Sie +sehen, ich habe mich schon entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie +gesagt, unbedingt erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin +diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke ich, wird Sie nicht +interessieren, junger Mann.“ + +„Nun, nun, weiter! weiter!“ + +„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt, verzeihen Sie, vielleicht +hat es Sie gekränkt, daß ich Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich +versichere Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn Sie mir einen +unermeßlichen Gefallen erweisen wollten, dann also, wie gesagt: diese +eine Dame ... das heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige +Dame ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt bin ... und +da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen Sie, ich habe selbst keine +Familie ...“ + +„Nun und?“ + +„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger Mann! – Ach, wieder! +Verzeihen Sie, bitte! Ich nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick +ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame ... aber können +Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem Hause wohnt?“ + +„Ja ... hier wohnen sehr viele.“ + +„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte schnell der Herr +im Waschbärpelz und er lachte kurz auf, wie um die Situation zu retten. +„Ich sehe, daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb +schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie sehen, gebe ich doch +offenherzig zu, daß ich mich nicht ganz treffend ausgedrückt habe, so +daß Sie, wenn Sie ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge +erniedrigt gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame von anständigem +Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich +bin so verwirrt. Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da hat +man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de Kocks Romane leichten +Inhalts seien, während doch bei seinen Romanen das ganze Malheur, wie +gesagt ... nun eben ...“ + +Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im Waschbärpelz an, der sich +schließlich rettungslos verwirrt hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln +ansah, während seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund immer +wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen griff. + +„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge Mann, ein wenig +zurückweichend. + +„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“ + +„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter anderen Ssofja +Osstafjewna,“ sagte der junge Mann flüsternd und sogar mit einem +gewissen Mitgefühl. + +„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt etwas Näheres, junger +Mann!“ + +„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ... Ich habe nur so +kombiniert, so nach Ihrem verstörten Aussehen ...“ + +„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren, daß sie in dieses +Haus hier geht; doch Sie sind in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das +heißt, ich will sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ... +sie kennt sie ja gar nicht ...“ + +„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“ + +„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert, junger Mann,“ bemerkte +der seltsame Herr mit bitterer Ironie. + +„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas unsicher, „ich kenne +allerdings nicht die Ursache Ihrer gegenwärtigen ... Verfassung, aber +sagen Sie doch offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“ + +Der junge Mann lächelte verständnisvoll. + +„... Wir werden uns dann wenigstens schneller verstehen,“ fügte er +lächelnd hinzu und seine ganze Gestalt verriet die großmütige +Bereitwilligkeit, sogleich eine leichte Verbeugung zu machen. + +„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe Ihnen ganz offen – +Sie haben vollkommen erraten, um was es sich – ... Aber wem kann das +nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief. Unter jungen +Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch zugeben ... Übrigens bin ich ja +nicht mehr ganz jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das +Junggesellenleben, wie gesagt, unter uns Junggesellen, na, Sie wissen +schon ...“ + +„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit kann ich Ihnen nun +dienen?“ + +„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch bei Ssofja Osstafjewna +... Übrigens weiß ich noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame +begeben hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause befindet. Als +ich Sie nun hier auf und ab gehen sah – ich selbst spazierte dort auf +jener Seite – dachte ich, wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich +diese Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich mit ihr +zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig auseinandersetzen, wie +wenig anständig, wie schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie +verstehen mich ...“ + +„Hm! Nun?“ + +„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie nur nicht etwa ... O nein! +Das ist eine ganz fremde Frau! Der Mann steht dort auf der +Wosnessenskij-Brücke; er will sie hier überrumpeln, kann sich aber nicht +entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder Gatte ...“ Hier +machte der Herr im Waschbärpelz wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich +bin nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir doch zugeben, daß +ich als Mensch, der sich sozusagen einer gewissen, allgemeinen Achtung +erfreut, nicht wohl derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten +offenbar geneigt sind, – das ist doch klar!“ + +„Selbstverständlich. Nun, und?“ + +„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin beauftragt – Sie +verstehen – Der arme Mann! Aber ich weiß, daß die listige junge Frau – +ewig hat sie einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin +überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt +durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen gestanden, nur die Köchin +gesagt, daß sie hierhergehe, und da bin ich denn wie ein Sinnloser +hergestürzt, kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer habhaft +werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich habe ja schon längst +Verdacht geschöpft. Deshalb wollte ich Sie fragen – Sie gehen hier auf +und ab ... Sie ... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“ + +„Ja, _was_ denn? Was wünschen Sie zu wissen?“ + +„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht das Vergnügen, Sie zu +kennen, und, offen gestanden, ich wage auch gar nicht, eine solche +Neugierde zu bekunden, zum Beispiel, ... ich meine ... wer und ... was +... und weshalb ... Jedenfalls aber werden Sie erlauben, daß wir uns, +wie gesagt ...“ + +Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die Hand des jungen Mannes +und schüttelte sie kräftig und mit glühender Aufrichtigkeit. + +„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich sogleich tun sollen,“ +fuhr er erregt fort, „aber man ist mitunter so zerfahren, daß man alles +vergißt!“ + +Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still stehen, blickte nach +links, nach rechts, trat von einem Bein aufs andere, fast zappelnd vor +Ungeduld, und griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, +fortwährend nach einem Knopf oder einem Aufschlag der Pekesche des +jungen Mannes. + +„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in voller Freundschaft +an Sie wenden – verzeihen Sie die Freiheit – und wollte Sie bitten: +könnten Sie nicht dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses, +wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so, wissen Sie, hin +und her? Und ich – ich werde dasselbe tun, bloß hier, vor dem +Haupteingang, damit sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen +Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne vielleicht doch +unbemerkt durchschlüpfen. Das aber darf auf keinen Fall geschehen. Und +Sie, sobald Sie sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie und +halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich bin verrückt! Jetzt erst +begreife ich die ganze Dummheit und Unanständigkeit meines Vorschlages!“ + +„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“ + +„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. Ich bin +unzurechnungsfähig, ich ... ich kann meine Gedanken nicht mehr +zusammenhalten! Das ist mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich +mein Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen – ich bin ganz +offen und ehrlich mit Ihnen, junger Mann – ja, ich habe anfangs _Sie_ +für den Liebhaber gehalten!“ + +„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was ich hier tue?“ + +„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei mir fern, daß _Sie_ der +Betreffende sein könnten! Es sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur +in Gedanken mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ... aber können Sie +mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß Sie kein Liebhaber sind? ...“ + +„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber bin, nur nicht +derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre ich jetzt nicht auf der Straße, +sondern bei ihr, wie Sie wohl zugeben werden.“ + +„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger Mann? Ich bin +unverheiratet, bin, wie gesagt, Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja +... ich bin selbst ein Liebhaber ...“ + +„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der Brücke ...“ + +„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe? Aber sehen Sie, es gibt +noch andere ... Verwicklungen! Und Sie werden mir doch zugeben, junger +Mann, daß eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden +Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“ + +„Schon gut, schon gut, aber um was ...“ + +„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“ + +„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber jetzt bitte ich Sie, +nachdem ich Sie beruhigt habe, auch mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen +das leichter wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu rufen. +Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben, sich zurückzuziehen und mir +den Weg gefälligst frei zu geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“ + +„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen! Ich kann +Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld Ihres Herzens nur zu gut +nachfühlen. Ich verstehe das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt +verstehe!“ + +„Ja, was ...“ + +„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie, junger Mann, ich komme +wieder zu Ihnen ... Ich weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... +Geben Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der Liebhaber +sind!“ + +„Herr des Himmels! ...“ + +„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der Familienname des Mannes +Ihrer ... das heißt, ich wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie +sich interessieren?“ + +„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist es nicht der +Ihrige. Doch jetzt basta!“ + +„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“ + +„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen Sie, daß Sie davon kommen. +So verlieren Sie nur Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal +unbemerkt aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen Sie denn noch? Die, die +Sie suchen, ist in einem Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die, +die ich suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues Samthütchen +... Was wollen Sie mehr?“ + +„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja gleichfalls einen karierten +Umwurf und ein solches Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der +plötzlich wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand. + +„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall, mein Herr, so etwas +kommt vor. Doch wozu rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt +ja nicht dorthin zu gehen!“ + +„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die _Sie_ erwarten?“ + +„Interessiert Sie das?“ + +„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“ + +„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt kein Schamgefühl! Na, +zum Kuckuck, ich will es Ihnen sagen: die, die _ich_ erwarte, hat hier +Bekannte in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses. So, und +was wollen Sie jetzt noch wissen? Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch +die Namen zu hören wünschen!“ + +„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten Stockwerk, hier im +Vorderhause ... General ...“ + +„General? ...“ + +„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie wollen, auch sagen, welch +ein General ... es ist General Polowizyn.“ + +„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“ versetzte er schnell gefaßt +– im geheimen aber fluchte er ganz gotteslästerlich: + +„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“ + +„Nicht die?“ + +„Nein.“ + +Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos einander an. + +„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“ fuhr plötzlich der junge +Mann auf, ärgerlich die Starrheit von sich abschüttelnd. + +Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig. + +„Ich, ich, offen gestanden ...“ + +„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig reden. Die +Sache geht uns beide an. Erklären Sie mir: wen haben Sie dort?“ + +„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“ + +„Ja, Ihre Bekannten ...“ + +„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren Augen an, daß ich es +erraten habe!“ + +„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel! Sind Sie denn etwa +blind? Ich stehe doch leibhaftig vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei +ihr sein. Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der Teufel, mir +ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie reden oder nicht!“ + +Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem Absatz um, schlug mit der +Hand eine bezeichnende Gebärde und stampfte sogar mit dem Fuß auf. + +„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich bin gern bereit, Ihnen +als einem Ehrenmanne alles zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein +zu ihnen – sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen – und ich ahnte +natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht lag mir vollkommen fern. +Gestern aber traf ich auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu +meiner Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen die +Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber ... das heißt, was sage ich! +– nicht _meine_ Frau, sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet, +wie gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese Dame also hat aber +gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen bei ihnen gewesen sei und zwar hier +in dieser Wohnung ... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß die Wohnung +Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn mit Namen, gemietet habe ...“ + +„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“ + +„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“ + +„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich an, ob Sie außer sich sind +oder nur entsetzt! Ach! Da, da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen +Sie?“ + +„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘ und ich komme sofort ...“ + +„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher doch noch nicht +vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“ + +„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und kehrte wie der Wind +zurück, atemlos vor Schreck und Aufregung. „Was? was? Wo?“ + +„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß wissen, wie diese +Dame heißt?“ + +„Glaf...“ + +„Glafira ...?“ + +„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ... verzeihen Sie, aber ich +kann Ihnen ihren Namen nicht nennen.“ + +Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß wie Kalk. + +„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira, das weiß ich +selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch jene heißt nicht Glafira ... +Doch übrigens, bei wem ist sie denn dort?“ + +„Wo?“ + +„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der Henker drein!“ + +Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille stehn vor Wut. + +„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß sie Glafira heißt?“ + +„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch Sie noch auf dem Halse! +Aber Sie sagen doch selbst, daß diejenige, die _Sie_ suchen, nicht +Glafira heißt! ...“ + +„Mein Herr, welch ein Ton!“ + +„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um den Ton zu tun! Was +ist sie denn? – Ihre Frau etwa?“ + +„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ... Nur finde ich es +anstößig, so einem unglücklichen Menschen, so einem Menschen, der – ich +will nicht sagen: der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch so +einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort ‚hol’s der Teufel‘ zu +sagen. Von Ihnen aber hört man ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s +der Teufel, hol’s der Teufel‘!“ + +„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da haben Sie es wieder, +freuen Sie sich darüber!“ + +„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige ich. Mein Gott, wer +ist das?“ + +„Wo?“ + +Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig gekleidete Mädchen traten +aus dem Hause. Beide Herren stürzten ihnen entgegen. + +„Nein! So sehen Sie doch! ...“ + +„Was wollen Sie?“ + +„Nein, das ist sie nicht!“ + +„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? – He! Droschke!“ + +„Wohin will sie denn, Fräulein?“ + +„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“ + +„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los! Aber daß du schnell +fährst ...“ + +Die Droschke fuhr davon. + +„Woher mögen die gekommen sein?“ + +„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber sollte man nicht hingehen?“ + +„Wohin?“ + +„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“ + +„Nein, das geht nicht ...“ + +„Weshalb nicht?“ + +„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas anderes, sie ... +würde den Spieß umdrehen; ich kenne sie! Sie würde sagen, daß sie +absichtlich gekommen sei, um mich bei irgend einer zu überraschen und +damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“ + +„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist! Ja aber, hören Sie – +ich weiß nicht – aber weshalb schließlich nicht den Versuch riskieren? +Hören Sie, gehen Sie zum General ...“ + +„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“ + +„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist doch hingegangen, und +Sie gehen gleichfalls hin – verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie +nichts von seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen +Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen, nun und so +weiter!“ + +„Und dann?“ + +„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen bei Bobynizyn. Pfui +Teufel, ist das aber ein Rüp...“ + +„Ja, aber was haben _Sie_ denn davon, wenn ich dort jemanden ertappe? +Sehen Sie, sehen Sie!“ + +„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach du Grundgütiger! Haben Sie denn +schon jegliches Schamgefühl verloren, Sie ...“ + +„Ja, aber weshalb regen _Sie_ sich denn deshalb so auf? Offenbar wollen +Sie wissen ...“ + +„Was? was will ich wissen? was? Ach nun, zum Teufel mit Ihnen, jetzt +ist’s mir nicht um Sie zu tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie, +gehen Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie, nun, aber +schnell!“ + +„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr im Waschbärpelz +verzweifelt. + +„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“ fragte der junge Mann +durch die Zähne, in seiner Wut mit geballter Faust auf den Herrn im +Waschbärpelz eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber vergesse ich mich?!“ +knirschte er zornbebend. + +„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“ + +„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse, wer, wie ist Ihr +Name?“ + +„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll, junger Mann. Wozu denn +meinen Namen? ... Ich, ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen +gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben, ich bin zu allem +bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich habe wirklich höflichere Ausdrücke +verdient! Man soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn Sie +aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung gebracht sind – und ich +errate die Ursache – so brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu +vergessen ... Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“ + +„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind! Machen Sie, daß Sie +fortkommen, was laufen Sie hier herum? ...“ + +„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch noch gar nicht so alt! +Allerdings, daß ich es schon weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe +durchaus nicht hier herum ...“ + +„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich zum Teufel ...“ + +„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe; das können Sie mir nicht +verbieten; ich bin gleichfalls beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“ + +„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“ + +Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf zum dritten Stockwerk. +Es war ziemlich dunkel. + +„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“ + +„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“ + +„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“ + +„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich ...“ Der Herr im +Waschbärpelz befühlte hastig alle seine Taschen. + +„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür muß es sein ...“ + +„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“ + +„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch lauter! Können Sie denn +nicht still sein? Halten Sie den Schnabel.“ + +„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt, ich, ich muß mir Gewalt +antun ... Sie sind ein ungezogener, frecher Mensch!“ + +Das Streichholz flammte zischend auf. + +„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da steht ja: Bobynizyn; sehen Sie: +Bobynizyn? ...“ + +„Ich sehe, ich sehe!“ + +„Lei–se! Was, ausgelöscht?“ + +„Ja, ausgelöscht.“ + +„Soll man klopfen?“ + +„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz. + +„Dann klopfen Sie!“ + +„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen Sie zuerst an die Tür.“ + +„Memme!“ + +„Sie sind selbst eine Memme!“ + +„So packen Sie sich doch!“ + +„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis eingeweiht zu +haben. Sie ...“ + +„Ich? Nun, was?“ + +„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie haben gesehen, wie ich +...“ + +„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur lächerlich und damit basta!“ + +„Weshalb sind Sie denn hier?“ + +„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“ + +„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte höchst unwillig der Herr +im Waschbärpelz. + +„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn selbst?“ + +„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“ + +„Was?“ + +„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte Gatte ein ... ein +Pantoffelheld!“ + +„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet doch dort auf der Brücke? +Weshalb regen Sie sich denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt +in fremde Angelegenheiten?“ + +„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der Liebhaber sind! ...“ + +„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen, daß meiner +Überzeugung nach kein anderer – Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie! +Es gibt aber auch noch eine andere Benennung dafür.“ + +„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann bin!“ versetzte der Herr +im Waschbärpelz wie mit heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen +Schritt zurückweichend. + +„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“ + +„Das ist sie!“ + +„Nein!“ + +„Wie dunkel es hier ist.“ + +Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der Wohnung Bobynizyns ließ +sich allerdings Geräusch vernehmen. + +„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“ flüsterte der Kleine im +Waschbärpelz. + +„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster beleidigt gefühlt!“ + +„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“ + +„Schweigen Sie!“ + +„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch sehr junger Mann sind +...“ + +„Schweigen Sie! zum ...“ + +„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen einverstanden, daß der +Gatte in einer solchen Lage ein Pantoffelheld ist ...“ + +„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch einmal!“ + +„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des unglücklichen Gatten? +...“ + +„Das ist sie!“ + +Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch. + +„Ist sie es?“ + +„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn so auf? Was geht das +Sie als fremden Menschen an?“ + +„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im Waschbärpelz mit +versagender, erstickender Stimme, aus der es fast wie ein Schluchzen +klang. „Ich ... versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich +zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht, aber morgen ... +übrigens werden wir uns morgen sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich +mich nicht zu fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens bin ja +gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie gesagt, der auf der +Wosnessenskij-Brücke wartet. Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist +seine Frau, wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich ... ich +versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm bekannt; erlauben Sie, ich +werde Ihnen alles erzählen. Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn – +würde ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück nehmen? Und +Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja selbst gesagt, unzählige Mal gesagt: +wozu heiratest du? Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht +wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen Posten, weshalb also +willst du das alles gegen die Launen einer Koketten eintauschen? oder +zum mindesten doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein, aber, – +ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ... Da hat er jetzt sein +Familienglück! Zuerst hatte er selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam +die Reihe an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen, +diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit entrissen! ... Er ist +ein unglücklicher Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“ + +Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz zu versagen und der +junge Mann hörte so etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen +Ernstes zu weinen begonnen. + +„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch wahrlich genug +Dummköpfe in der Welt! Wer sind Sie denn eigentlich?“ + +Der junge Mann knirschte vor Wut. + +„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ... ich handelte edel und +offen ... Sie aber schlagen jetzt wieder einen solchen Ton an!“ + +„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter Familienname?“ + +„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen zu schaffen?“ + +„Ah!!“ + +„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu nennen ...“ + +„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich der junge Mann. + +„Schabrin!!!“ + +„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte sich, die Stimme des +älteren ein wenig nachzuäffen. „Haben Sie jetzt begriffen?“ + +„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte mit hervorquellenden +Augen der Herr im Waschbärpelz. „Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein +Ehrenmann, ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten kann ich +mir nur durch Ihre Eifersucht erklären, die Sie vollkommen +unzurechnungsfähig macht.“ + +„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine käufliche Seele, ein +Prozentschneider, ein Betrüger, der die Kasse bestohlen hat! Bald wird +er vors Gericht gebracht werden!“ + +„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz, der bleich geworden +war, „Sie kennen ihn nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen +unbekannt sein.“ + +„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne ich aber um so +besser das Wesen seiner werten Person aus gewissen ihm sehr +nahestehenden Quellen.“ + +„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ... so zerstreut, wie Sie sehen +...“ + +„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein eifersüchtiger Pantoffelheld, +der seine Frau nicht zu bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich +damit ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“ + +„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen sich in Ihrem Eifer, +junger Mann ...“ + +„Ach!“ + +„Ach!“ + +In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch vernehmen. Die Tür +wurde aufgeschlossen, Stimmen wurden laut. + +„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne ihre +Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ... Glauben Sie mir, das ist sie +nicht!“ versicherte der Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während +sein Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde. + +„Schweigen Sie!“ + +Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um nicht gesehen zu werden. + +„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich sehr.“ + +„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen, gehen Sie!“ + +„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“ + +„Weshalb gehen Sie denn nicht?“ + +Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im Waschbärpelz eilte wie der +Blitz die Treppe hinab. + +Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame vorüber und sein Herz +drohte stille zu stehen ... Er vernahm nur eine helle, bekannte +Frauenstimme und dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz +unbekannt war. + +„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten nehmen,“ sagte die +rauhe Stimme. + +„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“ + +„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“ Und damit +verschwand der Herr. Die Dame blieb allein zurück. + +„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der junge Mann in der Pekesche, +die Dame am Handgelenk fassend. + +„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff? Mein Gott im Himmel! Was +tun Sie hier?“ + +„Wer war jener Herr?“ + +„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie, gehen Sie, er wird +sogleich zurückkehren ... von Polowizyns. So gehen Sie doch fort, um +Gottes willen, gehen Sie!“ + +„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor drei Wochen ausgezogen! +Ich weiß alles!“ + +„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie konnte die Treppe hinab. +Der junge Mann holte sie aber doch noch ein. + +„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame. + +„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch, der sich hier in +nächster Nähe befindet, der – vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“ + +Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz – stand in der Tat +auf der Treppe dicht vor seiner Gemahlin. + +„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl. + +„Ah, ^c’est vous^?“ rief Glafira Petrowna, die mit ungefälschter Freude +zu ihm stürzte. „O Gott! Was mir alles zugestoßen ist! Ich war bei +Polowizyns; und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen jetzt +an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt du noch? Und dort stieg +ich in einen Schlitten. Die Pferde scheuten, jagten dahin, +zerschmetterten den Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von +hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde aufs Polizeibureau +gebracht; ich war natürlich außer mir. Zum Glück kam da Monsieur +Tworogoff ...“ + +„Was?“ + +Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem es zur Salzsäule geworden, +als Herrn Tworogoff. + +„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so liebenswürdig, mich zu +begleiten. Doch jetzt sind Sie hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach +Hause fahren, und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich Sie meiner +ganzen Dankbarkeit versichere.“ + +Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten Herrn Tworogoff die +Hand, die sie aber so stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte. + +„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn ihrem Gatten vor. „Ein +Bekannter von mir. Ich hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei +Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich dir von ihm schon +erzählt habe? Entsinnst du dich nicht, Coco?“ + +„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut entsinne ich mich!“ +versicherte eilfertig der Herr im Waschbärpelz, der Coco genannt worden +war. „Freut mich, freut mich ungemein!“ + +Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte des Herrn Tworogoff. + +„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn das zu bedeuten? Ich warte ...“ +ertönte plötzlich eine rauhe Stimme. + +Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer Herr, der ein Lorgnon +hervorzog und den Herrn im Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann. + +„Ach, ^voilà^ Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in den süßesten Tönen. +„Woher kommen Sie denn, wenn man danach fragen darf? Das nenne ich eine +Begegnung! Denken Sie sich, mich haben die Pferde soeben aus dem +Schlitten geworfen ... Doch hier mein Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich +auf dem Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“ + +„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich ein Gefährt +besorgen, mein Kind.“ + +„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich bebe von dem +Schreck. Mir ist gar nicht wohl ... Heute abend auf dem Maskenball,“ +flüsterte sie schnell Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl, +Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen auf dem Ball bei +Karpoffs wiedersehen?“ + +„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein; ich werde morgen ... +wenn es jetzt nicht geht ...“ brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen +den Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war, machte mit +seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte sich in seinen Schlitten und +fuhr von dannen. + +Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame setzte sich hinein, doch +der Herr im Waschbärpelz zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war +er noch nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit völlig +sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen Mann in der Pekesche an, +worauf dieser nichts als ein Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln, +das auffallend wenig geistreich war. + +„Ich weiß nicht ...“ + +„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben,“ versetzte der +junge Mann mit einem leichten Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da +er plötzlich so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte, wie +sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ... + +„Freut mich, freut mich sehr ...“ + +„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“ + +„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke Ihnen! Ich habe mir immer +Gummigaloschen anschaffen wollen ...“ + +„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren, sagt man,“ +bemerkte der junge Mann, allem Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme. + +„Jean! So komm doch endlich!“ + +„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man hört. Sogleich, sogleich, +Herzchen, im Augenblick, wir haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja, +gerade wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren ... +Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“ + +„O, ich bitte!“ + +„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben +...“ + +Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine Gemahlin in den +verdeckten Schlitten. Die Pferde griffen aus. + +Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich und blickte dem +entschwundenen Paare verwundert nach. + + + II. + +Am Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen Oper“ irgendeine +Aufführung statt. Der Saal war bereits brechend voll und der erste Akt +hatte schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter +Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem Platz schoß. +Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch, der Besitzer jenes Waschbärpelzes. +Noch nie hatte man ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt, wie +er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war aber um so befremdender, +als man die Vorliebe Iwan Andrejewitschs, sich im Saale der +„Italienischen Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den Armen wiegen +zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen Armen durch mehr oder minder +vernehmbares Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte. Auch +hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön es sei, im Traum die +Primadonna „so zärtlich wie ein weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne +durch das Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich schon +lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens ein halbes Jahr, wenn +nicht länger. Jetzt war alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan +Andrejewitsch nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem Bette schlafen +... + +Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal geschossen, dieses fast +fünfzigjährige graue Männchen – das übrigens doch noch nicht ganz grau +war. Mit einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang, und – o, +Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie war hier! Sie saß in einer +Loge mit General Polowizyn, dessen Gattin und Schwägerin. Und in +derselben Loge befand sich noch der Adjutant des Generals – ein äußerst +gewandter und liebenswürdiger Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ... + +Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur größtmöglichen Schärfe +an, doch – o, Angst und Pein! Dieser Unbekannte in Zivil machte sich +hinter dem Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig +unkenntlich. + +Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt nicht hier sein +werde! + +Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira Petrowna auf Schritt und +Tritt an den Tag legte, war es, was den guten Iwan Andrejewitsch +vernichtete! Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends zur +Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank er in seinen Sessel. +Weshalb nur diese Verzweiflung, fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war +doch sehr einfach ... + +Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in seiner Verzweiflung hatte +niedersinken lassen, befand sich dicht an den Parterrelogen und in +gerader Linie unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn +nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten Ungemach nicht einmal +sehen konnte, was dort vor sich ging. Wie verständlich ist’s daher, daß +die Wut in ihm wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom ganzen +ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt, das Beste an der Musik sei, +daß man sie mit jedem beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer +sich freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen Trauer – +was will man mehr? Doch in den Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein +ganzer Sturm zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen Seiten +so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein Herz müsse zerspringen. +Endlich war der erste Akt zu Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der +Vorhang sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames, daß die +Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben. + +Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der Brüstung einer der +höchsten Logen ein Theaterzettel langsam herabfällt. Ist das betreffende +Schauspiel langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm damit +eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu teilnahmsvoll verfolgen +die Blicke den im Zickzack zurückgelegten Flug des weichen, leichten +Papiers, wobei sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche +Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt, über dem +buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es ist allerdings auch sehr +interessant zu beobachten, wie dieser Kopf dann plötzlich erschrickt, +wie verwirrt er sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im +ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr verwirrt sein. Auch +wegen der Operngläser, die die Damen so unvorsichtig auf den +Logenbrüstungen liegen lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich +kann den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar auf +irgendjemandes vollständig unvorbereitetes Haupt herabfallen werden. + +Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas, das bisher noch keinem Menschen +widerfahren oder das wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf +sein ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes schon ziemlich +beraubt war – fiel kein Theaterzettel. Ich spüre, daß es mir eigentlich +recht peinlich ist, das Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es +ist doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das ehrenwerte, +entblößte Haupt des eifersüchtigen und schwer gereizten Iwan +Andrejewitsch tatsächlich ein so unmoralischer Gegenstand fiel, wie es +z. B. ein süßduftender Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme Iwan +Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher als eine solche +Überraschung erwartete, so heftig zusammen, als habe er auf seinem +ehrenwerten Haupte zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes +wildes Tier verspürt. + +Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man ihm nur zu deutlich an. +Erstens war er auf zartem, verräterisch duftendem Papier geschrieben und +zweitens war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem Handschuh +hätte verbergen können. Gefallen war er offenbar während der Übergabe, +vielleicht beim Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief +geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht war auch nur eine +unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten die Ursache gewesen, daß der +Brief aus dem Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn +bemerken und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der Jüngling in Zivil +nur den Theaterzettel, mit dem er dann entschieden nichts anzufangen +wußte. Fürwahr, eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben, +daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um ein Bedeutendes unangenehmer +war. + +„^C’est prédestiné^,“ murmelte er, indes kalter Schweiß ihm aus den +Poren trat und er den kleinen Brief krampfhaft in der Hand +zusammenpreßte, als wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen, +„^prédestiné^! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“ zuckte es durch +seine Gedanken. „Nein, das ist nicht das Richtige! Was habe ich +verbrochen, daß ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er +sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen. Doch wer vermag +all die Gedanken aufzuzählen, die ein Gehirn nach solch einer +Erschütterung gebiert! + +Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als wäre er in der Tat das +gewesen, was er zu sein schien: weder tot noch lebendig. Er war +überzeugt, daß das ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt +hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang unter schallendem +Applaus gefallen war und ein wahrer Sturm die Primadonna hervorrief. +Doch er war so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu +erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste geschehen, das ein +Mensch sich nur ausdenken kann. + +„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu seinem Nachbarn zur +Linken, einem auffallenden Gecken. + +Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase befand, unermüdlich +in die Hände klatschte und sogar mit den Füßen scharrte, warf nur einen +flüchtigen, zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann +geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen Mund und rief +dumpf brüllend den Namen der Sängerin. Iwan Andrejewitsch, der noch +nichts Ähnliches vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts +bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und wandte sich +zurück. Doch der dicke Herr, der hinter seinem Rücken saß, stand jetzt, +ihm seinerseits den Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas +die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch. In den +Reihen vor ihm hatte man natürlich nichts gesehen. Schüchtern, doch voll +froher Hoffnung wagte er einen Blick in die Parterreloge zu werfen, +neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der unangenehmsten +Empfindung zusammen, denn was er dort erblickt hatte, war wenig +trostreich: er sah eine schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt, +krampfhaft ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig lachte. + +„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und knirschte Iwan +Andrejewitsch und schlängelte sich schleunigst zur Ausgangstür, bemüht, +dem Publikum nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten. + +Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch darauf, anzunehmen, daß +dieser Liebesbrief gerade aus der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es +doch über dem zweiten Rang noch einen und dann noch einen und dann noch +die Galerie – im ganzen gab es fünf Ränge. Weshalb sollte er +ausgerechnet aus jener bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein, +warum nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch gleichfalls +Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas Außerordentliches und +Eifersucht die außerordentliche Leidenschaft, die sich nicht irrt. + +Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür erreicht hatte, ins +Foyer, blieb bei der nächsten Lampe stehen, erbrach das Kuvert und las: + +„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße im Hause K–offs, im +dritten Stockwerk, rechts von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei +dort. ^Sans faute!^“ + +Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt, doch eines stand für +ihn fest: daß es eine Bestellung zu einem Rendezvous war. Sein erster +Gedanke war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das Übel verhüten, so +lange es noch nicht zu spät war!“ + +Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die Schuldigen sogleich zu +überführen, sofort, hier im Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan +Andrejewitsch eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang, besann +sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte vor der Logentür wieder +Kehrt. Er wußte entschieden nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich +überhaupt lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die andere +Seite und blickte durch die offene Tür der gegenüberliegenden Loge. +Tatsächlich: in jeder der fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über +seinem Platz befanden, saßen junge Damen und junge Herren. Der +Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich fallen können, um so mehr, als +Iwan Andrejewitsch die Insassen aller fünf gegen sich verschworen +glaubte. Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb Iwan +Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den ganzen zweiten Akt verbrachte +er in den Korridoren, die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne +Seelenruhe finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse, um vom +Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber zu erfahren – doch leider +war die Kasse schon geschlossen. Endlich erschallte Applaus, helle +Stimmen, die Bravo und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung +war zu Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes im +Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte in die G–straße, um +dort „an Ort und Stelle zu überführen, abzufangen, und überhaupt +energischer vorzugehen als gestern“. Bald hatte er auch das Haus +gefunden, und er war gerade im Begriff einzutreten, als plötzlich, fast +unter seinem Arm, eine Männergestalt in einem geckenhaften Paletot durch +die Tür schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte. +Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der junge Fant von gestern gewesen +sei, obschon er sein Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen +hatte. Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen Vorsprung +von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm zuvorkommen? Da hörte Iwan +Andrejewitsch wie eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne +Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden. Iwan Andrejewitsch +erreichte diese Tür, als der junge Mann kaum hinter ihr verschwunden und +noch niemand sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar +noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen Schritt zu +erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und jenes noch zu befürchten +und sich dann erst zu etwas Endgültigem zu entschließen. Da wollte es +das Schicksal, daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor das Haus +rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür wurde geräuschvoll aufgerissen +und jemandes schwere Schritte begannen, begleitet von Husten und +Gekrächz, langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation war +Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er klinkte die Tür auf und betrat +mit der ganzen Feierlichkeit des hintergangenen, sich im Recht fühlenden +Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine Kammerzofe trat ihm +sehr erregt entgegen, ihr folgte auf dem Fuß ein Diener, doch nichts +vermochte Iwan Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war der +Gatte! + +Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung, so flog er in das nächste +Gemach, durchschritt zwei fast dunkle Zimmer und befand sich plötzlich +in einem Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn zitternd +und verständnislos anstarrte. Da erschallten aber, noch bevor Iwan +Andrejewitsch zu sich gekommen war, schwere Schritte im Nebenzimmer und +näherten sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die Iwan +Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen hatte. + +„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame entsetzt, bleicher als ihr +Peignoir, und sie rang hilflos die Hände. + +Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse geraten, aus der es +kein Entrinnen gab, fühlte, daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die +nun nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die Tür, schon trat +der schwere Mann – nach seinen schweren Schritten zu urteilen – ins +Zimmer ... Ich weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich in +diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu sagen, was ihn davon +abhielt, dem Fremden frank und frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu +erklären, für seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich dann +zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht heldenhaft – aber man +hätte es doch immerhin eine anständige, offene Handlungsweise nennen +müssen. + +Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie ein Schulbube, der +nicht weiß, was Überlegung ist, oder als hätte er sich für einen zweiten +Don Juan gehalten. + +Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem Bettvorhang, doch schon +nach zwei Sekunden brach er vor Angst in die Knie und kroch, jedes +Gedankens bar, auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares. +Der Schreck hatte in ihm jede Regung der Vernunft gelähmt – nur so läßt +es sich erklären, daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener +Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt, nun tat, als tue +er das, was ihm widerfuhr, selbst einem andern an. Vielleicht konnte er +es bloß nicht übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese ihm +wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart hervorzurufen. Doch wie dem +auch gewesen sein mag, Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne +selbst zu begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste war +aber für ihn in diesem Augenblick, daß die Dame es widerspruchslos hatte +geschehen lassen. Sie hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich +vor ihr aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann, um darauf +ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden. Anzunehmen ist, daß +sie vor Schreck die Sprache verloren hatte. + +Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach und Weh ihr schwerer Gatte +ins Zimmer getreten. Mit greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner +Frau einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen Sessel +fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige Last Holz hereingetragen. +Darauf folgte ein langanhaltender Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der +sich aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt hatte und nun +zitterte und zagte wie ein Mausejunges vor einem Kater, wagte kaum zu +atmen, obwohl er doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte, daß +nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch das kam ihm gar nicht +in den Sinn – sei es aus Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend +einem anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur leise +tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen Orientierungsversuch, um +seine Gliedmaßen in eine etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie +groß aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung, als +seine tastende Hand plötzlich an einen Gegenstand stieß, der sich +bewegte und ihn seinerseits mit einer Hand anfaßte! + +Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch! + +„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd und zitternd. + +„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“ kam es flüsternd, doch mit +deutlicher Ironie zurück. „Liegen Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie +in die Falle geraten sind!“ + +„Mein Herr, Ihr Ton ...“ + +„Still!“ + +Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte unter dem fremden Ehebett +vollkommen genügt – dieser freche Mensch preßte die Hand Iwan +Andrejewitschs so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz fast +aufgeschrien hätte. + +„Mein Herr, mein Herr ...“ + +„Sst!“ + +„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand! oder ich schreie!“ + +„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“ + +Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der Unbekannte schien kein +Erbarmen zu kennen. Vielleicht war er schon so manches Mal der +Verfolgung des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich +infolgedessen nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan Andrejewitsch +war aber jedenfalls ein Neuling in dieser Situation und glaubte daher, +schier vergehen zu müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf. +Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt auf dem Bauch. Da +faßte er sich in Demut und schwieg. + +„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte, „ich war, mein +Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir begannen Préférence zu spielen, aber +weißt du, köchö-köch-köch!“ – er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein +Rücken ... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“ + +Und der Greis hustete endlos. + +„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher Stimme fort, sich die +Tränen aus den Augen wischend, „begann so zu schmerzen ... von diesen +verwünschten Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ... noch +sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“ + +Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres Leben +bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten hatte. Ließ der Husten +etwas nach, so brummte er mitunter ein paar unverständliche Worte, die +bald wieder im Husten erstickt waren. + +„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi willen etwas zur +Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan Andrejewitsch. + +„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen Platz!“ + +„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich nicht lange so +liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal in einer solchen Lage.“ + +„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer Nachbarschaft.“ + +„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“ + +„Still!“ + +„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger Mann, daß Ihre Redeweise, +gelinde gesagt, sehr unhöflich ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind +Sie noch sehr jung; ich bin älter als Sie.“ + +„Schweigen Sie!“ + +„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit wem Sie reden!“ + +„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett liegt ...“ + +„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt ... Sie aber, +wenn ich mich nicht täusche, Ihre Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“ + +„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“ + +„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage Ihnen ...“ + +„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir hier auf _einem_ +Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht mit Ihren Händen ins Gesicht +zu fahren!“ + +„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts sehen. Verzeihen Sie, +aber ich habe ja doch keinen Platz.“ + +„Weshalb sind Sie denn so dick?“ + +„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich in eine so +erniedrigende Lage gebracht!“ + +„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“ + +„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich weiß zwar nicht, wer Sie +sind, ich weiß auch nicht, wie das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß +ich irrtümlicherweise hierher geraten bin – ich bin nicht das, was Sie +von mir glauben ...“ + +„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn Sie mich nicht immer +stoßen würden. So schweigen Sie doch endlich!“ + +„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme ich einen Schlaganfall! +Sie werden meinen Tod zu verantworten haben. Ich versichere Ihnen ... +Ich bin ein ehrenwerter Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich +doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“ + +„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche Lage gebracht. +Na, rücken Sie doch weiter, dann haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr +gibt’s davon nicht.“ + +„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger Mann! Ich sehe, daß +ich mich in Ihnen getäuscht habe ...“ begann Iwan Andrejewitsch in +aufwallender Dankbarkeit, indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine +glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre eigene +Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man tun? Ich sehe, daß Sie +schlecht von mir denken. Erlauben Sie, daß ich meine Reputation in Ihren +Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen auseinandersetze, +wer ich bin, wie ich mich gegen meinen Willen hierher verirrt habe – +nochmals, ich versichere Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den +Sie annehmen ... Ich fürchte mich entsetzlich ...“ + +„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal! Begreifen Sie denn +nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn man Sie hört? Sst! Er wird sogleich +aufhören zu husten!“ + +In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen und dieser schickte +sich wieder an, zu sprechen. + +„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam und mit kläglicher +Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch! Ach! diese Plage! Fedossei +Iwanowitsch sagte mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! – +‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘. Hörst du, Herzchen?“ + +„Ich höre, mein Freund.“ + +„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee trinken.‘ Ich +sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘. Er aber sagte: ‚Nein, +Alexander Demjanowitsch, Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein +gutes Purgativ, sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was +meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach, Schöpfer! Köch-köch! +... Also du meinst, Schafgarbentee wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach +Gott! Köch! ...“ usw., usw. + +„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses Mittel zu +versuchen,“ meinte die junge Frau. + +„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht sogar die +Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte: ‚Nein, Podagra, und außerdem +einen Magenkatarrh ...‘ Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch +Schwindsucht.‘ Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen: +habe ich die Schwindsucht? Köch!“ + +„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch! Welch ein +Unsinn das ist!“ + +„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen, könntest dich jetzt +auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch! Ich habe aber heute, köch! +heute Schnupfen.“ + +„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage unter dem Bett. +„Um Gottes und Christi willen, rücken Sie weiter!“ + +„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern: können Sie denn keinen +Augenblick still sein? ...“ + +„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie wollen mich verletzen, +das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich der Liebhaber dieser Dame?“ + +„Schweigen Sie!“ + +„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht erlauben, hier zu +kommandieren! Ganz gewiß sind Sie der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt, +bin ich vollkommen unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“ + +„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach ihn der junge Mann +zähneknirschend, „werde ich sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß +Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann wird man +wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber dieser Dame sei.“ + +„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen! Wissen Sie auch, daß +meine Geduld reißen kann?“ + +„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren! Sie sind mein +Unglück! So sagen Sie doch, weshalb sind Sie hier? Ohne Sie würde ich +ruhig bis zum Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender +Gelegenheit fortgehen ...“ + +„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so liegen, ich bin doch +ein denkender Mensch! Ich habe Verbindungen, habe Protektion ... Was +meinen Sie, wird er wirklich hier schlafen?“ + +„Wer?“ + +„Nun, dieser Greis?“ + +„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle Männer so wie Sie. +Einige übernachten auch zu Hause.“ + +„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch erkaltend vor Schreck, +„seien Sie überzeugt, daß auch ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist +das erstemal ... Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen! +Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne Umschweife, ich flehe +Sie an, aus uneigennützigster Liebe bitte ich Sie darum, – wer sind +Sie?“ + +„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche Gewalt ...“ + +„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen erzähle, mein Herr, daß +ich Ihnen diese ganze entsetzliche Geschichte erkläre ...“ + +„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts wissen, lassen Sie +mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“ + +„Aber ich kann doch nicht ...“ + +Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür um so +verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch verstummte. + +„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“ + +„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“ + +Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit ihrem alten Gatten +reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart noch nicht völlig +wiedererlangt zu haben schien, was ihre erschrockene Stimme und ihre +Verwirrung verriet. + +„Was für ein Kater?“ + +„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging ich in mein +Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so vor sich hin. Ich fragte ihn: +was hast du, Wassenjka? Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich: +ach ihr Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“ + +„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen Sie sich!“ + +„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke, daß ich +sterben könnte, ist dir unangenehm, sei aber nicht böse deshalb. Ich +sagte es nur so. Aber du könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt +auskleiden und zu Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange +sitzen ... Köch-köch-köch!“ + +„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später ...“ + +„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es wirklich so, als +raschelten hier Mäuse ...“ + +„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu hören! Ich weiß nicht, +was heute mit Ihnen ist!“ + +„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch! Ach, du mein +großer Gott! Köch!“ + +„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es glücklich gehört hat!“ +flüsterte der junge Mann seinem Nachbar zu, während der Alte hustete. + +„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine Nase blutet ...“ + +„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten Sie, bis er +fortgegangen ist.“ + +„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in meine Lage: ich weiß +doch nicht einmal, mit wem ich hier liege.“ + +„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn Sie’s wüßten? Ich +interessiere mich nicht im geringsten für Ihren Namen. Und wenn schon – +Na, wie lautet er denn, sagen Sie doch zuerst?“ + +„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur erklären, durch welchen +sinnlosen Zufall ...“ + +„Sst ... er hat aufgehört ...“ + +„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich flüstern +gehört!“ + +„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich nur die Watte in +Ihren Ohren verschoben haben.“ + +„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ... über uns ... Koch ... +in der Wohnung über uns, hier, köch-köch-köch!“ usw. + +„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der Teufel! Und ich dachte, +dies sei das letzte Stockwerk! Ist denn dies erst das zweite?“ + +„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch wie von jemandem +gekniffen auf, „was sagen Sie da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert +Sie das? Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte +Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein Stockwerk?“ + +„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand sein,“ sagte der +Greis, dessen Husten sich wieder gelegt hatte. + +„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen Hand wie eine eiserne +Klammer Iwan Andrejewitschs Hände packte. + +„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das ist Vergewaltigung! +Lassen Sie los!“ + +„Sst!“ + +Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder vollständige Stille +folgte. + +„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis fort. + +„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge Frau. + +„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer netten Dame auf +der Treppe begegnet bin? ... oder habe ich es vergessen, zu erzählen ... +Mein Gedächtnis ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“ + +„Was?“ + +„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das helfe ... +Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt man.“ + +„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge Mann, knirschend. + +„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“ fragte die junge +Frau. + +„Wie?“ + +„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“ + +„Wem das?“ + +„Aber dir doch!“ + +„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“ + +„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der junge Mann unterm Bett, +der dem vergeßlichen Greise am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß +versetzt hätte. + +„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott, mein Gott! was höre ich? +Das ist ja wie gestern, ganz wie gestern! ...“ + +„Sst!“ + +„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender Käfer! So +blanke Augen ... unter einem hellblauen Hütchen ...“ + +„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“ + +„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut! Mein Gott, mein +Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch wie ein Verzweifelter. + +„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd, doch mit +unheimlichem Händedruck. + +„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch, „er spricht!“ + +„Zum Teufel! ... Teufel ...“ + +„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut tragen ...“ flüsterte Iwan +Andrejewitsch zaghaft. + +„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr der Greis fort, +„köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen Bekannten. Und immer +liebäugelt sie. Zu diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte +...“ + +„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine junge Frau. „Ich +begreife nicht, wie einen so etwas interessieren kann.“ + +„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“ beschwichtigte sie +wieder der Greis „ich ... ich – Köch! – ich werde nicht mehr davon +erzählen, wenn du es nicht willst. Du bist heute nicht bei ganz guter +Laune ...“ + +„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte plötzlich in +gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm Bett. + +„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich dafür zu +interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt nicht anhören!“ + +„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich. Aber seien Sie dann +still! Hol’s der Teufel, die Geschichte ist, bei Gott! um aus der Haut +zu fahren ...“ + +„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht! Ich weiß nicht, was ich +rede! Ich ... ich wollte nur sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für +den Zwischenfall interessieren werden ... Aber wer sind Sie, junger +Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber wer sind Sie nun +eigentlich! Mein Gott! Ich weiß selbst nicht mehr, was ich rede!“ + +„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei er innerlich mit +anderem beschäftigt. + +„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken vielleicht, daß ich +nicht erzählen werde, daß ich Ihnen böse bin, nicht? Hier haben Sie +meine Hand! Ich bin nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das +ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie sind Sie +hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem Zweck sind Sie in dieses +Haus gekommen? Was mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich +bin Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf. Nur wird sie +nicht allzu sauber sein, denn hier ist es etwas staubig. Aber was will +das besagen!? Auf das Gefühl kommt es an!“ + +„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum, daß man hier Platz hat, +platt auf dem Bauch zu liegen – da will er noch Armverrenkungen +versuchen!“ + +„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre ich, mit Erlaubnis zu +sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete Iwan Andrejewitsch in einer +Aufwallung der keuschesten Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man +sie sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln Sie mich nur +ein wenig höflicher – hören Sie? – nur ein wenig höflicher, und ich +werde Ihnen alles erzählen! Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin +sogar bereit, Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir nicht +beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz offen. Sie sind auf +einem Irrwege, junger Mann, Sie wissen nicht ...“ + +„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte der junge Mann vor sich +hin, offenbar in größter Aufregung. „Vielleicht wartet sie dort auf mich +... Nein, ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“ + +„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem reden Sie, junger Mann? +Sie glauben, daß hier oben über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür +werde ich so gestraft?!“ + +Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner Verzweiflung, auf +den Rücken kehren, doch der Versuch mißlang, was ihn noch unglücklicher +machte. + +„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel! – ich krieche hinaus! +...“ + +„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo soll ich denn bleiben?“ +stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt und er klammerte sich an die +Frackschöße des anderen. + +„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein hier. Oder wenn Sie +das nicht wollen, kann ich ja sagen, daß Sie mein Onkel seien, der sein +Vermögen durchgebracht hat, damit der Klappergreis nicht auf den +Gedanken kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu sehen.“ + +„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich, ganz ausgeschlossen! +Wer wird Ihnen denn das glauben, daß ich Ihr Onkel sei? Kein +dreijähriges Kind wird es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem +Tone Iwan Andrejewitsch. + +„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen Sie sich platt! Sie +können doch hier ruhig übernachten und dann morgen sehen, wie Sie +entkommen. Kein Mensch wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon +herausgekrochen ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem Bett +vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert fühlen. Übrigens +wiegen Sie allein ein ganzes Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich +krieche hinaus.“ + +„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn ich zu husten beginne? +Man muß doch alles voraussehen ...“ + +„Sst!“ + +„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns hat wieder ein +Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis, der inzwischen wohl +eingeschlummert war, mit schläfriger Stimme. + +„Über uns?“ + +„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“ + +„Ich höre, – nun!“ + +„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“ + +„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal ein Strich durch die +Rechnung gemacht ist, dann – ... Aber wissen Sie, was ich stark vermute? +Daß Sie, gerade Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind! – +Verstanden?“ + +„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten Sie das wirklich? Aber +weshalb denn gerade ein Ehemann ... ich bin doch nicht verheiratet ...“ + +„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“ + +„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es doch nicht +wissen!“ + +„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“ + +„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen alles erzählen. +Vernehmen Sie also meine Beichte, – die Beichte eines Verzweifelten. +Nicht ich bin der Betreffende, ich bin nicht verheiratet. Ich bin +gleichfalls Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund, mein +Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber bin ein Liebhaber ... +Da sagt er mir eines Tages: ‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß +den bittersten Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘ Aber, +Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie denn? ... Aber Sie hören +mich ja gar nicht! So hören Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist +lächerlich, sage ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber +sagt: ‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie gesagt ... ich +leere den Kelch, den bittersten Kelch ... d. h. ich habe sie im Verdacht +...‘ – Du bist mein Jugendfreund, sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam +Blumen gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ... Mein Gott, +ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen die ganze Zeit, junger +Mann. Sie werden mich noch verrückt machen!“ + +„Das sind Sie ja schon.“ + +„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir das sagen würden, als ich +das Wort noch nicht einmal ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es! +Lachen Sie nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich +gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt! Ach, ja! – jetzt +aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt werden!“ + +„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand geniest?“ fragte +wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit. „Warst du es, mein +Herzchen?“ + +„Oh, ^mon Dieu^!“ stöhnt die arme junge Frau. + +„Sst!“ hörte man unter dem Bett. + +„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte die junge Frau in +ihrer Herzensangst. Unter dem Bett wurde es schon allzu verräterisch +laut und immer lauter. + +„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig. „Über uns! ... +Habe ich dir schon erzählt, daß ich einem jungen Mann – Köch-köch! einem +jungen Mann mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein Gott und +Vater! – mein Rücken! ... einem jungen Fant soeben begegnet bin, mit +einem Schnurrbärtchen ...“ + +„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind gewiß Sie!“ flüsterte +Iwan Andrejewitsch entsetzt. + +„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier unter dem Bett, +liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann er mir denn begegnet sein! Aber so +fahren Sie mir doch nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“ + +„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“ + +In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung darüber allerdings großen +Lärm. + +„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der junge Mann. + +„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie mir!“ + +„Sst!“ + +„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich, es ist ja fast ein +Höllenspektakel dort oben. Und das gerade über deinem Schlafzimmer. +Sollte man da nicht hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“ + +„Ach, das fehlte noch!“ + +„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du heute so böse?“ + +„Oh, ^mon Dieu^! Werden Sie nicht bald schlafen gehn?“ + +„Lisa, du liebst mich gar nicht.“ + +„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen, ich bin so müde.“ + +„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“ + +„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge Frau plötzlich +angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen Sie!“ + +„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du, ich soll fortgehen, bald +wieder, ich soll hierbleiben ... Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit +zum ... Köch-köch! Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ... +Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger Puppe sah ich bei der +Kleinen, köch-köch! ...“ + +„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“ + +„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ... Köch-köch!“ + +„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge Mann seinem +Leidensgenossen zu, „er geht und dann können wir sogleich +hinausschlüpfen. Hören Sie? So freuen Sie sich doch!“ + +„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“ + +„Das war eine Lehre für Sie ...“ + +„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich fühle, daß ... Doch Sie +sind noch zu jung, Sie können mir keine Lehre geben.“ + +„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“ + +„Gott! Ich will niesen! ...“ + +„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“ + +„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach Mäusen, ich habe Staub +eingeatmet! Ich kann doch nicht! Geben Sie mir mein Taschentuch, aus +meiner Rocktasche, um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O +Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“ + +„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft werden, das will ich +Ihnen sogleich sagen: Sie sind eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher +Zweifel rennen Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt, +brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen in ihren +Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“ + +„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“ + +„Schweigen Sie!“ + +„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht Moral predigen! Ich bin +moralischer als Sie!“ + +„Schweigen Sie!“ + +„O Gott, o Gott!“ + +„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne junge Frau, die +nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen soll, und die vielleicht noch +krank werden wird von dieser ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen +ehrwürdigen Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin schon +genug gequält wird, einen Greis, der vor allen Dingen der Ruhe bedarf, – +und das alles aus welchem Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen +Unsinn in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle Gassen und +in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch, begreifen Sie auch, in +welches Licht Sie sich selbst gestellt haben, als was Sie dastehen, was +man von Ihnen denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so, +wie es sich gehört?“ + +„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben kein Recht ...“ + +„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht oder kein Recht! Begreifen +Sie denn nicht, wie tragisch das enden kann? Begreifen Sie denn nicht, +daß dieser Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach +irrsinnig werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem Bett seiner Frau +hervorkriechen? Doch nein, Sie können nicht die Ursache einer Tragödie +sein! Wenn Sie hervorkriechen, muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen +krummbiegen. Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal bei Licht +betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch sein!“ + +„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett hervorkriechend, würden +Sie gleichfalls lächerlich sein. Auch ich würde Sie gern einmal bei +Licht betrachten.“ + +„Sie!!“ + +„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit +aufgedrückt sein, junger Mann!“ + +„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen! Woher wissen +Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich bin irrtümlicherweise hierher +geraten, ich wollte eine Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen, +weshalb man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst jemanden +erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls nicht Sie. Ich +versteckte mich sofort unter dem Bett, als ich Ihre Schritte hörte und +als ich sah, daß die Dame so heftig erschrak. Zudem war es hier noch +ziemlich dunkel. Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit +noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein Herr, nichts als ein +lächerlicher eifersüchtiger Alter! Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie +denken vielleicht, ich fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre +schon längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben. +Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben, wenn ich Sie verließe. +Sie würden ja wie ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich +ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer zurechtfinden +...“ + +„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade wie dieser Gegenstand? +Konnten Sie mich nicht mit einem anderen vergleichen, junger Mann? +Weshalb sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde mich +sehr gut zurechtfinden!“ + +„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt! Das kommt alles von +Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses +elende Vieh kann noch zu unserem Verräter werden!“ + +In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis dahin ruhig auf seinem +Kissen in der Ecke geschlafen hatte, war plötzlich aufgewacht, hatte ein +wenig geschnuppert und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett +gestürzt. + +„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan Andrejewitsch, halb tot +vor Schreck und Angst. „Es wird uns bestimmt verraten! Es wird alles +offenbar werden! Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein +Gott!“ + +„Durch Ihre Feigheit natürlich!“ + +„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend, die junge +Frau. „^Ici, ici, viens ici!^“ + +Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern griff mutig Iwan +Andrejewitsch an. + +„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn Amischka so laut?“ +fragte der Greis. „Sind etwa Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der +Kater? Deshalb – ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ... Und du +weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“ + +„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann. „Rühren Sie sich +nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht beruhigen.“ + +„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände frei! Weshalb halten Sie +sie?“ + +„Sst! still!“ + +„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund beißt mich in die Nase! +Sie wollen wohl, daß ich meine Nase verliere?“ + +Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch schließlich +gelang, seine Hände zu befreien. Das Hündchen bellte wie rasend; +plötzlich aber quietschte es auf und verstummte. + +„Ach!“ schrie die Dame auf. + +„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend. „Sie verraten uns! +Weshalb haben Sie den Hund gepackt? Teufel, der Kerl würgt ihn noch +obendrein! So hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen! +Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine Ahnung von einem +Weiberherzen? Sie wird uns beide noch an den Galgen bringen, wenn Sie +ihren Hund erwürgen!“ + +Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub gemacht: er hörte auf +nichts. Es war ihm gelungen, den kleinen Köter am Kragen zu fassen: und +da hatte er ihm denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit +einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit geblieben war, +noch einmal zu quieken, bevor es den Geist aufgab. + +„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann. + +„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „^Mon Dieu^, was haben sie mit +meinem Ami gemacht! Amischka, Amischka! ^Ici!^ O, diese Schändlichen! +Diese Barbaren! Mein Gott, mir wird schlecht!“ + +„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“ sagte der Greis, +der wohl gerade im Begriff gewesen war, ein wenig einzuschlummern, „was +hast du, mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka, Amischka, +Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit der Zunge, schnippte mit +den Fingern, doch es half alles nicht: Amischka kam nicht wieder zum +Vorschein. „Wo ist er denn geblieben? Amischka! ^Ici.^ Wirst du wohl! Es +kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen hat? +Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen, meine Liebe, er ist schon einen +ganzen Monat nicht mehr bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde +morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu meint. Aber um Gottes +willen, mein Herz, was ist mit dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser! +Hilfe! Hilfe!“ + +Und der Alte stürzte kopflos zur Tür. + +„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame und sank auf die +Chaiselongue. + +„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her. + +„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort ... unter meinem Bett! Oh, +^mon Dieu^! Amischka, Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“ + +„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen? Amischka ... Nein, zuerst Leute +her, Leute! Leute! Wer ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor +Aufregung, und er griff nach dem Licht und beugte sich, um unter das +Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe! Leute! ...“ + +Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben dem Leichnam +Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte aufmerksam jede Bewegung des +Alten. Plötzlich sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort +niederbeugte. Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor, während der +Alte die Einbrecher auf der anderen Seite des Ehebettes suchte. + +„^Mon Dieu!^“ murmelte die Dame ganz erstaunt, als sie plötzlich einen +jungen eleganten Mann vor sich stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte +...“ + +„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der junge Mann leise und +schnell. „Er ist schuld an Amischkas Tod!“ + +„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf. + +Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer. + +„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel! Ein Bein!“ keuchte der +Alte, der Iwan Andrejewitsch am Fuß hervorzuziehen versuchte. + +„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“ jammerte die Dame. + +„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie der Alte, mit den Beinen +auf den Teppich stampfend. „Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was +wollen Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“ + +„Das sind ja Mörder!“ + +„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi willen!“ flehte Iwan +Andrejewitsch, der auf allen Vieren hervorkroch, sich kniend erhob und +flehend die Hände faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes +willen, Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Exzellenz, rufen +Sie keine Menschen herbei! Das ... das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie +können mich nicht vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch +einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist ein Irrtum, Exzellenz, +ich habe mich nur geirrt! Ich werde Ihnen sogleich alles erklären, +Exzellenz, alles, alles, alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit +versagender Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau schuld, das heißt, +nicht meine Frau, sondern eine fremde Frau, – denn ich bin ja gar nicht +verheiratet, ich bin nur so ... Das ist mein Schulkamerad und +Jugendfreund ...“ + +„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er stampfte zornig mit +dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb, ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen +wollten Sie! ... Aber nicht Jugendfreund! ...“ + +„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich sein Jugendfreund +... ich ... ich habe mich nur zufällig verirrt, ich habe nur die +Haustüren verwechselt! ...“ + +„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“ + +„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie täuschen sich! Ich +versichere Ihnen, daß Sie sich in einem grausamen Irrtum befinden, +Exzellenz! Sehen Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an +allen Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann. Exzellenz! Ew. +Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch, sich mit beschwörender Gebärde an +die junge Frau wendend. „Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame eher +verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht ... Aber ich bin +nicht schuld daran ... bei Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt, +nicht meine, sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein +unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“ + +„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben – es wird wohl nicht nur +_ein_ Kelch gewesen sein, nach Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind +Sie hierher gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“ +schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er sich selbst +eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher Dieb sein +konnte. „Ich frage Sie: wie – sind – Sie – hierher gekommen? Zum +Donnerwetter! ... Daß Sie kein Räuber sind ...“ + +„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz! Ich ... ich bin +nur in eine andere Tür ... bei Gott, ich bin kein Räuber! Das kommt +alles nur daher, daß ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles +erzählen, Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem +Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem leiblichen Vater, denn den +Jahren nach könnte ich Sie doch für meinen Vater halten!“ + +„Was?! Für Ihren Vater?!“ + +„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht verletzt! – o, +verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so junge Dame ... und Ihre Jahre +... sehr-sehr-sehr angenehm, Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ... +eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ... Rufen Sie nur +nicht die Leute herbei, um Gottes willen, rufen Sie nicht Ihre Leute her +... die würden nur lachen ... ich kenne sie ... Das heißt, ich will +damit nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, – ich habe +selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie, die ... Esel! Exzellenz +... Ich glaube, mich nicht getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich +habe doch die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“ + +„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin ... ein Privatmann. +Und ich bitte Sie, mich mit Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit +ihnen bei mir einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht +gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie hierher gekommen +sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“ + +„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ... verzeihen Sie, ich +dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe mich versehen, es war ein Irrtum, +verzeihen Sie ... das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten +Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten, Herrn Pusyreff, die Ehre +hatte, einmal zu sehen ... Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten +bekannt, ich habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen: +Sie können mich nicht für das halten, für was Sie mich halten! Ich bin +kein Räuber, ich bin kein Dieb! Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um +Gottes willen, haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch: wenn Sie +die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“ + +„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die Dame. „Wer sind Sie +überhaupt?“ + +„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die Frage auf. „Und ich, +mein Herzchen, glaubte wirklich, es sei der Kater Wassjka, der da +irgendwo schnurrt! Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ... +Wer sind Sie? So reden Sie doch!“ + +Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor Ungeduld. + +„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört haben ... Was +mich betrifft, so ist es eine lächerliche Geschichte, Exzellenz. Ich +werde Ihnen alles erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären +lassen ... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht fremde Leute +her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben Sie Erbarmen mit mir ... Das +hat nichts zu sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat +mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die lächerlichste +Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“ wandte sich der arme Iwan +Andrejewitsch flehentlich an die junge Frau. „Namentlich Sie, meine +Gnädigste, wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen vor +sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen, erniedrige ich mich +selbst, tue es selbst und freiwillig! Allerdings bin ich es, der +Amischka erwürgt hat, aber ... Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich +rede!“ + +„Aber wie, _wie_ sind Sie denn hierher gekommen?“ + +„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem ich mich der +Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen Sie, Exzellenz! Ich +bitte Sie kniefällig um Verzeihung! Ich bin nur ein gekränkter Gatte, +nichts weiter! Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei! +Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin ist sehr +tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich so auszudrücken. Sie ist rein +und unschuldig, glauben Sie es mir!“ + +„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie der Alte, ganz rot im +Gesicht, und wieder trampelte er mit den Füßen. „Sind Sie verrückt +geworden? übergeschnappt? Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau zu +reden?“ + +„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami erwürgt hat!“ rief die +junge Frau empört aus. Sie war in Tränen aufgelöst ob des Verlustes +ihres Amischka. „Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“ + +„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“ beteuerte +halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch. „Betrachten Sie mich, wenn Sie +wollen, als Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen, wenn +Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß Sie mir damit +einen großen Dienst erweisen. Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber +ich wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel ... das +heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich für den Liebhaber halten +darf ... Gott! Ich weiß wieder nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht +kränken wollen, Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie +sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist – dieses zarte +Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich da wieder! ... Ich will nur +sagen, daß ich ein Greis bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon +bejahrter Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich will damit +sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein kann, meine Gnädigste, daß +ein Liebhaber immer ^à la^ Mister Richardson oder ^à la^ Don Juan zu +sein pflegt, ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen doch +jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter Mensch bin, der die +Literatur kennt. Sie lächeln, meine Gnädigste. Es freut mich, es freut +mich ungemein, daß ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es +mich freut, daß Sie lächeln!“ + +„^Mon Dieu!^ Was das für ein komischer Mensch ist!“ bemerkte die Dame, +die sich die Lippen biß, um jetzt nicht wirklich laut aufzulachen. + +„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte, sichtlich +erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein Herzchen, weißt du, ich +denke, er kann kein Dieb sein. Aber wie ist er hierher gekommen?“ + +„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar noch mehr als +sonderbar! Wirklich, so etwas kommt sonst nur in Romanen vor! Wie? Um +Mitternacht in der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem +Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das nicht seltsam, +entsetzlich? ^À la^ Rinaldo Rinaldini, nicht wahr? Doch das hat nichts +auf sich, das hat alles nichts zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen +alles erzählen ... Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich +ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein ebenso +entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle und so kleinen Beinchen, +daß es keine zwei Schritte zu gehen vermag: es verwickelt sich sonst in +seinem eigenen Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit +Zuckerstückchen. Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich werde es +unfehlbar besorgen!“ + +„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen über den armen Iwan +Andrejewitsch. „^Mon Dieu, mon Dieu^, wie ist er komisch!“ + +„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum Lachen ... köch! und so +zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“ + +„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen glücklich! Ich +würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich wage es nicht, meine +Gnädigste, ich fühle, daß ich mich seither geirrt habe, in allem, doch +jetzt öffne ich die Augen! Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein +und unschuldig ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“ + +„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die ihr Lachen nicht mehr +meistern konnte. + +„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das hätte ich nicht gedacht! +Hahaha! Köch-köch-köch!“ + +„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem schuld ... das +heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich verdächtigte sie; ich wußte, +daß hier in diesem Hause ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten +Stockwerk, hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in meine Hände +geraten. Ich versah mich aber, ich dachte, vor der richtigen Tür bereits +angelangt zu sein, und da lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich +dessen versah ...“ + +„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“ + +„Hahahahaha!“ + +„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch zu lachen. „O, +wie glücklich ich bin! O, wie rührend es ist, uns alle so friedlich und +einträchtig miteinander zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß ich +jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest überzeugt. Nicht wahr, +so muß es doch sein, meine Gnädigste?“ + +„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer das ist?“ wandte sich +lachend und hustend der Alte an seine Frau. + +„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“ + +„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen, das mit +allen kokettiert! Das ist sie! Ich könnte wetten, daß das seine Frau +ist!“ + +„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere meinen; ich bin +vollkommen überzeugt davon ...“ + +„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann Ihre kostbare Zeit!“ +unterbrach ihn die Dame, indem sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie +doch! Gehen Sie nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“ + +„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach oben eilen. Doch ich +weiß, daß ich niemanden antreffen werde, gnädige Frau. Das kann nicht +meine Frau sein, davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause! +Ich allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen Eifersucht +zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder werde ich sie wirklich dort +antreffen, gnädige Frau?“ + +„Hahahahaha!“ + +„He–he–he! Köch-köch!“ + +„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an unserer Tür vorüberkommen, +dann treten Sie ein und erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder +nein: kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit: ich will sie +kennen lernen.“ + +„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich werde sie unfehlbar +mitbringen. Es hat mich sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich +bin glücklich und froh, daß alles so schnell und gut seine Lösung +gefunden hat!“ + +„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“ + +„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar bringen!“ beteuerte +Iwan Andrejewitsch, der bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein +Zuckerstückchen und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem +seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es hat mich sehr, sehr, +sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, sehr gefreut!“ + +Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand. + +„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie zurück ... köch-köch!“ rief +ihm plötzlich die heisere Stimme des Alten nach. + +Iwan Andrejewitsch kehrte zurück. + +„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen Sie, war er nicht unter +dem Bett, als Sie dort waren?“ + +„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens, es freut mich wirklich, +Ihre Bekanntschaft gemacht zu haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre +an ...“ + +„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer und niest! Man muß ihn +wieder einmal prügeln.“ + +„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei Haustieren sehr +angebracht.“ + +„Was?“ + +„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei Haustieren sehr +angebracht sind, um sie an Gehorsam zu gewöhnen.“ + +„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war alles, was ich wissen wollte, +besten Dank! Köch-köch!“ + +Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb er lange Zeit +regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte er im Augenblick einen +Schlaganfall. Dann nahm er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten +Schweiß von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich nach +Haus. + +Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause angelangt, erfuhr, +daß Glafira Petrowna schon längst aus dem Theater zurückgekehrt war, daß +ihre Zähne zu schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und nach +Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag und voll Ungeduld ihren +Gatten erwartete. + +Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn, dann verlangte er +Wasser und Bürsten, um sich zu waschen und zu reinigen, und erst nachdem +dies geschehen war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu +betreten. + +„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen! So sehen Sie +doch, wie Sie aussehen! Wo waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen: +während die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann in der +ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie? Oder waren Sie wieder auf +der Suche nach mir, um mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich +Gott weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn nicht? Das will +ein Mann sein! Bald wird man mit dem Finger auf Sie weisen!“ + +„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte er schon im +selben Augenblick eine solche Rührung, daß er nach seinem Taschentuch +greifen mußte, da es ihm zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft +gebrach ... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles +Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch +hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel! Er war sich dessen +gar nicht bewußt, daß er im Augenblick der größten Verzweiflung, als er +gezwungen war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines +Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art +Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen und somit +der Strafe zu entgehen. + +„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein totes Hündchen! Gott! +Woher kommt das? ... Was fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie +sofort, wo Sie waren!“ + +„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen eigenes Herz beinahe +stille stand, „Herzchen! ...“ + +Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen, denn hier setzt +etwas ganz Neues ein, das mit seinen früheren Abenteuern nichts +Gemeinsames hat. Es ist möglich, daß ich noch einmal alle diese +Unglücksfälle mit ihren Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen +Sie, meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht eine +unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr als das: sogar ein – +Unglück! ... + + + + + Das Krokodil + + + Eine außergewöhnliche Begebenheit + oder + Eine Passage in der Passage + +Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit, wie ein +gewisser Herr in der Passage von einem Krokodil ganz und gar +verschlungen wurde und welche Folgen das hatte. + + + I. + +Am dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach plötzlich um halb ein +Uhr mittags Jelena Iwanowna, die Gattin Iwan Matwejewitschs, meines +gelehrten Freundes, Kollegen und halb und halb sogar entfernten +Verwandten, den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man gegen eine +gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der Passage bewundern konnte, +mit eigenen Augen zu sehen. Iwan Matwejewitsch, der das Billett für +seine Reise ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen, als aus +Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits in der Tasche hatte, sich +also vom Dienst schon quasi entbunden betrachtete und sich demzufolge an +diesem Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte nicht nur +nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden, sondern entbrannte alsbald sogar +selber in reger Wißbegier für die Sehenswürdigkeit. + +„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen wir das Krokodil +in Augenschein! Es ist nicht übel, wenn man, bevor man ins Ausland +reist, erst einmal gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen +gelernt hat.“ + +Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin den Arm, um mit ihr +in die Passage zu gehen. Wie gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn +ich war und bin ja der Hausfreund. + +Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer Laune gesehen, als an +diesem denkwürdigen Vormittage, – wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht +ahnen, was uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte er sich +ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als wir beim +Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings in der Hauptstadt +eingetroffene Ungeheuer bewundern konnte, angelangt waren, wünschte er +aus eigenem Antriebe auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem +Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem noch nie von +ihm aus geschehen war. Wir wurden in ein nicht sehr großes Zimmer +geführt, in dem sich außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige +Kakadus und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere Affen +befanden. Gleich beim Eingang aber, links von der Tür, stand ein großer +Blechkasten – der Form nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein +starkes Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen Zoll tief +Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag ein riesengroßes +Krokodil, lag regungslos wie ein Balken und hatte in unserem feuchten, +ungastlichen Klima augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften +eingebüßt. Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge, daß es in +uns durchaus kein besonderes Interesse für sich hervorzurufen vermochte. + +„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna, fast mitleidig in +gezogenem Tone, „und ich dachte, daß es ... ganz anders aussähe.“ + +Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht hatte. + +Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers, ein Deutscher, +sehr stolz und sehr selbstzufrieden an. + +„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu, „denn ihm gebührt die +Ehre, augenblicklich der einzige Mensch zu sein, der in Rußland ein +Krokodil besitzt.“ + +Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs schreibe ich +gleichfalls seiner gehobenen Stimmung zu, da er sonst recht neidisch zu +sein pflegte. + +„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“ äußerte sich Jelena +Iwanowna, pikiert durch die Haltung des Deutschen, mit graziösem Lächeln +sich an ihn wendend, um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver, +das die Frauen ja so gern üben. + +„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem Russisch und +begann sogleich, indem er das Drahtnetz aufhob, mit einem Stückchen das +Krokodil auf den Kopf zu stoßen. + +Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum Beweise seiner +Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu bewegen, dann rührte es auch die +Vorderpfoten und erhob ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es +einen eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein langsames +Schnarchen erinnerte. + +„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche schmeichelnd, +sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe. + +„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich, als es sich zu +bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna noch koketter. „Jetzt werde ich +es womöglich im Traume sehen!“ + +„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte mit einem Anflug von +Galanterie der Deutsche, worauf er als erster über seine eigenen Worte +zu lachen begann; von uns jedoch lachte niemand. + +„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich Jelena Iwanowna +ausschließlich an mich, „sehen wir uns lieber die Affen an. Ich liebe +Affen über alles! Einzelne sind geradezu süß, sind so reizend! ... das +Krokodil aber ist einfach abscheulich.“ + +„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan Matwejewitsch nach, +dem es angenehm war, vor seiner Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser +schläfrige Landsmann Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er blieb +beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem Handschuh die Nase +des Krokodils, um es, wie er später selbst eingestand, zu veranlassen, +nochmals zu schnarchen. Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena +Iwanowna, als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus interessanteren +Affenkäfig. + +Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand hätte etwas Schlimmes +voraussehen können. Jelena Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin, +in das die Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise +auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an mich, um mich bald auf +diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam zu machen, von denen jeder +auffallende Ähnlichkeit mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben +sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die Ähnlichkeit war +bisweilen in der Tat ganz verblüffend. Nur der Menageriebesitzer, der +von Jelena Iwanowna als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen +oder ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum Schluß sehr +brummig. Doch gerade in dem Augenblick, als mir die Übellaunigkeit des +Deutschen auffiel, erschütterte plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich +kann sogar sagen, ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte nicht, +was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als ich hörte, daß auch +Jelena Iwanowna aufschrie – da wandte ich mich zurück und ... was +erblickte ich! Ich erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan +Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils, das ihn in der +Mitte des Körpers gefaßt hatte. Ich sah ihn nur noch einen Augenblick, +wie er, horizontal in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit den +Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden war. + +Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher schildern. +Während des ganzen Vorgangs stand ich wie ein lebloser Gegenstand, der +nur hörte und sah – deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich +nicht, jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem Vorgang +zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick tat. „Denn,“ dachte +ich bei mir – soviel Überlegungskraft besaß ich doch noch! – „wie, wenn +das, anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre – wie groß +würde dann die Unannehmlichkeit sein!“ Doch zur Sache. + +Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan Matwejewitsch in seinem +Rachen mit den Beinen zu sich drehte und dann einmal schluckte, – und +seine Beine waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es wie ein +Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren Iwan Matwejewitsch wieder ein +wenig hervorstieß, so daß dieser, der sich vergeblich bemühte, +herauszuspringen, sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte – +schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein Freund verschwand bis +zu den Lenden. Dann, nachdem es wieder aufgestoßen, schluckte es noch +einmal, und dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch vor +unseren Augen im Ungeheuer verschwand. Endlich, nachdem es zum +letztenmal geschluckt, hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund +tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der Oberfläche des +Krokodils Wölbungen hervor, an denen man erkennen konnte, wie Iwan +Matwejewitsch mit all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres +zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder aufzuschreien, als +das Schicksal sich noch einmal gewissenlos über uns lustig machte: das +Krokodil blähte sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene +Portion doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß seinen +entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen mit dem Aufstoß oder +gewissermaßen als dessen Personifikation noch einmal, zum letztenmal, +auf einen Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr und wieder +verschwand, sodaß wir nur eine Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht +gesehen hatten, von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des +Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser auf dem +Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast den Anschein, als sei dieser +verzweifelte Kopf nur deshalb hervorgekommen, um noch einmal, zum +letztenmal, einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt von +allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch die Frist war gar zu +kurz bemessen: das Krokodil hatte schon einige Kräfte gesammelt und +schluckte von neuem und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht +mehr zum Vorschein zu kommen. + +Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden Menschenkopfes +war so entsetzlich, gleichzeitig aber – sei es infolge der Überraschung, +der Geschwindigkeit oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es +so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte. Natürlich +besann ich mich sogleich – es ging doch nicht an, daß ich in meiner +Eigenschaft als Hausfreund in einem solchen Augenblick lachte! – wandte +mich daher schnell zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als +möglich: + +„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“ + +Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena Iwanownas während +des ganzen Vorgangs zu schildern, nicht gewachsen. Ich kann nur sagen, +daß sie nach dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener +Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig, nur mit weit +aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden Augen dem Vorgang zusah; +erst als das Haupt ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht +wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück und sie +begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte ich mir nicht anders zu +helfen, als ihre Hände zu erfassen und sie krampfhaft festzuhalten. In +diesem Augenblick erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er +griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie: + +„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen! Mutter, Mutter, +Mutter!“ + +Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“ erschien: eine +bejahrte, rotwangige Frau mit einer Haube auf dem Kopf, doch sonst +ziemlich unordentlich gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes +sah, stürzte sie ganz verstört herbei. + +Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna rief immer nur dies +eine Wort: „Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald +zum Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach anflehte – +wohl in einem Augenblick des Vergessens und der Selbstverleugnung – +irgend jemanden oder irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und +die „Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten wie die +Kettenhunde an ihrem Blechkasten. + +„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen ganzen Menschen +verschlungen!“ schrie der Besitzer des „Karlchen“. + +„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß sterben!“ jammerte +die Mutter. + +„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos geworden!“ schrie +wieder der Deutsche, und – + +„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die Mutter. + +„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen das Tier +schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna, die sich an den Rock des +Deutschen klammerte. + +„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr Mann mein Krokodil +gereizt?“ schrie der Deutsche. „Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen +Sie ihn mir bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen! Das war +mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“ + +Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des eingewanderten +Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner unordentlichen „Mutter“ nicht +wenig entrüstet war. Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte +Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt dachte ich an +die Möglichkeit, daß jeden Augenblick gerade aus einem der anstoßenden +Lokale der Passage, in dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein +Vegetarianer die Menagerie betreten konnte – und was konnte es da nicht +alles für Mißverständnisse geben, wenn sie noch lange fortfuhr, immer +nur diese eine Bitte flehentlich und angstvoll zu wiederholen? Und in +der Tat sollte es sich bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht +grundlos waren: Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang, +der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte, zur Seite gezogen +wurde und im Türrahmen eine bärtige Gestalt mit einer Beamtenmütze in +der Hand erschien, eine Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten +stand, sondern die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen +jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht war, +diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht wegen des +Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar nicht zu zahlen gewillt +war, vom Direktor der Menagerie belästigt zu werden. + +„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte, bemüht, das +Gleichgewicht nicht zu verlieren, „macht Ihrer geistigen Entwicklung +wenig Ehre und ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem Gehirn +zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen haben, wenn die +Repräsentanten des Fortschritts und der Humanität Sie in ihren +satirischen Zeitschriften der nötigen Kritik unterwerfen, und ...“ + +Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu beenden, denn als +der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen einen Menschen im +„Ausstellungsraume“ sprechen hörte, der für dieses Vergnügen nichts +gezahlt hatte, stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn, +den humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen +Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur noch ihre wortreiche +Auseinandersetzung hinter dem Vorhang. Doch der Deutsche kehrte sehr +bald zurück, um seine Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der +armen Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine Operation +seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten zu retten. + +„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch aufgeschlitzt werden +soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch Ihren Mann aufschlitzen! ... _Mein_ +Krokodil! Mein Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater hat +das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder zeigen, und so lange +ich lebe werde ich es gleichfalls zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich +bin in ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa bekannt, +deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden, Madame!“ + +„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau Mutter bei, „wir +werden Sie verklagen, wenn unser Karlchen platzt!“ + +„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“ wandte ich +ziemlich ruhig ein, um Jelena Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu +bewegen, nach Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan +Matwejewitsch wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in den +Gefilden der Seligen befinden.“ + +„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die Stimme Iwan +Matwejewitschs, die uns alle erstarren machte, „mein Freund, du +täuschest dich. Mein Rat wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses +Quartals zu wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser +Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“ + +Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem Tone gesprochen +waren und in dieser Lage doch eine seltene Geistesgegenwart verrieten, +waren so überwältigend, daß wir unseren Ohren nicht trauten. +Nichtsdestoweniger eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und +lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als unfreiwilliger +Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen. Seine Stimme klang wie +diejenige eines Menschen, der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen +vor den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das Gespräch +zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen Fluß getrennt sich von Ufer +zu Ufer allerlei zuschreien, – ein Scherz, den ich einmal auf einem +Polterabend das Vergnügen hatte, kennen zu lernen. + +„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du noch?“ fragte Jelena +Iwanowna bebend. + +„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan Matwejewitschs fernher +leise schreiende Stimme, „denn ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne +jede Körperverletzung verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur die +Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen werden; denn +wenn man das Billett zu einer Auslandsreise in der Tasche hat und dabei +nur in das Innere eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf +Scharfsinn schließen.“ + +„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen des +Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache ist doch, daß man +dich irgendwie von dort herauszieht.“ + +„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus. „Das lasse ich +einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal so viel Publikum geben und +ich werde fünfzig Kopeken statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und +Karlchen fällt’s nicht ein, zu platzen!“ + +„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu. + +„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch, „zuerst kommt das +ökonomische Prinzip.“ + +„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst laut zu, „ich werde +mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten begeben, denn mir ahnt, +daß wir allein hier nichts werden ausrichten können.“ + +„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch, „nur wird es in unserer +Zeit der Handelskrisis schwer halten, ohne finanzielle Entschädigung den +Leib des Krokodils aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage +aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil verlangen? Und +diese Frage zieht eine zweite nach sich: wer wird es bezahlen? Denn wie +du weißt, bin ich kein Kapitalist! ...“ + +„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte ich schüchtern +vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils unterbrach mich sogleich: + +„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich kann dafür dreitausend +Rubel verlangen, ich kann sogar viertausend verlangen! Jetzt wird das +Publikum herbeiströmen – ich kann auch fünftausend verlangen für mein +Krokodil!“ + +Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier leuchtete in +seinen Augen. + +„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich empört, zu. + +„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei Ossipytsch fahren +und ihn durch meine Tränen zu erweichen suchen!“ sagte Jelena Iwanowna +erregt. + +„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan Matwejewitsch +schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen Groll gegen diesen +Andrei Ossipytsch: er wußte, daß seine Frau sehr gern zu diesem +Allmächtigen gefahren wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen +zu zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir, Ssemjon +Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte ich gleichfalls abraten, +zu meinen Vorgesetzten zu gehen; man kann nicht wissen, was daraus +schließlich noch entsteht. Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch, +so, weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer und etwas +beschränkter Mensch, dafür aber solide und, was die Hauptsache ist, +gerade heraus. Grüße ihn von mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich +schulde ihm noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei also +so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das wird den Alten +günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns sein Rat zur Richtschnur dienen. +Jetzt aber sei so freundlich und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ... +Beruhige dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde geworden +von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen. Hier ist es zum Glück +warm und weich, obschon ich noch nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in +meinem neuen Heim umzusehen ...“ + +„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig, doch +sichtlich erfreut Jelena Iwanowna. + +„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“ antwortete der arme +Gefangene, „aber ich kann mit den Händen fühlen und mich hier tastend +orientieren ... Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir +nicht deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber, Ssemjon +Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her, und damit du es, bei deiner +bekannten Vergeßlichkeit, diesmal nicht wieder vergißt, binde dir +sogleich einen Knoten ins Taschentuch ...“ + +Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu können, denn +erstens war ich vom Stehen müde geworden und zweitens wurde es mir +allmählich langweilig. Ich reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die +durch die Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung +meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie. + +„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“ rief uns noch +der Deutsche nach. + +„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna, die in jeden +Spiegel zwischen den Schaufenstern der Passage einen Blick warf und sich +augenscheinlich dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst +aussah. + +„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer angeregter +Stimmung, stolz auf meine Dame, die neidisch von den Vorübergehenden +betrachtet wurde. + +„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit koketter Langsamkeit, +„ich habe nichts von alledem begriffen, was Iwan Matwejewitsch dort +sprach, namentlich nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“ + +„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich eilfertig und +begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung fremden Kapitals +auseinanderzusetzen, Ansichten, die ich am Morgen desselben Tages in den +„Petersburger Nachrichten“ gelesen hatte. + +„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich, als sie mir eine +Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie doch endlich auf, Sie +Plagegeist! Welch einen Unsinn Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich +sehr rot im Gesicht?“ + +„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die Gelegenheit, ihr eine +Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt vorübergehen zu lassen. + +„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der arme Iwan +Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen Pause fort, kokett das +Köpfchen auf die Seite neigend, „er tut mir wirklich leid. Ach, mein +Gott!“ rief sie plötzlich ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch, +wie wird er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ... wie wird +er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“ + +„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich, gleichfalls +bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese Möglichkeit noch gar +nicht gedacht. Da haben wir wieder einen Beweis dafür, daß in +Lebensfragen die Frauen weit praktischer sind als wir Männer!“ + +„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ... Und nun sitzt er da, so +ganz ohne Unterhaltung! Und außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie +dumm, daß ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich denn jetzt +eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit berückendem Lächeln, +sichtlich interessiert für ihren neuen Stand. „Hm! ... aber er tut mir +doch trotzdem leid! ...“ + +Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche und natürliche +Sehnsucht einer jungen, interessanten Frau nach ihrem Manne. Endlich +waren wir in ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen +Beruhigungsversuchen, während welcher ich mit ihr zu Mittag gespeist +hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen aromatischen Kaffees +auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch zu begeben, denn ich nahm an, daß +um diese Zeit alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen +sind. + +Übrigens: + +Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben habe, der mir +der betreffenden Erzählung angepaßt scheint, gedenke ich fernerhin einen +minder hochtrabenden anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon +ich den verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze. + + + II. + +Timofei Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher Eile und, wie es mir +schien, sogar Verwirrung. Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und +schloß die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht stören,“ sagte +er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer Handbewegung forderte er +mich auf, an seinem Schreibtisch Platz zu nehmen, während er sich selbst +in einen bequemen Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich +abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug und auf alle +Fälle eine gewissermaßen offizielle, fast sogar strenge Miene aufsetzte, +obgleich er doch weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter war, +sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar guten Bekannten +gegolten hatte. + +„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine Rede beendet hatte, +„muß ich Sie bitten, in Erwägung zu ziehen, daß ich kein Vorgesetzter +bin, sondern auf gleicher Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch +stehe ... Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb ich +mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“ + +Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber, daß er bereits alles +zu wissen schien. Nichtsdestoweniger erzählte ich ihm noch einmal die +ganze Geschichte, und zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr +erregt, denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen +Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne jede Verwunderung +zu, dafür aber mit allen Anzeichen des Mißtrauens. + +„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe schon immer vermutet, +daß gerade so etwas mit ihm geschehen würde.“ + +„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser Fall ist doch an sich, +sollte ich meinen, noch viel mehr als außergewöhnlich ...“ + +„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon immer, während seiner +ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade zu einem solchen Abschluß. Er war +gar zu hitzig, war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘ im +Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht man jetzt, wohin das +führt!“ + +„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich, man kann ihn +daher doch nicht als Beweis gegen alle fortschrittlich Gesinnten +ausspielen ...“ + +„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben Sie mir, was ich sage. +Das kommt, sehen Sie mal, von übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die +übermäßig Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken, +vornehmlich dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens ist es ja +möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er sich plötzlich, offenbar +gekränkt. „Ich bin schon alt und überdies nicht gar so gebildet; ich bin +Soldatenkind und habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich +mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“ + +„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie! Im Gegenteil, Iwan +Matwejewitsch wartet nur auf Ihren Rat, er vertraut sich ganz Ihrer +Leitung an. Er wartet nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen +tränenden Auges ...“ + +„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese Tränen werden wohl +Krokodilstränen sein, die man nicht ernst zu nehmen braucht. Weshalb, +sagen Sie mir das doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und +mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein Vermögen.“ + +„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei Ssemjonytsch,“ +versetzte ich mitleidig. „Er wollte ja nur auf drei Monate verreisen ... +in die Schweiz ... in die Heimat Wilhelm Tells ...“ + +„Wilhelm Tells? Hm!“ + +„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte die Museen +besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“ + +„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es einfach aus Stolz. Was für +Tiere denn? Tiere! Gibt es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben +Menagerien, Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in nächster Nähe von +Petersburg. Aber da ist er ja nun glücklich selbst in ein Tier +hineingeraten, und noch dazu in ein Krokodil!“ + +„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch ist im Unglück, der +Mensch wendet sich an Sie als Freund, wie man sich etwa an einen älteren +Verwandten wendet, er bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm +Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit Jelena Iwanowna Mitleid!“ + +„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes Dämchen,“ meinte Timofei +Ssemjonytsch, augenscheinlich etwas aufgeweckter, und schnupfte mit +Genuß seinen Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o ... rundlich, +und das Köpfchen hält sie immer so ein wenig zur Seite geneigt, so ein +wenig ... Ja. Sehr angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern +von ihr.“ + +„Er _sprach_ von ihr?“ + +„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken. Die Büste, sagte +er, der Blick, die Coiffure – ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein +Frauenzimmer, und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch +junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als wolle er +trompeten. + +„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen Mann, und sehen Sie, +was der sich plötzlich für eine exzentrische Laufbahn wählt ...“ + +„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes, Timofei +Ssemjonytsch!“ + +„Gewiß, gewiß.“ + +„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“ + +„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“ + +„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas, sagen Sie, was wir +tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener Mensch! Welche Schritte soll +man tun? Soll man durch die Vorgesetzten oder ...“ + +„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“ versetzte Timofei +Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen Rat zu hören wünschen, so muß man +die Sache zuerst vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn +der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen. Das ist +die Hauptsache, daß es sich hier um etwas Noch-nie-dagewesenes handelt, +es hat hierfür noch kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und +schon deshalb ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor allem +Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen. Man muß abwarten, +abwarten muß man ...“ + +„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch? Und wie, wenn +er dort erstickt?“ + +„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube ich, daß er sich dort +ganz behaglich fühle?“ + +Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von Anfang an. Timofei +Ssemjonytsch wurde nachdenklich. + +„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose in der Hand drehte. +„Meiner Ansicht nach kann es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang +abliegt, anstatt sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal in +Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig, dabei zu ersticken, +deshalb wäre es angebracht, gewisse Vorkehrungen zur Erhaltung der +Gesundheit zu treffen, sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen, +vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen betrifft, so ist er, +meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus in seinem Recht, denn es ist +_sein_ Krokodil, in das Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um +Erlaubnis zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht der +Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon übrigens dieser, +soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen hat. Nun, das Krokodil +ist aber in diesem Fall persönliches Eigentum, folglich kann man es +nicht so ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer den +geforderten Schadenersatz zu zahlen.“ + +„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“ + +„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also wenden Sie sich an +diese.“ + +„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch bei uns vermißt +werden. Man kann vielleicht irgendwelche Aufschlüsse von ihm verlangen, +ihn zu Rate ziehen wollen ...“ + +„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ... Zudem hat er ja jetzt Ferien, +folglich ignorieren wir ihn und sein Treiben, – mag er dort inzwischen +Europa besichtigen, was geht es uns an! Eine andere Sache ist es, wenn +er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint. Nun, dann werden wir +uns erkundigen, Nachforschungen anstellen ...“ + +„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich!“ + +„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat ihn gebeten, ins Krokodil +zu kriechen? Das käme ja schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm +noch eine Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen. +Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches Eigentum, folglich +tritt hier bereits das sogenannte ökonomische Prinzip in Aktion. Das +ökonomische Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach +Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka Andrejewitsch +ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie kennen doch Ignatij Prokofjitsch? +Ein Kapitalist, ^homme d’affaires^, und er redet, wissen Sie, ganz +vorzüglich. ‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘ Wir +müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst gebären. Dazu +müssen wir zuerst Kapital schaffen, das heißt, der Mittelstand, die +sogenannte Bourgeoisie muß geboren werden. Da wir aber hierzulande +selbst kein Kapital haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen. +Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die hier den +Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke kaufen wollen, mit +günstigeren Bedingungen entgegenkommen. ‚Dieses Gemeindewesen, wie wir +es jetzt haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen Besitz, +der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist einfach Gift,‘ sagte er, +‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen Sie, er redet so mit Feuer, mit +Temperament. Nun, ihm steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist +etwas anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘ sagt er, +‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere Landwirtschaft heben. Die +ausländischen Gesellschaften müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land +ankaufen und dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen, +teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘ – und wissen Sie, +er sagt das so kategorisch: _tei_–len, _tei_–len, sagt er und schneidet +so mit der Hand – ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern +verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben wollen. Oder auch +nicht einmal verkaufen, sondern einfach verpachten. Wenn dann das ganze +Land in den Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘ sagt er, +‚dann kann man jeden beliebigen Preis als Pacht ansetzen. Folglich wird +der Bauer allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten, wie er +jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt, kündigt man ihm. Folglich wird +er sich in acht nehmen, wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache +von dem, was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was fehlt +ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor Hunger nicht sterben +wird, na, und da faulenzt er eben und säuft. So aber würde hier Geld aus +allen Ländern zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine +Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung, The Times, die +vor nicht langer Zeit einen Artikel über unsere Finanzen gebracht hat, +daß unsere Finanzen sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen +Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel gibt und keine +arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij Prokofjitsch spricht gut, +das muß man ihm lassen. Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine +Schrift einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und nachher +will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen. Tja, das ist etwas +anderes als Gedichte machen, wie sie ein Iwan Matwejewitsch schreibt +...“ + +„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“ lenkte ich +wieder ein, nachdem ich den Alten hatte ausreden lassen. + +Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern einmal aus, um bei +der Gelegenheit zu beweisen, daß er nicht etwa zurückgeblieben, sondern +von allen neuen Strömungen wenigstens unterrichtet war. + +„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das ist es ja, wovon ich +rede. Da bemühen wir uns nun um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum +hat sich das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch Iwan +Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt jetzt die Gelegenheit +zu benutzen und den ausländischen Besitzer zu protegieren, im Gegenteil +nichts weniger als seinem Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich +bitt’ Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich Iwan +Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines Vaterlandes wäre, +aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen und stolz darauf sein, daß er +durch seine Person den Wert des ausländischen Krokodils verdoppelt oder +gar verdreifacht hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu einer +erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt es hier dem ersten, +dann wird auch der zweite nicht lange auf sein Erscheinen warten lassen, +und der dritte wird dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile +mitbringen, und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren. +Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja, man muß eben begünstigen, +begünstigen ...“ + +„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief ich aus, „Sie verlangen +ja eine ganz übermenschliche Selbstaufopferung vom armen Iwan +Matwejewitsch!“ + +„Ich _verlange_ nichts, und vor allem bitte ich Sie – wie ich es schon +einmal getan – nicht zu vergessen, daß ich nicht sein Vorgesetzter bin +und somit von niemandem etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn +meines Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘, wie +eine unserer großen Zeitungen sich nennt, sondern als gewöhnlicher Sohn +meines Vaterlandes. Und überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in +dieses Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein solider +Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen Rang erreicht hat, +außerdem rechtmäßig verheiratet ist, und plötzlich – solch ein Schritt! +Sagen Sie doch selbst!“ + +„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig, nur aus Versehen!“ + +„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse soll dem Deutschen +das Krokodil bezahlt werden? – wenn Sie mir das gefälligst sagen +könnten.“ + +„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“ + +„Wird das ausreichen?“ + +„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer zugeben. „Der +Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn er glaubte, sein Krokodil +würde platzen; dann aber, als er sich überzeugt hatte, daß alles +glücklich abgelaufen war, wurde er gerader größenwahnsinnig und freute +sich sehr über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“ + +„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum wird sich jetzt um +Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer ist nicht so dumm, daß +er das nicht auszunutzen verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan +Matwejewitsch vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich zu +übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er sich im Krokodil +befindet, aber möge man es nicht offiziell wissen. In dieser Hinsicht +trifft es sich sogar sehr gut, daß er offiziell als verreist gilt und +man ihn im Auslande glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er +sich im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht glauben. +Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache ist also nur: +abwarten. Ja, und es hat doch damit gar keine Eile ...“ + +„Aber wenn er zum Beispiel ...“ + +„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig ...“ + +„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“ + +„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es ein sehr +verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt man hier nicht vorwärts. +Aber das Schlimmste ist, daß wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben, +wie gesagt: uns fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur +einen einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches +ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden? Fängt man +an nachzudenken, so kann er lange warten ...“ + +Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke. + +„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich ihn, „daß man, wenn +er nun einmal im Bauche des Krokodils ist und dieses dank himmlischer +Vorsehung nicht früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen +eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als Dienst anrechne? +...“ + +„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet und +selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen braucht ...“ + +„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“ + +„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“ + +„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt, als sei er dorthin +abkommandiert ...“ + +„Was! – wohin?“ + +„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen zur Nachforschung +und Untersuchung der Tatsachen an Ort und Stelle. Das würde natürlich +etwas Neues sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde +es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“ + +Timofei Ssemjonytsch überlegte. + +„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere eines Krokodils +abzukommandieren, mit _besonderen_ Aufträgen, versteht sich, ist meiner +persönlichen Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht +vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge sein?“ + +„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung der Naturvorgänge +an Ort und Stelle, mitten im Leben sozusagen. Heutzutage ist doch +Naturwissenschaft Trumpf ... Da könnte er denn dort leben und alles +mitteilen ... nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich +geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten, oder sonst +etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial zu sammeln ...“ + +„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer analytischen +Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich sagen, daß ich nicht viel +davon verstehe, ich bin kein Philosoph. Sie sagen: Tatsachenmaterial, – +wir sind doch ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen nicht, +was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt, daß diese Statistik auch +noch gefährlich ist ...“ + +„Inwiefern denn das?“ + +„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie doch einsehen – würde er +die Tatsachen mitteilen, indem er auf der Seite liegt. Was ist aber das +für ein Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon wieder eine +Neueinführung, die außerdem gefährlich ist. Und weiter: es fehlt uns +jegliches Beispiel. Tja, wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild +nennen könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so ließe es +sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch machen, daß man ihn dorthin +abkommandiert.“ + +„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil nach Rußland +gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“ + +„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen, ist diese Ihre Einwendung +richtig und könnte sogar zur Basis eines entsprechenden Verfahrens in +dieser Angelegenheit dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder in +Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender Krokodile die Beamten +anfangen würden zu verschwinden, und bald würden sie alle verlangen, +zumal es dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden, um dann auf +der Bärenhaut liegen zu können ... das ist doch, nicht wahr, ein +schlechtes Beispiel! So kann ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um +auf diese Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“ + +„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort für ihn einlegen, +Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit: Iwan Matwejewitsch hat mich +gebeten, Ihnen eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren +es, glaube ich.“ + +„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch. Ich weiß. +Und wie guter Laune er damals war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“ + +Der alte Mann war aufrichtig gerührt. + +„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“ + +„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen, nur um zu +sondieren ... Aber übrigens – könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir, +inoffiziell, so auf Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer +nötigen Falles für sein Krokodil verlangen würde?“ + +Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden. + +„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie erlauben, werde ich +bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es erfahren habe.“ + +„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu Hause? Langweilt sich?“ + +„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“ + +„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und jetzt ist es ja eine +so günstige Gelegenheit ... Tja, was ihn nur geplagt haben mag, das +Krokodil zu besehen. Übrigens werde ich es mir doch auch einmal +anschauen müssen ...“ + +„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“ + +„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen meinen Schritt keine +Hoffnung machen. Ich werde eben nur als Privatperson hingehen ... Nun, +auf Wiedersehen, ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch; werden +Sie dort sein?“ + +„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“ + +„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist doch ein Leichtsinn, +ein Leichtsinn!“ + +Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken gingen mir durch +den Kopf. Dieser Timofei Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und +grundehrlicher Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich +doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern +konnte und solche Timofei Ssemjonytschs immerhin schon eine Seltenheit +bei uns geworden sind. + +Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage, um dem armen Iwan +Matwejewitsch das Ergebnis meiner Unterredung mit unserem erfahrenen +Kollegen mitzuteilen. Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier +nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich dort im Krokodil +eingerichtet und wie konnte ein Mensch überhaupt in einem Krokodil +leben? Wie war das möglich? Mitunter schien es mir wahrlich nur ein +ungeheuerlicher Traum zu sein, um so mehr, als es sich um ein Ungeheuer +handelte ... + + + III. + +Und doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare Wirklichkeit. Würde +ich es denn sonst überhaupt erzählen! Aber ich fahre fort ... + +Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich in der Passage +anlangte. In die Menagerie konnte ich nur durch eine Hintertür gelangen, +da der Besitzer seine „Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte. +Er selbst ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener +mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher. Man sah es ihm auf den +ersten Blick an, daß er nichts mehr befürchtete und das Publikum an +diesem Nachmittage sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“ +erschien erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es schien, nur +deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie und ihr Gatte steckten oft die +Köpfe zusammen und tuschelten geschäftig. Obschon die „Ausstellung“ +geschlossen war, verlangte er von mir doch noch die üblichen +fünfundzwanzig Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene +Akkuratesse! + +„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen. Das übrige Publikum zahlt +jetzt einen Rubel pro Person, von Ihnen aber nehme ich nur +fünfundzwanzig Kopeken, denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten +Freundes und Freundschaft respektiere ich ...“ + +„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut, indem ich den +Deutschen stehen ließ und zum Krokodil eilte. Im geheimen hoffte ich, +daß mein lauter Ruf bis zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe +schmeicheln würde. + +Ich hatte mich nicht getäuscht. + +„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der Tiefe des Raumes +zurück, oder wie unter einem Kissen hervor, obwohl ich fast schon beim +Krokodil angelangt war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ... +Wie steht es?“ + +Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann ihn eilig und +teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu überschütten: wie er sich fühle, wie +es denn dort im Krokodil aussehe und was dort im Magen noch außer +ihm sei? – wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes +Freundschaftsverhältnis verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig +unterbrach er mich. + +„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter heiserer +Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr unsympathisch war. Übrigens +hatte er sich mir gegenüber oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt. + +Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit allen Details, was +Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte. Übrigens bemühte ich mich doch, durch +den Tonfall meiner Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt +fühlte. + +„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch kategorisch, wie er +gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte. „Liebe praktische Menschen und +kann sentimentale Memmen nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben, +daß auch deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht ganz +barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen, das sowohl +wissenschaftlich wie sittlich neu ist. Doch jetzt nimmt das alles eine +andere, ganz unerwartete Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des +Gehalts zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“ + +„Nein, ich stehe.“ + +„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den Fußboden, und höre +aufmerksam zu.“ + +Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich hin, daß +die Beine laut aufschlugen. + +„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum hat es heute eine +Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte der Raum die Menschen gar nicht +fassen, die eintreten wollten. Der Ordnung halber erschien die Polizei. +Gegen acht Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die +Ausstellung, erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um sich +besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird es hier ein ganzer +Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen, daß mit der Zeit alle +gebildeten Leute unserer Hauptstadt, alle Damen der vornehmen +Gesellschaft, alle Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren +und Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das: man wird aus +allen Provinzen unseres großen, neugierigen Reiches herkommen, um das +Wunder anzustaunen. Daraus ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich +unsichtbar, doch die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse +belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung, mich als +Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen! Werde, um im Bilde zu +reden, ein Katheder sein, von dem herab ich die Menschheit unterweise. +Schon allein die naturwissenschaftlichen Aufschlüsse, die ich über das +von mir bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und deshalb +murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall, der mich hierherbefördert +hat, sondern hoffe, dank diesem Zufall, die glänzendste Karriere zu +machen.“ + +„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich trocken. + +Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich sprach, das +persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr gebrauchte, – so voll war er +von sich! Nichtsdestoweniger machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was +bildet sich dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu +empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch großtun!“ + +„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf meine Bemerkung, +„denn ich bin durchdrungen von großen Ideen. Kann erst jetzt zum +erstenmal in Muße über die Verbesserung der Lebensbedingungen der +Menschheit nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit und +das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine neue, meine eigene Theorie +für die ökonomischen Verhältnisse erfinden und stolz auf sie sein können +– was mir bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen +Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen, werde meine +Gegenbeweise vorbringen und ein neuer Charles Fourier werden. Hast du +Timofei Ssemjonytsch die sieben Rubel gegeben?“ + +„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so, daß allein schon +der Ton meiner Stimme sagte, daß ich seine Schuld aus meiner Tasche +bezahlt hatte. + +„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig. „Erwarte unbedingt +eine Gehaltserhöhung, denn wem sollte man sonst eine zusprechen, wenn +nicht mir? Ich bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. – Meine +Frau?“ + +„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena Iwanownas erkundigen?“ + +„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes Weib. + +Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch innerlich knirschend +erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna nach Hause begleitet und verlassen +hatte. Er unterbrach mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte. + +„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte er gereizt. „Werde ich +_hier_ berühmt, nun, so will ich, daß sie _dort_ berühmt werde. Alle +Gelehrten, Dichter, Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische, +alle Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir am Vormittage, +am Abend in ihrem Salon erscheinen. In der nächsten Woche muß sie jeden +Abend bei sich empfangen. Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel +geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr gut nur mit +Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen wir über den Kostenpunkt +weiter kein Wort zu verlieren. Hier wie dort wird man nur von mir reden. +Habe mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir reden machen +könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses Wunsches versagt, da ich +durch meinen Rang und meine Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank +dem einen ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht. Jedes +meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder Ausspruch erörtert, +weitergegeben, gedruckt werden. Werde mich ihnen offenbaren! Sie werden +begreifen, welche Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast +haben umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister sein und ein +ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen. Inwiefern, sag’ doch +selbst, inwiefern bin ich schlechter als irgend solch ein Garnier-Pagès +oder wie sie da heißen? Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein: +ich glänze durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und +Liebenswürdigkeit. ‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine Frau,‘ +werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend, _weil sie seine Frau ist_,‘ +werden die anderen den Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß +sie sich sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll, das +von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist, um über alles reden zu +können. Doch soll sie vor allen Dingen stets den Leitartikler in den +‚St. Petersburger Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des +‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen wird, mich +bisweilen mit dem Krokodil in den Salon meiner Frau zu bringen. Werde +dann auf dem Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon stehen +und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen an zurechtlegen kann, nur +so um mich werfen. Dem Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen; +mit dem Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen werde ich +unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja jetzt für ihre Männer ganz +ungefährlich bin. Allen übrigen werde ich als Vorbild dienen, als +Beispiel demutvoller Ergebung und Unterordnung meines Willens unter +denjenigen der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer glänzenden +literarischen Erscheinung machen, ich werde sie hervorheben und dem +Publikum erklären; als meine Frau muß sie die größten Vorzüge haben, und +wenn man mit Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset +nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere Eugenie Tour +nennen.“ + +Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein Iwan Matwejewitsch, +obschon dieser ganze Unsinn an den ehemaligen Iwan Matwejewitsch +erinnerte, zur Zeit, wenn auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so +doch hohes Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im Grunde war +es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch, nur – wie soll ich +sagen? – etwa durch ein zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen. + +„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst du, bei diesem Leben +ein hohes Alter zu erreichen? Und überhaupt, sage doch: bist du gesund? +Was ißt du, wie schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und du +wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich ist, um mein +Interesse nicht natürlich erscheinen zu lassen.“ + +„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“ widersprach er +ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem befriedigen. Du fragst, wie ich +mich hier im Leibe des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das +Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen Leeres erwiesen. +Sein Inneres besteht gleichsam aus einem großen leeren Sack, der an jene +Gummigegenstände erinnert, die man in den Schaufenstern der großen +Kaufläden an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht irre, auch +auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt sieht. Denn – sage es dir +doch selbst – wie könnte ich mich sonst hier aufhalten?“ + +„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung aus. „Ist das +Krokodil wirklich ganz leer?“ + +„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch streng und +nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit nach ist es das gemäß den +Gesetzen seiner Natur. Das Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen +Rachen, der mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen +Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau genommen. In der Mitte +aber zwischen diesen zwei Extremitäten ist ein leerer Raum, der von +einer kautschukartigen Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es +wirklicher Kautschuk ...“ + +„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber, das Herz?“ +unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt. + +„Davon gibt’s hier n–_nichts_, absolut nichts, und aller +Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas hier gegeben. +Alles das ist nur eine freie Erfindung der müßigen Phantasie +leichtsinniger Reisender. Wie man ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen +aufbläst, so kann ich jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist +bis zur Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als Hausfreund +hier Platz finden, wenn du so großmütig wärest, mir Gesellschaft leisten +zu wollen. Ich habe sogar daran gedacht, im äußersten Fall Jelena +Iwanowna hierher zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit +des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen Angaben überein. +Denn, nehmen wir zum Beispiel an, daß dir der Auftrag zuteil würde, ein +neues Krokodil zu schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die +Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils? Die Antwort +liegt auf der Hand: Menschen zu verschlingen. – Wie nun das Innere des +Krokodils zweckmäßig schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr +Menschen verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort noch +leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt, hat die Physik +bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet. Infolgedessen wird durch +diese Leere, die die Natur nicht duldet, die Funktion des Krokodils +hervorgerufen, denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben +kann, muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und folglich +greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in ihrem Bereich +befindet. Damit hast du den Grund, weshalb alle Krokodile Menschen +verschlingen. Das ist das Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch +gilt es selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders ist zum +Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel der Kopf eines +Menschen ist, um so weniger hat er das Bedürfnis, sich zu füllen, doch +ist das wiederum nur als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu +betrachten. Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und alles, +was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand erschlossen, durch +eigene Anschauung, während ich mich im Eingeweide der Natur selbst +befand, an der Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag +lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein, denn allein +schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit. Krokodil – Crocodillo +– ist zweifellos ein italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit +stammt, in der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort, das +offenbar das französische Wort ^croquer^ zur Wurzel hat. Was ich dir +soeben gesagt habe, gedenke ich als erste Lektion zu lesen, vor dem +Publikum, versteht sich, das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln +wird, wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“ + +„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine erleichternde +Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich. „Er hat Fieber, er +fiebert, er muß hochgradiges Fieber haben!“ dachte ich angstvoll. + +„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre eine Purganz in +meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz angebracht. Übrigens konnte ich es +mir denken, daß du unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“ + +„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt etwas zu dir +nehmen? Hast du heute zu Mittag gespeist?“ + +„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und werde +höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen. Doch auch dieses +ist durchaus erklärlich: indem ich das ganze Innere des Krokodils +erfülle, mache ich es auf ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang +nicht zu füttern. Und andererseits: indem das Krokodil durch mich satt +ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem Körper. Das ist +ungefähr dieselbe Ernährungsmethode, die raffinierte Schönheiten +anwenden, wenn sie zur Nacht ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts +bedecken, und dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder +frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So erhalte ich, +indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle Nahrungssäfte zurück, +folglich ernähren wir uns gegenseitig. Da es aber selbst einem Krokodil +schwer fallen dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu +verdauen, so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere im Magen +empfindet – obwohl es keinen Magen hat. Doch das tut nichts zur Sache. +Deshalb bewege ich mich hier so wenig als möglich, obschon mich nichts +hindern würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität. Diese +geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige, was ich an meinem +gegenwärtigen Zustande auszusetzen hätte, und im allegorischen Sinne hat +Timofei Ssemjonytsch durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der +Bärenhaut. Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend das Schicksal +der Menschheit umstürzen kann. Alle großen Ideen und alle neuen +Tendenzen unserer Zeitungen und Zeitschriften stammen augenscheinlich +von Leuten, die auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund, +weshalb man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens – gleichviel wie +man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz spezielles System erfinden, – du +ahnst nicht, wie leicht das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die +Einsamkeit zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten, die +Augen zu schließen, und im Nu hat man ein ganzes Paradies für die +Menschheit erfunden. Vorhin, als ihr mich verließt, machte ich mich +sogleich daran, zu erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich +ganze drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten. Es ist +wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen, man muß einfach alles +umstürzen; aber aus dem Krokodil heraus ist das so leicht; ja aus dem +Krokodil gesehen wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es +hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches: es +ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie mit Schleim bedeckt und +außerdem riecht es nach Gummi, ganz genau so wie meine alten Galoschen +vom vorigen Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln gibt +...“ + +„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was du da redest, erscheint +mir so wunderlich, daß ich kaum meinen Ohren traue. Aber sage mir doch +wenigstens das eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr +zu essen?“ + +„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du dich sorgst! Ich rede von +großen Ideen, du aber ... So höre denn, daß mich die großen Ideen +sättigen und die Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens +hat der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils, sich mit +seiner herzensguten Mutter beraten und da haben sie beide beschlossen, +mir jeden Morgen durch den Rachen des Krokodils ein gebogenes +Metallröhrchen zuzustecken, damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder +Bouillon mit aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist +bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der +Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus. Zu leben +aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn es wahr ist, daß ein +Krokodil so lange leben kann ... Jawohl! gut, daß ich das nicht +vergessen habe: sieh doch morgen in einer Naturgeschichte nach und teile +mir dann mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß ich +es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere verwechsle. Nur +eines erregt mein Bedenken: wie du weißt, bin ich angekleidet und zwar +ist mein Anzug aus russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel, +daher kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu kommt, daß +ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung mit meiner ganzen +Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise will ich mich nicht in +das verwandeln, in was sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein +solches Ende gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber, +daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist nicht +standhalten wird; er kann, als minderwertige russische Ware, früher +verwesen und dann würde ich ohne diesen äußeren Schutz trotz meines +ganzen Unwillens oder Willens, vielleicht doch verdaut werden, denn wenn +ich es auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde, so kann mich +doch in der Nacht, wenn der Wille mich im Schlaf verläßt, das +gewöhnliche Schicksal einer genossenen Kartoffel oder Fleischpastete +ereilen. Diese Möglichkeit, oder auch nur der bloße Gedanke an diese +Möglichkeit macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde müßte man +den Zolltarif ändern und den Import englischer Stoffe begünstigen, denn +da sie fester sind, würden sie den zersetzenden Einflüssen der Natur +länger Widerstand bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein +Krokodil hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches Projekt +bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne vorlegen und gleichzeitig +auch den Berichterstattern unserer Tageszeitungen. Mögen sie es +erörtern! Hoffe aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen +werden. Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze Schar dieser Leute +sich um mich drängen wird, um diesen Blechkasten, um meine Beurteilungen +der neuesten Telegramme zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen +lasse, gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die Zukunft im +rosigsten Licht ...“ + +„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir. + +„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine Ansichten kennen zu +lernen. „Du bist doch jetzt geradezu ein Gefangener in einem dunklen +Verließ, während der wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“ + +„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete Antwort. „Nur die +Wilden lieben Unabhängigkeit, weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn +es aber keine Ordnung gibt ...“ + +„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus. + +„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber, daß ich ihn +unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich mein Geist so hoch +emporgeschwungen wie jetzt. In meiner engen Wohnung fürchte ich +augenblicklich nur – die literarische Kritik unserer dicken +Tageszeitungen und den Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte, +daß die leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung, die +Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten, mich werden +lächerlich machen wollen. Doch ich werde Maßregeln zu ergreifen wissen. +Erwarte nur mit Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch +hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe morgen alle +Zeitungen mit, wenn du kommst!“ + +„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“ + +„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon Besprechungen zu +erwarten, gewöhnlich werden bei uns Neuigkeiten erst nach vier Tagen +besprochen. Doch von nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu +mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu benutzen. Du +wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich werde dir meine Gedanken +diktieren und Aufträge geben. Vor allen Dingen aber vergiß nicht die +neuesten Telegramme. Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen +Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst jetzt schlafen +wollen. Geh also nach Hause und denke darüber nach, was ich dir soeben +über die Kritik gesagt habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet +sich selbst in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und +tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal gehoben. +Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes, oder dieser und jener +zugleich – das wird meine zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“ + +So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte hohes Fieber +haben! – beeilte sich mein Freund Iwan Matwejewitsch, mich seine +Ansichten wissen zu lassen, jenen charakterschwachen alten Frauenzimmern +nicht unähnlich, von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis +bewahren können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was er da von der +inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt hatte, äußerst verdächtig +erschien. Wie war es möglich, daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz, +keine Lungen hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus +Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch nur, um mich zu +kränken, zu erniedrigen. Freilich war er krank, und zu einem Kranken muß +man gut sein, doch wenn ich anstatt gut offen sein will, so muß ich +sagen, daß ich meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen +können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit an, habe ich mich von +seiner Vormundschaft nicht befreien können. Tausendmal wollte ich ihm +den Laufpaß geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als hätte ich +im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend etwas beweisen oder irgend +etwas heimzahlen zu können. Ein wunderliches Ding war diese +Freundschaft! Ich kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu +neun Zehnteln aus Wut bestand. + +Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast gefühlvoll. + +„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir halblaut der +Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um mich hinauszugeleiten. Er +hatte die ganze Zeit aufmerksam unserem Gespräch zugehört. + +„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht vergesse: wieviel +würden Sie für Ihr Krokodil verlangen, im Fall man es von Ihnen kaufen +wollte?“ + +Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben mußte, schien mit +besonderer Spannung auf die Antwort zu warten. Offenbar wollte er nicht, +daß der Deutsche wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir +nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das entfernt an ein +Grunzen erinnerte. + +Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon hören, ja er wurde +sogar ärgerlich. + +„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung kaufen!“ schrie er, +im Jähzorn rot wie ein gekochter Krebs. „Ich will mein Krokodil +überhaupt nicht verkaufen! Geben Sie mir eine Million Taler – ich +verkauf’ es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler vom Publikum +eingenommen und morgen werde ich zehntausend Taler einnehmen und dann +hunderttausend Taler Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht +verkaufen!“ + +Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen. + +Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten Deutschen +scheinbar ganz kaltblütig, sich die Sache zu überlegen, zumal seine +Berechnungen meiner Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit +übereinstimmten, daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich +einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen sein müsse, und +damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt. Und außerdem stehe unser +aller Leben und Tod in Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch +noch irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken und sogar +sterben usw. usw. + +Der Deutsche wurde nachdenklich. + +„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“ meinte er dann +schließlich nach reiflicher Überlegung, „dann wird er nicht sterben.“ + +„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben Sie auch das in +Erwägung gezogen, daß Sie es mit der Polizei und dem Gericht zu tun +bekommen können? Die Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren +gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie haben nun die +Absicht, reich zu werden, haben Sie aber auch die Absicht, seiner Frau +eine Entschädigung, etwa eine Pension zu zahlen?“ + +„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen der +Deutsche. + +„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit merklicher Bosheit die +Mutter. + +„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer, jetzt sogleich und mit +einemmal eine zwar geringere, doch dafür sichere Summe zu empfangen, als +sich der Ungewißheit anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als meine +Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus persönlicher Neugier +frage.“ + +Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab sich mit ihr in den +fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem größten und widerlichsten aller +Affen stand, um sich dort flüsternd mit ihr zu beraten. + +„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in vielsagendem Tone zu mir. + +Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges Verlangen +verspürte, erstens den Deutschen gründlich zu verprügeln, zweitens, noch +gründlicher seine Frau; und drittens – am gründlichsten und +schmerzhaftesten meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen seiner +unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch nichts im Vergleich zu +der Antwort des habgierigen Deutschen. + +Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner besseren Hälfte +beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend Rubel, zahlbar in Papieren der +jüngsten inneren Anleihe, außerdem ein steinernes Haus an der +Gorochowaja, und zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und +außerdem noch den Rang eines russischen Obersten. + +„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich sagte es dir! +Ausgenommen den letzten unbegründeten Wunsch, hat er vollkommen recht, +denn wie du siehst, versteht er den Wert seines Eigentums richtig zu +schätzen. Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“ + +„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen zu, „so sagen +Sie mir doch, wozu Sie den Rang und Titel eines Obersten brauchen? Was +für eine Heldentat haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf, +welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich auf dem +Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem nicht einfach verrückt?“ + +„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter Würde aus. „Nein, +nicht verrückt, sondern sehr vernünftig, Sie aber sind das Gegenteil! +Ich habe den Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen +kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber kann ein +solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat gefüllt ist, der Welt +nicht zeigen! Ich bin ein sehr kluger Mensch und deshalb will ich ein +Oberst sein!“ + +„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend meinem Freunde zu +und eilte aus dem Ausstellungsraum. + +Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch an einem Haar hing. +Die hirnverbrannten Hoffnungen dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus +der Haut bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend und +meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich aus, rief energisch eine +Droschke heran, fuhr nach Haus, kleidete mich aus und ging zu Bett. Am +meisten ärgerte mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein +Sekretär zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen und +mich noch über das erhebende Gefühl, nur die Pflicht eines aufrichtigen +Freundes zu erfüllen, freuen! Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor +Ärger über mich, und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht +und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der Faust auf den +Kopf und noch auf andere Teile meines Körpers. Dieses verschaffte mir +bedeutende Erleichterung und endlich schlief ich ein, schlief sogar +ziemlich fest, denn ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele +Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber träumte mir von +Jelena Iwanowna ... + + + IV. + +Die Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur deshalb im Traum +belästigt, weil ich sie tags zuvor im Käfig beim Krokodilbesitzer +gesehen hatte; doch Jelena Iwanowna war ein besonderes Kapitel. + +Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese Dame; doch ich +beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen: ich liebte sie wie ein +Vater, nicht mehr und nicht weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich +daraus, daß ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen +oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie getan habe, so +hätte ich doch – wenn man einmal alles beichten soll! – ganz sicherlich +mich nicht geweigert, sie sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre +Lippen waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen +bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter Perlen, zwischen dem +Rot der Lippen schimmerten, wenn sie lachte. Und sie lachte sehr oft. +Iwan Matwejewitsch nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße +Absurdität“ – was man als eine durchaus gerechte und charakteristische +Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon und nichts weiter. Deshalb +blieb es mir auch unerklärlich, weshalb nun dieser selbe Iwan +Matwejewitsch in seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu +sehen begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ mein +Traum – abgesehen von den Affen – den angenehmsten Eindruck in mir, und +so beschloß ich, während ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des +letzten Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf dem Wege in +die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen, was ja übrigens in meiner +Eigenschaft als Hausfreund auch meine Pflicht war. + +In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach, das von ihnen „der +kleine Salon“ genannt wurde, obwohl auch der große Salon nur ein kleines +Zimmer war, saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen +Teetischchen in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna und trank +aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein kleines Biskuitplätzchen +bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie war verführerisch anzusehen, doch +schien sie mir etwas nachdenklich gestimmt zu sein. + +„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie mich mit zerstreutem +Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie +gestern? Wie haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem +Maskenball?“ + +„Waren _Sie_ denn gestern auf dem Maskenball? ... Ich ... ich pflege +keine Bälle zu besuchen ... zudem habe ich den Abend bei unserem +Gefangenen verbracht ...“ + +Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das Täßchen. + +„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen? ... Ach, so! ... Ja, der +Arme! ... Nun, was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ... ich +wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann doch jetzt eine +Scheidung verlangen?“ + +„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der Hand gefallen. „Dahinter +steckt der Brünette!“ dachte ich empört bei mir. + +Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem dunklen +Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung, der sie in letzter Zeit +auffallend oft besucht hatte und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu +gefallen verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für ihn +empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern abend entweder +mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht sogar hier in ihrer Wohnung +gewesen war und ihr bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den +Kopf gesetzt hatte! + +„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna plötzlich ungeduldig, und +alles, was sie sagte, schien ihr ein anderer gesagt zu haben, „wie wird +denn das sein, er wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein +ganzes Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier sitzen und +vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß zu Hause wohnen, aber nicht +in einem Krokodil ...“ + +„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann ich in +begreiflicher Erregung zu widersprechen. + +„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will nichts hören, nichts, +nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich jeden weiteren Einwand ab. „Sie +sind unausstehlich, ewig müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann +man wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie einem zu +raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß ich vollauf genügenden +Scheidungsgrund hätte, allein schon deshalb, weil doch Iwan +Matwejewitsch jetzt kein Gehalt mehr bekommen wird.“ + +„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief ich fast pathetisch +aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese Gedanken eingeflüstert? Und +übrigens wird ein so nichtssagender Vorwand, wie die Einbuße des +Gehalts, nicht als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme Iwan +Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram! Noch gestern +abend, während Sie sich auf dem Maskenball ihres Lebens freuten, sprach +er davon, daß er sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als +seine rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils zu +kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr geräumig erwiesen hat, +so daß nicht nur zwei, sondern sogar drei Menschen Raum in ihm hätten +...“ + +Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil meiner +letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch. + +„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung aus. „Sie wollen, daß +ich gleichfalls dorthin krieche! zu Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch! +Ja und wie sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und der +ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und wonach wird denn das +aussehen, wenn ich hineinkrieche und ... und jemand womöglich noch +zusieht? ... Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ... und wie ist +denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott, was Sie sich nicht ausgedacht +haben! ... Und was gibt es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen, +es rieche dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein, wenn wir beide +in Streit geraten? Da müssen wir doch beieinander liegen bleiben? Pfui, +wie widerlich das ist!“ + +„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit Ihnen, meine +teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich sie mit jenem begreiflichen +Eifer, der einen stets erfaßt, wenn man fühlt, daß man im Recht ist, +„nur haben Sie eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch +wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu sich ruft; folglich +handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche, treue, sehnsüchtige +Liebe ... Sie haben die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena +Iwanowna, die Liebe!“ + +„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will davon überhaupt +nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen, reizenden Hand, an der die +soeben gebürsteten und polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt +ab. „Pfui, wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum Weinen. So +kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es Ihnen dort so angenehm zu sein +scheint! Sie sind doch sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus +Freundschaft neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend +eine langweilige Wissenschaft ...“ + +„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken lustig,“ unterbrach +ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen, „Iwan Matwejewitsch hat mich +bereits zu sich eingeladen. _Sie_ würde die Pflicht hinführen, mich +dagegen nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch, als er mir +gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des Krokodils erzählte, deutlich +zu verstehen gegeben, daß er, da nicht nur zwei, sondern ganze drei +Menschen bequem dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund, +erwartet, und deshalb ...“ + +„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna und ihre Augen +blickten mich fragend an. „Ja, wie werden wir denn ... so alle drei dort +beisammen sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha! Ich würde +Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie Taugenichts, hahaha! Hahaha!“ + +Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen. Doch dieses Lachen +und diese Tränen waren so bezaubernd, daß ich nicht lange widerstehen +konnte und ganz begeistert nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen +zu bedecken, was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie +mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr. + +Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen, und ich schickte mich +an, ihr ausführlich alle ihre Person betreffenden Pläne Iwan +Matwejewitschs zu erzählen. Der Gedanke, in einem glänzenden Salon eine +auserlesene Gesellschaft zu empfangen, sagte ihr sehr zu. + +„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“ bemerkte sie lebhaft. +„Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir möglichst bald und möglichst viel +Geld senden soll ... Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie +nachdenklich fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in meinen Salon +bringen? Das ... das wäre doch lächerlich! Ich will nicht, daß man +meinen Mann in einem solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde +mich ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ... Nein, ich +will nicht, ich will nicht ...“ + +„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern Timofei Ssemjonytsch +bei Ihnen?“ + +„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten, und denken Sie +sich, wir haben die ganze Zeit Karten gespielt. Wenn er verlor, hatte +ich eine Bonbonniere gewonnen, wenn ich verlor, durfte er mir die Hände +küssen. Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie wohl: – fast +wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren, – nein, wirklich!“ + +„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn – wen bezaubern Sie nicht, +Sie Zauberin!“ + +„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien! Warten Sie, dafür +werde ich Sie zum Abschied einmal kneifen – das verstehe ich nämlich +vorzüglich. Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie sagten +vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von mir gesprochen?“ + +„N–n–nein, nicht gerade _sehr_ viel ... Ich muß gestehen, daß er jetzt +eigentlich mehr an das Schicksal der ganzen Menschheit denkt und die +Absicht hat ...“ + +„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich langweilt er sich +entsetzlich. Ich werde ihn einmal besuchen. Morgen vielleicht. Heute +geht es nicht: ich habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein +... Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau, und mit den +Fingern auf mich weisen ... Schrecklich! Nun, leben Sie wohl. Am Abend +werden Sie doch ... dort sein, bei ihm?“ + +„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“ + +„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei ihm und lesen Sie ihm +die Zeitungen vor. Zu mir aber kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin +nicht ganz wohl, oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten +besuchen, ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie Schwerenöter.“ + +„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“ dachte ich bei mir. + +In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste merken. Ich +tat, als wüßte ich überhaupt nicht, was Sorgen sind. Doch bald fiel es +mir auf, daß einige unserer fortschrittlichen Blätter an diesem +Vormittage auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine Kollegen +sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre vertieften. Die erste +Zeitung, die ich erhielt, war der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne +jede besondere Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human, +weshalb es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger aber +doch gelesen wurde. + +Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes: + +„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen Hauptstadt ein +äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen bestätigt hat. Ein +gewisser Gastronom, der zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den +die kulinarischen Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu bieten +vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien am Nachmittage in der +Menagerie unserer Passage, wo zurzeit ein großes, soeben erst hier +eingetroffenes Krokodil zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen +Rücksprache mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil +zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen Wassertier nur die besten +Stücke seiner saftigsten Körperteile – d. h. der Körperteile des +Krokodils – mit einem Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das +ganze Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht viel +gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger Begleiter, der +Ichneumon, gefolgt, denn weshalb sollte dieser nicht ebenso gut +schmecken? Wir haben natürlich gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den +ausländischen Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist, nichts +einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln, die bevorstehende größere +Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen zu haben. Die englischen +Lords und Reisenden fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande +etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften zusammen und +verzehren dann das ^à la^ Beefsteak zubereitete Rückenfleisch der Beute +mit Senf, Sauce und Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land +gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem Rückenfleisch vor +– vielleicht nur den Engländern zum Trotz, die ein mitleidiges Lächeln +nicht verbergen können, wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in +heißer Asche backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl +die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und können wir daher von +uns aus nur freudig diesen neuen Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an +einem solchen fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten +Vaterlande. Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte es wohl +kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu Hunderten importieren wird. +Weshalb sollte man sie übrigens nicht in Rußland akklimatisieren? Falls +das Newawasser für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so +gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb der Stadt noch +andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen. Weshalb sollten sie nicht z. +B. in Pawlowsk oder Pargolowo leben können, oder in Moskau, wo doch die +Pressnenskischen Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für unsere +Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel wären, würden +sie den an den Teichen spazierenden Damen eine interessante Zerstreuung +bieten und die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen Jahren +bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten Krokodile lassen sich zudem +die verschiedensten Gegenstände herstellen, wie z. B. Futterale, +Reisekoffer, Zigarettenetuis, Brieftaschen usw., und vielleicht wird +noch so manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten Sorte – +wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen – in Krokodilshaut +aufbewahrt werden. Hoffen wir, daß uns noch öfter Gelegenheit geboten +werden wird, auf dieses Thema zurückzukommen.“ + +Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte mich dieser +Artikel nicht wenig. Da niemand neben mir saß, mit dem ein +Meinungsaustausch möglich gewesen wäre, wandte ich mich an den mir +gegenübersitzenden Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß dieser +müßig auf seinem Platz und schien mich schon längere Zeit beobachtet zu +haben, die Zeitung „Woloß“ zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm +er von mir den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“, indem +er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete, auf den er +mich ersichtlich aufmerksam machen wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war +ein sehr eigentümlicher Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der +sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort sprach – obschon +sich das Sprechen in einer Kanzlei unter Kollegen schwer vermeiden läßt +– ein Mensch, der immer seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals +einem anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist bisher +noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß er ein einsames Leben +führt. + +Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht hatte, lautete wie +folgt: + +„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit Recht +fortschrittlich gesinnt und human nennen können und daß wir Europa in +dieser Beziehung nicht nachstehen wollen. Doch ungeachtet aller Wünsche +und der Bemühungen unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘ +zu sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern in der +Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich beweist. (Es sei hier +darauf aufmerksam gemacht, daß wir es bereits vorausgesagt haben.) + +Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer ein, der ein +lebendiges Krokodil mit sich führte, das jetzt in der Passage +ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich, den ausländischen Vertreter +dieses neuen, nützlichen und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem +großen Vaterlande zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen zu +heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags gegen fünf Uhr, wie uns +gestern gemeldet wurde, ein außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz +nüchternem Zustande (gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis, +und kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch dem +Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem vorher etwas +gesagt zu haben. Das Krokodil war durch seinen natürlichen +Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den Menschen zu verschlingen, da es +doch wohl nicht ersticken wollte. Doch der verschlungene Unbekannte +richtet sich im Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die +Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner +zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf den Unbekannten +Eindruck zu machen. Selbst der Ruf, man werde die Polizei holen, bleibt +erfolglos. Aus dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und die +Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (^Sic!^) Währenddem vergießt das +arme Tier, das gezwungen war, eine solche Masse zu verschlingen, ganz +vergeblich seine Tränen. „Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes +russisches Sprichwort, „ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen +des Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche Mensch will +seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen. Wir wissen nicht, wie wir +eine so barbarische Handlungsweise erklären sollen, was uns um so +peinlicher ist, als sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in +den Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder ein +glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen Natur. Jetzt fragt +es sich nur: was wollte der ungebetene Gast damit erreichen? Etwa einen +warmen und luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch +unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet sind: +sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen, eine Wasserleitung, die +die Mieter mit Newawasser versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und +nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier. Doch lenken +wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit unserer Leser auch noch auf +die rohe Behandlung des importierten Tieres. Natürlich wird es dem +Krokodil schwer fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt +es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch aufgeblasen von +der übergroßen verschlungenen Portion, und erwartet unter unerträglichen +Qualen den Tod. In Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich +bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung, unserer +neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind _wir_ noch immer in Unwissenheit +und Roheit befangen. + +‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile alt‘, um Gribojedoff +zu zitieren. Leider entspricht nicht einmal dieses vollkommen der +Wahrheit, denn auch die Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind. +Jedenfalls erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten Mal, daß +im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der Petersburger Seite die +Treppenstufen, die aus der Küche in die Wohnung führen, schon seit +langer Zeit verfault sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie +jetzt endlich eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja +Skapidarowa, die die Bedienung übernommen hatte und stets Gefahr lief, +von der Treppe zu fallen – namentlich wenn sie Wasser oder Holz +hineintrug – gestern abend gegen halb neun Uhr tatsächlich mit der +Suppenterrine gefallen ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider +wissen wir noch nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe +bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig, doch +können wir mitteilen, daß das Opfer dieser Schwerfälligkeit bereits ins +Hospital gebracht worden ist. Desgleichen ermüden wir nicht, darauf +aufmerksam zu machen, daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite +von den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden +deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen, zumal es nur geringe +Mühe kosten würde, den Schmutz, wie man es im Auslande tut, zu Haufen +zusammenzufegen,“ usw. usw. ... + +„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor Ssawitsch +anblickend. „Was soll das alles?“ + +„Was?“ + +„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch zu bedauern, +bemitleiden sie hier das Krokodil!“ + +„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein Tier, ein unvernünftiges +Tier bemitleidet. Inwiefern stehen sie jetzt noch Europa nach? Dort tut +man es doch ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte +sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach kein Wort +weiter. + +Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche und versorgte +mich außerdem noch mit mehreren alten Nummern der „Nachrichten“ und des +„Woloß“. An diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst. Zwar +war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich früher in die Passage +gehen, um wenigstens von weitem zu sehen, was dort vorging, um +Meinungsäußerungen des Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu +lernen. Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes Gedränge +geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle den Mantelkragen hoch, +denn aus irgend einem Grunde schämte ich mich, gesehen zu werden – so +wenig haben wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich fühle, daß +ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses außergewöhnliche Ereignis, +meine eigenen prosaischen Gefühle zum Ausdruck zu bringen. + + + + + Fußnoten + + +[1] Bekannter Musiker und Dirigent. E. K. R. + +[2] In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen Uniform. E. K. +R. + + + Anmerkungen zur Transkription + +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen +Fassung der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren Auflagen und +Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde transkribiert +nach: + + F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke. + Zweite Abteilung: Siebzehnter Band + R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918. + +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen +Werke“ vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den +ursprünglichen Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, +Copyright, Auflage usw. sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt +nach der Titelseite eingefügt. + +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. + +Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. +Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert. + +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen +(„“) eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von +Gesprächen wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. + +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: Der +Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben +„ja“. Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe wurde +vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): + + Ssamowar (Samowar) + +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. Weitere +Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben, sind hier +aufgeführt (vorher/nachher): + + [S. 38]: + ... Lebemannsleben fleißig geübt hat. Übrigens, ... + ... Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens, ... + + [S. 53]: + ... Zimmer eintretend! „Es ist er–staunlich, cher ami, ... + ... Zimmer eintretend. „Es ist er–staunlich, cher ami, ... + + [S. 87]: + ... dann nur ein einziges Mal Leben ... aber ... + ... dann nur ein einziges Mal im Leben ... aber ... + + + + +*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 *** diff --git a/76110-h/76110-h.htm b/76110-h/76110-h.htm new file mode 100644 index 0000000..78eb5a4 --- /dev/null +++ b/76110-h/76110-h.htm @@ -0,0 +1,17517 @@ +<!DOCTYPE html> +<html lang="de"> +<head> +<meta charset="UTF-8"> +<title>Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken | Project Gutenberg</title> + <link rel="coverpage" href="images/cover.jpg" type="image/x-cover"> + <!-- TITLE="Sämtliche Werke 17: Onkelchens Traum und andere Humoresken" --> + <!-- AUTHOR="Fjodor Dostojewski" --> + <!-- TRANSLATOR="E. K. Rahsin" --> + <!-- LANGUAGE="de" --> + <!-- PUBLISHER="Piper, München" --> + <!-- DATE="1918" --> + <!-- COVER="images/cover.jpg" --> + +<style> + +body { margin-left:15%; margin-right:15%; } + +div.frontmatter { page-break-before:always; margin:auto; max-width:30em; } +.logo { margin-top:3em; margin-bottom:1em; } +.ser { text-indent:0; text-align:center; letter-spacing:0.1em; } +.ed { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:5em; } +.ed .line1 { display:inline-block; border-top:2px solid black; padding-top:0.25em; + margin-top:0.25em; font-size:0.8em; } +.ed .line2 { font-size:0.8em; } +.division { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:3em; } +.aut { text-indent:0; text-align:center; font-weight:bold; font-size:1em; + padding-top:1em; margin-bottom:1em; } +h1.title { text-indent:0; text-align:center; } +.subt { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.trn { text-indent:0; text-align:center; margin-bottom:1em; } +.pub { text-indent:0; text-align:center; 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M. Dostojewski: Sämtliche Werke +</p> + +<p class="ed"> +<span class="line1">Unter Mitarbeiterschaft von Dmitri Mereschkowski,</span><br> +<span class="line2">Dmitri Philossophoff und anderen</span><br> +<span class="line3">herausgegeben von Moeller van den Bruck</span> +</p> + +<p class="trn"> +Übertragen von E. K. Rahsin +</p> + +<p class="division"> +Zweite Abteilung: Siebzehnter Band +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="aut"> +F. M. Dostojewski +</p> + +<h1 class="title"> +Onkelchens Traum<br> +und andere<br> +Humoresken +</h1> + +<div class="centerpic logo"> +<img src="images/logo.jpg" alt=""></div> + +<p class="pub"> +<span class="line1">München und Leipzig R. Piper & Co. Verlag</span> +</p> + +</div> + +<div class="frontmatter chapter"> +<p class="impr"> +R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918 +</p> + +<p class="cop"> +Copyright 1918 by R. Piper & Co., G. m. b. H.,<br> +Verlag in München und Leipzig +</p> + +<p class="printer"> +Druck von Mänicke u. Jahn in Rudolstadt. +</p> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="toc" id="part-1"> +Inhalt +</h2> + +</div> + +<div class="table"> +<table class="toc"> +<tbody> + <tr> + <td class="col1"><em>Vorwort</em></td> + <td class="col_page"><a href="#page-V">V</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Onkelchens Traum</td> + <td class="col_page"><a href="#page-1">1</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Die fremde Frau und der Mann unter dem Bett</td> + <td class="col_page"><a href="#page-243">243</a></td> + </tr> + <tr> + <td class="col1">Das Krokodil</td> + <td class="col_page"><a href="#page-321">321</a></td> + </tr> +</tbody> +</table> +</div> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="intro" id="part-2"> +<a id="page-V" class="pagenum" title="V"></a> +Vorwort +</h2> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> beiden ersten der in diesem Bande vereinigten komischen +Erzählungen stehen im Anschluß an Dostojewskis +humoristischen Roman „Das Gut Stepantschikowo“. Sie +teilen mit ihm die allgemeine humoristische Anschauung +und die Zeit der Entstehung: das Jahr 1848. Die Erzählung +„Die fremde Frau und der Mann unter dem +Bett“ bestand ursprünglich aus zwei getrennten Geschichten +(„Die fremde Frau“ und „Der eifersüchtige Gatte“), +die erst später von Dostojewski zu einer einzigen zusammengezogen +wurden, ohne daß ihm dies freilich gelungen wäre: +die Geschichte verrät in dieser ihrer jüngeren Fassung nach +wie vor einen Riß, der auf die erste, getrennte Anlage zurückzuführen +ist. +</p> + +<p> +Die Groteske „Das Krokodil“ ist eine politisch-gesellschaftlich-allgemeinrussische +Satire aus dem Jahre 1864. +Sie wurde wegen ihres humoristischen Untertones in diesen +Band mit eingestellt. +</p> + +<p class="sign"> +E. K. R. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-3"> +<a id="page-1" class="pagenum" title="1"></a> +Onkelchens Traum +</h2> + +</div> + +<p class="subt"> +Aus den Mordassoffschen Chroniken +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-1"> +<a id="page-3" class="pagenum" title="3"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">arja</span> Alexandrowna Moskalewa ist natürlich die +erste Dame in Mordassoff – darüber kann kein Zweifel +bestehen. Sie benimmt sich, als kümmere sie sich um +keinen Einzigen: im Gegenteil, als wären alle nur von +ihr allein abhängig. Freilich wird sie infolgedessen +auch von keinem Menschen geliebt. Freilich hassen sie +deshalb sogar sehr viele von ganzem Herzen. Aber +dafür wird sie von allen gefürchtet – und das ist es, +was sie gerade nötig hat. Ein solches Bedürfnis jedoch +ist, meine ich, ein Beweis hoher politischer Begabung. +Wie kommt es zum Beispiel, daß Marja Alexandrowna, +die den Klatsch über alles liebt und eine ganze Nacht +nicht schläft, wenn sie vorher nicht etwas Neues erfahren +hat: wie kommt es, frage ich, daß sie sich bei +alledem so zu benehmen weiß, daß bei ihrem Anblick kein +Mensch vermuten kann, in dieser imposanten Dame die +erste Klatschbase der Welt oder zum mindesten doch +Mordassoffs vor sich zu haben? O, ganz im Gegenteil: +man ist überzeugt, daß ihre bloße Anwesenheit jeden +Klatsch verbannen muß, daß etwaige Hinterbringer +erröten und wie Schulbuben vor dem Herrn Lehrer erzittern +werden und kein anderes Gespräch mit ihr möglich +ist, als eines über die höchsten Themata. Sie weiß +<a id="page-4" class="pagenum" title="4"></a> +z. B. von manchen Mordassower Honoratioren so +kapitale und skandalöse Dinge, daß, wenn sie sie bei Gelegenheit +erzählen und so beweisen würde, wie nur sie +allein Ähnliches zu beweisen versteht, in Mordassoff +sich ganz sicherlich das Erdbeben von Lissabon wiederholen +würde. Indessen ist sie aber sehr verschwiegen, +was diese Dinge anbetrifft, und erzählt sie höchstens, im +äußersten Fall, Freundinnen. Sie erschreckt nur den +Betreffenden, deutet an, daß sie wisse, und zieht es vor, +den Herrn oder die Dame in ewiger Angst zu erhalten, +anstatt sie endgültig zu vernichten. Das ist Klugheit, +das nennt man Taktik! Marja Alexandrowna zeichnet +sich unter uns durch ihr einwandsloses <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Comme-il-faut</span> +aus, das alle sich zum Vorbild nehmen. In dieser +Beziehung hat sie keine Rivalin in Mordassoff. Sie +versteht zum Beispiel, ihre Gegnerin mit irgend einem +einzigen Wort zu zerschmettern, zu vernichten, zu töten; +währenddessen aber tut sie, als hätte sie überhaupt +nicht bemerkt, daß sie das betreffende Wort ausgesprochen. +Bekanntlich ist dieser Zug nur der allerhöchsten +Gesellschaft eigentümlich. Kurz, in allen ähnlichen +Taktfragen hätte sie sogar einen Pinelli<a class="fnote" href="#footnote-1" id="fnote-1">[1]</a> glänzend +besiegt. Verbindungen hatte sie unzählige. Viele, die +Mordassoff besuchten, stiegen bei ihr ab, waren begeistert +von ihrem Empfang und korrespondierten nachher +noch lange mit der freundlichen Gastgeberin. Einer ihrer +Gäste hatte ihr Andenken in einem Gedicht verewigt, +das Marja Alexandrowna stolz jedem neuen Gaste +zeigte. Ein durchreisender Literat hatte ihr sogar eine +Novelle gewidmet, die er auf einer Abendgesellschaft +<a id="page-5" class="pagenum" title="5"></a> +bei ihr vorlas, was einen äußerst angenehmen und guten +Eindruck machte. Und ein deutscher Gelehrter +aus Karlsruhe, der uns absichtlich mit seinem Besuch +beehrte, um hierselbst eine besondere Würmerart mit +Hörnern, die es nur in unserem Gouvernement gibt, zu +erforschen, und der über diesen Wurm vier Bände in +Quart geschrieben hat, war von dem Empfang und +der Liebenswürdigkeit Marja Alexandrownas dermaßen +entzückt, daß er noch jetzt hochehrerbietige Briefe +aus der Stadt Karlsruhe an sie schreibt, die sie dann +natürlich nicht unbeantwortet läßt. Marja Alexandrowna +wurde in gewisser Beziehung sogar mit Napoleon +verglichen – dem Ersten. Versteht sich – nur +im Scherz und von ihren Feinden, mehr um der Karikatur +als um der Wahrheit willen. Dessen ungeachtet +– und obschon ich die ganze Seltsamkeit eines solchen +Vergleiches anerkenne, wage ich es doch, eine ganz unschuldige +Frage zu stellen: weshalb – bitte, mir darauf +zu antworten – weshalb wurde dem großen Napoleon +schließlich schwindlig, als er gar zu hoch hinaufgeklettert +war? Die Anhänger der alten Dynastie +schreiben das dem Umstand zu, daß Napoleon nicht +nur kein Sproß aus königlichem Hause, sondern nicht +einmal ein Gentilhomme von altem Geblüt war, und +daß es folglich nur natürlich sei, daß ihm die plötzliche +Höhe einen Schrecken eingejagt habe und ihm bei dem +Gedanken an seine geringe Herkunft und den ihn zukommenden +niedrigen Platz ganz von selbst schwindlig geworden +sei. Doch ungeachtet dieser geistvollen Erklärung, +die lebhaft an die Glanzzeit des alten französischen +Hofes erinnert, will ich es wagen, folgende +<a id="page-6" class="pagenum" title="6"></a> +Frage zu stellen: warum wird es Marja Alexandrowna +nie und unter keinen Umständen schwindlig und warum +bleibt sie immer und trotz aller Vorkommnisse die erste +Dame in Mordassoff? Es gab zum Beispiel Fälle, +in denen alle sagten: „Nun, jetzt wollen wir doch sehen, +wie Marja Alexandrowna sich diesmal aus der Affäre +ziehen wird!“ Doch siehe, die schwierigen Verhältnisse +kamen, bestanden, gingen vorüber – und es geschah +nichts! Alles blieb beim alten – oder es wurde sogar +noch besser. Zum Beispiel wird sich hier noch ein +jeder dessen erinnern, wie ihr Gemahl, Afanassij Matwejewitsch, +infolge von Unbegabtheit oder Schwachsinn +seine vorteilhafte Stellung einbüßte, da er durch +seine Antworten den Zorn eines ihm auf den Hals +geschickten Revisors erweckt hatte. Da glaubten denn +alle, daß Marja Alexandrowna den Mut verlieren, +kleinlaut werden, sich erniedrigen, bitten und betteln +würde. Doch nichts von alledem geschah: Marja Alexandrowna +sah ein, daß sie doch nichts mehr ausrichten +würde – und richtete sich so ein, daß sie ihren Einfluß +auf die Gesellschaft nicht im geringsten einbüßte, weshalb +ihr Haus jetzt denn auch immer noch als das erste +Haus in Mordassoff gilt. Die Frau unseres Staatsanwalts, +Anna Nikolajewna Antipowa, die geschworene +Feindin Marja Alexandrownas – dem Anschein nach +allerdings ihre größte Freundin – frohlockte damals +bereits über ihren Sturz. Als man aber sah, daß Marja +Alexandrowna sich nichts weniger als irre machen +ließ, da erriet man endlich, daß ihre Wurzeln viel tiefer +hinabreichten, als man anfänglich geglaubt hatte. +</p> + +<p> +Übrigens – da wir nun einmal auf Afanassij +<a id="page-7" class="pagenum" title="7"></a> +Matwejewitsch zu sprechen gekommen sind, will ich +auch über ihn einige Worte sagen. Vor allem muß ich +bemerken, daß er äußerlich eine sehr repräsentable Erscheinung +ist und sogar sehr gute Manieren hat – nur +hat er die Angewohnheit, in kritischen Augenblicken +etwas den Kopf zu verlieren, und dann sieht er einen +an, wie ein Schaf ein neues Hoftor. Er ist stattlich +und würdevoll, namentlich zu Geburtstagsdiners, wenn +er in weißer Binde erscheint. Leider aber währt der +gute Eindruck genau nur bis zu dem Augenblick, in dem +er den Mund auftut und das erste Wort spricht. Dann +– Verzeihung, aber es geht nicht anders – dann +würde man sich am liebsten ... sagen wir: die Ohren +zuhalten. +</p> + +<p> +Er ist es ganz entschieden nicht wert, Marja Alexandrowna +anzugehören: Das ist die allgemeine Meinung. +Einzig dank der Genialität seiner Frau hatte er denn +auch seine hohe Stellung einnehmen können. Meiner +Ansicht nach wäre sein Platz von Anfang an in einem +Gemüsegarten gewesen, wo er sich als Vogelscheuche +sehr vorteilhaft ausgenommen hätte. Dort, und zwar +ausschließlich dort hätte er seinem Vaterlande einen +wirklichen, unzweifelhaften Nutzen bringen können. Und +deshalb war es von Marja Alexandrowna sehr klug +gehandelt, als sie Afanassij Matwejewitsch auf ihr drei +Werst von der Stadt entferntes Gut schickte, wo sie +hundertundzwanzig Leibeigene besitzt – nebenbei bemerkt, +ihr ganzer Besitz und ihre einzige Einnahmequelle, +aus der sie alle Ausgaben bestreitet, die selbstverständlich +nicht gering sind, da sie doch nach wie vor +ein großes Haus macht. Man begriff sofort, daß sie +<a id="page-8" class="pagenum" title="8"></a> +ihren Gemahl einzig deshalb bis dahin bei sich gehalten, +weil er eine gute Anstellung hatte, ein gutes Gehalt +bezog und ... noch andere Einkünfte. Als es aber +mit dem Gehalt und den anderen Einkünften zu Ende +war, da wurde er als ein vollkommen untaugliches und +überflüssiges Möbel sofort entfernt. Die Folge davon +war, daß alle Marja Alexandrownas klares Urteilsvermögen, +ihre Entschlossenheit und Charakterstärke lobten. +Afanassij Matwejewitsch lebt jetzt dort auf dem +Lande wie im Wollkorbe. Ich habe ihn vor kurzem einmal +besucht und eine ganze Stunde sehr angenehm +mit ihm verbracht. Er bindet sich vor dem Spiegel verschiedene +weiße Halsbinden um, putzt eigenhändig seine +Stiefel – nicht weil er keine Bedienung hätte, sondern +nur aus Liebe zur Sache, denn er hat es gern, +wenn sie spiegelblank sind. Dreimal täglich trinkt er +Tee, nimmt mit besonderer Vorliebe ein Bad und ist +vollkommen zufrieden. Und entsinnen Sie sich noch +der unangenehmen Geschichte, die man sich vor etwa +anderthalb Jahren von Sinaïda Afanassjewna, der +einzigen Tochter Marja Alexandrownas und Afanassij +Matwejewitschs, erzählte? Sinaïda ist fraglos eine +Schönheit unter Schönheiten, ist vorzüglich erzogen, +aber – sie zählt schon dreiundzwanzig Jahre und ist +noch nicht verheiratet. Unter den Gründen, mit denen +man diese Tatsache zu erklären versucht, sind die dunklen +Gerüchte von gewissen sonderbaren Beziehungen +Sinas zu einem Kreisschullehrer – die auch jetzt noch +nicht ganz verstummt sind – sicherlich die am meisten +besprochenen. Man spricht noch immer von einem Liebesbrief, +den Sina geschrieben und der dann in Mordassoff +<a id="page-9" class="pagenum" title="9"></a> +von Hand zu Hand gewandert sei. Einstweilen +aber: wer hat denn diesen Brief oder Zettel – er soll +nicht lang gewesen sein – mit eigenen Augen gesehen? +Wenn er von Hand zu Hand gewandert ist, wo ist er +dann schließlich geblieben? Alle haben von ihm gehört, +gesehen aber hat ihn kein einziger. Ich wenigstens +habe noch keinen angetroffen, der ihn selbst gesehen +hätte. Macht man Marja Alexandrowna eine diesbezügliche +Andeutung, so versteht sie einen einfach nicht. +Nehmen wir aber jetzt an, daß Sina tatsächlich einen +solchen Zettel geschrieben – ich glaube sogar bestimmt, +daß sie es getan hat – muß man dann nicht alle Hochachtung +haben vor der Diplomatie Marja Alexandrownas? +Wie geschickt und mit welcher Sicherheit sie dem +unangenehmen, skandalösen Klatsch die Spitze abzubrechen +verstanden hat! Kein Wort, keine Andeutung +ihrerseits! Sie schenkt jetzt dieser ganzen schmutzigen +Verleumdung überhaupt keine Aufmerksamkeit mehr! +Indessen aber – nur Gott allein wird es wissen, wie sie +gearbeitet hat, um die Ehre ihrer einzigen Tochter unbefleckt +zu erhalten. Und andererseits: ist es denn +nicht sehr begreiflich, daß Sina noch nicht geheiratet +hat: was gibt es denn hier für Freier? Und Sina +kann doch nur einen Erbprinzen heiraten! Hat jemand, +frage ich nochmals, je im Leben eine solche Schönheit +gesehen? Freilich ist sie stolz, sogar sehr stolz. Man +sagt, Mosgljäkoff werbe um sie, aber es ist nicht anzunehmen, +daß sie ihn heiraten wird. Was ist denn dieser +Mosgljäkoff? Nun ja, – ein junger Mann, nicht +häßlich, ein Fant, hundertfünfzig Leibeigene, ohne +Schulden, Petersburger. Aber immerhin – der Kopf ist +<a id="page-10" class="pagenum" title="10"></a> +nicht viel wert. Leichtsinnig, schwatzhaft, mit irgendwelchen +allerneuesten Ideen! Und was sind denn +schließlich hundertfünfzig Seelen – und noch dazu bei +den neuesten Ideen! Nein, ich habe es gleich gesagt +– aus dieser Heirat wird nichts! +</p> + +<p> +Alles, was mein verehrter Leser bis jetzt gelesen hat, +ist von mir vor ganzen fünf Monaten geschrieben worden, +und zwar nur aus Begeisterung. Ich will es +nicht verhehlen, daß ich für Marja Alexandrowna eine +kleine Schwäche habe. Ich hatte eigentlich die Absicht, +etwas in der Art einer Verherrlichung dieser großen +Frau zu schreiben, vielleicht in der Form eines +scherzhaften Briefes an einen Freund, nach dem Muster +der Briefe, die in der alten, goldenen, doch – Gott +sei Dank! – unwiederbringlichen Zeit in der „Nordischen +Biene“ und ähnlichen Zeitschriften erschienen. +Da ich nun aber keinen einzigen Freund besitze und +mir außerdem noch eine gewisse literarische Schüchternheit +angeboren ist, so blieb mein Manuskript in meinem +Schreibtischfach als literarischer Versuch und als Erinnerung +an eine friedliche Zerstreuung in Stunden der +Muße und des Vergnügens liegen. Inzwischen vergingen +fünf Monate, bis schließlich eines Tages unsere +liebe Stadt ein großartiges Ereignis erlebte: früh morgens +rollte eine Equipage durch die Straßen: Fürst K. +kam an und stieg im Hause Marja Alexandrownas ab. +</p> + +<p> +Die Folgen dieses Besuches waren unabsehbar. Der +Fürst hielt sich nur drei Tage in Mordassoff auf, doch +diese drei Tage sind uns allen unauslöschlich in der Erinnerung +geblieben. Ja ich kann sogar sagen, daß der +Fürst in gewissem Sinne unsere ganze Stadt umgekehrt +<a id="page-11" class="pagenum" title="11"></a> +hat. Die Wiedergabe dieses Ereignisses wird natürlich +die bemerkenswertesten Seiten in den Annalen der Stadt +Mordassoff ausmachen. Diese Seiten nun literarisch +zu verarbeiten und dem Urteil der hochverehrten Leser +zu unterbreiten, habe ich mich jetzt nach einigem +Schwanken endgültig entschlossen. +</p> + +<p> +Meine Erzählung umfaßt die ungekürzte bemerkenswerte +Geschichte der Erhöhung, des größten Ruhmes +und des feierlichen Falles Marja Alexandrownas und +ihres ganzen Hauses in Mordassoff, ein würdiges und +für einen Schriftsteller verführerisches Thema. Versteht +sich, vorher muß ich noch erklären, weshalb es ein +solches Ereignis war, daß der Fürst K. in die Stadt +gefahren kam und bei Marja Alexandrowna abstieg. +Zu dem Zweck jedoch muß ich etwas ausführlicher von +der Person des Fürsten erzählen. So werde ich es +auch tun. Zudem ist die Kenntnis der Lebensgeschichte +dieses Fürsten durchaus erforderlich, um im ferneren +Verlauf der Dinge sich manches erklären zu können. +Also, ich beginne. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-2"> +<a id="page-12" class="pagenum" title="12"></a> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">I</span><span class="postfirstchar">ch</span> muß vorausschicken, daß Fürst K. den Jahren +nach durchaus noch kein Greis war. Doch dessenungeachtet +kam einem bei seinem Anblick unwillkürlich der +Gedanke, daß er sogleich auseinanderfallen müsse: dermaßen +verlebt oder verbraucht war der Mann und sah +er aus. In Mordassoff hat man sich von diesem Fürsten +stets äußerst sonderbare, mitunter selbst phantastische +Dinge erzählt. Es hieß sogar einmal, der alte +Herr sei irrsinnig geworden. Am sonderbarsten fanden +aber alle, daß ein so reicher Gutsbesitzer, der viertausend +Seelen besaß, unter seinen Verwandten bekannte +Würdenträger hatte und folglich, sobald er nur +gewollt hätte, eine große Rolle im Gouvernement hätte +spielen können, auf seinem prächtigen Gut von aller +Welt völlig zurückgezogen lebte. Viele Honoratioren +hatten ihn vor sechs oder sieben Jahren gekannt, als +er eine Zeitlang in unserer Stadt gelebt hatte, und sie +versicherten, daß er damals Einsamkeit nicht habe ertragen +können und alles eher als ein Einsiedler gewesen +sei. +</p> + +<p> +Doch wie dem auch sei, jedenfalls habe ich aus +glaubwürdigster Quelle Folgendes von seiner Lebensgeschichte +erfahren: +</p> + +<p> +<a id="page-13" class="pagenum" title="13"></a> +Einmal in jungen Jahren, was übrigens schon lange +her ist, war der Fürst in glänzendster Weise ins Leben +eingetreten, hatte gejeut, geliebt, war mehrmals im +Auslande gewesen, hatte Romanzen gesungen, Bonmots +gemacht und sich nie durch glänzende Geistesgaben ausgezeichnet. +Wie es sich wohl von selbst versteht, verlebte +er sein ganzes Vermögen, so daß er sich, als das Alter +kam, plötzlich ohne eine Kopeke sah. Da hatte ihm +irgend jemand den Rat gegeben, auf sein Gut überzusiedeln, +das bereits versteigert werden sollte, und so +war er denn nach Mordassoff gefahren und hatte dort +ganze sechs Monate verlebt, ohne an die Weiterfahrt +zu denken. Das Provinzleben hatte ihm sehr gefallen und +die Folge davon war, daß er in diesem halben Jahr +das Letzte, was ihm noch geblieben war, gleichfalls +durchbrachte, da er weder auf das Jeu, noch auf verschiedene +Intimitäten mit – diesmal Provinzdamen +verzichten konnte. Hinzu kommt, daß er ein gutmütiger +Mensch war, freilich nicht ohne einige besondere +fürstliche Gewohnheiten unangenehmer Art, die +aber in Mordassoff für als ausschließlich der höchsten +Gesellschaft eigen angesehen wurden, und daher, statt +Verdruß zu erwecken, sogar einen guten Eindruck machten. +Namentlich die Damen waren von ihrem lieben +Gast außerordentlich entzückt. Man bewahrte gar +manche interessante Erinnerung an ihn. Unter anderem +erzählte man, daß der Fürst einen halben Tag zum +Ankleiden brauche und der ganze Mensch aus zusammensetzbaren +Stücken bestände. Niemand wußte sich +zu erklären, wann und wo er sich aller der ihm fehlenden +Körperteile zu entledigen vermocht hatte. Er trug +<a id="page-14" class="pagenum" title="14"></a> +eine Perücke, falschen Schnurr- und Backenbart, und +sogar die Fliege a la Mazarin unter der Unterlippe war +unecht. Ihm war buchstäblich jedes Haar angeklebt +und jedes glänzte im schönsten Schwarz. Er schminkte +und puderte sich täglich. Es wurde sogar behauptet, +daß er mittels gewisser kleiner Federn, die in seinen +Haaren unsichtbar angebracht sein sollten, die Runzeln +in seinem Gesicht glätte. Auch hieß es, daß er ein +Korsett trage, da er bei einem ungeschickten Sprung aus +dem Fenster – während eines Liebesfeldzuges in Italien +– sich ein paar Rippen gebrochen habe. Mit +dem linken Fuß hinkte er. Es wurde behauptet, +daß sein linker Fuß unecht sei und er den echten in +Paris gleichfalls bei Gelegenheit eines Liebesabenteuers +eingebüßt habe und zum Ersatz ihm ein Holz- +oder Korkfuß angesetzt worden sei. Aber schließlich, +was wird nicht alles erzählt? Tatsache war jedoch, +daß sein rechtes Auge ein Glasauge war, natürlich ein +sehr teures, sehr kunstvoll gearbeitetes. Seine Zähne +waren alle unecht. Ganze Tage lang wusch er sich mit +den verschiedensten patentierten Flüssigkeiten, parfümierte +und pomadisierte sich unermüdlich. Übrigens +entsinnt man sich, daß der Fürst damals schon merklich +gealtert war und entsetzlich schwatzhaft wurde. Seine +Zukunft war, wie man meinte, hoffnungslos. Alle +wußten, daß er nichts mehr besaß. Da sollte es aber +geschehen, daß gerade zu der Zeit eine seiner Verwandten, +eine uralte Greisin, die beständig in Paris +lebte und von der er eigentlich nichts zu erwarten +hatte, – starb, nachdem sie vor ausgerechnet einem +Monat ihren einzigen Erben begraben hatte. So wurde +<a id="page-15" class="pagenum" title="15"></a> +plötzlich und unerwartet der Fürst ihr gesetzmäßiger +Universalerbe. Viertausend Seelen und ein wundervolles +Gut, sechzig Werst von unserer Stadt gelegen, erhielt +er ganz allein. Ohne lange zu säumen, machte er +sich nach Petersburg auf, um dort die Angelegenheit zu +erledigen. Zum Abschied gaben unsere Damen ihrem +lieben Gast noch ein glänzendes Diner, das sie gemeinsam +bezahlten, wozu eine Kollekte veranstaltet worden +war. Der Fürst, sagt man, sei an diesem Abend +bezaubernd liebenswürdig gewesen, habe gescherzt und +gelacht und die ungewöhnlichsten Anekdoten erzählt. +Zum Schluß habe er versprochen, sich so bald als möglich +in Duchanowo, so hieß sein neues Gut, niederzulassen, +und dann – darauf habe er sein Wort gegeben +– würde er fortwährend Feste, Picknicks, Bälle +und italienische Nächte mit Feuerwerk und Lampions +veranstalten. Ein ganzes Jahr lang nach seiner Abfahrt +sprachen die Damen nur von den verhießenen +Freuden und erwarteten ihren alten Freund mit größter +Ungeduld. Inzwischen aber begnügte man sich mit +kurzen Ausfahrten nach Duchanowo, wo das alte Herrenhaus +und der große Park besichtigt wurden. In +diesem Park gab es Akazienhecken, die zu Löwen und +anderen Tieren zurechtgestutzt waren, künstliche Hünengräber, +Teiche, auf denen sich Boote schaukelten mit +holzgeschnitzten Türken, die Hirtenflöten bliesen, Lauben, +Pavillons, Monplaisirs und noch viele andere +Späße. +</p> + +<p> +Endlich kehrte der Fürst zurück, doch zur allgemeinen +Verwunderung und Enttäuschung zeigte er sich +nicht einmal in der Stadt, sondern ließ sich auf seinem +<a id="page-16" class="pagenum" title="16"></a> +Gut nieder und lebte wie ein Einsiedler. Alsbald verbreiteten +sich sonderbare Gerüchte, und überhaupt kann +man sagen, daß die Lebensgeschichte des Fürsten seit +eben dieser Zeit schleierhaft und phantastisch wird. So +erzählte man denn, daß er in Petersburg nicht gerade +Glück gehabt habe, daß einige seiner Verwandten und +dereinstigen Erben ihn wegen seiner Geistesschwäche +unter irgend jemandes Vormundschaft hätten stellen +wollen, wahrscheinlich aus Furcht, daß er wieder sein +ganzes Vermögen durchbringen könne. Ja einige behaupteten +sogar, daß man ihn in eine Irrenanstalt habe +einsperren wollen, doch einer seiner Verwandten, ein +angesehener Mann, sei für ihn eingetreten und habe den +anderen klar bewiesen, daß der arme Fürst, von dem +ja ohnehin nur noch die eine Hälfte lebe, wahrscheinlich +bald von selbst sterben würde – und dann bekämen sie +das Gut auch ohne Irrenhaus. Doch ich sage nochmals: +wird denn wenig in der Welt geklatscht und noch +dazu bei uns in Mordassoff! Diese Gerüchte von dem +Vorhaben seiner Verwandten sollen den armen Fürsten +so kopfscheu gemacht haben, daß er auch seinen Charakter +vollkommen änderte und wie ein Einsiedler lebte! +Einige unserer Spitzen der Gesellschaft waren mit +Glückwünschen zu ihm aufs Gut gefahren: doch sie waren +entweder überhaupt nicht, oder in sehr seltsamer +Weise empfangen worden. Der Fürst, sagt man, habe +seine früheren Bekannten nicht einmal erkannt oder +habe sie nicht erkennen wollen. +</p> + +<p> +Eines Tages fuhr auch unser Gouverneur zu ihm. +Er kehrte mit der Nachricht zurück, daß der Fürst seiner +Meinung nach tatsächlich „etwas verdreht“ sei, und er +<a id="page-17" class="pagenum" title="17"></a> +machte später jedesmal ein schiefes Gesicht, wenn man +ihn an seine Fahrt nach Duchanowo erinnerte. Die +Damen sprachen laut ihren Unwillen darüber aus. +Endlich erfuhr man einen Umstand von erschütternder +Wichtigkeit, und zwar: daß irgendeine unbekannte Stepanida +Matwejewna sich des Fürsten bemächtigt habe, +Gott weiß was für eine Weibsperson, die aus Petersburg +mit ihm angekommen war, dick und bejahrt, die +nur in Kattunkleidern und mit dem Schlüsselbund in +der Hand umherging; daß der Fürst ihr in allem wie +ein Kind gehorche und ohne ihre Erlaubnis keinen +Schritt zu tun wage; daß sie ihn sogar eigenhändig bediene, +sehr verwöhne, auf den Händen umhertrage und +wie einen Säugling einlulle, und schließlich, daß sie +es sei, die jeden Besuch von ihm fernhalte, namentlich +seine Verwandten, die jetzt, wie begreiflich, zum Zweck +verschiedener Nachforschungen von Zeit zu Zeit nach Duchanowo +kamen. In Mordassoff wurde viel über diese +unbegreifliche Verbindung gesprochen, besonders seitens +der Damen. Zu alledem wurde noch hinzugefügt, +daß Stepanida Matwejewna das ganze Gut des Fürsten +unumschränkt und eigenmächtig verwalte, ungefragt +das Wirtschaftspersonal, die Dienstboten, Verwalter +und Förster absetze und die Einnahmen empfange +– doch mache sie alles so gut, daß die Leibeigenen +ihr Schicksal geradezu priesen. +</p> + +<p> +Was nun den Fürsten selbst anbetrifft, so wußte +man, daß er seine Tage fast ausschließlich im Ankleidezimmer +zubrachte und sich nur mit dem Anpassen +von Perücken und Fracks beschäftigte, daß er die übrige +Zeit in der Gesellschaft Stepanida Matwejewnas verbringe, +<a id="page-18" class="pagenum" title="18"></a> +mit ihr Karten spiele, sich die Karten lege, hin +und wieder auf einer frommen englischen Stute ausreite, +wobei ihn Stepanida Matwejewna unfehlbar in +einem gedeckten Wagen begleite – „für alle Fälle“, +versteht sich: denn der Fürst reite nur aus Eitelkeit, +könne sich aber kaum noch im Sattel halten. Zuweilen +hatte man ihn auch zu Fuß ausgehen sehn, in einem +eleganten Paletot, breitkrämpigem Strohhut, rosafarbenem +Damenhalstuch, mit seinem Monokel im +Auge, mit einem Körbchen für die gesammelten Pilze, +und mit Kornblumen in der linken Hand. Stepanida +Matwejewna begleitete ihn regelmäßig und hinter ihm +gingen zwei galonierte Diener und folgte – „für +alle Fälle“, da man ja nie wissen konnte – ein Wagen: +kam ihnen unterwegs ein Bauer entgegen und +grüßte er sie, zur Seite tretend, tief und ehrerbietig: +„Guten Tag, Väterchen Fürst, guten Tag, Euer Gnaden +unser Sonnenlicht!“ so richtete der Fürst sogleich +sein Monokel auf ihn und antwortete freundlich mit +gnädigem Kopfnicken: „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Bonjour, mon ami, bonjour!</span>“ +</p> + +<p> +Solche und ähnliche Gerüchte gingen in Mordassoff +von Mund zu Mund. Es schien ganz unmöglich zu +sein, den Fürsten zu vergessen. Aber er lebte ja +auch in nächster Nachbarschaft. Wie groß nun war +die Verwunderung, als eines schönen Morgens das +Gerücht sich verbreitete, daß der Fürst, dieser Einsiedler +und Sonderling, in eigener Person in Mordassoff angelangt +und im Hause Marja Alexandrownas abgestiegen +sei. Alles geriet in Aufregung, alle erwarteten eine +Aufklärung, alle fragten einander, was das zu bedeuten +<a id="page-19" class="pagenum" title="19"></a> +habe. Einige Damen wollten sich sogleich zu Marja +Alexandrowna aufmachen, denn die Ankunft des Fürsten +erschien ihnen als ein gar zu großes Wunder. Sie +schrieben sich Zettelchen, machten einander Morgenvisiten, +schickten ihre Stubenmädchen und Männer auf +Kundschaft aus. Am meisten wunderte man sich darüber, +daß der Fürst gerade bei Marja Alexandrowna +abgestiegen war. Und am meisten ärgerte sich darüber +Anna Nikolajewna Antipowa, weil der Fürst über +Tanten, Großtanten und Schwägerinnen hinweg entfernt +mit ihr verwandt war. Aber ich sehe, um alle +diese Fragen beantworten zu können, müssen wir Marja +Alexandrowna selbst in ihrem Hause aufsuchen, wohin +uns zu folgen wir den verehrten Leser untertänigst bitten. +Es ist allerdings noch früh, kaum zehn Uhr, aber +ich bin überzeugt, daß sie uns, ihre besten Freunde, +nicht von der Tür weisen, vielmehr uns empfangen +wird. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-3"> +<a id="page-20" class="pagenum" title="20"></a> +III. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">Z</span><span class="postfirstchar">ehn</span> Uhr morgens. Wir sind im Hause Marja +Alexandrownas, an der großen Straße, in jenem Zimmer, +das die Hausfrau bei feierlichen Gelegenheiten +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon salon</span>“ nennt. Marja Alexandrowna hat sogar +ein Boudoir. In diesem Salon ist der Fußboden gut +gestrichen und die Wände sind mit hübschen Tapeten +versehen. Im Möbelstoff ist rot die vorherrschende +Farbe. An einer Wand ist ein Kamin, über dem Kamin +ein Spiegel, vor dem Spiegel eine bronzene Stutzuhr +mit einem Amor, der von schlechtem Geschmack +zeugt. Zwischen den Fenstern sind zwei Pfeilerspiegel, +von denen die Überzüge entfernt sind. Vor diesen +Spiegeln stehen auf kleinen Tischen wieder Uhren. An +der Rückwand steht ein prächtiger Flügel, der für Sina +verschrieben ist, denn Sina ist – musikalisch. Vor dem +brennenden Kamin sind weiche Polstermöbel gruppiert, +nach Möglichkeit in malerischer Unordnung, zwischen +ihnen steht ein kleines Tischchen. Am anderen Ende +des Zimmers steht ein größerer Tisch, bedeckt mit einer +blendend weißen Tischdecke: auf ihm kocht ein silberner +Ssamowar neben einem reizenden Teeservice. Das Eingießen +des Tees besorgt eine Dame, Nastassja Petrowna +Sjäblowa, die als entfernte Verwandte Marja +Alexandrownas bei dieser lebt. Zwei Worte über sie. +<a id="page-21" class="pagenum" title="21"></a> +Sie ist Witwe, etwas über dreißig Jahre alt, brünett, +mit einer frischen Gesichtsfarbe und lebhaften braunen +Augen. Durchaus nicht häßlich. Sie hat einen heiteren +Charakter, lacht viel und gern, ist ziemlich schlau, +klatscht natürlich, und versteht es, ihr Schäfchen ins +trockne zu bringen. Sie hat zwei Kinder, die beide +irgendwo lernen. Sie würde gern zum zweitenmal +heiraten; ihr erster Mann war aktiver Offizier. Im +übrigen tritt sie ziemlich selbstbewußt auf. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna, die Hauptperson, sitzt am +Kamin in vorzüglicher Stimmung und in einem hellgrünen +Kleide, das ihr sehr gut steht. Sie ist unsäglich +erfreut über den Besuch des Fürsten, der vorläufig +mit seiner Toilette beschäftigt und folglich noch +unsichtbar ist. Sie ist so froh, daß sie ihre Freude nicht +einmal zu verbergen sucht. Vor ihr steht ein junger +Mann, der ihr überschwenglich irgend etwas erzählt. +Seinen Augen sieht man es an, daß er seinen Zuhörerinnen +gefallen will. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt. +Sein Benehmen wäre nicht schlecht, doch gerät er leicht +in Begeisterung und möchte außerdem als witzig und +geistreich gelten. Tadellos gekleidet, blond, nicht häßlich. +Aber wir haben ja schon von ihm gesprochen: +das ist Herr Mosgljäkoff, ein junger Mann, der zu +großen Hoffnungen berechtigt. Marja Alexandrowna +findet im stillen, daß sein Kopf etwas hohl sei, ist aber +trotzdem die Liebenswürdigkeit selbst zu ihm. Er wirbt +um ihre Tochter Sina, in die er, nach seinen Worten, +bis zum Wahnsinn verliebt ist. In jedem Augenblick +wendet er sich zu Sina, bemüht, sie durch seinen Humor +und Geist zum Lächeln zu bringen. Sie aber ist +<a id="page-22" class="pagenum" title="22"></a> +auffallend kühl zu ihm und beachtet ihn kaum. In +diesem Augenblick steht sie abseits am Klavier. Ihre +schmalen Finger blättern in einem Kalender. Sie +gehört zu jenen Erscheinungen, die allgemeine – ich +möchte sagen begeisterte Verwunderung hervorrufen, +wenn sie in einen Ballsaal, einen Gesellschaftsraum +eintreten. Sie ist unbeschreiblich schön: von hohem, +schlankem Wuchs, mit prächtigem braunen Haar, wundervollen, +fast schwarzen Augen, vorzüglich gebaut: +Schultern, Arme, Brust – wie die einer antiken Göttin, +das Füßchen verführerisch, der Gang königlich. +Heute ist sie ein wenig bleich; dafür aber wird man ihre +blaßrosa, seidigen Lippen, die wundervoll geschnitten +sind und zwischen denen wie eine Perlenschnur ihre weißen +Zähne glänzen, drei Nächte noch im Traume sehen, +wenn man sie einmal in Wirklichkeit gesehen hat. Sie +sieht ernst und sogar streng aus. Herr Mosgljäkoff +scheint ihren aufmerksamen Blick gewissermaßen zu +fürchten, wenigstens fühlt er sich nicht ganz geheuer, +wenn er es wagt, sie anzusehen. Ihre Bewegungen +sind von hochmütiger Nachlässigkeit. Sie trägt ein einfaches +weißes Musselinkleid. Weiß steht ihr ganz besonders +gut; doch übrigens, was steht ihr nicht gut? +An einem ihrer schmalen Finger steckt ein aus Haar +geflochtener Ring – nach der Farbe zu urteilen, nicht +aus dem Haar der Mutter. Mosgljäkoff hat es nie +gewagt, sie zu fragen, wessen Haar es ist. An diesem +Morgen ist Sina auffallend schweigsam und sogar +traurig, als quälten sie gewisse Sorgen. Dafür ist +Marja Alexandrowna zu ununterbrochenem Reden bereit, +wenn sie auch mitunter gleichfalls einen besonderen, +<a id="page-23" class="pagenum" title="23"></a> +gleichsam mißtrauischen Blick zur Tochter hinübersendet +– was sie jedoch nur heimlich tut –, ganz +als fürchte auch sie ihre Tochter. +</p> + +<p> +„Ich bin so froh, so froh, Pawel Alexandrowitsch,“ +beteuert sie, „daß ich es jedem Menschen, der an meinem +Hause vorübergeht, aus dem Fenster zurufen +könnte. Ich rede schon gar nicht von der reizenden +Überraschung, die Sie mir und Sina bereitet haben, +indem Sie zwei Wochen früher gekommen sind, als +Sie es versprochen hatten; das versteht sich von selbst! +Es freut mich so unsäglich, daß Sie unseren lieben +Fürsten hergebracht haben. Wissen Sie auch, wie sehr +ich diesen bezaubernden alten Herrn liebe! Doch nein, +nein! Sie werden mich nicht verstehen! Sie gehören +zur Jugend und werden die Gefühle meines Lebensalters +nie verstehen, wenn ich sie Ihnen auch noch so +beredt schildern wollte! Wissen Sie auch, was er mir +in früheren Zeiten gewesen ist, vor sechs Jahren – +weißt du noch, Sina? Ach nein, ich hatte es vergessen: +Du warst ja damals bei deiner Tante zum Besuch ... +Sie werden es mir nicht glauben, Pawel Alexandrowitsch; +ich war seine Führerin, seine Schwester, seine +Mutter! Er hörte auf mich wie ein Kind! Es war +etwas Naives, Zärtliches und Höheres in unserem Verhältnis +zueinander ... Ich weiß nicht, wie ich es +ausdrücken soll! Und das ist auch der Grund, weshalb er +sich jetzt meines Hauses in Dankbarkeit erinnert hat, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ce +pauvre prince</span>! Wissen Sie auch, Pawel Alexandrowitsch, +daß Sie ihn damit vielleicht sogar gerettet haben, +daß Sie auf den Gedanken gekommen sind, ihn zu +mir zu bringen? Mit wehem Herzen habe ich in diesen +<a id="page-24" class="pagenum" title="24"></a> +langen sechs Jahren an ihn gedacht. Sie werden es +mir nicht glauben: mir hat sogar in der Nacht von +ihm geträumt! Man sagt, diese ungeheuerliche Frau +habe ihn behext und wolle ihn zugrunde richten. Aber +Gott sei Dank, jetzt haben Sie ihn endlich aus diesen +Krallen befreit! Nein, jetzt muß man die Gelegenheit +benutzen und ihn endgültig retten! Aber erklären Sie +mir doch einmal, erzählen Sie, wie Ihnen das alles +gelungen ist? Beschreiben Sie mir so ausführlich als +möglich Ihre Begegnung mit ihm. Vorhin, als Sie +ankamen, waren meine Gedanken nur bei der Hauptsache, +während doch gerade alle diese Details, wie man +sagt, den Charakter geben! Ich liebe über alles die +Details, sogar in den wichtigsten Dingen lenke ich +meine Aufmerksamkeit zuerst auf die Details ... und +... solange er noch mit der Toilette beschäftigt +ist ...“ +</p> + +<p> +„Ich kann nur das wiederholen, was ich bereits erzählt +habe, Marja Alexandrowna!“ griff Mosgljäkoff +sofort bereitwillig auf, da er es vielleicht auch noch +zum zehnten Mal erzählt hätte – sich selbst hören, war +für ihn das größte Vergnügen. „Ich fuhr die ganze +Nacht durch und, versteht sich, schlief die ganze Nacht +nicht, – Sie können sich denken, welche Eile ich hatte!“ +fügte er mit halber Wendung zu Sina hinzu. „Mit +einem Wort, ich habe geschrien, Pferde verlangt und +auf den Stationen wegen der Pferde Lärm geschlagen: +wenn man es niederschreiben und drucken lassen wollte, +so würde es eine ganze Dichtung im neuesten Geschmack +werden! Doch das nur nebenbei bemerkt. Um Punkt +sechs Uhr morgens erreiche ich die letzte Station, Igischewo. +<a id="page-25" class="pagenum" title="25"></a> +Zitternd vor Kälte – ich wollte mich nicht +einmal erwärmen – schrie ich nach neuen Pferden. +Habe bei der Gelegenheit die Stationshalterin und +ihren Säugling erschreckt: jetzt, glaube ich, kann sie +ihn nicht mehr stillen ... Wundervoller Sonnenaufgang. +Wissen Sie, wenn dieser Froststaub sich rot +und silbern färbt! Ich beachte aber nichts; mit einem +Wort, ich eile Hals über Kopf weiter. Um die Pferde +habe ich regelrecht gekämpft, nahm sie einem Kollegienassessor +fort und forderte ihn fast zum Duell. Man +erzählte mir, daß vor einer viertel Stunde irgendein +Fürst von dort abgefahren sei, er fuhr mit eigenen +Pferden, habe dort genächtigt. Höre nur mit halbem +Ohr, steige ein und fort geht es, als hätte ich mich +von der Kette losgerissen. Habe einmal etwas Ähnliches +in einer modernen Elegie gelesen. Genau auf +der neunten Werst vor der Stadt, dort wo der Weg +zur Sswetosersker Einsiedelei abzweigt, ist, wie ich plötzlich +sehe, etwas Wunderliches passiert. Ein riesengroßer +Reisewagen liegt auf der Seite, der Kutscher +und zwei Diener stehen ratlos vor ihm, und aus dem +Wagen, der auf der Seite liegt, dringt herzzerreißendes +Geschrei. Beabsichtigte zuerst vorüberzufahren, dachte: +lieg mal zu auf der Seite, gehöre nicht zu deiner Gemeinde. +Doch die Nächstenliebe siegte, die, wie Heine +sagt, ihre Nase überallhin steckt. Lasse halten. Ich, +mein Ssemjon und der Kutscher – gleichfalls eine +russische Seele – eilen zur Hilfe und so stellen wir, +sechs Mann hoch, mit vereinten Kräften die Equipage +wieder auf die Beine, die sie in Wirklichkeit zwar nicht +hat, da sie ja auf Rädern rollt. Auch ein paar Bauern +<a id="page-26" class="pagenum" title="26"></a> +halfen noch mit Stangen, fuhren zur Stadt, erhielten +von mir ein Trinkgeld. Denke: das ist sicherlich jener +alte Fürst! Sehe ihn mir an: Himmel, ja! Das ist er +selbst, Fürst Gawrila! Das war eine Überraschung! +Rufe ihm zu: ‚Prince! Onkelchen!‘ Er aber erkannte +mich natürlich nicht auf den ersten Blick ... Das +heißt, er erkannte mich übrigens sogleich ..., auf den +zweiten Blick. Einstweilen aber ... unter uns: ich +glaube, daß er selbst jetzt noch nicht recht weiß, wer ich +eigentlich bin, und mich, wie mir scheint, für einen ganz +anderen Menschen hält, nicht aber für seinen Anverwandten. +Ich habe ihn vor zirka sieben Jahren in +Petersburg zum letztenmal gesehen. Damals war ich, +wie Sie sich denken können, noch ein halber Knabe. +Ich erinnerte mich seiner sehr wohl: er hatte einen starken +Eindruck auf mich gemacht. Er aber – nun, wie +soll er sich noch meiner entsinnen! Stelle mich vor: er +ist entzückt, umarmt mich, selbst aber zittert er noch von +dem Schreck und weint, bei Gott, <em>weint</em>, ich habe +es mit meinen eigenen Augen gesehen! Wir sprachen +dies und das – ich beredete ihn endlich dazu, in meinen +Wagen einzusteigen und – sei’s auch nur auf einen +Tag – mit mir nach Mordassoff zu kommen, um sich +etwas zu zerstreuen und zu erholen. Er willigt widerspruchslos +ein ... Erklärt mir, daß er in das Kloster +Sswetosersk zum Priestermönch Missaïl fahre, den er +überaus achte und verehre; daß Stepanida Matwejewna +– wer von uns Verwandten hat nicht von Stepanida +Matwejewna gehört? – mich hat sie noch +vor kaum einem Jahr mit dem Ofenbesen aus Duchanowo +hinausgejagt –, daß also seine Stepanida Matwejewna +<a id="page-27" class="pagenum" title="27"></a> +einen Brief erhalten habe, des Inhalts, daß +in Moskau irgend jemand in den letzten Zügen liege: +ihr Vater oder ihre Tochter, genau weiß ich es nicht +und habe auch kein Interesse dafür übrig; vielleicht +sind es beide, sowohl der Vater wie die Tochter ... +vielleicht noch mit Zugabe irgend eines Neffen, der dort +im Ressort der Getränke dient ... Um mich kurz +zu fassen – sie war dermaßen in Verwirrung geraten, +daß sie sich entschlossen hatte, auf etwa zehn Tage ihren +Fürsten zu verlassen und nach Moskau zu fahren, um +diese Stadt durch ihre Anwesenheit zu verschönen. Der +Fürst saß inzwischen einen Tag zu Hause, saß einen +zweiten, setzte sich zur Probe eine Perücke nach der anderen +auf, pomadisierte sich, färbte seinen Schnurrbart, +legte sich Karten aus, spielte vielleicht auch Preference, +allein, zum Zeitvertreib. Aber dennoch ging es über +seine Kräfte – ohne Stepanida Matwejewna! Da +hatte er seine Reiseequipage befohlen, um sich ins +Sswetosersker Kloster zu begeben. Irgend jemand von +den dienstbaren Geistern, der Stepanida Matwejewna +sogar in ihrer Abwesenheit fürchtet, hatte zwar einiges +einzuwenden gewagt: der Fürst aber hatte darauf bestanden. +Gestern nach dem Mittag war er ausgefahren, +hatte in Igischewo übernachtet, war dann nach Sonnenaufgang +von der Station weitergefahren, um genau +vor dem Abbiegen von der Landstraße zu dem berühmten +Priestermönch Missaïl samt seiner ganzen Equipage fast +in den Graben zu fallen. Ich errette ihn, berede ihn, +mit mir zu unserer gemeinsamen Freundin, der hochverehrten +Marja Alexandrowna zu fahren ... Er +sagt von Ihnen, Sie seien die bezauberndste Dame von +<a id="page-28" class="pagenum" title="28"></a> +allen, die er jemals gekannt habe, – und jetzt sind wir +hier, der Fürst aber frischt vorläufig noch seine Toilette +auf, mit Hilfe seines Kammerdieners, den er nicht +vergessen hat mitzunehmen und den er niemals, in keinem +Fall und unter keinen Bedingungen vergessen +wird, mitzunehmen, denn er würde eher zu sterben +einwilligen, als daß er in Damengesellschaft ohne +einige Vorbereitungen oder richtiger – Zubereitungen +erscheinen würde ... Und das ist die ganze Historie. +– Allerliebst – nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Aber was für ein Humorist Sie sind! Findest du +nicht auch, Sina?“ ruft Marja Alexandrowna entzückt +aus, nachdem er geendet hat. „Wie reizend er es +zu erzählen weiß! – Aber hören Sie, Monsieur Paul +– eine Frage: erklären Sie mir doch einmal ausführlich +Ihre Verwandschaft mit dem Fürsten! Sie nennen +ihn Onkel?“ +</p> + +<p> +„Ehrenwort: ich weiß es nicht, Marja Alexandrowna, +wie und inwiefern ich mit ihm verwandt bin: +ich glaube, im siebenten Grade wird es sein ... +doch nicht etwa Reaumur, sondern Verwandtschaft, wie +gesagt. Diesbezüglich habe ich mir wirklich kein Verschulden +zuschulden kommen lassen – ich bin vollkommen +schuldlos in der Sache! Schuld ist vielmehr meine +Tante Aglaja Michailowna. Übrigens hat diese meine +Tante Aglaja Michailowna nichts anderes zu tun, als +die ganze Verwandtschaft an den Fingern herzuzählen. +Sie ist es auch, die mich vor einem Jahr zu dieser Reise +nach Duchanowo bewogen hat. Sie wäre gern selbst +gefahren. Ich nenne ihn ganz einfach Onkelchen – +und er fühlt sich angeredet. Das aber ist ja schließlich +<a id="page-29" class="pagenum" title="29"></a> +die Hauptsache. Ja, ja, das wäre denn unsere +ganze Verwandtschaft, bis heute wenigstens ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich bleibe dennoch bei meiner Behauptung, +daß nur Gott allein Sie auf den Gedanken hat bringen +können, mit ihm geradeswegs zu mir zu kommen! Ich +zittere, wenn ich daran denke, was ihm, dem Armen, alles +hätte zustoßen können, falls er in ein anderes Haus, +statt in meines, geraten wäre! Man hätte ihn ja hier +zerrissen, zerrissen, jeden Knochen zerpflückt, man hätte +ihn verschlungen! Man hätte sich auf ihn gestürzt wie +auf eine Fundgrube, eine Goldmine – man hätte ihn +womöglich bestohlen! Sie können es sich nicht vorstellen, +Pawel Alexandrowitsch, was es hier für gierige, +niedrige und heimtückische Menschen gibt! ...“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott, zu wem hätte er ihn denn bringen +sollen, wenn nicht zu Ihnen! – wie Sie wirklich +sind, Marja Alexandrowna!“ ruft Nastassja Petrowna +aus, die Witwe, die den Tee eingießt. „Doch nicht +zu Anna Nikolajewna – was meinen Sie?“ +</p> + +<p> +„Aber ... wie kommt es, daß er sich noch immer +nicht sehen läßt? Das ist doch etwas sonderbar,“ sagt +Marja Alexandrowna, die sich ungeduldig erhebt. +</p> + +<p> +„Meinen Sie meinen Onkel? O, ich glaube, der +wird noch ganze fünf Stunden zu seiner Toilette +brauchen! Zudem, da er ja kein Atom Gedächtnis +mehr besitzt, wird er vielleicht schon vergessen haben, +daß er bei Ihnen zum Besuch ist. Das ist ja doch ein +außergewöhnlicher Mensch, müssen Sie nicht vergessen, +Marja Alexandrowna!“ +</p> + +<p> +„Ach, gehen Sie, hören Sie doch auf!“ +</p> + +<p> +„Durchaus nicht ‚Gehen Sie‘, Marja Alexandrowna, +<a id="page-30" class="pagenum" title="30"></a> +sondern die reinste Wahrheit, wie gesagt! Das ist doch +halbwegs nur eine Komposition, aber kein Mensch! +Sie haben ihn vor sechs Jahren gesehen, ich dagegen +noch vor einer Stunde. Das ist doch eine halbe Leiche! +Das ist ja nur noch eine Erinnerung an einen Menschen, +man hat ihn sozusagen nur zu beerdigen vergessen! +Er hat doch imitierte, eingesetzte Augen, +Beine von Korkholz, der ganze Mensch ist auf Federn, +und auch sprechen tut er nicht anders als mit Hilfe +gewisser Federn!“ +</p> + +<p> +„Mein Gott, was Sie doch für ein leichtsinniger +Mensch sind, wie ich sehe!“ ruft Marja Alexandrowna +aus und nimmt eine strenge Miene an. „Und schämen +Sie sich denn nicht – Sie, als junger Mensch, als +Verwandter! – so von diesem ehrwürdigen alten +Herrn zu reden! Ich sage weiter nichts von seiner +grenzenlosen Güte“ – ihre Stimme nimmt die Klangfarbe +aufrichtiger Rührung an – „bedenken Sie +doch, daß er sozusagen ein Überbleibsel, eine Ruine, +ein Trümmerstück unserer Aristokratie ist. Mein +Freund, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich begreife vollkommen, daß Sie +infolge irgendwelcher neuen Ideen, von denen Sie beständig +sprechen, den Leichtsinnigen spielen. Aber, +mein Gott! – ich bekenne mich ja selbst zu Ihren +neuen Ideen! Ich weiß, daß der Grundsatz Ihrer +neuen Richtung edel und ehrenhaft ist. Ich fühle es, +daß es in diesen neuen Ideen sogar etwas Erhabenes +gibt; aber alles das hindert mich nicht, auch die, sagen +wir, die praktische Seite der Sache zu sehen. +Ich habe in der Welt gelebt, ich habe mehr als Sie +gesehen, und schließlich, ich bin Mutter, Sie aber sind +<a id="page-31" class="pagenum" title="31"></a> +noch jung. Er ist ein alter Mann und daher haftet +ihm in unseren Augen vielleicht manches Lächerliche +an. Ja, das letzte Mal sprachen Sie sogar davon, +daß Sie Ihre Leibeigenen befreien wollten und daß +man doch etwas für das Jahrhundert tun müsse, aber +das kommt alles nur daher, daß Sie Ihren Kopf voll +Shakespeare haben! Glauben Sie mir, Pawel Alexandrowitsch, +Ihr Shakespeare hat schon lange seine Zeit +abgelebt, und wenn er jetzt aufstehen würde, so würde +er bei all seinem ganzen Verstande doch keine Silbe +von unserem gegenwärtigen Leben begreifen. Wenn +es in der Gesellschaft unserer Zeit etwas Erhabenes +und Ritterliches gibt, so finden wir das einzig und +allein in der höheren und höchsten Gesellschaft. Ein +Fürst ist auch im Bauernkittel ein Fürst, ist auch in +einer elenden Hütte wie in einem Schloß ein Fürst. Da +hat sich nun der Mann unserer Natalja Dmitrijewna +fast ein Schloß gebaut, aber dennoch ist er nur der +Mann Natalja Dmitrijewnas und nichts mehr! Und +auch Natalja Dmitrijewna ist und bleibt, wenn sie sich +auch mit fünfzig Krinolinen ausstatten wollte – immer +nur die frühere Natalja Dmitrijewna und wird +nicht ein Atom mehr. Und Sie sind zum Teil gleichfalls +ein Repräsentant der höheren Gesellschaft, da Sie +von ihr abstammen. Auch mich halte ich nicht für eine +Fremde in ihrem Kreise – das aber ist ein schlechtes +Kind, das sein eigenes Nest beschmutzt. Übrigens +werden Sie einmal alles das selbst noch viel besser einsehen, +als ich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>, und Sie werden Ihren +Shakespeare mit der Zeit hübsch vergessen. Das sage +ich Ihnen im voraus, ich prophezeie es Ihnen. Ich +<a id="page-32" class="pagenum" title="32"></a> +bin sogar überzeugt, daß Sie diesmal nicht aufrichtig +sind und sich nur so ... nach der Mode richten. +Ach, da bin ich nun ins Schwatzen hineingekommen. +Bleiben Sie ruhig hier, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>, und vergessen +Sie Ihren Shakespeare, ich werde selbst nach oben +gehen und mich nach dem Fürsten erkundigen. Vielleicht +bedarf er irgend wessen, und mit meinen Dienstboten +...“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna verließ ziemlich eilig das +Zimmer, denn sie dachte an ihre Dienstboten. +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna scheint sehr froh darüber zu +sein, daß der Fürst nicht bei dieser Modedame, der +Anna Nikolajewna, abgestiegen ist. Hat diese unverschämte +Person doch allen gesagt, daß sie mit ihm +verwandt sei. Die wird sich jetzt, denke ich, zerreißen +wollen vor Ärger!“ bemerkte Nastassja Petrowna. Als +sie aber bemerkte, daß ihr nicht geantwortet wurde, sah +sie auf. Ein Blick auf Sina und Pawel Alexandrowitsch +genügte, um sie erraten zu lassen, wie die Sache +stand, und sie verließ sogleich das Zimmer, als hätte +sie irgend etwas vergessen, das sie zum Tee brauchte. +Übrigens wußte sie sich sofort dafür zu entschädigen: +sie versteckte sich hinter der Tür und horchte. +</p> + +<p> +Pawel Alexandrowitsch wandte sich im Augenblick +zu Sina. Er war unbeschreiblich erregt, seine Stimme +zitterte. +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna, Sie sind mir doch nicht +böse?“ fragte er mit zaghafter und flehender Miene. +</p> + +<p> +„Ihnen böse? Weshalb denn?“ fragte Sina, die +leicht errötete und ihre wundervollen Augen zu ihm +erhob. +</p> + +<p> +<a id="page-33" class="pagenum" title="33"></a> +„Weil ich früher als verabredet hergekommen +bin! Sinaïda Afanassjewna, ich hielt es nicht aus, +ich konnte nicht noch ganze zwei Wochen warten ... +Sie sind mir sogar im Traume erschienen. Ich bin +hergeeilt, um meinen Schicksalsspruch zu erfahren ... +Doch Sie ziehen die Brauen zusammen, Sie ärgern +sich! Werde ich denn wirklich auch jetzt nichts Positives +erfahren?“ +</p> + +<p> +Sina hatte tatsächlich die Stirn gerunzelt. +</p> + +<p> +„Ich habe es nicht anders erwartet, als daß Sie +wieder darauf zurückkommen würden,“ antwortete sie, +nachdem sie den Blick gesenkt hatte, mit fester und +strenger Stimme, die deutlich ihren Ärger verriet. +„Und da mir diese Erwartung sehr unangenehm war, +so ist es – je schneller abgetan, um so besser. Sie +verlangen oder bitten wieder um eine Antwort. Wie +Sie wünschen, ich kann sie Ihnen noch einmal wiederholen, +denn meine Antwort ist dieselbe: warten Sie. +Ich sage es Ihnen nochmals – ich habe mich noch +nicht entschlossen und kann Ihnen daher auch nicht das +Versprechen geben, Ihre Frau zu werden. Ein solches +Versprechen soll man nicht zu erzwingen versuchen, Pawel +Alexandrowitsch. Doch um Sie zu beruhigen, füge +ich hinzu, daß ich Ihnen noch nicht endgültig absage. +Und merken Sie sich noch eines: wenn ich Ihnen jetzt +noch eine Hoffnung lasse, so tue ich es einzig aus dem +Grunde, weil ich mit Ihrer Ungeduld und Unruhe +Nachsicht habe. Ich wiederhole es: ich will vollkommen +frei sein und wenn ich Ihnen schließlich sagen +sollte, daß ich nicht will, so dürfen Sie mich nicht +<a id="page-34" class="pagenum" title="34"></a> +beschuldigen, mir nicht vorwerfen, daß ich Ihnen falsche +Hoffnungen gemacht habe. So, das ist alles!“ +</p> + +<p> +„Aber ... aber was ist denn das!“ rief Mosgljäkoff +mit kläglicher Stimme aus. „Ist denn das eine +Hoffnung! Kann ich denn auch nur auf die geringste +Hoffnung aus Ihren Worten schließen, Sinaïda Afanassjewna?“ +</p> + +<p> +„Denken Sie an alles, was ich Ihnen gesagt habe, +und dann schließen Sie daraus, auf was Sie wollen. +Das steht Ihnen frei. Ich aber kann nichts mehr hinzufügen. +Ich sage Ihnen noch nicht ganz ab, sondern +sage nur: warten Sie. Nur eines, bitte nicht zu vergessen: +daß ich die volle Freiheit habe, Ihnen endgültig +abzusagen, sobald ich will. Und dann noch eines, +Pawel Alexandrowitsch: wenn Sie vor dem für die +Antwort verabredeten Termin gekommen sind, um auf +Umwegen etwas zu erreichen, in der Hoffnung, vielleicht +auf Befürwortung von anderer Seite, nehmen +wir an, zum Beispiel, den Einfluß meiner Mutter, so +haben Sie sich in Ihrer Berechnung sehr getäuscht. +Dann werde ich Ihnen rund absagen, hören Sie? Doch +jetzt – genug davon, und, bitte, erinnern Sie mich +bis dahin mit keinem Wort mehr daran.“ +</p> + +<p> +Diese ganze Rede war trocken, sehr bestimmt und +ohne die geringsten Stockungen gesprochen, als hätte +sie sie früher schon auswendig gelernt. Monsieur +Paul fühlte, daß er mit einer langen Nase abzog. In +dem Augenblick kehrte Marja Alexandrowna zurück. +Ihr folgte fast auf dem Fuße Frau Sjäblowa. +</p> + +<p> +„Er wird, glaube ich, sogleich erscheinen, Sina! +Nastassja Petrowna, bereiten Sie schnell neuen Tee!“ +<a id="page-35" class="pagenum" title="35"></a> +– Die Dame schien nicht wenig erregt zu sein. +</p> + +<p> +„Anna Nikolajewna hat sich erkundigen lassen. +Ihre Zofe Anjutka ist in unsere Küche gekommen, um +auszuforschen. Die wird sich jetzt ärgern!“ rief Nastassja +Petrowna Sjäblowa aus und eilte zu ihrem +Ssamowar. +</p> + +<p> +„Was geht das mich an!“ fragte Marja Alexandrowna +über die Schulter. „Als ob ich mich dafür +interessiere, was Ihre Anna Nikolajewna denkt! Sie +können mir glauben, daß ich meine Zofe nicht in ihre +Küche schicken werde. Und es wundert mich, es wundert +mich aufrichtig, weshalb Sie mich immer für +eine Feindin dieser armen Anna Nikolajewna halten, +und nicht nur Sie allein, sondern die ganze Stadt. +Ich verlasse mich auf Sie, Pawel Alexandrowitsch! +Sie kennen uns beide, – sagen Sie doch selbst, weshalb +sollte ich ihre Feindin sein? Wegen des Vorranges? +Dieser Vorrang läßt mich gleichgültig. Mag +sie doch, mag sie doch die Erste sein! Ich werde als erste +zu ihr hinfahren, um sie zu beglückwünschen. Und +schließlich, – das ist doch alles ungerecht. Ich nehme +sie stets in Schutz, es ist meine Pflicht, sie zu verteidigen! +Sie wird von allen verleumdet. Aber weshalb +fallen denn alle so über sie her? Sie ist jung und +putzt sich gern, – deswegen vielleicht? Meiner Meinung +nach ist es aber doch besser, Putz zu lieben, als +etwas anderes, wie zum Beispiel Natalja Dmitrijewna, +die ... so etwas liebt, daß man es nicht +einmal aussprechen darf. Oder deshalb, weil Anna +Nikolajewna ewig zu Besuch fährt und nie zu Hause +sitzen kann? Aber, mein Gott! Sie hat ja doch überhaupt +<a id="page-36" class="pagenum" title="36"></a> +keine Erziehung, keine Bildung genossen, und +daher fällt es ihr natürlich schwer, ein Buch aufzuschlagen +und sich zwei Minuten nacheinander mit ein +und demselben zu beschäftigen. Sie kokettiert und +liebäugelt mit jedem, der an ihrem Hause vorübergeht. +Aber weshalb versichert man ihr denn ewig, daß sie +hübsch sei, wenn sie nur ein weißes Gesicht hat und +nichts weiter? Sie erheitert beim Tanz die Zuschauer +– schön! Aber weshalb beteuert man ihr +denn fortwährend, daß sie so wundervoll tanze? Sie +trägt ganz entsetzliche Hüte und noch ärgeren Kopfputz, +– aber was kann sie denn dafür, daß Gott ihr keinen +Geschmack verliehen hat, sondern statt dessen nur so +viel Leichtgläubigkeit? Sagen Sie ihr, daß es gut sei, +ein Konfektpapier ins Haar zu stecken – und sie wird +es tun. Sie ist eine Klatschbase, – aber das ist doch +hier nichts Außergewöhnliches: wer klatscht hier +nicht? Ssuschiloff mit seinem schönen Bart fährt morgens +und abends zu ihr und womöglich auch noch in +der Nacht. Ach, mein Gott! wenn der Mann noch +bis fünf Uhr morgens am Kartentisch sitzt! Und zudem +gibt es hier so viel schlechte Beispiele! Und schließlich +ist das alles <em>vielleicht</em> nur Verleumdung. +Wie gesagt, ich werde sie immer, immer in Schutz nehmen! +... Aber, mein Gott! ... Da ist ja der +Fürst! Das ist er, er! Jetzt würde ich ihn unter Tausenden +erkannt haben! Endlich sehe ich Sie wieder, +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>!“ rief Marja Alexandrowna aus und +eilte dem eintretenden Fürsten entgegen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-4"> +<a id="page-37" class="pagenum" title="37"></a> +IV. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">uf</span> den ersten flüchtigen Blick werden Sie diesen +Fürsten durchaus nicht für einen alten Mann, geschweige +denn für einen Greis halten. Erst nach näherem +und aufmerksamerem Beobachten werden Sie +sehen, daß er gewissermaßen eine auf Federn gespannte +Leiche ist. Alle Künste sind angewandt, um diese Mumie +als Jüngling zu verkleiden. Die erstaunlich naturgetreue +Perücke, der Backenbart, der Schnurrbart +und die Fliege glänzen im schönsten Schwarz und bedecken +die Hälfte des Gesichts. Das übrige Gesicht +ist überaus kunstvoll gepudert und hat so gut wie +überhaupt keine Runzeln. Wo sind sie geblieben? – +Das vermag niemand zu erklären. Gekleidet ist er nach +neuester Mode, als wäre er aus einem Modejournal +ausgeschnitten: Er hat eine Art Jackett an oder etwas +Ähnliches, bei Gott, ich weiß nicht, was es eigentlich +ist, jedenfalls etwas höchst Modernes und Neues, das +ausschließlich für Morgenvisiten geschaffen ist. Handschuhe, +Binde, Weste, Wäsche – alles ist von blendender +Frische und zeugt von gutem Geschmack. Der +Fürst hinkt ein wenig, tut es aber so geschickt, als +wäre auch das Hinken von der Mode vorgeschrieben. +In dem einen Auge trägt er ein Monokel, und zwar +<a id="page-38" class="pagenum" title="38"></a> +in demselben, das ohnehin schon gläsern ist. Ihn umgibt +eine Wolke von Wohlgeruch. Wenn er spricht, +zieht er manche Worte ganz besonders in die Länge, – +vielleicht tut er es aus greisenhafter Schwäche, vielleicht +deshalb, weil alle seine Zähne falsch sind, vielleicht +jedoch auch um des größeren Eindrucks willen. +Einige Silben spricht er ganz ungewöhnlich süß aus, +den Vokal a fast wie e. Das Wort „Ja“ zum Beispiel, +klingt bei ihm wie „Je“, nur noch etwas süßlicher, +wenn möglich. In seinem ganzen Auftreten ist eine gewisse +Nachlässigkeit, in der er sich im Laufe seines langjährigen +<a id="corr-6"></a>Lebemannslebens fleißig geübt hat. Übrigens, +wenn sich auch noch etwas von diesem früheren galanten +Leben in oder an ihm erhalten hat, so ist das von +ihm aus gewissermaßen unbewußt geschehen, wie etwa +eine alte, unklare Erinnerung, eine längst durchlebte +Vergangenheit, die – leider! – alle Kosmetik, alle +Korsetts, Parfums und Perücken nicht wieder auferstehen +machen können. Und deshalb tun wir besser, +wenn wir vorausschicken, daß der alte Herr zwar nicht +gerade seinen Verstand, jedenfalls aber sein Gedächtnis +schon vor langer Zeit verloren hat, oft sogar vergißt, +was er vor einer Minute gesprochen, sich beständig versieht, +viel zusammenlügt und aufschneidet. Es gehört +sogar eine gewisse Übung dazu, um mit ihm ein Gespräch +führen zu können. Marja Alexandrowna aber +verläßt sich auf sich und so gerät sie beim Erscheinen des +Fürsten in unbeschreibliche Begeisterung. +</p> + +<p> +„Aber Sie haben sich ja nicht im geringsten, nicht +im geringsten verändert!“ ruft sie aus, ergreift beide +Hände des Gastes und führt ihn zu einem bequemen Ruhestuhl. +<a id="page-39" class="pagenum" title="39"></a> +„Setzen Sie sich, setzen Sie sich, Fürst. Sechs +Jahre, ganze sechs Jahre haben wir uns nicht gesehen, +und keinen Brief, keine Zeile haben wir in dieser ganzen +Zeit von Ihnen erhalten! O, Sie haben mir +großes Unrecht getan, Fürst! Und wie böse ich Ihnen +gewesen bin, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher prince</span>! Aber, – Tee, +Tee! Ach, mein Gott! Nastassja Petrowna, Tee!“ +</p> + +<p> +„Ich danke, i–ich danke, meine Schuld!“ lispelt +der Fürst (wir haben zu erwähnen vergessen, daß er +auch ein wenig lispelt, aber auch dieses tut er, als wäre +es von der Mode vorgeschrieben). „Mei–ne Schuld! +und den–ken Sie sich, noch im vergan–genen Jahr +wollte ich Sie un–be–dingt be–suchen,“ fährt er +langsam, sich im Zimmer umsehend, fort. „Doch man +riet mir ab: hier soll die Cho–lera geherrscht haben ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Fürst, bei uns hat nie die Cholera geherrscht,“ +sagt Marja Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Eine Viehseuche herrschte hier, Onkelchen!“ mischt +sich Mosgljäkoff ein, da er sich bemerkbar zu machen +wünscht. Marja Alexandrowna mißt ihn mit einem +strengen Blick. +</p> + +<p> +„Nun ja, eine Vieh–seuche oder etwas Der–artiges +... Und so unterblieb es. Und was macht Ihr +Herr Gemahl, meine liebe Anna Nikolajewna? Immer +noch in seinem Amt als Staats–an–walt?“ +</p> + +<p> +„N–nein, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna +stockend. „Mein Mann ist nicht Staatsanwalt ...“ +</p> + +<p> +„Ich wette, daß Onkelchen sich täuscht und Sie für +Anna Nikolajewna Antipowa hält!“ rief der scharfsinnige +Mosgljäkoff aus, verstummte aber sogleich, denn +<a id="page-40" class="pagenum" title="40"></a> +Marja Alexandrowna ist ohnehin zum Götzenbild geworden. +</p> + +<p> +„Nun ja, An–na Nikola–jewna, und ... und +... es entfällt mir immer! – nun ja, Antipowna, wie +gesagt, Antipowna,“ bestätigt der Fürst. +</p> + +<p> +„N–nein, Fürst, Sie haben sich sehr geirrt,“ sagt +Marja Alexandrowna mit bitterem Lächeln. „Ich bin +nicht Anna Nikolajewna, und daß ich es nur gestehe – +ich habe es wirklich nicht erwartet, von Ihnen nicht +erkannt zu werden. Sie haben mich in Erstaunen gesetzt, +Fürst. Ich bin Ihre einstige Freundin, bin Marja +Alexandrowna Moskalewa. Entsinnen Sie sich ihrer +noch? ...“ +</p> + +<p> +„Marja A–lexan–drowna! Denken Sie sich! +Und ich war ge–rade der Mei–nung, daß Sie eben +– wie hieß sie doch? – nun ja! eben Anna Wassil–jewna +seien ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est délicieux!</span> Al–so, ich bin nicht +dorthin gefahren. Ich aber meinte, mein Lieber, daß +du mich gerade zu dieser Anna Mat–wejewna brächtest. +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est charmant!</span> Anbei ... das kommt nicht selten +bei mir vor ... Ich fahre oftmals nicht dahin, wohin +ich will. Überhaupt ... bin ich zufrieden, im–mer +zufrieden, was auch geschehen möge. Dann sind Sie +al–so nicht Na–stassja Wassiljewna? Das ist in–teressant +...“ +</p> + +<p> +„Ich bin Marja Alexandrowna, Fürst, Marja +Alexandrowna. O wieviel ich Ihnen jetzt verzeihen +muß! Wie kann man nur seine besten, seine besten +Freunde vergessen!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, bes–ten Freunde ... pardon, pardon!“ +lispelt der Fürst und mustert Sina. +</p> + +<p> +<a id="page-41" class="pagenum" title="41"></a> +„Das ist meine Tochter Sina. Sie kennen Sie noch +nicht, Fürst. Sie war damals nicht hier, als Sie uns +besuchten, wissen Sie noch, vor sechs Jahren?“ +</p> + +<p> +„Das ist Ihre Tochter! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Charmante! charmante!</span>“ +brummt der Fürst und mustert gierig das junge Mädchen. +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais quelle beauté!</span>“ flüstert er, sichtlich +überrascht, erstaunt. +</p> + +<p> +„Bitte, bedienen Sie sich, Fürst,“ sagt Marja Alexandrowna +und lenkt die Aufmerksamkeit des Fürsten +auf den kleinen Kosakenknaben, der mit dem Präsentierteller +vor ihm steht. Der Fürst nimmt eine Tasse +und betrachtet den Knaben, der hübsche rosa Bäckchen +hat. +</p> + +<p> +„A–a–a, das ist Ihr Sohn?“ fragt er. „Was +für ein net–ter Knabe! U–u–nd sicherlich ... +führt er sich gut auf?“ +</p> + +<p> +„Ach, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna +eilig, „ich habe ja von einem so entsetzlichen Unglück gehört! +Glauben Sie mir, ich war außer mir vor +Schreck ... Haben Sie nicht Schaden genommen? +Sehen Sie sich vor! So etwas darf man nicht vernachlässigen.“ +</p> + +<p> +„In den Graben! In den Graben! In den +Graben hat mich der Kutscher geworfen!“ ruft der +Fürst in ungewöhnlicher Erregung aus. „Ich glaubte, +es käme das Ende der Welt oder etwas Derartiges, +und ich erschrak dermaßen, sage ich Ihnen, daß – +vergieb mir, Herr! ... Der Himmel erschien mir +so klein ... nicht größer als ein Schaffell! Das +hatte ich nicht erwartet, nicht erwartet! Durch–aus +nicht erwartet! Und schuld daran ist ganz allein +<a id="page-42" class="pagenum" title="42"></a> +mein Kutscher Fe–o–fil. Ich habe mich in allem +auf dich verlassen, mein Lieber: sorge du dafür und +untersuche die Angelegenheit gründ–lich. Ich bin +ü–ber–zeugt, daß er es auf mein Leben abgesehen +hatte.“ +</p> + +<p> +„Gut, gut, Onkelchen,“ antwortet Pawel Alexandrowitsch, +„werde alles untersuchen. Nur hören Sie +mal, Onkelchen, können Sie ihm nicht zur Feier des +heutigen Tages verzeihen, was meinen Sie?“ +</p> + +<p> +„Unter kei–ner Be–dingung werde ich ihm verzeihen! +Ich bin ü–ber–zeugt, daß es von ihm ein +Anschlag auf mein Leben war! Von ihm und auch von +Lawrentij, den ich zu Haus gelassen hatte. Denken Sie +sich: er hat, wis–sen – Sie, einige neue Ideen auf–ge–schnappt! +Es hat sich in ihm eine ge–wis–se +Verneinung heraus–gebildet ... Wie gesagt: ein +Kommunist im wah–ren Sinn des Wortes. Ich habe +sogar Angst, ihm auch nur zu begegnen!“ +</p> + +<p> +„Ach, was für ein wahres Wort Sie ausgesprochen +haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna aus. „Sie +werden es mir nicht glauben, wie sehr ich selbst unter +diesen untauglichen Menschen zu leiden habe! Stellen +Sie sich vor, ich habe zwei meiner Leute gewechselt, +aber sie sind so dumm, daß ich wirklich vom Morgen bis +zum Abend meine liebe Not mit ihnen habe. Sie können +es sich nicht denken, wie dumm sie sind, Fürst!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja. Aber ... was ich sagen wollte +... ich habe es sogar ganz gern, wenn der Die–ner +zum Teil dumm ist,“ bemerkt der Fürst, der wie alle +alten Leute froh ist, wenn man seinem Geschwätz ehrerbietig +zuhört. „Es paßt gewissermaßen zum Lakei +<a id="page-43" class="pagenum" title="43"></a> +– und es macht seine Wür–de aus, wenn er treuherzig +und dumm ist. Al–lerdings nur in manchen +Fällen. Es verleiht ihm mehr Statt–lichkeit, eine +gewisse Fei–erlichkeit kommt in sein Gesicht, wie gesagt, +es verleiht ihm eine gewisse Wohlerzogenheit, ich +aber verlange von einem <em>Menschen</em> vor allen Dingen +<em>Wohl–erzogenheit</em>. Da habe ich meinen +Terentij. Du erinnerst dich doch noch Terentijs, +mein Lieber. Nach meinem ersten Blick auf ihn bestimmte +ich ihn von vornherein zum Portier. Du +sollst mein Portier sein, sagte ich. Phä–no–menal +dumm! Schaut drein, wie ein Schaf im Wasser! Aber +welch eine Erscheinung, welche Feierlichkeit! Sein +Doppelkinn so frisch und rosig! Nun, und in der +weißen Binde, und über–haupt so in vol–ler Gala +macht er einen vor–züg–lichen Eindruck. Ich habe +ihn von Herzen lieb gewonnen. Es kommt vor, daß ich +ihn ansehe und schließlich alles darüber vergesse: entschieden, +als wenn er eine Dis–ser–tation schriebe, – +so wichtig sieht er aus! Wie gesagt, genau so wie der +deutsche Philosoph Kant, oder richtiger wie ein gepeppelter, +fetter Truthahn. Vollkommenes Comme-il-faut +eines bedienenden Menschen! ...“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna lacht von ganzem Herzen und +klatscht sogar leise Beifall. Pawel Alexandrowitsch sekundiert +ihr bereitwillig: ihn interessiert der Onkel +außerordentlich. Auch Nastassja Petrowna Sjäblowa +lacht. Und sogar Sina lächelt. +</p> + +<p> +„Aber wieviel Humor, wieviel Heiterkeit, wieviel +Esprit Sie haben, Fürst!“ ruft Marja Alexandrowna +aus. „Welch eine seltene Gabe, jeden noch so kleinen +<a id="page-44" class="pagenum" title="44"></a> +Zug wahrzunehmen! Und so plötzlich aus der Gesellschaft +zu verschwinden, sich auf ganze fünf Jahre in seinen +vier Wänden einzuschließen! Bei solchem Talent! +Aber Sie könnten ja sogar schriftstellern, Fürst! +Sie könnten Vonwiesen, Gribojedoff, Gogol wiederholen! +...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja!“ sagte der Fürst, äußerst angenehm +berührt. „Ich könnte wieder–ho–len ... +und, wissen Sie, ich war früher un–ge–mein geistreich. +Ich habe sogar für die Bühne ein Vau–de–ville +geschrieben. Und es kamen darin auch einige +ex–qui–site Couplets vor! Wie gesagt, es ist aber +nie gespielt worden ...“ +</p> + +<p> +„Ach, wie reizend wäre es doch, wenn man Ihr +Vaudeville lesen könnte! Und, weißt du, Sina, gerade +jetzt käme es uns so zustatten! Man plant hier nämlich +eine Liebhaberaufführung – zu einem patriotischen +Zweck, Fürst, zum Besten der Verwundeten ... und +da nun Ihr Vaudeville!“ +</p> + +<p> +„Gewiß! Ich bin so–gar bereit, es nochmals zu +schreiben ... nur, wie gesagt, habe ich es voll–kommen +vergessen. Ich weiß nur noch, es waren da zwei +oder drei solche Bonmots, daß ...“ (der Fürst küßt +graziös seine Fingerspitzen). „Und überhaupt, als ich +im Aus–lande war, machte ich tat–säch–lich Fu–rore. +Entsinne mich noch Lord Byrons. Wir standen +auf freund–schaft–lichem Fuß. Auf dem Wiener +Kongreß tanzte er be–zau–bernd den Krakowjak.“ +</p> + +<p> +„Lord Byron! Aber, Onkelchen, was sagen Sie!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Lord Byron. Übrigens, wie gesagt, +vielleicht war es auch nicht Lord Byron, sondern irgend +<a id="page-45" class="pagenum" title="45"></a> +ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord Byron, +ein anderer. Ganz recht, es war nicht Lord +Byron, sondern ein Po–le. Jetzt, jetzt besin–ne +ich mich vollkommen. Das war ein äußerst origi–neller +Pole: er gab sich für einen Grafen aus, später +aber stellte es sich heraus, daß er nur so etwas wie +ein Koch war. Nur tanzte er ent–zück–end den +Krakowjak und zu gu–ter Letzt brach er sich das Bein. +Ich machte da–mals noch ein Gedicht auf ihn: +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Unser wun–der–voller Po–le</p> + <p class="verse">Tanzt den Krakowjak auf einer Soh–le ...</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +Und dann ... und dann ... das habe ich nun +lei–der vergessen ... wie es weiter ging ... +</p> + +<div class="poem-container"> + <div class="poem"> + <div class="stanza"> + <p class="verse">Doch als er sich brach das Bein,</p> + <p class="verse">Da stellte er das Tanzen ein ...“</p> + </div> + </div> +</div> + +<p class="noindent"> +„Sicherlich wird es so gewesen sein, Onkelchen!“ +ruft Mosgljäkoff aus, dessen Stimmung immer heiterer +wird. +</p> + +<p> +„Es scheint mir auch, daß es so war,“ antwortet +Onkelchen, „oder in der Art we–nigstens. Wie gesagt, +vielleicht war es auch anders, nur war es ein +sehr ge–lun–genes Gedicht ... Überhaupt ... +ich habe jetzt einige Er–leb–nisse vergessen. Das +kommt bei mir von der Beschäftigung ...“ +</p> + +<p> +„Aber sagen Sie doch, Fürst, womit haben Sie +sich denn während dieser ganzen Zeit in Ihrer Einsamkeit +beschäftigt?“ erkundigt sich Marja Alexandrowna +interessiert. „Ich habe so oft an Sie gedacht, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon +cher prince</span>, daß ich diesmal geradezu brenne vor Ungeduld, +Näheres darüber zu erfahren ...“ +</p> + +<p> +„Womit ich mich be–schäftigt habe? Nun, überhaupt, +<a id="page-46" class="pagenum" title="46"></a> +wissen Sie, verschiedenes. Wenn man ... +sich zum Beispiel erholt. Zuweilen aber, wissen Sie, +gehe ich und bilde mir verschiedenes ein ...“ +</p> + +<p> +„Sie haben wohl eine sehr große Einbildungskraft, +Onkelchen?“ +</p> + +<p> +„Eine sehr große, mein Lieber. Zuweilen bilde +ich mir so etwas ein, daß ich mich später über mich selbst +wun–dere. Als ich in Kadujeff war ... A propos! +Du warst doch, glaube ich, der Vi–ze-Gou–ver–neur +von Kadujeff?“ +</p> + +<p> +„Ich, Onkelchen? aber nein! was Ihnen einfällt!“ +ruft Pawel Alexandrowitsch aus. +</p> + +<p> +„Denk dir, mein Lieber! Und ich hielt dich die +ganze Zeit für den Vi–ze-Gou–verneur, und denke +noch: wie kommt es nur, daß er jetzt ein ganz an–deres +Ge–sicht hat? ... Jener, weißt du, hatte ein so wür–de–volles, +klu–ges Gesicht. Ein un–ge–wöhnlich +kluger Mensch war er und fortwährend schrieb er Gedichte, +bei verschiedenen Ge–le–genheiten. Ein wenig, +so im Profil, erinnerte er an den Pique-König ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Fürst,“ unterbricht ihn Marja Alexandrowna, +„ich schwöre es Ihnen, mit einem solchen Leben +richten Sie sich nur zugrunde! Sich auf ganze fünf +Jahre einzuschließen, nichts zu sehen, nichts zu hören! +Sie sind ein verlorener Mensch, Fürst! Fragen Sie, +wen Sie wollen, von denen, die Ihnen wirklich zugetan +sind – und ein jeder wird Ihnen sagen, daß Sie ein +verlorener Mensch sind!“ +</p> + +<p> +„Ist’s mög–lich?“ ruft der Fürst erstaunt aus. +</p> + +<p> +„Ich versichere Sie! Ich rede wie ein Freund zu +Ihnen, wie Ihre Schwester! Ich sage es Ihnen nur +<a id="page-47" class="pagenum" title="47"></a> +deshalb, weil Sie mir teuer sind, weil die Erinnerung +an das Vergangene mir heilig ist! Und was hätte ich +für einen Vorteil davon, wenn ich Ihnen schmeicheln +wollte? Nein, Sie müssen Ihr Leben von Grund aus +verändern, – anderenfalls werden Sie erkranken, sich +überanstrengen, werden Sie sterben ...“ +</p> + +<p> +„O Gott! Werde ich wirklich so bald sterben?“ +fragt erschrocken der Fürst. „Und denken Sie sich, Sie +haben es erraten: mich quälen ent–setz–lich meine +Hä–morrhoiden, na–ment–lich seit einiger Zeit ... +Und wenn ich diese Zufälle habe, so gibt es bei der +Gelegenheit er–staun–liche Symptome – ich werde +sie Ihnen ausführlich beschreiben ... Erstens ...“ +</p> + +<p> +„Onkelchen, das werden Sie ein nächstes Mal erzählen,“ +unterbricht ihn Pawel Alexandrowitsch, „jetzt +aber ... ist es nicht Zeit, zu fahren?“ +</p> + +<p> +„Nun ja! Dann al–so ein an–deres Mal. Das +ist vielleicht auch nicht so in–ter–es–sant. Ich habe +es mir jetzt überlegt ... Aber es ist doch im–mer–hin +eine sehr interes–sante Krankheit. Es gibt ver–schie–dene +E–pi–soden ... Erinnere mich daran, mein +Lieber, ich werde dir am Abend einen Fall aus–führ–lich +erzählen ...“ +</p> + +<p> +„Aber hören Sie, Fürst, Sie müßten es versuchen, +sich im Auslande davon zu heilen,“ unterbricht ihn noch +einmal Marja Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Im Aus–lande? Nun ja, nun ja! Ich werde +un–be–dingt ins Aus–land fahren. Ich entsinne +mich, als ich in den zwan–ziger Jahren im Auslande +war, da war es dort un–ge–mein lustig. Ich hätte +fast geheiratet, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une Vicomtesse</span>, eine Fran–zö–sin. +<a id="page-48" class="pagenum" title="48"></a> +Ich war damals sehr ver–liebt und wollte ihr mein +ganzes Leben weihen. Aber, wie gesagt, nicht ich hei–ra–te–te +sie, sondern ein an–derer. Und welch ein +selt–samer Zufall: ich war nur auf zwei Stunden +fort–ge–gangen und da siegte der an–dere, ein deutscher +Freiherr. Er saß dann noch später eine Zeitlang +in einer Irrenanstalt.“ +</p> + +<p> +„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher prince</span>, ich habe einzig deshalb davon +gesprochen, weil Sie im Ernst an Ihre Gesundheit denken +müssen. Im Auslande gibt es so gute Ärzte ... +und außerdem, was nicht eine bloße Lebensveränderung +auf sich hat! Sie müssen entschieden Ihr Duchanowo +verlassen, wenigstens für einige Zeit!“ +</p> + +<p> +„Un–be–dingt! Ich habe mich schon vor langer +Zeit entschlossen, und wissen Sie, ich beabsichtige, mich +hy–dropa–thisch behandeln zu lassen.“ +</p> + +<p> +„Hydropathisch?“ +</p> + +<p> +„Hydropathisch. Ich habe mich einmal hy–dro–pa–thisch +behandeln lassen. Ich war damals in einem +Kurort. Dort war auch eine Dame aus Moskau, ich +habe ihren Namen vergessen, nur war sie eine sehr poetische +Dame, sie wird sieb–zig Jahre alt gewesen sein. +Und bei ihr befand sich auch ihre Tochter, die war fünfzig +Jahre alt, eine Witwe, und auf dem einen Auge +hatte sie den Star. Die sprach gleichfalls fast nur in +Ver–sen. Später hat–te sie noch ein Miß–geschick: +sie hatte ihre leibeigene Magd erschlagen und war dafür +vor Ge–richt gekommen. Und da fiel es ihnen ein, +mich mit Wasser zu ku–rie–ren. Mir fehlte, wie gesagt, +nichts. Nun ja, sie aber bestanden darauf: ‚Tun +Sie es und tun Sie es!‘ Bis ich, aus Höf–lich–keit, +<a id="page-49" class="pagenum" title="49"></a> +denn auch rich–tig Wasser zu trinken begann; denke: +vielleicht wird dir davon auch wirk–lich leichter werden. +Ich trank und trank, trank und trank, trank einen +ganzen Was–ser–fall aus, und, wissen Sie, diese Hy–dro–pathie +ist eine gute Sache und hat mir viel Nutzen +gebracht, so daß ich, wenn ich nicht zu guter Letzt erkrankt +wäre, jetzt, Ehrenwort, vollkommen gesund sein +würde ...“ +</p> + +<p> +„Das ist doch mal eine vollkommen richtige Folgerung, +Onkelchen! Sagen Sie, Onkelchen, haben Sie +jemals Logik getrieben?“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! Was für Fragen Sie stellen!“ bemerkt +streng die pikierte Marja Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Ich habe, ich habe Logik getrieben, mein Lieber, nur +ist es sehr lange her. Ich habe auch Phi–lo–sophie +gelernt in Deutsch–land, habe einen ganzen Kursus +durch–gemacht, nur habe ich gleich damals alles wieder +ver–gessen. Aber ... wie gesagt ... Sie haben +mich mit diesen Krankheiten der–ma–ßen erschreckt, +daß ich ganz er–schüttert bin. Wie gesagt, ich werde +sogleich wiederkommen ...“ +</p> + +<p> +„Aber wohin gehen Sie denn, Fürst?“ ruft die verwunderte +Marja Alexandrowna aus. +</p> + +<p> +„Ich werde sogleich, sogleich ... Ich will nur einen +neuen Gedanken nie–der–schreiben ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">au revoir</span> ...“ +</p> + +<p> +„Na! Wie gefällt er Ihnen!“ fragt Pawel Alexandrowitsch +und biegt sich vor Lachen. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna verliert endlich die Geduld. +</p> + +<p> +„Ich verstehe nicht, ich verstehe absolut nicht, worüber +Sie lachen!“ beginnt sie mit Eifer. „Über +einen alten, ehrwürdigen Herrn, einen Verwandten, zu +<a id="page-50" class="pagenum" title="50"></a> +lachen, über jedes seiner Worte Ihren Spott zu ergießen, +und nur wegen seiner Engelsgüte! Ich bin für +Sie errötet, Pawel Alexandrowitsch! Aber so sagen +Sie doch, was denn Ihrer Meinung nach so lächerlich +an ihm ist? Ich kann wirklich nichts Lächerliches an +ihm finden!“ +</p> + +<p> +„Aber – daß er keinen Menschen erkennt, daß er +den größten Unsinn zusammenschwatzt? ...“ +</p> + +<p> +„Das ist doch nur eine Folge seines entsetzlichen +Lebens, seines fünfjährigen Gefängnislebens unter +der Aufsicht dieses höllischen Weibes! Man muß ihn +bemitleiden, aber nicht verspotten! Er hat sogar <em>mich</em> +nicht erkannt; Sie waren ja selbst Zeuge! Das ist +doch sicherlich, wie man sagt, himmelschreiend! Man +muß ihn unbedingt retten! Ich berede ihn nur aus +dem Grunde zu einer Reise ins Ausland, weil ich hoffe, +daß er dann diese – dieses Marktweib verlassen +wird!“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie was! Man muß ihn verheiraten, +Marja Alexandrowna!“ ruft Pawel Alexandrowitsch +aus. +</p> + +<p> +„Schon wieder! Aber Sie sind ja unerträglich, +Monsieur Mosgljäkoff!“ +</p> + +<p> +„Nein, Marja Alexandrowna, nein! Diesmal rede +ich ganz im Ernst! Warum soll man ihn denn nicht +verheiraten? Das ist doch eine Idee! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est une idée +comme une autre!</span> Was kann ihm das schaden, +sagen Sie doch, bitte! Er ist, im Gegenteil, in einer +solchen Lage, daß dieses Mittel ihn retten könnte! Nach +dem Gesetz kann er doch noch heiraten. Und erstens +wird er dann von diesem abgefeimten Weibsbild – +<a id="page-51" class="pagenum" title="51"></a> +verzeihen Sie den Ausdruck – befreit sein. Zweitens +– und das ist die Hauptsache – nehmen wir an, daß +er ein Mädchen erwählt, oder noch besser, eine Witwe, +eine nette, gute, kluge, zärtliche und vor allen Dingen +arme Witwe, die ihn wie eine Tochter pflegt, und die +auch begreift, wie viel sie ihm dafür Dank schuldig ist, +daß er sie zu seiner Frau gemacht hat. Was aber kann +man ihm mehr wünschen, als ein ihm nahestehendes, +herzliches und edles Wesen, das beständig bei ihm ist, +anstelle dieses ... Weibes? Versteht sich, sie darf +nicht häßlich sein, denn Onkelchen liebt noch immer die +Netten. Haben Sie bemerkt, wie er Sinaïda Afanassjewna +fixiert hat?“ +</p> + +<p> +„Wo aber werden Sie denn für ihn eine solche +Braut finden?“ fragte Nastassja Petrowna Sjäblowa, +die aufmerksam zuhört. +</p> + +<p> +„Wer da fragt, der ist es! Warum schließlich nicht +Sie, wenn Sie nur wollen! Erlauben Sie: weshalb +sollten Sie zum Fürsten <em>nicht</em> passen? Erstens – +Sie sehen nett aus, zweitens – Sie sind eine Witwe, +drittens – adlig, viertens – arm (denn Sie sind ja +tatsächlich nicht reich), fünftens – Sie sind eine sehr +vernünftige Dame, folglich werden Sie ihn lieben, auf +den Händen tragen, jene andere, die jetzt dort Herrin +ist, mit Püffen zur Tür hinausjagen; Sie werden ihn +ins Ausland bringen, werden ihn mit Brei und Konfekt +füttern, und alles das bis zu der Minute, in der er +das Irdische segnet, was vielleicht nach einem Jahre +geschehen wird, vielleicht aber auch schon nach zweieinhalb +Monaten. Dann sind Sie Fürstin, Witwe, +reich, und zur Belohnung heiraten Sie einen Marquis +<a id="page-52" class="pagenum" title="52"></a> +oder einen Generalintendanten! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est joli, n’est-ce +pas?</span>“ +</p> + +<p> +„O du mein Himmel! Ich würde mich ja, glaube +ich, aus lauter Dankbarkeit in ihn verlieben, wenn er +mir nur einen Heiratsantrag machen würde!“ ruft +Frau Sjäblowa aus, und ihre dunklen ausdrucksvollen +Augen blitzen auf. „Nur ist das alles – Scherz!“ +</p> + +<p> +„Scherz? Soll es kein Scherz sein? Bitten Sie +mich mal recht nett, und dann schneiden Sie mir einen +Finger ab, wenn Sie nicht heute noch verlobt sind! Es +ist ja überhaupt nichts leichter, als Onkelchen zu irgend +etwas zu bereden! Er sagt zu allem ‚nun ja, nun ja!‘ +Sie haben es doch selbst gehört. Wir verheiraten ihn +so, daß er selbst nichts davon merkt. Wir können ihn +ja offen betrügen, denn es geschieht doch nur zu seinem +Wohl, ich bitte Sie! ... Wenn Sie sich wenigstens +auf alle Fälle etwas aufputzen wollten, Nastassja Petrowna!“ +</p> + +<p> +Die Begeisterung Mosgljäkoffs wird zur Leidenschaft. +Und wie vernünftig Frau Sjäblowa auch sein +mag – ihr wässert dennoch der Mund. +</p> + +<p> +„Ach, ich weiß es auch ohne Ihren Hinweis, daß +ich heute ganz unmöglich angekleidet bin,“ antwortet +sie. „Ich habe mich ganz vernachlässigt und schon +lange jede Hoffnung aufgegeben ... Sehe ich denn +heute nicht wirklich wie – eine – Köchin aus?“ +</p> + +<p> +Während dieses ganzen Gesprächs saß Marja Alexandrowna +mit eigentümlich starrer Miene unbeweglich +auf ihrem Stuhl. Ich täusche mich nicht, wenn ich +sage, daß sie den sonderbaren Vorschlag Pawel +Alexandrowitschs mit einem gewissen Schreck vernahm +<a id="page-53" class="pagenum" title="53"></a> +und im Augenblick geradezu erstarrte ... Endlich +besann sie sich. +</p> + +<p> +„Alles das ist ja, sagen wir, wunderschön, aber +es bleibt doch ein Scherz und eine Ungereimtheit, und +vor allem ist es hier durchaus unschicklich,“ unterbricht +sie Mosgljäkoff scharf. +</p> + +<p> +„Aber weshalb denn, gütigste Marja Alexandrowna, +weshalb soll es denn eine Ungeschicklichkeit +und unschicklich sein?“ +</p> + +<p> +„Aus sehr vielen Gründen, vor allem aber deshalb, +weil Sie in meinem Hause sind und der Fürst mein +Gast ist, und weil ich niemandem erlauben werde, die +meinem Hause schuldige Achtung zu vergessen. Ich +fasse Ihre Worte nur als Scherz auf, Pawel Alexandrowitsch. +Aber Gott sei Dank! Da ist ja der Fürst!“ +</p> + +<p> +„Da bin auch ich wieder!“ ruft der Fürst aus, ins +Zimmer eintretend<a id="corr-11"></a>. „Es ist er–staunlich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher ami</span>, +wie viel neue Gedan–ken ich heute habe. Zu–wei–len +aber, vielleicht wirst du es nicht für möglich halten, +zuwei–len habe ich sie so gut wie über–haupt nicht. +Und so sitze ich oft einen ganzen Tag.“ +</p> + +<p> +„Das kommt wahrscheinlich von dem heutigen Fall +im Wagen, Onkelchen. Das hat Ihre Nerven erschüttert +und nun ...“ +</p> + +<p> +„Mein Lieber, ich schreibe es auch selbst diesem +Um–stande zu, und finde den Fall sogar nütz–lich. +Deshalb habe ich mich auch entschlossen, meinem Fe–o–fil +zu verzeihen. Weißt du, es scheint mir, daß er +es nicht auf mein Leben abgesehen hatte. Was meinst +du dazu? Zudem ist er sowieso vor kurzem bestraft +worden, als ihm der Bart ab–genom–men wurde.“ +</p> + +<p> +<a id="page-54" class="pagenum" title="54"></a> +„Sein Bart abgenommen, Onkelchen? Aber er +hat doch einen Bart von der Größe des Königreichs +Preußen!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, von der Größe des Königreichs Preußen. +Wie gesagt, mein Lieber, du hast voll–kom–men +recht in deiner An–nahme. Nur ist es ein künst–licher +Bart. Und denken Sie sich, welch ein Zu–fall: +plötzlich schickt man mir einen Preis-Kurant zu. Man +hat eine neue Sendung Bär–te aus dem Aus–lande +erhalten, vor–züg–liche Kutscher- und Herren–bär–te, +sowie Backenbärte, Schnurrbärte, Mouches +usw., und alle von vor–züglicher Arbeit und zu er–mäßigten +Prei–sen. Wart, denke ich, ich werde doch +einen Ba–art verschreiben, um doch ein–mal zu +sehen, wie ein falscher aussieht. Und ich bestellte einen +Kut–scherbart, denn so ein Bart macht doch stattlicher. +Aber da zeigte es sich, daß Fe–o–fil einen +natürlichen Ba–art hat, der fast zweimal so groß ist. +Wie gesagt, was tun: soll man den echten abnehmen +lassen oder den geschickten zurücksenden und den natürlichen +tragen? Ich dachte und dachte, und beschloß, +ihn doch den künstlichen tragen zu lassen.“ +</p> + +<p> +„Wahrscheinlich deshalb, weil die Kunst über der +Natur steht, Onkelchen?“ +</p> + +<p> +„Gerade deshalb. Und wie er gelit–ten hat, als +ihm der Bart abgeschnit–ten wurde! Als hätte er +mit seinem Bart seine ganze Karrie–re verloren ... +Aber ist es nicht Zeit, daß wir fahren, mein Lieber?“ +</p> + +<p> +„Ich bin bereit, Onkelchen.“ +</p> + +<p> +„Aber ich hoffe, Fürst, daß Sie nur zum Gouverneur +fahren werden!“ ruft Marja Alexandrowna erregt +<a id="page-55" class="pagenum" title="55"></a> +aus. „Sie gehören jetzt <em>mir</em>, mein Fürst, Sie +gehören den ganzen Tag mir und meiner Familie. Ich +werde Ihnen natürlich nichts über die hiesige Gesellschaft +sagen. Vielleicht wollen Sie auch Anna Nikolajewna +besuchen, und – wozu Ihnen da die Illusionen +nehmen! Außerdem bin ich ja vollkommen überzeugt, +daß die Zeit Ihnen die Augen öffnen wird. Vergessen +Sie nur nicht, daß ich heute Ihre Hausfrau, Ihre +Schwester, Ihre Mutter, Ihre Wärterin bin, und glauben +Sie mir, Fürst, ich zittere für Sie! Sie kennen +sie nicht, nein, Sie kennen diese Menschen noch nicht, +wenigstens vorläufig nicht ...“ +</p> + +<p> +„Verlassen Sie sich auf mich, Marja Alexandrowna. +Es wird so sein, wie ich es Ihnen versprochen habe,“ +sagt Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +„Ach, Sie kennt man! Auf Sie sich zu verlassen! +Ich erwarte Sie zum Mittag zurück, Fürst. Wir speisen +früh. Ich bedauere unsäglich, daß mein Mann auf +dem Gute ist! Wie er sich freuen würde, Sie zu sehen! +Wenn Sie wüßten, wie er Sie verehrt, wie er Sie +liebt!“ +</p> + +<p> +„Ihr Mann? Al–so dann haben Sie auch einen +Mann?“ fragt der Fürst. +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott! Wie vergeßlich Sie sind, Fürst! +Sie haben ja alles, alles vergessen, was früher war! +Mein Mann Afanassij Matwejitsch – entsinnen Sie +sich seiner wirklich nicht? Er ist jetzt auf dem Gut, aber +Sie haben ihn früher tausendmal gesehen. Entsinnen +Sie sich nicht, Fürst – Afanassij Matwejitschs? ...“ +</p> + +<p> +„Afanassij Matwejitsch! Auf dem Gut, denken +Sie sich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mais c’est delicieux</span>! Dann haben Sie also +<a id="page-56" class="pagenum" title="56"></a> +auch einen Mann? Was für ein son–der–barer +Zufall indes! Das ist ja ganz wie ein bekanntes Vau–de–ville: +Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da +... wie war es doch, da habe ich es nun vergessen! +Jedenfalls fuhr die Frau irgendwohin, wie gesagt, sehr +geistvoll ...“ +</p> + +<p> +„‚Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, da fährt +die Frau schon aus dem Haus‘, Onkelchen,“ souffliert +Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +„Nun ja! Nun ja! Ich danke dir, mein Lieber, +gerade ‚aus dem Haus‘. Charmant, charmant! So +daß es vollkommen einen Vers bildet. Und du verfällst +immer auf den richtigen Vers, mein Lieber. +Nun ja: ich entsann mich noch ganz genau, daß die +Frau irgendwohin fuhr! Charmant, charmant! Wie +gesagt, ich habe ein wenig vergessen, wovon die Rede +war ... Richtig! Al–so wir fahren jetzt, mein +Lieber. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Au revoir, madame, adieu ma charmante +demoiselle!</span>“ fügt der Fürst hinzu, verbeugt +sich vor Sina und küßt seine Fingerspitzen. +</p> + +<p> +„Zum Mittag, zum Mittag, Fürst! Vergessen Sie +es nicht, schnell zurückzukehren!“ ruft ihm noch Marja +Alexandrowna nach. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-5"> +<a id="page-57" class="pagenum" title="57"></a> +V. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">enn</span> Sie, Nastassja Petrowna, vielleicht etwas +in der Küche nach dem Rechten sehen wollten,“ sagt +sie, nachdem sie den Fürsten hinausgeleitet hat. „Ich +habe eine Vorahnung, daß dieser schändliche Nikitka das +Essen unfehlbar verderben wird! Ich bin überzeugt, daß +er betrunken ist ...“ +</p> + +<p> +Nastassja Petrowna gehorcht. Im Fortgehen wirft +sie Marja Alexandrowna einen mißtrauischen Blick zu +und bemerkt sogleich, daß diese sich in ungewöhnlicher +Erregung befindet. Anstatt nun nach dem schändlichen +Nikitka zu sehen, geht Nastassja Petrowna in den +Saal, von dort durch einen Korridor in ihr Zimmer +und von dort in eine kleine dunkle Kammer, in der +einige Koffer stehen, ein paar alte Kleidungsstücke hängen +und in Bündeln die schmutzige Wäsche des Hauses +aufbewahrt wird. Auf den Fußspitzen schleicht sie zu +einer verschlossenen Tür, hält den Atem an, beugt +sich nieder, lauert durch das Schlüsselloch und lauscht. +Diese Tür ist eine der drei Türen desselben Zimmers, +in dem jetzt Sina und deren Mutter allein zurückgeblieben +sind. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna hält Nastassja Petrowna +zwar für eine durchtriebene, aber doch mehr leichtsinnige +<a id="page-58" class="pagenum" title="58"></a> +Person. Wohl ist ihr bisweilen schon der Gedanke gekommen, +daß Nastassja Petrowna sich nicht schämen +würde, an den Türen zu lauschen. In diesem Augenblick +ist aber Marja Alexandrowna so beschäftigt und aufgeregt, +daß sie keine Zeit hat, an Vorsichtsmaßregeln +zu denken. Sie setzt sich in ihren weichen Sessel und +blickt bedeutsam ihre Tochter an. Sina fühlt diesen +Blick und eine bittere Qual steigt in ihrem Herzen auf. +</p> + +<p> +„Sina!“ +</p> + +<p> +Sina wendet langsam ihr bleiches Gesicht der Mutter +zu und erhebt den Blick ihrer dunklen, verträumten +Augen. +</p> + +<p> +„Sina, ich habe die Absicht, mit dir über etwas sehr +Ernstes zu reden.“ +</p> + +<p> +Sina wendet sich jetzt vollkommen zur Mutter, +faltet die Hände, lehnt sich an den Flügel und wartet. +In ihrem Gesicht spiegelt sich Ärger und Spott wieder, +was sie übrigens zu verbergen sucht. +</p> + +<p> +„Ich will dich fragen, Sina, wie dir heute <em>jener</em> +Mosgljäkoff gefallen hat?“ +</p> + +<p> +„Du weißt doch längst, wie ich über ihn denke,“ +antwortet Sina gleichsam wider Willen. +</p> + +<p> +„Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon enfant</span>; aber es scheint mir, daß er mit +seinem ... Werben gar zu lästig wird.“ +</p> + +<p> +„Er sagt, daß er in mich verliebt sei und so dürfte +seine Aufdringlichkeit entschuldbar sein.“ +</p> + +<p> +„Sonderbar, früher hast du ihn nicht so ... bereitwillig +entschuldigt. Im Gegenteil, du fielst immer +über ihn her, sobald ich nur von ihm sprach.“ +</p> + +<p> +„Sonderbar ist gleichfalls, daß du ihn früher immer +verteidigtest und jetzt als erste über ihn herfällst.“ +</p> + +<p> +<a id="page-59" class="pagenum" title="59"></a> +„Ja, beinahe. Ich will nichts verleugnen, Sina: +früher wollte ich dich gern mit ihm verheiratet wissen. +Es war mir schwer, deinen ewigen Kummer, deine +Qual zu sehen, die ich dir nachfühlen kann – gleichviel, +was du auch von mir denkst! – und die meinen +Schlaf in jeder Nacht vergiftet. Ich hatte mich überzeugt, +daß nur eine einschneidende Veränderung in deinem +Leben dich retten könnte. Und diese Veränderung +soll – eine Heirat sein. Wir sind nicht reich und +können zum Beispiel nicht ins Ausland fahren. Die +hiesigen Esel wundern sich, daß du dreiundzwanzig +Jahre alt und noch unverheiratet bist und erfinden +allerlei Geschichten. Aber soll ich dich denn einem +unserer Räte geben oder Iwan Iwanowitsch, unserm +Ökonom? Gibt es denn hier Männer für dich? Mosgljäkoff +ist natürlich dumm, aber er ist doch immer noch +der beste von allen. Er ist aus guter Familie, er hat +einflußreiche Verwandschaft, er besitzt hundertundfünfzig +Seelen – das ist doch immerhin besser, als von +Sporteln und Sparen und weiß Gott was für Abenteuern +zu leben. Deshalb hatte ich auch mein Auge +auf ihn geworfen. Aber, ich schwöre es dir, ich habe +nie aufrichtige Sympathie für ihn empfunden. Ich bin +überzeugt, daß der Höchste mich selbst zurückgehalten +hat. Und wenn Gott dir jetzt etwas Besseres geschickt +hat – o! Wie gut ist es dann, daß du ihm noch +nicht dein Wort gegeben hast! Du hast ihm doch heute +nichts Bindendes gesagt, Sina?“ +</p> + +<p> +„Wozu diese Verstellung, Mamachen, wenn sich doch +alles mit zwei Worten sagen läßt?“ fragt Sina gereizt. +</p> + +<p> +<a id="page-60" class="pagenum" title="60"></a> +„Verstellung, Sina, Verstellung? Und dieses Wort +kannst du deiner Mutter sagen? Doch was rede ich +unnütz! Du glaubst ja deiner Mutter lange nicht +mehr. Du hältst mich für deine Feindin, nicht aber +für deine Mutter.“ +</p> + +<p> +„Ach, schon gut, Mamachen! Sollen wir uns +beide noch wegen eines Wortes streiten! Verstehen +wir uns denn nicht? Ich dachte, wir hätten doch Zeit +genug gehabt, uns kennen zu lernen!“ +</p> + +<p> +„Aber du beleidigst mich, mein Kind! Du glaubst +nicht, daß ich zu allem, zu allem bereit bin, um dich +sicher zu stellen!“ +</p> + +<p> +Spöttisch und geärgert blickte Sina ihre Mutter an. +</p> + +<p> +„Willst du mich vielleicht mit diesem Fürsten verheiraten, +um mich <em>sicher zu stellen</em>?“ fragte sie +mit einem seltsamen Lächeln. +</p> + +<p> +„Ich habe das nicht gesagt, mein Kind, doch da +du selbst darauf zu sprechen kommst, so will ich dir +sagen, daß es dein Glück wäre, wenn du den Fürsten +heiraten könntest.“ +</p> + +<p> +„Ich aber finde, daß es einfach unsinnig wäre!“ +rief Sina heftig aus. „Der größte Unsinn! Und auch +finde ich, Mama, daß du gar zu viel dichterische Begeisterung +hast, du bist im vollen Sinn des Wortes ein +weiblicher Dichter. So wirst du ja auch hier genannt. +Du hast beständig Projekte. Deren Unmöglichkeit +und Sinnlosigkeit aber – hält dich nie ab. Noch +als der Fürst hier saß, ahnte ich, was du im Sinn +hattest. Und als Mosgljäkoff diesen Blödsinn schwatzte +und beteuerte, daß man den alten Mann verkuppeln +müsse, da habe ich in deinem Gesicht alle deine Gedanken +<a id="page-61" class="pagenum" title="61"></a> +gelesen. Ich gebe meinen Kopf darauf, daß du +daran denken und gerade <em>das</em> mir jetzt vorschlagen +wolltest. Da aber deine unermüdlichen Pläne in bezug +auf mich mir tödlich zuwider geworden sind, mich +quälen, so bitte ich dich, kein Wort von deinem neuen +Projekt mehr zu sprechen, hörst du, Mama, – kein +Wort, und es würde mich freuen, wenn du das behieltest!“ +Sie war atemlos vor Zorn. +</p> + +<p> +„Du bist ein Kind, Sina, ein reizbares, krankes +Kind!“ entgegnete Marja Alexandrowna mit gerührter +Stimme, in der Tränen zu zittern schienen. „Du +sprichst mit mir ungezogen und kränkst mich. Keine +Mutter würde das ertragen, was ich täglich von dir ertrage! +Aber du bist gereizt, du bist krank, du leidest, +ich aber bin Mutter und vor allem Christin. Ich muß +dulden und verzeihen. Doch ein Wort, Sina: wenn +ich nun tatsächlich an diese Verbindung gedacht hätte +– weshalb hältst du diesen Gedanken für unsinnig? +Meiner Meinung nach hat Mosgljäkoff nie klüger gesprochen, +als vorhin, – ich meine, als er bewies, daß +der Fürst heiraten müsse, nur, versteht sich, nicht diesen +Schmierpinsel Nastassja. Darin hat er sich natürlich +versehen.“ +</p> + +<p> +„Höre, Mama! Sage doch offen: fragst du das +nur so, aus Neugierde, oder mit einer bestimmten +Absicht?“ +</p> + +<p> +„Ich frage nur: weshalb erscheint dir das so unsinnig?“ +</p> + +<p> +„Ach, es ist doch wirklich ärgerlich! Daß einem +auch ein solches Schicksal beschieden sein kann!“ rief +Sina aus und stampfte mit dem Fuß vor Empörung. +<a id="page-62" class="pagenum" title="62"></a> +„Gut, ich werde es dir sagen, weshalb: ganz abgesehen +von allen übrigen Dummheiten, – die Geistesschwäche +eines Greises auszubeuten, ihn zu betrügen, ihn zu +heiraten, diesen Klappergreis, um ihm dann sein Geld +abzunehmen und täglich, stündlich seinen Tod zu wünschen, +das ist, finde ich, nicht nur unsinnig, sondern +außerdem noch so niedrig, so niedrig, daß ich dir zu +solchen Gedanken nicht Glück wünschen kann, Mama!“ +</p> + +<p> +Eine ganze Minute dauerte das Schweigen. +</p> + +<p> +„Sina! Entsinnst du dich noch dessen, was vor +zwei Jahren war?“ +</p> + +<p> +Sina zuckte zusammen. +</p> + +<p> +„Mama!“ sagte sie dann mit strenger Stimme, „du +hast mir feierlich gelobt, mich nie mehr daran zu erinnern.“ +</p> + +<p> +„Und jetzt bitte ich dich feierlich, mein Kind, mir +nur dieses eine Mal zu erlauben, das Versprechen, das +ich bis jetzt noch niemals vergessen habe, zurückzuziehen. +Sina! Die Stunde einer rückhaltslosen Aussprache +zwischen uns ist gekommen. Diese zwei Jahre +Schweigen waren entsetzlich! So kann es nicht weitergehen! +... Ich bin bereit, dich auf den Knien anzuflehen +– erlaube mir nur dieses eine Mal zu sprechen! +Hörst du, Sina, deine leibliche Mutter fleht dich +auf den Knien an! Und ich gebe dir feierlich mein +Wort, – das Wort einer unglücklichen Mutter, die +ihre Tochter vergöttert, daß ich niemals, in keiner +Form, und in keinem Fall, selbst wenn es sich um die +Rettung meines Lebens handelte, davon mehr sprechen +werde. Es wird dies das letzte Mal sein – aber diesmal +geht es nicht anders, ich muß!“ +</p> + +<p> +<a id="page-63" class="pagenum" title="63"></a> +Marja Alexandrowna rechnete auf einen durchschlagenden +Erfolg dieser Worte. +</p> + +<p> +„Sprich,“ sagte Sina, die merklich bleicher wurde. +</p> + +<p> +„Ich danke dir, Sina. Vor zwei Jahren kam zu +deinem verstorbenen Bruder Mitjä ein junger +Lehrer ...“ +</p> + +<p> +„Aber wozu denn diese feierliche Einleitung, Mama! +Wozu diese ganze Redekunst, alle diese Einzelheiten, +die doch vollkommen überflüssig sind, die doch +nur quälen und die uns beiden nur zu gut bekannt +sind?“ unterbrach Sina ihre Mutter zornig und wie +angeekelt. +</p> + +<p> +„Weil ich, deine Mutter, mein Kind, gezwungen +bin, mich vor dir zu rechtfertigen. Zudem will ich dir +diese Angelegenheit von einem ganz anderen Standpunkt +aus zeigen, nicht von diesem falschen Standpunkt +aus, von dem aus du sie zu beurteilen gewohnt +bist. Und schließlich, damit du die Folgerung begreifst, +die ich hieraus zu ziehen beabsichtige: Glaube nicht, +mein Kind, daß ich mit deinem Herzen spielen will! +Nein, Sina, du wirst in mir eine wirkliche Mutter finden, +und vielleicht wirst du tränenüberströmt zu meinen +Füßen, zu den Füßen der ‚<em>niedrigen Frau</em>‘, wie +du mich soeben genannt hast, die Versöhnung erbitten, +die du so lange, die du bis zum heutigen Tage verschmäht +hast. Darum will ich alles sagen, Sina, alles, +von Anfang an wiederholen. Oder ich schweige.“ +</p> + +<p> +„Sprich,“ wiederholte Sina, die von ganzem Herzen +die Notwendigkeit dieser Rede verwünschte. +</p> + +<p> +„Ich fahre fort, Sina: – Dieser Lehrer an der +Kreisschule, fast noch ein Knabe, machte auf dich einen +<a id="page-64" class="pagenum" title="64"></a> +mir vollkommen unbegreiflichen Eindruck. Ich vertraute +zu sehr auf deine Vernunft, auf deinen edlen +Stolz und hauptsächlich auf seine Nichtigkeit – es +muß doch einmal alles gesagt werden –, um auch nur +das geringste zwischen euch zu argwöhnen. Und plötzlich +kommst du zu mir und erklärst mir entschlossen, +daß du ihn zu heiraten beabsichtigst! Sina! Das war +ein Dolchstich in mein Herz! Ich schrie nur auf und +verlor das Bewußtsein. Doch ... du entsinnst dich +ja noch dessen! Versteht sich, ich fand es für nötig, +meine ganze Macht zu gebrauchen, die du damals +Tyrannei nanntest. Denk doch nur: ein unreifer Knabe, +der Sohn eines Popen, der ein Monatsgehalt von nur +zwölf Rubel hat, der Verfasser erbärmlicher Verse, die +nur aus Mitleid in der „Bibliothek zur Aufklärung“ +abgedruckt werden und der von nichts anderem als nur +von diesem verwünschten Shakespeare zu sprechen weiß – +dieser Knabe dein Mann, der Mann Sinaïda Moskaleffs! +Aber das ist ja ein Ding der Unmöglichkeit! +Verzeih, Sina, aber die blasse Erinnerung daran bringt +mich um meinen Verstand! Ich sagte ihm ab; +aber keine Macht der Welt vermag dich aufzuhalten. +Dein Vater, wie du weißt, blinzelte nur mit den Augen +und begriff nicht einmal, was ich ihm erklärte. Du +aber bist von deinem Knaben nicht abzubringen, du +kommst sogar mit ihm zusammen, und was am furchtbarsten +ist, du entschließt dich, mit ihm zu korrespondieren. +In der Stadt verbreiten sich schon Gerüchte. +Mir werden von allen Seiten Stiche versetzt; man +freut sich, man posaunt es schon aus, und plötzlich +gehen alle meine Prophezeiungen in Erfüllung. Es +<a id="page-65" class="pagenum" title="65"></a> +kommt zu einem Streit zwischen euch, er erweist sich +als deiner vollkommen unwürdig ... als grüner Bengel +– ich kann ihn unmöglich einen Mann nennen! – +und er droht dir, deine Briefe in der Stadt herum +zu zeigen. Diese Drohung empört dich dermaßen, daß +du ihm eine Ohrfeige gibst. Ja, Sina, auch dieses +weiß ich! Ich weiß alles, alles! Der Unglückliche +zeigt noch am selben Tage einen deiner Briefe dem +Lump Sanschin und nach einer Stunde befindet sich +dieser Brief in den Händen Natalja Dmitrijewnas, +meiner Totfeindin! Am selben Abend macht dieser +Wahnsinnige aus Reue den unsinnigen Versuch, sich +zu vergiften. Kurz, es ist ein entsetzlicher Skandal zu +erwarten! Dieser Schmierpinsel Nastassja kommt erschrocken +zu mir gelaufen mit der furchtbaren Nachricht, +daß der Brief sich schon seit einer ganzen Stunde in +den Händen Natalja Dmitrijewnas befinde: nach +zwei Stunden wird die ganze Stadt um deine Schmach +wissen! Ich überwand mich, ich fiel nicht in Ohnmacht, +– aber mit welchen Schlägen hast du mein +Herz getroffen, Sina! Diese Schamlose, dieses Scheusal +Nastassja verlangt zweihundert Rubel bar und dafür +schwört sie, den Brief zur Stelle zu schaffen. Ich +selbst laufe, in dünnen Stiefeln, im Schnee zum Juden +Bumstein und verpfände meinen Schmuck, das Andenken +meiner seligen Mutter! ... Nach zwei Stunden +ist der Brief in meinen Händen. Nastassja hatte ihn +gestohlen. Sie hat die Schatulle erbrochen – deine +Ehre ist gerettet, der Beweis vernichtet! Aber in welcher +Aufregung hast du mich diesen Tag verbringen +lassen! Am nächsten Morgen bemerkte ich zum erstenmal +<a id="page-66" class="pagenum" title="66"></a> +in meinem Leben, daß ich vereinzelte graue Haare +hatte, Sina! Du weißt jetzt, wie du über diesen Knaben +urteilen mußt. Du hast selbst zugegeben, vielleicht +mit einem bitteren Lächeln, daß es der größte +Wahnsinn gewesen wäre, ihm dein Leben anzuvertrauen. +Aber seit der Zeit quälst du dich, mein Kind, +du kannst ihn nicht vergessen, oder richtiger, nicht ihn +– denn er ist deiner stets unwürdig gewesen –, sondern +das Phantom deines einstigen Glücks kannst du +nicht vergessen. Dieser Unglückliche liegt jetzt auf dem +Sterbebett; man sagt, er sei schwindsüchtig; du aber, +in deiner Engelsgüte, du willst nicht heiraten, solange +er noch lebt, um sein Herz nicht zu zerreißen, denn er +quält sich noch immer mit seiner Eifersucht herum, +wenn ich auch überzeugt bin, daß er dich niemals mit +einer so tiefen, erhabenen Liebe geliebt hat! Ich weiß, +seitdem er von Mosgljäkoffs Werbung gehört hat, läßt +er spionieren, auflauern und ausfragen. Du schonst +ihn, mein Kind, ich habe es erraten, und Gott allein +weiß, mit wie bitteren Tränen ich mein Kissen genetzt +habe! ...“ +</p> + +<p> +„Laß doch das, Mama!“ unterbricht Sina in unerträglicher +Qual. „Das mit dem Kissen war wohl +sehr notwendig,“ fügte sie spöttisch hinzu. „Geht es +denn nicht ohne Deklamation, ohne Pathos?“ +</p> + +<p> +„Du glaubst mir nicht, Sina! Sieh nicht feindlich +auf mich, mein Kind! Meine Augen sind in diesen +zwei Jahren nicht trocken geworden, aber ich habe +meine Tränen vor dir verborgen, und ich schwöre dir, +ich selbst habe mich in dieser Zeit in vielem verändert! +Ich habe längst deine Gefühle begriffen und ich gestehe +<a id="page-67" class="pagenum" title="67"></a> +es, erst jetzt kann ich die ganze Größe deines Schmerzes +nachempfinden. Kann man mir daraus einen Vorwurf +machen, mein Kind, daß ich diese Anhänglichkeit +nur für Romantik hielt, die dieser verwünschte Shakespeare +heraufbeschworen hat, dieser Dummkopf, der +seine Nase überall hineinsteckt, wo man ihn gar nicht +haben will? Welche Mutter würde mich wegen meines +Schreckens, wegen der Maßregeln, die ich ergriff, +wegen der Strenge meines Urteils verdammen? Jetzt +aber, jetzt, nachdem ich dein Leiden in diesen zwei Jahren +gesehen habe, jetzt verstehe und achte ich deine Gefühle. +Glaube mir, ich habe dich vielleicht besser verstanden, +als du dich selbst verstehst. Ich bin überzeugt, +daß du gar nicht ihn liebst, diesen Knaben, nur deine +eigenen goldenen Träume, dein verlorenes Glück, deine +erhabenen Ideale. Auch ich habe geliebt und vielleicht +noch leidenschaftlicher als du. Auch ich habe gelitten. +Ich habe gleichfalls meine hohen Ideale gehabt. Und +darum – wer kann mich deshalb verurteilen, und vor +allem – kannst du mich deshalb verurteilen, weil ich +die Verbindung mit dem Fürsten für die beste Rettung +halte, für das Notwendigste, was du in deiner augenblicklichen +Lage tun kannst und tun mußt?“ +</p> + +<p> +Sina hörte mit Verwunderung diese lange Rede +an, denn sie wußte, daß ihre Mutter nicht ohne Grund +einen solchen Ton anschlug. Die letzte unerwartete +Folgerung jedoch stieß sie vollkommen vor den Kopf. +</p> + +<p> +„Dann hast du also im Ernst beschlossen, mich mit +diesem Fürsten zu verheiraten?“ rief sie verwundert +aus und sah erschrocken die Mutter an. „Dann sind +es ja nicht nur Träume, Projekte, sondern – deine +<a id="page-68" class="pagenum" title="68"></a> +feste Absicht ist es? Dann habe ich es richtig erraten? +Und ... und ... inwiefern wird mich denn diese +Heirat retten und weshalb ist sie so notwendig? Und +... und ... was hat das damit zu schaffen, was +du soeben hier geredet hast? – mit dieser ganzen Geschichte? +... Ich verstehe dich nicht, Mama!“ +</p> + +<p> +„Ich wundere mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>, wie du das nicht +verstehen kannst!“ ruft Marja Alexandrowna aus, die +jetzt ihrerseits in Hitze gerät. „Allein das, daß du in +eine andere Gesellschaft hineinkommst, in eine andere +Welt! Du verläßt auf ewig dieses widerliche Nest, +das für dich voll ist von unangenehmen Erinnerungen, +in dem du keinen einzigen Freund hast, weder unter +den Frauen, noch unter den Männern, in dem du verleumdet +worden bist, in dem alle diese Klatschbasen dich +wegen deiner Schönheit hassen. Du könntest noch in +diesem Frühling nach Italien fahren, in die Schweiz, +nach Spanien, Sina, nach Spanien, wo die Alhambra +ist, der Guadalquivir, nicht aber unser kleines Flüßchen +hier mit dem unanständigen Namen ...“ +</p> + +<p> +„Aber erlaube, Mama, du redest, als wenn ich bereits +verheiratet wäre oder zum mindesten als hätte +der Fürst bereits um mich angehalten!“ +</p> + +<p> +„Das laß meine Sorge sein, mein Engel, ich weiß, +was ich rede. Erlaube, daß ich fortfahre. Den ersten +Punkt habe ich dir genannt, jetzt kommt der zweite: ich +begreife sehr wohl, mein Kind, mit welchem Widerwillen +du deine Hand diesem Mosgljäkoff gegeben hättest +...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß auch ohne deine Bemerkung, daß ich ihn +<a id="page-69" class="pagenum" title="69"></a> +niemals geheiratet hätte, niemals heiraten werde!“ unterbrach +Sina heftig und ihre Augen blitzten. +</p> + +<p> +„Und wenn du wüßtest, wie ich deinen Ekel begreife, +mein Kind! Es ist furchtbar, einem zu gehören, den +einem Manne Liebe schwören müssen, den man nicht +liebt! Es ist mehr als furchtbar, einem zu gehören, den +man nicht einmal achtet! Er aber verlangt deine +Liebe: nur ihretwegen würde er dich heiraten, das +sehe ich an den Blicken, die er auf dich wirft, wenn du +dich abwendest. Und dann sich verstellen zu müssen –! +Ich habe es in den fünfundzwanzig Jahren meiner Ehe +zur Genüge ausgekostet! Dein Vater hat mich unglücklich +gemacht. Ich kann sagen, er hat meine Jugend +ausgesogen. Wie oft hast du meine Tränen gesehen!“ +</p> + +<p> +„Papa ist auf dem Gut, bitte kein Wort über ihn,“ +sagte Sina. +</p> + +<p> +„Ich weiß, du bist ewig seine Verteidigerin. Ach, +Sina! Mir wollte das Herz zerspringen, als ich – +aus Berechnung – deine Vermählung mit Mosgljäkoff +wünschte. Bei dem Fürsten aber brauchst du dich nicht +zu verstellen. Es versteht sich von selbst, daß du ihn +nicht lieben kannst ... und er ist ja auch garnicht <em>fähig</em>, +solche Liebe zu verlangen ...“ +</p> + +<p> +„Gott, welch ein Unsinn! Aber ich sage dir doch, +daß du dich von Grund aus täuschst, von Anfang an, +gerade in der Hauptsache! Begreife doch, daß ich mich +nicht opfern will, ohne zu wissen, wozu! Daß ich +überhaupt nicht heiraten will, keinen einzigen, ich bleibe +unverheiratet! Du hast mich zwei Jahre lang gefoltert, +bloß weil ich nicht heiratete. Doch! Du wirst dich damit +<a id="page-70" class="pagenum" title="70"></a> +aussöhnen müssen. Ich will nicht und das genügt! +So wird es sein!“ +</p> + +<p> +„Aber Herzchen, Sinachen, reg dich um Gotteswillen +nicht so auf, noch bevor du alles gehört hast! +Was du für ein Hitzköpfchen bist! Erlaube mir, daß +ich dir die Sache von meinem Standpunkt aus erkläre +und du wirst sofort mit mir übereinstimmen. Der +Fürst wird vielleicht noch ein Jahr leben, zwei wäre +viel, und meiner Meinung nach ist es besser, eine junge +Witwe zu sein, als ein altes Mädchen, ganz abgesehen +davon, daß du nach seinem Tode – Fürstin, frei, reich +und unabhängig bist! Mein Kind, du hörst vielleicht +mit Verachtung all diese Berechnungen – Berechnungen, +die mit der Erwartung seines Todes verknüpft sind. +Aber – ich bin Mutter und welche Mutter wird mich +wegen meiner Fürsorge verurteilen? Und schließlich, +wenn du, Engel der Güte, diesen Knaben immer noch +bemitleidest, dermaßen bemitleidest, daß du so lange er +noch lebt, nicht heiraten willst – was ich jetzt erraten +habe, – so denk doch nur, daß du, wenn du den Fürsten +heiratest, ihn seelisch auferstehen machst, ihm eine +große Freude bereitest! Wenn er ein Atom gesunde +Vernunft hast, so wird er natürlich begreifen, daß +Eifersucht auf den Fürsten unmöglich ist, sie wäre +lächerlich. Er wird begreifen, daß du aus Berechnung +geheiratet hast, also gezwungen. Er wird endlich begreifen, +daß du nach dem Tode des Fürsten wieder heiraten +kannst, wenn du willst ...“ +</p> + +<p> +„Kurz gesagt, es ergibt sich: heirate jetzt den Fürsten, +nimm ihm das Geld ab, warte dann auf seinen Tod, +um nachher den Geliebten zu heiraten. Du verstehst +<a id="page-71" class="pagenum" title="71"></a> +sehr gut, das Fazit einzuleiten! Du willst mich dazu +verführen, indem du mir vorschlägst – ... Ich verstehe +dich, Mama, verstehe dich vollkommen! Du kannst +dich nie enthalten, selbst in einer schändlichen Angelegenheit +nicht, edle Gefühle auszuspielen. Hättest du +doch einfach und natürlich gesagt: ‚Sina, es ist eine +Schändlichkeit, aber sie ist vorteilhaft und deshalb willige +ein.‘ Das wäre wenigstens aufrichtig gewesen.“ +</p> + +<p> +„Aber weshalb mein Kind, weshalb willst du unbedingt +nur von diesem Standpunkt aus die Sache ansehen, +– vom Gesichtspunkte des Betruges und der +Habsucht? Du hältst meine Bemerkungen für schändlich, +für Betrug? Aber, um aller Heiligen willen, wo ist +denn hier Betrug, was ist hier schändlich? Geh zum +Spiegel und sieh dich an: du bist so schön, daß man +ein Königreich für dich hingeben könnte! Und du, du, +die du eine solche Schönheit bist, du opferst diesem +Greise deine besten Jahre! Du wirst wie ein wundervoller +Stern seinen Lebensabend erhellen; du wirst wie +ein grüner Efeu um sein Alter ranken, nicht aber wie +diese Nessel, diese schamlose Person, die ihn behext hat +und seine Säfte aussaugt? Ist denn sein Geld, sein +Fürstentitel wirklich wertvoller als du? Wo ist denn +hier ein Betrug, eine Schändlichkeit? Du weißt nicht, +was du sprichst, Sina!“ +</p> + +<p> +„Sicherlich sind sie doch wertvoller, wenn man +einen Krüppel heiraten muß! Betrug bleibt immer Betrug, +Mama, gleichviel zu welchem Zweck.“ +</p> + +<p> +„Im Gegenteil, mein Kind, im Gegenteil! Man +kann es sogar von einem sehr hohen, sogar von einem +christlichen Standpunkt aus auffassen, mein Kind! Du +<a id="page-72" class="pagenum" title="72"></a> +hast mir selbst einmal in einem Anfall von Wahnsinn +gesagt, daß du barmherzige Schwester werden wolltest. +Dein Herz hat gelitten und ist jetzt verstockt. Du hast +gesagt – ich weiß es – daß du nicht mehr lieben +könntest. Wenn du an die Liebe nicht mehr glaubst, so +wende deine Gefühle einem anderen, höheren Gegenstande +zu, tue es aufrichtig wie ein Kind mit dem ganzen +Glauben an die Heiligkeit deiner Aufgabe – und +Gott wird dich segnen. Dieser Greis hat gleichfalls +gelitten, er ist unglücklich, er wird verfolgt. Ich kenne +ihn seit mehreren Jahren und habe stets eine unbegreifliche +Sympathie für ihn empfunden, eine Art Liebe sogar, +als hätte ich etwas vorausgeahnt. Sei sein +Freund, sei ihm eine Tochter, sei ... selbst sein Spielzeug +– wenn einmal alles gesagt werden muß! – +Aber erwärme sein Herz, und du wirst es für Gott tun, +um der Tugend willen! Er ist lächerlich, – beachte das +nicht. Er ist ein halber Mensch, – hab Mitleid mit +ihm: du bist Christin! Zwinge dich dazu: solche Taten +werden nur vollbracht, wenn man sich selbst bezwingt. +Uns scheint es schwer, in Krankenhäusern Wunden zu +verbinden, die übelriechende Lazarettluft einzuatmen. +Es gibt aber Engel Gottes, die alle diese Pflichten erfüllen +und obendrein Gott für ihre Bestimmung noch +danken. Das wäre eine Arzenei für dein verletztes +Herz – eine Beschäftigung, eine große Tat, und deine +Wunden würden vernarben. Wo ist hier nun Egoismus, +wo eine Schändlichkeit? Aber du glaubst mir +nicht! Du denkst vielleicht, daß ich mich verstelle, wenn +ich dir von Pflichten und großen Taten rede. Du kannst +es nicht verstehen, daß ich, eine weltliche, eitle Frau, +<a id="page-73" class="pagenum" title="73"></a> +ein Herz, Gefühl und eine Lebensmoral haben kann? +Nun gut! Glaub es nicht, beleidige deine Mutter, aber +gib wenigstens zu, daß ihre Worte vernünftig sind. +Wenn du willst, so denk, daß nicht ich rede, sondern irgend +ein anderer Mensch; schließe die Augen, kehre +mir den Rücken zu und bilde dir ein, daß eine unsichtbare +Stimme zu dir spricht ... Dich verwirrt doch +hauptsächlich nur, daß es, wie du meinst, für Geld geschehen +solle, wie ein Kauf oder Verkauf. So verzichte +doch auf das Geld, wenn es dir so verhaßt ist! Behalte +nur das Notwendigste für dich und alles übrige verteile +unter die Armen. Hilf zum Beispiel ihm, diesem +unglücklichen Knaben auf dem Sterbebett.“ +</p> + +<p> +„Er wird keine Hilfe annehmen,“ sagte Sina leise, +wie zu sich selbst. +</p> + +<p> +„Er nicht, aber seine Mutter wird sie annehmen,“ +antwortete die triumphierende Marja Alexandrowna, +„sie wird sie hinter seinem Rücken annehmen. Du hast +deine Ohrringe verkauft, die deine Tante dir geschenkt +hat, du hast sie verkauft und ihr geholfen, vor einem +halben Jahr. Ich weiß es. Ich weiß auch, daß die +Alte für andere Leute Wäsche wäscht, um ihren unglücklichen +Sohn ernähren zu können.“ +</p> + +<p> +„Bald wird sie es nicht mehr nötig haben!“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, auf was du anspielst,“ griff Marja +Alexandrowna sofort auf, und wahre Begeisterung erfaßte +sie, denn ein unbezahlbarer Gedanke hatte sie beglückt, +„ich weiß, wovon du sprichst. Man sagt, er sei +schwindsüchtig und werde bald sterben. Aber wer ist +denn das, der das sagt? Vor ein paar Tagen erkundigte +ich mich bei Kalist Stanislawitsch nach ihm: ich +<a id="page-74" class="pagenum" title="74"></a> +interessiere mich für ihn, denn ich habe ein Herz, Sina. +Kalist Stanislawitsch sagte mir, daß seine Krankheit +allerdings gefährlich sei, er aber, als Arzt, habe sich +überzeugt, daß es Schwindsucht nicht sein könne, sondern +nur so – ein ziemlich ernstes Brustleiden. Du +kannst ihn selbst fragen, wenn du willst. Und er sagte +mir, er sei überzeugt, daß der Kranke unter anderen +Verhältnissen, namentlich in einem anderen Klima, +nach einem Luftwechsel und unter anderen Eindrücken +sehr wohl noch gesund werden könnte. Er sagte mir, +daß in Spanien – ich habe davon auch früher schon +gehört, sogar gelesen – daß bei Spanien eine besondere +Insel sei, Madeira, glaube ich – jedenfalls +hieß sie wie ein Wein –, wo nicht nur Brustkranke, +sondern auch wirklich Schwindsüchtige vollständig gesund +geworden sind. Viele fahren nur zu dem Zweck +hin, um sich dort von dem milden Klima heilen zu +lassen, selbstverständlich meist Fürsten, natürlich auch +Kaufleute, jedenfalls aber nur Reiche. Schon diese Alhambra, +diese Myrten, diese Zitronenbäume und diese +Spanier auf ihren Mauleseln! – schon diese Umgebung +muß doch einen ungewöhnlichen Eindruck auf eine +poetische Natur machen. Du glaubst vielleicht, daß er +deine Unterstützung, dein Geld für diese Reise nicht annehmen +wird? So betrüge ihn, wenn er dir leid tut! +Ein Betrug zur Rettung eines Menschenlebens ist verzeihlich. +Mach ihm Hoffnung, versprich ihm deine +Liebe, sag ihm, daß du ihn heiraten wirst, wenn du +Witwe seist. Man kann alles in einer feinen edlen +Weise sagen. Deine Mutter wird dich nicht in Unedlem +unterstützen, Sina. Du tust es, um sein Leben +<a id="page-75" class="pagenum" title="75"></a> +zu erhalten, um ihn zu retten und deshalb ist – alles +erlaubt! Diese Hoffnung wird ihn neu beleben, er +wird selbst seiner Gesundheit mehr Aufmerksamkeit +schenken, wird Medizin einnehmen und die Vorschriften +der Ärzte befolgen. Er wird gesund werden wollen, +um das verheißene Glück genießen zu können. Und +wenn er gesund geworden ist, so wirst du ihn zwar nicht +heiraten, aber er wird dann doch wenigstens gesund +sein, immerhin hast du ihn dann gerettet! Und schließlich +kann man auch Mitleid mit ihm haben. Vielleicht +hat ihn das Leben inzwischen zum Besseren verändert, +und wenn er deiner nur wert ist, so kannst du ihn ja +später auch heiraten. Du bist dann reich, unabhängig. +Du kannst, wenn er wieder gesund ist, ihm eine Stellung +in der Welt verschaffen, er kann durch dich Karriere +machen. Dann würde diese Heirat verzeihlicher +sein als jetzt, denn jetzt wäre sie unmöglich. Was stände +euch bevor, wenn ihr euch jetzt dazu entschließen würdet? +Allgemeine Verachtung, Armut. Schulbuben an +ihren Ohren ziehen – denn das ist nun einmal mit +seiner Tätigkeit verknüpft –, gemeinsames Lesen Shakespeares, +ewiges Leben in Mordassoff und dann sein +unvermeidlicher, naher Tod. Während du ihm so, wenn +du ihn gewissermaßen von den Toten auferweckst, zu +einem nutzbringenden Leben, zum Schaffen die Möglichkeit +gibst. Indem du ihm verzeihst – zwingst du +ihn, dich zu vergöttern. Ihn quält sein schändlicher +Racheversuch. Wenn du ihm jetzt die Möglichkeit eines +neuen Lebens zeigst, ihm verzeihst, so belebst du ihn +mit der Hoffnung und söhnst ihn mit sich selbst aus. +Er kann dann in den Staatsdienst treten, kann sogar zu +<a id="page-76" class="pagenum" title="76"></a> +Ehren und Titeln gelangen. Und selbst wenn er nicht +gesund wird, so stirbt er doch wenigstens glücklich, versöhnt +mit sich selbst, in deinen Armen – denn du kannst +ja selbst in diesem Augenblick bei ihm sein –, überzeugt +von deiner Liebe, mit dir versöhnt, im Schatten +der Myrten und Orangen, unter dem exotischen Himmel! +O, Sina! Alles das ist in deiner Macht! Alle +Vorteile sind auf deiner Seite – und das alles durch +die Verbindung mit dem Fürsten!“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna hatte ihre Rede beendet. Es +folgte ein ziemlich langes Schweigen. Sina befand +sich in unbeschreiblicher Aufregung. +</p> + +<p> +Wir wollen es nicht versuchen, Sinas Gefühle wiederzugeben +und wir können sie auch nicht alle erraten. +Es scheint, daß Marja Alexandrowna den richtigen +Weg zum Herzen ihrer Tochter gefunden hatte. Da +sie nicht wußte, in welchem Zustande sich Sinas Herz +befand, hatte sie zuerst alle Möglichkeiten versucht, bis +sie zu guter Letzt erriet, welcher der richtige Weg war. +Sie rührte rücksichtslos an die empfindlichsten Stellen +dieses Herzens und konnte ihrer Gewohnheit gemäß natürlich +nicht ohne Hervorkehrung edler Gefühle auskommen, +obschon sie wußte, daß sie damit Sina nicht +täuschen würde. +</p> + +<p> +„Aber was hilft das alles,“ dachte Marja Alexandrowna, +„sie wird mir doch nicht glauben. Wenn +man sie nur zum Nachdenken bringen könnte! Wenn +ich nur möglichst geschickt andeuten könnte, was ich ihr +offen nicht sagen darf!“ +</p> + +<p> +Mit diesen Gedanken arbeitete sie auf ihr Ziel los +und erreichte es auch: Sina hörte schließlich gespannt +<a id="page-77" class="pagenum" title="77"></a> +zu, ihre Wangen glühten und sie atmete +erregt. +</p> + +<p> +„Höre, Mama,“ sagte sie endlich entschlossen, wenn +auch das totenblasse Gesicht deutlich aussprach, was +dieser Entschluß sie kostete. „Höre Mama ...“ +</p> + +<p> +In diesem Augenblick wurde Sina von einem Geräusch +im Vorzimmer und einer schrillen, scharfen +Stimme, die nach Marja Alexandrowna fragte, unterbrochen. +Marja Alexandrowna sprang erschrocken auf. +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott!“ rief sie aus. „Der Teufel +schickt mir diese Elster auf den Hals! Aber ich habe +sie doch vor zwei Wochen fast hinausgeworfen! Was +soll ich tun? Es geht nicht anders, ich muß sie empfangen! +Ich muß! Sie kommt bestimmt mit Nachrichten, +sonst würde sie es doch nicht wagen, zu erscheinen. +Das ist sehr wichtig, Sina! Ich muß unbedingt +wissen ... Ich darf nichts unbeachtet lassen! – +Aber nein, wie dankbar ich Ihnen bin für Ihren Besuch!“ +rief sie freudig aus, indem sie der eintretenden +Frau Oberst entgegeneilte. „Wie haben Sie sich nur +meiner erinnert, meine teure Ssofja Petrowna? Welch +eine ent–zück–ende Überraschung!“ +</p> + +<p> +Sina lief aus dem Zimmer. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-6"> +<a id="page-78" class="pagenum" title="78"></a> +VI. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">S</span><span class="postfirstchar">sofja</span> Petrowna Karpuchina, die Frau eines Obersten, +glich nur seelisch einer Elster. Körperlich erinnerte +sie eher an einen dünnen Sperling. Sie war eine +kleine, fünfzigjährige Dame mit scharfen, stechenden +Augen in einem Gesicht, das ganz von Sommersprossen +und anderen gelben Flecken bedeckt war. Ihr kleiner, +ausgetrockneter Körper, der auf zwei dünnen, festen +Sperlingsbeinen stand, stak in einem dunklen Seidenkleid, +das beständig rauschte, da die Dame nie, auch nur +zwei Sekunden lang, sich ruhig verhalten konnte. Sie +war eine geradezu bösartige, rachsüchtige Klatschbase. +Der Oberstenrang ihres Mannes war ihr dermaßen +zu Kopf gestiegen, daß er sie jeder gesunden Vernunft +beraubt hatte. Mit ihrem Mann jedoch, dem Oberst +a. D., führte sie oft Krieg und zerkratzte ihm bei der +Gelegenheit tüchtig das Gesicht. Außerdem trank sie +jeden Morgen vier Gläschen Branntwein und am +Abend dieselbe Portion, und haßte bis zum Wahnsinn +Anna Nikolajewna Antipowa, die ihr vor einer Woche +die Tür gewiesen, sowie auch Natalja Dmitrijewna +Paskudina, die dabei geholfen hatte. +</p> + +<p> +„Ich bin nur auf einen Augenblick zu Ihnen gekommen, +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>,“ begann sie mit ihrer kreischenden Stimme. +<a id="page-79" class="pagenum" title="79"></a> +„Es ist ganz überflüssig, daß ich mich gesetzt habe. +Ich wollte nur erzählen, was für Wunder bei uns geschehen. +Die ganze Stadt ist einfach von Sinnen und +das wegen dieses Fürsten! Unsere Gimpelfängerinnen +– <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez!</span> – suchen ihn, fangen ihn, reißen +ihn sich gegenseitig aus den Händen, schleppen ihn zu +sich, setzen ihm Champagner vor, – Sie werden es +nicht glauben! Sie glauben es nicht! Aber wie haben +Sie sich nur entschließen können, ihn von sich fortzulassen? +Wissen Sie auch, daß er jetzt bei Natalja +Dmitrijewna ist?“ +</p> + +<p> +„Bei Natalja Dmitrijewna!“ schrie Marja Alexandrowna +auf und sprang mit einem Satz von ihrem +Polsterstuhl in die Höhe. „Aber er ist doch nur zum +Gouverneur gefahren und dann vielleicht zu Anna Nikolajewna, +aber nur auf einen Augenblick!“ +</p> + +<p> +„Auf einen Augenblick! Sehen Sie jetzt zu, wie +Sie ihn wieder einfangen können! Den Gouverneur +hat er nicht zu Haus angetroffen, von dort ist er zu +Anna Nikolajewna gefahren, hat ihr sein Wort gegeben, +daß er bei ihr speisen würde, Nataschka aber, +die jetzt in einem fort bei ihr sitzt, hat ihn sofort zum +Frühstück zu sich geschleppt! Da haben Sie jetzt Ihren +Fürsten!“ +</p> + +<p> +„Aber wie ... Mosgljäkoff? Er hat mir doch +versprochen ...“ +</p> + +<p> +„Mosgljäkoff! Ihr gepriesener! ... Er ist doch +gleichfalls hingefahren! Seien Sie froh, wenn er +dort nicht an den Kartentisch gesetzt wird und wieder +alles verspielt, wie vor einem Jahr! Und auch der Fürst +<a id="page-80" class="pagenum" title="80"></a> +wird an den Tisch gesetzt und bis aufs letzte gerupft +werden. Und was sie da alles klatscht, diese Nataschka! +Sie sagt es ganz ungeniert und laut, daß Sie +sich des Fürsten bemächtigen wollen ... zu gewissen +Zwecken – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez</span>? Sie setzt es ihm selbst +auseinander. Er begreift natürlich nichts, sitzt da wie +ein begossener Pudel und sagt zu allem: ‚Nun ja, nun +ja!‘ Und sie selbst, sie selbst, diese Nataschka! Sofort +hat sie ihm ihre Ssonjka vorgeführt – denken Sie sich: +fünfzehn Jahre alt und immer noch zieht sie dem Mädchen +kurze Kleider an! Immer noch bis zu den Knien, +wie Sie sich denken können! ... Und dann hat sie +nach der verwaisten Maschka geschickt, die kam gleichfalls +im kurzen Kleide, nur war das noch kürzer, nicht +einmal bis zu den Knien, – ich habe es durch mein +Lorgnon gesehen ... Auf den Kopf wurden ihnen +rote Mützen mit Federn gesetzt – was das zu bedeuten +hatte, weiß ich nicht! Und dann mußten diese beiden +Halbnackten vor dem Fürsten den Kasatschok tanzen! +Sie kennen ja die Schwäche dieses Fürsten – er +schnalzte! ‚Diese Formen,‘ sagte er, ‚diese Formen!‘ +und betrachtete sie vom Kopf bis zu den Füßen durch +sein Lorgnon – sie aber kommen in Schwung! Beide +ganz erhitzt – verrenken ihre Beine, daß Gott erbarm, +und das soll ein Tanz sein! Ich habe selbst getanzt, +wissen Sie, mit einem Schal, als ich Madame Jarnies +Pension für junge Mädchen verließ – da habe ich +einen wahrhaft aristokratischen Effekt gemacht! Sogar +Senatoren klatschten mir Beifall! Dort wurden nur +Fürsten- und Grafentöchter erzogen! Dieses hier aber +war doch einfach Cancan! Ich verging vor Scham, +<a id="page-81" class="pagenum" title="81"></a> +ich verging, ich verging! Ich hielt es einfach nicht +aus! ...“ +</p> + +<p> +„Aber waren Sie denn selbst bei Natalja Dmitrijewna? +Sie sind doch ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, sie hat mich vor einer Woche beleidigt. +Ich sage das einem jeden ganz offen. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, ma chère</span>, +ich wollte wenigstens durch einen Türspalt diesen Fürsten +mir ansehen und so fuhr ich hin. Wo hätte ich ihn +denn sonst sehen können? Würde ich denn zu ihr gefahren +sein, wenn es sich nicht um diesen elenden Fürsten +gehandelt hätte? Denken Sie sich: allen wird +Schokolade gereicht, nur mir nicht! Und sie selbst +spricht kein Wort mit mir. Das hat sie doch mit Absicht +getan ... Diese Verleumderin! Ich werde ihr aber +jetzt! ... Doch adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>, adieu, ich eile, +ich eile ... Ich muß unbedingt noch Akulina Panfilowna +zu Hause antreffen und ihr erzählen ... Nur +sagen Sie jetzt Ihrem Fürsten Lebewohl! Den werden +Sie nicht mehr wiedersehen. Wissen Sie, er hat ja kein +Gedächtnis – und so wird ihn Anna Nikolajewna unbedingt +bei sich behalten! Alle fürchten dort, daß Sie +... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous comprenez?</span> – in bezug auf Sina ...“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Quelle horreur!</span>“ +</p> + +<p> +„Sie können mir aufs Wort glauben! Die ganze +Stadt spricht nur noch davon. Anna Nikolawjewna will +ihn unbedingt zum Essen bei sich behalten und dann, +versteht sich, auf immer! Das macht sie Ihnen zum +Trotz, um Sie zu schikanieren, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>. Ich habe +durch einen Zaunspalt in ihren Hof gelauert: ein Hasten +und Treiben ist dort, sag ich Ihnen! – in der +Küche wird gebraten, gebacken, mit Messern gehackt +<a id="page-82" class="pagenum" title="82"></a> +... sogar nach Champagner ist geschickt worden. Eilen +Sie, eilen Sie, fangen Sie ihn unterwegs auf, wenn +er zu ihr fährt. Er hat Ihnen doch zuerst zugesagt! +Er ist Ihr Gast und nicht Anna Nikolajewnas! Und nur, +damit diese geriebene, abgefeimte, ungebildete Person +über uns lachen kann! Sie ist nicht einmal meine +Schuhsohle wert, wenn sie auch Frau Staatsanwalt +ist! Ich bin selbst die Frau eines Obersten! Ich bin +in Madame Jarnies aristokratischer Pension erzogen +worden ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais adio, mon ange!</span> Ich habe meinen +Schlitten, sonst würde ich mit Ihnen fahren ...“ +</p> + +<p> +Die wandernde Zeitung verschwand. Marja Alexandrowna +zitterte vor Aufregung, aber der erteilte Rat +war äußerst klar und praktisch. Sie hatte keine Zeit +zu versäumen. Nur galt es vorher noch die größte +Schwierigkeit zu überwinden. Marja Alexandrowna +eilte in das Zimmer ihrer Tochter. +</p> + +<p> +Sina ging, die Arme über der Brust gekreuzt, den +Kopf gesenkt, bleich und verstört in ihrem Zimmer umher. +Ihre Augen waren verweint, doch in ihrem Blick, +den sie auf die Mutter richtete, lag Entschlossenheit. +Sie unterdrückte schnell ihre Tränen und ein sarkastisches +Lächeln erschien auf ihren Lippen. +</p> + +<p> +„Mama,“ sagte sie, um ihrer Mutter vorzugreifen, +„du hast viel von deiner Redekunst an mich vergeudet, +gar zu viel. Du hast mich aber doch nicht blind gemacht. +Ich bin kein Kind. Mir einzubilden, daß ich gegebenenfalls +die Tat einer barmherzigen Schwester vollbrächte, +wenn ich dazu nicht im geringsten berufen bin, +eine niedrige Handlungsweise mit edlen Zielen rechtfertigen +zu wollen – das ist ein Jesuitismus, der +<a id="page-83" class="pagenum" title="83"></a> +mich nicht betören kann. Höre: das hat mich nicht +betören können und ich will, daß du das vor allem +weißt!“ +</p> + +<p> +„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>!“ rief etwas ängstlich Marja +Alexandrowna aus. +</p> + +<p> +„Schweig, Mama! Hab’ bitte die Geduld, mich +bis zu Ende anzuhören. Trotz der vollen Erkenntnis +dessen, daß es nichts als Jesuitismus ist, trotz meiner +vollen Überzeugung von der unentschuldbaren Niedrigkeit +dieser Handlung, – trotzdem gehe ich auf deinen +Vorschlag vollkommen ein, hörst du: <em>vollkommen</em>, +und erkläre dir, daß ich einverstanden bin, den Fürsten +zu heiraten und sogar einverstanden, dich in allen deinen +Bemühungen zu unterstützen, um ihn zu einem +Heiratsantrag zu bringen. Wozu ich es tue? – Das +ist meine Sache. Dir mag es genügen, daß ich mich +entschlossen habe ... Jawohl, ich bin zu allem entschlossen: +ich werde ihm die Stiefel reichen, ich werde +seine Wärterin sein, ich werde ihm zu seinem Vergnügen +vortanzen, um meine Niedrigkeit vor ihm zu +verdecken; ich werde alles, alles tun, nur damit er es +nicht bereut, daß er mich geheiratet hat! Doch als +Gegenleistung für meinen Entschluß verlange ich, daß +du mir offen sagst, auf welche Weise du es durchsetzen +willst, daß er um mich anhält? Wenn du in so bestimmtem +Tone davon zu sprechen angefangen hast, so +– ich kenne dich – so hast du unfehlbar einen festen +Plan gefaßt. Sei jetzt wenigstens einmal im Leben +aufrichtig! Diese Aufrichtigkeit ist die einzige Bedingung, +die ich stelle. Ich kann nicht darauf eingehen, +wenn ich nicht vorher genau weiß, was du tun wirst.“ +</p> + +<p> +<a id="page-84" class="pagenum" title="84"></a> +Marja Alexandrowna war von dem unerwarteten +Entschluß ihrer Tochter so bestürzt, daß sie eine ganze +Weile wie taub und stumm vor ihr stand und sie nur +aus weit offenen Augen anstarrte. Sie konnte noch +nicht einmal denken vor Verwunderung. Sie hatte +sich darauf gefaßt gemacht, lange noch mit der trotzigen +„Romantik“ ihrer Tochter, deren schroffes Anstandsgefühl +sie stets gefürchtet hatte, kämpfen zu müssen, und +nun hörte sie plötzlich, daß diese vollkommen mit allem +einverstanden und zu allem bereit war, und sogar +gegen ihre Überzeugung! Nein, wenn es <em>so</em> stand, +dann erhielt ja die Sache eine ungewöhnliche „Solidität“, +– und Freude erglänzte in Marja Alexandrownas +Augen. +</p> + +<p> +„Sinachen!“ rief sie begeistert aus, „Sinachen! Du +bist mein Fleisch und mein Blut!“ +</p> + +<p> +Mehr konnte sie nicht hervorbringen und sie eilte +zur Tochter, um sie in ihre Arme zu schließen. +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott! Ich habe dich nicht um deine +Umarmungen gebeten, Mama!“ wehrte sich Sina mit +angeekelter Gereiztheit. „Ich brauche dein Entzücken +nicht! Ich verlange von dir nur eine Antwort auf +meine Frage und nichts weiter.“ +</p> + +<p> +„Aber, Sina, ich habe dich doch lieb, mein Kind! +Ich vergöttere dich, du aber stößt mich von dir ... +ich tue es doch nur in der Sorge um dein Glück ...“ +</p> + +<p> +Tränen erglänzten in ihren Augen. Marja Alexandrowna +liebte ihre Tochter tatsächlich, nur tat sie es +– auf ihre Art. Und diesmal waren ihr der Erfolg +und die Aufregung allerdings nahe gegangen. Sina +<a id="page-85" class="pagenum" title="85"></a> +begriff, daß die Mutter sie liebte und – diese Liebe +bedrückte sie. +</p> + +<p> +„Nun, sei mir nicht böse, Mama, ich bin nur so +aufgeregt,“ sagte sie, um die Mutter zu beruhigen. +</p> + +<p> +„Ich bin nicht böse, ich bin nicht böse, mein Engelchen!“ +versicherte Marja Alexandrowna, im Augenblick +wieder belebt, „ich begreife es doch, daß du erregt +bist. Sieh, mein Kind, du verlangst volle Aufrichtigkeit +... Schön, ich werde aufrichtig sein, vollkommen +aufrichtig, glaube mir: Wenn du mir nur +glauben wolltest! Aber ich sage dir, daß ich einen bestimmten +Plan, der in allen Punkten festgesetzt wäre, +noch nicht habe, Sinachen, und das ist ja auch ganz +unmöglich. Du, als kluges Köpfchen, wirst doch verstehen, +weshalb nicht. Ich sehe sogar einige Schwierigkeiten +voraus ... Soeben hat mir diese Klatschbase +da die Ohren vollgeblasen ... Ach, mein Gott! +Ich müßte mich beeilen! – Sieh, ich bin vollkommen +aufrichtig, mein Kind! Aber ich schwöre dir, ich werde +das Ziel erreichen!“ beteuerte sie begeistert. „Meine +Überzeugung ist durchaus nicht poetischer Natur, wie +du vorhin sagtest, mein Engel. Sie beruht auf der +Wirklichkeit, auf Tatsachen ... Sie beruht auf der +völligen Gedächtnisschwäche des Fürsten, – die aber +ist doch derart! ... ist doch ein solcher Kanevas, daß +man alles auf ihm ausnähen kann – was man nur +will! Die Hauptsache ist, daß man uns nicht stört! +Aber wie sollen denn diese Gänse mich überlisten!“ +rief Marja Alexandrowna stolz aus, schlug mit der +Hand auf den Tisch und ihre Augen blitzten. „Das laß +nur meine Sache sein! Nur – jetzt ist das Wichtigste, +<a id="page-86" class="pagenum" title="86"></a> +daß man sofort beginnt ... Wenn es nur irgend geht, +muß heute noch das Hauptsächlichste erledigt werden.“ +</p> + +<p> +„Gut, Mama, nur höre jetzt noch ein ... <em>aufrichtiges +Geständnis</em>: Weißt du, weshalb ich +mich für deinen Plan so interessiere und ihm nicht +traue? Weil ich mich auf mich selbst nicht verlassen +kann. Ich habe dir gesagt, daß ich mich zu dieser +Schändlichkeit entschlossen habe, wenn aber die Einzelheiten +deines Planes gar zu widerlich sind, gar zu +schmutzig, so erkläre ich dir im voraus, daß ich es alsdann +nicht aushalten und mich dann von dem ganzen +Vorhaben zurückziehen werde. Ich weiß, daß das +eine neue Schändlichkeit ist: sich zu einer Schändlichkeit +zu entschließen und den Schmutz zu fürchten, in +dem sie schwimmt, – doch was soll ich tun? Es wird +ja bestimmt so sein! ...“ +</p> + +<p> +„Aber, Sinachen, wo ist denn hier eine so besondere +Schändlichkeiten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>?“ wagte die Mutter +schüchtern einzuwenden. „Hier handelt es sich doch +nur um eine vorteilhafte Heirat, und dazu entschließen +sich doch alle! Man braucht ja nur von diesem Standpunkt +aus zu sehen, und alles wird dann sogar sehr +anständig erscheinen ...“ +</p> + +<p> +„Ach, Mama, spiel’ doch um Gottes willen nicht +Verstecken mit mir! Du siehst doch, ich bin mit allem, +mit allem, einverstanden! – was willst du denn noch +mehr? Bitte, fürchte dich nicht, wenn ich die Dinge +bei ihrem richtigen Namen nenne. Vielleicht ist das +jetzt – meine einzige Beruhigung.“ +</p> + +<p> +Ein bitteres Lächeln erschien auf ihren Lippen. +</p> + +<p> +„Nun, nun, schon gut, mein Engelchen, man kann +<a id="page-87" class="pagenum" title="87"></a> +in den Gedanken nicht ganz übereinstimmen und dennoch +sich gegenseitig achten. Nur, – wenn dich die +Einzelheiten beunruhigen und du fürchtest, daß sie +schmutzig sein könnten, so überlaß diese Sorgen vollkommen +mir: ich schwöre dir, daß kein Tröpfelchen +Schmutz auf dich spritzen wird. Will ich dich denn vor +allen kompromittieren? Verlaß du dich nur auf mich +und alles wird vorzüglich und durchaus anständig arrangiert +werden, die Hauptsache ist – durchaus anständig, +sogar vornehm! Es wird nicht den geringsten +Skandal geben, und selbst wenn es auch so ein kleines, +unvermeidliches Skandälchen geben sollte, – so ... +irgendwie! – so sind wir dann doch schon über alle +Berge! Wir werden doch nicht hier bleiben! Mögen +sie dann schreien, soviel sie wollen – was geht das uns +an? Sie werden uns ja doch nur beneiden. Und sind +diese Menschen es denn überhaupt wert, daß man sich +um sie kümmert? Es wundert mich eigentlich, Sinachen, +sei mir nicht böse, – daß du bei deinem Stolz +sie so fürchtest!“ +</p> + +<p> +„Ach, Mama, ich fürchte sie durchaus nicht! Du +willst mich nur nicht verstehen!“ antwortete Sina gereizt. +</p> + +<p> +„Nun, nun, mein Seelchen, sei mir nicht böse! Ich +sage ja nur, daß sie selbst an jedem Tage, den Gott +werden läßt, Schändlichkeiten begehen, du aber würdest +dann nur ein einziges Mal <a id="corr-15"></a>im Leben ... aber +was fällt mir ein! Was rede ich dumme Person! +Durchaus keine Schändlichkeit! Wo ist hier eine +Schändlichkeit, oder was soll hier schmutzig sein, wie du +sagst? Im Gegenteil, es ist sogar sehr edel von dir. +<a id="page-88" class="pagenum" title="88"></a> +Ich werde es dir beweisen, mein Kind. Erstens, ich +wiederhole: es hängt alles nur davon ab, von welchem +Standpunkt aus man auf die Sache sieht ...“ +</p> + +<p> +„Ach, hör’ doch auf, Mama, mit deinen Beweisen!“ +unterbrach Sina sie zornig und stampfte mit dem Fuß +auf. +</p> + +<p> +„Nun, mein Seelchen, ich werde nicht, ich werde +nicht! Ich habe mich wieder verplappert ...“ +</p> + +<p> +Es trat ein kurzes Schweigen ein. Marja Alexandrowna +folgte unruhig ihrer Tochter und suchte zaghaft +deren Blick, wie etwa ein kleines, unartig gewesenes +Schoßhündchen seiner Herrin in die Augen sieht. +</p> + +<p> +„Ich begreife nicht einmal, wie du es beginnen +willst,“ sagte Sina, die ihren Ekel niederrang. „Ich +bin überzeugt, daß du nur auf Schande stoßen wirst. +Ich verachte die Meinung dieser Leute, aber für dich, +Mama, wird es eine Schande sein.“ +</p> + +<p> +„O, wenn nur das allein dich beunruhigt, mein +Engel – deshalb mach dir keine Sorgen! Ich bitte +dich, ich flehe dich an! Wenn nur wir uns einigen – +um mich brauchst du dich nicht im geringsten zu beunruhigen. +Ach, wenn du wüßtest, aus welchen Bädern +ich mich trocken herausgearbeitet habe! Ich habe noch +ganz anderes erlebt und durchgehalten! Nun, erlaub +mir nur wenigstens, dies da zu versuchen! Jedenfalls +ist das Wichtigste, daß wir so bald als irgend möglich +mit dem Fürsten allein sind. Das ist das erste! Alles +übrige wird nur davon abhängen! Aber ich fühle auch +das schon alles voraus. Sie werden sich alle empören, +aber ... das macht nichts! Ich werde sie abzufertigen +wissen! Nur Mosgljäkoff fürchte ich noch ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-89" class="pagenum" title="89"></a> +„Mosgljäkoff?“ fragte Sina verächtlich. +</p> + +<p> +„Nun ja, Mosgljäkoff. Das heißt, fürchte du dich +nicht, Sinachen! Ich schwöre dir, ich werde ihn so +weit bringen, daß er uns noch helfen wird! Du kennst +mich noch nicht, Sinachen! Du weißt noch nicht, was +ich in der Tat leisten kann! Ach, Sinachen, mein Seelchen! +Vorhin, als ich von der Ankunft dieses Fürsten +hörte, kam mir sofort der Gedanke! Es kam im Augenblick +wie eine Erleuchtung über mich. Und wer, sag’ +doch selbst, wer hätte es erwarten können, daß er ausgerechnet +bei uns absteigen würde? Eine solche Gelegenheit +wird es ja in tausend Jahren nicht wieder +geben! Sinachen! Mein Engelchen! Nicht das ist +ehrlos, daß du einen Greis und Krüppel heiratest, sondern +daß du einen heiratest, den du verabscheust und +nicht ertragen kannst und dennoch in <em>Wirklichkeit</em> +seine Frau sein wirst! Dem Fürsten aber wirst du +doch nicht eine wirkliche Frau sein. Mit ihm: das ist +doch keine Ehe! Das ist einfach ein häuslicher Kontrakt! +Er gewinnt doch nur dabei, – ihm, diesem +Esel, gibt man ein solches Glück! Ach, Sinachen, du +weißt ja gar nicht, wie schön du heute bist! Du bist +nicht nur schön, du bist geradezu wunderbar! Ich +würde, wenn ich ein Mann wäre, dir ein halbes Königreich +verschaffen, wenn du es nur wolltest! Esel +sind sie alle! Wie soll man diese Hand nicht küssen?“ +– Und Marja Alexandrowna küßte leidenschaftlich der +Tochter die Hand. „Das ist ja doch mein Körper, +mein Fleisch, mein Blut! Man muß ihn, wenn nicht +anders, mit Gewalt zur Heirat zwingen, den Esel! +Aber wie wir dann leben werden, Sinachen! Du +<a id="page-90" class="pagenum" title="90"></a> +wirst doch deine Mutter nicht fortjagen, wenn du im +Glück lebst? Wir haben uns ja oft gestritten, mein +Engelchen, aber immerhin hast du doch keinen so treuen +Freund gehabt wie mich ... immerhin ...“ +</p> + +<p> +„Mama! Wenn du dich bereits entschlossen hast, +so ist es vielleicht gut für dich ... etwas zu tun. Hier +aber verlierst du nur Zeit!“ sagte Sina ungeduldig. +</p> + +<p> +„Es ist Zeit, es ist Zeit, Sinachen, gewiß ist es +höchste Zeit, daß ich gehe! Ach! Ich habe hier so lange +geschwatzt!“ Marja Alexandrowna kam zur Besinnung. +„Sie wollen uns dort alle den Fürsten entreißen. +Ich fahre im Augenblick! Ich werde einfach +vorfahren, Mosgljäkoff herausrufen lassen und dann +... Ich werde ihn mit Gewalt fortbringen, wenn’s +darauf ankommt! Leb wohl, Sinachen, auf Wiedersehen, +mein Täubchen, laß den Mut nicht sinken, +zweifle nicht, sei nicht traurig, vor allem – sei nicht +traurig! Alles wird vorzüglich, wird äußerst vornehm +arrangiert werden! Die Hauptsache ist ja nur, von +welchem Standpunkt aus man die Sache auffaßt ... +nun, leb wohl, leb wohl! ...“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna bekreuzte ihre Tochter, eilte +dann in ihr Zimmer, drehte sich dort einen Augenblick +vor dem Spiegel und zwei Minuten später rollte sie +schon in ihrer Equipage, die um diese Zeit immer für +den Fall einer Ausfahrt angeschirrt stand, durch die +Straßen von Mordassoff: Marja Alexandrowna lebte +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>“. +</p> + +<p> +„Nein, ihr seid nicht die Rechten, mich zu überlisten!“ +dachte sie, als sie in ihrem Wagen saß. „Sina +ist einverstanden, folglich ist die halbe Arbeit schon +<a id="page-91" class="pagenum" title="91"></a> +getan, und hier nun sollte es mir nicht gelingen! Unsinn! +Ja, die Sina! Sie hat doch eingewilligt ... +endlich! Also auch auf dein Köpfchen können andere +Berechnungen ihren Einfluß haben! Ich habe ihr aber +auch eine verlockende Perspektive ausgemalt! Die +Wirkung hat endlich einmal nicht versagt: Aber ... +es ist ja ganz unfaßlich, wie schön sie heute aussieht! +Ich würde mit ihrer Schönheit halb Europa nach meinem +Wunsch umdrehen! Nun, warten wir ab ... +Der Shakespeare wird ihr schon aus dem Kopf kommen, +wenn sie erst Fürstin ist und gewisse Dinge kennen +lernt. Was kennt die denn? Mordassoff und +ihren Lehrer! ... Hm ... Aber was für eine Fürstin +sie sein wird! Ich liebe diesen Stolz an ihr. Diese +Kühnheit! Wie unnahbar sie ist! Ein Blick von ihr +– und eine Königin hat einen angesehen! Wie, wie +soll man denn nicht seinen eigenen Vorteil begreifen? +Endlich hat sie ihn denn auch begriffen! Wird auch +das übrige begreifen ... Ich werde doch immerhin +bei ihr sein. Ich werde schon dafür sorgen, daß sie in +allen Punkten mit mir übereinstimmt! Ohne mich +aber wird sie nicht auskommen! Ich werde selbst Fürstin +sein, auch in Petersburg wird man mich kennen +lernen. Leb wohl dann, erbärmliches Städtchen! Dieser +Fürst wird sterben und auch dieser Knabe wird +sterben und dann werde ich sie mit einem regierenden +Fürsten verheiraten! ... Nur eines macht mir +Sorge: habe ich mich ihr nicht zu sehr anvertraut? Bin +ich nicht zu offenherzig gewesen, zu gefühlvoll vielleicht? +Sorgen macht sie mir, weiß Gott ... ich +fürchte sie fast ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-92" class="pagenum" title="92"></a> +Und Marja Alexandrowna wurde nachdenklich. Es +läßt sich nicht leugnen: sie hatte allen Grund, besorgt +zu sein. Sagt man doch in manchen Fällen ganz mit +Recht: Leidenschaft sehr oft viel Leiden schafft. +</p> + +<p> +Als Sina allein zurückgeblieben war, ging sie noch +lange auf und ab in ihrem Zimmer, die Arme verschränkt +und mit ihren Gedanken beschäftigt. Sie dachte über +vieles nach. Fast unbewußt murmelte sie immer wieder: +„Es ist Zeit, es ist Zeit, es wäre schon lange Zeit +dazu gewesen!“ Was hatte dieser Ausruf zu bedeuten? +Mehr als einmal blitzten Tränen in ihren langen, +seidigen Wimpern. Sie dachte nicht daran, ihrer +Stimmung Gewalt anzutun. Doch die Sorgen ihrer +Mutter waren ganz überflüssig. Umsonst bemühte sie +sich, hinter die Gedanken ihrer Tochter zu kommen: +Sina hatte sich endgültig entschlossen und sich auf alle +Folgen gefaßt gemacht. +</p> + +<p> +„Wart mal!“ dachte Nastassja Petrowna Sjäblowa, +als sie nach der Abfahrt der Frau Oberst Karpuchina +aus der dunklen Kleiderkammer wieder +hinausschlich. „Und ich wollte mir schon eine rosa +Schleife anstecken, für diesen elenden Fürsten! Auch +ich dumme Gans glaubte, daß er mich heiraten +würde! Da hast du’s jetzt – rosa Schleife! Aber +Marja Alexandrowna! Ich soll also ein Schmierpinsel +sein, ich soll mich mit zweihundert Rubel bestechen +lassen! Das fehlte noch, daß ich dir etwas abließe +oder unentgeltlich machte, du falsche Person! Ich +nahm das Geld auf ehrliche Weise; ich nahm es für die +mit dem Vorhaben verknüpften Ausgaben ... Vielleicht +habe ich selbst bestechen müssen! Was geht das +<a id="page-93" class="pagenum" title="93"></a> +dich an, ob ich mit eigenen Händen das Schloß aufgebrochen +oder andere dafür bezahlt habe! Ich habe doch +für dich gearbeitet und du schonst deine Hände! Du +willst immer nur auf Kanevas ausnähen! Wart mal, +ich werde dir zeigen, was Kanevas ist! Ich werde euch +beiden zeigen, was für ein Schmierpinsel ich bin! Ihr +sollt einmal Nastassja Petrowna und deren ganze Bescheidenheit +kennen lernen!“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-7"> +<a id="page-94" class="pagenum" title="94"></a> +VII. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">och</span> Marja Alexandrowna ließ sich von ihrer +Eingebung fortreißen. Sie hatte einen großen und gewagten +Plan. Ihre Tochter an einen Krösus, einen +Fürsten und Krüppel zu verheiraten, und zwar so, daß +niemand es erfuhr, mit Ausnutzung der Geistesschwäche +und Schutzlosigkeit ihres Gastes, sie gewissermaßen auf +„diebische Weise“, wie ihre Feinde unfehlbar sagen +würden, zu verheiraten, – das war nicht nur gewagt, +sondern geradezu vermessen. Freilich war der Plan +verlockend vorteilhaft, aber im Fall des Mißlingens +wurde die, welche ihn entworfen hatte, doch wohl mit +ewiger, untilgbarer Schande bedeckt. „Ich habe +mich aus noch ganz anderen Bädern trocken herausgearbeitet!“ +hatte sie zu Sina gesagt und sie hatte recht. +Was wäre sie denn auch sonst für eine Heldin gewesen! +</p> + +<p> +Zweifellos glich das ganze Vorhaben ein wenig +einem Überfall auf offener Straße, doch Marja Alexandrowna +schenkte auch dem nicht gar zu viel Aufmerksamkeit. +Sie hatte in der Beziehung einen erstaunlich +richtigen Gedanken: „Sind sie erst getraut, +so können sie die Trauung nicht mehr ungeschehen machen,“ +– ein überaus einfacher und einleuchtender Gedanke, +<a id="page-95" class="pagenum" title="95"></a> +der aber die Phantasie mit so ungewöhnlichen +Vorteilen anlockte, daß es Marja Alexandrowna bei der +blassen Vorstellung dieser Vorteile kalt überlief und +sie am ganzen Körper gestochen zu werden glaubte. +Überhaupt befand sie sich in ungewöhnlicher Aufregung +und saß wie auf Nadeln. Als inspirationsfähige +Frau, die fraglos mit Schöpfergeist begabt war, hatte +sie bereits einen Schlachtplan entworfen, versteht sich, +vorläufig noch skizzenhaft, überhaupt – <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en grand</span>, +halb noch schleierhaft sah sie ihn vor ihrem geistigen +Auge. Es standen eine Unmenge Einzelheiten und verschiedene +unvorhergesehene Zwischenfälle bevor. Marja +Alexandrowna glaubte jedoch an sich: sie regte sich nicht +etwa aus Furcht vor dem Mißlingen auf, – o nein! +Sie wollte nur schneller beginnen, sich schneller in den +Kampf stürzen können. Ungeduld, edle Ungeduld erfaßte +sie bei dem Gedanken an die bevorstehenden Hindernisse +und möglichen Zwischenfälle. Ich will das deutlicher +erklären. Die größte Gefahr ahnte und erwartete +Marja Alexandrowna von ihren verehrten Mitbürgern, +den Mordassowern, und vornehmlich von der +höheren Gesellschaft der Mordassower Damen, deren +unversöhnlichen Haß sie aus Erfahrung kannte. Zum +Beispiel wußte sie mit tödlicher Sicherheit, daß man in +der Stadt bereits alle ihre Absichten ahnte, obgleich +noch niemand ein Wort darüber gesprochen hatte. Aus +mehrfach gemachter trauriger Erfahrung wußte sie, daß +es noch nie ein Geheimnis in ihrem Hause gegeben +hatte, selbst wenn es das geheimste war, das nicht +binnen zwölf Stunden jedes Hökerweib auf dem +Markt, jeder einzelne Ladenverkäufer wußte. Versteht +<a id="page-96" class="pagenum" title="96"></a> +sich: Marja Alexandrowna ahnte ja vorläufig nur die +Gefahren, aber solche Vorahnungen betrogen sie nie. +Auch diesmal betrogen sie sie nicht. Was aber inzwischen +geschehen war und was sie noch nicht mit ganzer +Sicherheit wußte, war folgendes: +</p> + +<p> +Um die Mittagszeit, also genau drei Stunden nach +der Ankunft des Fürsten in Mordassoff, verbreiteten sich +in der Stadt absonderliche Gerüchte. Wie und wo +sie entstanden waren, weiß niemand, aber verbreitet +hatten sie sich fast in einem Augenblick. Alle versicherten +einander, daß Marja Alexandrowna ihre Sina mit +dem Fürsten bereits verkuppelt habe, daß Mosgljäkoff +der Laufpaß gegeben worden und somit eben alles so +gut wie besiegelt und unterschrieben sei. Was war die +Veranlassung zu diesen Gerüchten gewesen? Sollten +die Leute wirklich Marja Alexandrowna so gut gekannt +haben, daß sie sofort auf den Kernpunkt aller ihrer tiefinnerlichen +Gedanken und Ideale verfielen? Doch weder +die Unvereinbarkeit eines solchen Gerüchts mit der +gewöhnlichen Ordnung der Dinge – denn so etwas +läßt sich doch nur äußerst selten in einer Stunde abmachen +– noch die freie Erfindung derselben – denn +es vermochte niemand anzugeben, woher dieses Gerücht +stammte – konnten den Mordassowern den Glauben +daran nehmen. So kam es, daß das Gerücht sich hartnäckig +weiter verbreitete und folglich immer glaubwürdiger +wurde. Am erstaunlichsten ist aber, daß es +sich schon zu der Zeit zu verbreiten begann, als Marja +Alexandrowna sich eben erst zu jenem Gespräch mit +Sina anschickte. Wie fein muß nach alledem der Spürsinn +der Provinzler sein. Der Instinkt des Kleinstädters +<a id="page-97" class="pagenum" title="97"></a> +grenzt bisweilen geradezu ans Wunderbare – +und das hat freilich auch seine Gründe: er fußt auf +dem intimsten, langjährigen Studium des Nächsten, +das mit größtem Interesse getrieben wird. Ein jeder +Kleinstädter lebt wie unter einer Glasglocke. Es gibt +absolut keine Möglichkeit, auch nur irgend etwas vor +seinen ehrenwerten Mitbürgern zu verbergen. Alle +kennen einen auswendig, ja sie wissen sogar das, was +man noch nicht einmal selbst von sich weiß. Der Kleinstädter +müßte, denke ich, allein schon seiner Natur nach +Psychologe und Gedankenleser sein. Deshalb hat es +mich auch zuweilen aufrichtig gewundert, daß ich in +der Provinz so oft statt dieser Psychologen und Gedankenleser +so auffallend viel Esel angetroffen habe. Doch +das war nur nebenbei gesagt und eine ganz überflüssige +Bemerkung. +</p> + +<p> +Das Gerücht nun war von ungeheurer Wirkung. +Die Verheiratung mit dem Fürsten erschien einem jeden +dermaßen vorteilhaft, dermaßen „glänzend“, daß das +Sonderbare an einer solchen Heirat keinem einzigen +weiter auffiel. Hier muß ich noch eines bemerken: +Sina wurde fast noch mehr gehaßt, als Marja Alexandrowna, +– weshalb? – das vermag ich nicht zu +sagen. Vielleicht war zum Teil ihre Schönheit der +Grund zu diesem Haß. Vielleicht kam auch noch hinzu, +daß Marja Alexandrowna immerhin von „unserem +Schlage“ war. Hätte sie die Stadt verlassen, so würde +man es – wer weiß? – noch bedauert haben. Sie +unterhielt die Gesellschaft mit ihren beständigen Geschichten. +Ohne sie wäre es vielleicht langweilig gewesen. +Sina dagegen verhielt sich so, als lebte sie in +<a id="page-98" class="pagenum" title="98"></a> +den Wolken und nicht in der Stadt Mordassoff. Sie +paßte nicht zu diesen Leuten, sie stand nicht auf ihrer +Stufe, gab sich nicht als Gleichstehende, benahm sich +vielmehr – vielleicht ohne es selbst zu wissen – unerträglich +hochmütig zu ihnen. Und nun plötzlich sollte +„diese Sina“, von der man sich sogar „skandalöse +Dinge“ zuraunte, diese anmaßende, stolze Sina – +Millionärin, Fürstin werden und in die höchste Gesellschaft +hineinkommen! Nach drei Jahren, wenn sie verwitwet +ist, heiratet sie dann vielleicht einen Herzog, +vielleicht sogar einen General oder vielleicht gar einen +Gouverneur – und der Gouverneur unseres Gouvernements +war gerade Witwer und hatte eine große +Schwäche für das schöne Geschlecht. Dann würde +sie die erste Dame im Gouvernement sein – und, versteht +sich, dieser bloße Gedanke war bereits unerträglich, +weshalb denn auch keine andere Nachricht so heftigen +Unwillen in Mordassoff hätte hervorrufen können, +als diese von der Vermählung Sinas mit dem +Fürsten. Im Augenblick erhob sich eine wahre Wut von +allen Seiten. Man nannte die Verbindung eine Sünde +und eine Gemeinheit. Man sagte, der Alte sei nicht +bei vollem Verstande, er sei betrogen worden, übertölpelt +und das alles mit Ausnutzung seiner Geistesschwäche. +Einige meinten sogar, daß man den Alten +aus diesen blutgierigen Krallen erretten müsse, daß es +geradezu Räuberei sei, und schließlich – inwiefern sei +denn Sina besser als andere? Es könnten doch auch +andere junge Mädchen ganz ebenso den Fürsten heiraten! +</p> + +<p> +Alle diese Gespräche und Meinungsäußerungen +<a id="page-99" class="pagenum" title="99"></a> +ahnte Marja Alexandrowna vorläufig nur, aber das +genügte ihr. Sie wußte ganz genau, daß alle, aber +auch alle zu jedem Mittel, das möglich oder auch unmöglich +war, zu greifen bereit wären, um die Verwirklichung +ihrer Pläne zu verhindern. Wollte man doch +den Fürsten schon für sich mit Beschlag belegen, so daß +sie jetzt fast um ihn zu kämpfen hatte! Und wenn es +ihr auch gelingen sollte, den Fürsten wieder einzufangen, +so konnte sie ihn in ihrem Hause doch nicht +festbinden! Und dann: wer bürgte dafür, daß heute, +daß vielleicht nach kaum zwei Stunden das ganze Korps +der Mordassower Damen in ihrem Salon erscheinen +würde und noch dazu unter solchem Vorwande, daß +man sie unmöglich <em>nicht</em> empfangen konnte? Läßt man +an der Tür absagen, so kommen sie durch das Fenster +herein: ein fast unmöglicher Fall, sollte man meinen, +der aber nichtsdestoweniger in Mordassoff vorgekommen +ist. Kurz, es war keine Stunde, keine Sekunde +zu verlieren – und dabei war noch nichts getan worden, +nicht einmal angefangen hatte sie ihr Werk! Da kam +ihr plötzlich ein genialer Gedanke und reifte im Augenblick +in ihrem klugen Kopf. Von diesem neuen Einfall +werden wir an der richtigen Stelle nicht zu sprechen +vergessen, vorläufig aber sagen wir nur, daß unsere +Heldin in diesem Augenblick durch die Straßen von +Mordassoff rollte, zornig und begeistert, entschlossen zu +einem regelrechten Kampf, falls nur ein solcher erforderlich +sein sollte, um sich des Fürsten von neuem zu bemächtigen. +Sie wußte noch nicht, wie sie es machen +und wo sie ihn einfangen würde, dafür aber wußte sie +mit unerschütterlicher Sicherheit, daß eher ganz Mordassoff +<a id="page-100" class="pagenum" title="100"></a> +untergehen würde, als daß auch nur ein Jota +ihrer Absichten nicht in Erfüllung ginge. +</p> + +<p> +Der erste Schritt glückte ihr besser als sie erwartet +hätte. Sie traf den Fürsten auf der Straße an und +brachte ihn zu sich zum Mittagessen. Wenn man jetzt +fragen wollte, wie es ihr denn trotz aller Ränke ihrer +Feinde gelang, ihren Willen durchzusetzen und Anna +Nikolajewna mit einer langen Nase auf den Gast vergeblich +warten zu lassen, so bin ich gewissermaßen +verpflichtet, hierauf zu antworten, daß ich diese Frage +geradezu für eine Beleidigung Marja Alexandrownas +halte. <em>Sie</em> sollte irgend so eine Anna Nikolajewna +Antipowa nicht besiegen können? Sie verhaftete einfach +den Fürsten, der fast schon vor dem Hause ihrer +Gegnerin vorfuhr, und ohne auch nur auf irgend etwas +Rücksicht zu nehmen – und dazu gehörten auch die +Einwendungen Mosgljäkoffs, der einen Skandal befürchtete +– setzte sie den alten Herrn in ihre Equipage. +Gerade darin zeichnete sich ja Marja Alexandrowna +vor ihren Feindinnen aus, daß sie in entscheidenden +Momenten nicht viel nach anderen fragte und nicht +einmal vor einem Skandal zurückschrak, da sie es nun +einmal zu ihrem Grundsatz gemacht hatte, daß der Erfolg +alles rechtfertige. Freilich leistete auch der Fürst +keinen bedeutenden Widerstand, vergaß vielmehr nach +seiner Gewohnheit bald den ganzen Zwischenfall und +war dann sehr zufrieden. Bei Tisch schwatzte er ohne +Unterlaß, war bei sehr guter Laune, machte Witzchen +und erzählte Anekdoten, die er nicht beendete, oder er +ging von der einen auf eine andere über, ohne es selbst +zu merken. Bei Natalja Dmitrijewna hatte er drei +<a id="page-101" class="pagenum" title="101"></a> +Glas Champagner getrunken. Bei Tisch trank er auch +noch, denn Marja Alexandrowna schenkte ihm eigenhändig +ein, bis er dann endgültig den letzten Rest +seines ohnehin mangelhaften klaren Bewußtseins verlor. +Das Essen an sich war tadellos. Der „schändliche“ +Nikitka hatte es zum Glück nicht verdorben. Die Hausfrau +belebte die ganze Tischgesellschaft mit ihrer bezaubernden +Liebenswürdigkeit. Leider waren die übrigen +Anwesenden um so langweiliger. Sina war gewissermaßen +feierlich stumm. Mosgljäkoff fühlte sich +offenbar nicht gemütlich und aß und trank wenig. Er +schien über etwas nachzudenken, und da dieses ziemlich +selten an ihm zu bemerken war, so beunruhigte es +Marja Alexandrowna nicht wenig. Nastassja Petrowna +Sjäblowa hatte eine finstere Miene aufgesetzt und +machte Mosgljäkoff heimlich verschiedene absonderliche +Zeichen, die dieser jedoch überhaupt nicht bemerkte. +Wäre die Hausfrau nicht so liebenswürdig und heiter +gewesen, so hätte das Mahl wahrlich eher an einen +Leichenschmaus erinnert. +</p> + +<p> +Dabei befand sich aber Marja Alexandrowna in +unbeschreiblicher Aufregung. Allein schon Sinas ernstes +Gesicht und ihre verweinten Augen ängstigten sie +unsäglich. Und jetzt hieß es noch eine große Schwierigkeit +überwinden: man mußte sich doch beeilen, es galt +keinen Augenblick zu verlieren: dieser verwünschte +Mosgljäkoff aber sitzt und rührt sich nicht, wie ein +alter Schafskopf, der nichts zu tun hat und nur andere +stört! Es geht doch wirklich nicht in seiner Gegenwart! +Marja Alexandrowna erhob sich mit besorgtem, +fast angstvollem Herzen. Wie groß war daher ihre Verwunderung, +<a id="page-102" class="pagenum" title="102"></a> +ihr freudiger Schrecken, wenn man sich so +ausdrücken darf, als Mosgljäkoff, sogleich, nachdem sie +die Tafel aufgehoben hatte, zu ihr trat und ganz unerwartet +erklärte, daß er zu seinem größten Leidwesen, +versteht sich – sie verlassen müsse. +</p> + +<p> +„Wohin denn das?“ fragte Marja Alexandrowna +mit ungeheurem Mitgefühl. +</p> + +<p> +„Ja sehen Sie, Marja Alexandrowna,“ hub Mosgljäkoff +etwas unruhig und betreten an, „es ist mir etwas +äußerst Seltsames passiert. Ich weiß nicht einmal, +wie ich es Ihnen sagen soll ... geben Sie mir um Gotteswillen +einen Rat!“ +</p> + +<p> +„Was, was ist es denn?“ +</p> + +<p> +„Mein Pate Borodujeff, Sie wissen doch – jener +Kaufmann ... der kam mir heute auf der Straße entgegen. +Der gute Alte ist mir entschieden böse, macht +mir Vorwürfe, sagt, ich sei stolz geworden. Jetzt bin +ich zum dritten Male in Mordassoff und bin noch nicht +ein einziges Mal bei ihm gewesen. Nun und heute +mußte er mich fassen und da hat er mich denn aufgefordert: +‚Komm doch zum Tee zu mir!‘ sagte er. Jetzt ist +es punkt vier, und den Tee trinkt er noch nach der alten +Sitte, sobald er vom Mittagsschläfchen aufwacht, ungefähr +um fünf. Was soll ich tun? gewiß, es ist ja, +Marja Alexandrowna, – denken Sie nichts Schlechtes! +Er hat doch meinen seligen Vater aus der Schlinge +gezogen, damals, als dieser Kronsgelder verspielt hatte. +Und deshalb wurde er dann auch mein Pate. Wenn +meine Heirat mit Sinaïda Afanassjewna zustande +kommt – nun, ich habe doch nur hundertundfünfzig +Seelen. Er aber besitzt doch ein Kapital von einer Million +<a id="page-103" class="pagenum" title="103"></a> +Rubel, ja die Leute sagen sogar, er hätte noch mehr. +Außerdem kinderlos. Gefällt man ihm, so vermacht er +einem schließlich noch Hunderttausend testamentarisch. +Und siebzig Jahre alt – bedenken Sie doch nur!“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott! Worauf warten Sie dann noch! +Weshalb zögern Sie denn?“ rief Marja Alexandrowna +in fast unverhohlener Freude aus. „Aber so fahren +Sie doch, fahren Sie doch unverzüglich zu ihm hin! +Mit solchen Sachen darf man nicht scherzen. Deshalb! +– ich wunderte mich die ganze Zeit während des Essens. +Sie waren so nachdenklich! Fahren Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon +ami</span>, fahren Sie! Aber Sie hätten ihm doch auch schon +gleich am Morgen Ihre Aufwartung machen müssen, +um ihm zu zeigen, daß seine Freundlichkeit Ihnen +schmeichelt, daß Sie sie zu schätzen wissen! Ach, diese +Jugend, diese Jugend!“ +</p> + +<p> +„Aber Sie haben doch selbst, Marja Alexandrowna,“ +rief Mosgljäkoff verwundert aus, „Sie haben +doch noch selbst verschiedene absprechende Bemerkungen +über diese Bekanntschaft gemacht! Sie sagten doch noch +vor kurzem, er sei ein Bauer, er habe einen langen +Bart, stehe mit Schankwirten auf gleicher Stufe, mit +ganz gewöhnlichen Leuten?“ +</p> + +<p> +„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich kann mich doch auch einmal +irren, ich bin nicht unfehlbar! Ich entsinne mich dessen +nicht mehr so genau ... vielleicht war ich in einer +Stimmung, die ... Und schließlich, damals hatten +Sie noch nicht um Sinachen angehalten ... Natürlich +war das Egoismus meinerseits, aber jetzt muß ich doch +unwillkürlich von einem anderen Standpunkte aus urteilen, +und welche Mutter würde es mir in diesem +<a id="page-104" class="pagenum" title="104"></a> +Falle verdenken? Fahren Sie unverzüglich hin, zögern +Sie keinen Augenblick! Sie müssen auch den Abend +bei ihm zubringen ... ach, hören Sie! – erzählen Sie +ihm auch von mir. Sagen Sie, daß ich ihn achte, liebe +und überhaupt ihn zu schätzen weiß ... aber sagen Sie +es nur nicht ungeschickt, nicht plump! Ach, mein Gott! +Wie konnte ich nicht früher darauf verfallen! Ich hätte +Sie sofort hinschicken müssen!“ +</p> + +<p> +„Sie haben mich erlöst, Marja Alexandrowna!“ +Mosgljäkoff war entzückt. „Von nun an, Ehrenwort, +werde ich Ihnen in allem gehorchen! Und glauben Sie +mir, ich hatte förmlich Angst, es Ihnen zu sagen! ... +Nun, auf Wiedersehen, ich gehe sogleich zu ihm! Entschuldigen +Sie mich, bitte, bei Sinaïda Afanassjewna. +Aber ich kehre ja ...“ +</p> + +<p> +„Ich segne Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Sehen Sie nur zu, +daß Sie nicht vergessen, ihm von mir zu erzählen! Er +ist wirklich ein netter alter Mann. Ich habe schon +längst meine Meinung über ihn geändert ... Und +übrigens habe ich immer dieses Altrussische, Unverfälschte +an ihm geliebt ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Au revoir, mon ami, +au revoir!</span>“ +</p> + +<p> +„Das ist ja herrlich, daß der Teufel ihn mir vom +Halse nimmt! Nein, da sieht man, Gott selbst steht +mir bei!“ dachte sie, fast außer sich vor Freude. +</p> + +<p> +Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff trat ins Vorzimmer +und zog seinen Pelz an, als plötzlich, wie aus +der Erde emporgewachsen, Nastassja Petrowna Sjäblowa +vor ihm stand: sie hatte offenbar auf ihn gewartet. +</p> + +<p> +<a id="page-105" class="pagenum" title="105"></a> +„Wohin wollen Sie?“ fragte sie und hielt ihn am +Arm fest. +</p> + +<p> +„Zu Borodujeff, Nastassja Petrowna! Mein Pate +– er hat geruht, mich aus der Taufe zu heben ... Ein +reicher Alter, wird mir vielleicht was hinterlassen, da +muß man ihn günstig stimmen!“ ... +</p> + +<p> +Mosgljäkoff war in der besten Stimmung. +</p> + +<p> +„Zu Borodujeff! Nun, dann verzichten Sie auf +die Braut!“ sagte Nastassja Petrowna schroff. +</p> + +<p> +„Wieso verzichten?“ +</p> + +<p> +„Wieso! Sie glauben wohl, daß sie Ihnen schon +gehört! Machen Sie doch nur die Augen auf: da will +man sie ja mit dem Fürsten verkuppeln. Habe es selbst +gehört.“ +</p> + +<p> +„Mit dem Fürsten? Erbarmen Sie sich, Nastassja +Petrowna!“ +</p> + +<p> +„Was ist da sich zu erbarmen! Ist es Ihnen nicht +gefällig, sich selbst davon zu überzeugen? Werfen Sie +den Pelz fort und kommen Sie!“ +</p> + +<p> +Der halbbetäubte Mosgljäkoff warf seinen Pelz von +den Schultern und folgte der Sjäblowa auf den Fußspitzen. +Sie führte ihn in dieselbe dunkle Kleiderkammer, +in der sie auch am Vormittag gelauscht hatte. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, Nastassja Petrowna, ich verstehe +entschieden nicht! ...“ +</p> + +<p> +„Das werden Sie sofort, wenn Sie sich nur ein +wenig bücken und zuhören. Die Komödie wird sicherlich +bald beginnen.“ +</p> + +<p> +„Was für eine Komödie?“ +</p> + +<p> +„Pst! Sprechen Sie nicht so laut! Die Komödie +besteht darin, daß man Sie einfach betrügt. Am Vormittag, +<a id="page-106" class="pagenum" title="106"></a> +als Sie mit dem Fürsten ausgefahren waren, +hat Marja Alexandrowna ihre Sina eine ganze Stunde +beredet, diesen Fürsten zu heiraten und hat dabei noch +solche Köder ausgehängt, daß mir geradezu übel wurde. +Ich habe hier alles gehört. Sina willigte ein. Und wie +reizend Sie von den beiden betitelt wurden! Man hält +Sie einfach für einen Dummkopf und Sina sagte ganz +offen, daß sie Sie unter keiner Bedingung heiraten +würde. Und ich war nicht minder dumm! Wollte mir +noch eine rosa Schleife anstecken! Hören, Sie, hören Sie!“ +</p> + +<p> +„Aber das wäre doch die gottloseste Hinterlist, +wenn das wahr ist!“ stotterte Mosgljäkoff, der mit +dem dümmsten Gesicht Nastassja Petrowna ansah. +</p> + +<p> +„So horchen Sie doch nur, dann werden Sie noch +ganz andere Dinge hören.“ +</p> + +<p> +„Wo soll ich denn horchen?“ +</p> + +<p> +„Hier, sehen Sie doch, hier, hier ist ein Spalt ...“ +</p> + +<p> +„Aber, Nastassja Petrowna, ich ... ich bin nicht +fähig, andere zu belauschen ...“ +</p> + +<p> +„Womit Sie jetzt kommen! Hier, mein Lieber, +stecken Sie die Ehre mal in die Tasche: sind Sie hergekommen, +so horchen Sie!“ +</p> + +<p> +„Aber ...“ +</p> + +<p> +„Und sind Sie wirklich nicht fähig dazu, so ziehen +Sie bitte mit langer Nase ab! ... Ich tue es nur zu +seinem Besten und er wird jetzt noch hochmütig! Mir +kann es doch ganz egal sein. Ich werde nicht einmal +bis zum Abend hier bleiben ...“ +</p> + +<p> +Mosgljäkoff tat sich Gewalt an und beugte sich zum +Spalt. Sein Herz schlug laut, in seinen Schläfen hämmerte +das Blut. Er wußte kaum, was er tat. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-8"> +<a id="page-107" class="pagenum" title="107"></a> +VIII. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>S</span><span class="postfirstchar">o</span> haben Sie denn die Zeit sehr angenehm verbracht +bei Natalja Dmitrijewna?“ erkundigte sich Marja +Alexandrowna, die mit gierigem Blick das Feld der +bevorstehenden Schlacht übersah und das Gespräch mit +einem möglichst unschuldigen Thema einleiten wollte. +Das Herz klopfte ihr vor Aufregung und Erwartung. +</p> + +<p> +Nach dem Essen war der Fürst in den „Salon“ geführt +worden, in dem ihn die Hausfrau auch am Morgen +empfangen hatte. Alle feierlichen Empfänge geschahen +bei Marja Alexandrowna in diesem Salon, auf +den sie sehr stolz war. Der alte Herr konnte sich nach +den sechs Glas Champagner nicht mehr ganz sicher auf +den Füßen halten. Dafür sprach er ohne Unterlaß. +Marja Alexandrowna begriff, daß diese Lebhaftigkeit +nur von kurzer Dauer sein könnte und der Gast bald +schläfrig werden würde. Jetzt hieß es, den Augenblick +ausnutzen. Freudig gewahrte sie, daß der wollüstige +Greis mit eigentümlich leckeren Blicken ihre Sina betrachtete +und ihr Mutterherz erzitterte vor Glück. +</p> + +<p> +„Äußerst an–genehm,“ antwortete der Fürst. +„Und wissen Sie, eine beispiellose Frau, diese Natalja +Dmitrijewna, eine bei–spiel–lose Frau!“ +</p> + +<p> +Wie beschäftigt Marja Alexandrowna nun auch +<a id="page-108" class="pagenum" title="108"></a> +mit ihren großen Plänen war, so traf sie doch ein so +lautes Lob ihrer Feindin mitten ins Herz. +</p> + +<p> +„Was Sie sagen, mein Fürst!“ rief sie aus und +ihre Augen blitzten. „Wenn sogar diese Natalja Dmitrijewna +eine beispiellose Frau sein soll, dann weiß +ich nicht, an was ich mich noch halten soll! Aber dann +kennen Sie ja die hiesige Gesellschaft nicht im geringsten! +Das ist doch nichts als eine Ausstellung der eigenen +Tugenden, der eigenen edlen Gefühle, eine Komödie, +nur eine äußere goldene Schale. Heben Sie diese +Schale etwas auf und Sie werden eine ganze Hölle unter +Blumen entdecken, ein ganzes Wespennest, in dem +Sie bis auf den letzten Knochen verzehrt werden!“ +</p> + +<p> +„Ist’s möglich?“ fragte der Fürst erstaunt. „Das +wun–dert mich!“ +</p> + +<p> +„Aber ich schwöre es Ihnen! Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince</span>! +Hör, Sina, ich muß, ich muß doch dem Fürsten diesen +lächerlichen und beschämenden Vorfall mit dieser Natalja +erzählen, – in der vergangenen Woche, du weißt +doch noch? Ja, Fürst, – das war dieselbe von Ihnen +gepriesene Natalja Dmitrijewna, die Sie so entzückt +hat. O, mein liebster Fürst! Ich schwöre Ihnen, ich +bin keine Klatschbase! Aber ich muß es unbedingt erzählen +– nur um Sie zu erheitern, um Ihnen hier in +einer lebenden Probe, sozusagen durch ein optisches +Glas zu zeigen, was das hier für Leutchen sind. Vor +zwei Wochen kam diese Natalja Dmitrijewna zu mir. +Es wurde Kaffee gereicht, ich aber mußte aus irgend +einem Grunde den Salon auf einen Augenblick verlassen. +Ich entsinne mich ganz genau, wieviel ich noch +an Stückzucker in der silbernen Dose hatte: sie war noch +<a id="page-109" class="pagenum" title="109"></a> +ganz voll. Ich kehre zurück und was sehe ich? – es +liegen nur noch drei Stückchen auf dem Boden der +Dose. Außer Natalja Dmitrijewna war niemand im +Zimmer gewesen. Wie finden Sie das! Sie ist eine +reiche Hausbesitzerin! Dieser kleine Zwischenfall ist natürlich +lächerlich, aber hiernach können Sie auf die +Sittlichkeit der ganzen hiesigen Gesellschaft schließen!“ +</p> + +<p> +„Ist es mög–lich!“ Der Fürst war aufrichtig +erstaunt. „Was für eine un–natürliche Habgier! Und +sie hat alles allein aufgegessen?“ +</p> + +<p> +„Nun sehen Sie, was für eine <em>beispiellose</em> +Frau sie ist, mein Fürst! Wie gefällt Ihnen diese +schmachvolle Episode? Ich würde, glaube ich, noch in +derselben Minute sterben, in der ich mich zu einer so +widerlichen Handlung entschlossen hätte!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja ... Nur, wissen Sie, sie ist +doch immerhin <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">belle femme</span>.“ +</p> + +<p> +„Wer? Doch nicht Natalja Dmitrijewna? Aber +ich bitte Sie, Fürst, sie ist doch einfach ein Marktweib! +Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon prince, mon prince</span>! Was haben Sie da gesagt! +Ich habe von Ihnen viel mehr Geschmack erwartet +...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, ein Markt–weib ... nur wissen Sie, +sie ist so gebaut ... Nun ja, und dieses Mädchen, +das dort tanzte, ist gleichfalls ... so gebaut ...“ +</p> + +<p> +„Meinen Sie die Ssonjä? Aber sie ist ja noch ein +Kind, Fürst! Sie ist erst vierzehn Jahre alt!“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... nur, wissen Sie ... sie ist so graziös +und bei ihr entwickeln sich gleichfalls ... Formen. +So ein net–tes Ding. Und die an–de–re, +<a id="page-110" class="pagenum" title="110"></a> +die dort mit ihr tanz–te ... ent–wickelt sich gleichfalls +...“ +</p> + +<p> +„Ach, das ist eine arme Waise, Fürst! Sie wird +von ihnen oft ins Haus gerufen.“ +</p> + +<p> +„Eine Wai–se! Nun ja, aber sie war schmutzig, +wie gesagt, wenn sie doch we–nig–stens die Hände +vor–her gewaschen hätte ... Aber sie ist, wie gesagt, +gleichfalls ver–führerisch ...“ +</p> + +<p> +Während dieses Gesprächs betrachtete der Fürst +Sina immer aufmerksamer und immer lüsterner durch +sein Lorgnon. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais quelle charmante personne!</span>“ murmelte +er halblaut und schnalzte fast vor Wonne. +</p> + +<p> +„Sina, spiel uns etwas vor, oder nein, singe uns +ein Lied! Wenn Sie wüßten, wie schön sie singt, +Fürst! Man kann sagen, sie ist eine Künstlerin, eine +vollendete Künstlerin! Und wenn Sie wüßten, Fürst,“ +fuhr Marja Alexandrowna halblaut fort, als Sina +zum Flügel ging – sie hatte einen so ruhigen, fast +schwebenden Gang, der dem Alten noch den letzten +Gnadenstoß verlieh – „wenn Sie wüßten, was für +eine Tochter sie ist! Wie sie zu lieben versteht, wie +zärtlich sie zu mir ist! Welche Gefühle, welch ein +Herz!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Gefühle ... und wis–sen Sie, ich +habe nur eine einzige Frau gekannt, in meinem ganzen +Leben, mit der ich ihre Schön–heit ver–glei–chen +könnte,“ unterbrach der Fürst, dem der Mund immer +mehr wässerte. „Das war die verstorbene Gräfin +Nainskij, sie starb vor et–wa dreißig Jahren. Eine +wun–der–bare Frau war sie, von un–beschreib–-licher +<a id="page-111" class="pagenum" title="111"></a> +Schönheit ... später heiratete sie noch ihren +Koch ...“ +</p> + +<p> +„Ihren Koch, Fürst!?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, ihren Koch ... einen Fran–zo–sen +... im Aus–lande. Sie hatte ihm dort im Aus–lande +einen Grafen–ti–tel verschafft. Er war eine +gu–te Er–schei–nung und sehr ge–bil–det ... +mit einem kleinen Schnurr–bart ...“ +</p> + +<p> +„Und ... und ... wie lebten sie denn, mein +Fürst?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, sie lebten gut. Aber wie gesagt, sie gingen +bald auseinander. Er plünderte sie vollkommen aus +und fuhr dann fort. Sie waren wegen einer Sau–ce +in Streit geraten ...“ +</p> + +<p> +„Mama, was soll ich spielen?“ fragte Sina. +</p> + +<p> +„Ach, sing uns lieber etwas vor, Sinachen. Wie +sie singt Fürst! Lieben Sie Musik?“ +</p> + +<p> +„O ja! Charmant, charmant! Ich liebe sehr +Musik. Im Aus–lande war ich mit Beet–ho–ven +bekannt.“ +</p> + +<p> +„Mit Beethoven! Denk dir, Sina, der Fürst war +mit Beethoven bekannt!“ wiederholt Marja Alexandrowna +entzückt. „Ach, Fürst! Waren Sie wirklich +mit Beethoven bekannt?“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... wir standen auf freundschaftlichem +Fuß. Seine Nase hatte er be–ständig in der Tabaksdose. +So ein komischer Mensch!“ +</p> + +<p> +„Beethoven?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Beethoven. Viel–leicht war es, wie gesagt, +auch nicht Beet–ho–ven, sondern ir–gend ein +an–de–rer Deut–scher. Dort gibt es sehr viel +<a id="page-112" class="pagenum" title="112"></a> +Deutsche ... Wie gesagt, ich habe ein wenig ver–wech–selt +...“ +</p> + +<p> +„Was soll ich denn singen, Mama?“ fragte Sina. +</p> + +<p> +„Ach, Sina! Sing diese Romanze, in der, weißt +du noch, soviel mittelalterlich Ritterliches war, diese +Schloßherrin und ihr Troubadour ... Ach, Fürst! +Wie ich dieses ganze Rittertum liebe! Diese Burgen, +diese Schlösser! Dieses ganze mittelalterliche Leben! +Diese Troubadours, Herolde, Turniere ... Ich +werde begleiten, Sina. Setzen Sie sich hierher, Fürst, +etwas näher! Ach, diese Schlösser, diese Burgen!“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... diese Burgen. Ich liebe sie auch, +diese Burgen,“ murmelte der Fürst entzückt, während er +sein einziges Auge in Sina geradezu hineinbohrte. „Aber +... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu!</span> – diese Romanze! ... Aber ... +ich kenne diese Ro–manze. Ich habe sie vor langer +Zeit gehört ... Sie er–in–nert mich so daran ... +Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“ +</p> + +<p> +Ich will nicht zu beschreiben versuchen, was mit +dem Fürsten geschah, als Sina sang. Sie sang eine +alte französische Ballade, die einmal sehr beliebt gewesen +war. Sina hatte eine prachtvolle Stimme. Ihr +reiner, klangvoller Kontraalt drang bis ins Herz hinein; +ihr wundervolles Gesicht mit den herrlichen Augen, +ihre schmalen, zarten Finger, mit denen sie die Blätter +umwandte, ihre dunklen, glänzenden Haare, die zu +einem schweren Knoten geschlungen waren, die sich +hebende und senkende junge Brust, ihre ganze Gestalt, +die stolz, schön und edel vor ihm stand – alles das +schlug den armen Alten endgültig in seinen Zauberbann. +Er verschlang sie mit den Blicken, als sie sang, +<a id="page-113" class="pagenum" title="113"></a> +er schluckte nur noch vor Aufregung. Sein Greisenherz, +das von Champagner, Musik und Erinnerungen, +die wohl ein jeder hat, erwärmt wurde, klopfte immer +schneller und lauter ... wie es lange nicht mehr geklopft +hatte. Er hätte vor Sina niederknieen und weinen +mögen, nachdem sie geendet hatte. +</p> + +<p> +„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante enfant</span>!“ rief er aus und +küßte ihre Hand, „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">vous me ravissez!</span> Erst jetzt, erst +jetzt komme ich zur Besinnung ... Aber ... aber ... +oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante enfant</span> ...“ +</p> + +<p> +Und die Stimme versagte ihm sogar. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna fühlte, daß jetzt ihr Augenblick +gekommen war. +</p> + +<p> +„Weshalb begraben Sie sich, Fürst?“ fiel sie feierlich +dazwischen. „Soviel Gefühl, soviel Lebenskraft, +soviel seelischer Reichtum, und Sie graben sich für Ihr +ganzes Leben in der Einsamkeit ein! Wie kann man +sich nur so von den Menschen, den Freunden zurückziehen! +Das ist doch unverzeihlich! Besinnen Sie sich, +Fürst! So sehen Sie doch mit klarem Blick auf das +Leben! Erwecken Sie die Erinnerung an Vergangenes +in Ihrem Herzen, denken Sie an Ihre goldene Jugend, +an die heiteren sorglosen Tage: erwecken Sie sie wieder, +lassen Sie sie auferstehen! Leben Sie doch wieder +in der Gesellschaft, unter Menschen! Fahren Sie ins +Ausland, nach Italien, nach Spanien – nach Spanien, +Fürst. Brauchen Sie einen Führer, ein Herz, +das Sie liebt, das mit Ihnen fühlt, das für Sie sorgt? +Aber Sie haben doch Freunde! Rufen Sie sie, nur +ein Wink genügt und sie werden in Scharen angelaufen +kommen! Ich werde die erste sein, die alles hinwirft +<a id="page-114" class="pagenum" title="114"></a> +und auf Ihren Ruf hin zu Ihnen kommt. Ich +habe unsere Freundschaft noch nicht vergessen, Fürst; ich +werde meinen Mann verlassen und Ihnen folgen ... +und selbst wenn ich noch jünger wäre, wenn ich so +schön und gut wäre, wie meine Tochter, so würde ich +Ihre Gefährtin, Ihre Freundin werden, ja selbst Ihre +Frau, wenn Sie es nur wünschten!“ +</p> + +<p> +„Und ich bin ü–ber–zeugt, daß Sie <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une charmante +personne</span> waren, zu Ih–rer Zeit,“ sagte der +Fürst und schnaubte sich. Seine Augen waren feucht. +</p> + +<p> +„Wir leben in unseren Kindern, Fürst,“ antwortete +Marja Alexandrowna mit hohem Gefühl. „Ich habe +gleichfalls einen Schutzengel bei mir! Das ist sie – +meine Tochter, die Freundin meines Herzens, mit der +ich alle meine Gedanken teile, Fürst! Sie hat sieben +Bewerber zurückgewiesen, nur um sich nicht von mir +trennen zu müssen.“ +</p> + +<p> +„Dann wird sie wohl auch mit Ihnen fahren, wenn +Sie mich ins Ausland be–glei–ten? In dem Fall +werde ich un–be–dingt ins Ausland fahren!“ rief +der Fürst begeistert aus, „werde ich un–be–dingt +fahren! Und wenn ich mir mit der Hoffnung schmeicheln +könnte ... Aber sie ist ja ein be–zau–berndes, +ein be–rück–endes Kind! Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante +enfant</span> ...“ Und der Fürst küßte ihr von neuem +die Hand. Der Arme, er wollte sogar vor ihr niederknien! +</p> + +<p> +„Aber ... aber, Fürst, Sie fragen: ob Sie sich +mit der Hoffnung schmeicheln könnten?“ griff Marja +Alexandrowna auf, die neue Beredsamkeit in sich +<a id="page-115" class="pagenum" title="115"></a> +fühlte. „Sie sind wirklich sonderbar, Fürst! Halten +Sie sich denn womöglich für nicht mehr würdig der +Beachtung einer Frau? Nicht Jugend macht die +Schönheit aus. Vergessen Sie nicht, daß Sie sozusagen +ein Stück der Aristokratie sind! Sie sind der Repräsentant +der feinsten, der ritterlichsten Gefühle und +... Manieren! Hat sich denn Maria nicht in den +alten Mazeppa verliebt? Ich weiß, ich habe gelesen, +daß Lausin, dieser bezaubernde Marquis am Hofe +Louis ... ich habe vergessen, des wievielten – noch +in alten Jahren, als Greis, das Herz einer der ersten +Hofschönheiten gewonnen hat! ... Und wer hat +Ihnen gesagt, daß Sie ein Greis seien? Wer hat +Sie auf diesen Gedanken gebracht? Können denn +Menschen wie Sie überhaupt alt werden? Sie mit +Ihrem ganzen Reichtum an Gefühlen, Gedanken, Heiterkeit, +Geist, Lebenskraft, glänzenden Manieren! Sie +brauchen ja nur irgendwo im Auslande, in einem Kurort +mit einer jungen Frau zu erscheinen, mit einer +Schönheit wie zum Beispiel meine Sina – ich rede +nicht unbedingt von ihr, ich führe sie nur als Beispiel +an – und Sie werden sehen, was für einen kolossalen +Eindruck Sie machen werden! Sie sind ein Stück +Aristokratie und sie ist eine Schönheit unter Schönheiten! +Sie führen sie am Arm feierlich in die Säle. +Sie wird in den glänzendsten Gesellschaften singen und +Sie Ihrerseits werden geistvolle Bemerkungen um sich +streuen, – aber der ganze Kurort wird ja zusammenlaufen, +um dieses Paar zu sehen! Ganz Europa wird +davon reden, denn alle Zeitungen, alle Feuilletons in +den Kurorten werden davon voll sein! ... Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon +<a id="page-116" class="pagenum" title="116"></a> +prince</span>! Und Sie fragen noch, ob Sie sich mit der +Hoffnung schmeicheln dürften?“ +</p> + +<p> +„Feuil–letons ... nun ja, nun ja! ... Das +ist in den Zeitungen ...“ murmelte der Fürst, der +die Hälfte ihres Geschwätzes nicht versteht und immer +gerührter wird. „Mein Kind, wenn es Sie nicht er–mü–det +hat – singen Sie mir dann noch einmal diese +Ro–man–ze vor, die Sie soeben sangen!“ +</p> + +<p> +„Ach, Fürst! Aber sie kennt ja auch noch andere +Romanzen, noch bessere ... Entsinnen Sie sich noch +des kleinen Liedes ‚L’hirondelle‘? Sie haben es sicherlich +gehört!“ +</p> + +<p> +„Gewiß, ich entsinne mich ... oder richtiger, ich +habe es ver–ges–sen. Nein, nein, dieselbe Ro–man–ze, +dieselbe, die sie so–e–ben ge–sun–gen hat! +Ich will nicht l’hirondelle! Ich will dieselbe Ro–man–ze +hören ...“ bat der Fürst wie ein eigensinniges +Kind. +</p> + +<p> +Sina sang sie noch einmal. Da konnte sich der +Arme nicht mehr bezwingen und sank vor ihr auf die +Knie nieder. Er weinte sogar. +</p> + +<p> +„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma belle châtelaine</span>!“ Seine Stimme zitterte +vor Altersschwäche und Aufregung. „Oh <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma +charmante châtelaine</span>! O, mein liebes Kind! Sie +haben mich an so vieles erin–nert ... an längst Ver–gangenes +... Ich glaubte immer, daß alles besser +werden würde, als es dann wurde. Ich sang damals +Duette ... mit der Vicomtesse ... dieselbe Ro–man–ze +... jetzt aber ... ich weiß nicht mehr, +was jetzt ist ...“ +</p> + +<p> +Diese ganze Rede brachte der Fürst atemlos und +<a id="page-117" class="pagenum" title="117"></a> +stockend hervor. Seine Zunge wurde merklich steif. +Einzelne Worte waren kaum zu verstehen. Man sah +nur, daß er im höchsten Grade erregt und gerührt war +– und so beeilte sich Marja Alexandrowna, noch Öl +ins Feuer zu gießen. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon prince!</span> Aber Sie werden sich ja schließlich +noch in meine Sina verlieben!“ rief sie aus. Sie +fühlte, daß der Augenblick entscheidend war. +</p> + +<p> +Die Antwort des Fürsten übertraf ihre besten Erwartungen. +</p> + +<p> +„Ich bin bis zum Wahnsinn in sie verliebt!“ rief +der Alte aus, plötzlich wie neu belebt, während er immer +noch vor ihr kniete und vor Aufregung am ganzen +Körper zitterte. „Ich würde für sie mein Leben hin–geben! +Und wenn ich nun hoffen dürf–te ... Aber +er–he–ben Sie mich, ich bin ein we–nig schwach +ge–wor–den ... Ich ... wenn ich nur wa–gen +dürf–te, ihr mein Herz an–zu–bieten, so ... +würde ich ... sie würde mir jeden Tag Ro–manzen +vorsingen und ich würde sie immer an–se–hen ... +im–mer an–se–hen ... Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon prince, mon prince!</span> Sie halten um ihre +Hand an! Sie wollen sie mir fortnehmen, meine Sina, +meinen Liebling, meinen Engel, mein Sinachen! Kind, +ich lasse dich nicht von mir! Sina! Möge man dich +mir aus den Händen reißen, – freiwillig lasse ich dich +nicht! – aus den Mutterarmen!“ Marja Alexandrowna +stürzte sich auf die Tochter und umschlang sie +krampfhaft, obschon sie fühlte, daß sie ziemlich stark +zurückgestoßen wurde ... Die Mama war etwas +zu eifrig. Sina litt mit jeder Fiber und sah mit unerträglichem +<a id="page-118" class="pagenum" title="118"></a> +Ekel auf die ganze Komödie. Aber sie +schwieg, und das war schließlich alles, was die Mutter +zur Durchführung ihres Planes nötig hatte. +</p> + +<p> +„Sie hat neunmal Nein gesagt, nur um sich nicht +von ihrer Mutter trennen zu müssen!“ beteuerte Marja +Alexandrowna. „Jetzt aber fühlt mein Herz die bevorstehende +Trennung! Schon vorhin fiel es mir auf, +wie sie Sie ansah ... Sie haben sie mit Ihrem +Aristokratismus besiegt, Fürst, mit dieser ausgesuchten +Vornehmheit! ... O, Sie werden uns trennen! – +das fühle ich!“ +</p> + +<p> +„Ich ver–göt–tere sie!“ stieß der Fürst, der immer +noch wie ein Espenblatt zitterte, abgebrochen hervor. +</p> + +<p> +„Also du verläßt deine Mutter!“ rief Marja Alexandrowna +aus und warf sich von neuem der Tochter an +den Hals. +</p> + +<p> +Sina beeilte sich, den schweren Minuten ein Ende +zu machen. Sie reichte dem Fürsten stumm ihre wundervolle +Hand und zwang sich sogar zu einem Lächeln. +Der Fürst ergriff mit wilder Andacht dieses Händchen +und bedeckte es mit hundert Küssen. +</p> + +<p> +„Jetzt erst beginne ich zu leben!“ stieß er hervor, +hingerissen in seiner Begeisterung. +</p> + +<p> +„Sina!“ hub Marja Alexandrowna feierlich an, +„siehe diesen Menschen! Er ist der ehrenhafteste, der +edelste Mensch von allen, die ich kenne! Das ist ein +mittelalterlicher Ritter! Aber sie weiß es, Fürst, sie +weiß es, zu meinem Herzeleid ... Oh! weshalb +sind Sie hergekommen! Ich übergebe Ihnen meinen +kostbarsten Schatz, meinen Schutzengel! Behüten Sie +<a id="page-119" class="pagenum" title="119"></a> +ihn, Fürst! Eine Mutter bittet Sie darum und welche +Mutter würde mir meinen Schmerz nicht nachfühlen?“ +</p> + +<p> +„Mama, genug!“ raunte ihr Sina zu. +</p> + +<p> +„Sie werden sie vor jeder Kränkung bewahren, +Fürst! Ihr Degen wird den Verleumder oder den +Frechen, der es wagt, mein Kind zu beleidigen, zu strafen +wissen!“ +</p> + +<p> +„Hören Sie auf, Mama, oder ich ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, strafen ...“ murmelte der Fürst. „Jetzt +erst beginne ich zu leben ... Ich will, daß die Hochzeit +sofort sei, im Augenblick ... ich ... Ich will +so–fort nach Du–cha–no–wo schicken. Dort habe +ich Bril–lanten. Ich will sie ihr zu Fü–ßen legen +...“ +</p> + +<p> +„Welche Leidenschaft! Welche Liebe! Welch edle +Gefühle!“ rief Marja Alexandrowna aus. „Und Sie +konnten, Fürst, Sie konnten sich so vergraben, sich so +von aller Welt abschließen? Ich werde es Ihnen tausendmal +vorwerfen! Ich bin außer mir, wenn ich an +diese höllische ...“ +</p> + +<p> +„Was soll–te ich denn tun, ich hat–te solche +Angst!“ stammelte der Fürst halb weinend mit unsicherer +Stimme. „Sie wollten mich in eine Ir–ren–an–stalt +ein–sper–ren ... Da er–schrak ich doch!“ +</p> + +<p> +„In eine Irrenanstalt! O, diese Ungeheuer! Diese +unmenschlichen Menschen! O, diese Niedertracht! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon +prince</span> – ich habe schon früher davon gehört! Aber +das ist doch Irrsinn von seiten dieser Leute! Und weshalb +nur, aus welchem Grunde?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß es ja selbst nicht, aus welchem Grun–de!“ +antwortete der Alte, der sich vor Schwäche hinsetzte. +<a id="page-120" class="pagenum" title="120"></a> +„Ich, wissen Sie, ich war auf einem Ball und +erzähl–te dort eine A–nek–do–te, und die hat–te +ihnen nicht ge–fal–len. Nun ja und daraus ent–stand +die Ge–schich–te!“ +</p> + +<p> +„Und das allein war der Grund, Fürst?“ +</p> + +<p> +„Nein. Ich hatte dann noch Kar–ten gespielt, +mit Fürst Pjotr De–men–tjitsch, und war ohne sechs +ge–blie–ben. Ich hatte zwei Kö–ni–ge und drei +Da–men, oder rich–tiger, drei Da–men und zwei +Kö–ni–ge ... Nein! einen König! Und dann +erst kamen die Da–men ...“ +</p> + +<p> +„Und deshalb? Deshalb! O, diese höllische Unmenschlichkeit! +Sie weinen, mein Fürst! Aber jetzt +brauchen Sie nichts mehr zu fürchten! Jetzt werde ich +bei Ihnen sein, mein Fürst! Ich werde mich nicht von +Sina trennen, und dann wollen wir doch sehen, ob +sie noch ein Wort zu sagen wagen!! – ... Und +Ihre Heirat, Fürst, wird sie mehr als überraschen, sie +wird sie beschämen! Sie werden sich doch sagen müssen, +daß Sie dann noch fähig sind ... das heißt, sie +werden sich sagen, daß eine solche Schönheit doch nicht +einen Irrsinnigen heiraten würde! Jetzt können Sie +stolz das Haupt erheben, Sie werden jenen offen in die +Augen sehen ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja, ich werde ihnen offen in die +Augen sehen,“ murmelte der Fürst und die Augen fielen +ihm zu. +</p> + +<p> +„Weiß Gott, er ist ja ganz und gar hinfällig,“ +dachte Marja Alexandrowna, „ich verliere nur unnütz +meine Worte!“ +</p> + +<p> +„Mein Fürst, Sie sind erregt, ich sehe es. Sie +<a id="page-121" class="pagenum" title="121"></a> +müssen sich jetzt unbedingt beruhigen, sich erholen,“ +sagte sie gütig zuredend, indem sie sich mütterlich zu +ihm beugte. +</p> + +<p> +„Nun ja, ich würde gern ein wenig lie–gen,“ +sagte er. +</p> + +<p> +„Ja, ja! Beruhigen Sie sich, Fürst! Diese Aufregungen +... Warten Sie, ich werde Sie selbst geleiten +... Ich werde Sie selbst zu Bett bringen, +wenn es nötig ist. – Weshalb sehen Sie so starr auf +dieses Porträt, Fürst? Das ist das Bild meiner Mutter, +– eines Engels, aber nicht einer Frau! O, weshalb +weilt sie jetzt nicht mehr unter uns! Sie war eine +Heilige! – Ich nenne sie nie anders!“ +</p> + +<p> +„Eine Hei–li–ge? <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">c’est joli</span> ... Ich habe +gleich–falls eine Mutter gehabt ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une princesse</span> +... und – denken Sie sich – es war eine außer–ge–wöhn–lich +vol–le Frau ... Aber, wie gesagt, +ich wollte etwas an–de–res sagen ... Ich bin +etwas er–mü–det. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Adieu, ma charmant enfant!</span> +... Ich werde mit Won–ne ... ich werde heute ... +morgen ... Nun ja, gleichviel! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">au revoir, au +revoir!</span>“ Er wollte noch mit der Hand einen Gruß +senden, stolperte jedoch bei der Gelegenheit und wäre +fast gefallen. +</p> + +<p> +„Vorsichtiger, mein Fürst! Stützen Sie sich auf +meinen Arm!“ rief ihm Marja Alexandrowna zu. +</p> + +<p> +„Charmant, charmant!“ murmelte er noch im Fortgehen. +„Jetzt erst beginne ich zu leben ...“ +</p> + +<p> +Sina blieb allein zurück. Es war ihr, als läge +eine erdrückende Last auf ihren Schultern. Ihr ward +fast übel vor Ekel. Sie hätte sich selbst verachten mögen. +<a id="page-122" class="pagenum" title="122"></a> +Ihre Wangen brannten. Mit ineinandergekrampften +Händen, zusammengebissenen Zähnen stand +sie, den Kopf gesenkt und rührte sich nicht. Tränen +der Scham rollten aus ihren Augen ... Da wurde +die Tür aufgerissen und Mosgljäkoff stürzte ins Zimmer. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-9"> +<a id="page-123" class="pagenum" title="123"></a> +IX. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">E</span><span class="postfirstchar">r</span> hatte alles gehört, alles! +</p> + +<p> +Bleich vor Aufregung und Zorn stürzte er herein +– denn eintreten konnte man es wahrlich nicht nennen. +Sina sah ihn verwundert an. +</p> + +<p> +„Also so sind Sie!“ schrie er atemlos. „Jetzt habe +ich endlich erfahren, was Sie sind!“ +</p> + +<p> +„Was ich bin?“ wiederholte Sina, die ihn wie +einen Wahnsinnigen verständnislos ansah; plötzlich +aber begriff sie und Zorn blitzte in ihren Augen. +</p> + +<p> +„Wie wagen Sie es, so mit mir zu sprechen!“ Sie +trat auf ihn zu. +</p> + +<p> +„Ich habe alles gehört!“ wiederholte Mosgljäkoff +feierlich, trat aber doch unwillkürlich einen Schritt vor +ihr zurück. +</p> + +<p> +„Sie haben alles gehört? Sie haben an der Tür +gelauscht?“ +</p> + +<p> +„Ja, ich habe gelauscht! Ja, ich habe mich zu dieser +niedrigen Tat entschlossen, dafür aber habe ich jetzt +erfahren, daß Sie die aller ... Ich weiß nicht einmal, +wie ich mich ausdrücken soll, um Ihnen zu sagen +... als was Sie jetzt dastehen!“ antwortete er, während +sein Mut unter ihrem Blick immer mehr dahinschwand. +</p> + +<p> +<a id="page-124" class="pagenum" title="124"></a> +„Und selbst wenn Sie alles gehört haben, wessen +können Sie mich denn beschuldigen? Welch ein Recht +haben Sie überhaupt, mir etwas vorzuwerfen? Welches +Recht haben Sie, so ungezogen mit mir zu reden?“ +</p> + +<p> +„Ich? Welch ein Recht ich habe? Und Sie +fragen das noch? Sie heiraten den Fürsten und ich +soll kein Recht haben! Aber Sie haben mir doch Ihr +Wort gegeben! Ganz einfach!“ +</p> + +<p> +„Wann?“ +</p> + +<p> +„Wieso wann?“ +</p> + +<p> +„Ich habe Ihnen noch heute morgen, als Sie wieder +in mich drangen, deutlich gesagt, daß ich Ihnen +nichts Bestimmtes versprechen könne.“ +</p> + +<p> +„Aber ... einstweilen ... Sie haben mich nicht +zurückgewiesen, Sie haben mir nicht endgültig abgesagt! +Sie haben mich also für den Notfall aufbewahrt! +Sie haben mich angelockt!“ +</p> + +<p> +In Sinas bleichem Gesicht spielte sich ein schmerzliches +Gefühl wieder; wie etwa von einem scharfen, +durchbohrenden inneren Schmerz; doch sie bezwang sich. +</p> + +<p> +„Wenn ich Sie nicht fortgeschickt habe,“ antwortete +sie langsam und deutlich, wenn auch in ihrer Stimme +ein leises Zittern zu hören war, „so habe ich es +nur aus Mitleid getan. Sie selbst haben mich gebeten, +noch ein wenig mit der Antwort zu zögern, Ihnen +nicht sofort Nein zu sagen, sondern Sie näher kennen +zu lernen, und ‚dann,‘ sagten Sie, ‚dann, wenn Sie sich +überzeugt haben werden, daß ich ein ehrenwerter +Mensch bin, dann werden Sie mich vielleicht doch nicht +abweisen‘. Das sind Ihre eigenen Worte, die Sie +zu Anfang Ihrer Werbung gesagt haben. Sie können +<a id="page-125" class="pagenum" title="125"></a> +sie nicht verleugnen! Und jetzt haben Sie gewagt, mir +zu sagen, daß ich Sie angelockt hätte! Sie haben aber +doch meinen Widerwillen bemerkt, als ich Sie zwei +Wochen früher, als Sie sich angesagt hatten, wiedersah, +und diesen Widerwillen habe ich vor Ihnen nicht verborgen, +im Gegenteil, ich habe ihn offen gezeigt. Und +Sie haben ihn auch bemerkt, denn Sie selbst fragten +mich, ob ich Ihnen deshalb böse sei, weil Sie früher +wiedergekommen wären. Merken Sie sich, daß man denjenigen +nicht anlockt, vor dem man seinen Widerwillen +weder verbergen kann noch <em>will</em>. Sie haben es gewagt, +mir zu sagen, ich hätte Sie für den Notfall aufbewahrt. +Hierauf antworte ich Ihnen, daß ich mir +über Sie etwa folgendes gedacht habe: ‚Wenn er auch +nicht mit sehr bedeutendem Verstande begabt ist, so +kann er vielleicht doch ein guter Mensch sein und folglich +könnte man ihn heiraten‘. Jetzt aber, nachdem ich +mich zu meinem Glück noch rechtzeitig überzeugt habe, +daß Sie ein Dummkopf sind und zum Überfluß noch +ein bösartiger Dummkopf, so bleibt mir nichts anderes +übrig, als Ihnen ein angenehmes Leben und glückliche +Reise zu wünschen. Leben Sie wohl!“ +</p> + +<p> +Sina wandte sich von ihm ab und verließ langsam +das Zimmer. +</p> + +<p> +Mosgljäkoff begriff, daß er jetzt alles verloren +hatte und geriet außer sich. +</p> + +<p> +„Ah! So bin ich denn jetzt bereits ein Dummkopf,“ +schrie er, „so bin ich denn ein Dummkopf! Gut! +Leben Sie wohl! Doch bevor ich fort fahre, werde ich +der ganzen Stadt erzählen, wie Sie mit Ihrer Mutter +den Fürsten umgarnt haben, nachdem er von Ihnen +<a id="page-126" class="pagenum" title="126"></a> +genügend angeheitert worden ist! Allen werde ich es +erzählen! Sie sollen Mosgljäkoff kennen lernen!“ +</p> + +<p> +Sina fuhr zusammen und wollte stehen bleiben, um +zu antworten, bedachte sich aber, zuckte nur verächtlich +mit der Achsel und schlug die Tür hinter sich zu. +</p> + +<p> +Fast im selben Augenblick erschien Marja Alexandrowna +in der anderen Tür. Sie hatte Mosgljäkoffs +letzten Ausruf vernommen, erriet in einer Sekunde den +ganzen Zusammenhang und erschrak. Mosgljäkoff war +noch nicht fortgefahren, Mosgljäkoff war noch in der +Nähe des Fürsten, Mosgljäkoff konnte ja die Neuigkeit +in der ganzen Stadt verbreiten, während doch gerade +die Geheimhaltung derselben, und wenn auch nur für +noch so kurze Zeit, die erste Bedingung war! Marja +Alexandrowna hatte ihre eigenen Berechnungen. Nur +einen Augenblick überlegte sie sich die Sachlage und +dann hatte sie auch schon den Plan einer Besänftigung +Mosgljäkoffs entworfen. +</p> + +<p> +„Was haben Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>!“ fragte sie, trat auf +ihn zu und streckte ihm freundschaftlich die Hand entgegen. +</p> + +<p> +„Was! Noch ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>‘!“ schrie Mosgljäkoff in +rasender Wut. „Nach allem, was Sie getan haben, +noch <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Das verbitte ich mir, meine Gnädigste! +Und Sie glauben, mich noch einmal betrügen +zu können!“ +</p> + +<p> +„Es tut mir leid, es tut mir sehr leid, daß ich Sie +in einer so <em>sonderbaren</em> Stimmung angetroffen +habe, Pawel Alexandrowitsch. Was ist das für ein +Ton? Sie bedenken nicht einmal Ihre Ausdrücke, deren +Sie sich einer Dame gegenüber bedienen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-127" class="pagenum" title="127"></a> +„Einer Dame gegenüber! Sie ... Sie sind alles +was Sie wollen, nur keine Dame!“ schrie wieder Mosgljäkoff. +Ich weiß nicht, was er eigentlich sagen wollte, +jedenfalls aber wird es etwas Vernichtendes gewesen +sein. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna sah ihn mit frommen Augen an. +</p> + +<p> +„Setzen Sie sich!“ sagte sie dann mit trauriger +Stimme und wies auf denselben Stuhl, auf dem noch +vor wenigen Minuten der Fürst gesessen hatte. +</p> + +<p> +„Aber hören Sie, das geht doch nicht, Marja Alexandrowna!“ +Mosgljäkoff war ganz verdutzt. „Sie +sehen mich an, als wenn nicht Sie vor mir, sondern +womöglich noch ich vor Ihnen schuldig wäre! Da – +da – das geht doch nicht! ... Dieser Ton! ... +Aber das übersteigt doch jedes Maß der menschlichen +Geduld! ... Wissen Sie das auch?“ +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ antwortete Marja Alexandrowna, +„Sie werden mir erlauben, Sie immer noch so zu +nennen, denn Sie haben keinen besseren Freund als +mich. Mein Freund! Sie leiden, Sie quälen sich, +Sie sind mitten ins Herz getroffen – und deshalb +wundert es mich auch nicht, daß Sie in einem solchen +Ton mit mir sprechen. Ich habe mich entschlossen, +Ihnen alles aufzudecken, mein ganzes Herz, um so +mehr, als ich mich selbst ein wenig schuldbewußt vor +Ihnen fühle. Setzen Sie sich also, reden wir.“ +</p> + +<p> +Die Stimme Marja Alexandrownas war leidend, +weich und auch in ihrem Gesicht drückte sich Leiden aus. +Verwundert setzte sich Mosgljäkoff ihr gegenüber. +</p> + +<p> +„Sie haben gelauscht?“ fuhr sie in sanftem Tone +fort und sah ihn vorwurfsvoll an. +</p> + +<p> +<a id="page-128" class="pagenum" title="128"></a> +„Ja, ich habe gelauscht! Das fehlte noch, daß ich +es nicht getan hätte! Dann wäre ich ja der richtige +Tölpel jetzt! So habe ich wenigstens alles erfahren, +was Sie gegen mich unternehmen!“ antwortete er +frech. Sein eigener Zorn reizte ihn und stachelte ihn +noch mehr auf. +</p> + +<p> +„Und Sie, Sie, bei Ihrer Erziehung haben Sie sich +zu einer solchen Handlung entschließen können? – +O, mein Gott!“ +</p> + +<p> +Mosgljäkoff sprang auf. +</p> + +<p> +„Aber Marja Alexandrowna! Das ist denn doch +unerhört! Denken Sie doch gefälligst daran, wozu +<em>Sie</em> sich bei <em>Ihrer</em> Erziehung und Ihren Grundsätzen +entschlossen haben, und dann verurteilen Sie +andere!“ +</p> + +<p> +„Noch eine Frage,“ unterbrach sie ihn, ohne seine +Heftigkeit zu beachten, „wer hat Sie dazu verleitet, +uns zu belauschen, wer hat es Ihnen erzählt, wer hat +hier spioniert? – das ist es, was ich zuerst wissen +will.“ +</p> + +<p> +„Verzeihung – das sage ich nicht.“ +</p> + +<p> +„Gut. Ich werde es sowieso erfahren. Ich habe +gesagt, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher Paul</span>, daß ich schuldbewußt vor Ihnen +dastehe. Wenn Sie aber alles erwägen, dann werden +Sie sehen, daß meine Schuld, wenn mir überhaupt eine +solche zugesprochen werden kann, nur darin besteht, daß +ich Ihnen das Beste gewünscht habe.“ +</p> + +<p> +„Mir? Das Beste? Das geht denn doch über +die Hutschnur! Glauben Sie mir, daß Sie mich jetzt +nicht mehr betrügen können! Ich bin kein dummer +Junge!“ +</p> + +<p> +<a id="page-129" class="pagenum" title="129"></a> +Und er rückte seinen Stuhl so heftig, daß dieser in +den Fugen knackte. +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie, mein Freund, etwas kaltblütiger +zu sein, wenn es Ihnen möglich ist. Hören Sie mir +aufmerksam zu und dann werden Sie mir selbst in +allem beistimmen. Erstens: es war meine Absicht, Ihnen +sogleich alles, alles mitzuteilen – Sie hätten von +mir den ganzen Sachverhalt bis auf die kleinsten Details +erfahren, ohne sich durch Belauschen erniedrigen +zu brauchen. Und wenn ich es Ihnen nicht vorher mitgeteilt +habe, so geschah das nur deshalb nicht, weil das +Ganze doch noch nichts als ein in der Luft schwebender +Plan war. Es konnte ja ebensogut auch nichts daraus +werden. Sie sehen: ich bin ganz offen zu Ihnen. +Zweitens: beschuldigen sie nicht meine Tochter. Sina +liebt Sie bis zum Wahnsinn und es hat mir unglaubliche +Mühe gekostet, sie von Ihnen abzulenken und +durchzusetzen, daß sie den Antrag des Fürsten annahm.“ +</p> + +<p> +„Ich habe noch vor wenigen Minuten das Vergnügen +gehabt, den glänzendsten Beweis für diese +Liebe <em>bis zum Wahnsinn</em> zu vernehmen,“ bemerkte +Mosgljäkoff ironisch. +</p> + +<p> +„Gut. Aber wie haben Sie denn mit ihr gesprochen? +Soll das die Rede eines Verliebten sein? Und +schließlich – welcher wohlerzogene Mensch spricht in +diesem Ton? Sie haben sie gekränkt und gereizt.“ +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna, jetzt handelt es sich nicht +um den Ton! Aber am Vormittag, nachdem Sie so +liebenswürdig zu mir gewesen waren, da haben Sie +mich, als ich mit dem Fürsten Visiten machte, einfach +verleumdet! Sie haben mich angeschwärzt, Sie haben +<a id="page-130" class="pagenum" title="130"></a> +ihr nur Schlechtes von mir gesagt! Ich weiß alles, +alles!“ +</p> + +<p> +„Und sicherlich aus derselben schmutzigen Quelle?“ +fragte Marja Alexandrowna mit verächtlichem Lächeln. +„Ja, Pawel Alexandrowitsch, ich habe Sie angeschwärzt, +ich habe nur Schlechtes von Ihnen gesagt, +und ich gestehe Ihnen, daß ich mir sehr viel Mühe gegeben +habe. Aber beweist das nicht – daß ich gezwungen +war, Sie anzuschwärzen, ja sogar, zu verleumden +– beweist das nicht gerade, wie schwer Sinas +Einwilligung, sich von Ihnen loszusagen, zu erringen +war? Wie können Sie so kurzsichtig sein? +Wenn Sina Sie nicht lieben würde, wozu hätte ich es +dann nötig gehabt, Sie anzuschwärzen, Sie lächerlich +zu machen, in so unvorteilhaftem Licht zu zeigen – +kurz, zu diesen äußersten Mitteln zu greifen? Aber Sie +wissen noch nicht alles! Ich mußte sogar zu meiner +Autorität als Mutter greifen, um Sie aus ihrem Herzen +herauszureißen, und erst nach unglaublichen Anstrengungen +habe ich nur eine äußerliche Einwilligung +erreicht. Wenn Sie uns jetzt belauscht haben, so muß +es Ihnen doch aufgefallen sein, daß sie meine Bemühungen +um den Fürsten mit keinem Wort, keinem +Blick unterstützt hat. Während dieser ganzen Zeit hat +sie fast kein einziges Wort gesprochen, und gesungen +hat sie wie ein Automat. Ihre ganze Seele wand sich +vor Qual. Und aus Mitleid mit ihr machte ich der +Sache schnell ein Ende und führte den Fürsten fort. +Ich bin überzeugt, daß sie geweint hat, sobald sie allein +war. Als Sie eintraten, müssen sie ihre Tränen bemerkt +haben ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-131" class="pagenum" title="131"></a> +Mosgljäkoff entsann sich allerdings, daß er, als er +ins Zimmer gestürzt war, Tränen in ihren Augen bemerkt +hatte. +</p> + +<p> +„Aber ... aber weshalb sind Sie denn so gegen +mich gewesen, Marja Alexandrowna? Warum haben +Sie mich denn angeschwärzt und verleumdet – was +Sie jetzt obendrein selbst eingestehen!?“ +</p> + +<p> +„Ah, das ist eine andere Frage! Sehen Sie, wenn +Sie gleich zu Anfang so vernünftig gefragt hätten, +dann hätten Sie schon längst die Antwort. Ja, Sie +haben recht! Alles das habe <em>ich</em> getan und nur <em>ich</em> +allein. Sina lassen Sie hier ganz aus dem Spiel. +Und weshalb ich es getan habe? Meine Antwort ist: +in erster Linie für Sina. Der Fürst ist reich, von altem +Adel, hat Verbindungen, und wenn Sina ihn heiratet, +macht sie eine glänzende Partie. Und schließlich, +wenn er sterben sollte, was vielleicht sogar sehr bald geschehen +kann – denn wir sind ja alle mehr oder weniger +sterblich – dann ist Sina junge Witwe, Fürstin, +in der besten Gesellschaft und unermeßlich reich. +Dann kann sie heiraten, wen sie will, sie kann die glänzendste +Partie machen – doch wird sie selbstverständlich +nur den nehmen, den sie früher geliebt hat und dessen +Herz sie zerrissen, als sie den Fürsten nahm. Allein +schon die Reue würde sie zwingen, ihre Schuld an demjenigen, +den sie früher geliebt, wieder gut zu machen ...“ +</p> + +<p> +„Hm!“ brummte Mosgljäkoff, der nachdenklich +seine Stiefel betrachtete. +</p> + +<p> +„Zweitens – und das will ich nur nebenbei bemerken,“ +fuhr Marja Alexandrowna fort, „denn Sie +werden das vielleicht nicht einmal begreifen. Sie lesen +<a id="page-132" class="pagenum" title="132"></a> +Ihren Shakespeare, schöpfen aus ihm alle Ihre hohen +Gefühle, in der Wirklichkeit, im Leben aber sind Sie, +wenn auch <em>sehr gutmütig</em>, so doch noch zu jung, +– ich aber bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch! So +hören Sie denn: ich gebe meine Sina dem Fürsten zum +Teil auch um seinetwillen, denn durch diese Heirat will +ich ihn retten. Ich habe diesen edlen, diesen herzensguten, +geradezu ritterlichen Greis auch früher schon +geliebt. Wir waren Freunde. Er ist tief unglücklich +in den Krallen dieses höllischen Weibes. Sie wird +ihn noch unter die Erde bringen! Gott hat es gesehen, +daß ich Sina nur deshalb zu dieser Heirat habe bewegen +können, weil ich ihr die ganze Heiligkeit dieser Tat +der Selbstverleugnung vorgehalten habe. Sie hat sich +von dem Edelmut, von der Begeisterung für die große +Überwindung fortreißen lassen. Sie hat selbst viel +Ritterliches. Ich habe ihr gesagt, daß es eine Christenpflicht +ist, die Stütze, der Trost, der Freund, das +Kind, die Sonne, der Abgott eines Menschen zu sein, +dem vielleicht nur noch ein einziges Lebensjahr vergönnt +ist. Ihn würde dann nicht dieses schändliche +Frauenzimmer, nicht Furcht und Einsamkeit in den letzten +Tagen seines Lebens umgeben, sondern Licht, +Freundschaft und Liebe. Diese letzten Tage würde er +im Paradiese verleben! Wo ist hier Egoismus – sagen +Sie doch, bitte? Das ist doch eher das Opfer einer +barmherzigen Schwester, aber nicht Egoismus!“ +</p> + +<p> +„Dann ... dann haben Sie es also nur für den +Fürsten getan und aus Nächsten-, nicht aus Eigenliebe?“ +brummte Mosgljäkoff spöttisch. +</p> + +<p> +„Ich verstehe auch diese Frage, Pawel Alexandrowitsch, +<a id="page-133" class="pagenum" title="133"></a> +sie ist recht deutlich. Sie glauben vielleicht, daß +hier die Vorteile des Fürsten mit den eigenen Vorteilen +jesuitisch verknüpft sind? Was soll ich sagen? Vielleicht +habe ich auch diese Berechnung gehabt, nur +war sie nicht jesuitisch, sondern ... unfreiwillig. Ich +weiß, daß Sie sich über ein so offenes Geständnis wundern +werden, aber ich bitte Sie nur um eines, Pawel +Alexandrowitsch: glauben Sie nicht, daß Sina hier mit +im Spiel ist! Sie ist unschuldig wie ein Engel: sie berechnet +nicht, sie versteht nur zu lieben – mein liebes +Kind! Wenn hier überhaupt jemand berechnet hat, so +bin ich es, <em>ich allein</em>! Aber fragen Sie doch in +allem Ernst Ihr Gewissen und sagen Sie dann: wer +hätte an meiner Stelle im gegebenen Fall nicht berechnet? +Wir berechnen unsere Vorteile sogar bei unseren +uneigennützigsten Handlungen, wir berechnen fast unbewußt, +unwillkürlich! Natürlich betrügen sich dabei +alle, indem sie sich selbst versichern, daß sie es nur aus +Edelmut täten. Ich jedoch will mich nicht betrügen: ich +gestehe mir offen, daß ich bei aller Erhabenheit meiner +Liebe dennoch – berechnet habe. Aber fragen Sie, ob +ich <em>meinen</em> Vorteil berechnet habe? Ich brauche nichts +mehr, Pawel Alexandrowitsch! Ich habe mein Leben +abgelebt. Ich habe nur an sie gedacht, an meinen Engel, +mein Kind, und – welche Mutter würde mir das +in diesem Fall zum Vorwurf machen?“ +</p> + +<p> +Tränen glänzten in den Augen Marja Alexandrownas. +Mosgljäkoff hörte in höchster Verwunderung diese +ganze offenherzige Beichte an und blinzelte nur verständnislos +mit den Augen. +</p> + +<p> +„Nun schön, welche Mutter ...“ stotterte er endlich. +<a id="page-134" class="pagenum" title="134"></a> +„Sie verstehen gut zu reden, Marja Alexandrowna, +– aber ... aber Sie hatten mir doch Ihr Wort +gegeben! Sie hatten mir Hoffnung gemacht ... Was +glauben Sie wohl, wie mir jetzt zumute ist? Denken +Sie doch nach! Ich kann jetzt mit einer langen Nase +abziehen!“ +</p> + +<p> +„Aber glauben Sie denn, daß ich nicht auch an Sie +gedacht habe, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>! Ich sage Ihnen: in +allen diesen Berechnungen lag für Sie ein so großer +Vorteil, daß ich mich hauptsächlich deshalb zu diesem +Unternehmen entschlossen habe.“ +</p> + +<p> +„Mein Vorteil!“ Mosgljäkoff war baff. „Wie +denn das?“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! Wie kann man nur dermaßen einfältig +sein!“ rief Marja Alexandrowna mit beredtem +Augenaufschlag aus. „O, Jugend, Jugend! Da sehen +wir, was daraus folgt, wenn man diesen Shakespeare +liest, träumt und sich einbildet zu leben – während +man nur mit fremdem Verstande und mit fremden Gedanken +lebt! Mein <em>guter</em> Pawel Alexandrowitsch, +Sie fragen mich, worin hier Ihr Vorteil bestehe? Erlauben +Sie, daß ich zur besseren Übersicht etwas abweiche: +Sina liebt Sie – darüber kann kein Zweifel +bestehen! Nun habe ich aber bemerkt, daß sich trotz +ihrer offenbaren Liebe dennoch ein gewisses Mißtrauen +zu Ihnen in ihr verbirgt, ja – sie mißtraut Ihren +Gefühlen, Ihren Neigungen. Ich habe bemerkt, daß sie +sich bisweilen wie mit Absicht bezwingt und kühl zu +Ihnen ist – die Folge ihrer Nachdenklichkeit und +ihres Mißtrauens. Haben Sie das nicht auch selbst bemerkt, +Pawel Alexandrowitsch?“ +</p> + +<p> +<a id="page-135" class="pagenum" title="135"></a> +„J–ja ... es ist mir aufgefallen ... und sogar +heute ... Aber was wollen Sie denn damit sagen, +Marja Alexandrowna?“ +</p> + +<p> +„Nun, sehen Sie! Sie haben es sogar selbst bemerkt! +Folglich täusche ich mich nicht. Und sie mißtraut +gerade der Beständigkeit Ihrer guten Neigungen. +Ich bin ihre Mutter – wie sollte ich nicht erraten, was +im Herzen meines Kindes vorgeht? Und nun stellen +Sie sich vor, daß Sie, anstatt mit Vorwürfen und fast +sogar Flüchen ins Zimmer zu stürzen, sie zu reizen, zu +kränken, zu beleidigen, sie, die schuldlos, schön und stolz +vor Ihnen steht, und sie damit unwillkürlich in diesem +Argwohn bezüglich Ihrer schlechten Neigungen zu bestärken, +– stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie statt dessen +diese Nachricht ruhig, mit Tränen des Bedauerns oder +sogar der Verzweiflung, aber immerhin mit hohem +Edelmut, der Ihren Seelenadel bezeugen würde, vernommen +hätten ...“ +</p> + +<p> +„Hm! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, unterbrechen Sie mich nicht, Pawel Alexandrowitsch. +Ich will Ihnen dieses ganze Bild ausmalen, +das auch unfehlbar Eindruck auf Sie machen +wird. Stellen Sie sich jetzt vor, daß Sie hierauf zu ihr +getreten wären und gesagt hätten: ‚Sinaïda! Ich liebe +dich mehr als mein Leben, doch Familienrücksichten +trennen uns. Ich begreife die Gründe, die uns scheiden. +Sie machen dein Glück aus und so wage ich nicht mehr, +mich gegen sie aufzulehnen. Sinaïda! Ich verzeihe dir. +Sei glücklich, wenn du es kannst!‘ und hierauf hätten +Sie sie noch einmal angesehen, mit einem Blick – mit +dem Blick eines geopferten Lammes, wenn man sich so +<a id="page-136" class="pagenum" title="136"></a> +ausdrücken darf, stellen Sie sich das alles vor und sagen +Sie sich dann, welch einen Eindruck diese Worte auf +ihr Herz gemacht hätten!“ +</p> + +<p> +„Schön, Marja Alexandrowna, nehmen wir an, +daß es sich so verhält; ich begreife das sehr wohl ... +aber – wie denn? – ich hätte es gesagt und wäre +dann doch leer abgezogen ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, nein, mein Freund! Unterbrechen Sie +mich nicht! Ich will unbedingt das ganze Bild entrollen, +mit allen späteren Folgen, um Sie zu überzeugen. +Stellen Sie sich nur vor, daß Sie später, nach +einiger Zeit ihr in der höchsten Gesellschaft begegnen. +Sie treffen sich irgendwo auf einem Ball, bei strahlender +Beleuchtung, bei den Klängen verführerischer Musik, +inmitten der schönsten Damen und – trotz des ganzen +Frohsinns ringsum, sind Sie allein traurig, nachdenklich, +bleich und folgen nur ihr allein mit den Blicken, +an eine weiße Säule gelehnt – aber so, daß man +Sie sehen kann – während sie sich im Gewühl der Gesellschaft +bewegt. Sie tanzt. Die berauschenden Klänge +Straußscher Walzer umschmeicheln Sie, der Esprit +der höheren Gesellschaft sprüht ringsum – Sie aber +sind einsam, bleich und wie zerschlagen in Ihrer Leidenschaft! +Was wird dann in Sinaïda vor sich gehen +– denken Sie doch nur daran! Mit welchen Augen +wird sie dann auf Sie sehen? ‚Und ich,‘ wird sie denken, +‚ich konnte an diesem Menschen zweifeln, der mir +alles, alles geopfert und sein Herz um meinetwillen zerrissen +hat!‘ Unzweifelhaft: die frühere Liebe würde +dann mit unbezwingbarer Leidenschaft in ihr auferstehen!“ +</p> + +<p> +<a id="page-137" class="pagenum" title="137"></a> +Marja Alexandrowna machte eine kleine Pause, um +Atem zu schöpfen. Mosgljäkoff rückte so nachdrücklich +auf seinem Stuhle, daß dieser zum zweiten +Male in den Fugen knackte. Marja Alexandrowna +fuhr fort. +</p> + +<p> +„Zur Pflege der Gesundheit des Fürsten fährt Sina +mit ihm ins Ausland, nach Italien, nach Spanien, – +nach Spanien, wo Myrten und Orangen blühen, wo +der Himmel dunkelblau ist, wo der Guadalquivir +rauscht, – in das Land der Liebe, in dem man nicht +leben kann, ohne zu lieben, wo Rosen und Küsse sozusagen +in der Luft schweben! Und Sie fahren gleichfalls +dorthin, ihr nach. Sie opfern Ihre Karriere, Ihre Verbindungen, +alles! Dort beginnt Ihre Liebe mit unbezwingbarer +Leidenschaft. Liebe, Jugend, Spanien – +mein Gott! Versteht sich – Ihre Liebe ist lauter, ist +heilig, aber schließlich wird der gegenseitige Anblick Sie +doch beide quälen. Sie verstehen mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Natürlich +werden sich niedrige, boshafte Menschen finden, +Abscheuliche, die da behaupten werden, daß durchaus +nicht nur die verwandtschaftliche Zuneigung zu dem leidenden +alten Manne Sie dorthin gelockt habe. Ich +aber habe Ihre Liebe mit Absicht lauter genannt, weil +eben diese Leute ihr einen ganz anderen Sinn unterschieben +werden. Aber ich bin Mutter, Pawel Alexandrowitsch, +– sollte <em>ich</em> Sie Schlechtes lehren? ... +Freilich wird der Fürst nicht imstande sein, Sie beide zu +beaufsichtigen, aber – was hat das zu sagen! Kann +man denn nur auf Grund dessen einer so schändlichen +Verleumdung glauben? Und eines Tages wird er sterben +und sterbend noch seinen Lebensabend segnen. Jetzt +<a id="page-138" class="pagenum" title="138"></a> +sagen Sie: wen sollte Sina dann heiraten, wenn nicht +Sie? Sie sind mit dem Fürsten ja nur weitläufig +verwandt, folglich kann gesetzlich nichts gegen diese +Verbindung einzuwenden sein. Sie heiraten sie, jung, +reich, schön, vornehm, – und das zu welcher Zeit? – +wenn die vornehmsten und reichsten Aristokraten es sich +zur Ehre anrechnen würden, sich mit ihr verloben zu +dürfen! Durch Ihre Frau kommen Sie dann in die +höchsten Kreise, durch ihre Frau werden Sie plötzlich +eine bedeutende Stellung erhalten, Titel, Orden! Jetzt +haben Sie nur hundertundfünfzig Seelen, dann aber +werden Sie reich sein. Der Fürst wird in seinem Testament +alles vorsehen: dafür werde ich schon Sorge +tragen. Und dann, die Hauptsache – sie wird sich endgültig +von der Treue Ihres Herzens, von Ihren Gefühlen +überzeugt haben und Sie werden ihr plötzlich +als Held des Edelmutes und der Selbstverleugnung +erscheinen! ... Und Sie, Sie fragen noch, worin hier +Ihr Vorteil bestehe? Aber da müßte man ja blind +sein, um diesen Vorteil nicht einzusehen, nicht zu verstehen, +nicht zu berechnen – wenn sie zwei Schritt +vor Ihnen steht, Sie ansieht, Ihnen zulächelt und selbst +sagt: ‚Hier bin ich – dein Vorteil!‘ Aber Pawel +Alexandrowitsch, ich bitte Sie!“ +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna!“ – Mosgljäkoff befand +sich in unbeschreiblicher Aufregung. „Jetzt habe ich +alles begriffen! Ich habe roh, niedrig, schändlich an +ihr gehandelt!“ +</p> + +<p> +Er sprang auf und raufte sich das Haar. +</p> + +<p> +„Und unüberlegt,“ fügte Marja Alexandrowna +hinzu, „vor allen Dingen unüberlegt!“ +</p> + +<p> +<a id="page-139" class="pagenum" title="139"></a> +„Ich bin ein Esel, Marja Alexandrowna!“ rief er +verzweifelt aus. „Jetzt ist alles verloren, denn ich liebe +sie bis zum Wahnsinn!“ +</p> + +<p> +„Vielleicht ist auch noch nicht alles verloren,“ sagte +Frau Moskalewa halblaut vor sich hin, als überlege sie +etwas. +</p> + +<p> +„Oh, wenn das wahr wäre! Helfen Sie mir! Sagen +Sie mir! Retten Sie mich!“ +</p> + +<p> +Und Mosgljäkoff brach in Tränen aus. +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ sagte Marja Alexandrowna mitleidig +und reichte ihm die Hand, „Sie haben es aus +übergroßer Heftigkeit getan, in aufbrausender Leidenschaft, +folglich nur aus Liebe zu ihr! Sie waren in +Verzweiflung, Sie waren außer sich! Das wird sie +doch einsehen müssen ...“ +</p> + +<p> +„Ich liebe sie bis zum Wahnsinn und bin bereit, +alles für sie hinzugeben!“ +</p> + +<p> +„Hören Sie mich an: ich werde Sie zu rechtfertigen +versuchen ...“ +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna!“ +</p> + +<p> +„Ja, ich übernehme es! Ich werde Sie mit ihr zusammenführen. +Und Sie werden ihr dann alles so erklären, +wie ich es Ihnen soeben erklärt habe!“ +</p> + +<p> +„O, Gott! Wie gut Sie sind, Marja Alexandrowna! +... Nur ... könnte man es nicht sofort machen!?“ +</p> + +<p> +„Gott behüte! O, wie unerfahren Sie noch sind, +mein Freund! Sie ist so stolz! Sie würde es für eine +neue Beleidigung halten, für eine Frechheit! Morgen +werde ich alles arrangieren, jetzt aber – jetzt gehen Sie +irgendwohin fort, etwa zu diesem Kaufmann ... +<a id="page-140" class="pagenum" title="140"></a> +am Abend können Sie vielleicht wiederkommen, aber +selbst das würde ich Ihnen nicht raten!“ +</p> + +<p> +„Ich gehe, ich gehe! Mein Gott! Sie erretten +mich! Nur noch eine Frage: wenn nun aber der Fürst +nicht so bald stirbt?“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott, wie naiv Sie sind, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon cher Paul</span>! +Im Gegenteil, wir müssen zu Gott beten, daß er ihm +noch ein paar Wochen Gesundheit schenkt. Man muß +diesem lieben, guten, diesem ritterlichen alten Herrn +von ganzem Herzen ein verhältnismäßig langes Leben +wünschen! Ich werde unter Tränen Tag und +Nacht Gott um das Glück meiner Tochter bitten. Doch +leider, leider! – ich glaube, die Gesundheit des Fürsten +ist nicht allzu zuverlässig! Zudem wird er jetzt +in die Residenz fahren und Sina in der Gesellschaft einführen +müssen! Ich fürchte, oh, ich fürchte sehr, daß +ihm diese Anstrengungen noch den letzten Gnadenstoß +geben werden! Doch wir wollen beten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher Paul</span>, und +das übrige steht in Gottes Hand! ... Sie gehen schon? +Ich segne Sie, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Hoffen Sie, gedulden Sie +sich, fassen Sie Mut, und vor allen Dingen – seien +Sie ein ganzer Mann! Ich habe nie an dem Adel +Ihrer Gefühle gezweifelt ...“ +</p> + +<p> +Sie drückte ihm fest die Hand und Mosgljäkoff +schlich sich auf den Fußspitzen aus dem Zimmer. +</p> + +<p> +„So, dieser Dummkopf wäre abgetan!“ dachte sie +triumphierend. „Jetzt kommen andere an die Reihe ...“ +</p> + +<p> +Die Tür ging auf und Sina trat ein. Sie war erschreckend +bleich und ihre Augen blitzten. +</p> + +<p> +„Mama,“ sagte sie, „mach damit schnell ein Ende +oder ich ertrage es nicht! Es ist dermaßen schmutzig +<a id="page-141" class="pagenum" title="141"></a> +und ekelhaft, daß ich aus dem Hause laufen möchte! +Weshalb quälst du mich so, weshalb reizt du mich? +Mir wird übel, hörst du: mir wird übel von diesem +ganzen Schmutz!“ +</p> + +<p> +„Sina! Was hast du nur, mein Engel? Du ... +du hast gelauscht!“ rief Marja Alexandrowna aus und +sah ängstlich forschend Sina an. +</p> + +<p> +„Ja, ich habe gelauscht. Willst du mich deshalb +vielleicht auch so beschämen wie jenen Dummkopf? – +Ich schwöre dir: wenn du mich noch lange so quälen +und mir in dieser verächtlichen Komödie so schändliche +Rollen zuerteilen wirst, so werfe ich alles hin und +mache einfach ein Ende damit! Es ist genug, daß ich in +die Hauptsache eingewilligt, daß ich mich zu dieser allergrößten +Schändlichkeit bereit erklärt habe! Aber ... +ich kannte mich noch nicht! Ich ersticke in diesem +Schmutz! ...“ +</p> + +<p> +Sie lief aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter +sich zu. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna blickte ihr aufmerksam nach +und wurde nachdenklich. +</p> + +<p> +„Ich muß mich beeilen!“ murmelte sie, sich besinnend. +„Sina ist die größte Gefahr, und wenn alle diese +Schurken uns nicht allein lassen und die Nachricht noch +in der ganzen Stadt verbreiten, – was sie bestimmt +schon getan haben werden, – so ist alles verloren! Sie +würde diesem ganzen Skandal nicht standhalten und sich +zurückziehen. Man muß den Fürsten unbedingt aufs +Land bringen – was es auch koste! Ich werde sofort +hinfahren und zuerst meinen Esel herschleppen. Zu +irgend etwas muß er sich doch schließlich verwenden +<a id="page-142" class="pagenum" title="142"></a> +lassen! ... Und dort wird sich der Alte ausschlafen und +dann ... – also: fahren wir!“ +</p> + +<p> +Sie klingelte. +</p> + +<p> +„Nun, ist der Schlitten vorgefahren?“ fragte sie +den eingetretenen Diener. +</p> + +<p> +„Schon längst bereit!“ antwortete dieser. +</p> + +<p> +Den Schlitten hatte sie bestellt, nachdem sie den +Fürsten nach oben ins Fremdenzimmer geleitet hatte. +</p> + +<p> +Sie kleidete sich an und eilte noch auf einen Augenblick +zu Sina, um dieser in den Hauptzügen ihren Entschluß +mitzuteilen, und, wenn möglich, auch noch einzuschärfen, +wie sie sich zu verhalten habe. Doch Sina +wollte sie nicht mehr anhören: sie lag auf ihrem Bett +und hatte das Gesicht in die Kissen gepreßt. Sie weinte +verzweifelt. Ihre wundervollen Hände hatte sie in +ihre langen dunklen Haare eingekrallt, auf denen sich +alabasterweiß ihre bis zum Ellenbogen entblößten Arme +abhoben. Zuweilen zuckte sie zusammen, wie wenn +plötzlich ein Frostschauer durch alle ihre Glieder lief. +Marja Alexandrowna begann zwar zu sprechen, aber +Sina erhob nicht einmal den Kopf. +</p> + +<p> +Nachdem sie so eine Weile vor ihr gestanden hatte, +ging sie besorgt hinaus und befahl dem Kutscher, um +sich anderwärts dafür zu entschädigen, im Galopp auf +ihr Gut zu fahren. +</p> + +<p> +„Das Schlimmste ist, daß Sina gelauscht hat!“ dachte +sie, als sie in ihrem bequemen Verdeckschlitten saß. „Ich +habe Mosgljäkoff fast mit denselben Worten beredet +wie sie. Sie ist stolz und wird sich jetzt vielleicht beleidigt +fühlen ... Hm! Aber die Hauptsache, die Hauptsache +ist doch, daß alles früher erledigt ist ... bevor die +<a id="page-143" class="pagenum" title="143"></a> +anderen davon Wind bekommen! Doch – wenn mein +Esel jetzt zum Unglück nicht zu Hause ist!“ +</p> + +<p> +Bei diesem Gedanken wurde sie von unbeschreiblicher +Wut erfaßt – die dem armen Afanassij Matwejewitsch +nichts Gutes verhieß. Sie konnte keinen Augenblick +ruhig sitzen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-10"> +<a id="page-144" class="pagenum" title="144"></a> +X. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Pferde jagten dahin. Wir haben bereits gesagt, +daß ein genialer Gedanke Marja Alexandrowna +am Vormittage – als sie dem Fürsten nachfuhr, um +ihn zurückzuerobern – beglückt hatte. Dieser Gedanke +war: den Fürsten zu „konfiszieren“ und so bald als +möglich auf ihr Gut in der Nähe der Stadt zu bringen, +wo augenblicklich nur Afanassij Matwejewitsch sorglos +und ungestört in vollkommenster Zufriedenheit gedieh. +Wir wollen es nicht verheimlichen, daß Marja Alexandrowna +immer mehr von einer unerklärlichen Unruhe +gepeinigt wurde. Das pflegt ja sogar mit wirklichen +Helden zu geschehen und gerade in der Zeit, wenn sie +ihr Ziel erreichen oder sich ihm doch nähern. Ein gewisser +Instinkt sagte ihr, daß es gefährlich war, in +Mordassoff zu bleiben. „Ist man aber erst auf dem +Lande, dann kann sich meinetwegen die ganze Stadt +hier auf den Kopf stellen!“ Selbstverständlich durfte +man auch auf dem Lande nicht unnütz Zeit verlieren. +Es konnte ja alles mögliche dazwischen kommen, alles +mögliche – wenn wir auch dem Gerücht, das von den +Feinden unserer Heldin späterhin über sie verbreitet +wurde, keinen Glauben schenken: daß sie in diesem Augenblick +sogar ein Eingreifen der Polizei gefürchtet habe. +<a id="page-145" class="pagenum" title="145"></a> +Kurz, sie sah ein, daß man Sina so bald als möglich mit +dem Fürsten verheiraten mußte. Die Mittel dazu hatte +sie zur Hand. Dort auf dem Gute konnte sie der Dorfgeistliche +trauen. Die Trauung konnte gleich übermorgen +stattfinden, im äußersten Notfall sogar morgen. +Hatte es doch Trauungen gegeben, die binnen zwei +Stunden vollzogen worden waren! Dem Fürsten mußte +man diese Eile und das Wegfallen aller Zeremonien +und Festlichkeiten, Verlobungen und Polterabend als +das Neueste <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">comme il faut</span> hinstellen: man mußte ihm +beweisen, daß es so „grandioser“ sei. Außerdem konnte +man ihm das Ganze als romantisches Abenteuer vormalen +und somit die empfindsamste Seite im Herzen +des alten Mannes zum Klingen bringen. Und schlimmstenfalls +konnte man ihn sogar mit Wein „beruhigen“ +oder – noch besser – ihn während der ganzen Zeit bei +halber Betrunkenheit erhalten. Was dann später auch +geschehen sollte – Sina würde dann immerhin schon +Fürstin <em>sein</em>! Und falls es auch nicht ohne einen +Skandal abgehen sollte, in Petersburg oder Moskau +zum Beispiel, wo die Verwandten des Fürsten lebten, +so gab es auch hierfür einen Trost: erstens war das +noch weit im Felde und zweitens war Marja Alexandrowna +überzeugt, daß es in der höheren Gesellschaft +fast immer einen Skandal geben müsse, namentlich in +Heiratsangelegenheiten, daß dieses sogar „guter Ton“ +sei, wenn auch derlei Skandale der hohen Gesellschaft +ihrer Meinung nach immer gewissermaßen ganz besondere +zu sein pflegten, etwa in der Art der Skandale +eines Monte-Christo oder der Mémoires du Diable – +daß aber ihre Sina nur zu erscheinen brauche, unterstützt +<a id="page-146" class="pagenum" title="146"></a> +von ihrer Mama, um im Augenblick alle und alles +zu besiegen, und daß dann keine einzige von allen Gräfinnen +und Fürstinnen dieser Mordassower Kopfwäsche +würde standhalten können, die nur Marja Alexandrowna +allen gemeinsam oder auch einzeln der Reihe +nach zu verabfolgen schon verstehen würde. Die Folge +dieser Überlegungen war, daß Marja Alexandrowna +jetzt mit Windeseile auf ihr Gut fuhr, um Afanassij +Matwejewitsch abzuholen, dessen sie nach ihrer Berechnung +jetzt sehr bedurfte. In der Tat: den Fürsten aufs +Gut bringen, – das hieß, ihn zu Afanassij Matwejewitsch +bringen, dessen Bekanntschaft der Fürst vielleicht +durchaus nicht machen wollte –, war bedenklich. +Wenn ihn aber Afanassij Matwejewitsch persönlich aufforderte, +so war das eben etwas ganz anderes. Zudem +konnte das Erscheinen eines bejahrten, würdigen +Familienvaters, in Frack und weißer Binde, den Hut +in der Hand, einen sehr guten Eindruck machen; und +wenn man noch hinzufügte, daß er einzig auf die erste +Kunde vom Fürsten aus der Ferne herbeigeeilt sei, so +konnte das der Eigenliebe des Fürsten nur schmeicheln. +Nach einer so umständlichen Galaeinladung war +es auch schwer, abzusagen, dachte Marja Alexandrowna. +Endlich hatten die Pferde die drei Werst zurückgelegt, +und der Kutscher Ssofron zügelte sie vor der +Vorfahrt des langgestreckten, einstöckigen, hölzernen +Gutsgebäudes, das mit seiner langen Fensterreihe und +umstanden von alten Linden schon ziemlich baufällig +aussah und mit der Zeit von Wind und Regen ganz +geschwärzt war. Das war Marja Alexandrownas +Sommerresidenz. Im Hause brannte bereits Licht. +</p> + +<p> +<a id="page-147" class="pagenum" title="147"></a> +„Wo ist der Tölpel?“ schrie Marja Alexandrowna, +die wie ein Sturm durch die Zimmer raste. „Weshalb +liegt hier dieses Handtuch? Ach! Er hat sich getrocknet! +Hat er sich wieder gebadet? Und ewig schlürft +er seinen Tee! Was glotzt du mich an, du Dummkopf! +Weshalb ist sein Haar nicht geschnitten? Grischka! +Grischka! Grischka! Weshalb hast du dem Herrn +nicht das Haar so geschnitten, wie ich es dir in der +vergangenen Woche anbefohlen habe?“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna hatte anfangs die Absicht +gehabt, viel freundlicher ihren Gemahl zu begrüßen; als +sie jedoch sah, daß er soeben aus dem Bad gestiegen war +und stillvergnügt wieder seinen Tee trank, da konnte +sie ihren Zorn nicht mehr meistern. In der Tat: soviel +Mühen und Sorgen ihrerseits und soviel seliger Quietismus +von seiten des zu nichts tauglichen, vollständig +überflüssigen Afanassij Matwejewitsch – dieser Kontrast +traf sie mitten ins Herz. Inzwischen saß der Tölpel, +oder höflicher, derjenige, der Tölpel genannt wurde, +in sprachlosem Schrecken vor seinem Ssamowar, +sperrte Augen, Mund und Nase auf und starrte seine +Frau an, deren Erscheinen ihn fast zu einem Götzenbilde +gemacht hatte. In der Tür zum Vorzimmer stand +die vierschrötige Gestalt Grischkas, der beständig etwas +verschlafen zu sein schien und der sich auch jetzt nur +augenblinzelnd die Szene ansah. +</p> + +<p> +„Ja sie lassen doch nicht, deshalb habe ich auch nicht +geschnitten,“ sagte er mürrisch mit seiner klanglosen +Stimme. „Zehnmal bin ich mit der Schere gekommen, +– nun, Herr, sagte ich, die Gnädige wird kommen +und dann wird sie uns beiden was setzen, wenn wir +<a id="page-148" class="pagenum" title="148"></a> +nicht geschoren sind, was sollen wir dann machen? Sie +aber sagten: nein, wart, ich werde mir Sonntag Locken +einlegen und dazu brauche ich lange Haare.“ +</p> + +<p> +„Was? Er legt sich Locken ein! Also du legst dir +Locken ein? Was sind denn das für Marotten? Und +wie steht denn das zu deinem dummen Kopf? Gott, +was das hier für eine Unordnung ist! Wonach riecht +es hier? Ich frage dich, Monstrum, wonach es hier +riecht?“ schrie Marja Alexandrowna, die über den unschuldigen +und zu Tode erschrockenen Afanassij Matwejewitsch +in immer größere Wut geriet. +</p> + +<p> +„Mü ... mütterchen!“ stotterte schließlich der +angstvolle Gatte, ohne sich vom Stuhl zu erheben und +nur mit flehendem Blick auf die Gestrenge, „Mü ... +mütterchen! ...“ +</p> + +<p> +„Wievielmal habe ich dir gesagt, habe ich deinem +Eselskopf eingebläut, daß ich für dich durchaus kein +Mütterchen bin! Was bin ich für ein Mütterchen, du +Schöps, der du bist! Wie darfst du es wagen, eine +vornehme Dame, deren Platz in der höchsten Gesellschaft, +aber nicht neben einem Esel wie du wäre, mit +solchen Namen anzureden!“ +</p> + +<p> +„Ja ... ja, aber du bist doch ... bist doch meine +gesetzmäßige Frau ... und deshalb sage ich auch ... +wie es unter Eheleuten ... Sitte ist ...“ versuchte +zwar Afanassij Matwejewitsch sich zu verteidigen, hob +aber gleichzeitig beide Hände zum Kopf empor, um +seine Haare zu schützen. +</p> + +<p> +„Ach du – Fratze! Du Popanz! Hat man jemals +eine dümmere Antwort gehört? Gesetzmäßige +Frau! Was gibt es denn jetzt noch für gesetzmäßige +<a id="page-149" class="pagenum" title="149"></a> +Frauen? Wer in aller Welt oder in der besseren Gesellschaft +gebraucht jetzt noch dieses dumme, dieses seminaristische, +dieses ekelhaft gemeine Wort: ‚gesetzmäßige +Frau‘? – und wie wagst du es überhaupt, mich daran +zu erinnern, daß ich deine Frau bin, wenn ich mich aus +allen Kräften, aus ganzer Seele gerade dieses eine wieder +zu vergessen bemühe, daß ich deine Frau bin! Was +hältst du deinen Kopf fest? Da sehe doch einer, was für +Haare er hat! Sie sind ja total, total naß! Die werden +in drei Stunden nicht trocken werden! Wie soll +man jetzt mit ihm hinfahren? Wie soll man ihn fremden +Menschen zeigen? Was soll ich jetzt tun?“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna rang die Hände vor Verzweiflung, +während sie im Zimmer auf und ab raste. +Das Unglück war zwar nicht so groß und ließ sich ja +leicht wieder gutmachen, nur konnte die Dame ihren +herrschsüchtigen, rechthaberischen Geist nicht immer bändigen. +Das beständige Ausgießen ihres Zornes über +dem Haupte des armen Afanassij Matwejewitsch war +ihr zum Bedürfnis geworden, – denn Tyrannei ist +eine Angewohnheit, die zum Bedürfnis wird. Und +dann – wir wissen doch, zu welchen Kontrasten manche +zartfühlenden Damen einer gewissen Gesellschaftsklasse +bei sich zu Hause, hinter den Kulissen – fähig sind, +und gerade diesen Kontrast wollte ich hier wiedergeben. +</p> + +<p> +Afanassij Matwejewitsch verfolgte zitternd die Evolutionen +seiner Gattin und schwitzte vor Angst. +</p> + +<p> +„Grischka!“ schrie sie. „Kleide den Herrn sofort an! +Frack, Beinkleider, weiße Binde, Weste – schneller! +Wo ist denn seine Kopfbürste, wo ist seine Kopfbürste?“ +</p> + +<p> +<a id="page-150" class="pagenum" title="150"></a> +„Mütterchen! Aber ich bin doch soeben aus der +Wanne gekommen, – ich kann mich doch erkälten, +erkälten, wenn ich bei diesem Wetter ausfahren ...“ +</p> + +<p> +„Keine Bange – wirst dich nicht erkälten!“ +</p> + +<p> +„Aber ... mein Haar ist ja ganz naß ...“ +</p> + +<p> +„Das werden wir im Augenblick trocken machen! +Grischka, nimm die Kopfbürste, bürst ihn trocken! Stärker! +stärker! stärker! So! So ist’s recht!“ +</p> + +<p> +Unter diesem Kommando bürstete der eifrige und +ergebene Grischka aus Leibeskräften den Kopf seines +Herrn, den er um der größeren Bequemlichkeit halber +an der Schulter erfaßt hatte und von rückwärts striegelte, +ungeachtet dessen, daß er die Nase seines Opfers +fast an den Diwan stieß. Afanassij Matwejewitsch zog +das Gesicht kraus und war nahe daran, zu weinen. +</p> + +<p> +„Jetzt komm her! Heb ihn auf, Grischka! Wo +ist die Pomade? Beuge dich, beug dich, Nichtsnutz, +beug dich, sag ich dir!“ +</p> + +<p> +Und Marja Alexandrowna machte sich daran, eigenhändig +ihren Gemahl zu salben, während sie ihn unbarmherzig +an seinem dichten, grauuntermischten Haarschopf +zog, den er zum Unglück nicht vorschriftsmäßig +hatte kurz schneiden lassen. Afanassij Matwejewitsch +seufzte und prustete, schrie aber doch kein einziges +Mal, sondern ertrug ergeben die ganze gewaltsame +Einsalbung. +</p> + +<p> +„Alle meine Kräfte hast du mir ausgesogen, du +Schmutzfink!“ schrie Marja Alexandrowna. „So beug +dich doch mehr, beug dich! – hast du verstanden?“ +</p> + +<p> +„Wieso habe ich denn deine Kräfte ausgesogen, +<a id="page-151" class="pagenum" title="151"></a> +Mütterchen?“ fragte der Gatte zaghaft und beugte den +Kopf so tief als nur irgend möglich. +</p> + +<p> +„Tölpel! Kannst nicht einmal eine Allegorie verstehen! +Jetzt kämm dich. Und den Rock ihm an. Aber +schnell.“ +</p> + +<p> +Unsere Heldin setzte sich in einen Fauteuil und beaufsichtigte +mit inquisitorischen Blicken das ganze Zeremoniell +der Bekleidung ihres Gatten. Dieser hatte +sich inzwischen ein wenig erholt und etwas Mut geschöpft. +Als es zum Binden der weißen Krawatte kam, +wagte er sogar, eine persönliche Bemerkung über die +Form und Schönheit des Knotens zu äußern. Und als +der brave Mann zu guter Letzt noch seinen Frack angezogen +hatte, war er vollkommen ermutigt und betrachtete +sein Spiegelbild sogar mit einer gewissen Ehrfurcht. +</p> + +<p> +„Wohin bringst du mich denn, Marja Alexandrowna?“ +fragte er selbstgefällig. +</p> + +<p> +Seine Gemahlin traute ihren Ohren nicht. +</p> + +<p> +„Da höre doch einer! Ach, du Vogelscheuche! Wie +wagst du überhaupt, mich zu fragen, wohin ich dich +bringe?“ +</p> + +<p> +„Aber Mütterchen, man muß doch wissen ...“ +</p> + +<p> +„Schweig! Und wag es nur noch einmal, mich +Mütterchen zu nennen, namentlich dort, wohin wir +jetzt fahren! Einen ganzen Monat bleibst du mir dann +ohne einen Tropfen Tee!“ +</p> + +<p> +Erschrocken verstummte der Gemahl. +</p> + +<p> +„Seht doch, nicht einen einzigen Orden hat er sich +verdient, dieser Taugenichts!“ sagte sie mit verächtlichem +Blick auf seinen schwarzen Frack. +</p> + +<p> +<a id="page-152" class="pagenum" title="152"></a> +Da fühlte sich Afanassij Matwejewitsch denn doch +gekränkt. +</p> + +<p> +„Orden, Mutter, verleihen die höchsten Vorgesetzten +und ich bin Rat, aber kein Taugenichts!“ sagte er mit +edlem Unwillen. +</p> + +<p> +„Wie, wie, wie! Hast du hier etwa zu denken gelernt? +Ach du! Bauer, du! Schade, daß ich jetzt +keine Zeit habe, mich mit dir abzugeben, sonst würde +ich ... Nun, ich werde mich dessen noch später entsinnen! +Gib ihm den Hut, Grischka! Gib ihm den +Pelz! ... Hier in meiner Abwesenheit diese drei +Zimmer aufräumen, und auch das grüne, das Eckzimmer, +gleichfalls aufräumen! Im Augenblick! Von den +Spiegeln die Bezüge abnehmen! von den Uhren gleichfalls! +Und sieh zu, daß alles in einer Stunde fertig +ist! Und du selbst zieh dir den Frack an, und den Leuten +gib weiße Handschuhe, hörst du, Grischka, hörst du!“ +</p> + +<p> +Sie setzten sich in den Schlitten und fuhren. Afanassij +Matwejewitsch wunderte sich und Marja Alexandrowna +überlegte im stillen, wie sie dem schwerfälligen +Kopf ihres Gatten gewisse Verhaltungsmaßregeln +möglichst klar, einfach und verständlich einschärfen +sollte. Doch ihr Gatte kam ihr zuvor. +</p> + +<p> +„Ach so, was ich eigentlich sagen wollte ... ich +habe heute einen sehr originellen Traum gehabt,“ meldete +er plötzlich mitten im beiderseitigen Schweigen. +</p> + +<p> +„Ach, du verfluchte Vogelscheuche! Und ich glaubte +schon, daß jetzt weiß Gott was kommen würde! Sein +Traum! Wie wagst du es überhaupt, mir mit deinen +Träumen zu kommen? Origineller – Traum? Weißt +du denn auch, was originell bedeutet? Hör, ich sage +<a id="page-153" class="pagenum" title="153"></a> +dir jetzt zum letzten Mal: wenn du heute wagst, auch +nur ein Wort von deinem Traum zu sagen, oder gleichviel +wovon, so werde ich – ich weiß nicht was, mit dir +tun! Paß jetzt auf: Fürst K. ist zu mir gekommen. +Entsinnst du dich noch des Fürsten K.? ...“ +</p> + +<p> +„Entsinne mich, Mutter, entsinne mich. Weshalb +ist er denn zu dir gekommen?“ +</p> + +<p> +„Schweig! – das geht dich nichts an! Du mußt +ihn mit besonderer Liebenswürdigkeit – als Hausherr +– sofort auf unser Gut einladen. Deshalb bringe ich +dich auch hin. Und heute noch werden wir von dort +fortfahren. Wenn du aber wagst, heute, diesen ganzen +Abend, oder morgen, oder übermorgen oder gleichviel +wann, auch nur ein einziges Wort zu sprechen, so werde +ich dich ein ganzes Jahr lang – Gänse werde ich dich +hüten lassen! Sprich überhaupt nicht, sprich kein einziges +Wort. Und das ist alles, was du zu tun hast. – +Hast du verstanden?“ +</p> + +<p> +„Aber – wenn man mich etwas fragt?“ +</p> + +<p> +„Gleichviel – schweige!“ +</p> + +<p> +„Aber – das geht doch nicht, daß ich nicht antworte, +Marja Alexandrowna!“ +</p> + +<p> +„In dem Fall sag irgend etwas ganz Kurzes, Einsilbiges, +zum Beispiel: ‚Hm!‘ oder etwas in der Art, +– gewissermaßen – um zu zeigen, daß du ein +kluger Mensch bist und reiflich überlegst, bevor +du antwortetst.“ +</p> + +<p> +„Hm!“ +</p> + +<p> +„Versteh mich! Ich bringe dich hin und werde +sagen, daß du auf die Nachricht von der Ankunft des +Fürsten, vor Freude über seinen Besuch, sofort zur +<a id="page-154" class="pagenum" title="154"></a> +Stadt geeilt bist, um ihm deine Aufwartung zu machen +und ihn zu uns aufs Gut einzuladen. Hast du verstanden?“ +</p> + +<p> +„Hm!“ +</p> + +<p> +„Aber du sollst doch nicht jetzt ‚hm‘ sagen, Esel! +Antworte darauf, was ich dich frage!“ +</p> + +<p> +„Gut, Mutter, es soll alles geschehen, wie du willst, +nur – weshalb soll ich denn den Fürsten einladen?“ +</p> + +<p> +„Wie, wie? Wieder willst du denken! Was geht +das dich an, weshalb! Und wie wagst du überhaupt, +das zu fragen?“ +</p> + +<p> +„Ich meine ja nur, Marja Alexandrowna wie soll +ich ihn denn einladen, wenn du mir fortwährend zu +schweigen befiehlst?“ +</p> + +<p> +„Ich werde für dich reden, du aber mach nur +deine Verbeugung – hörst du? – mach nur deine +Verbeugung und behalte den Hut in der Hand. Hast +du mich verstanden?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, Mutt... Marja Alexandrowna.“ +</p> + +<p> +„Der Fürst ist sehr geistreich. Wenn er etwas sagt, +und selbst wenn es nicht an dich gerichtet ist, so antworte +auf alles nur mit einem gutmütigen und heiteren +Lächeln, – hörst du?“ +</p> + +<p> +„Hm!“ +</p> + +<p> +„Wieder! Mir hast du nicht mit ‚hm‘ zu antworten! +Sage einfach und offen: hast du gehört oder +nicht?“ +</p> + +<p> +„Ich höre, Marja Alexandrowna, ich höre, wie +sollte ich denn nicht hören. Das ‚hm‘ sage ich nur, +weil ich mich im Hm-Sagen übe, wie du es befohlen +<a id="page-155" class="pagenum" title="155"></a> +hast. Aber ich meine nur, Mutter, wie wird denn +das sein: wenn der Fürst etwas sagt und du befiehlst, +ihn nur anzusehen und zu lächeln! Aber wenn er mich +nun etwas fragt?“ +</p> + +<p> +„Gott! – bis der etwas begriffen hat! Ich habe +dir doch gesagt: schweige! Ich werde für dich antworten, +du aber sieh ihn nur an und lächle.“ +</p> + +<p> +„Aber ... dann kann er ja denken, daß ich stumm +bin!“ +</p> + +<p> +„Großes Unglück! Mag er doch, dafür wird er +<em>nicht</em> merken, daß du <em>dumm</em> bist.“ +</p> + +<p> +„Hm! ... Nun, aber wenn mich andere etwas +fragen?“ +</p> + +<p> +„Niemand wird dich etwas fragen, es wird niemand +zugegen sein. Und falls dennoch jemand kommen +sollte – wovor Gott uns bewahre! – und dich etwas +fragt oder überhaupt etwas sagt, so antworte sofort +mit einem sarkastischen Lächeln. Weißt du, was das +ist – ein sarkastisches Lächeln?“ +</p> + +<p> +„Das ist doch ein geistvolles, nicht?“ +</p> + +<p> +„Ich werde dir – geistvolles! Wer wird denn +von dir Esel ein geistvolles Lächeln verlangen! Einfach +ein spöttisches Lächeln, ein spöttisch verächtliches.“ +</p> + +<p> +„Hm!“ +</p> + +<p> +„Weiß Gott, wie es werden wird!“ dachte Marja +Alexandrowna innerlich seufzend. „Er hat sich entschieden +geschworen, mich zur Verzweiflung zu bringen! +Ich glaube fast, es wäre besser, ihn überhaupt +nicht hinzubringen!“ +</p> + +<p> +Während dieses Gedankenganges, dem sorgenvolle +<a id="page-156" class="pagenum" title="156"></a> +Unruhe und erbitterte Selbstvorwürfe folgten, beugte +sich Marja Alexandrowna beständig zum Fenster ihres +Verdeckschlittens hinaus und trieb den Kutscher zu noch +größerer Eile an. Die Pferde jagten, ihr aber schien +es immer noch zu langsam vorwärts zu gehen. Afanassij +Matwejewitsch saß schweigend in seiner Ecke und +wiederholte in Gedanken die ihm erteilten Lektionen. +Endlich erreichten sie die Stadt und bald darauf hielten +sie vor dem Hause Marja Alexandrownas. +</p> + +<p> +Kaum aber war unsere Heldin ausgestiegen, als sie +auch schon einen zweisitzigen, verdeckten Schlitten mit +dampfenden Pferden erblickte, der plötzlich gleichfalls +vor ihrem Hause hielt. Das war das Gefährt, in dem +Anna Nikolajewna Antipowa ausfuhr. Im Schlitten +saßen zwei Damen. Die eine war Anna Nikolajewna +und die andere Natalja Dmitrijewna, – seit einiger +Zeit die aufrichtigste Freundin und Anhängerin der +anderen. +</p> + +<p> +Marja Alexandrownas Herzschlag setzte aus. Aber +noch hatte sie keinen Schrei ausgestoßen, als schon eine +zweite Kutsche vorfuhr, in der sich offenbar gleichfalls +Gäste befanden. Im Augenblick ertönten denn auch +freudige Begrüßungsworte. +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna! Und zusammen mit Afanassij +Matwejewitsch! Angekommen! Woher denn +das? Und gerade rechtzeitig, denn wir kommen zu +Ihnen! Auf den ganzen Abend! Welche Überraschung!“ +</p> + +<p> +Die Damen hüpften auf die Treppe und zwitscherten +wie Schwalben durcheinander. Marja Alexandrowna +traute ihren Augen und Ohren nicht. +</p> + +<p> +<a id="page-157" class="pagenum" title="157"></a> +„Daß euch der! ...“ dachte sie bei sich. „Das +sieht mir ganz nach einer Verschwörung aus! Das +muß man untersuchen! Nur ... werden nicht solche +Elstern wie ihr mich überlisten ... Wartet! ...“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-11"> +<a id="page-158" class="pagenum" title="158"></a> +XI. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">M</span><span class="postfirstchar">osgljäkoff</span> verließ Marja Alexandrowna wie es +schien, vollkommen beruhigt. Sie hatte es verstanden, +ihn für ihren Plan zu gewinnen. Einstweilen aber +ging er doch nicht zu Borodujeff, denn es verlangte ihn +nach Einsamkeit. Die Woge der romantischen und +heroischen Träume, die ihn plötzlich überkam, ließ ihm +keine Ruhe. Er dachte an eine feierliche Aussprache +mit Sina, an die edlen Tränen seines alles verzeihenden +Herzens, seine Bleichheit und Verzweiflung auf +dem glänzenden Petersburger Ball, an Spanien, den +Guadalquivir, an seine Liebe und den sterbenden Fürsten, +der noch vor seinem letzten Atemzuge ihrer beider +Hände vereinigte. Hierauf dachte er an seine wunderschöne +Frau, die ihm treu ergeben ist und ihn täglich +ob seines Heldenmutes und seiner erhabenen Gefühle +anstaunt; nebenbei – im stillen – an die Aufmerksamkeit +irgend einer Gräfin der „höchsten Gesellschaft“, +in die er durch die Heirat mit Sina, der Witwe des +Fürsten K., unfehlbar hineingelangen würde; ferner +an den Posten eines Vizegouverneurs, an das viele +Geld ... Mit einem Wort: alles, was Marja Alexandrowna +so beredt ausgemalt hatte, zog noch einmal +durch seine restlos zufriedene Seele, beglückend und +<a id="page-159" class="pagenum" title="159"></a> +verlockend und vor allem seiner Eigenliebe schmeichelnd. +Doch siehe – und ich weiß wirklich nicht, wie ich das +eigentlich erklären soll –, als er von dieser ganzen +Begeisterung bereits müde zu werden begann, kam ihm +plötzlich ein äußerst unangenehmer Gedanke: daß nämlich +das alles bestenfalls in der Zukunft sein würde, daß +er vorläufig aber trotz allem mit einer langen Nase +sitzen bliebe. Als ihm dieser Gedanke kam, bemerkte +er auch, daß er sehr weit gegangen war und sich in einer +einsamen, ihm völlig unbekannten Vorstadt Mordassoffs +befand. Es dunkelte. In den Straßen, an denen +gleichsam in die Erde hineingewachsene Häuschen +standen, bellten wie verzweifelt alle Hunde, die, wie +gewöhnlich in Provinzstädten, gerade in jenen Stadtteilen +sich erschreckend vermehren, wo es nichts zu bewachen +und auch nichts zu stehlen gibt. Es begann +zu schneien. Nasse, schwere Flocken fielen. Selten +nur begegnete ihm ein verspäteter Bauer oder ein Weib +im Pelz und in Wasserstiefeln. Alles das ärgerte ihn +mit einemmal – ein sehr schlechtes Zeichen, da uns +bei einer günstigen Wendung der Dinge im Gegenteil +alles in rosigem Licht zu erscheinen pflegt. Pawel +Alexandrowitsch dachte unwillkürlich daran, daß er bis +jetzt in Mordassoff den Ton angegeben hatte; er hörte +es sehr gern, wenn man ihm in jedem Hause andeutete, +daß er Heiratskandidat sei und wenn ihm zu dieser +Eigenschaft Glück gewünscht wurde. Er war sogar regelrecht +stolz darauf, Heiratskandidat zu sein. Und +nun sollte er plötzlich als – Verschmähter dastehen! +Man wird ihn ja auslachen! Und in der Tat, er kann +doch nicht alle eines anderen belehren, er kann doch +<a id="page-160" class="pagenum" title="160"></a> +nicht einem jeden von den Petersburger Bällen in +säulenverzierten Sälen und vom Guadalquivir erzählen! +Während er so dies und das überlegte, sich selbst +quälte und mit seinem Schicksal haderte, kam ihm +schließlich etwas in den Sinn, das schon seit einiger +Zeit halb unbewußt an seinem Herzen genagt hatte. +</p> + +<p> +„Aber ist denn das alles auch wahr? Wird es denn +auch genau so in Erfüllung gehen, wie Marja Alexandrowna +es ausgemalt hat?“ +</p> + +<p> +Gleichzeitig sagte er sich, daß Marja Alexandrowna +eine äußerst schlaue Dame war und, wie sehr sie die +allgemeine Achtung auch verdient haben mochte, dennoch +klatschte und vom Morgen bis zum Abend log. Er +sah ein, daß sie, als sie ihn „abschob“, wahrscheinlich +ihre besonderen Gründe dazu gehabt hatte, und schließlich +– ausmalen kann ja ein jeder. Auch an Sina +dachte er, dachte an ihren Abschiedsblick, der von nichts +weniger als von heimlicher, leidenschaftlicher Liebe gesprochen +hatte; und zum Überfluß fiel ihm da noch +ein, daß er von ihr immerhin einen Korb erhalten +und sie ihn einen Dummkopf genannt hatte. Bei diesem +Gedanken blieb Pawel Alexandrowitsch wie angewurzelt +stehen und errötete vor Scham bis zu Tränen. +Da fehlte denn nur noch, daß ihm gerade in diesem +Augenblick etwas Unangenehmes zustieß: er trat fehl +und flog in einen Schneehaufen. Während er nun +in dem losen, weichen Schnee kniete und sich wieder +aufzurichten mühte, stürzte die ganze Meute, die ihn seit +geraumer Zeit verfolgt und angekläfft hatte, von allen +Seiten auf ihn los. Der kleinste und frechste Hackenbeißer +hatte sogar die Unverschämtheit, sich hinten an +<a id="page-161" class="pagenum" title="161"></a> +seinen Pelz zu hängen. Mit lautem Geschimpf schüttelte +er die Hunde ab und trottete dann mit hinten zerrissenem +Pelzrand bis zur nächsten Querstraße, um erst +hier gewahr zu werden, daß er sich verirrt hatte. Bekanntlich +kann kein Mensch, der sich in einem ihm unbekannten +Stadtteil verirrt hat – und namentlich noch +in der Nacht – eine Straße geradeaus bis zum Ende +gehen: immer wieder wird ihn eine unbekannte Macht +in alle Querstraßen und Nebengassen einzubiegen zwingen. +Da nun auch Mosgljäkoff keine Ausnahme aus +der Regel machte, verirrte er sich bald endgültig. +</p> + +<p> +„Der Teufel hole alle diese hohen Ideen!“ fluchte +er im Innersten und spie aus vor Wut. „Und der Teufel +hole euch alle samt euren edlen Gefühlen und +Guadalquiviren!“ +</p> + +<p> +Ich will nicht behaupten, daß Mosgljäkoff in diesem +Augenblick anziehend gewesen sei. +</p> + +<p> +Nach zwei Stunden langte er endlich müde und abgequält +beim Hause Marja Alexandrownas an. Als +er die vielen Kutschen vor der Tür halten sah, wunderte +er sich. +</p> + +<p> +„Sind das etwa Gäste, sollte dort geladener Besuch +sein?“ fragte er sich. „Zu welchem Zweck gibt sie denn +heute eine Abendgesellschaft?“ Er erkundigte sich beim +Diener und erfuhr, daß Marja Alexandrowna auf dem +Gut gewesen und mit Afanassij Matwejewitsch – der +in Frack und weißer Binde erschienen sei – zurückgekehrt +war und daß der Fürst zwar geruht habe, aus +dem Nachmittagsschläfchen zu erwachen, jedoch noch +nicht nach unten zu den Gästen herabgestiegen wäre. +Mosgljäkoff begab sich, ohne ein Wort zu sagen, hinauf +<a id="page-162" class="pagenum" title="162"></a> +zum Fürsten. Er befand sich gerade in einer +Stimmung, in der ein Mensch mit schwachem Charakter +fähig ist, sich zu allem zu entschließen, selbst zum +schmählichsten Racheakt, ohne daran zu denken, daß er +dann vielleicht sein ganzes Leben lang die Tat bereuen +wird. +</p> + +<p> +Er fand den Fürsten in einem bequemen Lehnstuhl +sitzend vor seinem Reisenecessaire mit vollkommen kahlem +Schädel, aber die Fliege und der Backenbart waren +bereits angebracht. Seine Perücke befand sich in +den Händen seines alten grauhaarigen Kammerdieners +und besonderen Lieblings, Iwan Pachomytschs, der sie +mit tiefernster, wichtiger und ehrfürchtiger Miene bürstete. +</p> + +<p> +Der Fürst, der nach dem vielen Wein noch nicht +recht zu sich gekommen zu sein schien, bot einen ziemlich +traurigen Anblick dar: er schien ganz und gar erschlafft +zu sein, blinzelte hin und wieder mit den Augen und +sah Mosgljäkoff an, als sähe er ihn zum ersten Mal +im Leben. +</p> + +<p> +„Wie geht es Ihnen, wie fühlen Sie sich, Onkelchen?“ +erkundigte sich dieser. +</p> + +<p> +„Wie ... Ach das bist du!“ Schließlich erkannte +ihn der Fürst. „Ich war ein wenig eingeschlafen. +Ach Gott!“ – Er war im Augenblick belebt – „ich +bin ja doch ... ich bin ja doch ohne Per–rücke!“ +</p> + +<p> +„O, beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen! Ich +... ich werde Ihnen helfen, wenn Sie meiner Hilfe +bedürfen.“ +</p> + +<p> +„Nun sieh, da hast du jetzt mein Geheimnis erfahren! +Ich habe doch ge–sagt, daß man die Tür +<a id="page-163" class="pagenum" title="163"></a> +verschließen muß. Aber, mein Freund, du mußt mir +jetzt sogleich dein Eh–ren–wort geben, daß du mein +Geheim–nis niemand aufdecken und niemand sagen +wirst, daß ich fal–sches Haar habe.“ +</p> + +<p> +„O, ich bitte Sie, Onkelchen! Halten Sie mich +denn für einen, der dazu fähig wäre?“ Mosgljäkoff +wollte den Fürsten zu seinen weiteren Zwecken gewinnen +... +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja! Doch ... Da ich sehe, daß +du ein edler Mensch bist – mag es dann so sein, ich +werde dich in Erstaunen setzen ... und dir meine Geheimnisse +aufdecken. Nun, mein Lieber, wie gefällt dir +mein Schnurrbart?“ +</p> + +<p> +„Vorzüglich, Onkelchen! Er ist geradezu wunderbar! +Wie haben Sie ihn nur so lange und so tadellos +erhalten können?“ +</p> + +<p> +„Überzeuge dich: er ist – fal–sch!“ sagte der +Fürst mit triumphierendem Blick auf Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +„Ist’s möglich? Nicht zu glauben! Nun, aber +der Backenbart? Gestehen Sie es nur, Onkelchen, den +färben Sie doch?“ +</p> + +<p> +„Färben? Ich färbe ihn nicht nur, er ist gleichfalls +vollkommen – fal–sch!“ +</p> + +<p> +„Unmöglich! Nein, Onkelchen, Verzeihung, aber +das glaube ich nicht! Sie wollen sich über mich lustig +machen!“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Parole d’honneur, mon ami!</span>“ beteuerte der +Fürst stolz. „Und denk dir, alle, aber auch alle lassen +sich ganz wie du täuschen! Sogar Stepanida Matwejewna +glaubt es nicht, obgleich sie ihn mir doch zuweilen +selbst anbringt. Aber ich bin über–zeugt, mein +<a id="page-164" class="pagenum" title="164"></a> +Lieber, daß du mein Geheimnis bewahren wirst. Gib +mir dein Ehrenwort.“ +</p> + +<p> +„Ehrenwort, Onkelchen, ich werde es keinem verraten. +Und glauben Sie denn wirklich, daß ich dazu +fähig wäre?“ +</p> + +<p> +„Ach, mein Freund, wie ich heute in deiner Abwesenheit +gefallen bin! Fe–o–fil hat mich zum zweitenmal +um–geworfen!“ +</p> + +<p> +„Zum zweitenmal? Wann denn das?“ +</p> + +<p> +„Tja, wir näherten uns schon dem Kloster ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, Onkelchen, heute morgen.“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, das war im ganzen vor zwei Stunden, +nicht mehr. Ich fuhr ins Kloster, er aber warf +die Kutsche um. Dieser Schreck! Mein Herz steht +noch still davon.“ +</p> + +<p> +„Aber Onkelchen, Sie haben doch inzwischen geschlafen!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, geschlafen ... dann aber fuhr ich ... +wie gesagt, ich ... Also, wie gesagt, vielleicht habe +ich das ... nein, wie son–derbar das ist!“ +</p> + +<p> +„Glauben Sie mir, Onkelchen, das haben Sie nur +im Traum erlebt! Sie haben hier doch die ganze Zeit +seit dem Mittag geschlafen.“ +</p> + +<p> +„Wirk–lich?“ – Der Fürst wurde nachdenklich. +</p> + +<p> +„Nun ja, vielleicht habe ich das nur im Traum +gesehen. Aber, wie gesagt, ich habe alles behalten, +was mir geträumt hat. Zuerst träumte mir von einem +grau–envollen Büffel mit langen Hörnern, dann von +einem Staatsanwalt, gleichfalls, wie mir schien, mit +Hör–nern ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-165" class="pagenum" title="165"></a> +„Das war wohl Nikolai Wassiljitsch Antipoff, +Onkelchen?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, vielleicht war er es. Und dann träumte +mir von Napo–leon Buonaparte. Weißt du, mein +Lieber, mir sagen alle, daß ich Napoleon Buonaparte +ungemein ähneln soll ... und im Profil soll ich ... +aus–ge–sproch–en wie ein gewisser ehemaliger +Papst aussehen! Was findest du, mein Lieber, habe +ich Ähnlichkeit von einem Papst?“ +</p> + +<p> +„Ich finde, daß Sie mehr Napoleon ähneln, Onkelchen.“ +</p> + +<p> +„Nun ja, das wäre <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">en face</span>. Wie gesagt, ich +finde es selbst auch, mein Lieber. Und ich sah ihn im +Traum bereits auf der Insel sitzend, und wie gesagt, +er war so ge–sprä–chig, so schlag–fertig, solch ein +Witz–bold ... so daß er mich un–gemein erheitert +hat.“ +</p> + +<p> +„Reden Sie von Napoleon?“ fragte Mosgljäkoff +mit nachdenklichem Blick auf den Fürsten. Ihm war +plötzlich ein sonderbarer Einfall gekommen, ein Einfall, +über den er sich vorläufig noch nicht recht +klar war. +</p> + +<p> +„Nun ja, von Napoleon. Wir sprachen beide über +Phi–lo–sophie. Und weißt du, mein Lieber, es tut +mir sogar leid, daß die Eng–länder ... so streng +mit ihm verfah–ren sind. Es ist ja wahr: hätte man +ihn nicht an der Kette gehalten, so würde er sich wieder +auf die anderen gestürzt haben. Ein toller Mensch! +Aber es tut mir doch leid um ihn. Ich hätte ihn nicht +so behandelt. Ich hätte ihn auf eine un–bewohnte +Insel gesetzt ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-166" class="pagenum" title="166"></a> +„Weshalb denn auf eine unbewohnte?“ fragte +Mosgljäkoff zerstreut. +</p> + +<p> +„Nun, dann meinetwegen auch auf eine bewohn–te, +aber auf eine, auf der nur vernünf–tige Menschen +wohnen. Nun und dann hätte ich verschiedene Zerstreu–ungen +für ihn arrangiert: Theater, Musik, Ballett +... und alles auf Kosten des Staates. Spazieren +zu gehen hätte ich ihm natür–lich nur unter Auf–sicht +erlaubt, denn sonst wäre er ja sofort wieder entschlüpft. +Gewisse Pasteten soll er sehr geliebt haben. +Nun, dann würde man ihm eben täglich diese Pasteten +gebacken haben. Ich hätte sozusagen väterlich für ihn +gesorgt. Er hätte es bei mir nicht schlecht gehabt! ...“ +</p> + +<p> +Mosgljäkoff hörte zerstreut dem Geschwätz des erst +halberwachten Greises zu und trommelte mit seinen +Händen vor Ungeduld. Er wollte das Gespräch auf +die Heirat bringen. Eigentlich wußte er noch selbst +nicht, weshalb er es wollte, doch ein unbezwingliches +Rachegelüst kochte in seiner Brust. Plötzlich stieß der +Greis einen leichten Schrei aus, einen Schrei der +Überraschung. +</p> + +<p> +„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>! Ich habe ja ganz vergessen, dir +zu sagen! Denk doch, ich habe heute einen Heiratsantrag +gemacht!“ +</p> + +<p> +„Einen Heiratsantrag, Onkelchen?“ fragte Mosgljäkoff +ungemein belebt. +</p> + +<p> +„Nun ja, einen Hei–ratsantrag. Pachomytsch, du +gehst schon? Nun gut. <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est une charmante personne +... Mais</span> ... ich will dir gestehen, mein +Lieber, ich habe un–über–legt gehandelt. Jetzt sehe +ich es ein. Ach, Gott im Himmel!“ +</p> + +<p> +<a id="page-167" class="pagenum" title="167"></a> +„Aber erlauben Sie, Onkelchen, wann haben Sie +es denn getan?“ +</p> + +<p> +„Wie gesagt, mein Lieber, ich weiß noch nicht einmal +genau, wann. Oder sollte mir das nur geträumt +haben? Ach, wie son–der–bar das aber doch ist!“ +</p> + +<p> +Mosgljäkoff erzitterte vor Freude. Er hatte eine +glänzende Idee! +</p> + +<p> +„Aber wem und wann haben Sie denn den Heiratsantrag +gemacht, Onkelchen?“ fragte er ungeduldig. +</p> + +<p> +„Der Tochter des Hauses hier, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span> ... +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cette belle personne</span> ... wie gesagt, ich habe vergessen, +wie sie heißt. Nur, sieh mal, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, ich +kann doch unmöglich hei–raten! Was soll ich jetzt +tun?“ +</p> + +<p> +„Gewiß, Sie würden sich unfehlbar zugrunde richten, +wenn Sie heiraten wollten. Aber erlauben Sie +eine Frage, Onkelchen: sind Sie denn auch überzeugt, +daß Sie den Antrag wirklich gemacht haben?“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... ich bin ü–ber–zeugt.“ +</p> + +<p> +„Wenn es Ihnen aber nur geträumt hat, ganz wie +das, daß sie zum zweiten Mal mit der Kutsche umfielen?“ +</p> + +<p> +„Ach, Gott! Es ist wahr, vielleicht hat es mir +auch nur geträumt! ... Jetzt weiß ich ja gar nicht, +wie ich mich dort verhal–ten soll! ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon ami</span>, +auf welchem Um–wege könnte man das nun genau erfahren, +ob ich bei ihr angesprochen habe oder nicht? +Denn sonst, denk doch nur, in welcher Lage ich jetzt +bin!“ +</p> + +<p> +„Wissen Sie, Onkelchen, ich glaube, da ist überhaupt +nichts zu erfahren.“ +</p> + +<p> +<a id="page-168" class="pagenum" title="168"></a> +„Wieso?“ +</p> + +<p> +„Ich bin überzeugt, daß es Ihnen nur geträumt +hat.“ +</p> + +<p> +„Der Meinung bin ich auch, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, um so +mehr, als ich oft ähn–liche Träume habe.“ +</p> + +<p> +„Nun, sehen Sie. Und vergessen Sie nicht, daß Sie +zum Frühstück ein wenig getrunken haben, dann zum +Mittag wieder und schließlich ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, mein Lieber, das ist es gerade; vielleicht +rührt es auch nur da–von her.“ +</p> + +<p> +„Und zudem, Onkelchen, wie sehr Sie auch entflammt +gewesen sein mochten, einen so unüberlegten +Heiratsantrag hätten Sie doch nie in Wirklichkeit machen +können. So weit ich Sie kenne, sind Sie ein +überaus vernünftiger Mensch und ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja.“ +</p> + +<p> +„Und denken Sie doch nur an eines: wenn das +Ihre Verwandten erführen, die Ihnen doch ohnehin +nicht gewogen sind – was würden die dazu sagen?“ +</p> + +<p> +„Gott im Himmel!“ rief entsetzt der Fürst aus. +„Was würden die dazu sagen?“ +</p> + +<p> +„Ich bitte Sie! Alle würden wie ein Mann +schreien, daß Sie es nicht bei vollem Verstande hätten +tun können, daß Sie geistesschwach seien, daß man Sie +unter Kuratel bringen müsse, daß man Sie betrogen +habe, und zu guter Letzt würde man Sie irgendwo einsperren, +wo Sie unter Aufsicht leben müßten.“ +</p> + +<p> +Mosgljäkoff wußte, womit man dem Alten den +größten Schrecken einjagen konnte. +</p> + +<p> +„Gott im Himmel!“ – Der Fürst zitterte wie ein +Espenblatt. „Würde man mich wirklich einsperren!“ +</p> + +<p> +<a id="page-169" class="pagenum" title="169"></a> +„Und deshalb sagen Sie sich doch selbst Onkelchen: +wie hätten Sie einen so unüberlegten Heiratsantrag +in Wirklichkeit machen können? Sie kennen doch +Ihren eigenen Vorteil! Nein, ich behaupte konsequent, +daß Sie das alles nur im Traum gesehen haben.“ +</p> + +<p> +„Unbedingt im Traum, un–be–dingt im Traum!“ +bestätigte der erschrockene Fürst. „Nein, wie vernünftig +du das erklärt hast, mein Lieber! Ich danke dir +von Herzen dafür, daß du mich be–ruh–igt hast!“ +</p> + +<p> +„Und mich freut es sehr, daß ich Sie heute getroffen +habe. Denken Sie doch nur: ohne mich hätten Sie +sich tatsächlich täuschen, hätten Sie glauben können, +daß Sie tatsächlich im wachen Zustande bei ihr angesprochen +haben und dann – wären Sie jetzt als Bräutigam +zu ihr nach unten gegangen! Denken Sie doch +nur, wie gefährlich das gewesen wäre!“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... gefährlich!“ +</p> + +<p> +„Denken Sie doch nur, daß dieses Mädchen dreiundzwanzig +Jahre alt ist; niemand will sie nehmen +und plötzlich kommen Sie, ein reicher und vornehmer +Aristokrat, als Freier zu ihr! Aber die würden ja doch +sofort zugreifen, würden beteuern, daß Sie wirklich +angesprochen haben: und verkuppeln Sie womöglich +mit Gewalt. Und dann werden sie hoffen, daß Sie +vielleicht bald sterben ...“ +</p> + +<p> +„Wirklich?“ +</p> + +<p> +„Und dann denken Sie doch nur, Onkel: ein Mensch +mit Ihren Vorzügen ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, mit meinen Vorzügen ...“ +</p> + +<p> +„Mit Ihrem Verstande und Ihrer Liebenswürdigkeit +...“ +</p> + +<p> +<a id="page-170" class="pagenum" title="170"></a> +„Nun ja, mit meinem Verstande, ja! ...“ +</p> + +<p> +„Und dann, Sie sind – Fürst. Sie könnten doch +eine ganz andere Partie machen, wenn Sie wirklich aus +irgend einem Grund heiraten müßten. Und denken +Sie nur daran, was Ihre Verwandten sagen +würden!“ +</p> + +<p> +„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, sie würden mich ja dann ganz +und gar vernichten! Ich habe von ihnen schon soviel +Böses und Unheimliches erfahren ... Denk dir, ich +vermute, daß sie mich sogar in eine Ir–ren–anstalt +bringen wollten. Nun sag doch bloß, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, das +geht doch nicht! Nun, was würde ich denn dort in der +Ir–ren–anstalt an–fangen?“ +</p> + +<p> +„Versteht sich, Onkelchen, und deshalb werde ich +Sie jetzt auch nicht verlassen, wenn Sie nach unten +gehen. Dort sind Gäste.“ +</p> + +<p> +„Gäste? Gott im Himmel!“ +</p> + +<p> +„Beunruhigen Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde +bei Ihnen sein.“ +</p> + +<p> +„Nein, wie dankbar ich dir bin, mein Lieber, du +bist geradezu mein Retter! Aber weißt du: ich werde +lieber fortfahren.“ +</p> + +<p> +„Morgen, Onkelchen, morgen früh um sieben Uhr. +Heute aber müssen Sie sich noch von allen verabschieden +und sagen, daß Sie morgen fortfahren.“ +</p> + +<p> +„Ich werde un–be–dingt fortfahren ... wie +gesagt, zum Pater Missaïl ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, mon ami</span>, +wenn sie mich nun aber verkup–peln wollen?“ +</p> + +<p> +„Fürchten Sie sich nicht, Onkelchen, ich werde bei +Ihnen sein. Und schließlich, was man Ihnen auch +sagen oder zu verstehen geben sollte, bleiben Sie dabei, +<a id="page-171" class="pagenum" title="171"></a> +daß es Ihnen nur geträumt hat ... wie es sich ja +auch tatsächlich verhält ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, un–be–dingt geträumt! Nur, weißt +du, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, es war doch ein be–zau–bernder +Traum! Sie ist wun–der–bar schön und, weißt du, +welche Formen ...“ +</p> + +<p> +„Nun, auf Wiedersehen, Onkelchen, ich gehe jetzt +nach unten und Sie ...“ +</p> + +<p> +„Was! Du verläßt mich, du läßt mich allein zurück!“ +rief der Fürst erschrocken aus. +</p> + +<p> +„Nein doch, wir müssen nur nach unten gehen und +da ist es besser, wenn wir nicht zusammen erscheinen, +zuerst ich, dann Sie.“ +</p> + +<p> +„Nun gut. Ich muß, wie gesagt, auch noch einen +Gedanken niederschreiben!“ +</p> + +<p> +„Schön, Onkelchen, schreiben Sie also Ihren Gedanken +nieder und kommen Sie dann ohne zu säumen. +Morgen früh aber ...“ +</p> + +<p> +„Und morgen früh zum Priestermönch, un–be–dingt +zum Prie–stermönch! Charmant, charmant! +Aber weißt du, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, sie ist wun–derbar schön +... diese Formen ... und wenn ich nun einmal +unbedingt heiraten müßte, so würde ich ...“ +</p> + +<p> +„Gott bewahre Sie davor, Onkelchen!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Gott bewahre mich davor ... Nun, +auf Wiedersehen, mein Lieber, ich werde sogleich ... +ich muß nur noch etwas niederschreiben. A pro–pos, +ich wollte dich immer fragen: hast du Casanovas Memoiren +gelesen?“ +</p> + +<p> +„Ja, ich habe sie gelesen – was ist denn?“ +</p> + +<p> +<a id="page-172" class="pagenum" title="172"></a> +„Nun ja ... ich habe jetzt nur vergessen, was ich +fragen wollte.“ +</p> + +<p> +„Sie werden sich dessen später entsinnen, Onkelchen. +Auf Wiedersehen!“ +</p> + +<p> +„Auf Wiedersehen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, auf Wiedersehen! +Nur war es doch ein ent–zückender Traum, ein ent–zückender +Traum! ...“ +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-12"> +<a id="page-173" class="pagenum" title="173"></a> +XII. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>W</span><span class="postfirstchar">ir</span> kommen alle zu Ihnen, alle, alle! Auch +Praskowja Iljinitschna wollte kommen, und auch Luisa +Karlowna wollte kommen,“ zwitscherte Anna Nikolajewna, +in den „Salon“ eintretend. Neugierig blickte +sie sich rings um. +</p> + +<p> +Sie war eine hübsche kleine Dame, bunt, doch reich +gekleidet und sie wußte es selbst vorzüglich, daß sie +hübsch war. Sie war überzeugt, in einer Ecke des +Salons den Fürsten mit Sina im Gespräch zu erblicken. +</p> + +<p> +„Und auch Katerina Petrowna und Felissata Michailowna +wollten kommen,“ fügte Natalja Dmitrijewna +hinzu, eine Dame von kolossalen Dimensionen – +sie war es, deren Formen dem Fürsten so sehr gefallen +hatten – und die unwillkürlich an einen Grenadier erinnerte. +</p> + +<p> +Sie trug ein auffallend kleines rosa Kapotthütchen, +das ganz auf dem Hinterkopf saß. Seit drei Wochen +war sie die beste Freundin Anna Nikolajewnas, der sie +schon seit langem den Hof gemacht hatte und die sie +allem Anschein nach wie einen einzigen Bissen hätte +hinunterschlucken können – samt allen Knochen. +</p> + +<p> +„Ich rede schon gar nicht von meinem – ich kann +<a id="page-174" class="pagenum" title="174"></a> +wohl sagen – Entzücken darüber, Sie beide endlich +einmal bei mir zu sehen und noch dazu am Abend,“ flötete +Marja Alexandrowna, nachdem sie sich vom ersten +Schreck erholt hatte. „Aber sagen Sie doch bitte, welches +Wunder Sie heute zu mir gerufen hat, während +ich doch schon längst jede Hoffnung auf diese Ehre +aufgegeben! ...“ +</p> + +<p> +„Ach Gott, Marja Alexandrowna, wie Sie wirklich +sind!“ sagte Natalja Dmitrijewna süßlich, verschämt, +geziert und fast piepend, was einen äußerst +interessanten Gegensatz zu ihrer Erscheinung bildete. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mais, ma charmante</span> Marja Alexandrowna,“ +zwitscherte wieder Anna Nikolajewna dazwischen, „wir +müssen doch endlich mit unseren Vorbereitungen zu diesem +Theater ins reine kommen! Heute noch sagte +Pjotr Michailowitsch zu Kalist Stanislawitsch, es betrübe +ihn sehr, daß wir nicht weiter kämen und uns +immer nur stritten. Und da versammelten wir uns denn +heute alle vier und dachten: fahren wir einfach zu Marja +Alexandrowna und besprechen wir uns dort! Natalja +Dmitrijewna hat auch die anderen benachrichtigt. +Alle werden kommen. Und so können wir uns denn beraten +und die Sache kommt dann endlich in Gang ... +Dann darf man auch nicht mehr sagen, daß wir uns +nur streiten, nicht wahr, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>?“ fügte sie kokett +hinzu und küßte Marja Alexandrowna. „Ach! sieh +da! Sinaïda Afanassjewna! Sie werden aber mit +jedem Tag schöner!“ +</p> + +<p> +Und Anna Nikolajewna eilte der eintretenden Sina +entgegen, um sie zu küssen. +</p> + +<p> +„Sie hat ja auch nichts weiter zu tun, als sich zu +<a id="page-175" class="pagenum" title="175"></a> +verschönen,“ meinte süß Natalja Dmitrijewna und rieb +ihre großen Hände. +</p> + +<p> +„Wenn euch doch der Teufel holte! Dieses blödsinnige +Theater hatte ich ganz vergessen! Sie scheinen, +weiß Gott, klüger geworden zu sein!“ dachte Marja +Alexandrowna, innerlich rasend vor Wut. +</p> + +<p> +„Und hinzu kommt noch, mein Engel,“ fuhr Anna +Nikolajewna fort, „daß jetzt dieser liebe Fürst bei Ihnen +weilt. Sie wissen doch, in Duchanowo gab es ja +früher ein Theater. Wir haben uns schon erkundigt +und wissen jetzt, daß dort irgendwo noch alte Kulissen, +ein Vorhang und sogar Kostüme vorhanden sind. Der +Fürst war heute bei mir, aber ich war so überrascht, +daß ich ganz vergaß, ihn zu fragen. Jetzt können wir +hier das Gespräch aufs Theater bringen. Sie werden +uns beistehen und der Fürst wird uns den ganzen Plunder +herschicken – das werden Sie sehen! Denn bei +wem könnten Sie wohl hier etwas in der Art einer Kulisse +bestellen? Und die Hauptsache: wir wollen ja auch +den Fürsten für unsere Aufführung gewinnen. Er muß +unbedingt zur Kollekte beisteuern, – es ist doch für die +Armen! Vielleicht wird er sogar eine Rolle übernehmen, +– er ist doch so liebenswürdig und mit allem +stets einverstanden. Dann würde alles wundervoll +gehen!“ +</p> + +<p> +„Gewiß wird er eine Rolle übernehmen. Man kann +ihn ja doch jede beliebige Rolle spielen lassen,“ bemerkte +Natalja Dmitrijewna zweideutig. +</p> + +<p> +Anna Nikolajewna hatte Marja Alexandrowna +nicht betrogen: in jedem Augenblick kamen neue Gäste. +Die Hausfrau konnte kaum eine jede der eintreffenden +<a id="page-176" class="pagenum" title="176"></a> +Damen begrüßen und alle die Ausrufe des Entzückens +bewältigen, die von dem gesellschaftlichen Anstand oder +dem guten Ton in solchen Fällen verlangt werden. +</p> + +<p> +Ich will es nicht versuchen, alle Damen zu beschreiben. +Ich sage nur, daß einer jeden ganz besondere +Bosheit aus den Augen blitzte. Auf allen Gesichtern +konnte man Erwartung und eine geradezu krankhafte +Ungeduld lesen. Einige von ihnen waren entschieden +mit der Absicht gekommen, Augenzeugen eines unerhörten +Skandals zu sein, und sie würden sehr ungehalten +gewesen sein, wenn es nicht zu einem solchen gekommen +wäre. Äußerlich waren alle ungemein liebenswürdig, +doch Marja Alexandrowna hatte sich nichtsdestoweniger +auf einen heftigen Ansturm gefaßt gemacht. Fragen +nach dem Fürsten regneten von allen Seiten; anscheinend +war eine jede dieser Fragen sehr natürlich, +aber dennoch enthielt jede eine leise Anspielung, verriet +jede einen Hintergedanken. Es wurde Tee gereicht; +man setzte sich. Eine Gruppe belagerte den +Flügel. Sina wurde gebeten, etwas zu singen, sie aber +antwortete trocken, daß sie nicht ganz gesund sei. Ihr +bleiches Gesicht ließ die Antwort glaubwürdig erscheinen. +Hierauf folgten viele mitleidige Fragen und +gleichzeitig wurde auch noch nach anderem gefragt und +anderes zu verstehen gegeben. Man erkundigte sich +auch nach Mosgljäkoff und wandte sich mit diesen Fragen +ausschließlich an Sina. Marja Alexandrowna +verzehnfachte sich: sie sah alles, selbst das, was in der +fernsten Ecke geschah, sie hörte, was jede Dame sprach, +obgleich es ihrer etwa zehn waren, und sie antwortete +unverzüglich auf alle Fragen und versteht sich – suchte +<a id="page-177" class="pagenum" title="177"></a> +nicht lange nach Worten. Sie zitterte für Sina und +wunderte sich, daß sie noch nicht fortging, wie sie es +sonst in ähnlichen Fällen stets zu tun pflegte. Auch +Afanassij Matwejewitsch war inzwischen von den Gästen +bemerkt worden. Sie pflegten ihn gewöhnlich +alle zum besten zu haben, um auf diese +Weise Marja Alexandrowna zu verletzen. Jetzt jedoch +hofften sie, von dem dummen und aufrichtigen Gatten +manches Nähere zu erfahren. Marja Alexandrowna +beobachtete besorgt die Belagerung ihres „Tölpels“. +Zudem antwortete er auf alle Fragen nur mit einem +„Hm!“, tat es aber mit einer so unglücklichen und +jämmerlich unnatürlichen Miene, daß sie aus der Haut +zu fahren glaubte. +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna! Afanassij Matwejewitsch +will mit uns überhaupt nicht mehr sprechen!“ rief ihr +ein dreistes, scharfäugiges Dämchen zu, das entschieden +nichts fürchtete und sich nie verwirren ließ. „Sagen +Sie ihm doch, daß er zu Damen etwas höflicher sein +muß.“ +</p> + +<p> +„Ich ... wirklich, ich weiß es selbst nicht, was +heute mit ihm geschehen ist,“ antwortete Marja Alexandrowna, +die ihr Gespräch mit Anna Nikolajewna und +Natalja Dmitrijewna unterbrach, heiter lächelnd. „So +verschlossen, so wortkarg habe ich ihn noch nie gesehen! +Auch mit mir spricht er kaum ein Wort. Weshalb antwortest +du denn Felissata Nikolajewna nicht, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">cher +Athanase</span>?“ +</p> + +<p> +„Aber ... aber ... Mütterchen, du hast doch +selbst ...“ stotterte der verwunderte Gatte. Er stand +in diesem Augenblick gerade am brennenden Kamin, +<a id="page-178" class="pagenum" title="178"></a> +hatte die Hände in malerischer Pose – die er sich selbst +ersonnen – untergebracht und schickte sich an, Tee zu +trinken. Die Fragen der Damen verwirrten ihn dermaßen, +daß er wie ein Mädchen errötete. Als er jedoch +die ersten Worte zu seiner Verteidigung stotterte, fing +er einen so vernichtenden Blick seiner Gattin auf, daß +er vor Schreck fast die Besinnung verlor. Da er nicht +wußte, was er tun sollte, andererseits aber sein Vergehen +gut machen, gefallen und von neuem Achtung erringen +wollte, so nahm er vorläufig nur einen Schluck +Tee. Der Tee war aber heiß, und da er einen unverhältnismäßig +großen Schluck genommen hatte, verbrannte +er sich Mund und Kehle, ließ die Tasse fallen, +der Tee ging in die Luftröhre, und er begann darauf so +heftig zu husten, daß er das Zimmer verlassen mußte, +während die Anwesenden in staunender Verständnislosigkeit +zurückblieben. Mit einem Wort, der Hausfrau +war alles „klar“, sie sagte sich, daß ihre Gäste bereits +alles wußten und sich mit den schlimmsten Absichten bei +ihr versammelt hatten. Die Situation war gefährlich: +sie konnten in ihrer Gegenwart den schwachsinnigen +Gatten in ein Gespräch verknüpfen und unangenehme +Dinge durch ihn in Erfahrung bringen. Sie konnten +ihr sogar den Fürsten streitig machen, konnten ihn ihr +noch am selben Abend fortnehmen, d. h. einfach mitlocken. +Jedenfalls war alles möglich. Vorläufig hatte +ihr aber das Schicksal noch einen anderen Schlag zugedacht: +in der Tür erschien Mosgljäkoff, den sie bei Borodujeff +glaubte. Sie hätte alles eher als ihn an diesem +Abend erwartet. Sie zuckte zusammen, als wäre sie +gestochen worden. +</p> + +<p> +<a id="page-179" class="pagenum" title="179"></a> +Mosgljäkoff blieb in der Tür stehen und erschien +beim Anblick der vielen Gäste etwas verwirrt zu werden. +Er konnte seine Aufregung nicht bezwingen: man +sah sie ihm wenigstens deutlich an. +</p> + +<p> +„Ach, mein Gott! Pawel Alexandrowitsch!“ riefen +mehrere Damen aus. +</p> + +<p> +„Ach Gott! Das ist ja doch Pawel Alexandrowitsch! +Aber wie, Marja Alexandrowna, Sie sagten +doch, er sei zu Borodujeff gegangen? Uns wurde gesagt, +daß Sie sich bei Borodujeff verborgen hätten, +Pawel Alexandrowitsch!“ flötete Natalja Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Verborgen?“ wiederholte Mosgljäkoff mit einem +etwas verzerrten Lächeln. „Ein sonderbarer Ausdruck! +Verzeihen Sie, Natalja Dmitrijewna, ich verberge +mich vor keinem Menschen und wünsche auch keinen anderen +zu verbergen,“ fügte er mit vielsagendem Blick +auf Marja Alexandrowna hinzu. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna erzitterte. +</p> + +<p> +„Was, sollte auch dieser Esel sich auflehnen wollen?“ +fragte sie sich und sah ihn prüfend von der Seite +an. „Das wäre das Schlimmste ...“ +</p> + +<p> +„Ist es wahr, Pawel Alexandrowitsch, daß Sie den +Abschied erhalten haben ... im Staatsdienst, versteht +sich?“ fragte die naseweise Felissata Michailowna und +blickte ihm spöttisch offen in die Augen. +</p> + +<p> +„Den Abschied? Welch einen Abschied? Ich habe +ganz einfach umgesattelt. Ich lasse mich nach Petersburg +versetzen,“ antwortete Mosgljäkoff trocken. +</p> + +<p> +„Nun, wenn es so ist, dann gratuliere ich,“ fuhr +Felissata Michailowna fort. „Und wir erschraken schon, +als wir hörten, daß Sie sich um eine Anstellung hier +<a id="page-180" class="pagenum" title="180"></a> +in Mordassoff bewerben würden. Hier sind doch die +Stellen nicht sicher, Pawel Alexandrowitsch: eh man +sich versieht, fliegt man.“ +</p> + +<p> +„Es sei denn eine Lehreranstellung in der Kreisschule; +dort gäbe es noch eine Vakanz,“ bemerkte Natalja +Dmitrijewna. +</p> + +<p> +Die Anspielung war so deutlich, daß Anna Nikolajewna +verlegen wurde und ihre boshafte Freundin +heimlich mit dem Fuß stieß. +</p> + +<p> +„Glauben Sie denn, daß Pawel Alexandrowitsch +einwilligen würde, die Anstellung eines Kreisschullehrers +anzunehmen?“ fragte Felissata Michailowna. +</p> + +<p> +Mosgljäkoff fand keine Antwort. Da kehrte er +ihnen den Rücken und wollte fortgehen, stieß aber im +selben Augenblick mit Afanassij Matwejewitsch zusammen, +der ihm gutmütig die Hand entgegenstreckte. Mosgljäkoff +reichte ihm dummerweise nicht die Hand und +verbeugte sich nur spöttisch auffallend tief vor ihm. +Aufs äußerste gereizt trat er zu Sina, sah ihr haßerfüllt +in die Augen und raunte ihr zu: +</p> + +<p> +„Alles das haben wir Ihrer Güte zu verdanken. +Warten Sie, heute abend noch werde ich Ihnen +zeigen, ob ich ein Dummkopf bin oder nicht!“ +</p> + +<p> +„Weshalb aufschieben? Das sieht man ja auch +jetzt,“ antwortete Sina mit lauter Stimme und maß +ihren ehemaligen Freier mit Ekel verratendem Blick +vom Kopf bis zu den Füßen. +</p> + +<p> +Mosgljäkoff wandte sich schleunigst ab – ihre laute +Antwort hatte ihn denn doch erschreckt. +</p> + +<p> +„Kommen Sie von Borodujeff?“ entschloß sich +schließlich Marja Alexandrowna zu fragen. +</p> + +<p> +<a id="page-181" class="pagenum" title="181"></a> +„Nein, ich komme von meinem Onkel.“ +</p> + +<p> +„Von Ihrem Onkel? Dann sind Sie also soeben +beim Fürsten gewesen?“ +</p> + +<p> +„Ach, Himmel! Dann ist ja der Fürst schon aufgewacht? +Und uns wurde gesagt, daß er noch schlafe!“ +Natalja Dmitrijewna tat sehr verwundert, und der +Blick, mit dem sie die Hausfrau streifte, war geradezu +durchbohrend. +</p> + +<p> +„Ängstigen Sie sich nicht um den Fürsten, Natalja +Dmitrijewna,“ antwortete Mosgljäkoff, „er ist aufgewacht +und, Gott sei Dank, wieder bei vollem Verstande. +Vorher hatte man ihn betrunken gemacht, zuerst +bei Ihnen, Natalja Dmitrijewna, und dann hier noch +endgültig, so daß er beinahe seinen letzten Verstand verlor, +der ja bei ihm ohnehin nicht groß ist. Jetzt aber haben +wir uns beide zum Glück aussprechen können, und +so vermag er denn wieder vernünftig zu denken. Er +wird sogleich erscheinen, um sich von Ihnen, Marja +Alexandrowna, zu verabschieden und für Ihre Gastfreundschaft +zu danken. Morgen aber werden wir in +aller Frühe ins Kloster fahren und von dort werde ich +ihn persönlich nach Duchanowo begleiten, um ein abermaliges +Umgeworfenwerden zu verhüten. In Duchanowo +wird ihn aus meinen Händen Stepanida Matwejewna +empfangen – die bis dahin unfehlbar aus +Moskau zurückgekehrt sein wird – und dann ist es natürlich +ausgeschlossen, daß er noch einmal eine Reise +unternimmt – dafür garantiere ich.“ +</p> + +<p> +Während dieser ganzen Rede blickte Mosgljäkoff +mit aufrichtigem Haß zu Marja Alexandrowna hinüber. +Diese saß, als hätte sie vor Schreck die Sprache verloren. +<a id="page-182" class="pagenum" title="182"></a> +Ich muß zu meinem Schmerz gestehen, daß meine +Heldin zum ersten Mal im Leben ernstlich bange wurde. +</p> + +<p> +„Ach, also morgen in aller Frühe fahren sie fort? +Wie denn das?“ fragte Natalja Dmitrijewna, sich an +Marja Alexandrowna wendend. +</p> + +<p> +„Wie kommt denn das?“ ertönte es naiv von allen +Seiten. „Und wir haben gehört ... das ist doch wirklich +sonderbar!“ +</p> + +<p> +Die Hausfrau wußte nicht mehr, was sie antworten +sollte. Da wurde die allgemeine Aufmerksamkeit +plötzlich durch den ungewöhnlichsten Zwischenfall abgelenkt: +aus dem Nebenzimmer drang ein seltsames Geräusch +und keifendes Geschrei an aller Ohren und plötzlich +stürzte unvermutet unverhofft Ssofja Petrowna +Karpuchina in Marja Alexandrownas Salon. +</p> + +<p> +Diese Ssofja Petrowna war sicherlich die exzentrischste +Dame in ganz Mordassoff: so exzentrisch war +sie, daß die Gesellschaft der Stadt in jüngster Zeit beschlossen +hatte, sie nicht mehr zu empfangen. Ich muß +noch bemerken, daß sie regelmäßig an jedem Abend um +sieben Uhr ein paar Gläschen kippte – für den Magen, +wie sie es nannte. Nach dieser Stärkung befand +sie sich dann gewöhnlich in der allerexzentrischsten +Stimmung – gelinde ausgedrückt. Und in dieser +Stimmung stürzte sie jetzt in den Salon Marja Alexandrownas. +</p> + +<p> +„Ah, also so sind Sie, Marja Alexandrowna!“ +schrie sie, „also so gehen Sie mit mir um! Beunruhigen +Sie sich nicht, ich bin nur auf einen Augenblick +gekommen, ich werde mich bei Ihnen auch nicht setzen. +Ich bin absichtlich hergefahren, um mich selbst zu überzeugen, +<a id="page-183" class="pagenum" title="183"></a> +ob es wahr ist, was man mir erzählt hat. Ah! +also Sie geben Bälle, Banketts, feiern Verlobungen, +Ssofja Petrowna aber kann zu Hause sitzen und +Strümpfe stricken! Die ganze Stadt ist eingeladen, +nur ich nicht! Vorhin aber war ich für Sie ‚liebe +Freundin‘ und ‚<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ange</span>‘ als ich herkam, um zu erzählen, +was bei Natalja Dmitrijewna mit dem Fürsten +gemacht wurde. Und jetzt sitzt diese Natalja Dmitrijewna, +über die Sie vorhin so geschimpft haben, und +die über Sie geschimpft hat, als Gast in Ihrem Hause. +Beunruhigen Sie sich nicht, Natalja Dmitrijewna! Ich +brauche nicht Ihre Schokolade <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la santé</span> zu zehn +Kopeken die Tafel. Ich trinke zu Hause öfter als Sie!“ +</p> + +<p> +„Das merkt man,“ antwortete Natalja Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, Ssofja Petrowna,“ rief Marja +Alexandrowna aus, hochrot vor Zorn, „was ist heute +mit Ihnen? So kommen Sie doch zur Besinnung, wenigstens!“ +</p> + +<p> +„Oh, keine Sorge um mich, Marja Alexandrowna, +ich habe alles, alles erfahren!“ schrie Ssofja Petrowna +mit ihrer schrillen, kreischenden Stimme, umringt von +allen Damen, die sich an dieser unerwarteten Szene zu +ergötzen schienen. „Ich habe alles erfahren! Ihre +holde Nastassja ist selbst zu mir gelaufen, um mir alles +zu erzählen. Sie haben diesen Jammerkerl, diesen Fürsten, +eingefangen, haben ihn betrunken gemacht und +dann gezwungen, bei Ihrer Tochter anzusprechen, ja, +bei Ihrer Tochter, die niemand mehr heiraten will, und +jetzt bilden Sie sich wahrscheinlich ein, daß auch Sie +mit einem Schlage weiß Gott was für ein wichtiger Vogel +<a id="page-184" class="pagenum" title="184"></a> +geworden sind – eine Herzogin in echten Spitzen +– daß Gott erbarm’! Oh, beunruhigen Sie sich nicht, +ich selbst bin die Frau eines Obersten! Und wenn Sie +mich nicht zur Verlobung einladen wollen, so pfeife ich +auf Ihre Verlobung! Ich habe in vornehmeren Kreisen +verkehrt als Sie. Ich habe bei der Gräfin Salichwatskij +diniert, und der Oberkommissar Kurotschkin hat +bei mir angesprochen! Als ob ich Ihre Einladung +brauchte, – Gott bewahre! ...“ +</p> + +<p> +„Ssofja Petrowna,“ hub Marja Alexandrowna verhältnismäßig +ruhig an, obgleich sie aus der Haut zu fahren +meinte, „Sie können mir glauben, daß man nicht +in einer solchen Weise in ein vornehmes Haus hineinstürmt +und noch dazu in einem <em>solchen Zustande</em>, +und wenn Sie mich jetzt nicht sofort von Ihrer Anwesenheit +und Ihrem Redefluß befreien, so werde ich +unverzüglich Maßregeln ergreifen ...“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, ich weiß, Sie werden Ihren Dienstboten +befehlen, mich hinauszugeleiten! Beunruhigen Sie sich +nicht, ich werde selbst den Weg hinausfinden. Leben +Sie wohl, verheiraten Sie wen Sie wollen, Sie aber, +Natalja Dmitrijewna, brauchen nicht über mich zu lachen: +ich pfeife auf Ihre Schokolade! Ich bin zwar +nicht hierher eingeladen worden, habe aber auch nicht +vor Fürsten den Kasatschock getanzt. Und weshalb lachen +Sie denn eigentlich, Anna Nikolajewna? Ssuschiloff +hat sich inzwischen das Bein gebrochen, ist soeben +erst nach Haus gebracht worden! Und wenn Sie, +Felissata Michailowna, Ihrer barfüßigen Matrjoschka +nicht sagen, rechtzeitig Ihre Kuh einzutreiben, damit sie +nicht jeden Tag unter meinen Fenstern brüllt, so werde +<a id="page-185" class="pagenum" title="185"></a> +<em>ich</em> Ihrer Matrjoschka die Beine brechen. Leben Sie +wohl, Marja Alexandrowna, wünsche viel Glück! – +Daß Gott erbarm’!“ +</p> + +<p> +Ssofja Petrowna verschwand. Alles lachte. Marja +Alexandrowna wußte nicht, was sie tun oder sagen +sollte. +</p> + +<p> +„Ich glaube, sie hat wieder getrunken,“ flötete süßlich +Natalja Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Aber immerhin – diese Frechheit!“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Quelle abominable femme!</span>“ +</p> + +<p> +„Na – sie hat uns mal wieder erheitert!“ +</p> + +<p> +„Nein, aber welch skandalöse Dinge sie gesagt hat!“ +</p> + +<p> +„Nur – was sprach sie da von einer Verlobung? +Was ist das für eine Verlobung?“ fragte Felissata +Michailowna spöttisch. +</p> + +<p> +„Aber das ist ja entsetzlich!“ entlud sich endlich +Marja Alexandrowna. „Und diese Ungeheuer sind es +ja gerade, die die unsinnigsten Gerüchte verbreiten! +Nicht das ist erstaunlich, Felissata Michailowna, daß +solche Damen sich in unserer Gesellschaft befinden, – +nein, am erstaunlichsten ist, daß man diese Damen nicht +entbehren zu können scheint, daß man sie überhaupt anhört, +sie unterstützt, ihnen glaubt, sie ...“ +</p> + +<p> +„Der Fürst, der Fürst!“ riefen plötzlich alle Gäste +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">unisono</span>. +</p> + +<p> +„Ach, Gott! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ce cher prince!</span>“ +</p> + +<p> +„Nun, Gott sei Dank! Jetzt wird man doch endlich +die ganze Wahrheit erfahren!“ flüsterte Felissata Michailowna +ihrer Nachbarin zu. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-13"> +<a id="page-186" class="pagenum" title="186"></a> +XIII. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">er</span> Fürst trat ein – ein wonniges Lächeln auf +den Lippen. Die ganze Aufregung, in die Mosgljäkoff +vor kaum zehn Minuten sein Hühnerherz versetzt hatte, +verschwand spurlos beim Anblick der Damen. Er zerschmolz +wie ein Bonbon. Man empfing ihn mit kreischenden +Freuderufen. Im allgemeinen wurde unser +Greis von Damen sehr verhätschelt. Sie gingen meist +sehr familiär mit ihm um. Er hatte die Eigenschaft, sie +mit seiner durchlauchtigsten Persönlichkeit ungemein zu +zerstreuen. Felissata Michailowna hatte am Vormittag +sogar behauptet – natürlich nur scherzweise –, daß sie +bereit sei, sich auf seine Knie zu setzen, wenn es ihm angenehm +wäre – denn er sei ein so „lieber, lieber alter +Herr, ganz unsäglich lieb!“ Marja Alexandrowna +verschlang ihn geradezu mit den Blicken, bemüht, wenigstens +etwas aus seinem Gesicht zu erforschen – zu +erraten, welchen Ausgang ihre kritische Lage nehmen +würde. Eines war jedenfalls klar: Mosgljäkoff hatte +etwas Gefährliches angerichtet. Ihr ganzer Plan war +stark erschüttert ... Doch aus dem Gesicht des Fürsten +war absolut nichts zu erraten: er war ganz derselbe +wie immer. +</p> + +<p> +„Ach Gott! Da ist ja der Fürst! Und wir haben +<a id="page-187" class="pagenum" title="187"></a> +Sie erwartet und erwartet!“ riefen einige der Damen +aus. +</p> + +<p> +„In größter Ungeduld, Fürst, in größter Ungeduld!“ +flöteten andere. +</p> + +<p> +„Das ist mir sehr schmei–chelhaft,“ lispelte der +Fürst und setzte sich an den Tisch, auf dem der Ssamowar +stand. Die Damen umringten ihn im Augenblick. +Nur Anna Nikolajewna und Natalja Dmitrijewna +blieben bei der Hausfrau sitzen. Afanassij Matwejewitsch +lächelte ehrerbietig; Mosgljäkoff lächelte gleichfalls +und blickte herausfordernd Sina an, die ihm jedoch +nicht die geringste Beachtung schenkte. Sie trat +zum Vater und setzte sich neben ihn am Kamin in einen +Lehnstuhl. +</p> + +<p> +„Ach, Fürst, ist es wahr, was man sagt, daß Sie +uns verlassen wollen?“ fragte Felissata Michailowna. +</p> + +<p> +„Nun ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich fahre fort. Ich will unverzüg–lich +ins Aus–land fahren.“ +</p> + +<p> +„Ins Ausland, Fürst, ins Ausland?“ schrie alles +im Chor, „was ist Ihnen eingefallen?“ +</p> + +<p> +„Ins Aus–land,“ bestätigte der Fürst gut gelaunt, +„und wissen Sie, ich will namentlich wegen der neuen +Ideen hin–fahren.“ +</p> + +<p> +„Wie das, wegen der neuen Ideen? – welcher +neuen Ideen?“ fragten die Damen, die untereinander +Blicke austauschten. +</p> + +<p> +„Nun ja, wegen der neuen Ideen,“ wiederholte der +Fürst noch einmal, offenbar sehr überzeugt. „Jetzt fahren +alle wegen der neuen Ideen hin. Und so will auch +ich mir neue Ide–en an–legen.“ +</p> + +<p> +„Wollen Sie nicht gar in die Freimaurerloge eintreten, +<a id="page-188" class="pagenum" title="188"></a> +mein bester Onkel?“ erkundigte sich Mosgljäkoff, +der sich augenscheinlich vor den Damen durch geistreiche +Bemerkungen auszeichnen wollte. +</p> + +<p> +„Nun ja, mein Lieber, du hast dich nicht geirrt,“ +antwortete der Onkel überraschenderweise. „Ich habe +früher in alten Zeiten tatsächlich zu einer Frei–maurerloge +gehört, im Aus–lande, wie gesagt, und ich +habe sogar mei–ner–seits viele große Ide–en gehabt. +Ich beab–sichtigte damals, viel für die zeitgenössische +Aufklärung zu tun und in Frank–furt beschloß +ich sogar, meinen Ssidor, den ich ins Aus–land +mitgenommen hatte, frei zu geben. Er aber lief zu meiner +Verwun–derung selbst von mir fort. Er war ein +sehr son–der–barer Mensch. Später begegnete ich +ihm einmal in Pa–ris. Er stol–zierte als Geck mit +einer Mamsell auf den Boulevards. Er sah mich an +und nickte mir mit dem Kopf zu. Und die Mamsell +war so ein gewandtes, verführerisches Ding ...“ +</p> + +<p> +„Aber Onkelchen! Dann werden Sie ja diesmal, +wenn Sie ins Ausland fahren, alle Ihre Bauern freigeben!“ +rief Mosgljäkoff laut auflachend aus. +</p> + +<p> +„Du hast meinen Wunsch vollkom–men erraten, +mein Lieber!“ antwortete der Fürst ohne zu zögern. „Es +ist gerade meine Absicht, sie alle aus Leibeigenen zu +freien Bauern zu machen.“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, Fürst, die werden dann doch +alle im Augenblick von Ihnen fortlaufen, und wer wird +Ihnen dann noch den Pachtzins zahlen!“ wandte Felissata +Michailowna ein. +</p> + +<p> +„Gewiß, alle werden fortlaufen,“ behauptete erregt +Anna Nikolajewna. +</p> + +<p> +<a id="page-189" class="pagenum" title="189"></a> +„Gott im Himmel! Werden sie wirk–lich fortlaufen?“ +fragte der Fürst verwundert. +</p> + +<p> +„Unbedingt! Im Augenblick werden sie alle fortlaufen +und Sie allein lassen!“ versicherte auch Natalja +Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Gott im Himmel! Nun, dann werde ich sie nicht +freigeben. Wie gesagt, es war von mir auch nur so +gemeint.“ +</p> + +<p> +„So ist es auch bedeutend besser, Onkelchen,“ +meinte Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna hatte schweigend zugehört +und beobachtet. Es schien ihr, daß der Fürst sie vollkommen +vergessen hatte ... +</p> + +<p> +„Erlauben Sie, Fürst,“ begann sie laut und würdevoll, +„daß ich Ihnen meinen Mann vorstelle – Afanassij +Matwejewitsch. Er ist absichtlich vom Gut hergekommen, +sobald er nur gehört hatte, daß Sie bei mir +abgestiegen seien.“ +</p> + +<p> +Afanassij Matwejewitsch lächelte und nahm eine +strammere Haltung an. Er glaubte, daß man ihn gelobt +habe. +</p> + +<p> +„Ah, freut mich, freut mich!“ sagte der Fürst. „Afanassij +Matwejewitsch! Erlauben Sie, mir fällt etwas +ein ... Afana–ssij Matwe–itsch. Nun ja, das ist +dieser, der auf dem Gut lebt. Charmant, charmant, +freut mich wie gesagt. Mein Lieber!“ – er wandte +sich an Mosgljäkoff – „das ist doch derselbe, weißt +du noch, der in dem Verse vorkam. Wie war das +doch? Kaum ist der Mann zur Tür hinaus, so fährt +die Frau ... nun ja, auch die Frau geht irgend wohin.“ +</p> + +<p> +<a id="page-190" class="pagenum" title="190"></a> +„Ach, ganz recht! ‚Kaum ist der Mann zur Tür +hinaus, da fährt die Frau schon aus dem Haus‘ – +das ist ja aus dem Vaudeville, das im vergangenen +Jahr hier gespielt wurde!“ griff Felissata Michailowna +auf. +</p> + +<p> +„Nun ja, wie gesagt: aus dem Haus. Ich ver–ges–se +es immer. Charmant, charmant! Und Sie +sind also derselbe? Freut mich, freut mich, Sie kennen +zu lernen,“ sagte der Fürst und reichte Afanassij Matwejewitsch, +ohne sich vom Stuhl zu erheben, die Hand. +„Nun und wie geht es mit Ihrer Gesundheit?“ +</p> + +<p> +„Hm ...“ +</p> + +<p> +„Er ist gesund, mein Fürst, ganz gesund,“ antwortete +Marja Alexandrowna eilig. +</p> + +<p> +„Nun ja, das sieht man auch, daß er gesund ist. +Und Sie leben immer auf dem Gute? Nun ja, es +freut mich sehr. Und wie rote Wangen er hat und die +ganze Zeit freut er sich ...“ +</p> + +<p> +Afanassij Matwejewitsch lächelte, verbeugte sich +und klappte sogar die Absätze zusammen. Nach der +letzten Bemerkung des Fürsten konnte er nicht mehr an +sich halten und platzte plötzlich in der dümmsten Weise +in lautes Lachen aus. Schallendes Gelächter erhob +sich. Die Damen wieherten förmlich vor Vergnügen. +Sina errötete heiß und blickte mit blitzenden Augen +Marja Alexandrowna an, die ihrerseits fast barst vor +Wut. Es war höchste Zeit, dem Gespräch eine andere +Wendung zu geben. +</p> + +<p> +„Wie haben Sie geruht, mein Fürst?“ erkundigte +sie sich mit honigsüßer Stimme, während sie gleichzeitig +durch einen zornigen Blick ihrem Gatten zu verstehen +<a id="page-191" class="pagenum" title="191"></a> +gab, daß er sich sofort auf seinen Platz niederzulassen +hatte. +</p> + +<p> +„Oh, ich habe sehr schön geschla–fen,“ sagte der +Fürst, „und wissen Sie, ich habe einen ent–zück–enden +Traum gehabt, einen entzück–enden Traum!“ +</p> + +<p> +„Einen Traum! Ach, ich habe es so gern, wenn +man Träume erzählt,“ rief Felissata Michailowna aus. +</p> + +<p> +„Und ich auch! Ich habe es auch sehr gern!“ +stimmte ihr Natalja Dmitrijewna bei. +</p> + +<p> +„Einen ent–zückenden Traum,“ wiederholte der +Fürst mit süßem Lächeln, „dafür aber ist er das größte +Geheim–nis!“ +</p> + +<p> +„Was, können Sie ihn denn nicht erzählen? Aber +dann muß es ja ein ganz außergewöhnlicher Traum +sein?“ fragte Anna Nikolajewna. +</p> + +<p> +„Das größ–te Geheim–nis!“ wiederholte der +Fürst, der mit Vergnügen die Neugier der Damen +reizte. +</p> + +<p> +„Dann muß er ja furchtbar interessant sein!“ +</p> + +<p> +„Ich wette, daß der Fürst im Traum vor irgend +einer Schönheit auf den Knien gelegen und eine Liebeserklärung +gemacht hat,“ rief Felissata Michailowna +aus. „Nun, gestehen Sie nur, Fürst, daß es nichts +anderes ist! Lieber Fürst, lieber guter Fürst, gestehen +Sie es nur!“ +</p> + +<p> +„Gestehen Sie es, Fürst, gestehen Sie es!“ wurde +von allen Seiten gebeten. +</p> + +<p> +Der Fürst vernahm feierlich und mit wahrer Wonne +diese Ausrufe. Die Annahme Felissata Michailownas +schmeichelte seiner Eigenliebe ganz außerordentlich. +Es fehlte nicht viel und er hätte sich die Lippen geleckt. +</p> + +<p> +<a id="page-192" class="pagenum" title="192"></a> +„Wenn ich auch gesagt habe, daß mein Traum das +größ–te Geheim–nis ist,“ antwortete er schließlich, +„so bin ich doch gezwungen, einzugestehen, daß Sie, +meine Gnädigste, ihn zu meiner Ver–wun–derung +vollkom–men erra–ten haben.“ +</p> + +<p> +„Erraten!“ rief Felissata Michailowna begeistert +aus. „Nun, Fürst! Jetzt machen Sie, was Sie wollen, +aber Sie müssen uns mitteilen, wer diese Schönheit +ist!“ +</p> + +<p> +„Das müssen Sie unbedingt!“ +</p> + +<p> +„Ist es eine hiesige?“ +</p> + +<p> +„Ach, <em>lieber</em> Fürst, sagen Sie es uns doch!“ +</p> + +<p> +„Lieber, guter, einziger Fürst, sagen Sie es uns, +sagen Sie es uns!“ ertönte es von allen Seiten. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mesdames, mesdames!</span> ... Wenn Sie es +wirk–lich so nachdrücklich wissen wollen, so kann ich +Ihnen ... nur eines mitteilen, daß sie das bezau–berndste +und, man kann wohl sagen, makelloseste Mädchen +ist von allen, die ich kenne!“ +</p> + +<p> +Der Fürst zerfloß vor Wonne. +</p> + +<p> +„Das bezauberndste! ... Und ... eine hiesige! +Wer könnte das sein?“ fragten sich die Damen, die bedeutsame +Blicke und Winke austauschten. +</p> + +<p> +„Selbstverständlich doch diejenige, die hier als erste +Schönheit gilt,“ sagte Natalja Dmitrijewna, rieb ihre +roten Riesenhände und blickte mit ihren Katzenaugen +vielsagend Sina an. Gleichzeitig wandten sich auch +die Blicke aller anderen Sina zu. +</p> + +<p> +„Aber wie denn, Fürst, wenn Sie solche Träume +haben – weshalb heiraten Sie dann nicht in Wirklichkeit?“ +<a id="page-193" class="pagenum" title="193"></a> +fragte die naseweise Felissata Michailowna +mit einem vielsagenden Blick ringsum. +</p> + +<p> +„Und wie schön wir Sie verheiraten würden!“ +griff eine andere Dame auf. +</p> + +<p> +„Ach, <em>lieber</em> Fürst, heiraten Sie doch, bitte, +bitte!“ +</p> + +<p> +„Heiraten Sie, heiraten Sie!“ ertönte es von +allen Seiten. „Weshalb sollen Sie denn nicht heiraten? +...“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... weshalb soll ich denn nicht heiraten,“ +meinte auch der Fürst, der von all diesen Ausrufen ganz +konfus geworden war. +</p> + +<p> +„Aber Onkel!“ rief plötzlich Mosgljäkoff dazwischen. +</p> + +<p> +„Nun ja, mein Lieber, ich verstehe dich! Wie gesagt, +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich bin nicht mehr fähig zu heiraten, +und nachdem ich hier einen bezau–bernden Abend bei +unserer liebenswürdigen Hausfrau verbracht habe, +werde ich mich morgen früh zum Priestermönch Mis–saïl +in die Ein–siedelei begeben und von dort dann +direkt ins Ausland fahren, um bequemer die Fortschritte +der europä–ischen Bildung verfol–gen zu +können.“ +</p> + +<p> +Sina erbleichte und sah ihre Mutter an. Doch +Marja Alexandrowna hatte sich schon entschlossen. Bis +hierzu hatte sie nur „abgewartet“, geprüft, denn sie +sagte sich, daß ihre Feinde sie überholt hatten. Endlich +begriff sie alles und sie beschloß sofort, die hundertköpfige +Hydra mit einem einzigen Schlage zu besiegen. +Majestätisch erhob sie sich aus ihrem Lehnstuhl, trat +mit festen Schritten an den Tisch und maß mit stolzem +<a id="page-194" class="pagenum" title="194"></a> +Blick ihre zwergenhaften Feinde. Feuer der Begeisterung +leuchtete in diesem Blick. Sie hatte sich entschlossen, +alle diese gehässigen Klatschbasen vor den Kopf +zu stoßen, den Schurken Mosgljäkoff einfach zu vernichten, +wie eine Schabe zu zerdrücken und mit einem einzigen +entschlossenen und kühnen Schlage ihren ganzen +verlorenen Einfluß auf den fürstlichen Idioten wieder +zu erobern. Versteht sich, dazu gehörte eine ungewöhnliche +kalte Frechheit, um die aber war Marja Alexandrowna +nie verlegen. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mesdames</span>,“ hub sie feierlich und majestätisch +an (Marja Alexandrowna liebte überhaupt sehr Feierlichkeit), +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich habe lange Ihrem Gespräch +zugehört, Ihren heiteren und geistvollen Scherzen, und +ich finde, daß es jetzt Zeit ist und die Reihe an mich +kommt, auch ein Wort zu sagen. Wie Sie wissen, haben +wir uns hier alle ganz zufällig zusammengefunden – +und das freut mich so unsäglich, so unsäglich! Niemals +würde ich mich entschlossen haben, das wichtige Familiengeheimnis +als erste allen kund zu tun und es früher +zu verbreiten, als es das gewöhnlichste Anstandsgefühl +verlangt. Vor allem bitte ich deshalb meinen lieben +Gast um Verzeihung. Es scheint mir aber, daß er selbst +durch entfernte Anspielungen auf denselben Umstand +aufmerksam machen will, was mich auf den Gedanken +kommen läßt, daß ihm die formelle und feierliche Mitteilung +unseres Familiengeheimnisses nicht nur keineswegs +unangenehm sein würde, sondern von ihm geradezu +gewünscht werde ... Nicht wahr, Fürst, ich täusche +mich doch nicht?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, Sie täuschen sich nicht ... und es freut +<a id="page-195" class="pagenum" title="195"></a> +mich, freut mich sehr ...“ sagte der Fürst, der nicht +im geringsten begriff, wovon die Rede war. +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna hielt zur Erhöhung des Eindrucks +einen Augenblick inne, um Atem zu schöpfen. Sie +übersah die ganze Gesellschaft: alle Gäste horchten mit +einer fast raubtierhaften Gier auf ihre Worte. Mosgljäkoff +zuckte zusammen. Sina errötete und erhob sich, +und Afanassij Matwejewitsch schneuzte sich, in Erwartung +eines außergewöhnlichen Ereignisses, auf alle +Fälle. +</p> + +<p> +„Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, ich bin mit Freuden bereit, Ihnen +mein Familiengeheimnis anzuvertrauen. Heute, +nach dem Mittagessen hat der Fürst, hingerissen von +der Schönheit und ... den Vorzügen meiner Tochter, +mir die Ehre erwiesen, um ihre Hand anzuhalten. +Fürst!“ schloß sie mit einer Stimme, die von Tränen +und Aufregung zitterte, „Sie dürfen nicht, Sie können +mir wegen meiner Unbescheidenheit nicht böse sein! +Nur die übergroße Freude hat es vermocht, meinem +Herzen vorzeitig dieses liebe Geheimnis zu entreißen +und ... welche Mutter würde mich deshalb verurteilen?“ +</p> + +<p> +Ich finde keine Worte, um den Eindruck zu schildern, +den Marja Alexandrownas unerwartete Mitteilung +machte. Alle schienen erstarrt zu sein vor Verwunderung. +Die treubrüchigen Freundinnen, die Marja +Alexandrowna damit hatten einschüchtern wollen, +daß sie bereits alles wußten, die sie mit der vorzeitigen +Aufdeckung des Geheimnisses – und zwar nur in der +Form von Andeutungen – zu vernichten meinten, waren +jetzt ihrerseits durch diese dreiste Aufrichtigkeit vernichtet. +<a id="page-196" class="pagenum" title="196"></a> +Und dieses gewagte Spiel entbehrte auch nicht +einer inneren Kraft: „Folglich wird der Fürst tatsächlich +freiwillig Sina heiraten? Folglich ist er nicht in +die Falle gelockt, nicht betrunken gemacht, nicht betrogen +worden? Folglich wird er nicht heimlich, nicht hinterrücks +verheiratet? Folglich fürchtet Marja Alexandrowna +nichts und niemanden? Folglich läßt sich diese +Heirat durch nichts mehr zerstören, denn der Fürst heiratet +doch aus eigenem freien Willen!“ Einen Augenblick +hörte man allgemeines Getuschel, das sich dann +plötzlich in Freuderufen entlud. Als erste stürzte Natalja +Dmitrijewna zu Marja Alexandrowna, um sie in +ihre Arme zu schließen; ihr folgte Anna Nikolajewna +und dieser Felissata Michailowna. Alle sprangen von +ihren Plätzen auf, alle gerieten sie in ein unentwirrbares +Durcheinander. Viele Damen waren bleich vor +Wut. Sina wurde mit Glückwünschen überhäuft. Sogar +an Afanassij Matwejewitsch klammerte man sich. +Marja Alexandrowna breitete malerisch die Arme aus +und drückte fast mit Gewalt die Tochter an ihre Brust. +Nur der Fürst allein blickte mit einer gewissen sonderbaren +Verwunderung auf die ganze Szene, wenn er +auch immer noch liebenswürdig lächelte. Übrigens +gefiel ihm der Tumult zum Teil sehr gut. Und als die +Mutter ihr Kind umarmte, da zog er sein Schnupftuch +hervor und wischte sich eine Träne aus seinem Auge. +Natürlich stürzte man sich dann auch auf ihn mit +Glückwünschen. +</p> + +<p> +„Wir gratulieren, Fürst! Wir gratulieren!“ ertönte +es von allen Seiten. +</p> + +<p> +„Also Sie heiraten?“ +</p> + +<p> +<a id="page-197" class="pagenum" title="197"></a> +„Sie heiraten also wirklich?“ +</p> + +<p> +„Lieber Fürst, dann heiraten Sie also?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nun ja,“ antwortete der Fürst, der mit +den Glückwünschen und der Aufregung sehr zufrieden +war, „und ich gestehe Ihnen, daß mir am meisten Ihre +liebe Teil–nahme gefällt, die Sie mir jetzt bewei–sen +und die ich nie-mals vergessen werde, nie-mals. +Charmant, charmant! Sie haben mich sogar bis zu +Trä–nen gerührt ...“ +</p> + +<p> +„Küssen Sie mich, Fürst!“ schrie lauter als das +Geschrei aller anderen Felissata Michailowna. +</p> + +<p> +„Und ich gestehe Ihnen,“ fuhr der Fürst fort, obschon +er von allen Seiten beständig unterbrochen wurde, +„am meisten wundert es mich, daß Marja Iwa–now–na, +unsere ehr–würdige Gastgeberin, mit einer so +frappie–renden Genau-igkeit meinen Traum erraten +hat. Ganz als hätte sie ihn an meiner Stelle gesehen! +Ein auf–fallender Scharfblick, in der Tat! Auf–fallender +Scharf–blick!“ +</p> + +<p> +„Ach, Fürst, Sie reden wieder von Ihrem Traum!“ +</p> + +<p> +„Gestehen Sie nur, Fürst, gestehen Sie nur!“ +drängten die ihn umringenden Damen. +</p> + +<p> +„Ja, Fürst, wozu verheimlichen, es ist Zeit, das +Geheimnis aufzudecken!“ sagte Marja Alexandrowna +entschlossen und streng. „Ich habe Ihre feinfühlige +Allegorie, Ihr bezauberndes Zartgefühl verstanden, mit +dem Sie mir andeuteten, daß Sie Ihre Verlobung zu +veröffentlichen wünschten. Ja, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>, es ist +wahr: heute ist der Fürst <em>im wachen Zustande</em> +und nicht im Traum vor meiner Tochter niedergekniet +<a id="page-198" class="pagenum" title="198"></a> +und hat ihr in aller Form einen Heiratsantrag gemacht.“ +</p> + +<p> +„Ja, es war vollkom–men wie im Wachen und sogar +mit denselben Neben–um–ständen,“ bestätigte +der Fürst. „Mademoiselle,“ fuhr er fort, sich mit ungewöhnlicher +Höflichkeit an Sina wendend, die eigentlich +noch nicht zu sich gekommen war, „Mademoiselle! Ich +schwöre Ihnen, daß ich nie–mals Ihren Namen zu +nennen gewagt hätte, wenn er nicht von ande–ren vor +mir genannt worden wäre. Es war ein be–zau–bernder +Traum, und ich schätze mich dop–pelt glücklich, +daß ich es Ihnen jetzt sa–gen kann. Charmant! +Charmant! ...“ +</p> + +<p> +„Aber um’s Himmels willen, was ist denn das? Er +redet immer noch von einem Traum?“ flüsterte Anna +Nikolajewna der erregten und etwas bleichen Marja +Alexandrowna zu. +</p> + +<p> +Doch wehe! – Marja Alexandrowna zitterte das +Herz auch ohne diese Fragen. +</p> + +<p> +„Wie ist denn das?“ flüsterten die Damen untereinander +und tauschten vielsagende Blicke aus. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, Fürst,“ hub Marja Alexandrowna +mit schmerzlich verzogenem Lächeln an, „ich +kann Ihnen nur sagen, daß Sie mich in Erstaunen +setzen. Was ist das für eine sonderbare Traumidee, die +Sie da haben? Ich sage Ihnen, ich war bis jetzt im +Glauben, daß Sie nur scherzten, aber ... Wenn es +ein Scherz sein soll, so ist er zum mindesten sehr unangebracht +... Ich werde ... ich will es Ihrer Zerstreutheit +zuschreiben, aber ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-199" class="pagenum" title="199"></a> +„Das ist bei ihm vielleicht tatsächlich nur aus Zerstreutheit,“ +meinte auch Natalja Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Nun ja ... vielleicht auch aus Zerstreutheit,“ +bestätigte der Fürst, der immer noch nicht begriff, um +was es sich handelte und was man von ihm eigentlich +wollte. „Und den–ken Sie sich, ich werde Ihnen sogleich +eine A–nek–do–te erzählen. Dreimal ladet +man mich ein, in Petersburg war es, zu einer Ein–sargung, +es war <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">une maison bourgeoise mais +honnette</span>, und ich glaubte, es sei zu einem Namensfest. +Das Namensfest war aber schon vor einer Woche +gewesen. Ich bestellte also ein Kame–lienbukett für +die Dame. Nun ja, ich kam hin und was sah ich? Ein +eh–renwerter, bejahrter Mann lag auf dem Tisch, so +daß ich mich nur wun–derte. Und ich wuß–te gar +nicht, wo ich mein Bukett lassen sollte.“ +</p> + +<p> +„Aber Fürst, jetzt ist es uns doch nicht um solche +Geschichten zu tun!“ unterbrach ihn Marja Alexandrowna +ärgerlich. „Meine Tochter hat es nicht nötig, +Freier zu angeln: aber heute nachmittag haben Sie ihr +selbst hier an diesem Flügel einen Heiratsantrag gemacht. +Ich habe Sie nicht dazu veranlaßt ... Ich +kann sogar sagen, daß es mich überrascht hat ... Versteht +sich, es kam mir damals schon der Gedanke, aber +ich schob ihn auf bis zu Ihrem Erwachen. Doch ich +bin Mutter ... sie ist mein Kind ... Sie haben +soeben von einem Traum gesprochen und ich glaubte, +Sie wollten in der Form einer Allegorie von Ihrer +Verlobung erzählen. Ich weiß sehr wohl, daß man +Sie vielleicht davon ablenken will ... und ich ahne +sogar, wer es tut ... aber erklären Sie sich, Fürst, +<a id="page-200" class="pagenum" title="200"></a> +erklären Sie sich schneller, ausführlicher. Solche +Scherze darf man sich nicht in einem vornehmen Hause +erlauben ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, solche Scherze darf man sich nicht in +einem vornehmen Hause erlauben,“ pflichtete ihr der +Fürst ahnungslos bei. Übrigens wurde er doch etwas +unruhig. +</p> + +<p> +„Aber das ist doch keine Antwort auf meine Frage, +Fürst! Ich ersuche Sie, mir entscheidend zu antworten: +bestätigen Sie, bestätigen Sie es hier vor allen Anwesenden, +daß Sie vorhin um die Hand meiner Tochter +angehalten haben.“ +</p> + +<p> +„Nun ja, ich bin bereit zu bestätigen. Wie gesagt, +ich habe das alles schon erzählt und Felissata Jakowlewna +hat meinen Traum vollkom–men erraten.“ +</p> + +<p> +„Nicht Traum! nicht Traum!“ rief Marja Alexandrowna +wütend aus. „Es war kein Traum, sondern Wirklichkeit, +Fürst, Wirklichkeit, hören Sie: Wirklichkeit.“ +</p> + +<p> +„Wirk–lich–keit?“ rief der Fürst höchst verwundert +aus und erhob sich vor Überraschung. „Da hörst +du’s, mein Lieber! Was du vorhin pro–phezei–test, +ist jetzt richtig eingetroffen!“ rief er Mosgljäkoff zu. +„Aber ich versichere Sie, verehrte Marja Alexandrowna, +daß Sie sich täuschen! Ich bin voll–kom–men +ü–ber–zeugt, daß es mir nur ge–träumt hat!“ +</p> + +<p> +„Großer Gott!“ Marja Alexandrowna schlug die +Hände zusammen. +</p> + +<p> +„Beruhigen Sie sich, Marja Alexandrowna,“ +mischte sich Natalja Dmitrijewna ein, „der Fürst hat +es vielleicht nur vergessen ... er wird sich dessen wieder +entsinnen.“ +</p> + +<p> +<a id="page-201" class="pagenum" title="201"></a> +„Ich wundere mich über Sie, Natalja Dmitrijewna,“ +entgegnete Marja Alexandrowna unwillig, „kann +man denn so etwas vergessen? Wer vergißt denn so +etwas? Ich bitte Sie, Fürst! Oder wollen Sie sich +über uns lustig machen? Oder wollen Sie einem der +Gecken nachäffen, wie sie zur Zeit der Régence in der +Mode waren und die jetzt Dumas schildert? Irgend +einen Fairelacour? Aber ganz abgesehen davon, daß +es Ihren Jahren nicht ansteht, wird es Ihnen auch +nicht gelingen! Meine Tochter ist keine französische +Vicomtesse! Vorhin hat sie hier, sehen Sie, hier gestanden +und Ihnen eine Romanze vorgesungen, und da +sind Sie hier vor ihr niedergekniet und haben ihr einen +Heiratsantrag gemacht. Ich phantasiere doch nicht! +Ich schlafe doch nicht! Sagen Sie doch, Fürst: schlafe +ich oder schlafe ich nicht?“ +</p> + +<p> +„Nun ja ... wie gesagt, vielleicht auch nicht +...“ antwortete der verwirrte Fürst. „Ich will nur +sagen, daß ich jetzt, glaube ich, <em>nicht</em> schla–fe. Vorhin, +sehen Sie, schlief ich, und des–halb hat mir auch +geträumt, weil ich, wie gesagt, schlief ...“ +</p> + +<p> +„Großer Gott, was ist das: schlief – schlief nicht, +schlief nicht – schlief! Da soll der Teufel daraus klug +werden! Sie phantasieren doch nicht, Fürst?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, der Teufel soll daraus klug werden ... +übrigens, ich glaube, daß ich jetzt ganz aus dem Kon–zept +gekommen bin ...“ murmelte der Fürst mit unruhigen +Blicken auf seine Umgebung. +</p> + +<p> +„Aber wie haben Sie denn das im Traum sehen +können, wenn ich Ihnen diesen Traum mit allen Einzelheiten +<a id="page-202" class="pagenum" title="202"></a> +erzähle, während Sie ihn doch noch keinem +einzigen Menschen erzählt haben!“ +</p> + +<p> +„Aber es kann ja doch sein, daß der Fürst ihn doch +schon irgend einem mitgeteilt hat,“ meinte Natalja +Dmitrijewna. +</p> + +<p> +„Nun ja, es kann ja doch sein, daß ich ihn jemand +schon mitgeteilt habe,“ wiederholte der jetzt völlig konfus +gewordene Fürst. +</p> + +<p> +„Das ist mal eine Komödie!“ flüsterte Felissata +Michailowna ihrer Nachbarin zu. +</p> + +<p> +„Großer Gott! Da kann einem doch die letzte Geduld +reißen!“ rief Marja Alexandrowna aus und sie +rang die Hände vor Verzweiflung. „Sie hat Ihnen +eine Romanze vorgesungen, eine Romanze! Glauben +Sie denn, daß auch dies Ihnen nur geträumt hat?“ +</p> + +<p> +„Nun ja, in der Tat, es war, als hätte sie auch +gesungen,“ murmelte der Fürst in Gedanken versunken. +</p> + +<p> +Plötzlich belebte eine Erinnerung sein Gesicht. +</p> + +<p> +„Mein Lieber!“ rief er aus, sich an Mosgljäkoff +wendend, „ich hatte es ganz vergessen, dir vorhin zu +sagen, daß sie tatsächlich noch so etwas wie eine Roman–ze +sang und in dieser Romanze war die Rede +von Schlössern und dann war dort auch noch irgend +ein Troubadour! Nun ja, ich entsinne mich dessen +... so daß ich sogar wein–te ... Und jetzt bin ich +in der größten Verle–genheit, denn es will mir scheinen, +als ob es tatsächlich in Wirk–lich–keit gewesen +wäre und nicht nur im Traum.“ +</p> + +<p> +„Offen gestanden, Onkelchen,“ bemerkte Mosgljäkoff +möglichst ruhig, obgleich seine Stimme von innerer +Aufregung zu zittern schien, „offen gestanden, +<a id="page-203" class="pagenum" title="203"></a> +mir scheint es, daß dieses ganze Problem sehr leicht zu +lösen ist. Ich glaube, daß Sie tatsächlich Gesang gehört +haben. Sinaïda Afanassjewna singt vorzüglich. +Nach Tisch sind Sie hierher geführt worden und Sinaïda +Afanassjewna hat Ihnen eine Romanze vorgesungen. +Ich war damals nicht hier, Sie aber haben +sich wahrscheinlich hinreißen lassen, haben an die guten +alten Zeiten gedacht, wahrscheinlich an die Stunden, +in denen Sie selbst Romanzen gesungen haben ... +mit der Vicomtesse, von der Sie uns noch am Vormittage +erzählten. Nun und dann, als Sie Ihr Schläfchen +machten, hat Ihnen infolge der angenehmen Eindrücke +geträumt, daß Sie verliebt seien und einen Heiratsantrag +machten ...“ +</p> + +<p> +Marja Alexandrowna war einfach betäubt. Eine +solche Frechheit hätte sie denn doch nicht für möglich +gehalten. +</p> + +<p> +„Ach, mein Lieber, das war ja auch tatsächlich so!“ +rief der Fürst begeistert aus. „Gerade infolge der angenehmen +Ein–drücke! Ich erinnere mich ganz deut–lich +dessen, daß mir eine Romanze vorgesungen wurde +... deshalb wollte ich im Traum auch heiraten. Und +die Vicomtesse war gleichfalls ... Nein, wie klug +du das entwickelt hast, mein Lieber! Nun ja, ich bin +jetzt voll–kom–men überzeugt, daß ich das alles nur +im Traum gesehen habe! Marja Wassiljewna! +Ich versichere Sie, daß es mir nur geträumt hat! Es +war nur ein Traum. An–derenfalls würde ich nicht +mit Ihren e–delsten Gefüh–len gespielt haben ...“ +</p> + +<p> +„Ah! Jetzt sehe ich, wer hier die Hand im Spiel +hat!“ schrie Marja Alexandrowna, außer sich vor Wut, +<a id="page-204" class="pagenum" title="204"></a> +und sie wandte sich an Mosgljäkoff. „Sie sind es, +mein Herr, Sie sind der Ehrlose, Sie allein haben das +alles getan! Sie haben aus Rache dafür, daß Sie +einen Korb erhielten, diesem unglücklichen Idioten den +Kopf verdreht! Diese Schmach wirst du mir aber bezahlen, +du gemeiner Mensch! Jawohl! Das wirst du +mir bezahlen, bezahlen!“ +</p> + +<p> +„Marja Alexandrowna!“ schrie Mosgljäkoff, rot +wie ein Krebs, „Ihre Worte sind dermaßen ... Ich +weiß gar nicht mehr, wie Ihre Worte sind ... Ich +weiß nur, daß keine vornehme Dame sich erlauben +wird ... ich verteidige zum mindesten meinen Verwandten. +Sie müssen doch zugeben, daß, einen +alten Mann so zu umgarnen, so in die Falle +zu locken ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, in die Falle zu locken,“ wiederholte der +Fürst, der sich hinter Mosgljäkoff zu verstecken versuchte. +</p> + +<p> +„Afanassij Matwejewitsch!“ kreischte Marja Alexandrowna +mit einer ihr ganz fremden Stimme. „Hören +Sie denn nicht, wie wir beschimpft und entehrt +werden? Oder haben Sie sich bereits von jeder Pflicht +uns gegenüber losgesagt? Sind Sie wirklich kein Familienvater, +sondern nur ein lebloser Holzklotz? Was +blinzeln Sie mich an? Ein anderer Gatte hätte schon +längst die seiner Familie zugefügte Schmach mit seinem +Blute abgewaschen! ...“ +</p> + +<p> +„Mütterchen!“ hub Afanassij Matwejewitsch wichtig +an, offenbar sehr stolz darauf, daß man endlich auch +seiner bedurfte. „Mütterchen! Hat dir das schließlich +nicht wirklich nur geträumt und dann, nachdem du +<a id="page-205" class="pagenum" title="205"></a> +aufgewacht bist, hast du alles verwechselt und auf deine +Art verdreht ... –“ +</p> + +<p> +Doch es war Afanassij Matwejewitsch nicht vergönnt, +seine scharfsinnige Erklärung zu Ende sprechen +zu können. Bis dahin hatten die Gäste noch an sich +gehalten und sich nur mit verborgener Schadenfreude +den Anschein würdevollen Ernstes gegeben. Jetzt aber +brach alles in schallendes, unbändiges Gelächter aus. +Marja Alexandrowna, die ihr ganzes Comme-il-faut +vergaß, wollte sich wie es schien, auf ihren Gatten +stürzen, um ihm sofort die Augen auszukratzen, wurde +aber mit Gewalt zurückgehalten. Natalja Dmitrijewna +aber benutzte die Gelegenheit, um noch etwas +Gift hinzuzuträufeln. +</p> + +<p> +„Ach, Marja Alexandrowna, vielleicht ist es auch +wirklich so gewesen, seien Sie doch nicht so heftig,“ +sagte sie mit honigsüßer Stimme. +</p> + +<p> +„Was soll so gewesen sein? Was soll denn so gewesen +sein!“ schrie Marja Alexandrowna, die noch +nicht recht begriff. +</p> + +<p> +„Ach Marja Alexandrowna, das kommt doch zuweilen +vor ...“ +</p> + +<p> +„Was kommt zuweilen vor?“ fuhr Marja Alexandrowna +auf. +</p> + +<p> +„Vielleicht hat es Ihnen wirklich nur geträumt.“ +</p> + +<p> +„Geträumt? Mir? Geträumt? Und Sie wagen +es, mir das offen ins Gesicht zu sagen!“ +</p> + +<p> +„Wieso, vielleicht ist es auch wirklich so gewesen,“ +meinte Felissata Michailowna. +</p> + +<p> +„Nun ja, vielleicht ist es wirk–lich so gewesen,“ +murmelte auch der Fürst. +</p> + +<p> +<a id="page-206" class="pagenum" title="206"></a> +„Auch er noch! Er noch! Großer Gott!“ stöhnte +Marja Alexandrowna, die Hände zusammenschlagend. +</p> + +<p> +„Wie, Sie verzweifeln, Marja Alexandrowna! +Denken Sie doch daran, daß Gott es ist, der uns Träume +schickt. Und wenn Gott etwas will, dann will er +allein es, und in seiner Hand liegt alles. Da lohnt +es sich gar nicht mehr, sich zu ärgern.“ +</p> + +<p> +„Nun ja, da lohnt es sich gar nicht mehr, sich zu +ärgern ...“ pflichtete der Fürst bei. +</p> + +<p> +„Ja, halten Sie mich denn für verrückt?“ brachte +Marja Alexandrowna vor Aufregung kaum noch hervor. +Das ging denn doch über menschliche Kraft! Sie +suchte schnell einen Stuhl und – „fiel in Ohnmacht“. +Alles stürzte zu ihr. +</p> + +<p> +„Sie ist ja nur aus Anstand in Ohnmacht gefallen,“ +flüsterte Natalja Dmitrijewna ihrer Freundin +Anna Nikolajewna ins Ohr. +</p> + +<p> +In diesem Augenblick der größten Bestürzung und +der höchsten Spannung trat plötzlich eine neue Person +vor, eine, die bis dahin kein Wort gesprochen hatte, +und die ganze Szene änderte mit einem Schlage ihren +Charakter ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-14"> +<a id="page-207" class="pagenum" title="207"></a> +XIV. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">S</span><span class="postfirstchar">inaïda</span> Afanassjewna war, im allgemeinen gesprochen, +sehr romantisch veranlagt. Ich weiß nicht, ob +das gerade daher kam, daß sie, wie Marja Alexandrowna +behauptete, „diesen Dummkopf Shakespeare“ gar +zu viel mit „ihrem Lehrer“ gelesen hatte, jedenfalls +aber hatte sich Sina noch nie zuvor einen so außergewöhnlich +romantischen, oder richtiger, heroischen +Ausfall erlaubt, wie es der war, den ich jetzt wiedergeben +will. +</p> + +<p> +Bleich, mit Entschlossenheit im Blick, doch fast zitternd +vor Aufregung trat sie, wunderbar schön in ihrer +Empörung, mit langsamen Schritten vor. Mit langem, +herausforderndem Blick schaute sie die Anwesenden +ringsum an und wandte sich dann in der plötzlich eingetretenen +Stille an die Mutter, die schon bei ihrer +ersten Bewegung aus der Ohnmacht wieder erwacht +war und die Augen weit aufgerissen hatte. +</p> + +<p> +„Mama,“ sagte Sina, „wozu betrügen? Wozu +sich durch Lügen erniedrigen? Es ist ja alles ohnehin +schon so schmutzig, daß es sich wahrlich nicht der erniedrigenden +Mühe lohnt, diesen Schmutz zu verdecken!“ +</p> + +<p> +„Sina! Sina! Was ist mit dir, mein Kind? +<a id="page-208" class="pagenum" title="208"></a> +Besinne dich!“ rief erschrocken Marja Alexandrowna +aus, und sie sprang auf. +</p> + +<p> +„Ich habe dir gesagt, ich habe dir im voraus gesagt, +Mama, daß ich diese ganze Schmach nicht ertragen +werde,“ fuhr Sina fort. „Muß man sich denn +wirklich noch mehr erniedrigen, noch mehr besudeln? +Aber weißt du, Mama, ich nehme alles auf mich, denn +ich bin die Schuldigste. Ich ... ich habe durch meine +Einwilligung die Veranlassung zu dieser häßlichen Intrige +gegeben! Du bist meine Mutter, du liebst mich; +du glaubtest nach deiner Auffassung, so wie du es verstehst, +mein Glück zu schaffen. Dir kann man noch verzeihen, +mir aber, mir – niemals!“ +</p> + +<p> +„Sina, willst du denn wirklich erzählen? ... O +Gott! Ich ahnte es, daß dieser Dolchstoß meinem Herzen +nicht erspart bleiben würde!“ +</p> + +<p> +„Ja, Mama, ich werde alles erzählen! Ich bin +beschimpft, wir alle sind beschimpft! ...“ +</p> + +<p> +„Du übertreibst es, Sina! Du bist außer dir und +weißt nicht, was du sprichst! Und wozu willst du denn +erzählen? Was hat das für einen Sinn? ... Die +Schande fällt nicht auf uns ... Ich werde sofort beweisen, +daß die Schande nicht auf uns fällt ...“ +</p> + +<p> +„Nein, Mama!“ rief Sina aus und ihre Stimme +zitterte vor Zorn, „ich will nicht mehr schweigen vor +diesen Leuten, deren Meinung ich verachte und die hergekommen +sind, um sich über uns lustig zu machen! Ich +will ihre Beleidigungen nicht länger ruhig hinnehmen. +Keine einzige von ihnen hat das Recht, mich mit +Schmutz zu bewerfen. Sie sind ja alle sofort bereit, +noch hundertmal Schlimmeres zu tun, als ich oder du, +<a id="page-209" class="pagenum" title="209"></a> +Mama, getan haben. Dürfen sie, können sie überhaupt +unsere Richter sein? ...“ +</p> + +<p> +„Das ist mal schön! Was die sich einbildet! Was +soll denn das bedeuten! <em>Uns</em> zu beleidigen?“ hörte +man von allen Seiten. +</p> + +<p> +„Sie scheint ja wirklich nicht zu wissen, was sie +spricht!“ sagte Natalja Dmitrijewna. +</p> + +<p> +Nebenbei bemerkt, diesmal hatte Natalja Dmitrijewna +vollkommen recht. Wenn Sina diese Damen +für unwürdig hielt, ihre Richter zu sein, weshalb würdigte +sie sie dann solcher Geständnisse? Überhaupt +handelte sie wohl etwas übereilt, – das war späterhin +auch die Meinung der besten Köpfe in Mordassoff. +Alles hätte noch gut werden können! Alles +hätte beigelegt werden können! Es ist ja wahr: auch +Marja Alexandrowna hatte sich selbst vieles eingebrockt +an diesem Abend, und zwar nur durch ihre Überstürzung +und ihren Hochmut. Man hätte ja den idiotischen +Greis nur auszulachen gebraucht! Und eventuell +vor die Tür zu setzen! Sina aber wandte sich, jeder +gesunden Vernunft und der ganzen Mordassower +Weisheit zuwider, an den Fürsten. +</p> + +<p> +„Fürst,“ sagte sie zum Alten, der sich aus Ehrerbietung +sogleich von seinem Platz erhob – dermaßen imponierte +sie ihm in diesem Augenblick. „Verzeihen Sie +mir, verzeihen Sie uns! Wir haben Sie betrogen, +wir haben Sie in die Falle gelockt ...“ +</p> + +<p> +„Wirst du denn nicht endlich schweigen, Unglückselige!“ +rief Marja Alexandrowna in größter Verzweiflung +dazwischen. +</p> + +<p> +„Meine Gnädigste! Meine Gnädigste! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ma charmante +<a id="page-210" class="pagenum" title="210"></a> +enfant</span> ...“ stotterte der Fürst maßlos bestürzt. +</p> + +<p> +Doch der stolze, heftige und im höchsten Grade +phantastische Charakter Sinas zog sie mit sich fort und +ließ sie alle, von der Wirklichkeit geforderten Anstandsregeln +vergessen. Sie vergaß sogar ihre Mutter, die +sich während dieser Geständnisse ihrer Tochter innerlich +geradezu in Krämpfen wand. +</p> + +<p> +„Ja, wir beide haben Sie betrogen, Fürst: meine +Mutter, indem sie Sie veranlassen wollte, mich zu heiraten, +und ich, indem ich auf ihren Vorschlag einging. +Ihnen wurde bei Tisch immer wieder Wein eingeschenkt, +ich willigte ein, zu singen und mich vor Ihnen +zu verstellen ... Sie, der Schwache, Schutzlose, +wurden, wie Pawel Alexandrowitsch sich ausdrückt, +umgarnt, ja, umgarnt um Ihres Reichtums, Ihres +Fürstentitels willen. Alles das war entsetzlich niedrig +und ich will es büßen. Aber ich schwöre Ihnen, daß +ich mich zu dieser Schändlichkeit nicht mit einer schändlichen +Absicht entschlossen habe. Ich wollte ... Doch, +was soll das! Es ist ja eine doppelte Schändlichkeit, +sich in einer solchen Angelegenheit noch rechtfertigen +zu wollen! Ich sage Ihnen nur, daß ich, wenn ich +etwas von Ihnen genommen hätte, dafür Ihr Spielzeug, +Ihre Dienstmagd, Ihre Tänzerin, Ihre Sklavin +gewesen wäre ... Das hatte ich mir geschworen und +heilig hätte ich meinen Schwur gehalten, das weiß +ich!“ +</p> + +<p> +Sie verstummte für einen Augenblick, um Atem zu +schöpfen. Die Gäste schienen alle sprachlos zu sein und +hörten nur mit weit aufgerissenen Augen zu. Der unerwartete +<a id="page-211" class="pagenum" title="211"></a> +und ihnen ganz unverständliche Ausfall Sinas +stieß sie alle förmlich vor den Kopf. Nur der +Fürst war bis zu Tränen gerührt, obschon er kaum die +Hälfte davon verstand, was Sina sagte. +</p> + +<p> +„Aber ich werde Sie hei–raten, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma belle enfant</span>, +wenn Sie es so gern wollen,“ stotterte er, „und es +wird mir eine große Eh–re sein. Nur versichere ich +Sie, das es wirk–lich gleich–sam wie im Traum gewe–sen +ist ... Aber als ob man keine Träume hätte! +Weshalb sich daher beun–ruhigen? Es ist mir sogar, +als hätte ich noch nichts begrif–fen, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>,“ +fuhr er, sich an Mosgljäkoff wendend, fort. „Erkläre +du es mir, bit–te! ...“ +</p> + +<p> +„Und Sie, Pawel Alexandrowitsch,“ unterbrach +ihn Sina, sich gleichfalls an Mosgljäkoff wendend, +„Sie, auf den ich eine Zeitlang fast schon wie auf meinen +zukünftigen Gatten gesehen habe, Sie, der Sie sich +jetzt so grausam an mir gerächt haben, – haben Sie +sich wirklich zu diesen Leuten gesellen können, um mich +herabzureißen und mit Schmutz zu bewerfen? Und +Sie haben gesagt, Sie liebten mich! Doch nicht mir +kommt es zu, Ihnen Vorwürfe zu machen! Ich bin +schuldiger als Sie ... Ich habe Sie gekränkt und +beleidigt, denn ich habe Sie tatsächlich mit Versprechungen +hingehalten und was ich Ihnen heute nachmittag +als Beweis des Gegenteils gesagt habe, war +Lüge und Spitzfindigkeit. Ich habe Sie niemals geliebt +und wenn ich mich entschlossen hätte, Sie zu heiraten, +so hätte ich es nur getan, um irgendwohin fortfahren +zu können, fort aus dieser verwünschten Stadt, +und um diesen ganzen Schmutz hier endlich abschütteln +<a id="page-212" class="pagenum" title="212"></a> +zu dürfen ... Aber eines können Sie mir glauben, +wenn ich Sie geheiratet hätte, wäre ich Ihnen eine gute +und treue Frau gewesen ... Sie haben sich grausam +an mir gerächt ... und wenn es Ihrem Stolz schmeicheln +kann ...“ +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna!“ unterbrach sie Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +„Wenn Sie mich immer noch hassen ...“ +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna!!!“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie mich jemals,“ fuhr Sina fort, die +aufsteigenden Tränen unterdrückend, „wenn Sie mich +jemals geliebt haben ...“ +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna!!!“ +</p> + +<p> +„Sina, Sina! Mein Kind!“ jammerte Marja +Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Ich bin ein Schuft, Sinaïda Afanassjewna, ich +bin ein Schuft und weiter nichts!“ behauptete Mosgljäkoff +und alles geriet in große Aufregung. Ausrufe +der Verwunderung und des Unwillens wurden laut, +doch Mosgljäkoff stand wie angewurzelt auf einem +Fleck, augenscheinlich jedes Gedankens bar. Er konnte +kein Wort mehr hervorbringen. +</p> + +<p> +Für schwache und leere Charaktere, die an ewige +Unterwerfung gewöhnt sind und sich dann einmal entschließen, +sich aufzulehnen und zu protestieren, mit +einem Wort, fest und entschlossen zu sein – für diese +Charaktere gibt es immer eine gewisse Grenze, die das +nahe Ende ihrer kurzen Festigkeit und Entschlossenheit +ist. Ihr Protest pflegt zu Anfang überaus energisch +zu sein. Ihre Energie geht zuweilen sogar bis zur +Raserei. Sie werfen sich gleichsam mit zugekniffenen +<a id="page-213" class="pagenum" title="213"></a> +Augen auf die Hindernisse und laden sich fast stets +eine für ihre Kräfte zu große Last auf die Schultern. +Hat aber dieser rasende Mensch eine nahe Grenze erreicht, +so bleibt er plötzlich, gleichsam erschrocken über +sich selbst, wie betäubt vor der furchtbaren Frage stehen: +„Was habe ich da angerichtet?“ – worauf er alsbald +seinen ganzen Heroismus verliert, womöglich sogar +weint, sich erklären will, auf die Knie fällt, um Verzeihung +bittet, fleht, es wieder beim alten sein zu lassen, +jedenfalls aber nur schneller, so schnell als möglich! ... +Fast dasselbe geschah auch mit Mosgljäkoff. Nachdem +er sich empört, das Unglück heraufbeschworen, das er +jetzt bereits nur sich allein zuschrieb, nachdem er seinem +Zorn und seiner Eigenliebe Genüge getan und sich selbst +in den eigenen Augen verhaßt gemacht hatte, stand er +nun plötzlich, von Gewissensbissen niedergedrückt, vor +dem unerwarteten Auftreten Sinas. Ihre letzten Worte +vernichteten ihn endgültig. Aus dem einen Extrem +ins andere hinüberzuspringen, war für ihn das Werk +eines Augenblicks. +</p> + +<p> +„Ich bin ein Esel, Sinaïda Afanassjewna!“ rief er +in einem Anfall verzweifelter Reue aus. „Nein! Was +Esel! Ein Esel ist noch nichts! Ich bin unvergleichlich +schlechter als ein Esel! Aber ich werde Ihnen +beweisen, Sinaïda Afanassjewna, ich werde Ihnen beweisen, +daß auch ein Esel ein edler Mensch sein kann! +Onkel! Ich habe Sie betrogen! <em>Ich</em>, <em>ich</em>, <em>ich</em> allein +habe Sie betrogen! Sie haben nicht geschlafen; Sie +haben wirklich, in vollkommen wachem Zustande den +Heiratsantrag gemacht, ich aber, ich Schuft, habe aus +Rache, weil man mir einen Korb gegeben hatte, aus +<a id="page-214" class="pagenum" title="214"></a> +Rache Ihnen eingeredet, daß es Ihnen nur geträumt +hätte.“ +</p> + +<p> +„Das sind ja seltsam interessante Dinge, die hier +aufgedeckt werden!“ tuschelte Natalja Dmitrijewna +ihrer Nachbarin Anna Nikolajewna ins Ohr. +</p> + +<p> +„Mein Lieber,“ antwortete der Fürst, „be–ru–hige +dich, bit–te. Du hast mich wirklich erschreckt mit +deinem Geschrei. Ich versichere dich, daß du im Irr–tum +bist ... Ich bin ja schließlich gern zu heiraten bereit, +wenn es nun einmal gar so nötig ist – aber du +hast mir doch noch selbst gesagt, daß es mir nur geträumt +habe ...“ +</p> + +<p> +„O Gott, wie soll ich ihn jetzt überzeugen! Sagen +Sie mir, sagen Sie mir, wie ich ihn jetzt überzeugen +kann! Onkel, Onkelchen! Das ist doch eine wichtige +Sache, das ist doch die wichtigste Familienangelegenheit! +Überlegen Sie es sich doch nur! Denken Sie +doch nach!“ +</p> + +<p> +„Mein Lieber, schön, wie du willst: ich den–ke +nach. Wart mal, laß mich alles erst einmal mir ins +Gedächtnis zurückrufen: zuerst träumte mir von meinem +Kutscher Fe–o–fil ...“ +</p> + +<p> +„Ach, jetzt handelt es sich doch nicht um Ihren +Feofil!“ +</p> + +<p> +„Nun ja, nehmen wir an, daß es sich jetzt nicht um +ihn handle. Dann träumte mir von Napo–le–on, +und dann war es so, als wenn wir getrunken hätten +und eine Dame kam und aß den ganzen Zucker bei +uns auf ...“ +</p> + +<p> +„Aber Onkelchen,“ unterbrach ihn Mosgljäkoff in +einem Augenblick der Verfinsterung seines Gedächtnisses, +<a id="page-215" class="pagenum" title="215"></a> +„das hat Ihnen doch Marja Alexandrowna selbst +nach dem Mittag von Natalja Dmitrijewna erzählt! +Ich war ja doch hier, ich habe es ja selbst gehört! Ich +hatte mich versteckt und sah und lauschte durch einen +Türspalt ...“ +</p> + +<p> +„Was soll denn das heißen, Marja Alexandrowna!“ +schrie Natalja Dmitrijewna dazwischen. „Dann +haben Sie es also auch dem Fürsten erzählt, daß ich bei +Ihnen Zucker aus der Zuckerdose gestohlen hätte! Dann +komme ich also zu Ihnen, um hier Zucker zu stehlen?“ +</p> + +<p> +„Hinaus! Machen Sie, daß Sie fortkommen!“ +schrie Marja Alexandrowna, zur Verzweiflung gebracht. +</p> + +<p> +„Nein, nicht hinaus, Marja Alexandrowna, so dürfen +Sie nicht mit mir sprechen! ... Also ich soll bei +Ihnen Zucker stehlen? Ich habe schon lange gehört, +daß Sie solche Gemeinheiten über mich erzählen! Mir +hat Ssofja Petrowna alles ganz ausführlich erzählt ... +Also ich stehle bei Ihnen Zucker? ...“ +</p> + +<p> +„Aber, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mesdames</span>,“ rief der Fürst dazwischen, +„das hat mir ja nur geträumt! Als ob mir nicht vieles +träu–men kann? ...“ +</p> + +<p> +„Dieses verwünschte Dromedar!“ brummte Marja +Alexandrowna halblaut. +</p> + +<p> +„Was! Ich soll ein Dromedar sein?“ kreischte +Natalja Dmitrijewna. „Und wer sind Sie denn, wenn +man fragen darf? Ich weiß es schon längst, daß Sie +mich ein Dromedar nennen! Ich habe wenigstens ... +ich habe wenigstens einen Mann, Sie aber haben nur +einen Tölpel ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, ich weiß, es war da auch von einem Dromedar +<a id="page-216" class="pagenum" title="216"></a> +die Rede,“ murmelte ahnungslos der Fürst, der +sich seines Gesprächs mit Marja Alexandrowna entsann. +</p> + +<p> +„Wie, auch Sie fangen an! Auch Sie wollen eine +vornehme Dame beschimpfen? Wie wagen Sie es +überhaupt? Wenn ich eine Schachtel bin, so sind Sie +ein einbeiniger Krüppel ...“ +</p> + +<p> +„Wer, ich einbeinig?“ +</p> + +<p> +„Gewiß Sie! Und nicht nur, daß Ihnen ein +Bein fehlt, Ihnen fehlen auch alle Zähne, damit Sie’s +wissen!“ +</p> + +<p> +„Und außerdem ist er noch einäugig!“ schrie Marja +Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Anstelle Ihrer fehlenden Rippen tragen Sie ein +Korsett!“ fügte Natalja Dmitrijewna hinzu. +</p> + +<p> +„Das ganze Gesicht ist auf Sprungfedern!“ +</p> + +<p> +„Kein einziges echtes Haar hat er auf dem Kopf!“ +</p> + +<p> +„Und der Schnurrbart ist dem Esel aufgeklebt!“ +schrie Marja Alexandrowna. +</p> + +<p> +„Aber ... aber die Nase lassen Sie mir doch +we–nigstens, Marja Stepa–nowna!“ unterbrach der +Fürst, den diese plötzlichen Offenbarungen ganz kopfscheu +machten. „Mein Lieber! Du hast mich verraten! +Du hast es erzählt, daß ich falsches Haar trage ...“ +</p> + +<p> +„Onkelchen!“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Lieber, ich kann hier nicht länger +blei–ben! Bring mich irgendwohin fort ... <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">quelle +société</span>? Wohin hast du mich eigentlich ge–bracht, +Gott im Himmel!“ +</p> + +<p> +„Sie Idiot! Sie Schuft!“ schrie Marja Alexandrowna. +</p> + +<p> +<a id="page-217" class="pagenum" title="217"></a> +„Gott im Himmel!“ stotterte der erbleichte Fürst. +„Ich habe im Au–genblick nur ein wenig verges–sen, +weshalb ich herge–kom–men bin, aber ich werde mich +dessen so–fort entsin–nen. Bring mich, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon ami</span>, +bring mich irgendwohin fort, sonst zerreißt man mich +hier noch. Zudem ... zudem muß ich schnell einen +neuen Gedanken nie–der–schreiben ...“ +</p> + +<p> +„Gehen wir, Onkelchen, es ist noch nicht spät. Ich +werde Sie sofort ins Gasthaus bringen und auch selbst +mit Ihnen übersiedeln ...“ +</p> + +<p> +„Nun ja, ins Gast–haus. Adieu, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">ma charmante +enfant</span> ... Sie allein ... nur Sie allein ... sind gut +und tugend–haft. Sie sind ein ed–les Mäd–chen! +... Gehen wir, mein Lieber ... Gott im Himmel!“ +</p> + +<p> +Doch ich will nicht das Ende dieser unangenehmen +Szene nach dem Fortgang des Fürsten zu beschreiben +versuchen. Mit Geschrei und Gezeter fuhren die Gäste +ab. Marja Alexandrowna blieb schließlich allein zurück +– unter den Trümmern ihres früheren Ruhmes. +Ihre Macht, ihr Einfluß, ihre ganze Bedeutung – +alles war an diesem einen Abend eingestürzt und untergegangen. +Marja Alexandrowna sah ein, daß sie sich +nie mehr zu derselben Höhe würde erheben können. Ihre +langjährige despotische Herrschaft in der Gesellschaft +war endgültig dahingeschwunden. Was blieb ihr jetzt +noch übrig? – zu philosophieren? Nun, sie philosophierte +nicht. Sie tobte innerlich die ganze Nacht. +Sina war entehrt und der Klatsch würde kein Ende +nehmen! Entsetzlich! +</p> + +<p> +Als gewissenhafter Historiker muß ich noch vermerken, +daß am meisten unter dieser Stimmung Afanassij +<a id="page-218" class="pagenum" title="218"></a> +Matwejewitsch zu leiden hatte. Zu guter Letzt verkroch +er sich in eine Kleiderkammer, wo ihn dann bis zum +Morgen furchtbar fror. +</p> + +<p> +Endlich brach dieser Morgen an, doch auch der neue +Tag sollte nichts Gutes bringen. Ein Unglück kommt +bekanntlich nie allein. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-3-15"> +<a id="page-219" class="pagenum" title="219"></a> +XV. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">W</span><span class="postfirstchar">enn</span> das Schicksal einem einmal Unglück beschert, +so hört es damit so bald nicht auf. Das ist eine altbekannte +Tatsache. Als ob diese ganze Schmach und +Schande nicht genug gewesen wäre für Marja Alexandrowna! +Doch nein! Das Schicksal bereitete ihr +noch anderes vor. +</p> + +<p> +Am nächsten Morgen, noch vor zehn Uhr, verbreitete +sich in der Stadt ganz plötzlich ein seltsames, fast +unglaubliches Gerücht, das von allen mit auffallender +Schadenfreude aufgenommen wurde, wie eben jeder ungewöhnliche +Skandal oder jedes Pech, das unserem lieben +Nächsten zustößt. +</p> + +<p> +„Es ist doch wirklich ...! So weit jede Scham +und jedes Gewissen zu verlieren!“ hieß es allgemein. +„Sich dermaßen zu erniedrigen, sich dermaßen über jeden +gesellschaftlichen Anstand hinwegzusetzen, dermaßen +die Zügel schießen zu lassen!“ und ähnliches mehr. +</p> + +<p> +Es war folgendes geschehen: +</p> + +<p> +Früh am Morgen, fast um 7 Uhr, war ein armes +altes Weib eilig ins Haus Marja Alexandrownas gekommen +und hatte die Stubenmagd unter Tränen beschworen, +das Fräulein, nur das Fräulein zu wecken, +aber heimlich, so daß Marja Alexandrowna nichts davon +<a id="page-220" class="pagenum" title="220"></a> +erführe. Sina war im Augenblick erschienen, erschrocken +und bleich. Die Alte hatte sich vor ihr niedergeworfen, +ihre Füße geküßt und mit Tränen benetzt, +und sie angefleht, zu ihrem kranken Wassjä zu kommen, +der die ganze Nacht so schwer, so schwer geatmet +habe, daß er vielleicht nicht einmal den Tag überleben +werde. Die Alte hatte schluchzend erzählt, daß Wassjä +selbst sie zu sich rufe, um noch vor dem Tode von ihr +Abschied nehmen zu können, daß er sie bei allen heiligen +Engeln beschwöre, bei allem was früher zwischen ihnen +gewesen war, zu ihm zu kommen: wenn sie nicht +käme, so würde er mit verzweifeltem Herzen sterben. +Sina hatte sich sofort entschlossen, zu ihm zu gehen, obgleich +doch die Erfüllung dieser Bitte alle früheren Gerüchte +von ihrer Korrespondenz, jenem skandalösen +Brief, ihrem anstößigen Betragen usw. bestätigen +mußte. +</p> + +<p> +Ohne der Mutter ein Wort zu sagen, hatte sie +einen Pelz umgenommen und war dann mit der Alten +fortgeeilt. Ihr Weg führte sie durch die ganze Stadt +in eine der ärmsten Vorstädte Mordassoffs. Dort, am +Ende einer einsamen Sackgasse stand eine alte, schiefe +Hütte, deren Fenster mehr an Spalten oder Löcher erinnerten, +und die ringsum von hohen Schneebergen +umgeben war. +</p> + +<p> +In einem kleinen, niedrigen Stübchen, das von muffigem +Geruch erfüllt war und in dem der riesige Ofen +genau die Hälfte des ganzen Raumes einnahm, lag in +einem ungestrichenen Bretterbett auf einer fast nur zwei +Finger dicken Matratze ein junger Mann, der mit einem +<a id="page-221" class="pagenum" title="221"></a> +alten Uniformmantel<a class="fnote" href="#footnote-2" id="fnote-2">[2]</a> zugedeckt war. Sein Gesicht +war bleich und abgezehrt, seine Augen hatten den flackernden +Glanz Fieberkranker, seine Hände waren +schmal und dürr und das Handgelenk und die Arme +waren wie Stöcke; er atmete schwer und rauh; seine +Stimme war heiser. Man sah es ihm an, daß er einmal +schön gewesen sein mußte, doch die Krankheit hatte +die zarten Züge seines schmalen Gesichts entstellt, und +es tat weh, ihn anzublicken, wie der Anblick eines jeden +Schwindsüchtigen oder Sterbenden weh tut. Seine +alte Mutter, die seit einem ganzen Jahr und fast bis +zur letzten Stunde geglaubt hatte, daß ihr Wassenjka +wieder gesund werden würde, mußte sich endlich sagen, +daß ihr Sohn nicht mehr lange in dieser Welt bleiben +konnte. Sie stand jetzt an seinem elenden Lager, die +Hände gefaltet, von Schmerz gebeugt, tränenlos; sie +sah ihn an und konnte sich doch nicht satt sehen an ihm +– konnte es nicht begreifen, wenn sie es auch wußte, +daß nach wenigen Tagen dort draußen auf dem Armenfriedhof +die kalte, gefrorene Erde ihren Wassjä zudecken +und weißer Schnee auf seinem Grabhügel liegen +würde. Doch Wassjä sah sie jetzt nicht. Sein ganzes +abgezehrtes Märtyrergesicht atmete Seligkeit. Endlich, +endlich sah er diejenige vor sich, von der er ganze +anderthalb Jahre im Wachen geträumt und die ihm +in jedem Traum erschienen war, an die er Tag und +Nacht, namentlich in den letzten langen, schweren Nächten +seiner Krankheit, gedacht hatte. Er wußte, daß +sie ihm verziehen hatte, da sie wie ein Engel Gottes +<a id="page-222" class="pagenum" title="222"></a> +in seiner Sterbestunde noch zu ihm gekommen war. Sie +preßte seine Hände, weinte und lächelte ihm zu, sie sah +ihn wieder mit ihren wundervollen Augen an und – +und alles Vergangene, Unwiederbringliche begann in +der Seele des Sterbenden aufzuerstehen. Das Leben +flammte von neuem in seinem Herzen und es schien, als +wolle es dem Armen, bevor es ihn verließ, noch einmal +zu fühlen geben, wie schwer das Scheiden von ihm ist. +</p> + +<p> +„Sina,“ sagte er, „Sinotschka! Weine nicht über +mich, gräme dich nicht, sei nicht traurig darüber, daß +ich bald sterben muß. Ich werde dich ansehen, – so +wie jetzt – werde fühlen, daß unsere Seelen wieder +beisammen sind, daß du mir verziehen hast, ich werde +deine Hände küssen, wie früher – weißt du noch? – +und ich werde sterben, vielleicht ohne den Tod zu spüren. +Mager bist du geworden, Sina! Du mein Engel, +mit welcher Güte du mich ansiehst ... Aber +weißt du noch, wie du früher lachtest? Weißt du noch +... Ach, Sina, ich bitte dich nicht um Verzeihung, +ich will dich nicht daran erinnern, was einmal gewesen +ist, denn sieh, wenn du mir vielleicht auch verziehen +hast, so werde ich mir doch nie verzeihen. Es hat lange +Nächte gegeben, Sina, schlaflose, furchtbare Nächte, +und in diesen Nächten habe ich hier in diesem Bett gelegen +und gedacht, lange und viel, gedacht und da bin +ich zur Einsicht gekommen, daß es für mich besser ist, zu +sterben, bei Gott besser! ... Ich taugte nicht zum +Leben, Sina!“ +</p> + +<p> +Sina weinte und preßte stumm seine Hand, als +hätte sie ihn damit im Sprechen aufhalten wollen. +</p> + +<p> +„Weshalb weinst du, mein Liebling?“ fuhr der +<a id="page-223" class="pagenum" title="223"></a> +Kranke fort. „Weil ich sterbe, nur weil ich sterbe? +Aber das übrige, alles, alles übrige ist ja doch schon +längst gestorben, längst begraben! Du bist klüger als +ich, du hast ein reineres Herz als ich, und deshalb weißt +du auch, daß ich ein schlechter Mensch bin. Kannst du +mich denn lieben? Was mich das gekostet hat, diesen +Gedanken zu ertragen, daß du es weißt, was für ein +schlechter und leerer Mensch ich bin! Und wieviel +Eigenliebe hierin war, vielleicht auch edelmütige ... +ich weiß es nicht ... Du ... mein Freund, mein +ganzes Leben war nur ein Traum. Ich habe nur geträumt, +immer nur geträumt und nicht gelebt. Ich war +stolz, ich verachtete die Masse ... Auf was aber war +ich denn stolz vor den Leuten? Ich weiß es selbst nicht. +Herzensreinheit? Edle Gefühle? Aber das war ja +alles nur in Träumen, Sina, als wir Shakespeare lasen, +als es aber zur Tat kam, da bewies ich glänzend +meine ganze Herzensreinheit und meine erhabene Gesinnung! +...“ +</p> + +<p> +„Hör auf!“ unterbrach ihn Sina, „hör auf! ... +Das war ja alles nicht so ... du marterst dich ganz +unnütz!“ +</p> + +<p> +„Weshalb unterbrichst du mich, Sina! Ich weiß, +du hast mir verziehen, und vielleicht schon vor langer +Zeit; aber du hast über mich nachgedacht, das Urteil +gefällt und begriffen, wer ich bin: das aber quält mich +ja gerade. Ich bin deiner Liebe unwürdig, Sina! +Du warst auch dann, als es zur Tat kam, als es handeln +hieß, auch dann warst du ehrlich und großzügig: +du gingst zu deiner Mutter und sagtest ihr, daß du +mich und keinen anderen heiraten würdest, und du +<a id="page-224" class="pagenum" title="224"></a> +hättest dein Wort gehalten, denn bei dir ist Wort und +Tat nicht zweierlei. Aber ich, ich! Als es zur Tat +kam ... Weißt du, Sina, ich begriff ja damals gar +nicht, was du für mich geopfert hättest, wenn es zur +Heirat gekommen wäre! Ich konnte es damals überhaupt +nicht begreifen, daß du als meine Frau vor Hunger +vielleicht gestorben wärst. Ach, daran dachte ich ja +keinen Augenblick! Ich glaubte nur, daß du mich heiraten +würdest, mich, den großen Dichter – den zukünftigen, +versteht sich – und ich wollte jene Gründe +überhaupt nicht gelten lassen, die du hervorhobst, als +du mich batest, mit der Hochzeit noch zu warten. Ich +machte dir Vorwürfe, ich quälte, tyrannisierte, verachtete +dich und schließlich kam es zu meiner Drohung, +jenen Brief zu zeigen. Ich war nicht einmal nur ein +Schuft in diesem Augenblick, ich war einfach ein Lump! +O, wie du mich verachtet haben mußt! Es ist gut, +daß du mich nicht geheiratet hast. Ich hätte dein +Opfer nie begriffen, ich hätte dich gequält, dich wegen +unserer Armut gepeinigt. Jahre wären vergangen! +Vielleicht hätte ich dich sogar gehaßt – als Hindernis +in meinem Leben! So aber, wie es jetzt ist, ist es viel +besser! Jetzt haben wenigstens meine bitteren Tränen +mein Herz gereinigt. Ach Sina! Behalt mich nur ein +wenig lieb, so wie du mich früher lieb gehabt hast! +Wenn auch nur in dieser letzten Stunde ... Ich +weiß es ja, daß ich deiner Liebe unwürdig bin, aber +... aber ... Mein Liebling, mein Liebling, du!“ +</p> + +<p> +Während dieser ganzen Rede versuchte Sina mehrmals +ihn zu unterbrechen, doch er beachtete es nicht. +Ihn quälte das Verlangen, alles vor ihr auszuschütten, +<a id="page-225" class="pagenum" title="225"></a> +was er auf dem Herzen hatte, und so fuhr er denn +fort zu sprechen, mühsam, atemlos, mit heiserer fortwährend +erstickender Stimme. +</p> + +<p> +„Wärst du mir nicht begegnet, hättest du dich nicht +in mich verliebt, so würdest du jetzt leben!“ sagte Sina. +„Ach, warum, warum haben wir uns kennen gelernt!“ +</p> + +<p> +„Nein, mein Liebling, nein, mach dir deshalb keine +Vorwürfe, weil ich sterbe,“ fuhr der Kranke fort. „Ich +allein bin an allem schuld! Gott, wieviel Eigenliebe +hierbei war! Wieviel Romantik! Hat man dir ausführlich +meine ganze dumme Geschichte erzählt, Sina! +Sieh, hier war vor drei Jahren ein Arrestant, ein großer +Räuber und Mörder, als es aber zum Bestrafen +kam, da zeigte es sich, daß er ein ganz kleinmütiger +Mensch war. Er wußte, daß man einen Kranken nicht +bestrafen würde und so verschaffte er sich Branntwein, +tat gewöhnlichen Tabak hinein und trank ihn dann +aus. Bald aber begann er so zu erbrechen, nur Blut +und Galle, weißt du, und das dauerte so lange an, +daß seine Lungen arg darunter litten. Er wurde ins +Lazarett geschafft und nach einigen Monaten starb er +an der Schwindsucht. Nun sieh, mein Liebling, ich +dachte damals an ihn, an jenem Tage ... du weißt +... nach dem Brief ... und ich beschloß, mich ebenso +zugrunde zu richten. Aber was meinst du wohl, weshalb +ich gerade die Schwindsucht wählte? Ich hätte +mich doch erhängen oder ertränken können? Glaubst +du, daß ich den Tod fürchtete? Vielleicht ... Aber +es will mir immer scheinen, Sina, daß es damals nicht +ohne schwärmerische Dummheiten abging. Ich dachte +doch immer daran, wie hübsch es sein würde, wenn ich +<a id="page-226" class="pagenum" title="226"></a> +im Bett liege, schwindsüchtig, todkrank, und du wirst +dich martern, quälen, dir Vorwürfe machen, weil du +mich schwindsüchtig gemacht hast; wie du denn in deiner +Reue zu mir kommst, auf die Knie vor mir niederfällst +... Ich verzeihe dir, sterbe in deinen Armen +... Dumm, nicht wahr, Sina, furchtbar dumm!“ +</p> + +<p> +„Sprich nicht davon!“ bat Sina. „Sprich nicht +davon! Du bist nicht so ... laß uns lieber an anderes +denken, an unsere schönen, glücklichen Stunden.“ +</p> + +<p> +„Weh tut es mir, mein Freund, deshalb rede ich +auch davon. Anderthalb Jahre lang habe ich dich +nicht gesehen! Ich glaube, ich müßte jetzt meine ganze +Seele vor dir ausbreiten! Ich bin ja doch die ganze +Zeit seit jenem Tage ganz, ganz allein gewesen, und +es hat, glaube ich, dennoch keine Minute gegeben, in +der ich nicht an dich gedacht hätte, du mein Herzenslieb, +mein Engel, an dem ich mich nicht sattsehen kann! +... Und weißt du, Sina, wie gern ich irgend so etwas +getan hätte, etwas Großes, Gutes, um dich zu zwingen, +deine Meinung über mich zu ändern. Ich glaubte ja +bis zum letzten Augenblick nicht, daß ich sterben würde. +Es warf mich ja nicht sofort nieder, ich ging ja noch +lange mit einer kranken Brust umher. – Und wieviel +lächerliche Wünsche ich hatte! Zum Beispiel dachte +ich daran, plötzlich ein großer Dichter zu werden, in +den ‚Vaterländischen Aufzeichnungen‘ ein Gedicht zu +veröffentlichen, wie es bis jetzt noch keines gegeben hat. +Ich wollte in ihm alle meine Gefühle ausgießen, meine +ganze Seele, so daß ich überall, wo du nur sein mochtest, +stets bei dir gewesen wäre, dich immerwährend an +mich erinnert hätte durch meine Verse, und mein schönster +<a id="page-227" class="pagenum" title="227"></a> +Traum war, wie du dann endlich nachdenklich werden +und dir sagen müßtest: ‚Nein, er ist doch kein so +schlechter Mensch, wie ich glaubte!‘ Dumm, Sinotschka, +dumm nicht wahr?“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, Wassjä, nein!“ rief Sina beschwörend +aus. +</p> + +<p> +Sie warf sich über seine Brust und küßte seine +Hände. +</p> + +<p> +„Und wie mich die Eifersucht die ganze Zeit gequält +hat! Ich glaube – ich wäre gestorben, wenn ich von +deiner Hochzeit gehört hätte! Ich ließ dich beobachten, +ich ließ spionieren ... sie tat es immer für mich (er +wies mit dem Kopf auf die Mutter). Du hast doch den +Mosgljäkoff nicht geliebt, nicht wahr, Sinotschka? Oh, +mein Engel, du! Wirst du dich auch jemals meiner +erinnern, wenn ich tot bin? Ich weiß, daß du mich +nicht vergessen wirst ... aber es werden Jahre vergehen, +dein Herz wird abkühlen, erkalten, es wird +Winter in der Seele und dann wirst du mich doch vergessen, +Sinotschka! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, niemals! Ich werde nie heiraten ... +Du bist der erste ... der letzte ... ewig werde ich +dich lieben!“ +</p> + +<p> +„Alles stirbt, Sinotschka, alles, sogar Erinnerungen +... Sogar unsere edelsten Gefühle sterben. An ihre +Stelle tritt vernünftiges Denken. Weshalb dawider +murren? Genieße das Leben, Sina, lebe lange, lebe +glücklich. Liebe auch einen anderen, wenn du ihn lieb +gewinnst – man kann doch nicht immerfort einen Toten +lieben! Nur denk zuweilen auch an mich, nur hin +und wieder einmal; an das Schlechte denk nicht, vergieb +<a id="page-228" class="pagenum" title="228"></a> +das Schlechte; aber es hat ja in unserer Liebe auch +Gutes gegeben. Sinotschka! Oh, die wundervollen, +unwiederbringlichen Tage! ... Hör mich, mein Engel, +ich habe immer die Abendstunde und den Sonnenuntergang +geliebt. Denke manches Mal an mich, wenn +die Sonne untergeht! Oh, nein, nein! Wozu sterben! +Oh, wie ich jetzt zu neuem Leben auferstehen wollte! +Vergiß nicht, vergiß nicht, mein Lieb, vergiß nicht diese +Zeit! Damals war Frühling, die Sonne schien so +hell, die Blumen blühten, rings um uns schien es +Feiertag zu sein ... Und jetzt! Sieh, sieh!“ +</p> + +<p> +Und der Arme wies mit seiner abgezehrten Hand +auf das trübe, befrorene kleine Fenster. Dann ergriff +er plötzlich Sinas Hände, preßte sie an seine Augen und +schluchzte, schluchzte herzbrechend. Das Schluchzen +schien seine kranke wunde Brust zu zerreißen. +</p> + +<p> +Den ganzen Tag quälte er sich, litt und weinte. +Sina tröstete ihn, so gut sie es konnte, denn auch sie +war fast zu Tode gequält. Sie sagte, daß sie ihn nie +vergessen und keinen so lieben werde, wie sie ihn geliebt. +Er glaubte es ihr widerspruchslos, lächelte, +küßte ihre Hände, doch die Erinnerungen an das Vergangene +brannten in seinem Herzen und es war ihm, +als würde er von ihnen wie zerrissen. So verging der +ganze Tag. Marja Alexandrowna hatte inzwischen +nicht viel weniger als zehnmal nachgeschickt und Sina +flehentlich bitten lassen, wieder nach Haus zu kommen +und sich in der Gesellschaft doch nicht ganz und gar unmöglich +zu machen. Endlich in der Dämmerung, vor +Angst kaum noch ihrer Sinne mächtig, entschloß sie sich, +selbst zu Sina zu laufen. Sie ließ ihre Tochter in die +<a id="page-229" class="pagenum" title="229"></a> +andere Stube rufen und flehte sie fast auf den Knien +an, diesen „letzten und größten Dolch nicht in ihr Herz +zu stoßen“. Sina ging zu ihr hinaus: sie hörte wohl, +was ihre Mutter sprach, begriff aber nicht den Sinn +der Worte. Ihr Kopf schien ihr zerspringen zu wollen +vor Schmerz. Schließlich mußte Marja Alexandrowna +in größter Verzweiflung wieder fortgehen. Sina hatte +beschlossen, in der Hütte bei dem Sterbenden zu übernachten. +</p> + +<p> +Sie saß die ganze Nacht an seinem Bett. Mit +dem Kranken wurde es immer schlechter. Wieder brach +der Tag an, doch war keine Hoffnung mehr vorhanden, +daß der Sterbende ihn überleben würde. Die alte +Mutter ging wie eine Irrsinnige umher, als verstehe +sie nichts mehr. Sie gab ihrem Sohn die Arzneien, die +er dann nicht nehmen wollte. Der Todeskampf dauerte +lange. Er konnte bald nicht mehr sprechen. Nur unzusammenhängende, +heisere Laute drangen zuweilen +aus seiner Brust. Bis zum letzten Augenblick sah er +immer noch unverwandt Sina an, suchte er noch immer +ihren Blick, und als seine Sehkraft zu schwinden begann, +suchte seine unsicher irrende Hand immer noch +ihre Hände, um sie zu drücken. Der kurze Wintertag +verging. Und während der letzte Sonnenstrahl die +Eisblumen des einzigen kleinen Fensters der Stube +rot erglühen ließ, da verließ die Seele des Armen auf +ewig seinen abgezehrten Körper. +</p> + +<p> +Als die alte Mutter nur noch die Leiche ihres vergötterten +Wassjä vor sich sah, schlug sie die Hände zusammen +und warf sich mit einem Schrei auf den Toten. +</p> + +<p> +„Das hast du getan, <em>du</em> falsche, arglistige Schlange, +<a id="page-230" class="pagenum" title="230"></a> +<em>du</em> hast ihn behext!“ schrie sie in ihrer Verzweiflung +Sina zu. „<em>Du</em>, du verfluchte Verführerin, <em>du</em>, +du Mörderin, <em>du</em>, du hast ihn umgebracht!“ +</p> + +<p> +Sina hörte sie nicht. Sie stand wie erstarrt über +den Toten gebeugt. Endlich schien sie wieder zu sich +zu kommen: sie bekreuzte ihn, küßte ihn und verließ fast +mechanisch das Zimmer. Ihre Augen brannten und +ihr schwindelte. Die Qual dieser zwei Tage und die +zwei schlaflosen Nächte hatten ihren Kopf leer und tot +gemacht. Unklar nur fühlte sie, daß ihre ganze Vergangenheit +sich gleichsam von ihrem Herzen losriß und +nun ein neues Leben begann, ein finsteres, drohendes +... Sie war kaum zehn Schritte gegangen, als Mosgljäkoff +wie aus der Erde gewachsen vor ihr stand. Er +schien sie erwartet zu haben. +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna,“ begann er in einem eigentümlich +ängstlichen Geflüster und nachdem er sich eilig +rings umgeschaut hatte, denn es war immerhin noch +ziemlich hell. „Sinaïda Afanassjewna, ich bin natürlich +ein Esel! Das heißt, wenn Sie wollen, bin ich +jetzt nicht mehr ein Esel, denn, sehen Sie, es war +schließlich doch edel von mir gehandelt. Aber ich bereue +es dennoch, daß ich ein Esel war ... Übrigens +habe ich mich da verhauen, glaube ich ... aber Sie +werden es verzeihen ... das hat seine verschiedenen +Gründe ...“ +</p> + +<p> +Sina sah ihn fast verständnislos an und setzte +schweigend ihren Weg fort. Da das hohe Brettertrottoir +für zwei nebeneinander nicht breit genug war und +Sina nicht zur Seite trat, sondern ruhig in der Mitte +ging, so trat Mosgljäkoff vom Trottoir herab und ging +<a id="page-231" class="pagenum" title="231"></a> +neben ihr im Schnee der Fahrstraße, während er ihr +immer wieder ins Gesicht blickte. +</p> + +<p> +„Sinaïda Afanassjewna,“ fuhr er fort, „ich habe +es mir überlegt, und wenn Sie wollen, bin ich bereit, +meinen Antrag zu wiederholen. Ich bin sogar bereit, +alles zu vergessen, Sinaïda Afanassjewna, die ganze +Schande, und ich bin auch bereit, zu verzeihen, aber nur +mit einer Bedingung: daß, so lange, wie wir hier sind, +das Ganze noch ein Geheimnis bleibt. Sie werden +möglichst bald von hier fortfahren und ich heimlich +gleichfalls; wir lassen uns irgendwo von einem Landpfarrer +trauen, so daß es niemand hört und sieht und +fahren dann sofort nach Petersburg, wenn möglich mit +unterlegten Pferden, so daß Sie nur einen kleinen Koffer +mitnehmen ... was? Sind Sie einverstanden, Sinaïda +Afanassjewna? Sagen Sie schnell! Ich kann +nicht so lange warten, man könnte uns sehen ...“ +</p> + +<p> +Sina antwortete nicht, sondern sah ihn nur an; sie +sah ihn aber so an, daß er sofort alles begriff, den Hut +zog und in der ersten Querstraße verschwand. +</p> + +<p> +„Wie ist denn das?“ dachte er verwundert, „vorgestern +abend war es ihr noch so nah gegangen und sie +beschuldigte sich vor allen anderen ... nahm die ganze +Schuld auf sich allein? Da sieht man, daß sie an jedem +Tage anders ist!“ +</p> + +<p> +Inzwischen war in Mordassoff Ereignis auf Ereignis +gefolgt. Eines davon war sogar sehr tragisch: der +Fürst, den Mosgljäkoff ins Gasthaus gebracht hatte, +war in derselben Nacht erkrankt, und sogar gefährlich +erkrankt. In der Stadt erfuhr man es erst am nächsten +Morgen. Kalist Stanislawitsch verließ den Kranken +<a id="page-232" class="pagenum" title="232"></a> +fast keinen Augenblick. Am Abend fand ein Konzilium +aller Mordassower Ärzte statt. Die Aufforderung +war ihnen in lateinischer Sprache zugesandt worden. +Aber ungeachtet der lateinischen Sprache verlor +der Fürst bereits das Bewußtsein, phantasierte, bat +Kalist Stanislawitsch, eine gewisse Romanze zu singen +und sprach von verschiedenen Perücken; mitunter schien +er plötzlich zu erschrecken, worauf er jedesmal des längeren +schrie. Die Ärzte kamen in ihrer Beratung dahin +überein, daß sich beim Fürsten infolge der Mordassower +Gastfreundschaft eine Magenentzündung eingestellt +habe und diese mittlerweile – wahrscheinlich +auf dem Wege ins Gasthaus – in den Kopf gestiegen +sei. Auch wurde eine gewisse moralische Erschütterung +nicht abgeleugnet. Das Resultat der Beratung war +jedenfalls, daß der Fürst schon seit langer Zeit zum +Sterben „disponiert“ gewesen und deshalb unfehlbar +sterben werde. In letzterem hatten sie sich denn auch +nicht geirrt: der arme Greis starb richtig am Abend des +dritten Tages. Sein Tod überraschte die Mordassower +nicht wenig: einen so ernsten Ausgang hatte niemand +erwartet. Sie stürzten in Scharen zum Gasthause, wo +die Leiche noch unaufgebahrt lag, sprachen viel, ereiferten +sich noch mehr, schüttelten die Köpfe und es endete +damit, daß die „Mörder des unglücklichen Fürsten“ – +damit meinte man Marja Alexandrowna und deren +Tochter – laut und schroff verurteilt wurden. Alle +begriffen, daß dieser Zwischenfall allein schon von seiner +skandalösen Seite eine unangenehme Verbreitung +finden und womöglich noch in weite Kreise dringen +konnte und – doch ist es wohl nicht gut möglich, +<a id="page-233" class="pagenum" title="233"></a> +alles wiederzugeben, was gesprochen und befürchtet +wurde. +</p> + +<p> +Während dieser ganzen Zeit lief Mosgljäkoff bald +hierhin bald dorthin, bis ihm schließlich der Kopf rund +ging. In dieser Stimmung war es, daß er dann auch +mit Sina sprach. Seine Lage war in der Tat schwierig: +er hatte den Fürsten in die Stadt gebracht, zuerst +zu Marja Alexandrowna und von dieser ins Gasthaus, +und jetzt wußte er nicht einmal, was er mit der Leiche +tun sollte, wie und wo beerdigen, wen benachrichtigen? +Sollte er sie nach Duchanowo bringen? Zudem war er +doch gewissermaßen der „Neffe“ des Verstorbenen. Er +zitterte, wenn er daran dachte, daß man vielleicht noch +ihm die Schuld am Tode des Fürsten zuschreiben +könnte. +</p> + +<p> +„Die Geschichte kann ja dann noch bis nach Petersburg +dringen, man kann sie sogar in der höchsten Gesellschaft +erfahren!“ dachte er mit bangem Herzen. +</p> + +<p> +Von den Mordassowern war kein Rat zu holen: +allen schien plötzlich bange zu sein, alle zogen sich von +dem Toten zurück und ließen Mosgljäkoff in einer geradezu +düsteren Einsamkeit sitzen. Da sollte aber etwas +ganz Unvorhergesenes geschehen und die Sachlage von +Grund aus ändern. +</p> + +<p> +Am Morgen des zweiten Tages nach dem Tode des +Fürsten traf in der Stadt ein vornehmer Herr ein. Von +diesem Herrn sprach im Augenblick ganz Mordassoff, +nur wurde nicht laut, sondern flüsternd und geheimnisvoll +von ihm gesprochen, und als er durch die große +Straße zum Gouverneur fuhr, da lauerte alles nur +durch Türspalten und Gardinen auf den hohen Gast. +<a id="page-234" class="pagenum" title="234"></a> +Sogar unser Gouverneur, Pjotr Michailowitsch, soll +etwas betreten gewesen sein und nicht gewußt haben, +wie er sich zu ihm verhalten sollte. Dieser Gast war der +ziemlich bekannte Fürst Schtschepetiloff, ein Verwandter +des verstorbenen Fürsten K., ein noch junger Mann +von etwa fünfunddreißig Jahren mit Oberstenepaulettes +und Achselschnüren. Diese Achselschnüre machten +einen so mächtigen Eindruck auf die Beamtenwelt, +daß selbst dem letzten Schreiber ein unheimliches Frösteln +über den Rücken lief und alle sich strammer hielten. +Der Polizeimeister, zum Beispiel, verlor ganz und gar +den Kopf, d. h. nur bildlich gesprochen, versteht sich, +also moralisch sozusagen. Physisch erschien er in eigener +Person, wenn auch mit ziemlich langem Gesicht. +</p> + +<p> +Im Augenblick wußte die ganze Stadt, daß Fürst +Schtschepetiloff aus Petersburg gekommen und unterwegs +über Duchanowo gefahren war. Da er den +Fürsten dort nicht angetroffen hatte, war er ihm nachgefahren +nach Mordassoff, wo ihn wie ein Keulenschlag +die Nachricht vom Tode des Verwandten und die Gerüchte +über die näheren Umstände und Ursachen seiner +Krankheit trafen. Pjotr Michailowitsch – unser Gouverneur +– soll sogar sehr verlegen gewesen sein, als er +ihm die nötigen Aufschlüsse geben mußte. Übrigens +gingen alle Mordassower mit gewissermaßen schuldbewußten +Mienen umher. Hinzu kam noch, daß der angereiste +Fürst ein so strenges, unzufriedenes Gesicht +hatte, obgleich er doch unmöglich über die Erbschaft +ungehalten sein konnte?! +</p> + +<p> +Er nahm die Regelung der ganzen Sache sofort +selbst in die Hand. Mosgljäkoff aber drückte sich schmählich +<a id="page-235" class="pagenum" title="235"></a> +vor dem wirklichen, nicht nur angeblichen Verwandten +und verschwand – unbekannt wohin. +</p> + +<p> +Es wurde zunächst angeordnet, die Leiche sofort ins +Kloster zu schaffen, wo auch das Totenamt gehalten +werden sollte. Der Fürst gab seine Anordnungen trocken, +streng, kurz, aber nichtsdestoweniger taktvoll und +sachlich. +</p> + +<p> +Zum Totenamt wollte sich die ganze Stadt ins +Kloster begeben. Unter den Damen hatte sich das unsinnige +Gerücht verbreitet, daß Marja Alexandrowna +persönlich in der Kirche erscheinen und vor dem Sarge +kniend mit lauter Stimme um Vergebung ihrer Schuld +flehen werde und daß es so nach dem Gesetz geschehen +müsse. Natürlich war das Torheit und Marja Alexandrowna +dachte nicht daran, in die Kirche zu gehen. +Übrigens habe ich zu sagen vergessen, daß nach Sinas +Rückkehr ins Haus, diese und ihre Mutter noch an +demselben Abend aufs Gut gefahren waren, da Marja +Alexandrowna einen weiteren Aufenthalt in der Stadt +für unmöglich gehalten hatte. Von dort aus verfolgte +sie aufgeregt die neuen Gerüchte, schickte ihre Leute in +die Stadt, um Näheres über den eingetroffenen Fürsten +in Erfahrung zu bringen – kurz, sie war die ganze +Zeit wie im Fieber. Die Landstraße aus dem Kloster +nach Duchanowo führte kaum eine Werst weit von dem +Landhause Marja Alexandrownas vorüber und so +konnte diese deutlich aus ihren Fenstern die lange Prozession +verfolgen, die sich nach dem Totenamt aus dem +Kloster auf das Gut begab, wo der Fürst beigesetzt werden +sollte. Der Sarg wurde auf einem hohen Leichenwagen +geführt, hinter ihm zog sich die endlose Reihe +<a id="page-236" class="pagenum" title="236"></a> +von Equipagen hin, die dem Leichenwagen bis zum +Kreuzwege das Geleit gaben, um dann abzubiegen und +in die Stadt zurückzufahren. Und lange noch zog die +schwarze Schlittenreihe über die schon verschneiten Felder +dahin, hinter dem hohen, schwarzen Leichenwagen, +der sich nur langsam mit ehrfurchtgebietender Majestät +weiterbewegte. Marja Alexandrowna vermochte nicht +lange zuzusehen und trat fort vom Fenster. +</p> + +<p> +Nach einer Woche fuhr sie mit ihrer Tochter und +ihrem Mann nach Moskau, und nach einem Monat erfuhr +man in Mordassoff, daß ihr kleines Gut und +ihr Haus in der Stadt verkauft werden solle. So +hatte denn Mordassoff auf ewig seine tonangebende, +seine bedeutendste Frau verloren! Natürlich ging es +auch jetzt nicht ohne boshafte Bemerkungen ab. So +wurde zum Beispiel behauptet, daß das Gut mitsamt +Afanassij Matwejewitsch verkauft werde ... +</p> + +<p> +Doch es verging ein Jahr, ein zweites und dann +noch ein drittes und Marja Alexandrowna geriet fast +ganz in Vergessenheit. Leider! So pflegt es nun +einmal in der Welt zu gehen! Übrigens wurde noch +erzählt, daß sie sich in einer anderen Gouvernementsstadt +niedergelassen und in der Nähe derselben ein +neues Gut gekauft habe, und daß sie dort selbstverständlich +wieder alle beherrsche, daß Sina noch immer nicht +verheiratet sei und Afanassij Matwejewitsch ... Doch +wozu diese Gerüchte wiederholen – es ist ja kein wahres +Wort an ihnen. +</p> + +<hr class="tb"> + +<p class="noindent"> +Drei Jahre sind seit dem Tage vergangen, an dem +<a id="page-237" class="pagenum" title="237"></a> +ich die letzte Zeile dieser schönen Geschichte aus der +Mordassower Chronik geschrieben, und wer hätte es +sich denken können, daß ich noch einmal mein Manuskript +aufrollen und noch eine Nachricht zu meiner Erzählung +würde hinzufügen müssen! Doch zur Sache! +Ich beginne mit Pawel Alexandrowitsch Mosgljäkoff. +</p> + +<p> +Nachdem er Mordassoff verlassen, war er nach Petersburg +gefahren, wo er denn auch glücklich durch +Protektion jene gute Anstellung erhalten hatte, die ihm +schon früher versprochen worden war. Bald hatte er alle +Mordassower Ereignisse vergessen und war in den Strudel +großstädtischen Lebens – auf der Wassiljeff-Insel +und am Galeerenhafen – untergetaucht, hatte gespielt +und sich herumgetrieben, doch stets bemüht, mit dem +Jahrhundert zu gehen, hatte sich verliebt und angehalten, +hatte noch einmal einen Korb verwunden, und noch +bevor er damit ganz fertig war, hatte er sich in seinem +Leichtsinn und aus Langerweile entschlossen, an einer +Expedition teilzunehmen, die in eines der Grenzgebiete +unseres grenzenlosen Vaterlandes entsandt wurde, um +dort irgend etwas zu revidieren oder zu einem ähnlichen +Zweck – genau weiß ich es nicht. Die Expedition +durchquerte glücklich alle Urwälder und Wüsten, traf +schließlich nach langer Reise in der Hauptstadt des +„fernen Grenzgebietes“ wohlbehalten ein und begab +sich zum Generalgouverneur. Das war ein strenger +General, von großem Wuchs und hager, ein alter Krieger +mit vielen Narben, die er sich in Schlachten geholt, +mit zwei Sternen auf der Brust und einem weißen +Kreuz am Halse. Würdevoll und gemessen empfing er +die Expedition und lud darauf alle Vertreter derselben +<a id="page-238" class="pagenum" title="238"></a> +zum Ball ein, der bei ihm am Abend desselben Tages +zur Feier des Namenstages der Generalgouverneurin +gegeben werden sollte. Mosgljäkoff war sehr zufrieden +damit. Er warf sich in seinen tadellosesten Petersburger +Ballanzug, in dem er großen Eindruck zu machen +gedachte, und betrat in bester Laune mit leichten Schritten +den festlich geschmückten Saal, wurde aber sofort +etwas bescheidener, als er plötzlich so unerwartet viele +Uniformen mit dick-gewundenen goldenen Raupen auf +den Achselstücken und ordengeschmückte Staatsröcke vor +sich sah. Zuerst mußte er der Frau Generalgouverneurin, +von der er gehört hatte, daß sie jung und schön +sei, seinen Bückling machen. Er begab sich flott und +selbstbewußt zu ihr, doch plötzlich erstarrte er: vor ihm +stand Sina in reicher Balltoilette und kostbarem Brillantenschmuck, +stolz, schön und hochmütig. +</p> + +<p> +Sie erkannte ihn nicht. Ihr Blick glitt gleichgültig +über sein Gesicht und sie wandte sich dann an einen +anderen Herrn. Aufs äußerste bestürzt trat Mosgljäkoff +zur Seite und stieß dort im Gedränge auf einen +jungen Beamten, der vor sich selbst Angst zu haben +schien, seitdem er sich auf dem Ball beim Generalgouverneur +befand: Mosgljäkoff machte sich sofort daran, +ihn auszufragen und so erfuhr er recht interessante +Dinge. Zunächst erzählte jener, daß der Generalgouverneur +erst vor zwei Jahren geheiratet habe, als er einmal +aus dem „fernen Grenzgebiet“ nach Moskau gereist +war, und daß seine junge Frau aus einem sehr reichen +und vornehmen Hause stamme. Sie sei „wunderbar +schön“, ja man könne sie sogar die schönste aller Schönheiten +nennen, nur sei sie sehr stolz und tanze nur mit +<a id="page-239" class="pagenum" title="239"></a> +Generälen; – daß auf diesem Ball im ganzen neun Generäle, +sowohl hiesige wie angereiste, seien, die wirklichen +Staatsräte mit inbegriffen; – daß die Generalgouverneurin +eine Mutter habe, die auch hier bei ihr lebe, +und daß diese Frau Mutter aus der höchsten Gesellschaft +stamme und sehr klug sein müsse; – daß aber +selbst die Frau Mutter sich widerspruchslos dem Willen +ihrer Tochter unterordne und der Generalgouverneur +bis über die Ohren in seine junge Frau verliebt sei. +Mosgljäkoff erkundigte sich wohl auch nach Afanassij +Matwejewitsch, aber im „fernen Grenzgebiet“ hatte +man keine Ahnung von ihm. Wieder etwas zu sich +gekommen, ging Mosgljäkoff durch die anstoßenden +Zimmer und fand bald auch Marja Alexandrowna, die +prächtig aufgeputzt sich mit einem teuren Fächer zufächelte +und äußerst lebhaft mit einem der höchsten +Würdenträger sprach. Um sie herum hatte sich ein ganzer +Kreis gebildet, offenbar Bewerber um ihre Gunst +– und sie – sie war zu allen sehr liebenswürdig. +</p> + +<p> +Mosgljäkoff wagte es, sich vorzustellen. Marja +Alexandrowna schien im ersten Augenblick etwas zusammenzuzucken, +faßte sich aber sofort. Mit liebenswürdigem +Lächeln geruhte sie ihn wiederzuerkennen, +hierauf erkundigte sie sich nach Petersburger Bekannten +und fragte ihn unter anderem auch, weshalb er nicht +im Auslande sei. Die Stadt Mordassoff erwähnte sie +mit keinem Wort, als wenn sie dieselbe nie gekannt +hätte. Nachdem sie dann noch den Namen irgend eines +wichtigen Petersburger Fürsten genannt und sich nach +seinem Befinden erkundigt hatte – Mosgljäkoff hatte +keine blasse Ahnung von dieser Persönlichkeit und inwiefern +<a id="page-240" class="pagenum" title="240"></a> +Marja Alexandrowna mit ihr bekannt sein +konnte – wandte sie sich unauffällig an einen auf sie +zutretenden Würdenträger, dessen Haupthaar schon +silbrig glänzte, und nach einer kleinen Weile hatte sie +den vor ihr stehenden Mosgljäkoff vollkommen vergessen. +Mit sarkastischem Lächeln, den Hut in der Hand, +kehrte er in den großen Ballsaal zurück. Er glaubte +sich verletzt und sogar beleidigt und beschloß daher, +nicht zu tanzen. Den ganzen Abend behielt er krampfhaft +eine finster zerstreute Miene bei, sowie ein beißend +teuflisches Lächeln. Malerisch an eine weiße Säule +gelehnt – der Saal war wie absichtlich mit Säulen +versehen – stand er während des ganzen Balles auf +einem Fleck, ohne sich zu rühren und verfolgte nur Sina +mit seinen Blicken. Leider aber waren alle seine Anstrengungen, +ungewöhnlichen Stellungen, verzweifelten +Mienen usw. – vergebliche Liebesmüh: Sina bemerkte +ihn überhaupt nicht. So kehrte er denn endlich +mit steifen Beinen, schmerzenden Füßen – vom langen +Stehen – wütend, gereizt und mit mordsmäßigem +Hunger – als Verliebter und Leidender konnte er doch +nicht zum Souper bleiben! – wieder in sein Absteigequartier +zurück. Er fühlte sich vollkommen erschöpft +und gleichsam verprügelt. Lange noch ging er in seinem +Zimmer auf und ab, in Gedanken an längst Vergessenes. +Am nächsten Morgen mußte auf Grund einer +inzwischen eingetroffenen Nachricht jemand von der +Expedition abkommandiert werden und Mosgljäkoff +bot sich mit Freuden dazu an. Als er die Stadt verließ, +atmete er förmlich auf, jetzt erst fühlte er wieder +neue Lebensgeister in sich. Auf der ungeheuren flachen +<a id="page-241" class="pagenum" title="241"></a> +Ebene lag der Schnee blendend weiß. Nur fern, fern +am Horizont zogen sich wie ein dunkler Strich Wälder +hin. +</p> + +<p> +Die feurigen Pferde griffen frisch aus, daß es eine +Lust war, und die Hufe schleuderten feste Schneestückchen +auf die Schlittendecke. +</p> + +<p> +Das Glockengeläut und Schellengeklingel klang +weit durch die klare Winterluft. Mosgljäkoff wurde +nachdenklich, schließlich träumerisch und dann schlief er +seelenruhig ein. Erst bei der dritten Station erwachte +er, frisch und gesund und mit ganz anderen Gedanken. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-4"> +<a id="page-243" class="pagenum" title="243"></a> +Die fremde Frau<br> +und der Mann unter dem Bett +</h2> + +</div> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-1"> +<a id="page-245" class="pagenum" title="245"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar"><span class="prefirstchar">„</span>V</span><span class="postfirstchar">erzeihung,</span> mein Herr, gestatten Sie die Frage ...“ +</p> + +<p> +Der Vorübergehende zuckte zusammen und blickte +etwas erschrocken einen Herrn in einem Waschbärpelz +an, der ihn so ohne weiteres gegen acht Uhr abends auf +der Straße anredete. Bekanntlich erschrickt jeder Petersburger, +wenn ihn ein Unbekannter auf der Straße +plötzlich anredet, auch wenn er es noch so höflich tut. +</p> + +<p> +Also der Vorübergehende zuckte zusammen und +erschrak ein wenig. +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, daß ich Sie belästige,“ fuhr der +Herr im Waschbärpelz fort, „aber ich ... ich, wirklich, +ich weiß nicht ... Sie werden mich, hoffe ich, +entschuldigen ... wie Sie sehen, bin ich etwas aus +der Fassung gebracht ...“ +</p> + +<p> +Da erst gewahrte der junge Mann in der Pekesche +– einem kürzeren Pelzüberrock –, daß der Herr im +Waschbärpelz allerdings nichts weniger als gefaßt +aussah. Sein runzliges Gesicht war bleich, seine +Stimme unsicher, und seine Gedanken schienen sich +gänzlich verwirrt zu haben: schnell und unüberlegt +stieß er die Worte hervor, und man sah es ihm an, daß +es ihm schwer fiel, sich mit einer Bitte an eine dem +Rang und der gesellschaftlichen Stellung nach offenbar +<a id="page-246" class="pagenum" title="246"></a> +unter ihm stehende Persönlichkeit zu wenden. Hinzu +kam noch, daß diese Bitte an und für sich höchst +peinlicher Art war und von einem Herrn, der einen +so soliden Pelz, einen so tadellosen dunkelgrünen Frack +und so bedeutsame Abzeichen auf diesem Frack trug, +zum mindesten befremdend erscheinen mußte. Alles +dessen war sich der Herr im Waschbärpelz auch vollkommen +bewußt, und es verwirrte ihn so sehr, daß er +seinen eigenen Gefühlen nicht widerstehen konnte, seine +Aufregung so gut es ging niederzwang und kurz entschlossen +der peinlichen Szene, die er selbst heraufbeschworen +hatte, ein Ende machte. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, ich war mir meiner Handlungsweise +nicht ganz bewußt. Aber Sie kennen mich +nicht, glauben Sie mir, ich ... Verzeihen Sie, daß ich +Sie aufgehalten habe ...“ +</p> + +<p> +Damit lüftete er den Hut und entfernte sich schnell. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, es hat nichts zu sagen ...“ +</p> + +<p> +Doch der kleine Herr im Waschbärpelz war bereits +in der Dunkelheit verschwunden, und dem jungen +Mann blieb nichts übrig, als ihm verdutzt nachzusehen. +</p> + +<p> +„Was war das für ein Kauz?“ fragte er sich +verwundert, stand noch ein Weilchen und vergaß dann +den Vorfall, um sich wieder in seine eigenen Gedanken +zu versenken, worauf er von neuem auf der Straße +auf und nieder zu gehen begann, ohne dabei die Tür +eines endlos hohen Hauses aus dem Auge zu lassen. +Es war neblig geworden, was dem jungen Mann +eine Sorge vom Herzen nahm, denn im Nebel mußte +sein unermüdliches Hin- und Hergehen den Menschen +<a id="page-247" class="pagenum" title="247"></a> +weniger auffallen, abgesehen vielleicht von einem müßigen +Droschkenkutscher, der in Ermangelung einer besseren +Beschäftigung die Vorübergehenden beobachtete. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie!“ +</p> + +<p> +Der junge Mann zuckte wieder zusammen und sah +zu seiner Verwunderung wieder jenen Herrn im Waschbärpelz +vor sich stehen. +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie, daß ich nochmals ...“ begann +er von neuem, „doch Sie ... Sie sind ganz gewiß +ein Ehrenmann! Beachten Sie mich weiter nicht +... ich meine, als Vertreter und Mitglied einer bestimmten +Gesellschaftsklasse ... Übrigens war es +nicht das, was ich sagen wollte. Aber ... fassen +Sie die Sache menschlich auf ... Vor Ihnen, mein +Herr, steht ein Mensch, der sich mit einer dringenden +Bitte an Sie wenden muß ...“ +</p> + +<p> +„Wenn es in meiner Macht steht ... Um was handelt +es sich?“ +</p> + +<p> +„Sie denken vielleicht, daß ich Sie um Geld bitten +will!“ Der geheimnisvolle Herr verzog den Mund +zu einem Lächeln, erbleichte und lachte hysterisch auf. +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie ...“ +</p> + +<p> +„Nein, ich sehe, daß ich Ihnen lästig falle! Verzeihen +Sie, aber ich kann mich selbst nicht ertragen! +Betrachten Sie mich als einen Unzurechnungsfähigen, +einen fast Wahnsinnigen, denken Sie aber nicht etwa –“ +</p> + +<p> +„Aber zur Sache, zur Sache!“ unterbrach ihn der +junge Mann, zwar in aufmunterndem Tone, doch mit +merklich ungeduldigem Kopfnicken. +</p> + +<p> +„Ah! Also so sind Sie! Sie – solch ein junger +Mann wie Sie – erinnern mich an das Wichtige, ganz +<a id="page-248" class="pagenum" title="248"></a> +als wäre ich ein dummer Junge! Mein Gott, ich +muß wirklich den Verstand verloren haben! ... Als +was erscheine ich Ihnen jetzt in meiner Erniedrigung, +sagen Sie es mir aufrichtig?“ +</p> + +<p> +Der junge Mann blickte ihn etwas betreten an, +sagte jedoch nichts. +</p> + +<p> +„Erlauben Sie, daß ich Sie ganz offen frage: haben +Sie hier nicht eine Dame gesehen? Darin besteht +meine ganze Bitte an Sie!“ sagte schließlich der Herr +im Waschbärpelz kurz entschlossen. +</p> + +<p> +„Eine Dame?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, eine Dame.“ +</p> + +<p> +„Allerdings ... aber ich muß gestehen, es sind +ihrer so viele hier vorübergegangen ...“ +</p> + +<p> +„Ganz recht,“ unterbrach ihn der geheimnisvolle +kleine Herr mit einem bitteren Lächeln. „Ich bin etwas +zerstreut und verwirrt im Kopf, es war nicht das, +was ich sagen wollte; ich wollte Sie nur fragen, ob +Sie eine Dame in einem Fuchspelz, mit einer Kapuze +aus dunklem Samt und einem schwarzen Schleier gesehen +haben?“ +</p> + +<p> +„Nein, eine solche habe ich nicht gesehen ... nein, +ich glaube, eine solche nicht bemerkt zu haben.“ +</p> + +<p> +„Ah! dann – entschuldigen Sie!“ +</p> + +<p> +Der junge Mann wollte nun seinerseits noch etwas +fragen, doch der Herr im Waschbärpelz war bereits +wieder verschwunden und sein geduldiger Zuhörer konnte +ihm wieder nur verdutzt nachsehen. +</p> + +<p> +„Ach, hol’ ihn der Teufel!“ dachte er schließlich +bei sich, zog offenbar ärgerlich seinen Biberkragen +fester um den Hals und nahm von neuem den unterbrochenen +<a id="page-249" class="pagenum" title="249"></a> +Spaziergang auf, ohne seine Vorsichtsmaßregeln +zu vergessen oder die Tür des endlos hohen Hauses +aus dem Auge zu lassen. Er ärgerte sich. +</p> + +<p> +„Weshalb kommt sie denn noch nicht?“ dachte er. +„Bald ist es acht Uhr!“ +</p> + +<p> +Da schlug die nächste Turmuhr auch schon acht. +</p> + +<p> +„Ah, zum Teufel, das ist doch! ...“ +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie! ...“ +</p> + +<p> +„Verzeihen Sie, daß ich Sie so ... Aber Sie kamen +mir so plötzlich vor die Füße, daß ich geradezu erschrak,“ +entschuldigte sich der junge Mann, doch klang +es diesmal schon fast unwirsch. +</p> + +<p> +„Ich wende mich wieder an Sie. Natürlich muß +ich Ihnen seltsam erscheinen ...“ +</p> + +<p> +„Haben Sie die Güte, sich ohne Umschweife zu erklären. +Ich habe bis jetzt noch nicht erfahren können, +was Sie eigentlich von mir wünschen ...“ +</p> + +<p> +„Ah, Sie haben wohl wenig Zeit? Sehen Sie +mal. Ich werde Ihnen alles ganz offen erzählen, ohne +ein überflüssiges Wort. Was soll ich tun! Die Umstände +bringen bisweilen Menschen zusammen, die, was +ihre Charaktere betrifft, im Grunde ganz verschieden +sind ... Doch ich sehe, Sie sind ungeduldig, junger +Mann ... Also, wie gesagt ... übrigens weiß ich +nicht einmal, wie ich mich ausdrücken soll! Kurz, ich +suche eine Dame – Sie sehen, ich habe mich schon +entschlossen, alles zu sagen. Ich muß, wie gesagt, unbedingt +erfahren, oder feststellen, wenn Sie wollen, wohin +diese Dame gegangen ist. Wer sie ist, – das, denke +ich, wird Sie nicht interessieren, junger Mann.“ +</p> + +<p> +„Nun, nun, weiter! weiter!“ +</p> + +<p> +<a id="page-250" class="pagenum" title="250"></a> +„Weiter! Ihr Ton ist ja recht ... Das heißt, +verzeihen Sie, vielleicht hat es Sie gekränkt, daß ich +Sie ‚junger Mann‘ nannte ... aber ich versichere +Ihnen, ich habe nichts ... mit einem Wort, wenn +Sie mir einen unermeßlichen Gefallen erweisen wollten, +dann also, wie gesagt: diese eine Dame ... das +heißt, ich will nur sagen, daß sie eine anständige Dame +ist, aus der besten Familie, mit der auch ich bekannt +bin ... und da bin ich nun beauftragt ... ich, sehen +Sie, ich habe selbst keine Familie ...“ +</p> + +<p> +„Nun und?“ +</p> + +<p> +„Also versetzen Sie sich in meine Lage, junger +Mann! – Ach, wieder! Verzeihen Sie, bitte! Ich +nenne Sie immer junger Mann! Jeder Augenblick +ist dabei kostbar ... Stellen Sie sich vor, diese Dame +... aber können Sie mir nicht sagen, wer hier in diesem +Hause wohnt?“ +</p> + +<p> +„Ja ... hier wohnen sehr viele.“ +</p> + +<p> +„Ja, das heißt, Sie haben vollkommen recht,“ versetzte +schnell der Herr im Waschbärpelz und er lachte +kurz auf, wie um die Situation zu retten. „Ich sehe, +daß ich mich zu ungenau ausgedrückt habe. Doch weshalb +schlagen Sie einen solchen Ton an? Wie Sie +sehen, gebe ich doch offenherzig zu, daß ich mich nicht +ganz treffend ausgedrückt habe, so daß Sie, wenn Sie +ein hochmütiger Mensch wären, mich zur Genüge erniedrigt +gesehen hätten ... Ich sage Ihnen, eine Dame +von anständigem Lebenswandel, das heißt, nur ‚leichten +Inhalts‘ ... Verzeihen Sie, ich bin so verwirrt. +Ich rede ja, als spräche ich von Literatur! ... Da +hat man sich nämlich jetzt eingeredet, daß Paul de +<a id="page-251" class="pagenum" title="251"></a> +Kocks Romane leichten Inhalts seien, während doch bei +seinen Romanen das ganze Malheur, wie gesagt ... +nun eben ...“ +</p> + +<p> +Der junge Mann blickte mitleidig den Herrn im +Waschbärpelz an, der sich schließlich rettungslos verwirrt +hatte und ihn mit sinnlosem Lächeln ansah, während +seine bebende Hand ohne jeden sichtbaren Grund +immer wieder nach dem Aufschlag der Pekesche des anderen +griff. +</p> + +<p> +„Sie fragten, wer hier wohnt?“ fragte der junge +Mann, ein wenig zurückweichend. +</p> + +<p> +„Ja, Sie haben ja schon gesagt, hier wohnen viele.“ +</p> + +<p> +„Hier ... hier wohnt, wie ich zufällig weiß, unter +anderen Ssofja Osstafjewna,“ sagte der junge Mann +flüsternd und sogar mit einem gewissen Mitgefühl. +</p> + +<p> +„Nun sehen Sie, sehen Sie! Sie wissen unbedingt +etwas Näheres, junger Mann!“ +</p> + +<p> +„Ich versichere Ihnen, nein, ich weiß nichts ... +Ich habe nur so kombiniert, so nach Ihrem verstörten +Aussehen ...“ +</p> + +<p> +„Ich ... ich habe soeben erst von der Köchin erfahren, +daß sie in dieses Haus hier geht; doch Sie sind +in Ihrer Vermutung fehlgegangen, das heißt, ich will +sagen, sie ist nicht zu Ssofja Osstafjewna gegangen ... +sie kennt sie ja gar nicht ...“ +</p> + +<p> +„Nicht? Dann entschuldigen Sie ...“ +</p> + +<p> +„Man sieht, daß Sie das alles nicht interessiert, +junger Mann,“ bemerkte der seltsame Herr mit bitterer +Ironie. +</p> + +<p> +„Hören Sie mal,“ begann der junge Mann etwas +unsicher, „ich kenne allerdings nicht die Ursache Ihrer +<a id="page-252" class="pagenum" title="252"></a> +gegenwärtigen ... Verfassung, aber sagen Sie doch +offen: Sie sind wohl hintergangen worden, nicht?“ +</p> + +<p> +Der junge Mann lächelte verständnisvoll. +</p> + +<p> +„... Wir werden uns dann wenigstens schneller +verstehen,“ fügte er lächelnd hinzu und seine ganze +Gestalt verriet die großmütige Bereitwilligkeit, sogleich +eine leichte Verbeugung zu machen. +</p> + +<p> +„Sie vernichten mich! Aber wissen Sie – ich gestehe +Ihnen ganz offen – Sie haben vollkommen erraten, +um was es sich – ... Aber wem kann das +nicht passieren! ... Ihre Teilnahme rührt mich tief. +Unter jungen Leuten, nicht wahr, das werden Sie doch +zugeben ... Übrigens bin ich ja nicht mehr ganz +jung, aber, wissen Sie, die Gewohnheit, das Junggesellenleben, +wie gesagt, unter uns Junggesellen, na, +Sie wissen schon ...“ +</p> + +<p> +„O, versteht sich, selbstverständlich! Doch womit +kann ich Ihnen nun dienen?“ +</p> + +<p> +„Ja sehen Sie! Sie werden zugeben, daß ein Besuch +bei Ssofja Osstafjewna ... Übrigens weiß ich +noch nicht einmal genau, zu wem sich diese Dame begeben +hat, ich weiß nur, daß sie sich in diesem Hause +befindet. Als ich Sie nun hier auf und ab gehen sah +– ich selbst spazierte dort auf jener Seite – dachte ich, +wie gesagt ... Sehen Sie, ich erwarte nämlich diese +Dame ... ich weiß, daß sie hier ist – da wollte ich +mit ihr zusammentreffen und ihr erklären, ihr vernünftig +auseinandersetzen, wie wenig anständig, wie +schändlich ... mit einem Wort, wie gesagt – Sie +verstehen mich ...“ +</p> + +<p> +„Hm! Nun?“ +</p> + +<p> +<a id="page-253" class="pagenum" title="253"></a> +„Ich tue es ja gar nicht für mich! Denken Sie +nur nicht etwa ... O nein! Das ist eine ganz fremde +Frau! Der Mann steht dort auf der Wosnessenskij-Brücke; +er will sie hier überrumpeln, kann sich aber +nicht entschließen, – er glaubt eben noch nicht, wie jeder +Gatte ...“ Hier machte der Herr im Waschbärpelz +wieder einen Versuch, zu lächeln. „Ich bin +nur sein Freund. Und nicht wahr, Sie werden mir +doch zugeben, daß ich als Mensch, der sich sozusagen +einer gewissen, allgemeinen Achtung erfreut, nicht wohl +derjenige sein kann, für den Sie mich zu halten offenbar +geneigt sind, – das ist doch klar!“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich. Nun, und?“ +</p> + +<p> +„Also wie gesagt, ich bin hier auf der Lauer, ich bin +beauftragt – Sie verstehen – Der arme Mann! Aber +ich weiß, daß die listige junge Frau – ewig hat sie +einen Paul de Kock unter ihrem Kopfkissen! – ich bin +überzeugt, daß sie es doch verstehen wird, irgendwie unbemerkt +durchzuschlüpfen ... Mir hat nämlich, offen +gestanden, nur die Köchin gesagt, daß sie hierhergehe, +und da bin ich denn wie ein Sinnloser hergestürzt, +kaum daß sie es ausgesprochen hatte. Ich will ihrer +habhaft werden, ich muß es, koste es, was es wolle! Ich +habe ja schon längst Verdacht geschöpft. Deshalb wollte +ich Sie fragen – Sie gehen hier auf und ab ... Sie +... Sie ... ich weiß nicht, wie ich ...“ +</p> + +<p> +„Ja, <em>was</em> denn? Was wünschen Sie zu wissen?“ +</p> + +<p> +„Ja ... ja, ja ... Ich, ich habe leider nicht +das Vergnügen, Sie zu kennen, und, offen gestanden, +ich wage auch gar nicht, eine solche Neugierde zu bekunden, +zum Beispiel, ... ich meine ... wer und +<a id="page-254" class="pagenum" title="254"></a> +... was ... und weshalb ... Jedenfalls aber +werden Sie erlauben, daß wir uns, wie gesagt ...“ +</p> + +<p> +Und der bebende Herr im Waschbärpelz ergriff die +Hand des jungen Mannes und schüttelte sie kräftig und +mit glühender Aufrichtigkeit. +</p> + +<p> +„Freut mich, freut mich! Das hätte ich eigentlich +sogleich tun sollen,“ fuhr er erregt fort, „aber man +ist mitunter so zerfahren, daß man alles vergißt!“ +</p> + +<p> +Der Herr konnte vor Unruhe keinen Augenblick still +stehen, blickte nach links, nach rechts, trat von einem +Bein aufs andere, fast zappelnd vor Ungeduld, und +griff, wie ein Ertrinkender nach dem Strohhalm, fortwährend +nach einem Knopf oder einem Aufschlag der +Pekesche des jungen Mannes. +</p> + +<p> +„Sehen Sie mal,“ fuhr er fort, „ich wollte mich in +voller Freundschaft an Sie wenden – verzeihen Sie die +Freiheit – und wollte Sie bitten: könnten Sie nicht +dort in jener Straße, an der anderen Seite des Hauses, +wo sich der hintere Ausgang befindet, promenieren, so, +wissen Sie, hin und her? Und ich – ich werde +dasselbe tun, bloß hier, vor dem Haupteingang, damit +sie nicht unbemerkt durchschlüpfen kann – verstehen +Sie? Ich fürchte nämlich die ganze Zeit, sie könne +vielleicht doch unbemerkt durchschlüpfen. Das aber +darf auf keinen Fall geschehen. Und Sie, sobald Sie +sie erblicken – rufen Sie mich schnell, schreien Sie +und halten Sie sie auf ... Doch was sage ich! ich +bin verrückt! Jetzt erst begreife ich die ganze Dummheit +und Unanständigkeit meines Vorschlages!“ +</p> + +<p> +„Nein, wieso! Ich bitte Sie! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nein, versuchen Sie nicht, mich zu entschuldigen. +<a id="page-255" class="pagenum" title="255"></a> +Ich bin unzurechnungsfähig, ich ... ich kann +meine Gedanken nicht mehr zusammenhalten! Das ist +mir so noch nie passiert! Es ist, als hätte ich mein +Todesurteil vernommen! Ich will Ihnen sogar gestehen +– ich bin ganz offen und ehrlich mit Ihnen, junger +Mann – ja, ich habe anfangs <em>Sie</em> für den Liebhaber +gehalten!“ +</p> + +<p> +„Sie wollen also, einfach ausgedrückt, wissen, was +ich hier tue?“ +</p> + +<p> +„Aber mein Bester, Verehrtester, der Gedanke sei +mir fern, daß <em>Sie</em> der Betreffende sein könnten! Es +sei, wie gesagt, fern von mir, Sie auch nur in Gedanken +mit einem solchen Verdacht zu ... Aber ... +aber können Sie mir Ihr Ehrenwort darauf geben, daß +Sie kein Liebhaber sind? ...“ +</p> + +<p> +„Nun, gut: mein Ehrenwort, daß ich ein Liebhaber +bin, nur nicht derjenige Ihrer Frau; anderenfalls wäre +ich jetzt nicht auf der Straße, sondern bei ihr, wie Sie +wohl zugeben werden.“ +</p> + +<p> +„Meiner Frau? Wer hat Ihnen das gesagt, junger +Mann? Ich bin unverheiratet, bin, wie gesagt, +Junggeselle, ich ... das heißt, nun ja ... ich bin +selbst ein Liebhaber ...“ +</p> + +<p> +„Sie sagten, der Gatte ... warte dort auf der +Brücke ...“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß – wenn ich es schon gesagt habe? +Aber sehen Sie, es gibt noch andere ... Verwicklungen! +Und Sie werden mir doch zugeben, junger Mann, daß +eine gewisse Leichtfertigkeit, namentlich wenn sie beiden +Charakteren eigen ist, das heißt, ich meine ...“ +</p> + +<p> +„Schon gut, schon gut, aber um was ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-256" class="pagenum" title="256"></a> +„Das heißt, ich bin durchaus nicht der Gatte ...“ +</p> + +<p> +„Ganz recht, das haben Sie schon gesagt. Aber +jetzt bitte ich Sie, nachdem ich Sie beruhigt habe, auch +mir Ruhe zu gönnen, und damit Ihnen das leichter +wird, verspreche ich Ihnen nochmals, Sie sogleich zu +rufen. Doch jetzt werden Sie wohl die Güte haben, +sich zurückzuziehen und mir den Weg gefälligst frei zu +geben. Ich warte nämlich gleichfalls.“ +</p> + +<p> +„O, bitte, bitte, sofort, sofort werde ich mich entfernen! +Ich kann Ihnen die leidenschaftliche Ungeduld +Ihres Herzens nur zu gut nachfühlen. Ich verstehe +das, junger Mann. O, wie gut ich Sie jetzt verstehe!“ +</p> + +<p> +„Ja, was ...“ +</p> + +<p> +„Auf Wiedersehen! ... Übrigens, verzeihen Sie, +junger Mann, ich komme wieder zu Ihnen ... Ich +weiß nicht, wie ich mich ausdrücken soll ... Geben +Sie mir noch einmal Ihr Ehrenwort, daß Sie nicht der +Liebhaber sind!“ +</p> + +<p> +„Herr des Himmels! ...“ +</p> + +<p> +„Nur noch eine Frage, die letzte: ist Ihnen der +Familienname des Mannes Ihrer ... das heißt, ich +wollte sagen, derjenigen bekannt, für die Sie sich interessieren?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich ist er mir bekannt, jedenfalls ist +es nicht der Ihrige. Doch jetzt basta!“ +</p> + +<p> +„Aber woher kennen Sie denn meinen Namen?“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, ich gebe Ihnen einen Rat: machen +Sie, daß Sie davon kommen. So verlieren Sie nur +Ihre Zeit und sie kann inzwischen tausendmal unbemerkt +aus dem Hause schlüpfen ... Was wollen +Sie denn noch? Die, die Sie suchen, ist in einem +<a id="page-257" class="pagenum" title="257"></a> +Fuchspelz und trägt einen Kapotthut, und die, die ich +suche, hat einen karierten Umwurf und ein hellblaues +Samthütchen ... Was wollen Sie mehr?“ +</p> + +<p> +„Ein hellblaues Samthütchen! Aber sie hat ja +gleichfalls einen karierten Umwurf und ein solches +Hütchen!“ rief der lästige Herr bestürzt aus, der plötzlich +wie angewurzelt vor dem jungen Manne stand. +</p> + +<p> +„Ach, der Teufel! Na ja, das nennt man eben Zufall, +mein Herr, so etwas kommt vor. Doch wozu +rege ich mich auf! – Die, die ich erwarte, pflegt ja +nicht dorthin zu gehen!“ +</p> + +<p> +„Aber wo ist sie denn jetzt – diejenige, die <em>Sie</em> +erwarten?“ +</p> + +<p> +„Interessiert Sie das?“ +</p> + +<p> +„Offen gestanden, ich habe nichts anderes ...“ +</p> + +<p> +„Pfui, Teufel! Sie haben ja, weiß Gott, überhaupt +kein Schamgefühl! Na, zum Kuckuck, ich will +es Ihnen sagen: die, die <em>ich</em> erwarte, hat hier Bekannte +in diesem Hause, im dritten Stockwerk des Vorderhauses. +So, und was wollen Sie jetzt noch wissen? +Jetzt fehlte nur noch, daß Sie auch die Namen +zu hören wünschen!“ +</p> + +<p> +„Mein Gott! Auch ich habe Bekannte im dritten +Stockwerk, hier im Vorderhause ... General ...“ +</p> + +<p> +„General? ...“ +</p> + +<p> +„Jawohl, ein General. Ich kann Ihnen, wenn Sie +wollen, auch sagen, welch ein General ... es ist General +Polowizyn.“ +</p> + +<p> +„Da haben wir’s! – Nein, der ist es nicht!“ +versetzte er schnell gefaßt – im geheimen aber fluchte +er ganz gotteslästerlich: +</p> + +<p> +<a id="page-258" class="pagenum" title="258"></a> +„Ach, der Teufel! da schlag’ doch der Henker drein!“ +</p> + +<p> +„Nicht die?“ +</p> + +<p> +„Nein.“ +</p> + +<p> +Beide schwiegen plötzlich und starrten verständnislos +einander an. +</p> + +<p> +„Na, zum ... was starren Sie mich denn so an?“ +fuhr plötzlich der junge Mann auf, ärgerlich die Starrheit +von sich abschüttelnd. +</p> + +<p> +Der Herr im Waschbärpelz wurde unruhig. +</p> + +<p> +„Ich, ich, offen gestanden ...“ +</p> + +<p> +„Nein, erlauben Sie mal, jetzt lassen Sie uns vernünftig +reden. Die Sache geht uns beide an. Erklären +Sie mir: wen haben Sie dort?“ +</p> + +<p> +„Das heißt, Sie meinen meine Bekannten?“ +</p> + +<p> +„Ja, Ihre Bekannten ...“ +</p> + +<p> +„Nun sehen Sie, sehen Sie! Ich sehe es ja Ihren +Augen an, daß ich es erraten habe!“ +</p> + +<p> +„Teufel! Aber nein doch, nein! Hol’s der Teufel! +Sind Sie denn etwa blind? Ich stehe doch leibhaftig +vor Ihnen, also kann ich doch nicht bei ihr sein. +Aber jetzt reden Sie endlich! Übrigens hol’s der +Teufel, mir ist es schließlich auch gleichgültig, ob Sie +reden oder nicht!“ +</p> + +<p> +Und der junge Mann drehte sich wütend auf dem +Absatz um, schlug mit der Hand eine bezeichnende Gebärde +und stampfte sogar mit dem Fuß auf. +</p> + +<p> +„Ja, aber, ich sage ja nichts, ich bitte Sie, ich +bin gern bereit, Ihnen als einem Ehrenmanne alles +zu erzählen: anfangs ging meine Frau allein zu ihnen +– sie ist mit ihnen verwandt, müssen Sie wissen – +<a id="page-259" class="pagenum" title="259"></a> +und ich ahnte natürlich nichts, das heißt, jeder Verdacht +lag mir vollkommen fern. Gestern aber traf ich +auf der Straße Se. Exzellenz: da mußte ich zu meiner +Verwunderung vernehmen, daß sie bereits vor drei Wochen +die Wohnung gewechselt hatten, meine Frau aber +... das heißt, was sage ich! – nicht <em>meine</em> Frau, +sie ist die Frau eines anderen – der Mann wartet, wie +gesagt, dort auf der Wosnessenskij-Brücke. Diese +Dame also hat aber gesagt, daß sie noch vor zwei Tagen +bei ihnen gewesen sei und zwar hier in dieser Wohnung +... Die Köchin wiederum erzählte mir, daß +die Wohnung Sr. Exzellenz ein junger Mann, Bobynizyn +mit Namen, gemietet habe ...“ +</p> + +<p> +„Ach, der Teufel! ach, der Teufel!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, ich bin außer mir, ich bin entsetzt!“ +</p> + +<p> +„Ach, hol’ Sie der Henker! Was geht das mich +an, ob Sie außer sich sind oder nur entsetzt! Ach! Da, +da schimmerte etwas Helles! Dort! ... Sehen Sie?“ +</p> + +<p> +„Wo? wo? Rufen Sie nur ‚Iwan Andrejewitsch‘ +und ich komme sofort ...“ +</p> + +<p> +„Gut, gut. Ach, der Teufel, so etwas ist mir bisher +doch noch nicht vorgekommen, Iwan Andrejewitsch!“ +</p> + +<p> +„Hier!“ schrie im Augenblick der Gerufene und +kehrte wie der Wind zurück, atemlos vor Schreck und +Aufregung. „Was? was? Wo?“ +</p> + +<p> +„Nein, diesmal rief ich nur so ... ich wollte bloß +wissen, wie diese Dame heißt?“ +</p> + +<p> +„Glaf...“ +</p> + +<p> +„Glafira ...?“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht ganz so, nicht gerade Glafira ... +<a id="page-260" class="pagenum" title="260"></a> +verzeihen Sie, aber ich kann Ihnen ihren Namen +nicht nennen.“ +</p> + +<p> +Der ehrenwerte Mann war bei diesen Worten weiß +wie Kalk. +</p> + +<p> +„Nun ja, selbstverständlich heißt sie nicht Glafira, +das weiß ich selbst, daß sie nicht Glafira heißt, auch +jene heißt nicht Glafira ... Doch übrigens, bei wem +ist sie denn dort?“ +</p> + +<p> +„Wo?“ +</p> + +<p> +„Dort! Herr des Himmels! Da schlag’ doch der +Henker drein!“ +</p> + +<p> +Der junge Mann konnte buchstäblich nicht stille +stehn vor Wut. +</p> + +<p> +„Aha! Sehen Sie? Woher wußten Sie denn, daß +sie Glafira heißt?“ +</p> + +<p> +„Ach, zum Teufel damit! Da hab’ ich nun auch +Sie noch auf dem Halse! Aber Sie sagen doch selbst, +daß diejenige, die <em>Sie</em> suchen, nicht Glafira heißt! ...“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, welch ein Ton!“ +</p> + +<p> +„Ach, zum Teufel, jetzt ist es mir wohl gerade um +den Ton zu tun! Was ist sie denn? – Ihre Frau +etwa?“ +</p> + +<p> +„Nein, das heißt ... ich bin unverheiratet ... +Nur finde ich es anstößig, so einem unglücklichen Menschen, +so einem Menschen, der – ich will nicht sagen: +der jeder Achtung wert ist, aber zum mindesten doch +so einem wohlerzogenen Menschen nach jedem Wort +‚hol’s der Teufel‘ zu sagen. Von Ihnen aber hört man +ja überhaupt nichts anderes als ‚hol’s der Teufel, hol’s +der Teufel‘!“ +</p> + +<p> +<a id="page-261" class="pagenum" title="261"></a> +„Nun, ja, schon gut, hol’s der Teufel! Na, da +haben Sie es wieder, freuen Sie sich darüber!“ +</p> + +<p> +„Sie sind vom Zorn geblendet und deshalb schweige +ich. Mein Gott, wer ist das?“ +</p> + +<p> +„Wo?“ +</p> + +<p> +Sie hörten Geräusch und Lachen, zwei schmutzig +gekleidete Mädchen traten aus dem Hause. Beide +Herren stürzten ihnen entgegen. +</p> + +<p> +„Nein! So sehen Sie doch! ...“ +</p> + +<p> +„Was wollen Sie?“ +</p> + +<p> +„Nein, das ist sie nicht!“ +</p> + +<p> +„Was, seid nicht auf die Bewußten gestoßen? – +He! Droschke!“ +</p> + +<p> +„Wohin will sie denn, Fräulein?“ +</p> + +<p> +„Steige ein, Annuschka, ich werde dich hinbringen.“ +</p> + +<p> +„Ich muß aber dorthin, in jene Gegend. Fahr los! +Aber daß du schnell fährst ...“ +</p> + +<p> +Die Droschke fuhr davon. +</p> + +<p> +„Woher mögen die gekommen sein?“ +</p> + +<p> +„Herr des Himmels! Das ist ja, um ... Aber +sollte man nicht hingehen?“ +</p> + +<p> +„Wohin?“ +</p> + +<p> +„Zu Bobynizyn, wohin denn sonst! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, das geht nicht ...“ +</p> + +<p> +„Weshalb nicht?“ +</p> + +<p> +„Ich würde natürlich gehen, aber dann sagt sie etwas +anderes, sie ... würde den Spieß umdrehen; ich +kenne sie! Sie würde sagen, daß sie absichtlich gekommen +sei, um mich bei irgend einer zu überraschen +und damit würde sie alles mir in die Schuhe schieben.“ +</p> + +<p> +„Und dabei zu wissen, daß sie vielleicht dort ist! +<a id="page-262" class="pagenum" title="262"></a> +Ja aber, hören Sie – ich weiß nicht – aber weshalb +schließlich nicht den Versuch riskieren? Hören Sie, gehen +Sie zum General ...“ +</p> + +<p> +„Aber der wohnt doch nicht mehr hier!“ +</p> + +<p> +„Gleichviel! – begreifen Sie denn nicht? Sie ist +doch hingegangen, und Sie gehen gleichfalls hin – +verstehen Sie? Tun Sie, als wüßten Sie nichts von +seinem Wohnungswechsel, als wollten Sie nur auf einen +Augenblick bei ihm vorsprechen, um Ihre Frau abzuholen, +nun und so weiter!“ +</p> + +<p> +„Und dann?“ +</p> + +<p> +„Nun und dann ertappen Sie eben wen Sie wollen +bei Bobynizyn. Pfui Teufel, ist das aber ein +Rüp...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber was haben <em>Sie</em> denn davon, wenn ich +dort jemanden ertappe? Sehen Sie, sehen Sie!“ +</p> + +<p> +„Was, was? Kommen Sie wieder damit? Ach +du Grundgütiger! Haben Sie denn schon jegliches +Schamgefühl verloren, Sie ...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber weshalb regen <em>Sie</em> sich denn deshalb +so auf? Offenbar wollen Sie wissen ...“ +</p> + +<p> +„Was? was will ich wissen? was? Ach nun, +zum Teufel mit Ihnen, jetzt ist’s mir nicht um Sie zu +tun! Ich kann auch allein gehen, gehen Sie, gehen +Sie fort, bewachen Sie dort den Ausgang, laufen Sie, +nun, aber schnell!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, Sie vergessen sich fast!“ rief der Herr +im Waschbärpelz verzweifelt. +</p> + +<p> +„Was? Was liegt daran, daß ich mich vergesse?“ +fragte der junge Mann durch die Zähne, in seiner +Wut mit geballter Faust auf den Herrn im Waschbärpelz +<a id="page-263" class="pagenum" title="263"></a> +eindringend. „Nun, was? Wem gegenüber +vergesse ich mich?!“ knirschte er zornbebend. +</p> + +<p> +„Aber, mein Herr, erlauben Sie ...“ +</p> + +<p> +„Nun, wer sind Sie, dem gegenüber ich mich vergesse, +wer, wie ist Ihr Name?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht, ich ... wie ich das nennen soll, +junger Mann. Wozu denn meinen Namen? ... Ich, +ich kann es nicht ... Ich werde lieber mit Ihnen +gehen. Also gehen wir, ich werde nicht zurückbleiben, +ich bin zu allem bereit ... Nur, glauben Sie mir: ich +habe wirklich höflichere Ausdrücke verdient! Man +soll sich nie die Geistesgegenwart nehmen lassen. Wenn +Sie aber durch irgendeinen Umstand aus der Fassung +gebracht sind – und ich errate die Ursache – so +brauchen Sie sich deshalb noch nicht zu vergessen ... +Sie sind noch ein sehr, sehr junger Mann ...!“ +</p> + +<p> +„Eh, was geht das mich an, daß Sie alt sind! +Machen Sie, daß Sie fortkommen, was laufen Sie +hier herum? ...“ +</p> + +<p> +„Wieso, inwiefern bin ich denn alt? Ich bin doch +noch gar nicht so alt! Allerdings, daß ich es schon +weit gebracht habe, aber ... aber ich laufe durchaus +nicht hier herum ...“ +</p> + +<p> +„Das sieht man, weiß Gott. So packen Sie sich +zum Teufel ...“ +</p> + +<p> +„Nein, es bleibt dabei, daß ich mit Ihnen gehe; +das können Sie mir nicht verbieten; ich bin gleichfalls +beteiligt; ich gehe mit Ihnen ...“ +</p> + +<p> +„Aber dann still, ganz leise, schweigen Sie! ...“ +</p> + +<p> +Sie traten ins Haus und stiegen die Treppe hinauf +zum dritten Stockwerk. Es war ziemlich dunkel. +</p> + +<p> +<a id="page-264" class="pagenum" title="264"></a> +„Warten Sie! Haben Sie Streichhölzer?“ +</p> + +<p> +„Streichhölzer? Was für Streichhölzer?“ +</p> + +<p> +„Zum ... rauchen Sie keine Zigaretten?“ +</p> + +<p> +„Ach, ja! Gewiß habe ich, hier, hier sind sie, sogleich +...“ Der Herr im Waschbärpelz befühlte +hastig alle seine Taschen. +</p> + +<p> +„Teufel, das ist aber ein ... Ich glaube, diese Tür +muß es sein ...“ +</p> + +<p> +„Ja, ja, ja, diese – diese – diese – diese ...“ +</p> + +<p> +„Diese – diese – diese – schreien Sie doch noch +lauter! Können Sie denn nicht still sein? Halten Sie +den Schnabel.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, ich bin an so etwas nicht gewöhnt, +ich, ich muß mir Gewalt antun ... Sie sind ein ungezogener, +frecher Mensch!“ +</p> + +<p> +Das Streichholz flammte zischend auf. +</p> + +<p> +„Da, sehen Sie? Das Metallschildchen? Da +steht ja: Bobynizyn; sehen Sie: Bobynizyn? ...“ +</p> + +<p> +„Ich sehe, ich sehe!“ +</p> + +<p> +„Lei–se! Was, ausgelöscht?“ +</p> + +<p> +„Ja, ausgelöscht.“ +</p> + +<p> +„Soll man klopfen?“ +</p> + +<p> +„Ja,“ entschied der Herr im Waschbärpelz. +</p> + +<p> +„Dann klopfen Sie!“ +</p> + +<p> +„Nein, weshalb denn ich? Fangen Sie an, pochen +Sie zuerst an die Tür.“ +</p> + +<p> +„Memme!“ +</p> + +<p> +„Sie sind selbst eine Memme!“ +</p> + +<p> +„So packen Sie sich doch!“ +</p> + +<p> +„Ich muß sagen, ich bereue es fast, Sie in das Geheimnis +eingeweiht zu haben. Sie ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-265" class="pagenum" title="265"></a> +„Ich? Nun, was?“ +</p> + +<p> +„Sie haben meine Verstörtheit ausgenutzt, Sie +haben gesehen, wie ich ...“ +</p> + +<p> +„Ach, zum Teufel damit! Ich finde Sie nur +lächerlich und damit basta!“ +</p> + +<p> +„Weshalb sind Sie denn hier?“ +</p> + +<p> +„Und Sie? weshalb sind Sie denn hier?“ +</p> + +<p> +„Das ist mir mal eine schöne Moral!“ versetzte +höchst unwillig der Herr im Waschbärpelz. +</p> + +<p> +„Was reden Sie von Moral – was sind Sie denn +selbst?“ +</p> + +<p> +„Sehen Sie, das ist eben unmoralisch von Ihnen!“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Ja, Ihrer Meinung nach ist jeder beleidigte +Gatte ein ... ein Pantoffelheld!“ +</p> + +<p> +„Sind Sie denn ein Gatte? Der Gatte wartet +doch dort auf der Brücke? Weshalb regen Sie sich +denn so auf? Weshalb mischen Sie sich überhaupt +in fremde Angelegenheiten?“ +</p> + +<p> +„Mir aber will es scheinen, daß gerade Sie der +Liebhaber sind! ...“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, wenn Sie so fortfahren, muß ich gestehen, +daß meiner Überzeugung nach kein anderer +– Pantoffelheld sein kann, als gerade Sie! Es gibt +aber auch noch eine andere Benennung dafür.“ +</p> + +<p> +„Das heißt, Sie wollen sagen, daß ich der Mann +bin!“ versetzte der Herr im Waschbärpelz wie mit +heißem Wasser übergossen und unwillkürlich einen +Schritt zurückweichend. +</p> + +<p> +„Ssst! Schweigen Sie! Hören Sie? ...“ +</p> + +<p> +„Das ist sie!“ +</p> + +<p> +<a id="page-266" class="pagenum" title="266"></a> +„Nein!“ +</p> + +<p> +„Wie dunkel es hier ist.“ +</p> + +<p> +Auf der Treppe wurde es mäuschenstill. Aus der +Wohnung Bobynizyns ließ sich allerdings Geräusch +vernehmen. +</p> + +<p> +„Weshalb sollen wir uns streiten, mein Herr?“ +flüsterte der Kleine im Waschbärpelz. +</p> + +<p> +„Ja, zum Teufel, Sie haben sich doch als erster +beleidigt gefühlt!“ +</p> + +<p> +„Aber wie haben Sie mich auch behandelt!“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +„Sie müssen mir doch zugeben, daß Sie ein noch +sehr junger Mann sind ...“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie! zum ...“ +</p> + +<p> +„Gewiß, ich bin mit Ihrer Auffassung vollkommen +einverstanden, daß der Gatte in einer solchen Lage ein +Pantoffelheld ist ...“ +</p> + +<p> +„Aber, so schweigen Sie doch endlich! verflucht noch +einmal!“ +</p> + +<p> +„Aber weshalb denn diese boshafte Verfolgung des +unglücklichen Gatten? ...“ +</p> + +<p> +„Das ist sie!“ +</p> + +<p> +Doch in dem Augenblick verstummte das Geräusch. +</p> + +<p> +„Ist sie es?“ +</p> + +<p> +„Ja, sie ist es! Aber weshalb regen Sie sich denn +so auf? Was geht das Sie als fremden Menschen +an?“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, mein Herr!“ stammelte der Kleine im +Waschbärpelz mit versagender, erstickender Stimme, +aus der es fast wie ein Schluchzen klang. „Ich ... +versteht sich, in der Verstörtheit ... Sie haben mich +<a id="page-267" class="pagenum" title="267"></a> +zur Genüge erniedrigt gesehen; doch jetzt ist es Nacht, +aber morgen ... übrigens werden wir uns morgen +sicherlich nicht wiedersehen, obschon ich mich nicht zu +fürchten brauche, Ihnen zu begegnen – und übrigens +bin ja gar nicht ich es, es ist nur mein Freund, wie +gesagt, der auf der Wosnessenskij-Brücke wartet. +Wirklich, Sie können mir glauben! Das ist seine Frau, +wie gesagt, nicht meine Frau. Der arme Mensch! Ich +... ich versichere Ihnen! Ich bin sehr gut mit ihm +bekannt; erlauben Sie, ich werde Ihnen alles erzählen. +Ich bin sein Freund, wie Sie sehen, denn – würde +ich anderenfalls so lebhaften Anteil an seinem Unglück +nehmen? Und Sie sehen doch! – Ich habe ihm ja +selbst gesagt, unzählige Mal gesagt: wozu heiratest du? +Bist du nicht ein ehrenwerter Mensch, bist du nicht +wohlhabend, bekleidest du nicht einen angesehenen +Posten, weshalb also willst du das alles gegen die +Launen einer Koketten eintauschen? oder zum mindesten +doch aufs Spiel setzen? Hab ich nicht recht? Nein, +aber, – ich heirate, sagt er, ich will Familienglück ... +Da hat er jetzt sein Familienglück! Zuerst hatte er +selbst Ehemänner betrogen, jetzt aber kam die Reihe +an ihn, den Kelch zu leeren. Sie werden mich entschuldigen, +diese Erklärungen hat mir nur die Notwendigkeit +entrissen! ... Er ist ein unglücklicher +Mensch, der jetzt selbst den Kelch leeren muß ...“ +</p> + +<p> +Hier begann die Stimme des Herrn im Waschbärpelz +zu versagen und der junge Mann hörte so +etwas wie ein Schluchzen, als ob sein Gefährte allen +Ernstes zu weinen begonnen. +</p> + +<p> +„Ach, daß der Teufel sie alle holte! Es gibt doch +<a id="page-268" class="pagenum" title="268"></a> +wahrlich genug Dummköpfe in der Welt! Wer sind +Sie denn eigentlich?“ +</p> + +<p> +Der junge Mann knirschte vor Wut. +</p> + +<p> +„Nein, das müssen Sie zugeben, das geht nicht ... +ich handelte edel und offen ... Sie aber schlagen jetzt +wieder einen solchen Ton an!“ +</p> + +<p> +„Nun, verzeihen Sie, – wie lautet denn Ihr werter +Familienname?“ +</p> + +<p> +„Nein, wozu, was hat das hier mit dem Familiennamen +zu schaffen?“ +</p> + +<p> +„Ah!!“ +</p> + +<p> +„Es ist mir ganz unmöglich, meinen Namen zu +nennen ...“ +</p> + +<p> +„Kennen Sie Herrn Schabrin?“ fragte plötzlich +der junge Mann. +</p> + +<p> +„Schabrin!!!“ +</p> + +<p> +„Ja, Schabrin! Ah!!!“ Der junge Mann erlaubte +sich, die Stimme des älteren ein wenig nachzuäffen. +„Haben Sie jetzt begriffen?“ +</p> + +<p> +„Nein, wieso, was für ein Schabrin?“ stotterte +mit hervorquellenden Augen der Herr im Waschbärpelz. +„Durchaus nicht Schabrin! Er ist ein Ehrenmann, +ich kenne ihn zufällig! Und Ihre Unhöflichkeiten +kann ich mir nur durch Ihre Eifersucht erklären, +die Sie vollkommen unzurechnungsfähig macht.“ +</p> + +<p> +„Ein Spitzbube ist er, aber kein Ehrenmann, eine +käufliche Seele, ein Prozentschneider, ein Betrüger, +der die Kasse bestohlen hat! Bald wird er vors Gericht +gebracht werden!“ +</p> + +<p> +„Entschuldigen Sie,“ sagte der Herr im Waschbärpelz, +der bleich geworden war, „Sie kennen ihn +<a id="page-269" class="pagenum" title="269"></a> +nicht; wie ich sehe, muß er Ihnen vollkommen unbekannt +sein.“ +</p> + +<p> +„Freilich, persönlich kenne ich ihn nicht, dafür kenne +ich aber um so besser das Wesen seiner werten Person +aus gewissen ihm sehr nahestehenden Quellen.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, aus welchen Quellen? Ich bin ... +so zerstreut, wie Sie sehen ...“ +</p> + +<p> +„Ein Esel! Ein Dummkopf erster Sorte! Ein +eifersüchtiger Pantoffelheld, der seine Frau nicht zu +bewachen versteht – das ist er! Finden Sie sich damit +ab, daß Sie jetzt erfahren haben, was er ist!“ +</p> + +<p> +„Ich bitte um Entschuldigung, aber Sie täuschen +sich in Ihrem Eifer, junger Mann ...“ +</p> + +<p> +„Ach!“ +</p> + +<p> +„Ach!“ +</p> + +<p> +In der Wohnung Bobynizyn ließ sich wieder Geräusch +vernehmen. Die Tür wurde aufgeschlossen, +Stimmen wurden laut. +</p> + +<p> +„Ach, das ist nicht sie, nein, das ist sie nicht! Ich erkenne +ihre Stimme! Jetzt habe ich alles erfahren! ... +Glauben Sie mir, das ist sie nicht!“ versicherte der +Herr im Waschbärpelz fast beschwörend, während sein +Gesicht so weiß wie die Wand hinter ihm wurde. +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +Der junge Mann drückte sich in den Winkel, um +nicht gesehen zu werden. +</p> + +<p> +„Mein Herr, ich eile: sie ist es nicht, das freut mich +sehr.“ +</p> + +<p> +„Nun, nun, dann machen Sie, daß Sie fortkommen, +gehen Sie!“ +</p> + +<p> +„Aber weshalb bleiben Sie denn hier?“ +</p> + +<p> +<a id="page-270" class="pagenum" title="270"></a> +„Weshalb gehen Sie denn nicht?“ +</p> + +<p> +Die Tür wurde aufgemacht und der Herr im +Waschbärpelz eilte wie der Blitz die Treppe hinab. +</p> + +<p> +Am jungen Mann gingen ein Herr und eine Dame +vorüber und sein Herz drohte stille zu stehen ... Er +vernahm nur eine helle, bekannte Frauenstimme und +dann eine rauhe Männerstimme, die ihm jedoch ganz +unbekannt war. +</p> + +<p> +„Das hat nichts auf sich, ich werde einen Schlitten +nehmen,“ sagte die rauhe Stimme. +</p> + +<p> +„Ach, nun ja, dann ja; gut, ich willige ein ...“ +</p> + +<p> +„Er wird bereits vor der Tür halten. Im Augenblick.“ +Und damit verschwand der Herr. Die Dame +blieb allein zurück. +</p> + +<p> +„Glafira! Wo sind deine Schwüre?“ rief der +junge Mann in der Pekesche, die Dame am Handgelenk +fassend. +</p> + +<p> +„Ach! Wer ist das? Sind Sie es? Sie, Tworogoff? +Mein Gott im Himmel! Was tun Sie hier?“ +</p> + +<p> +„Wer war jener Herr?“ +</p> + +<p> +„Aber das ist ja doch mein Gemahl, gehen Sie, +gehen Sie, er wird sogleich zurückkehren ... von Polowizyns. +So gehen Sie doch fort, um Gottes willen, +gehen Sie!“ +</p> + +<p> +„Polowizyns sind aus dieser Wohnung schon vor +drei Wochen ausgezogen! Ich weiß alles!“ +</p> + +<p> +„Ach!“ Und damit eilte die Dame so schnell sie +konnte die Treppe hinab. Der junge Mann holte sie +aber doch noch ein. +</p> + +<p> +„Wer hat es Ihnen gesagt?“ fragte die Dame. +</p> + +<p> +„Ihr Herr Gemahl, meine Gnädigste, Iwan Andrejewitsch, +<a id="page-271" class="pagenum" title="271"></a> +der sich hier in nächster Nähe befindet, der +– vor Ihnen steht, meine Gnädigste ...“ +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch – so hieß der Herr im Waschbärpelz +– stand in der Tat auf der Treppe dicht vor +seiner Gemahlin. +</p> + +<p> +„Ach, das sind Sie?“ rief der Herr Gemahl. +</p> + +<p> +„Ah, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">c’est vous</span>?“ rief Glafira Petrowna, die mit +ungefälschter Freude zu ihm stürzte. „O Gott! Was +mir alles zugestoßen ist! Ich war bei Polowizyns; +und kannst du dir vorstellen ... du weißt, sie wohnen +jetzt an der Ismailoff-Brücke; ich sagte es dir, weißt +du noch? Und dort stieg ich in einen Schlitten. Die +Pferde scheuten, jagten dahin, zerschmetterten den +Schlitten und ich wurde, keine hundert Schritt von +hier, in den Schnee geschleudert; der Kutscher wurde +aufs Polizeibureau gebracht; ich war natürlich außer +mir. Zum Glück kam da Monsieur Tworogoff ...“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +Mr. Tworogoff glich eher Loths Weib, nachdem +es zur Salzsäule geworden, als Herrn Tworogoff. +</p> + +<p> +„Mr. Tworogoff erblickte mich hier und war so +liebenswürdig, mich zu begleiten. Doch jetzt sind Sie +hier, da kann ich mit Ihnen zu uns nach Hause fahren, +und Sie, Mr. Tworogoff, erlauben wohl, daß ich +Sie meiner ganzen Dankbarkeit versichere.“ +</p> + +<p> +Und damit reichte die Dame dem immer noch erstarrten +Herrn Tworogoff die Hand, die sie aber so +stark drückte, daß er fast aufgeschrien hätte. +</p> + +<p> +„Mr. Iwan Iljitsch Tworogoff!“ stellte sie ihn +ihrem Gatten vor. „Ein Bekannter von mir. Ich +hatte das Vergnügen, ihn auf dem letzten Ball bei +<a id="page-272" class="pagenum" title="272"></a> +Skorlupoffs kennen zu lernen, – ich glaube, daß ich +dir von ihm schon erzählt habe? Entsinnst du dich +nicht, Coco?“ +</p> + +<p> +„Ach, aber gewiß, gewiß, mein Kind! Sehr gut +entsinne ich mich!“ versicherte eilfertig der Herr im +Waschbärpelz, der Coco genannt worden war. „Freut +mich, freut mich ungemein!“ +</p> + +<p> +Und er drückte in aufrichtiger Freude die Rechte +des Herrn Tworogoff. +</p> + +<p> +„Mit wem reden Sie denn da? Was hat denn +das zu bedeuten? Ich warte ...“ ertönte plötzlich +eine rauhe Stimme. +</p> + +<p> +Vor der Gruppe stand plötzlich ein endlos langer +Herr, der ein Lorgnon hervorzog und den Herrn im +Waschbärpelz aufmerksam zu betrachten begann. +</p> + +<p> +„Ach, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">voilà</span> Mr. Bobynizyn!“ rief die Dame in +den süßesten Tönen. „Woher kommen Sie denn, wenn +man danach fragen darf? Das nenne ich eine Begegnung! +Denken Sie sich, mich haben die Pferde +soeben aus dem Schlitten geworfen ... Doch hier mein +Mann! Jean! Mr. Bobynizyn, den ich auf dem +Ball bei Karpoffs kennen gelernt habe.“ +</p> + +<p> +„Ah, sehr, sehr, sehr angenehm! ... Ich werde sogleich +ein Gefährt besorgen, mein Kind.“ +</p> + +<p> +„Ja, ja, tu’ es, Jean, tu’ es. Ich zittere noch, ich +bebe von dem Schreck. Mir ist gar nicht wohl ... +Heute abend auf dem Maskenball,“ flüsterte sie schnell +Tworogoff zu ... „Leben Sie wohl, leben Sie wohl, +Herr Bobynizyn! Wir werden uns doch wohl morgen +auf dem Ball bei Karpoffs wiedersehen?“ +</p> + +<p> +„Nein, pardon, ich werde dort nicht zu finden sein; +<a id="page-273" class="pagenum" title="273"></a> +ich werde morgen ... wenn es jetzt nicht geht ...“ +brummte Herr Bobynizyn undeutlich zwischen den +Zähnen, so daß der Nachsatz nicht zu verstehen war, +machte mit seinem Riesenstiefel einen Kratzfuß, setzte +sich in seinen Schlitten und fuhr von dannen. +</p> + +<p> +Da fuhr schon ein zweites Gefährt vor: die Dame +setzte sich hinein, doch der Herr im Waschbärpelz +zögerte mit dem Einsteigen. Wie es schien, war er noch +nicht recht fähig, eine Bewegung zu machen und mit +völlig sinnlosem Blick sah er unverwandt den jungen +Mann in der Pekesche an, worauf dieser nichts als ein +Lächeln zur Erwiderung hatte, ein Lächeln, das auffallend +wenig geistreich war. +</p> + +<p> +„Ich weiß nicht ...“ +</p> + +<p> +„Es freut mich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu +haben,“ versetzte der junge Mann mit einem leichten +Bückling, gewissermaßen um vorzubeugen, da er plötzlich +so etwas wie einen Schreck oder wie Furcht verspürte, +wie sie Gewissensbisse hervorzurufen pflegen ... +</p> + +<p> +„Freut mich, freut mich sehr ...“ +</p> + +<p> +„Sie haben, glaube ich, eine Galosche verloren ...“ +</p> + +<p> +„Ich? Ach, richtig! Ich danke Ihnen, ich danke +Ihnen! Ich habe mir immer Gummigaloschen anschaffen +wollen ...“ +</p> + +<p> +„In Gummigaloschen sollen aber die Füße transpirieren, +sagt man,“ bemerkte der junge Mann, allem +Anschein nach mit unbegrenzter Teilnahme. +</p> + +<p> +„Jean! So komm doch endlich!“ +</p> + +<p> +„Ganz recht, sie sollen transpirieren, wie man +hört. Sogleich, sogleich, Herzchen, im Augenblick, wir +haben hier nur ein Gespräch zu beenden! Ja, gerade +<a id="page-274" class="pagenum" title="274"></a> +wie Sie zu bemerken beliebten: die Füße transpirieren +... Übrigens, verzeihen Sie, ich ...“ +</p> + +<p> +„O, ich bitte!“ +</p> + +<p> +„Freut mich, freut mich ungemein, Ihre Bekanntschaft +gemacht zu haben ...“ +</p> + +<p> +Der Herr im Waschbärpelz setzte sich neben seine +Gemahlin in den verdeckten Schlitten. Die Pferde +griffen aus. +</p> + +<p> +Der junge Mann aber stand noch lange unbeweglich +und blickte dem entschwundenen Paare verwundert +nach. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-4-2"> +<a id="page-275" class="pagenum" title="275"></a> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">m</span> Abend des nächsten Tages fand in der „Italienischen +Oper“ irgendeine Aufführung statt. Der +Saal war bereits brechend voll und der erste Akt hatte +schon begonnen, als plötzlich noch jemand mit größter +Geschwindigkeit eintrat und wie eine Rakete zu seinem +Platz schoß. Dieser jemand war Iwan Andrejewitsch, +der Besitzer jenes Waschbärpelzes. Noch nie hatte man +ihm ein so großes Verlangen nach Musik angemerkt, +wie er es jetzt offenkundig zur Schau trug. Das war +aber um so befremdender, als man die Vorliebe Iwan +Andrejewitschs, sich im Saale der „Italienischen +Oper“ ein Stündchen von Gott Morpheus in den +Armen wiegen zu lassen und sein Wohlbehagen in diesen +Armen durch mehr oder minder vernehmbares +Schnarchen zu bekunden, allgemein seit Jahren kannte. +Auch hatte man ihn oft genug sagen hören, wie schön +es sei, im Traum die Primadonna „so zärtlich wie ein +weißes Kätzchen miauen zu wissen, ohne durch das +Wiegenlied gestört zu werden“. Doch es war eigentlich +schon lange her, daß er das gesagt hatte, mindestens +ein halbes Jahr, wenn nicht länger. Jetzt war +alles anders geworden! Jetzt konnte Iwan Andrejewitsch +<a id="page-276" class="pagenum" title="276"></a> +nicht einmal mehr nachts zu Hause in seinem +Bette schlafen ... +</p> + +<p> +Und so kam es denn wie eine Rakete in den Saal +geschossen, dieses fast fünfzigjährige graue Männchen +– das übrigens doch noch nicht ganz grau war. Mit +einem Blick überflog er alle Logen im zweiten Rang, +und – o, Entsetzen! Sein Herzschlag setzte aus: sie +war hier! Sie saß in einer Loge mit General Polowizyn, +dessen Gattin und Schwägerin. Und in derselben +Loge befand sich noch der Adjutant des Generals +– ein äußerst gewandter und liebenswürdiger +Mann – und dann noch ein Herr in Zivil ... +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch strengte seinen Blick bis zur +größtmöglichen Schärfe an, doch – o, Angst und Pein! +Dieser Unbekannte in Zivil machte sich hinter dem +Rücken des Adjutanten unsichtbar und blieb völlig unkenntlich. +</p> + +<p> +Sie war hier und hatte doch gesagt, daß sie bestimmt +nicht hier sein werde! +</p> + +<p> +Gerade diese ... diese Duplizität, die Glafira +Petrowna auf Schritt und Tritt an den Tag legte, war +es, was den guten Iwan Andrejewitsch vernichtete! +Und dieser Jüngling in Zivil, der brachte ihn vollends +zur Verzweiflung. Wie ein tödlich Verwundeter sank +er in seinen Sessel. Weshalb nur diese Verzweiflung, +fragt sich wohl ein jeder? Die Sache war doch sehr +einfach ... +</p> + +<p> +Der Sessel, auf den sich Iwan Andrejewitsch in +seiner Verzweiflung hatte niedersinken lassen, befand +sich dicht an den Parterrelogen und in gerader Linie +unter jener Loge, in der seine Frau und General Polowizyn +<a id="page-277" class="pagenum" title="277"></a> +nebst Familie saßen, so daß er zu seinem größten +Ungemach nicht einmal sehen konnte, was dort vor sich +ging. Wie verständlich ist’s daher, daß die Wut in ihm +wie das Wasser in einem Ssamowar kochte! Vom +ganzen ersten Akt vernahm er keinen Ton. Man sagt, +das Beste an der Musik sei, daß man sie mit jedem +beliebigen Gefühl in Einklang bringen könne: wer sich +freut, höre Freude aus ihr heraus, der Traurige dagegen +Trauer – was will man mehr? Doch in den +Ohren Iwan Andrejewitschs begann ein ganzer Sturm +zu heulen. Zum Überfluß erschallten noch von allen +Seiten so entsetzliche Stimmen, daß er glaubte, sein +Herz müsse zerspringen. Endlich war der erste Akt zu +Ende. Doch siehe, im Augenblick, als der Vorhang +sank, geschah mit unserem Helden etwas so Seltsames, +daß die Feder sich fast sträubt, es niederzuschreiben. +</p> + +<p> +Es pflegt bisweilen zu geschehen, daß von der +Brüstung einer der höchsten Logen ein Theaterzettel +langsam herabfällt. Ist das betreffende Schauspiel +langweilig und das Publikum unbeteiligt, so ist ihm +damit eine willkommene Zerstreuung geboten. Geradezu +teilnahmsvoll verfolgen die Blicke den im Zickzack +zurückgelegten Flug des weichen, leichten Papiers, wobei +sie mit besonderem Interesse die voraussichtliche +Endstation ins Auge fassen, jenes ahnungslose Haupt, +über dem buchstäblich das Verhängnis schwebt. Es +ist allerdings auch sehr interessant zu beobachten, wie +dieser Kopf dann plötzlich erschrickt, wie verwirrt er +sich umblicken wird – denn der Betreffende wird im +ersten Augenblick ganz unfehlbar betroffen und sehr +verwirrt sein. Auch wegen der Operngläser, die die +<a id="page-278" class="pagenum" title="278"></a> +Damen so unvorsichtig auf den Logenbrüstungen liegen +lassen, stehe ich jedesmal große Angst aus: ich kann +den Gedanken nicht loswerden, daß sie sogleich und unfehlbar +auf irgendjemandes vollständig unvorbereitetes +Haupt herabfallen werden. +</p> + +<p> +Doch Iwan Andrejewitsch widerfuhr etwas, +das bisher noch keinem Menschen widerfahren oder das +wenigstens noch nie beschrieben worden ist. Auf sein +ahnungsloses Haupt – das seines Haarschmuckes +schon ziemlich beraubt war – fiel kein Theaterzettel. +Ich spüre, daß es mir eigentlich recht peinlich ist, das +Ereignis wahrheitsgetreu wiederzugeben, denn es ist +doch nichts weniger als höflich, zu sagen, daß auf das +ehrenwerte, entblößte Haupt des eifersüchtigen und +schwer gereizten Iwan Andrejewitsch tatsächlich ein so +unmoralischer Gegenstand fiel, wie es z. B. ein süßduftender +Liebesbrief ist. Wenigstens fuhr der arme +Iwan Andrejewitsch, dessen Haupt alles andere eher +als eine solche Überraschung erwartete, so heftig zusammen, +als habe er auf seinem ehrenwerten Haupte +zum mindesten eine lebende Maus oder ein anderes +wildes Tier verspürt. +</p> + +<p> +Daß der Brief ein Liebesbrief war – das sah man +ihm nur zu deutlich an. Erstens war er auf zartem, +verräterisch duftendem Papier geschrieben und zweitens +war das Format so klein, daß eine Dame ihn in ihrem +Handschuh hätte verbergen können. Gefallen war er +offenbar während der Übergabe, vielleicht beim +Überreichen eines Theaterzettels, unter dem der Brief +geschickt und schnell verborgen worden war. Vielleicht +war auch nur eine unbeabsichtigte Bewegung des Adjutanten +<a id="page-279" class="pagenum" title="279"></a> +die Ursache gewesen, daß der Brief aus dem +Theaterzettel heraus fiel, bevor der Empfänger ihn bemerken +und verbergen konnte. Jedenfalls erhielt der +Jüngling in Zivil nur den Theaterzettel, mit dem er +dann entschieden nichts anzufangen wußte. Fürwahr, +eine höchst unangenehme Situation, doch muß man zugeben, +daß die Lage Iwan Andrejewitschs noch um +ein Bedeutendes unangenehmer war. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">C’est prédestiné</span>,“ murmelte er, indes kalter +Schweiß ihm aus den Poren trat und er den kleinen +Brief krampfhaft in der Hand zusammenpreßte, als +wenn ihm jemand das Kleinod hätte entreißen wollen, +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">prédestiné</span>! Die Kugel wird den Schuldigen finden!“ +zuckte es durch seine Gedanken. „Nein, das ist +nicht das Richtige! Was habe ich verbrochen, daß +ich mein Leben aufs Spiel setzen soll?“ überlegte er +sofort weiter und ein Gedanke verdrängte den anderen. +Doch wer vermag all die Gedanken aufzuzählen, die +ein Gehirn nach solch einer Erschütterung gebiert! +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch saß vorläufig regungslos, als +wäre er in der Tat das gewesen, was er zu sein schien: +weder tot noch lebendig. Er war überzeugt, daß das +ganze Publikum sein lächerliches Unglück bemerkt +hatte, obschon gerade in dem Augenblick der Vorhang +unter schallendem Applaus gefallen war und ein wahrer +Sturm die Primadonna hervorrief. Doch er war +so verwirrt und verlegen, daß er seinen Blick nicht zu +erheben wagte, als wäre mit ihm das Schrecklichste +geschehen, das ein Mensch sich nur ausdenken kann. +</p> + +<p> +„Sehr gut gesungen!“ bemerkte er schüchtern zu +seinem Nachbarn zur Linken, einem auffallenden Gecken. +</p> + +<p> +<a id="page-280" class="pagenum" title="280"></a> +Der Geck, der sich im höchsten Stadium der Ekstase +befand, unermüdlich in die Hände klatschte und sogar +mit den Füßen scharrte, warf nur einen flüchtigen, +zerstreuten Blick auf Iwan Andrejewitsch, baute dann +geschwind aus seinen Händen ein Schallrohr vor seinen +Mund und rief dumpf brüllend den Namen der Sängerin. +Iwan Andrejewitsch, der noch nichts Ähnliches +vernommen hatte, war entzückt. „Nein, der hat nichts +bemerkt!“ sagte er vollbefriedigt von sich selbst und +wandte sich zurück. Doch der dicke Herr, der hinter +seinem Rücken saß, stand jetzt, ihm seinerseits den +Rücken zuwendend, und musterte durch sein Opernglas +die Reihen der Logen. „Auch gut!“ dachte Iwan Andrejewitsch. +In den Reihen vor ihm hatte man natürlich +nichts gesehen. Schüchtern, doch voll froher Hoffnung +wagte er einen Blick in die Parterreloge zu +werfen, neben der er saß, zuckte aber plötzlich mit der +unangenehmsten Empfindung zusammen, denn was er +dort erblickt hatte, war wenig trostreich: er sah eine +schöne Dame, die, im Sessel zurückgelehnt, krampfhaft +ihr Taschentuch an die Lippen preßte und unbändig +lachte. +</p> + +<p> +„O, diese Weiber, diese Weiber!“ seufzte und +knirschte Iwan Andrejewitsch und schlängelte sich +schleunigst zur Ausgangstür, bemüht, dem Publikum +nicht gar zu rücksichtslos auf die Füße zu treten. +</p> + +<p> +Nun fragte es sich: wie kam Iwan Andrejewitsch +darauf, anzunehmen, daß dieser Liebesbrief gerade aus +der Loge im zweiten Rang stammte? Gab es doch +über dem zweiten Rang noch einen und dann noch +einen und dann noch die Galerie – im ganzen gab es +<a id="page-281" class="pagenum" title="281"></a> +fünf Ränge. Weshalb sollte er ausgerechnet aus jener +bewußten Loge im zweiten Rang gefallen sein, warum +nicht z. B. von hoch oben, von der Galerie, wo doch +gleichfalls Damen saßen? Doch Leidenschaft ist etwas +Außerordentliches und Eifersucht die außerordentliche +Leidenschaft, die sich nicht irrt. +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch stürzte, kaum daß er die Tür +erreicht hatte, ins Foyer, blieb bei der nächsten Lampe +stehen, erbrach das Kuvert und las: +</p> + +<p> +„Heute abend nach der Vorstellung in der G–straße +im Hause K–offs, im dritten Stockwerk, rechts +von der Treppe, Eingang von der Straße. Sei dort. +<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Sans faute!</span>“ +</p> + +<p> +Die Handschrift war Iwan Andrejewitsch unbekannt, +doch eines stand für ihn fest: daß es eine Bestellung +zu einem Rendezvous war. Sein erster Gedanke +war deshalb: „Vorbeugen, überrumpeln, das +Übel verhüten, so lange es noch nicht zu spät war!“ +</p> + +<p> +Einen Augenblick dachte er sogar daran, „die +Schuldigen sogleich zu überführen, sofort, hier im +Theater!“ Doch wie das anstellen? Iwan Andrejewitsch +eilte sogar die Treppe hinauf zum zweiten Rang, +besann sich aber zum Glück noch rechtzeitig und machte +vor der Logentür wieder Kehrt. Er wußte entschieden +nicht, wohin er sich wenden oder wo er sich überhaupt +lassen sollte. In seiner Ratlosigkeit eilte er auf die +andere Seite und blickte durch die offene Tür der +gegenüberliegenden Loge. Tatsächlich: in jeder der +fünf Logen, die sich in vertikaler Linie über seinem +Platz befanden, saßen junge Damen und junge +Herren. Der Liebesbrief hätte aus allen fünf zugleich +<a id="page-282" class="pagenum" title="282"></a> +fallen können, um so mehr, als Iwan Andrejewitsch +die Insassen aller fünf gegen sich verschworen glaubte. +Doch ungeachtet aller sichtbaren Möglichkeiten blieb +Iwan Andrejewitsch bei seiner Überzeugung. Den +ganzen zweiten Akt verbrachte er in den Korridoren, +die er nach allen Richtungen durchirrte, ohne Seelenruhe +finden zu können. Er eilte sogar an die Kasse, +um vom Kassierer die Namen aller fünf Logeninhaber +zu erfahren – doch leider war die Kasse schon geschlossen. +Endlich erschallte Applaus, helle Stimmen, die Bravo +und die Namen der Künstler riefen. Die Vorstellung war zu +Ende. Doch Iwan Andrejewitsch hatte etwas ganz bestimmtes +im Sinn: er griff nach seinem Waschbärpelz und eilte +in die G–straße, um dort „an Ort und Stelle zu überführen, +abzufangen, und überhaupt energischer vorzugehen +als gestern“. Bald hatte er auch das Haus gefunden, +und er war gerade im Begriff einzutreten, +als plötzlich, fast unter seinem Arm, eine Männergestalt +in einem geckenhaften Paletot durch die Tür +schlüpfte und die Treppen zum dritten Stockwerk hinaufeilte. +Iwan Andrejewitsch schien es, daß es der +junge Fant von gestern gewesen sei, obschon er sein +Gesicht weder jetzt noch am Abend vorher gesehen hatte. +Sein Herz blieb stehen. Der Geck hatte bereits einen +Vorsprung von zwei Treppen – wie ihn einholen, wie ihm +zuvorkommen? Da hörte Iwan Andrejewitsch wie +eine Tür schon geöffnet wurde – und zwar ohne +Schlüssel, als sei der Betreffende erwartet worden. +Iwan Andrejewitsch erreichte diese Tür, als der junge +Mann kaum hinter ihr verschwunden und noch niemand +sie von innen zugeschlossen hatte. Er gedachte sich zwar +<a id="page-283" class="pagenum" title="283"></a> +noch ein wenig zu sammeln, den bevorstehenden wichtigen +Schritt zu erwägen, sich so manches zu überlegen, dies und +jenes noch zu befürchten und sich dann erst zu etwas Endgültigem +zu entschließen. Da wollte es das Schicksal, +daß in dem Augenblick eine schwere Equipage vor +das Haus rollte und plötzlich hielt. Die Paradetür +wurde geräuschvoll aufgerissen und jemandes schwere +Schritte begannen, begleitet von Husten und Gekrächz, +langsam die Treppen empor zu steigen. Dieser Situation +war Iwan Andrejewitsch nicht gewachsen: er +klinkte die Tür auf und betrat mit der ganzen Feierlichkeit +des hintergangenen, sich im Recht fühlenden +Gatten das Vorzimmer einer fremden Wohnung. Eine +Kammerzofe trat ihm sehr erregt entgegen, ihr folgte +auf dem Fuß ein Diener, doch nichts vermochte Iwan +Andrejewitsch aufzuhalten: er war im Recht, er war +der Gatte! +</p> + +<p> +Wie eine Bombe in eine harmlose Versammlung, +so flog er in das nächste Gemach, durchschritt zwei fast +dunkle Zimmer und befand sich plötzlich in einem +Schlafgemach vor einer jungen schönen Dame, die ihn +zitternd und verständnislos anstarrte. Da erschallten +aber, noch bevor Iwan Andrejewitsch zu sich gekommen +war, schwere Schritte im Nebenzimmer und näherten +sich merklich der Tür: das waren dieselben Schritte, die +Iwan Andrejewitsch unter sich auf der Treppe vernommen +hatte. +</p> + +<p> +„Gott! Da kommt mein Mann!“ rief die Dame +entsetzt, bleicher als ihr Peignoir, und sie rang hilflos +die Hände. +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch fühlte, daß er in eine Sackgasse +<a id="page-284" class="pagenum" title="284"></a> +geraten, aus der es kein Entrinnen gab, fühlte, +daß er eine bodenlose Dummheit begangen, die nun +nicht mehr gutzumachen war. Schon öffnete sich die +Tür, schon trat der schwere Mann – nach seinen +schweren Schritten zu urteilen – ins Zimmer ... Ich +weiß nicht, für wen oder was Iwan Andrejewitsch sich +in diesem Augenblick hielt. Auch vermag ich nicht zu +sagen, was ihn davon abhielt, dem Fremden frank und +frei entgegenzutreten, seinen Irrtum zu erklären, für +seine Unhöflichkeit um Verzeihung zu bitten und sich +dann zurückzuziehen – freilich nicht ruhmbedeckt, nicht +heldenhaft – aber man hätte es doch immerhin eine +anständige, offene Handlungsweise nennen müssen. +</p> + +<p> +Aber nein: Iwan Andrejewitsch verfuhr wieder wie +ein Schulbube, der nicht weiß, was Überlegung ist, +oder als hätte er sich für einen zweiten Don Juan gehalten. +</p> + +<p> +Im ersten Augenblick verbarg er sich hinter dem +Bettvorhang, doch schon nach zwei Sekunden brach er +vor Angst in die Knie und kroch, jedes Gedankens bar, +auf allen Vieren unter das Bett des fremden Ehepaares. +Der Schreck hatte in ihm jede Regung der +Vernunft gelähmt – nur so läßt es sich erklären, +daß Iwan Andrejewitsch, der selbst ein hintergangener +Gatte war oder sich wenigstens für einen solchen hielt, +nun tat, als tue er das, was ihm widerfuhr, selbst +einem andern an. Vielleicht konnte er es bloß nicht +übers Herz bringen, in einem anderen Manne diese +ihm wohlbekannten Qualen durch seine Gegenwart +hervorzurufen. Doch wie dem auch gewesen sein mag, +Tatsache ist, daß er unter dem Bett lag, ohne selbst zu +<a id="page-285" class="pagenum" title="285"></a> +begreifen, wie er dorthin gelangt war. Das Erstaunlichste +war aber für ihn in diesem Augenblick, daß die +Dame es widerspruchslos hatte geschehen lassen. Sie +hatte nicht einmal aufgeschrieen, als er plötzlich vor ihr +aufgetaucht war, dieser fremde bejahrte kleine Mann, +um darauf ungefragt unter ihrer Ruhestätte zu verschwinden. +Anzunehmen ist, daß sie vor Schreck die +Sprache verloren hatte. +</p> + +<p> +Inzwischen war langsam, stöhnend und mit Ach +und Weh ihr schwerer Gatte ins Zimmer getreten. Mit +greisenhafter Langsamkeit wünschte er seiner Frau +einen guten Abend, worauf er sich so schwer in den tiefen +Sessel fallen ließ, als hätte er soeben eine riesige +Last Holz hereingetragen. Darauf folgte ein langanhaltender +Hustenanfall. Iwan Andrejewitsch, der sich +aus einem gereizten Tiger in ein Lämmlein verwandelt +hatte und nun zitterte und zagte wie ein Mausejunges +vor einem Kater, wagte kaum zu atmen, obwohl er +doch eigentlich aus eigener Erfahrung wissen mußte, +daß nicht alle hintergangenen Ehemänner beißen. Doch +das kam ihm gar nicht in den Sinn – sei es aus +Mangel an Überlegungskraft, sei es aus irgend einem +anderen Mangel in diesem Augenblick. Vorsichtig, nur +leise tastend, wagte er unter dem Bett einen kleinen +Orientierungsversuch, um seine Gliedmaßen in eine +etwas bequemere Lage bringen zu können. Wie groß +aber war sein Erstaunen, sein Schreck und seine Verwunderung, +als seine tastende Hand plötzlich an einen +Gegenstand stieß, der sich bewegte und ihn seinerseits +mit einer Hand anfaßte! +</p> + +<p> +Unter dem Bett war noch ein anderer Mensch! +</p> + +<p> +<a id="page-286" class="pagenum" title="286"></a> +„Wer ist da?“ fragte Iwan Andrejewitsch flüsternd +und zitternd. +</p> + +<p> +„Ich soll Ihnen wohl meinen Namen nennen!“ +kam es flüsternd, doch mit deutlicher Ironie zurück. „Liegen +Sie und halten Sie den Mund, wenn Sie in die +Falle geraten sind!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, Ihr Ton ...“ +</p> + +<p> +„Still!“ +</p> + +<p> +Und der überflüssige Mensch – denn einer hätte +unter dem fremden Ehebett vollkommen genügt – dieser +freche Mensch preßte die Hand Iwan Andrejewitschs +so stark in seiner Faust, daß dieser vor Schmerz +fast aufgeschrien hätte. +</p> + +<p> +„Mein Herr, mein Herr ...“ +</p> + +<p> +„Sst!“ +</p> + +<p> +„So zerdrücken Sie mir doch nicht meine Hand! +oder ich schreie!“ +</p> + +<p> +„Na los! Schreien Sie nur, wenn Sie’s wagen!“ +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch errötete vor Scham. Der +Unbekannte schien kein Erbarmen zu kennen. Vielleicht +war er schon so manches Mal der Verfolgung +des Schicksals ausgesetzt gewesen und befand sich infolgedessen +nicht zum ersten Male in dieser Enge. Iwan +Andrejewitsch war aber jedenfalls ein Neuling in dieser +Situation und glaubte daher, schier vergehen zu +müssen. Das Blut stieg ihm beängstigend heiß zu Kopf. +Was sollte er tun? Er mußte liegen wie er lag: platt +auf dem Bauch. Da faßte er sich in Demut und +schwieg. +</p> + +<p> +„Ich war, mein Herzchen,“ begann der alte Gatte, +<a id="page-287" class="pagenum" title="287"></a> +„ich war, mein Herzchen, bei Pawel Iwanytsch. Wir +begannen Préférence zu spielen, aber weißt du, köchö-köch-köch!“ +– er hustete – „so ... köch-kch-kch! Mein Rücken +... Köch! Ach Gott ... Köch-kch-kch!“ +</p> + +<p> +Und der Greis hustete endlos. +</p> + +<p> +„Mein Rücken ...“ fuhr er endlich mit schwacher +Stimme fort, sich die Tränen aus den Augen wischend, +„begann so zu schmerzen ... von diesen verwünschten +Hämorrhoiden ... daß ich weder stehen noch sitzen ... +noch sitzen konnte! Kököch-köch-köch!“ +</p> + +<p> +Es schien, daß dem neuen Hustenanfall ein weit längeres +Leben bevorstand, als dem Alten, der diesen Husten +hatte. Ließ der Husten etwas nach, so brummte er mitunter +ein paar unverständliche Worte, die bald wieder +im Husten erstickt waren. +</p> + +<p> +„Mein Herr, ich bitte Sie, rücken Sie um Christi +willen etwas zur Seite!“ flüsterte inzwischen Iwan +Andrejewitsch. +</p> + +<p> +„Wohin soll ich denn rücken, ich habe selbst keinen +Platz!“ +</p> + +<p> +„Aber, einstweilen, Sie müssen doch zugeben, daß ich +nicht lange so liegen kann! Ich befinde mich zum erstenmal +in einer solchen Lage.“ +</p> + +<p> +„Und ich mich zum erstenmal in so unangenehmer +Nachbarschaft.“ +</p> + +<p> +„Einstweilen aber, junger Mann, ich muß sagen ...“ +</p> + +<p> +„Still!“ +</p> + +<p> +„Still? Ich möchte Ihnen nur bemerken, junger +Mann, daß Ihre Redeweise, gelinde gesagt, sehr unhöflich +ist ... Wenn ich mich nicht täusche, sind Sie noch sehr +jung; ich bin älter als Sie.“ +</p> + +<p> +<a id="page-288" class="pagenum" title="288"></a> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Sie vergessen sich, Sie wissen nicht, mit +wem Sie reden!“ +</p> + +<p> +„Mit einem Herrn, der unter einem fremden Bett +liegt ...“ +</p> + +<p> +„Aber mich hat doch nur ein Zufall, ein Irrtum hergeführt +... Sie aber, wenn ich mich nicht täusche, Ihre +Sittenlosigkeit, Unsittlichkeit.“ +</p> + +<p> +„Gerade darin täuschen Sie sich eben.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Ich bin älter als Sie, ich sage +Ihnen ...“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, vergessen Sie gefälligst nicht, daß wir +hier auf <em>einem</em> Brett liegen. Und ich bitte Sie, mir nicht +mit Ihren Händen ins Gesicht zu fahren!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Glauben Sie mir, ich kann hier nichts +sehen. Verzeihen Sie, aber ich habe ja doch keinen Platz.“ +</p> + +<p> +„Weshalb sind Sie denn so dick?“ +</p> + +<p> +„Herrgott, Vater im Himmel! Noch nie hast du mich +in eine so erniedrigende Lage gebracht!“ +</p> + +<p> +„Ja, noch niedriger kann man nicht gut liegen.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, ich muß Sie bitten, mein Herr! Ich +weiß zwar nicht, wer Sie sind, ich weiß auch nicht, wie +das alles gekommen ist: ich weiß nur, daß ich irrtümlicherweise +hierher geraten bin – ich bin nicht das, was +Sie von mir glauben ...“ +</p> + +<p> +„Ich würde durchaus nichts von Ihnen glauben, wenn +Sie mich nicht immer stoßen würden. So schweigen Sie +doch endlich!“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Wenn Sie nicht weiterrücken, bekomme +ich einen Schlaganfall! Sie werden meinen Tod zu verantworten +haben. Ich versichere Ihnen ... Ich bin ein ehrenwerter +<a id="page-289" class="pagenum" title="289"></a> +Mensch, ein ... ein Familienvater. Ich kann mich +doch nicht in solch einer Lage befinden! ...“ +</p> + +<p> +„Sie haben sich doch selbst und freiwillig in eine solche +Lage gebracht. Na, rücken Sie doch weiter, dann +haben Sie noch etwas Platz. Aber mehr gibt’s davon +nicht.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! O, ich sehe, Sie sind ein edler junger +Mann! Ich sehe, daß ich mich in Ihnen getäuscht habe +...“ begann Iwan Andrejewitsch in aufwallender Dankbarkeit, +indes er seine abgetaubten Gliedmaßen in eine +glücklichere Lage zu bringen suchte. „Ich kann Ihnen Ihre +eigene Bedrängnis lebhaft nachfühlen, aber was soll man +tun? Ich sehe, daß Sie schlecht von mir denken. Erlauben +Sie, daß ich meine Reputation in Ihren +Augen wieder herstelle ... Erlauben Sie, daß ich Ihnen +auseinandersetze, wer ich bin, wie ich mich gegen meinen +Willen hierher verirrt habe – nochmals, ich versichere +Ihnen! Ich bin nicht aus dem Grunde hier, den Sie annehmen +... Ich fürchte mich entsetzlich ...“ +</p> + +<p> +„So schweigen Sie doch endlich, Herrgott noch ’nmal! +Begreifen Sie denn nicht, wem Sie sich aussetzen, wenn +man Sie hört? Sst! Er wird sogleich aufhören zu +husten!“ +</p> + +<p> +In der Tat hatte der Husten des Greises nachgelassen +und dieser schickte sich wieder an, zu sprechen. +</p> + +<p> +„Also, mein Herzchen,“ krächzte der Greis mühsam +und mit kläglicher Stimme, „also, mein Herzchen, köch-köch! +Ach! diese Plage! Fedossei Iwanowitsch sagte +mir: ‚Sie sollten doch versuchen,‘ sagte er, köch! – +‚doch versuchen, einmal Schafgarbentee zu trinken‘. +Hörst du, Herzchen?“ +</p> + +<p> +<a id="page-290" class="pagenum" title="290"></a> +„Ich höre, mein Freund.“ +</p> + +<p> +„Nun, also er sagte: ‚Sie sollten doch Schafgarbentee +trinken.‘ Ich sagte aber: ‚Ich habe schon Blutegel angesetzt‘. +Er aber sagte: ‚Nein, Alexander Demjanowitsch, +Schafgarbentee ist besser, ist vor allem ein gutes Purgativ, +sage ich Ihnen ...‘! Köch-köch! Ach, mein Gott! Was +meinst du nun dazu, mein Herzchen? Köch-köch! Ach, +Schöpfer! Köch-köch! ... Also du meinst, Schafgarbentee +wäre besser, wie? ... Köch-köch! Ach Gott! +Köch! ...“ usw., usw. +</p> + +<p> +„Ich meine, daß es nicht schlecht sein kann, dieses +Mittel zu versuchen,“ meinte die junge Frau. +</p> + +<p> +„Ja, nicht schlecht! ‚Sie haben,‘ sagte er, ‚vielleicht +sogar die Schwindsucht.‘ Köch-köch! Ich aber sagte: +‚Nein, Podagra, und außerdem einen Magenkatarrh ...‘ +Köch-köch! Er aber sagt: ‚vielleicht auch Schwindsucht.‘ +Also was, köch-köch! Was meinst du dazu, mein Herzchen: +habe ich die Schwindsucht? Köch!“ +</p> + +<p> +„Ach, wie kommen Sie nur darauf, Alexander Demjanowitsch! +Welch ein Unsinn das ist!“ +</p> + +<p> +„Ja, Schwindsucht, sagt er. Aber du, mein Herzchen, +könntest dich jetzt auskleiden und zu Bett gehen ... Köch-köch! +Ich habe aber heute, köch! heute Schnupfen.“ +</p> + +<p> +„Uff!“ seufzte Iwan Andrejewitsch in seiner Zwangslage +unter dem Bett. „Um Gottes und Christi willen, +rücken Sie weiter!“ +</p> + +<p> +„Ich kann mich wahrhaftig nur über Sie wundern: +können Sie denn keinen Augenblick still sein? ...“ +</p> + +<p> +„Sie sind gegen mich erbittert, junger Mann, Sie +wollen mich verletzen, das sehe ich. Sie sind wahrscheinlich +der Liebhaber dieser Dame?“ +</p> + +<p> +<a id="page-291" class="pagenum" title="291"></a> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +„Ich werde nicht schweigen! Ich werde Ihnen nicht +erlauben, hier zu kommandieren! Ganz gewiß sind Sie +der Liebhaber! Wenn man uns entdeckt, bin ich vollkommen +unschuldig, ich ... ich weiß von nichts.“ +</p> + +<p> +„Wenn Sie nicht endlich den Mund halten,“ unterbrach +ihn der junge Mann zähneknirschend, „werde ich +sagen, daß Sie mich hergelockt haben, daß Sie mein Onkel +seien, der sein Vermögen durchgebracht hat. Dann +wird man wenigstens nicht annehmen, daß ich der Liebhaber +dieser Dame sei.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Sie wollen mich zum Narren machen! +Wissen Sie auch, daß meine Geduld reißen kann?“ +</p> + +<p> +„Sst! oder ich werde Sie das Schweigen anders lehren! +Sie sind mein Unglück! So sagen Sie doch, weshalb +sind Sie hier? Ohne Sie würde ich ruhig bis zum +Morgen liegen, wo ich liege, und dann bei passender Gelegenheit +fortgehen ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich kann hier doch nicht bis zum Morgen so +liegen, ich bin doch ein denkender Mensch! Ich habe +Verbindungen, habe Protektion ... Was meinen Sie, +wird er wirklich hier schlafen?“ +</p> + +<p> +„Wer?“ +</p> + +<p> +„Nun, dieser Greis?“ +</p> + +<p> +„Selbstverständlich wird er! Es sind doch nicht alle +Männer so wie Sie. Einige übernachten auch zu +Hause.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr, mein Herr!“ rief Iwan Andrejewitsch +erkaltend vor Schreck, „seien Sie überzeugt, daß auch +ich zu Hause zu schlafen pflege, es ist das erstemal ... +Aber mein Gott, ich sehe ja, daß Sie mich nicht kennen! +<a id="page-292" class="pagenum" title="292"></a> +Wer sind Sie, junger Mann? Sagen Sie es mir ohne +Umschweife, ich flehe Sie an, aus uneigennützigster Liebe +bitte ich Sie darum, – wer sind Sie?“ +</p> + +<p> +„Hören Sie mal! Entweder – oder ich gebrauche +Gewalt ...“ +</p> + +<p> +„Aber erlauben Sie, erlauben Sie, daß ich Ihnen +erzähle, mein Herr, daß ich Ihnen diese ganze entsetzliche +Geschichte erkläre ...“ +</p> + +<p> +„Ich will nichts von Ihnen hören, ich will nichts +wissen, lassen Sie mich in Ruh! Schweigen Sie oder ...“ +</p> + +<p> +„Aber ich kann doch nicht ...“ +</p> + +<p> +Unter dem Bett spielte sich ein zwar kurzer, doch dafür +um so verzweifelterer Kampf ab, bis Iwan Andrejewitsch +verstummte. +</p> + +<p> +„Herzchen, knurrt hier nicht der Kater irgendwo?“ +</p> + +<p> +„Der Kater? Wie ... wie kommen Sie darauf?“ +</p> + +<p> +Offenbar wußte die junge Frau nicht, was sie mit +ihrem alten Gatten reden sollte, da sie ihre Geistesgegenwart +noch nicht völlig wiedererlangt zu haben schien, +was ihre erschrockene Stimme und ihre Verwirrung verriet. +</p> + +<p> +„Was für ein Kater?“ +</p> + +<p> +„Unser Wassjka, Herzchen. Vor ein paar Tagen ging +ich in mein Arbeitszimmer, da saß er und schnurrte so +vor sich hin. Ich fragte ihn: was hast du, Wassenjka? +Er aber schnurrt und schnurrt. Da dachte ich: ach ihr +Heiligen! Sollte er mir etwa meinen Tod prophezeien?“ +</p> + +<p> +„Pfui, welch einen Unsinn Sie heute reden! Schämen +Sie sich!“ +</p> + +<p> +„Nu, nu, sei nicht böse, Herzchen. Ich sehe, der Gedanke, +daß ich sterben könnte, ist dir unangenehm, sei +<a id="page-293" class="pagenum" title="293"></a> +aber nicht böse deshalb. Ich sagte es nur so. Aber du +könntest dich wirklich, Herzchen, jetzt auskleiden und zu +Bett gehen, ich werde hier noch – Köch-köch! – solange +sitzen ... Köch-köch-köch!“ +</p> + +<p> +„O, um’s Himmels willen, hören Sie auf! Später +...“ +</p> + +<p> +„Nu, nu, sei nicht böse, sei nicht böse! Nur war es +wirklich so, als raschelten hier Mäuse ...“ +</p> + +<p> +„Ach, bald glauben Sie den Kater, bald Mäuse zu +hören! Ich weiß nicht, was heute mit Ihnen ist!“ +</p> + +<p> +„Nu, nu ... Köch-köch! Nichts, nichts, köch-köch-köch-köch! +Ach, du mein großer Gott! Köch!“ +</p> + +<p> +„Da haben Sie’s! Sie schreien so laut, daß er es +glücklich gehört hat!“ flüsterte der junge Mann seinem +Nachbar zu, während der Alte hustete. +</p> + +<p> +„Wenn Sie nur wüßten, was in mir vorgeht! Meine +Nase blutet ...“ +</p> + +<p> +„So lassen Sie sie bluten, nur schweigen Sie. Warten +Sie, bis er fortgegangen ist.“ +</p> + +<p> +„Aber, junger Mann, so versetzen Sie sich doch in +meine Lage: ich weiß doch nicht einmal, mit wem ich hier +liege.“ +</p> + +<p> +„Ja, würde es Ihnen denn leichter werden, wenn +Sie’s wüßten? Ich interessiere mich nicht im geringsten +für Ihren Namen. Und wenn schon – Na, wie lautet +er denn, sagen Sie doch zuerst?“ +</p> + +<p> +„Nein, wozu den Namen nennen ... Ich will nur +erklären, durch welchen sinnlosen Zufall ...“ +</p> + +<p> +„Sst ... er hat aufgehört ...“ +</p> + +<p> +„Glaube mir, mein Herzchen, jetzt habe ich ganz deutlich +flüstern gehört!“ +</p> + +<p> +<a id="page-294" class="pagenum" title="294"></a> +„Ach, nein, das ist doch nicht möglich, es wird sich +nur die Watte in Ihren Ohren verschoben haben.“ +</p> + +<p> +„Ach, à propos! Weißt du, hier ... Köch-köch ... +über uns ... Koch ... in der Wohnung über uns, hier, +köch-köch-köch!“ usw. +</p> + +<p> +„Über uns?!“ flüsterte der junge Mann. „Ach, der +Teufel! Und ich dachte, dies sei das letzte Stockwerk! Ist +denn dies erst das zweite?“ +</p> + +<p> +„Junger Mann, mein Herr,“ fuhr Iwan Andrejewitsch +wie von jemandem gekniffen auf, „was sagen Sie +da? Um Gotteswillen, weshalb interessiert Sie das? +Auch ich war der Meinung, daß dies das dritte und letzte +Stockwerk sei! Um Gotteswillen, ist hier denn noch ein +Stockwerk?“ +</p> + +<p> +„Nein wirklich, mein Herzchen, es muß hier jemand +sein,“ sagte der Greis, dessen Husten sich wieder gelegt +hatte. +</p> + +<p> +„Sst! Hören Sie?“ flüsterte der junge Mann, dessen +Hand wie eine eiserne Klammer Iwan Andrejewitschs +Hände packte. +</p> + +<p> +„Mein Herr, Sie zermalmen mir alle Finger! Das +ist Vergewaltigung! Lassen Sie los!“ +</p> + +<p> +„Sst!“ +</p> + +<p> +Wieder kam es zu einem kurzen Kampf, dem wieder +vollständige Stille folgte. +</p> + +<p> +„Ja, ich traf eine nette Kleine ...“ fuhr der Greis +fort. +</p> + +<p> +„Wie, eine nette? ...“ unterbrach ihn seine junge +Frau. +</p> + +<p> +„Ja ... habe ich dir noch nicht erzählt, daß ich einer +netten Dame auf der Treppe begegnet bin? ... oder +<a id="page-295" class="pagenum" title="295"></a> +habe ich es vergessen, zu erzählen ... Mein Gedächtnis +ist schwach. Johanniskraut müßte ich trinken ... Köch!“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Johanniskraut müßte ich trinken: man sagt, das +helfe ... Köch-köch-köch! ... denn das helfe, sagt +man.“ +</p> + +<p> +„Da haben Sie ihn unterbrochen!“ flüsterte der junge +Mann, knirschend. +</p> + +<p> +„Du sagtest, dir sei heute eine nette Dame begegnet?“ +fragte die junge Frau. +</p> + +<p> +„Wie?“ +</p> + +<p> +„Dir ist heute eine nette Dame begegnet?“ +</p> + +<p> +„Wem das?“ +</p> + +<p> +„Aber dir doch!“ +</p> + +<p> +„Mir? Wann? Ach so, richtig, ja! ...“ +</p> + +<p> +„Endlich! O, du verfluchte Mumie!“ murmelte der +junge Mann unterm Bett, der dem vergeßlichen Greise +am liebsten einen aufmunternden Rippenstoß versetzt hätte. +</p> + +<p> +„Mein Herr! Ich zittere vor Angst! Mein Gott, +mein Gott! was höre ich? Das ist ja wie gestern, ganz +wie gestern! ...“ +</p> + +<p> +„Sst!“ +</p> + +<p> +„Jajaja! Jetzt fällt es mir wieder ein: ein ganz reizender +Käfer! So blanke Augen ... unter einem hellblauen +Hütchen ...“ +</p> + +<p> +„Hellblauen Hütchen! Teufel noch eins!“ +</p> + +<p> +„Das ist sie! Sie hat einen kleinen hellblauen Hut! +Mein Gott, mein Gott!“ stöhnte Iwan Andrejewitsch +wie ein Verzweifelter. +</p> + +<p> +„Sie? Welche ‚sie‘?“ fragte der junge Mann flüsternd, +doch mit unheimlichem Händedruck. +</p> + +<p> +<a id="page-296" class="pagenum" title="296"></a> +„Sst!“ machte nun seinerseits Iwan Andrejewitsch, +„er spricht!“ +</p> + +<p> +„Zum Teufel! ... Teufel ...“ +</p> + +<p> +„Übrigens kann jede Dame einen hellblauen Hut +tragen ...“ flüsterte Iwan Andrejewitsch zaghaft. +</p> + +<p> +„Und solch eine Schelmin scheint sie zu sein!“ fuhr +der Greis fort, „köch! Sie kommt immer hierher, zu irgendwelchen +Bekannten. Und immer liebäugelt sie. Zu +diesen Bekannten kommen aber wieder andere Bekannte +...“ +</p> + +<p> +„Pfui, wie langweilig das ist,“ unterbrach ihn seine +junge Frau. „Ich begreife nicht, wie einen so etwas interessieren +kann.“ +</p> + +<p> +„Nun, schon gut, schon gut! Sei nur nicht böse!“ +beschwichtigte sie wieder der Greis „ich ... ich – Köch! +– ich werde nicht mehr davon erzählen, wenn du es nicht +willst. Du bist heute nicht bei ganz guter Laune ...“ +</p> + +<p> +„Aber wie sind Sie denn hierher geraten?“ forschte +plötzlich in gereiztem Flüsterton der junge Mann unterm +Bett. +</p> + +<p> +„Ach, sehen Sie, sehen Sie! Jetzt fangen Sie an, sich +dafür zu interessieren, vorher aber wollten Sie mich überhaupt +nicht anhören!“ +</p> + +<p> +„Ach, nun, dann nicht! Mir ist’s schließlich gleich. +Aber seien Sie dann still! Hol’s der Teufel, die Geschichte +ist, bei Gott! um aus der Haut zu fahren ...“ +</p> + +<p> +„Junger Mann, hören Sie, ärgern Sie sich nicht! +Ich weiß nicht, was ich rede! Ich ... ich wollte nur +sagen, daß Sie sich wohl kaum grundlos für den Zwischenfall +interessieren werden ... Aber wer sind Sie, +junger Mann? Sie sind mir unbekannt, wie ich sehe, aber +<a id="page-297" class="pagenum" title="297"></a> +wer sind Sie nun eigentlich! Mein Gott! Ich weiß +selbst nicht mehr, was ich rede!“ +</p> + +<p> +„Hören Sie auf,“ riet ihm der junge Mann, als sei +er innerlich mit anderem beschäftigt. +</p> + +<p> +„Ich werde Ihnen alles erzählen, alles! Sie denken +vielleicht, daß ich nicht erzählen werde, daß ich Ihnen +böse bin, nicht? Hier haben Sie meine Hand! Ich bin +nur in einer etwas niedergeschlagenen Stimmung, das +ist alles. Aber sagen Sie mir um Gotteswillen zuerst: wie +sind Sie hierher geraten? Aus welchem Grunde, zu welchem +Zweck sind Sie in dieses Haus gekommen? Was +mich betrifft, so bin ich nicht böse, bei Gott, ich bin +Ihnen nicht böse, hier haben Sie meine Hand darauf. +Nur wird sie nicht allzu sauber sein, denn hier ist es +etwas staubig. Aber was will das besagen!? Auf das +Gefühl kommt es an!“ +</p> + +<p> +„Eh, gehn Sie zum Teufel mit Ihrer Hand! Kaum, +daß man hier Platz hat, platt auf dem Bauch zu liegen – +da will er noch Armverrenkungen versuchen!“ +</p> + +<p> +„Aber, mein Herr! Sie gehen mit mir um, als wäre +ich, mit Erlaubnis zu sagen, eine alte Stiefelsohle!“ wendete +Iwan Andrejewitsch in einer Aufwallung der keuschesten +Verzweiflung mit einer Stimme ein, wie man sie +sonst nur zu flehentlichem Bitten gebraucht. „Behandeln +Sie mich nur ein wenig höflicher – hören Sie? – nur +ein wenig höflicher, und ich werde Ihnen alles erzählen! +Wir würden einander lieb gewinnen; ich bin sogar bereit, +Sie zu mir zu Tisch einzuladen. So aber können wir +nicht beisammen liegen bleiben, das sage ich Ihnen ganz +offen. Sie sind auf einem Irrwege, junger Mann, Sie +wissen nicht ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-298" class="pagenum" title="298"></a> +„Wann kann er ihr denn begegnet sein?“ murmelte +der junge Mann vor sich hin, offenbar in größter Aufregung. +„Vielleicht wartet sie dort auf mich ... Nein, +ich muß unbedingt fort von hier, koste es, was es wolle!“ +</p> + +<p> +„Sie? Wer ist diese ‚sie‘? Mein Gott! von wem +reden Sie, junger Mann? Sie glauben, daß hier oben +über uns ... Mein Gott, mein Gott, wofür werde ich +so gestraft?!“ +</p> + +<p> +Und Iwan Andrejewitsch wollte sich, zum Zeichen seiner +Verzweiflung, auf den Rücken kehren, doch der Versuch +mißlang, was ihn noch unglücklicher machte. +</p> + +<p> +„Was geht das Sie an, wer sie ist? Eh, zum Teufel! +– ich krieche hinaus! ...“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Was fällt Ihnen ein? Und ich? Wo +soll ich denn bleiben?“ stotterte Iwan Andrejewitsch entsetzt +und er klammerte sich an die Frackschöße des anderen. +</p> + +<p> +„Was geht das mich an? So bleiben Sie doch allein +hier. Oder wenn Sie das nicht wollen, kann ich ja sagen, +daß Sie mein Onkel seien, der sein Vermögen durchgebracht +hat, damit der Klappergreis nicht auf den Gedanken +kommt, in mir den Geliebten seiner Frau zu +sehen.“ +</p> + +<p> +„Aber, junger Mann, das ist doch ganz unmöglich, +ganz ausgeschlossen! Wer wird Ihnen denn das glauben, +daß ich Ihr Onkel sei? Kein dreijähriges Kind wird +es Ihnen glauben!“ flüsterte in beschwörendem Tone +Iwan Andrejewitsch. +</p> + +<p> +„Na dann schwatzen Sie wenigstens nicht und legen +Sie sich platt! Sie können doch hier ruhig übernachten +und dann morgen sehen, wie Sie entkommen. Kein Mensch +<a id="page-299" class="pagenum" title="299"></a> +wird Sie hier bemerken; denn wenn einer schon herausgekrochen +ist, wird niemand noch einen zweiten unter dem +Bett vermuten – da könnte ein ganzes Dutzend sich gesichert +fühlen. Übrigens wiegen Sie allein ein ganzes +Dutzend auf. Rücken Sie zur Seite, ich krieche hinaus.“ +</p> + +<p> +„Sie drücken mich, junger Mann ... Aber wie, wenn +ich zu husten beginne? Man muß doch alles voraussehen +...“ +</p> + +<p> +„Sst!“ +</p> + +<p> +„Was ist das, mein Herzchen, ich glaube über uns +hat wieder ein Spektakel begonnen,“ bemerkte der Greis, +der inzwischen wohl eingeschlummert war, mit schläfriger +Stimme. +</p> + +<p> +„Über uns?“ +</p> + +<p> +„Hören Sie, junger Mann: ich werde hinauskriechen.“ +</p> + +<p> +„Ich höre, – nun!“ +</p> + +<p> +„Mein Gott, junger Mann, ich werde hinauskriechen!“ +</p> + +<p> +„Ich nicht. Mir ist alles gleich. Wenn schon einmal +ein Strich durch die Rechnung gemacht ist, dann – ... +Aber wissen Sie, was ich stark vermute? Daß Sie, gerade +Sie und kein anderer ein betrogener Ehemann sind! +– Verstanden?“ +</p> + +<p> +„Mein Gott, welch ein Zynismus! ... Vermuten +Sie das wirklich? Aber weshalb denn gerade ein Ehemann +... ich bin doch nicht verheiratet ...“ +</p> + +<p> +„Was, nicht verheiratet? Sie? Wer das glaubt!“ +</p> + +<p> +„Ich bin vielleicht selbst ein Liebhaber, Sie können es +doch nicht wissen!“ +</p> + +<p> +„Famoser Liebhaber das! Ha–ha!“ +</p> + +<p> +<a id="page-300" class="pagenum" title="300"></a> +„Mein Herr, mein Herr! Nun gut, ich werde Ihnen +alles erzählen. Vernehmen Sie also meine Beichte, – +die Beichte eines Verzweifelten. Nicht ich bin der Betreffende, +ich bin nicht verheiratet. Ich bin gleichfalls +Junggeselle – ganz wie Sie. Es ist das nur mein Freund, +mein Jugendfreund, um den es sich handelt ... Ich aber +bin ein Liebhaber ... Da sagt er mir eines Tages: +‚Ich bin ein unglücklicher Mensch, ich muß den bittersten +Kelch leeren, denn ich mißtraue meiner Frau.‘ +Aber, Freund, sage ich, wessen verdächtigst du sie +denn? ... Aber Sie hören mich ja gar nicht! So hören +Sie, hören Sie doch! ... Eifersucht ist lächerlich, sage +ich zu ihm, Eifersucht ist ein Laster! ... Er aber sagt: +‚Nein, ich bin ein unglücklicher Mensch! Ich – wie +gesagt ... ich leere den Kelch, den bittersten Kelch ... +d. h. ich habe sie im Verdacht ...‘ – Du bist mein Jugendfreund, +sagte ich zu ihm. Wir haben gemeinsam Blumen +gepflückt, gemeinsam die ersten Freuden genossen ... +Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede! Sie lachen +die ganze Zeit, junger Mann. Sie werden mich noch verrückt +machen!“ +</p> + +<p> +„Das sind Sie ja schon.“ +</p> + +<p> +„Da haben wir’s! Ich ahnte es ja, daß Sie mir +das sagen würden, als ich das Wort noch nicht einmal +ausgesprochen hatte – da schon ahnte ich es! Lachen Sie +nur, lachen Sie nur, junger Mann! Ebenso bin auch ich +gewesen, zu meiner Zeit, ebenso habe auch ich verführt! +Ach, ja! – jetzt aber, ... jetzt werde ich sicher verrückt +werden!“ +</p> + +<p> +„Was ist das, mein Herzchen, hat hier nicht jemand +<a id="page-301" class="pagenum" title="301"></a> +geniest?“ fragte wieder der Greis mit seiner trägen Langsamkeit. +„Warst du es, mein Herzchen?“ +</p> + +<p> +„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>!“ stöhnt die arme junge Frau. +</p> + +<p> +„Sst!“ hörte man unter dem Bett. +</p> + +<p> +„Das muß über uns im dritten Stockwerk sein,“ bemerkte +die junge Frau in ihrer Herzensangst. Unter dem +Bett wurde es schon allzu verräterisch laut und immer +lauter. +</p> + +<p> +„Ja, das scheint mir auch,“ meinte der Greis bedächtig. +„Über uns! ... Habe ich dir schon erzählt, daß ich +einem jungen Mann – Köch-köch! einem jungen Mann +mit einem Schnurrbärtchen – Köch-köch! Ach, mein +Gott und Vater! – mein Rücken! ... einem jungen +Fant soeben begegnet bin, mit einem Schnurrbärtchen +...“ +</p> + +<p> +„Mit einem Schnurrbärtchen! Großer Gott, das sind +gewiß Sie!“ flüsterte Iwan Andrejewitsch entsetzt. +</p> + +<p> +„Herrgott, ist das ein Mensch! Ich bin doch hier, hier +unter dem Bett, liege hier dicht neben Ihnen! Wo kann +er mir denn begegnet sein! Aber so fahren Sie mir doch +nicht ewig mit Ihren Händen ins Gesicht!“ +</p> + +<p> +„Gott, ich werde sogleich ohnmächtig werden!“ +</p> + +<p> +In diesem Augenblick hörte man in der Wohnung +darüber allerdings großen Lärm. +</p> + +<p> +„Was mögen sie dort nur treiben?“ fragte sich der +junge Mann. +</p> + +<p> +„Mein Herr! Ich zittere, mir graut! Helfen Sie +mir!“ +</p> + +<p> +„Sst!“ +</p> + +<p> +„Ja, mein Herzchen, jetzt höre ich es ganz deutlich, +es ist ja fast ein Höllenspektakel dort oben. Und das gerade +<a id="page-302" class="pagenum" title="302"></a> +über deinem Schlafzimmer. Sollte man da nicht +hinaufschicken, und um Ruhe bitten lassen?“ +</p> + +<p> +„Ach, das fehlte noch!“ +</p> + +<p> +„Nun, nun, schon gut, dann nicht. Warum bist du +heute so böse?“ +</p> + +<p> +„Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>! Werden Sie nicht bald schlafen +gehn?“ +</p> + +<p> +„Lisa, du liebst mich gar nicht.“ +</p> + +<p> +„Ach, gewiß liebe ich Sie! Nur ... um Gotteswillen, +ich bin so müde.“ +</p> + +<p> +„Nun, nun, schon gut, ich gehe ja schon.“ +</p> + +<p> +„Ach, nein, nein, gehen Sie nicht fort!“ rief die junge +Frau plötzlich angstvoll. „Oder nein, gehen Sie, gehen +Sie!“ +</p> + +<p> +„Was hast du nur, mein Herzchen! Bald sagst du, +ich soll fortgehen, bald wieder, ich soll hierbleiben ... +Köch-köch! Aber es wäre wirklich Zeit zum ... Köch-köch! +Bei Panafidins hatten die kleinen Mädchen ... +Köch-köch! ... Mädchen ... Köch! Eine Nürnberger +Puppe sah ich bei der Kleinen, köch-köch! ...“ +</p> + +<p> +„Ach, jetzt redet er noch von Puppen!“ +</p> + +<p> +„Köch-köch! Eine sehr schöne Puppe war es ... +Köch-köch!“ +</p> + +<p> +„Er verabschiedet sich schon!“ flüsterte der junge +Mann seinem Leidensgenossen zu, „er geht und dann +können wir sogleich hinausschlüpfen. Hören Sie? So +freuen Sie sich doch!“ +</p> + +<p> +„O, gäbe Gott! Gäbe Gott!“ +</p> + +<p> +„Das war eine Lehre für Sie ...“ +</p> + +<p> +„Junger Mann! Was für eine Lehre? Wofür? Ich +<a id="page-303" class="pagenum" title="303"></a> +fühle, daß ... Doch Sie sind noch zu jung, Sie können +mir keine Lehre geben.“ +</p> + +<p> +„Trotzdem gebe ich sie aber ... Hören Sie?“ +</p> + +<p> +„Gott! Ich will niesen! ...“ +</p> + +<p> +„Sst! Wenn Sie es nur wagen!!“ +</p> + +<p> +„Aber was soll ich denn tun? Es riecht hier nach +Mäusen, ich habe Staub eingeatmet! Ich kann doch nicht! +Geben Sie mir mein Taschentuch, aus meiner Rocktasche, +um Gotteswillen, ich kann mich nicht rühren ... O +Gott, o Gott! Wofür werde ich so gestraft?“ +</p> + +<p> +„Da haben Sie Ihr Taschentuch! Wofür Sie bestraft +werden, das will ich Ihnen sogleich sagen: Sie sind +eifersüchtig. Auf Grund Gott weiß welcher Zweifel rennen +Sie wie ein Verrückter durch die Straßen der Stadt, +brechen in fremde Häuser ein, belästigen die Menschen +in ihren Wohnungen, verursachen einen Skandal ...“ +</p> + +<p> +„Junger Mann! Ich habe noch keinen Skandal verursacht!“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +„Junger Mann, Sie können und dürfen mir nicht +Moral predigen! Ich bin moralischer als Sie!“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie!“ +</p> + +<p> +„O Gott, o Gott!“ +</p> + +<p> +„Sie verursachen einen Skandal, erschrecken eine schöne +junge Frau, die nicht weiß, wo sie sich vor Angst lassen +soll, und die vielleicht noch krank werden wird von dieser +ganzen Aufregung; Sie beunruhigen einen ehrwürdigen +Greis, der durch seine verschiedenen Leiden ohnehin +schon genug gequält wird, einen Greis, der vor allen +Dingen der Ruhe bedarf, – und das alles aus welchem +Grunde? Nur weil Sie sich da irgendeinen Unsinn +<a id="page-304" class="pagenum" title="304"></a> +in den Kopf gesetzt haben, mit dem Sie nun durch alle +Gassen und in alle Häuser laufen! Begreifen Sie auch, +begreifen Sie auch, in welches Licht Sie sich selbst gestellt +haben, als was Sie dastehen, was man von Ihnen +denken muß? Fühlen, begreifen Sie das auch wirklich so, +wie es sich gehört?“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Gut! Ich fühle es! Aber Sie haben +kein Recht ...“ +</p> + +<p> +„Schweigen Sie! Was reden Sie hier von Recht +oder kein Recht! Begreifen Sie denn nicht, wie tragisch +das enden kann? Begreifen Sie denn nicht, daß dieser +Greis, der seine junge Frau über alles liebt, einfach irrsinnig +werden kann, wenn er sieht, wie Sie unter dem +Bett seiner Frau hervorkriechen? Doch nein, Sie können +nicht die Ursache einer Tragödie sein! Wenn Sie hervorkriechen, +muß ein jeder, denke ich, sich vor Lachen krummbiegen. +Ich würde viel dafür geben, könnte ich Sie mal +bei Licht betrachten! Sie müssen ja zum Platzen komisch +sein!“ +</p> + +<p> +„Und Sie? In einer solchen Lage, unter dem Bett +hervorkriechend, würden Sie gleichfalls lächerlich sein. +Auch ich würde Sie gern einmal bei Licht betrachten.“ +</p> + +<p> +„Sie!!“ +</p> + +<p> +„Ihrem Gesicht wird zweifellos der Stempel der Unsittlichkeit +aufgedrückt sein, junger Mann!“ +</p> + +<p> +„Ah! Sie kommen wieder auf die Sittlichkeit zu sprechen! +Woher wissen Sie denn, weshalb ich hier bin? Ich +bin irrtümlicherweise hierher geraten, ich wollte eine +Treppe höher hinauf. Und der Teufel mag wissen, weshalb +man mich hereingelassen hat! Offenbar muß sie selbst +jemanden erwartet haben – doch, versteht sich, jedenfalls +<a id="page-305" class="pagenum" title="305"></a> +nicht Sie. Ich versteckte mich sofort unter dem Bett, als +ich Ihre Schritte hörte und als ich sah, daß die Dame +so heftig erschrak. Zudem war es hier noch ziemlich dunkel. +Übrigens kann auch meine Anwesenheit Ihre Anwesenheit +noch lange nicht rechtfertigen. Sie sind, mein +Herr, nichts als ein lächerlicher eifersüchtiger Alter! +Weshalb ich nicht hinausgehe? Sie denken vielleicht, ich +fürchte mich? Nein, mein Verehrtester, ich wäre schon +längst gegangen, ich bin nur aus Mitleid mit Ihnen hiergeblieben. +Sie würden ja am Ende gar Ihren Geist aufgeben, +wenn ich Sie verließe. Sie würden ja wie +ein alter Klotz vor ihnen stehen, wenn man Sie endlich +ans Licht beförderte, Sie würden sich doch nie und nimmer +zurechtfinden ...“ +</p> + +<p> +„Weshalb denn wie ein alter Klotz? Weshalb gerade +wie dieser Gegenstand? Konnten Sie mich nicht +mit einem anderen vergleichen, junger Mann? Weshalb +sollte ich mich denn nicht zurechtfinden? Nein, ich würde +mich sehr gut zurechtfinden!“ +</p> + +<p> +„Sst! Hören Sie nicht, wie der Schoßhund bellt! +Das kommt alles von Ihrem ewigen Geschwätz! Jetzt haben +Sie das Hündchen aufgeweckt! Dieses elende Vieh +kann noch zu unserem Verräter werden!“ +</p> + +<p> +In der Tat: das Schoßhündchen der Dame, das bis +dahin ruhig auf seinem Kissen in der Ecke geschlafen hatte, +war plötzlich aufgewacht, hatte ein wenig geschnuppert +und war dann mit empörtem Gekläff unter das Bett gestürzt. +</p> + +<p> +„O Gott! Solch ein elendes Vieh!“ murmelte Iwan +Andrejewitsch, halb tot vor Schreck und Angst. „Es wird +uns bestimmt verraten! Es wird alles offenbar werden! +<a id="page-306" class="pagenum" title="306"></a> +Wodurch habe ich nur diese Strafe verdient, o du mein +Gott!“ +</p> + +<p> +„Durch Ihre Feigheit natürlich!“ +</p> + +<p> +„Ami, Ami, komm her!“ rief plötzlich, erschrocken auffahrend, +die junge Frau. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici, ici, viens ici!</span>“ +</p> + +<p> +Doch das Hündchen kümmerte sich nicht um sie, sondern +griff mutig Iwan Andrejewitsch an. +</p> + +<p> +„Was ist das, mein Herzchen, weshalb bellt denn +Amischka so laut?“ fragte der Greis. „Sind etwa +Mäuse unter dem Bett, oder sitzt dort der Kater? Deshalb +– ich hörte ihn doch die ganze Zeit schnurren ... +Und du weißt doch, Wassjka hat heut Schnupfen ...“ +</p> + +<p> +„Liegen Sie ganz still!“ flüsterte der junge Mann. +„Rühren Sie sich nicht! Dann wird das Vieh sich vielleicht +beruhigen.“ +</p> + +<p> +„Mein Herr! Mein Herr! Geben Sie meine Hände +frei! Weshalb halten Sie sie?“ +</p> + +<p> +„Sst! still!“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, ich beschwöre Sie, der Hund +beißt mich in die Nase! Sie wollen wohl, daß ich meine +Nase verliere?“ +</p> + +<p> +Es folgte ein Handgemenge, in dem es Iwan Andrejewitsch +schließlich gelang, seine Hände zu befreien. +Das Hündchen bellte wie rasend; plötzlich aber quietschte +es auf und verstummte. +</p> + +<p> +„Ach!“ schrie die Dame auf. +</p> + +<p> +„Was tun Sie?“ flüsterte der junge Mann wütend. +„Sie verraten uns! Weshalb haben Sie den Hund gepackt? +Teufel, der Kerl würgt ihn noch obendrein! So +hören Sie doch, was ich Ihnen sage! Lassen Sie ihn laufen! +Hören Sie! Sie Kameel! Haben Sie denn keine +<a id="page-307" class="pagenum" title="307"></a> +Ahnung von einem Weiberherzen? Sie wird uns beide +noch an den Galgen bringen, wenn Sie ihren Hund +erwürgen!“ +</p> + +<p> +Doch Iwan Andrejewitsch hatte die Angst wie taub +gemacht: er hörte auf nichts. Es war ihm gelungen, den +kleinen Köter am Kragen zu fassen: und da hatte er ihm +denn in übergroßem Selbsterhaltungstriebe den Hals mit +einem Griff so zugeschnürt, daß dem Tierchen kaum Zeit +geblieben war, noch einmal zu quieken, bevor es den Geist +aufgab. +</p> + +<p> +„Wir sind verloren!“ flüsterte der junge Mann. +</p> + +<p> +„Amischka, Amischka!“ rief die Dame. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu</span>, +was haben sie mit meinem Ami gemacht! Amischka, +Amischka! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici!</span> O, diese Schändlichen! Diese Barbaren! +Mein Gott, mir wird schlecht!“ +</p> + +<p> +„Was ist denn, was ist denn geschehen, mein Herzchen?“ +sagte der Greis, der wohl gerade im Begriff gewesen +war, ein wenig einzuschlummern, „was hast du, +mein Herz? Amischka, hierher! Zum Fuß! Amischka, +Amischka, Amischka!“ rief der Alte eifrig, schnalzte mit +der Zunge, schnippte mit den Fingern, doch es half alles +nicht: Amischka kam nicht wieder zum Vorschein. „Wo +ist er denn geblieben? Amischka! <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Ici.</span> Wirst du wohl! +Es kann doch nicht sein, daß der Kater ihn dort aufgefressen +hat? Jedenfalls muß Wassjka Prügel bekommen, +meine Liebe, er ist schon einen ganzen Monat nicht mehr +bestraft worden. Was meinst du dazu? Ich werde +morgen Praskowja Sacharjewna fragen, was sie dazu +meint. Aber um Gottes willen, mein Herz, was ist mit +dir? Du bist ganz bleich! Oh, oh! Wasser! Hilfe! +Hilfe!“ +</p> + +<p> +<a id="page-308" class="pagenum" title="308"></a> +Und der Alte stürzte kopflos zur Tür. +</p> + +<p> +„Diese Mörder! Diese Räuber!“ schrie die Dame +und sank auf die Chaiselongue. +</p> + +<p> +„Wer, wer, wer das?“ rief der Alte von der Tür her. +</p> + +<p> +„Dort sind Menschen! Fremde Menschen! Dort +... unter meinem Bett! Oh, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">mon Dieu</span>! Amischka, +Amischka! Was haben sie mit dir getan!!“ +</p> + +<p> +„Ach, Gott im Himmel! Was für Menschen? +Amischka ... Nein, zuerst Leute her, Leute! Leute! Wer +ist dort? Wer?“ schrie der Alte ganz heiser vor Aufregung, +und er griff nach dem Licht und beugte sich, um +unter das Bett zu sehen. „Wer ist dort! Zu Hilfe! +Leute! ...“ +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch lag mehr tot als lebendig neben +dem Leichnam Amischkas. Der junge Mann aber verfolgte +aufmerksam jede Bewegung des Alten. Plötzlich +sah er, daß dieser zur Wand ging und sich dort niederbeugte. +Im Augenblick kroch er unter dem Bett hervor, +während der Alte die Einbrecher auf der anderen Seite +des Ehebettes suchte. +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu!</span>“ murmelte die Dame ganz erstaunt, +als sie plötzlich einen jungen eleganten Mann vor sich +stehen sah. „Wer sind Sie? Ich dachte ...“ +</p> + +<p> +„Der andere ist noch unterm Bett,“ erklärte ihr der +junge Mann leise und schnell. „Er ist schuld an Amischkas +Tod!“ +</p> + +<p> +„Ach!“ schrie die Dame entsetzt auf. +</p> + +<p> +Doch schon war der junge Mann aus dem Zimmer. +</p> + +<p> +„Ach! Wer ist hier? Hier sehe ich einen Stiefel! +Ein Bein!“ keuchte der Alte, der Iwan Andrejewitsch am +Fuß hervorzuziehen versuchte. +</p> + +<p> +<a id="page-309" class="pagenum" title="309"></a> +„Der Mörder! dieser Mörder! oh Ami, oh Ami!“ +jammerte die Dame. +</p> + +<p> +„Kommen Sie heraus! Kommen Sie heraus!“ schrie +der Alte, mit den Beinen auf den Teppich stampfend. +„Wer sind Sie? Was suchen Sie hier? Was wollen +Sie? Gott im Himmel! Was das für ein Mensch ist!“ +</p> + +<p> +„Das sind ja Mörder!“ +</p> + +<p> +„Um Gottes und aller Heiligen willen! Um Christi +willen!“ flehte Iwan Andrejewitsch, der auf allen Vieren +hervorkroch, sich kniend erhob und flehend die Hände +faltete und dann wieder weiterkroch. „Um Gottes willen, +Ew. Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! +Exzellenz, rufen Sie keine Menschen herbei! Das ... +das ist ganz überflüssig! Sie ... Sie können mich nicht +vor die Tür setzen lassen! ... Ich bin nicht solch +einer! ... Ich bin ein freier Mensch ... Das ist +ein Irrtum, Exzellenz, ich habe mich nur geirrt! Ich +werde Ihnen sogleich alles erklären, Exzellenz, alles, alles, +alles!“ fuhr Iwan Andrejewitsch schluchzend mit versagender +Stimme fort. „An allem ist nur meine Frau +schuld, das heißt, nicht meine Frau, sondern eine fremde +Frau, – denn ich bin ja gar nicht verheiratet, ich bin +nur so ... Das ist mein Schulkamerad und Jugendfreund +...“ +</p> + +<p> +„Was für ein Jugendfreund!“ schrie der Alte und er +stampfte zornig mit dem Fuß auf. „Sie sind ein Dieb, +ein Einbrecher, ein Mörder! Stehlen wollten Sie! ... +Aber nicht Jugendfreund! ...“ +</p> + +<p> +„Nein, ich bin kein Dieb, Exzellenz, ich bin wirklich +sein Jugendfreund ... ich ... ich habe mich nur zufällig +verirrt, ich habe nur die Haustüren verwechselt! ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-310" class="pagenum" title="310"></a> +„Das kennt man! – Haustüren verwechselt!“ +</p> + +<p> +„Ew. Exzellenz! Ich bin nicht solch ein Mensch! Sie +täuschen sich! Ich versichere Ihnen, daß Sie sich in +einem grausamen Irrtum befinden, Exzellenz! Sehen +Sie mich an, betrachten Sie mich, und Sie werden an allen +Anzeichen erkennen, daß ich kein Dieb sein kann. +Exzellenz! Ew. Exzellenz!“ flehte Iwan Andrejewitsch, +sich mit beschwörender Gebärde an die junge Frau wendend. +„Sie, Sie werden mich als zartfühlende Dame +eher verstehen ... Ich ... ich habe Amischka umgebracht +... Aber ich bin nicht schuld daran ... bei +Gott nicht! Daran ist meine ... das heißt, nicht meine, +sondern eine fremde Frau schuld! Ich ... ich bin ein +unglücklicher Mensch, ich habe den Kelch geleert ...“ +</p> + +<p> +„Was geht das mich an, was Sie da geleert haben – +es wird wohl nicht nur <em>ein</em> Kelch gewesen sein, nach +Ihrem Aussehen zu urteilen! Aber wie sind Sie hierher +gekommen, mein Herr, wenn Sie mir das erklären wollten?!“ +schrie der Alte zitternd vor Aufregung, obschon er +sich selbst eingestand, daß dieser Fremde offenbar kein gewöhnlicher +Dieb sein konnte. „Ich frage Sie: wie – +sind – Sie – hierher gekommen? Zum Donnerwetter! +... Daß Sie kein Räuber sind ...“ +</p> + +<p> +„Ich bin kein Räuber, ich bin kein Räuber, Exzellenz! +Ich ... ich bin nur in eine andere Tür ... bei Gott, +ich bin kein Räuber! Das kommt alles nur daher, daß +ich eifersüchtig bin! Ich werde Ihnen alles erzählen, +Exzellenz, alles und ganz offenherzig, Exzellenz, wie meinem +Vater werde ich es Ihnen erzählen, wie meinem +leiblichen Vater, denn den Jahren nach könnte ich Sie +doch für meinen Vater halten!“ +</p> + +<p> +<a id="page-311" class="pagenum" title="311"></a> +„Was?! Für Ihren Vater?!“ +</p> + +<p> +„Exzellenz, Ew. Exzellenz! Ich habe Sie vielleicht +verletzt! – o, verzeihen Sie es mir! In der Tat, eine so +junge Dame ... und Ihre Jahre ... sehr-sehr-sehr angenehm, +Ew. Exzellenz, glauben Sie mir, eine ... +eine solche Ehe zu sehen ... in den besten Jahren! ... +Rufen Sie nur nicht die Leute herbei, um Gottes willen, +rufen Sie nicht Ihre Leute her ... die würden nur lachen +... ich kenne sie ... Das heißt, ich will damit +nicht sagen, daß ich nur mit Bedienten bekannt bin, – +ich habe selbst Bediente, Exzellenz, und ewig lachen sie, +die ... Esel! Exzellenz ... Ich glaube, mich nicht +getäuscht zu haben ... Durchlaucht ... ich habe doch +die Ehre, mit einem Fürsten zu sprechen ...“ +</p> + +<p> +„Nein, nicht mit einem Fürsten, mein Herr, ich bin +... ein Privatmann. Und ich bitte Sie, mich mit +Ihren Titeln zu verschonen, sich nicht mit ihnen bei mir +einschmeicheln zu wollen! Das würde Ihnen auch nicht +gelingen! Was ich von Ihnen hören will, ist: wie Sie +hierher gekommen sind? Also erklären Sie es mir gefälligst!“ +</p> + +<p> +„Durchlaucht! das heißt, nein! Ew. Exzellenz ... +verzeihen Sie, ich dachte, Sie seien ein Fürst. Ich habe +mich versehen, es war ein Irrtum, verzeihen Sie ... +das kommt vor ... Sie ähneln so auffallend dem Fürsten +Korotkuchoff, den ich bei meinem Bekannten, +Herrn Pusyreff, die Ehre hatte, einmal zu sehen ... +Sie sehen, ich bin gleichfalls mit Fürsten bekannt, ich +habe einen wirklichen Fürsten bei einem Bekannten gesehen: +Sie können mich nicht für das halten, für was +Sie mich halten! Ich bin kein Räuber, ich bin kein Dieb! +<a id="page-312" class="pagenum" title="312"></a> +Exzellenz, rufen Sie keine Menschen, um Gottes willen, +haben Sie Erbarmen mit mir! Bedenken Sie doch: +wenn Sie die Leute herrufen – was wird daraus entstehen!“ +</p> + +<p> +„Aber wie sind Sie denn hierhergekommen?“ rief die +Dame. „Wer sind Sie überhaupt?“ +</p> + +<p> +„Ja, wer sind Sie überhaupt?“ griff der Alte die +Frage auf. „Und ich, mein Herzchen, glaubte wirklich, +es sei der Kater Wassjka, der da irgendwo schnurrt! +Und statt dessen ist es dieser! Ach, Sie Bandit! ... +Wer sind Sie? So reden Sie doch!“ +</p> + +<p> +Und der Alte stampfte wieder mit dem Fuß auf vor +Ungeduld. +</p> + +<p> +„Ich kann nicht, Exzellenz! Ich warte, bis Sie aufgehört +haben ... Was mich betrifft, so ist es eine lächerliche +Geschichte, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles +erzählen, es wird sich alles auch ohnedem erklären lassen +... das heißt, ich will damit sagen: rufen Sie nicht +fremde Leute her, Exzellenz! Seien Sie großmütig, haben +Sie Erbarmen mit mir ... Das hat nichts zu +sagen, daß ich unter dem Bett gelegen habe ... das hat +mich nicht meiner Würde berauben können. Es ist die +lächerlichste Geschichte der Welt, meine Gnädigste!“ +wandte sich der arme Iwan Andrejewitsch flehentlich an +die junge Frau. „Namentlich Sie, meine Gnädigste, +wollte sagen Exzellenz, werden über sie lachen! Sie sehen +vor sich einen – eifersüchtigen Gatten! Wie Sie sehen, +erniedrige ich mich selbst, tue es selbst und freiwillig! +Allerdings bin ich es, der Amischka erwürgt hat, aber ... +Mein Gott, ich weiß nicht mehr, was ich rede!“ +</p> + +<p> +„Aber wie, <em>wie</em> sind Sie denn hierher gekommen?“ +</p> + +<p> +<a id="page-313" class="pagenum" title="313"></a> +„Im ... im Schutze der Dunkelheit, Exzellenz, indem +ich mich der Dunkelheit bediente ... Verzeihung! O, verzeihen +Sie, Exzellenz! Ich bitte Sie kniefällig um Verzeihung! +Ich bin nur ein gekränkter Gatte, nichts weiter! +Denken Sie nicht, Exzellenz, daß ich ein Liebhaber sei! +Ich bin kein Liebhaber, ich versichere Ihnen! Ihre Gemahlin +ist sehr tugendreich, wenn ich es wagen darf, mich +so auszudrücken. Sie ist rein und unschuldig, glauben +Sie es mir!“ +</p> + +<p> +„Was? Was? Wessen erfrecht sich der Kerl!“ schrie +der Alte, ganz rot im Gesicht, und wieder trampelte er mit +den Füßen. „Sind Sie verrückt geworden? übergeschnappt? +Wie unterstehen Sie sich, von meiner Frau +zu reden?“ +</p> + +<p> +„Dieses Scheusal, dieser Mörder, der meinen Ami +erwürgt hat!“ rief die junge Frau empört aus. Sie war +in Tränen aufgelöst ob des Verlustes ihres Amischka. +„Und er wagt noch, mich zu beleidigen!“ +</p> + +<p> +„Exzellenz, Gnade, Exzellenz! Ich habe mich nur versprochen!“ +beteuerte halb besinnungslos Iwan Andrejewitsch. +„Betrachten Sie mich, wenn Sie wollen, als +Wahnsinnigen ... Um Gottes willen! – als Wahnsinnigen, +wenn Sie wollen ... Ich schwöre Ihnen bei meiner +Ehre, daß Sie mir damit einen großen Dienst erweisen. +Ich würde Ihnen meine Hand reichen, aber ich +wage es nicht ... Ich war nicht allein, ich bin der Onkel +... das heißt, ich will nur sagen, daß man nicht mich +für den Liebhaber halten darf ... Gott! Ich weiß wieder +nicht, was ich rede! Ich habe Sie nicht kränken wollen, +Exzellenz!“ rief Iwan Andrejewitsch der Frau zu. „Sie +sind eine Dame, Sie werden begreifen, was Liebe ist – +<a id="page-314" class="pagenum" title="314"></a> +dieses zarte Gefühl ... Doch was rede ich, was rede ich +da wieder! ... Ich will nur sagen, daß ich ein Greis +bin, das heißt, kein Greis, sondern ein schon bejahrter +Mann ... ein Greis in den besten Jahren ... Ich +will damit sagen, daß ich gar nicht Ihr Liebhaber sein +kann, meine Gnädigste, daß ein Liebhaber immer <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span> +Mister Richardson oder <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span> Don Juan zu sein pflegt, +ich aber ... O Gott, was rede ich! ... Aber Sie sehen +doch jetzt wenigstens, Exzellenz, daß ich ein gebildeter +Mensch bin, der die Literatur kennt. Sie lächeln, meine +Gnädigste. Es freut mich, es freut mich ungemein, daß +ich Sie zum Lächeln habe bringen können! O, wie es +mich freut, daß Sie lächeln!“ +</p> + +<p> +„<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu!</span> Was das für ein komischer Mensch +ist!“ bemerkte die Dame, die sich die Lippen biß, um jetzt +nicht wirklich laut aufzulachen. +</p> + +<p> +„Ja, das ist er,“ meinte gleichfalls lächelnd der Alte, +sichtlich erfreut darüber, daß seine Frau lachte. „Mein +Herzchen, weißt du, ich denke, er kann kein Dieb sein. +Aber wie ist er hierher gekommen?“ +</p> + +<p> +„Ich weiß, ich begreife – das ist sehr sonderbar, sogar +noch mehr als sonderbar! Wirklich, so etwas kommt +sonst nur in Romanen vor! Wie? Um Mitternacht in +der Großstadt, plötzlich – ein fremder Mensch unter dem +Bett im Schlafzimmer! Da hört doch alles auf! Ist das +nicht seltsam, entsetzlich? <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">À la</span> Rinaldo Rinaldini, nicht +wahr? Doch das hat nichts auf sich, das hat alles nichts +zu sagen, Exzellenz. Ich werde Ihnen alles erzählen ... +Und Ihnen, meine gnädigste gnädige Frau, werde ich +ein anderes Schoßhündchen zur Stelle schaffen ... ein +ebenso entzückendes! Mit so langer seidenweicher Wolle +<a id="page-315" class="pagenum" title="315"></a> +und so kleinen Beinchen, daß es keine zwei Schritte zu +gehen vermag: es verwickelt sich sonst in seinem eigenen +Fell und fällt. Und gefüttert wird es nur mit Zuckerstückchen. +Ich werde es Ihnen besorgen, gnädige Frau, ich +werde es unfehlbar besorgen!“ +</p> + +<p> +„Hahahahaha!“ lachte die Dame von ganzem Herzen +über den armen Iwan Andrejewitsch. „<span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">Mon Dieu, +mon Dieu</span>, wie ist er komisch!“ +</p> + +<p> +„Ja, das ist er! Ha–ha–ha! Köch-köch-köch! Zum +Lachen ... köch! und so zerzaust und bestaubt ... köch-köch-köch!“ +</p> + +<p> +„Exzellenz, meine Gnädigste, ich bin jetzt vollkommen +glücklich! Ich würde jetzt um Ihre Hand bitten, aber ich +wage es nicht, meine Gnädigste, ich fühle, daß ich mich +seither geirrt habe, in allem, doch jetzt öffne ich die Augen! +Jetzt glaube ich, daß auch meine Frau rein und unschuldig +ist! Ich habe sie grundlos verdächtigt.“ +</p> + +<p> +„Seine Frau! Er hat eine Frau!“ rief die Dame, die +ihr Lachen nicht mehr meistern konnte. +</p> + +<p> +„Was! Er ist verheiratet? Ist’s möglich? Das +hätte ich nicht gedacht! Hahaha! Köch-köch-köch!“ +</p> + +<p> +„Exzellenz, Exzellenz! Aber meine Frau ist an allem +schuld ... das heißt, vielmehr: ich bin schuld, denn ich +verdächtigte sie; ich wußte, daß hier in diesem Hause +ein Rendezvous stattfinden sollte – im dritten Stockwerk, +hier über Ihrer Wohnung; der Brief war in +meine Hände geraten. Ich versah mich aber, ich dachte, +vor der richtigen Tür bereits angelangt zu sein, und da +lag ich denn unter dem Bett, noch eh’ ich mich dessen versah +...“ +</p> + +<p> +„He–he–he–he! Köch-köch-köch!“ +</p> + +<p> +<a id="page-316" class="pagenum" title="316"></a> +„Hahahahaha!“ +</p> + +<p> +„Hahahaha!“ begann zuguterletzt auch Iwan Andrejewitsch +zu lachen. „O, wie glücklich ich bin! O, wie +rührend es ist, uns alle so friedlich und einträchtig miteinander +zu sehen! Und meine Frau ist – oh, das weiß +ich jetzt! – vollkommen schuldlos! Davon bin ich fest +überzeugt. Nicht wahr, so muß es doch sein, meine Gnädigste?“ +</p> + +<p> +„Ha–ha–ha! Köch-köch! Weißt du, Herzchen, wer +das ist?“ wandte sich lachend und hustend der Alte an +seine Frau. +</p> + +<p> +„Wer? Hahaha! Wen meinst du?“ +</p> + +<p> +„Köch-köch! Hahaha! Das ist dasselbe nette Frauenzimmerchen, +das mit allen kokettiert! Das ist sie! Ich +könnte wetten, daß das seine Frau ist!“ +</p> + +<p> +„Nein, Exzellenz, ich bin überzeugt, daß Sie eine andere +meinen; ich bin vollkommen überzeugt davon ...“ +</p> + +<p> +„Aber, mein Gott! – weshalb verlieren Sie dann +Ihre kostbare Zeit!“ unterbrach ihn die Dame, indem +sie zu lachen aufhörte. „So eilen Sie doch! Gehen Sie +nach oben, vielleicht treffen Sie sie noch an ...“ +</p> + +<p> +„Sie haben recht, gnädige Frau, ich werde nach +oben eilen. Doch ich weiß, daß ich niemanden antreffen +werde, gnädige Frau. Das kann nicht meine Frau sein, +davon bin ich fest überzeugt. Sie ist jetzt zu Hause! Ich +allein bin der Schuldige! Ich habe es meiner eigenen +Eifersucht zuzuschreiben ... Was meinen Sie, oder +werde ich sie wirklich dort antreffen, gnädige Frau?“ +</p> + +<p> +„Hahahahaha!“ +</p> + +<p> +„He–he–he! Köch-köch!“ +</p> + +<p> +„Gehen Sie! Gehen Sie! Und wenn Sie wieder an +<a id="page-317" class="pagenum" title="317"></a> +unserer Tür vorüberkommen, dann treten Sie ein und +erzählen Sie!“ rief die Dame lebhaft. „Oder nein: +kommen Sie morgen und bringen Sie Ihre Frau mit: +ich will sie kennen lernen.“ +</p> + +<p> +„Leben Sie wohl, gnädige Frau, besten Dank, ich +werde sie unfehlbar mitbringen. Es hat mich sehr gefreut, +Ihre Bekanntschaft zu machen. Ich bin glücklich und froh, +daß alles so schnell und gut seine Lösung gefunden hat!“ +</p> + +<p> +„Und den Schoßhund! Vergessen Sie den nicht!“ +</p> + +<p> +„Nie im Leben, gnädige Frau! Ich werde ihn unfehlbar +bringen!“ beteuerte Iwan Andrejewitsch, der +bereits an der Tür stand. „So weiß wie ein Zuckerstückchen +und auch nicht viel größer als ein solches, mit langem +seidigen Fell! – Leben Sie wohl, gnädige Frau, es +hat mich sehr, sehr, sehr gefreut, Ihre Bekanntschaft zu +machen, sehr gefreut!“ +</p> + +<p> +Und Iwan Andrejewitsch verbeugte sich und verschwand. +</p> + +<p> +„He! Sie! Mein Herr! Warten Sie, kommen Sie +zurück ... köch-köch!“ rief ihm plötzlich die heisere Stimme +des Alten nach. +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch kehrte zurück. +</p> + +<p> +„Ich kann den Kater Wassjka nicht finden – sagen +Sie, war er nicht unter dem Bett, als Sie dort waren?“ +</p> + +<p> +„Nein, da war er nicht, Exzellenz ... Übrigens, +es freut mich wirklich, Ihre Bekanntschaft gemacht zu +haben. Ich rechne es mir zur großen Ehre an ...“ +</p> + +<p> +„Er hat jetzt Schnupfen und da schnurrt er immer +und niest! Man muß ihn wieder einmal prügeln.“ +</p> + +<p> +„Ja, Exzellenz, gewiß; Erziehungsstrafen sind bei +Haustieren sehr angebracht.“ +</p> + +<p> +<a id="page-318" class="pagenum" title="318"></a> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Ich sagte nur, daß Erziehungsstrafen, Exzellenz, bei +Haustieren sehr angebracht sind, um sie an Gehorsam zu +gewöhnen.“ +</p> + +<p> +„Ah? Wirklich? ... Nun, mit Gott, das war +alles, was ich wissen wollte, besten Dank! Köch-köch!“ +</p> + +<p> +Als Iwan Andrejewitsch auf die Straße trat, blieb +er lange Zeit regungslos auf einem Fleck stehen, als erwarte +er im Augenblick einen Schlaganfall. Dann nahm +er langsam den Hut ab, wischte sich den kalten Schweiß +von der Stirn, schüttelte sich, dachte nach und begab sich +nach Haus. +</p> + +<p> +Wie groß aber war sein Erstaunen, als er, zu Hause +angelangt, erfuhr, daß Glafira Petrowna schon längst +aus dem Theater zurückgekehrt war, daß ihre Zähne zu +schmerzen begonnen hatten, daß sie nach dem Arzt und +nach Blutegeln gesandt, und daß sie nun im Bett lag +und voll Ungeduld ihren Gatten erwartete. +</p> + +<p> +Iwan Andrejewitsch schlug sich zuerst vor die Stirn, +dann verlangte er Wasser und Bürsten, um sich zu waschen +und zu reinigen, und erst nachdem dies geschehen +war, entschloß er sich, das Schlafgemach seiner Frau zu +betreten. +</p> + +<p> +„Jetzt sagen Sie mir, bitte, wo Sie die Nächte zubringen! +So sehen Sie doch, wie Sie aussehen! Wo +waren Sie? Das ist doch noch nicht dagewesen: während +die Frau zu Hause fast im Sterben liegt, ist der Mann +in der ganzen Stadt nicht zu finden! Wo waren Sie? +Oder waren Sie wieder auf der Suche nach mir, um +mich bei einem Rendezvous zu ertappen, zu dem ich Gott +weiß wen bestellt haben soll? Schämen Sie sich denn +<a id="page-319" class="pagenum" title="319"></a> +nicht? Das will ein Mann sein! Bald wird man mit +dem Finger auf Sie weisen!“ +</p> + +<p> +„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, doch verspürte +er schon im selben Augenblick eine solche Rührung, +daß er nach seinem Taschentuch greifen mußte, da es ihm +zu einer Rede an Worten, Gedanken und Luft gebrach +... Doch wer beschreibt seinen Schreck, sein grauenvolles +Entsetzen, als aus seiner Rocktasche, aus der er das Taschentuch +hervorzog, plötzlich die Leiche Amischkas herausfiel! +Er war sich dessen gar nicht bewußt, daß er im +Augenblick der größten Verzweiflung, als er gezwungen +war, unter dem Bett hervorzukriechen, die Leiche seines +Opfers in die Tasche gesteckt hatte, vielleicht in einer Art +Selbsterhaltungstrieb, um die Spuren seiner Tat zu verbergen +und somit der Strafe zu entgehen. +</p> + +<p> +„Was ist das?“ rief entsetzt seine Gattin. „Ein +totes Hündchen! Gott! Woher kommt das? ... Was +fällt Ihnen ein? ... Wo waren Sie? Sagen Sie sofort, +wo Sie waren!“ +</p> + +<p> +„Herzchen!“ stammelte Iwan Andrejewitsch, dessen +eigenes Herz beinahe stille stand, „Herzchen! ...“ +</p> + +<p> +Doch nun ziehen wir vor, unseren Helden zu verlassen, +denn hier setzt etwas ganz Neues ein, das mit seinen +früheren Abenteuern nichts Gemeinsames hat. Es ist möglich, +daß ich noch einmal alle diese Unglücksfälle mit ihren +Schicksalstücken wiedergebe ... Nur eines müssen Sie, +meine verehrten Leser, mir heute schon zugeben: daß Eifersucht +eine unverzeihliche Leidenschaft ist, ja sogar noch mehr +als das: sogar ein – Unglück! ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="part" id="part-5"> +<a id="page-321" class="pagenum" title="321"></a> +Das Krokodil +</h2> + +</div> + +<p class="subt"> +Eine außergewöhnliche Begebenheit<br> +oder<br> +Eine Passage in der Passage +</p> + +<p class="note"> +Eine wahrheitsgetreue Erzählung der besagten Begebenheit, +wie ein gewisser Herr in der Passage von einem +Krokodil ganz und gar verschlungen wurde und welche +Folgen das hatte. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-1"> +<a id="page-323" class="pagenum" title="323"></a> +I. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">A</span><span class="postfirstchar">m</span> dreizehnten Januar des laufenden Jahres sprach +plötzlich um halb ein Uhr mittags Jelena Iwanowna, die +Gattin Iwan Matwejewitschs, meines gelehrten Freundes, +Kollegen und halb und halb sogar entfernten Verwandten, +den Wunsch aus, das Riesenkrokodil, das man +gegen eine gewisse Zahlung in bar seit kurzer Zeit in der +Passage bewundern konnte, mit eigenen Augen zu sehen. +Iwan Matwejewitsch, der das Billett für seine Reise +ins Ausland – die er weniger aus Gesundheitsgründen, +als aus Neugier zu unternehmen beabsichtigte – bereits +in der Tasche hatte, sich also vom Dienst schon quasi +entbunden betrachtete und sich demzufolge an diesem +Tage von allen Pflichten frei und ledig fühlte, hatte +nicht nur nichts gegen diesen Wunsch einzuwenden, +sondern entbrannte alsbald sogar selber in reger Wißbegier +für die Sehenswürdigkeit. +</p> + +<p> +„Eine prächtige Idee!“ sagte er sehr zufrieden, „nehmen +wir das Krokodil in Augenschein! Es ist nicht übel, +wenn man, bevor man ins Ausland reist, erst einmal +gründlich das Inland mit allen seinen Tieren kennen +gelernt hat.“ +</p> + +<p> +Mit diesen Worten reichte er seiner jungen Gemahlin +<a id="page-324" class="pagenum" title="324"></a> +den Arm, um mit ihr in die Passage zu gehen. Wie +gewöhnlich schloß ich mich ihnen an, denn ich war und +bin ja der Hausfreund. +</p> + +<p> +Noch nie hatte ich Iwan Matwejewitsch bei besserer +Laune gesehen, als an diesem denkwürdigen Vormittage, +– wieder ein Beweis dafür, daß wir nicht ahnen, was +uns bevorsteht! Als wir die Passage betraten, äußerte +er sich ganz entzückt über den Bau des Gebäudes, und als +wir beim Ausstellungsraum, in dem man das neuerdings +in der Hauptstadt eingetroffene Ungeheuer bewundern +konnte, angelangt waren, wünschte er aus eigenem Antriebe +auch für mich den vorschriftsmäßigen Obolus dem +Besitzer des Krokodils in die Hand zu drücken, was vordem +noch nie von ihm aus geschehen war. Wir wurden +in ein nicht sehr großes Zimmer geführt, in dem sich +außer dem Krokodil noch Papageien, eigenartige Kakadus +und in einem besonderen Käfig an der Wand mehrere +Affen befanden. Gleich beim Eingang aber, links +von der Tür, stand ein großer Blechkasten – der Form +nach einer Wanne nicht unähnlich –, den oben ein starkes +Drahtnetz zudeckte und auf dessen Boden etwa einen +Zoll tief Wasser stand. Und in dieser flachen Pfütze lag +ein riesengroßes Krokodil, lag regungslos wie ein Balken +und hatte in unserem feuchten, ungastlichen Klima +augenscheinlich alle seine sonstigen Eigenschaften eingebüßt. +Dieses erklärt wohl auch den Umstand zur Genüge, +daß es in uns durchaus kein besonderes Interesse +für sich hervorzurufen vermochte. +</p> + +<p> +„Das also ist das Krokodil!“ meinte Jelena Iwanowna, +fast mitleidig in gezogenem Tone, „und ich dachte, +daß es ... ganz anders aussähe.“ +</p> + +<p> +<a id="page-325" class="pagenum" title="325"></a> +Anzunehmen ist, daß sie sich überhaupt nichts gedacht +hatte. +</p> + +<p> +Währenddessen blickte uns der Besitzer des Ungeheuers, +ein Deutscher, sehr stolz und sehr selbstzufrieden an. +</p> + +<p> +„Er hat recht,“ raunte mir Iwan Matwejewitsch zu, +„denn ihm gebührt die Ehre, augenblicklich der einzige +Mensch zu sein, der in Rußland ein Krokodil besitzt.“ +</p> + +<p> +Diese recht überflüssige Bemerkung Iwan Matwejewitschs +schreibe ich gleichfalls seiner gehobenen Stimmung +zu, da er sonst recht neidisch zu sein pflegte. +</p> + +<p> +„Ich glaube, Ihr Krokodil ist gar nicht lebendig,“ +äußerte sich Jelena Iwanowna, pikiert durch die Haltung +des Deutschen, mit graziösem Lächeln sich an ihn wendend, +um auch diesen Grobian zu besiegen, – ein Manöver, +das die Frauen ja so gern üben. +</p> + +<p> +„O nein, Madame,“ versetzte der Deutsche in gebrochenem +Russisch und begann sogleich, indem er das Drahtnetz +aufhob, mit einem Stückchen das Krokodil auf den +Kopf zu stoßen. +</p> + +<p> +Da entschloß sich das heimtückische Ungeheuer, zum +Beweise seiner Lebendigkeit, kaum-kaum den Schwanz zu +bewegen, dann rührte es auch die Vorderpfoten und erhob +ein wenig seine gefräßige Schnauze, worauf es einen +eigentümlichen Laut von sich gab, der in etwas an ein +langsames Schnarchen erinnerte. +</p> + +<p> +„Na, ärgere dich nicht, Karlchen!“ sagte der Deutsche +schmeichelnd, sichtlich befriedigt in seiner Eigenliebe. +</p> + +<p> +„Wie widerlich dieses Tier ist! Ich erschrak ordentlich, +als es sich zu bewegen begann,“ sagte Jelena Iwanowna +noch koketter. „Jetzt werde ich es womöglich im +Traume sehen!“ +</p> + +<p> +<a id="page-326" class="pagenum" title="326"></a> +„Aber er wird Sie nicht beißen, Madame,“ versetzte +mit einem Anflug von Galanterie der Deutsche, worauf +er als erster über seine eigenen Worte zu lachen begann; +von uns jedoch lachte niemand. +</p> + +<p> +„Gehen wir, Ssemjon Sjemjonytsch“ wandte sich +Jelena Iwanowna ausschließlich an mich, „sehen wir uns +lieber die Affen an. Ich liebe Affen über alles! Einzelne +sind geradezu süß, sind so reizend! ... das Krokodil aber +ist einfach abscheulich.“ +</p> + +<p> +„O, sei nicht so bange, meine Liebe,“ rief uns Iwan +Matwejewitsch nach, dem es angenehm war, vor seiner +Gattin den Mutigen zu spielen, „dieser schläfrige Landsmann +Pharaos wird keinem ein Leid antun,“ – und er +blieb beim Blechkasten. Ja, er kitzelte sogar mit seinem +Handschuh die Nase des Krokodils, um es, wie er später +selbst eingestand, zu veranlassen, nochmals zu schnarchen. +Der Besitzer der Menagerie folgte indes Jelena Iwanowna, +als der einzigen anwesenden Dame, zum weitaus +interessanteren Affenkäfig. +</p> + +<p> +Bis dahin war alles gut abgelaufen und niemand +hätte etwas Schlimmes voraussehen können. Jelena +Iwanowna gab sich ganz ihrem Entzücken hin, in das die +Affen und Äffchen sie versetzten; sie schrie mitunter leise +auf vor Vergnügen und wandte sich immer wieder an +mich, um mich bald auf diesen, bald auf jenen Affen aufmerksam +zu machen, von denen jeder auffallende Ähnlichkeit +mit einem ihrer Bekannten und Freunde haben +sollte. Ihre Heiterkeit steckte auch mich an, denn die +Ähnlichkeit war bisweilen in der Tat ganz verblüffend. +Nur der Menageriebesitzer, der von Jelena Iwanowna +als Luft behandelt wurde, wußte nicht, ob er lachen oder +<a id="page-327" class="pagenum" title="327"></a> +ob er ernst bleiben sollte, und deshalb wurde er zum +Schluß sehr brummig. Doch gerade in dem Augenblick, +als mir die Übellaunigkeit des Deutschen auffiel, erschütterte +plötzlich ein entsetzlicher, ja, ich kann sogar sagen, +ein widernatürlicher Schrei die Luft. Ich wußte +nicht, was ich denken sollte und stand wie erstarrt, als +ich hörte, daß auch Jelena Iwanowna aufschrie – da +wandte ich mich zurück und ... was erblickte ich! Ich +erblickte – o Gott! – ich erblickte den armen Iwan +Matwejewitsch quer im entsetzlichen Rachen des Krokodils, +das ihn in der Mitte des Körpers gefaßt hatte. +Ich sah ihn nur noch einen Augenblick, wie er, horizontal +in der Luft schwebend, wie ein Verzweifelter mit +den Beinen und Armen fuchtelte, und dann – verschwunden +war. +</p> + +<p> +Doch ich will dieses denkwürdige Ereignis ausführlicher +schildern. Während des ganzen Vorgangs stand ich +wie ein lebloser Gegenstand, der nur hörte und sah – +deshalb ist mir nichts entgangen. Ich entsinne mich nicht, +jemals in meinem Leben mit größerem Interesse einem +Vorgang zugeschaut zu haben, als ich es in jenem Augenblick +tat. „Denn,“ dachte ich bei mir – soviel Überlegungskraft +besaß ich doch noch! – „wie, wenn das, +anstatt mit Iwan Andrejewitsch, mit mir geschehen wäre +– wie groß würde dann die Unannehmlichkeit sein!“ +Doch zur Sache. +</p> + +<p> +Das Krokodil begann damit, daß es den armen Iwan +Matwejewitsch in seinem Rachen mit den Beinen zu sich +drehte und dann einmal schluckte, – und seine Beine +waren bis zur Wade verschwunden. Dann, nachdem es +wie ein Wiederkäuer einmal aufstieß – was unseren +<a id="page-328" class="pagenum" title="328"></a> +Iwan Matwejewitsch wieder ein wenig hervorstieß, so +daß dieser, der sich vergeblich bemühte, herauszuspringen, +sich krampfhaft an den Kastenrand klammern konnte – +schluckte das Ungeheuer zum zweitenmal, und mein +Freund verschwand bis zu den Lenden. Dann, nachdem +es wieder aufgestoßen, schluckte es noch einmal, und +dann noch einmal. So sahen wir, wie Iwan Matwejewitsch +vor unseren Augen im Ungeheuer verschwand. +Endlich, nachdem es zum letztenmal geschluckt, +hatte das Krokodil meinen gelehrten Freund +tatsächlich restlos verschlungen. Nun traten an der +Oberfläche des Krokodils Wölbungen hervor, an denen +man erkennen konnte, wie Iwan Matwejewitsch mit +all seinen Gliedmaßen langsam in den Bauch des Tieres +zu gleiten begann. Ich war bereits im Begriff, wieder +aufzuschreien, als das Schicksal sich noch einmal gewissenlos +über uns lustig machte: das Krokodil blähte +sich, rülpste – offenbar war ihm die verschlungene Portion +doch zu groß – und öffnete nach einem neuen Aufstoß +seinen entsetzlichen Rachen, aus dem plötzlich, zusammen +mit dem Aufstoß oder gewissermaßen als dessen +Personifikation noch einmal, zum letztenmal, auf einen +Augenblick der Kopf Iwan Matwejewitschs herausfuhr +und wieder verschwand, sodaß wir nur eine +Sekunde lang sein verzweifeltes Gesicht gesehen hatten, +von dessen Nase im Moment, als sie über den Rand des +Unterkiefers hinausragte, die Brille in das zolltiefe Wasser +auf dem Boden des Blechkastens fiel. Es hatte fast +den Anschein, als sei dieser verzweifelte Kopf nur deshalb +hervorgekommen, um noch einmal, zum letztenmal, +einen Blick auf alle Gegenstände zu werfen und bewußt +<a id="page-329" class="pagenum" title="329"></a> +von allen weltlichen Freuden Abschied zu nehmen. Doch +die Frist war gar zu kurz bemessen: das Krokodil hatte +schon einige Kräfte gesammelt und schluckte von neuem +und der Kopf verschwand wieder, diesmal, um nicht mehr +zum Vorschein zu kommen. +</p> + +<p> +Dieses Erscheinen und Verschwinden eines noch lebenden +Menschenkopfes war so entsetzlich, gleichzeitig aber – +sei es infolge der Überraschung, der Geschwindigkeit +oder weil ihm die Brille von der Nase fiel – war es +so unsäglich komisch, daß ich plötzlich schallend auflachte. +Natürlich besann ich mich sogleich – es ging doch nicht +an, daß ich in meiner Eigenschaft als Hausfreund in +einem solchen Augenblick lachte! – wandte mich daher schnell +zu Jelena Iwanowna und sagte so mitfühlend als möglich: +</p> + +<p> +„Jetzt ist es aus mit unserm Iwan Matwejewitsch!“ +</p> + +<p> +Leider fühle ich mich der Aufgabe, die Erregung Jelena +Iwanownas während des ganzen Vorgangs zu schildern, +nicht gewachsen. Ich kann nur sagen, daß sie nach +dem ersten Schrei gleichsam wie gelähmt in vollkommener +Regungslosigkeit verharrte und scheinbar ganz gleichgültig, +nur mit weit aufgerissenen, sogar ein wenig hervorquellenden +Augen dem Vorgang zusah; erst als das Haupt +ihres Gemahls zum zweitenmal verschwand und nicht +wieder zum Vorschein kam, kehrten ihre Lebensgeister zurück +und sie begann herzzerreißend zu schreien. Da wußte +ich mir nicht anders zu helfen, als ihre Hände zu erfassen +und sie krampfhaft festzuhalten. In diesem Augenblick +erwachte auch der Deutsche aus seiner Erstarrung; er +griff sich mit beiden Händen an den Kopf und schrie: +</p> + +<p> +„O, mein Krokodil! O, mein allerliebstes Karlchen! +Mutter, Mutter, Mutter!“ +</p> + +<p> +<a id="page-330" class="pagenum" title="330"></a> +Darauf öffnete sich eine Hintertür und die „Mutter“ +erschien: eine bejahrte, rotwangige Frau mit einer +Haube auf dem Kopf, doch sonst ziemlich unordentlich +gekleidet. Als sie die Verzweiflung ihres Mannes sah, +stürzte sie ganz verstört herbei. +</p> + +<p> +Und nun setzte ein ganzes Sodom ein: Jelena Iwanowna +rief immer nur dies eine Wort: „Aufschneiden, +aufschneiden, aufschneiden!“ und stürzte bald zum +Deutschen, bald zur Mutter, die sie allen Anzeichen nach +anflehte – wohl in einem Augenblick des Vergessens +und der Selbstverleugnung – irgend jemanden oder +irgendetwas aufzuschneiden. Der Besitzer aber und die +„Mutter“ beachteten weder sie noch mich und heulten +wie die Kettenhunde an ihrem Blechkasten. +</p> + +<p> +„Er ist verloren, er wird sogleich platzen, er hat einen +ganzen Menschen verschlungen!“ schrie der Besitzer des +„Karlchen“. +</p> + +<p> +„Ach Gott, ach Gott, unser allerliebstes Karlchen muß +sterben!“ jammerte die Mutter. +</p> + +<p> +„Sie haben uns zu Waisen gemacht, wir sind brotlos +geworden!“ schrie wieder der Deutsche, und – +</p> + +<p> +„Ach Gott, ach Gott, ach Gott!“ jammerte wieder die +Mutter. +</p> + +<p> +„Aufschneiden, aufschneiden, aufschneiden! Sie müssen +das Tier schlachten!“ flehte und befahl Jelena Iwanowna, +die sich an den Rock des Deutschen klammerte. +</p> + +<p> +„Er hat mein Krokodil gereizt, – weshalb hat Ihr +Mann mein Krokodil gereizt?“ schrie der Deutsche. +„Wenn mein Karlchen jetzt platzt, müssen Sie ihn mir +bezahlen! Ich werde Sie auf Schadenersatz verklagen! +Das war mein Sohn, das war mein einziger Sohn!“ +</p> + +<p> +<a id="page-331" class="pagenum" title="331"></a> +Ich muß gestehen, daß ich über diesen Egoismus des +eingewanderten Deutschen und diese Hartherzigkeit seiner +unordentlichen „Mutter“ nicht wenig entrüstet war. +Auch Jelena Iwanownas immer wieder wiederholte +Bitte trug nicht gerade zu meiner Beruhigung bei. Besorgt +dachte ich an die Möglichkeit, daß jeden Augenblick +gerade aus einem der anstoßenden Lokale der Passage, in +dem jemand eine Rede über Pflanzenkost hielt, ein Vegetarianer +die Menagerie betreten konnte – und was konnte +es da nicht alles für Mißverständnisse geben, wenn sie +noch lange fortfuhr, immer nur diese eine Bitte flehentlich +und angstvoll zu wiederholen? Und in der Tat sollte es sich +bald zeigen, daß meine Befürchtungen nicht grundlos waren: +Zu meinem Entsetzen sah ich, wie plötzlich der Vorhang, +der den Ausstellungsraum von der „Kasse“ trennte, +zur Seite gezogen wurde und im Türrahmen eine bärtige +Gestalt mit einer Beamtenmütze in der Hand erschien, eine +Gestalt, die nicht eintrat, wie zu erwarten stand, sondern +die sich in stark vorgebeugter Stellung mit den Füßen +jenseits der Schwelle hielt und ersichtlich sehr darauf bedacht +war, diese Schwelle nicht zu überschreiten, um nicht +wegen des Eintrittsgeldes, das der Unbekannte offenbar +nicht zu zahlen gewillt war, vom Direktor der Menagerie +belästigt zu werden. +</p> + +<p> +„Ihr Wunsch, meine Gnädigste,“ sagte der Unbekannte, +bemüht, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, +„macht Ihrer geistigen Entwicklung wenig Ehre und +ist nur auf den Mangel an Phosphorgehalt in Ihrem +Gehirn zurückzuführen. Sie werden wohl nichts dagegen +haben, wenn die Repräsentanten des Fortschritts und der +<a id="page-332" class="pagenum" title="332"></a> +Humanität Sie in ihren satirischen Zeitschriften der nötigen +Kritik unterwerfen, und ...“ +</p> + +<p> +Doch es sollte ihm nicht vergönnt sein, seine Rede zu +beenden, denn als der Menageriebesitzer zu seinem Entsetzen +einen Menschen im „Ausstellungsraume“ sprechen +hörte, der für dieses Vergnügen nichts gezahlt hatte, +stürzte er in heller Empörung auf ihn zu und stieß ihn, den +humanen Repräsentanten des Fortschritts, unter deutschen +Kernausdrücken zur Tür hinaus: wir vernahmen nur +noch ihre wortreiche Auseinandersetzung hinter dem Vorhang. +Doch der Deutsche kehrte sehr bald zurück, um seine +Wut, in die er sich hineingeredet, nunmehr an der armen +Jelena Iwanowna auszulassen, die es gewagt hatte, eine +Operation seines Karlchen zu verlangen, um ihren Gatten +zu retten. +</p> + +<p> +„Was! Sie wollen, daß meinem Karlchen der Bauch +aufgeschlitzt werden soll!“ schrie er. „Lassen Sie doch +Ihren Mann aufschlitzen! ... <em>Mein</em> Krokodil! Mein +Vater hat das Krokodil schon gezeigt, mein Großvater +hat das Krokodil gezeigt und mein Sohn wird es wieder +zeigen, und so lange ich lebe werde ich es gleichfalls +zeigen! Alle werden wir es zeigen! Ich bin in +ganz Europa bekannt, Sie aber sind nicht in Europa +bekannt, deshalb werden Sie mir Strafe zahlen, verstanden, +Madame!“ +</p> + +<p> +„Ja, ja!“ pflichtete ihm seine böse dreinblickende Frau +Mutter bei, „wir werden Sie verklagen, wenn unser +Karlchen platzt!“ +</p> + +<p> +„Übrigens wäre es auch zwecklos, das Tier aufzuschneiden,“ +wandte ich ziemlich ruhig ein, um Jelena +Iwanowna zu besänftigen und sie dann zu bewegen, nach +<a id="page-333" class="pagenum" title="333"></a> +Hause zurückzukehren, „denn unser lieber Iwan Matwejewitsch +wird sich bereits aller Wahrscheinlichkeit nach in +den Gefilden der Seligen befinden.“ +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ ertönte da plötzlich unerwartet die +Stimme Iwan Matwejewitschs, die uns alle erstarren +machte, „mein Freund, du täuschest dich. Mein Rat +wäre, sich direkt an den Polizeioffizier dieses Quartals zu +wenden, denn ohne polizeilichen Nachdruck wird dieser +Deutsche schwerlich die Wahrheit begreifen.“ +</p> + +<p> +Diese Worte, die noch dazu in festem, überzeugungsvollem +Tone gesprochen waren und in dieser Lage doch eine +seltene Geistesgegenwart verrieten, waren so überwältigend, +daß wir unseren Ohren nicht trauten. Nichtsdestoweniger +eilten wir natürlich sogleich zum Blechkasten und +lauschten mit mindestens ebenso großem Mißtrauen als +unfreiwilliger Ehrfurcht den Worten des armen Gefangenen. +Seine Stimme klang wie diejenige eines Menschen, +der sich in einem anderen Zimmer ein Kissen vor +den Mund preßt und schreiend laut spricht, etwa um das +Gespräch zweier Bauern nachzuahmen, die durch einen +Fluß getrennt sich von Ufer zu Ufer allerlei zuschreien, – +ein Scherz, den ich einmal auf einem Polterabend das +Vergnügen hatte, kennen zu lernen. +</p> + +<p> +„Iwan Matwejewitsch, Liebster, sag’, so lebst du +noch?“ fragte Jelena Iwanowna bebend. +</p> + +<p> +„Ich lebe und befinde mich wohl,“ antwortete Iwan +Matwejewitschs fernher leise schreiende Stimme, „denn +ich bin dank himmlischer Vorsehung ohne jede Körperverletzung +verschlungen. Was mich beunruhigt, ist nur +die Frage, wie meine Vorgesetzten diesen Zwischenfall auffassen +werden; denn wenn man das Billett zu einer Auslandsreise +<a id="page-334" class="pagenum" title="334"></a> +in der Tasche hat und dabei nur in das Innere +eines Krokodils gelangt, wird man schwerlich auf Scharfsinn +schließen.“ +</p> + +<p> +„Aber, Liebster, beunruhige dich jetzt doch nicht wegen +des Scharfsinns!“ sagte Jelena Iwanowna. „Die Hauptsache +ist doch, daß man dich irgendwie von dort herauszieht.“ +</p> + +<p> +„Herauszieht!“ rief der Deutsche nahezu entrüstet aus. +„Das lasse ich einfach nicht zu! Jetzt wird’s noch einmal +so viel Publikum geben und ich werde fünfzig Kopeken +statt fünfundzwanzig pro Person nehmen, und Karlchen +fällt’s nicht ein, zu platzen!“ +</p> + +<p> +„Gott sei Dank!“ äußerte sich seine Frau dazu. +</p> + +<p> +„Er hat recht,“ bemerkte ruhig Iwan Matwejewitsch, +„zuerst kommt das ökonomische Prinzip.“ +</p> + +<p> +„Mein Freund!“ rief ich ihm eifrig und möglichst +laut zu, „ich werde mich sogleich schleunigst zu deinen Vorgesetzten +begeben, denn mir ahnt, daß wir allein hier nichts +werden ausrichten können.“ +</p> + +<p> +„Das denke ich auch,“ sagte Iwan Matwejewitsch, +„nur wird es in unserer Zeit der Handelskrisis schwer +halten, ohne finanzielle Entschädigung den Leib des Krokodils +aufzutrennen, doch ist damit gleichzeitig die Frage +aufgeworfen: wieviel wird der Besitzer für sein Krokodil +verlangen? Und diese Frage zieht eine zweite nach sich: +wer wird es bezahlen? Denn wie du weißt, bin ich kein +Kapitalist! ...“ +</p> + +<p> +„Ginge es nicht a Konto des Gehalts? ...“ wagte +ich schüchtern vorzuschlagen, doch der Besitzer des Krokodils +unterbrach mich sogleich: +</p> + +<p> +„Ich verkaufe mein Krokodil überhaupt nicht! Ich +<a id="page-335" class="pagenum" title="335"></a> +kann dafür dreitausend Rubel verlangen, ich kann sogar +viertausend verlangen! Jetzt wird das Publikum herbeiströmen +– ich kann auch fünftausend verlangen für mein +Krokodil!“ +</p> + +<p> +Kurz, er begann sich ganz entsetzlich zu brüsten. Habgier +leuchtete in seinen Augen. +</p> + +<p> +„Ich fahre also!“ rief ich meinem Freunde, innerlich +empört, zu. +</p> + +<p> +„Ich auch, ich auch! Ich werde persönlich zu Andrei +Ossipytsch fahren und ihn durch meine Tränen zu erweichen +suchen!“ sagte Jelena Iwanowna erregt. +</p> + +<p> +„Nein, tue das nicht, meine Liebe,“ versetzte Iwan +Matwejewitsch schnell, denn lange schon hegte er eifersüchtigen +Groll gegen diesen Andrei Ossipytsch: er wußte, +daß seine Frau sehr gern zu diesem Allmächtigen gefahren +wäre, um sich ihm zur Abwechslung einmal in Tränen zu +zeigen, zumal ihr Tränen sehr gut standen. „Und dir, +Ssemjon Ssemjonytsch,“ wandte er sich an mich, „möchte +ich gleichfalls abraten, zu meinen Vorgesetzten zu gehen; +man kann nicht wissen, was daraus schließlich noch entsteht. +Aber fahre heute mal zu Timofei Ssemjonytsch, so, +weißt du, ganz privatim. Er ist zwar ein altmodischer +und etwas beschränkter Mensch, dafür aber solide und, +was die Hauptsache ist, gerade heraus. Grüße ihn von +mir und erkläre ihm den Sachverhalt. Ich schulde ihm +noch sieben Rubel – ich verlor sie im Kartenspiel – sei +also so gut und übergib sie ihm bei der Gelegenheit; das +wird den Alten günstiger stimmen. Jedenfalls kann uns +sein Rat zur Richtschnur dienen. Jetzt aber sei so freundlich +und bringe Jelena Iwanowna nach Hause ... Beruhige +dich, meine Liebe,“ fuhr er fort, „ich bin nur müde +<a id="page-336" class="pagenum" title="336"></a> +geworden von diesem Geschrei und will ein wenig schlafen. +Hier ist es zum Glück warm und weich, obschon ich noch +nicht Zeit gehabt habe, mich genauer in meinem neuen +Heim umzusehen ...“ +</p> + +<p> +„Umzusehen? Ist es denn dort so hell?“ forschte neugierig, +doch sichtlich erfreut Jelena Iwanowna. +</p> + +<p> +„Im Gegenteil, mich umgibt vollkommene Finsternis,“ +antwortete der arme Gefangene, „aber ich kann mit den +Händen fühlen und mich hier tastend orientieren ... +Also auf Wiedersehen, sei unbesorgt und versage dir nicht +deine kleinen Zerstreuungen. Bis morgen! Du aber, +Ssemjon Ssemjonytsch, komme gegen Abend wieder her, +und damit du es, bei deiner bekannten Vergeßlichkeit, +diesmal nicht wieder vergißt, binde dir sogleich einen +Knoten ins Taschentuch ...“ +</p> + +<p> +Ich muß sagen, daß ich froh war, endlich fortgehen zu +können, denn erstens war ich vom Stehen müde geworden +und zweitens wurde es mir allmählich langweilig. Ich +reichte daher geschwind Jelena Iwanowna, die durch die +Erregung noch hübscher geworden war, mit artiger Verbeugung +meinen Arm und verließ mit ihr die Menagerie. +</p> + +<p> +„Am Abend wieder fünfundzwanzig Kopeken Eintrittsgeld!“ +rief uns noch der Deutsche nach. +</p> + +<p> +„O Gott, wie habgierig er ist!“ seufzte Jelena Iwanowna, +die in jeden Spiegel zwischen den Schaufenstern +der Passage einen Blick warf und sich augenscheinlich +dessen bewußt war, daß sie noch hübscher als sonst aussah. +</p> + +<p> +„Das ökonomische Prinzip,“ versetzte ich in angenehmer +angeregter Stimmung, stolz auf meine Dame, die +neidisch von den Vorübergehenden betrachtet wurde. +</p> + +<p> +„Das ökonomische Prinzip ...“ wiederholte sie mit +<a id="page-337" class="pagenum" title="337"></a> +koketter Langsamkeit, „ich habe nichts von alledem begriffen, +was Iwan Matwejewitsch dort sprach, namentlich +nicht, was er mit diesem dummen Prinzip meinte.“ +</p> + +<p> +„Das werde ich Ihnen sofort erklären,“ versetzte ich +eilfertig und begann ihr die günstigen Folgen der Heranziehung +fremden Kapitals auseinanderzusetzen, Ansichten, +die ich am Morgen desselben Tages in den „Petersburger +Nachrichten“ gelesen hatte. +</p> + +<p> +„Wie sonderbar das doch ist!“ unterbrach sie mich, +als sie mir eine Weile zugehört hatte. „Aber so hören Sie +doch endlich auf, Sie Plagegeist! Welch einen Unsinn +Sie heute reden ... Sagen Sie, bin ich sehr rot im Gesicht?“ +</p> + +<p> +„Nicht rot, sondern schön,“ antwortete ich, um die +Gelegenheit, ihr eine Schmeichelei zu sagen, nicht unbenutzt +vorübergehen zu lassen. +</p> + +<p> +„Sie Schmeichler!“ wehrte sie selbstzufrieden ab. „Der +arme Iwan Matwejewitsch,“ fuhr sie nach einer kurzen +Pause fort, kokett das Köpfchen auf die Seite neigend, +„er tut mir wirklich leid. Ach, mein Gott!“ rief sie plötzlich +ganz erschrocken aus, „aber sagen Sie doch, wie wird +er denn heute dort zu Mittag speisen und ... und ... +wie wird er denn ... wenn er sonst etwas wünscht?“ +</p> + +<p> +„Das ist ein unvorhergesehenes Problem,“ sagte ich, +gleichfalls bestürzt. „Ich habe, offen gestanden, an diese +Möglichkeit noch gar nicht gedacht. Da haben wir wieder +einen Beweis dafür, daß in Lebensfragen die Frauen weit +praktischer sind als wir Männer!“ +</p> + +<p> +„Der Arme, wie ist er nur da hineingeraten! ... +Und nun sitzt er da, so ganz ohne Unterhaltung! Und +außerdem ist es dort noch dunkel ... Wie dumm, daß +<a id="page-338" class="pagenum" title="338"></a> +ich keine Photographie von ihm habe ... So bin ich +denn jetzt eigentlich Witwe, nicht wahr?“ fragte sie mit +berückendem Lächeln, sichtlich interessiert für ihren neuen +Stand. „Hm! ... aber er tut mir doch trotzdem +leid! ...“ +</p> + +<p> +Mit einem Wort – ich sah und hörte die sehr begreifliche +und natürliche Sehnsucht einer jungen, interessanten +Frau nach ihrem Manne. Endlich waren wir in +ihrer Wohnung angelangt und nach erfolgreichen Beruhigungsversuchen, +während welcher ich mit ihr zu Mittag +gespeist hatte, brach ich um sechs Uhr nach einem Täßchen +aromatischen Kaffees auf, um mich zu Timofei Ssemjonytsch +zu begeben, denn ich nahm an, daß um diese Zeit +alle Ehemänner zu Hause liegend oder sitzend anzutreffen +sind. +</p> + +<p> +Übrigens: +</p> + +<p> +Nachdem ich das erste Kapitel in einem Stil geschrieben +habe, der mir der betreffenden Erzählung angepaßt +scheint, gedenke ich fernerhin einen minder hochtrabenden +anzuwenden, der dafür natürlicher sein soll, wovon ich den +verehrten Leser im voraus in Kenntnis setze. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-2"> +II. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">T</span><span class="postfirstchar">imofei</span> Ssemjonytsch empfing mich in eigentümlicher +Eile und, wie es mir schien, sogar Verwirrung. +Er führte mich in sein enges Arbeitszimmer und schloß +die Tür hinter uns zu. „Damit die Kinder uns nicht +stören,“ sagte er sichtlich besorgt und unruhig. Mit einer +Handbewegung forderte er mich auf, an seinem Schreibtisch +Platz zu nehmen, während er sich selbst in einen bequemen +<a id="page-339" class="pagenum" title="339"></a> +Sessel niederließ, die Schöße seines ziemlich +abgetragenen wattierten Schlafrocks übereinanderschlug +und auf alle Fälle eine gewissermaßen offizielle, +fast sogar strenge Miene aufsetzte, obgleich er doch +weder mein noch Iwan Matwejewitschs Vorgesetzter +war, sondern stets nur für unseren Kollegen und sogar +guten Bekannten gegolten hatte. +</p> + +<p> +„Ganz zuerst,“ hub er denn auch an, als ich meine +Rede beendet hatte, „muß ich Sie bitten, in Erwägung zu +ziehen, daß ich kein Vorgesetzter bin, sondern auf gleicher +Stufe mit Ihnen wie mit Iwan Matwejewitsch stehe ... +Mich geht also die ganze Angelegenheit nichts an, weshalb +ich mich denn auch nicht in sie hineinmischen werde.“ +</p> + +<p> +Ich wunderte mich, – und zwar am meisten darüber, +daß er bereits alles zu wissen schien. Nichtsdestoweniger +erzählte ich ihm noch einmal die ganze Geschichte, und +zwar noch ausführlicher. Ich sprach sogar sehr erregt, +denn ich wollte doch die Pflicht eines aufrichtigen, treuen +Freundes erfüllen. Doch auch diesmal hörte er mir ohne +jede Verwunderung zu, dafür aber mit allen Anzeichen des +Mißtrauens. +</p> + +<p> +„Denken Sie sich,“ sagte er zum Schluß, „ich habe +schon immer vermutet, daß gerade so etwas mit ihm geschehen +würde.“ +</p> + +<p> +„Weshalb denn das, Timofei Ssemjonytsch? Dieser +Fall ist doch an sich, sollte ich meinen, noch viel mehr als +außergewöhnlich ...“ +</p> + +<p> +„Zugegeben. Aber Iwan Matwejewitsch neigte schon +immer, während seiner ganzen dienstlichen Laufbahn, gerade +zu einem solchen Abschluß. Er war gar zu hitzig, +war geradezu anmaßend. Ewig das Wort ‚Fortschritt‘ +<a id="page-340" class="pagenum" title="340"></a> +im Munde und dann so verschiedene Ideen – da sieht +man jetzt, wohin das führt!“ +</p> + +<p> +„Aber dieser Fall ist, denke ich, durchaus außergewöhnlich, +man kann ihn daher doch nicht als Beweis gegen +alle fortschrittlich Gesinnten ausspielen ...“ +</p> + +<p> +„Nein, aber das ist nun schon einmal so. Glauben +Sie mir, was ich sage. Das kommt, sehen Sie mal, von +übermäßiger Bildung. Jawohl. Denn die übermäßig +Gebildeten wollen ihre Nasen stets überallhin stecken, vornehmlich +dorthin, wo man sie nicht wünscht. Übrigens +ist es ja möglich, daß sie mehr wissen,“ unterbrach er +sich plötzlich, offenbar gekränkt. „Ich bin schon alt und +überdies nicht gar so gebildet; ich bin Soldatenkind und +habe von unten begonnen – in diesem Jahre werde ich +mein fünfzigjähriges Dienstjubiläum feiern ...“ +</p> + +<p> +„O, nein, Timofei Ssemjonytsch, ich bitte Sie! +Im Gegenteil, Iwan Matwejewitsch wartet nur auf Ihren +Rat, er vertraut sich ganz Ihrer Leitung an. Er wartet +nur auf ein Wort von Ihnen, wartet sogar sozusagen +tränenden Auges ...“ +</p> + +<p> +„‚Sozusagen tränenden Auges‘. Hm! Nun, diese +Tränen werden wohl Krokodilstränen sein, die man nicht +ernst zu nehmen braucht. Weshalb, sagen Sie mir das +doch, bitte, weshalb wollte er ins Ausland reisen? Und +mit welchem Gelde schließlich? Er selbst hat doch kein +Vermögen.“ +</p> + +<p> +„O, diese Summe hat er sich zusammengespart, Timofei +Ssemjonytsch,“ versetzte ich mitleidig. „Er wollte +ja nur auf drei Monate verreisen ... in die Schweiz ... +in die Heimat Wilhelm Tells ...“ +</p> + +<p> +„Wilhelm Tells? Hm!“ +</p> + +<p> +<a id="page-341" class="pagenum" title="341"></a> +„In Neapel wollte er den Frühling empfangen. Wollte +die Museen besichtigen, Sitten und Tiere kennen lernen.“ +</p> + +<p> +„Hm! Tiere? Meiner Ansicht nach wollte er es +einfach aus Stolz. Was für Tiere denn? Tiere! Gibt +es denn bei uns nicht genug Tiere? Wir haben Menagerien, +Museen, Kamele ... Bären gibt’s sogar in +nächster Nähe von Petersburg. Aber da ist er ja nun +glücklich selbst in ein Tier hineingeraten, und noch dazu in +ein Krokodil!“ +</p> + +<p> +„Timofei Ssemjonytsch, erbarmen Sie sich, der Mensch +ist im Unglück, der Mensch wendet sich an Sie als Freund, +wie man sich etwa an einen älteren Verwandten wendet, er +bittet Sie um Ihren Rat, Sie aber ... machen ihm +Vorwürfe! ... So haben Sie doch wenigstens mit +Jelena Iwanowna Mitleid!“ +</p> + +<p> +„Sie meinen seine Frau? Hm! Ein interessantes +Dämchen,“ meinte Timofei Ssemjonytsch, augenscheinlich +etwas aufgeweckter, und schnupfte mit Genuß seinen +Tabak. „Ein subtiles Frauenzimmerchen. So–o +... rundlich, und das Köpfchen hält sie immer so ein +wenig zur Seite geneigt, so ein wenig ... Ja. Sehr +angenehm. Andrei Ossipytsch sprach noch vorgestern +von ihr.“ +</p> + +<p> +„Er <em>sprach</em> von ihr?“ +</p> + +<p> +„Jawohl, und zwar in sehr schmeichelhaften Ausdrücken. +Die Büste, sagte er, der Blick, die Coiffure – +ein wahres Bonbon, sagte er, aber kein Frauenzimmer, +und darnach lachte er. Was wollen Sie, er ist ja ein noch +junger Mann.“ Timofei Ssemjonytsch schneuzte sich, als +wolle er trompeten. +</p> + +<p> +„Tja, und da haben wir nun diesen anderen jungen +<a id="page-342" class="pagenum" title="342"></a> +Mann, und sehen Sie, was der sich plötzlich für eine +exzentrische Laufbahn wählt ...“ +</p> + +<p> +„Aber hier handelt es sich doch um etwas ganz anderes, +Timofei Ssemjonytsch!“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß.“ +</p> + +<p> +„Also wie bleibt es denn nun, Timofei Ssemjonytsch?“ +</p> + +<p> +„Tja, was kann ich denn hierbei ausrichten?“ +</p> + +<p> +„Aber so raten Sie doch wenigstens zu irgend etwas, +sagen Sie, was wir tun sollen, Sie sind doch ein erfahrener +Mensch! Welche Schritte soll man tun? Soll +man durch die Vorgesetzten oder ...“ +</p> + +<p> +„Durch die Vorgesetzten? Nein, das in keinem Fall,“ +versetzte Timofei Ssemjonytsch eilig. „Wenn Sie meinen +Rat zu hören wünschen, so muß man die Sache zuerst +vertuschen und sozusagen ganz privatim vorgehen. Denn +der Fall ist verdächtig und außerdem neu, noch nie dagewesen. +Das ist die Hauptsache, daß es sich hier um +etwas Noch-nie-dagewesenes handelt, es hat hierfür noch +kein Beispiel, keinen Präzedenzfall gegeben, und schon deshalb +ist er eine schlechte Empfehlung ... Daher ist vor +allem Vorsicht geboten ... Mag er dort vorläufig liegen. +Man muß abwarten, abwarten muß man ...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber wie lange denn abwarten, Timofei Ssemjonytsch? +Und wie, wenn er dort erstickt?“ +</p> + +<p> +„Tja, weshalb denn das? Sie sagten doch, glaube +ich, daß er sich dort ganz behaglich fühle?“ +</p> + +<p> +Ich erzählte nochmals den ganzen Vorgang von +Anfang an. Timofei Ssemjonytsch wurde nachdenklich. +</p> + +<p> +„Hm!“ meinte er dann, indem er die Schnupftabakdose +in der Hand drehte. „Meiner Ansicht nach kann +es nicht schaden, wenn er dort eine Zeitlang abliegt, anstatt +<a id="page-343" class="pagenum" title="343"></a> +sich im Auslande herumzutreiben. Mag er jetzt einmal +in Muße nachdenken. Natürlich ist es nicht nötig, +dabei zu ersticken, deshalb wäre es angebracht, gewisse +Vorkehrungen zur Erhaltung der Gesundheit zu treffen, +sich, zum Beispiel, vor Husten in acht zu nehmen, +vor diesem und jenem usw. Was aber den Deutschen +betrifft, so ist er, meiner persönlichen Ansicht nach, durchaus +in seinem Recht, denn es ist <em>sein</em> Krokodil, in das +Iwan Matwejewitsch, ohne ihn, den Besitzer, um Erlaubnis +zu fragen, hineingekrochen ist, nicht umgekehrt, nicht +der Deutsche in Iwan Matwejewitschs Krokodil, obschon +übrigens dieser, soviel ich weiß, niemals ein Krokodil besessen +hat. Nun, das Krokodil ist aber in diesem Fall +persönliches Eigentum, folglich kann man es nicht so +ohne weiteres aufschneiden, das heißt – ohne dem Besitzer +den geforderten Schadenersatz zu zahlen.“ +</p> + +<p> +„Aber zur Rettung eines Menschen, Timofei Ssemjonytsch!“ +</p> + +<p> +„Tja, sehen Sie, das ist Sache der Polizei. Also +wenden Sie sich an diese.“ +</p> + +<p> +„Aber schließlich kann ja Iwan Matwejewitsch auch +bei uns vermißt werden. Man kann vielleicht irgendwelche +Aufschlüsse von ihm verlangen, ihn zu Rate ziehen +wollen ...“ +</p> + +<p> +„Wen das? – Iwan Matwejewitsch! He–he! ... +Zudem hat er ja jetzt Ferien, folglich ignorieren wir ihn +und sein Treiben, – mag er dort inzwischen Europa besichtigen, +was geht es uns an! Eine andere Sache ist es, +wenn er nach Ablauf der Frist nicht pünktlich erscheint. +Nun, dann werden wir uns erkundigen, Nachforschungen +anstellen ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-344" class="pagenum" title="344"></a> +„Nach drei Monaten! Timofei Ssemjonytsch, erbarmen +Sie sich!“ +</p> + +<p> +„Tja – ... Es ist seine eigene Schuld! Wer hat +ihn gebeten, ins Krokodil zu kriechen? Das käme ja +schließlich darauf hinaus, daß der Staat ihm noch eine +Wärterin halten muß, das ist aber in keinem Budget vorgesehen. +Doch die Hauptsache: das Krokodil ist persönliches +Eigentum, folglich tritt hier bereits das sogenannte +ökonomische Prinzip in Aktion. Das ökonomische +Prinzip aber geht allem voran. Noch vorgestern sprach +Ignatij Prokofjitsch auf dem Gesellschaftsabend bei Luka +Andrejewitsch ganz vorzüglich über diesen Punkt. Sie +kennen doch Ignatij Prokofjitsch? Ein Kapitalist, <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">homme +d’affaires</span>, und er redet, wissen Sie, ganz vorzüglich. +‚Wir brauchen Gewerbe,‘ sagt er, ‚Gewerbe tut uns not.‘ +Wir müssen es eben schaffen, wir müssen es sozusagen erst +gebären. Dazu müssen wir zuerst Kapital schaffen, das +heißt, der Mittelstand, die sogenannte Bourgeoisie muß +geboren werden. Da wir aber hierzulande selbst kein Kapital +haben, müssen wir es aus dem Auslande heranziehen. +Vor allem muß man den ausländischen Gesellschaften, die +hier den Landankauf im großen betreiben, die ganze Bezirke +kaufen wollen, mit günstigeren Bedingungen entgegenkommen. +‚Dieses Gemeindewesen, wie wir es jetzt +haben, mit dem gemeinsamen Arbeiten und dem gemeinsamen +Besitz, der doch ebensogut wie kein Besitz ist – ist +einfach Gift,‘ sagte er, ‚einfach unser Ruin!‘ Und wissen +Sie, er redet so mit Feuer, mit Temperament. Nun, ihm +steht es auch zu: ein Kapitalist! ... Das ist etwas +anderes als ein Beamter. ‚Mit diesem Gemeindewesen,‘ +sagt er, ‚wird man weder unser Gewerbe, noch unsere +<a id="page-345" class="pagenum" title="345"></a> +Landwirtschaft heben. Die ausländischen Gesellschaften +müßten nach Möglichkeit unser ganzes Land ankaufen und +dann müßte man die größeren Bezirke in kleinere teilen, +teilen, teilen, in möglichst kleine Parzellen teilen,‘ +– und wissen Sie, er sagt das so kategorisch: <em>tei</em>–len, +<em>tei</em>–len, sagt er und schneidet so mit der Hand +– ‚und dann die einzelnen Landstücke an die Bauern +verkaufen, die sie als persönliches Eigentum erwerben +wollen. Oder auch nicht einmal verkaufen, sondern einfach +verpachten. Wenn dann das ganze Land in den +Händen der ausländischen Gesellschaften sein wird,‘ +sagt er, ‚dann kann man jeden beliebigen Preis +als Pacht ansetzen. Folglich wird der Bauer +allein für sein tägliches Brot dreimal soviel arbeiten, +wie er jetzt arbeitet, und sobald es einem paßt, +kündigt man ihm. Folglich wird er sich in acht nehmen, +wird gehorsam sein, fleißig, und das Dreifache von dem, +was er jetzt arbeitet, für denselben Preis leisten. Was +fehlt ihm jetzt in der Gemeinde! Er weiß, daß er vor +Hunger nicht sterben wird, na, und da faulenzt er eben +und säuft. So aber würde hier Geld aus allen Ländern +zusammenfließen und würden Kapitale entstehen und eine +Bourgeoisie. Es sagt ja auch die große englische Zeitung, +The Times, die vor nicht langer Zeit einen Artikel +über unsere Finanzen gebracht hat, daß unsere Finanzen +sich eben nur deshalb nicht bessern, weil wir keinen +Mittelstand haben, weil es bei uns keine großen Beutel +gibt und keine arbeitsfähigen Proletarier ...‘ Ja, Ignatij +Prokofjitsch spricht gut, das muß man ihm lassen. +Ein geborener Redner. Jetzt beabsichtigt er eine Schrift +einzureichen, die soll direkt an die Behörden gehen und +<a id="page-346" class="pagenum" title="346"></a> +nachher will er sie in den „Nachrichten“ veröffentlichen. +Tja, das ist etwas anderes als Gedichte machen, wie sie +ein Iwan Matwejewitsch schreibt ...“ +</p> + +<p> +„Ja, aber wie bleibt es denn nun mit Iwan Matwejewitsch?“ +lenkte ich wieder ein, nachdem ich den Alten +hatte ausreden lassen. +</p> + +<p> +Timofei Ssemjonytsch sprach sich mitunter ganz gern +einmal aus, um bei der Gelegenheit zu beweisen, daß er +nicht etwa zurückgeblieben, sondern von allen neuen +Strömungen wenigstens unterrichtet war. +</p> + +<p> +„Wie es mit Iwan Matwejewitsch bleibt? Tja, das +ist es ja, wovon ich rede. Da bemühen wir uns nun +um Heranziehung fremden Kapitals, doch kaum hat sich +das Kapital des herangezogenen Krokodilbesitzers durch +Iwan Matwejewitsch verdoppelt, da wollen wir, anstatt +jetzt die Gelegenheit zu benutzen und den ausländischen Besitzer +zu protegieren, im Gegenteil nichts weniger als seinem +Grundkapital den Bauch aufschlitzen! Nun, ich bitt’ +Sie, geht denn das? Meiner Ansicht nach müßte sich +Iwan Matwejewitsch, wenn er ein treuer Sohn seines +Vaterlandes wäre, aufrichtig glücklich schätzen, sich freuen +und stolz darauf sein, daß er durch seine Person den Wert +des ausländischen Krokodils verdoppelt oder gar verdreifacht +hat. Das aber ist ja die erste Bedingung zu +einer erfolgreichen Heranziehung fremden Kapitals. Glückt +es hier dem ersten, dann wird auch der zweite nicht lange +auf sein Erscheinen warten lassen, und der dritte wird +dann vielleicht ganze drei oder vier Krokodile mitbringen, +und um diese beginnen dann die Kapitale sich zu gruppieren. +Da hätten wir alsdann die Bourgeoisie! Tja, +man muß eben begünstigen, begünstigen ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-347" class="pagenum" title="347"></a> +„Erbarmen Sie sich, Timofei Ssemjonytsch!“ rief +ich aus, „Sie verlangen ja eine ganz übermenschliche +Selbstaufopferung vom armen Iwan Matwejewitsch!“ +</p> + +<p> +„Ich <em>verlange</em> nichts, und vor allem bitte ich Sie +– wie ich es schon einmal getan – nicht zu vergessen, +daß ich nicht sein Vorgesetzter bin und somit von niemandem +etwas verlangen kann. Ich rede nur als Sohn meines +Vaterlandes – das heißt, nicht als ‚Sohn des Vaterlandes‘, +wie eine unserer großen Zeitungen sich nennt, +sondern als gewöhnlicher Sohn meines Vaterlandes. Und +überdies die Frage: wer hat ihn denn gebeten, in dieses +Krokodil hineinzukriechen? Bedenken Sie doch nur: ein +solider Mensch, ein Beamter, der bereits einen gewissen +Rang erreicht hat, außerdem rechtmäßig verheiratet ist, +und plötzlich – solch ein Schritt! Sagen Sie doch +selbst!“ +</p> + +<p> +„Aber dieser Schritt geschah doch ganz unfreiwillig, +nur aus Versehen!“ +</p> + +<p> +„Wer kann das wissen? Und zudem, aus welcher Kasse +soll dem Deutschen das Krokodil bezahlt werden? – wenn +Sie mir das gefälligst sagen könnten.“ +</p> + +<p> +„Ginge es nicht a Konto des Gehalts?“ +</p> + +<p> +„Wird das ausreichen?“ +</p> + +<p> +„Nein, freilich nicht,“ mußte ich zu meinem Kummer +zugeben. „Der Deutsche erschrak zuerst nicht wenig, denn +er glaubte, sein Krokodil würde platzen; dann aber, als +er sich überzeugt hatte, daß alles glücklich abgelaufen war, +wurde er gerader größenwahnsinnig und freute sich sehr +über die Möglichkeit, den Eintrittspreis zu verdoppeln.“ +</p> + +<p> +„Zu verdreifachen, zu vervierfachen! Das Publikum +wird sich jetzt um Eintrittskarten reißen! Und ein Krokodilbesitzer +<a id="page-348" class="pagenum" title="348"></a> +ist nicht so dumm, daß er das nicht auszunutzen +verstände! Nein, ich wiederhole: mag Iwan Matwejewitsch +vorläufig ganz inkognito nur beobachten, ohne sich +zu übereilen. Mögen es alle meinethalben wissen, daß er +sich im Krokodil befindet, aber möge man es nicht offiziell +wissen. In dieser Hinsicht trifft es sich sogar sehr gut, daß +er offiziell als verreist gilt und man ihn im Auslande +glaubt. Wenn man uns also benachrichtigt, daß er sich +im Krokodil befindet, so werden wir es eben einfach nicht +glauben. Das läßt sich sehr leicht so machen. Die Hauptsache +ist also nur: abwarten. Ja, und es hat doch damit +gar keine Eile ...“ +</p> + +<p> +„Aber wenn er zum Beispiel ...“ +</p> + +<p> +„Beunruhigen Sie sich nicht, der ist widerstandsfähig +...“ +</p> + +<p> +„Ja aber, was dann, wenn er sich nun geduldet hat?“ +</p> + +<p> +„Tja, ich will es Ihnen nicht verheimlichen, daß es +ein sehr verzweifelter Fall ist. Mit Überlegungen kommt +man hier nicht vorwärts. Aber das Schlimmste ist, daß +wir bisher nichts Ähnliches gehabt haben, wie gesagt: uns +fehlt ein Präzedenzfall, ein Beispiel. Hätten wir nur einen +einigermaßen ähnlichen Fall, so könnte man noch so manches +ausrichten. Denn sonst – wie will man sich hier zurechtfinden? +Fängt man an nachzudenken, so kann er +lange warten ...“ +</p> + +<p> +Da kam mir plötzlich ein glücklicher Gedanke. +</p> + +<p> +„Aber könnte man es nicht so machen,“ unterbrach ich +ihn, „daß man, wenn er nun einmal im Bauche des Krokodils +ist und dieses dank himmlischer Vorsehung nicht +früher eingeht, – kann man dann nicht in seinem Namen +<a id="page-349" class="pagenum" title="349"></a> +eine Bittschrift einreichen, daß man ihm diese Zeit als +Dienst anrechne? ...“ +</p> + +<p> +„Hm! ... es sei denn, daß man sie als Urlaub anrechnet +und selbstverständlich kein Gehalt für diese Zeit zu zahlen +braucht ...“ +</p> + +<p> +„Nein, ginge es nicht mit dem Gehalt?“ +</p> + +<p> +„Auf Grund wessen denn das, wenn ich fragen darf?“ +</p> + +<p> +„Ach, sehr einfach. Indem man die Sache so hinstellt, +als sei er dorthin abkommandiert ...“ +</p> + +<p> +„Was! – wohin?“ +</p> + +<p> +„In das Krokodil natürlich! ... Und einfach sozusagen +zur Nachforschung und Untersuchung der Tatsachen +an Ort und Stelle. Das würde natürlich etwas Neues +sein, aber zugleich doch fortschrittlich, und außerdem würde +es eine Bemühung um Aufklärung sein ...“ +</p> + +<p> +Timofei Ssemjonytsch überlegte. +</p> + +<p> +„Einen Beamten,“ begann er endlich, „in das Innere +eines Krokodils abzukommandieren, mit <em>besonderen</em> +Aufträgen, versteht sich, ist meiner persönlichen +Ansicht nach – Unsinn. Im Budget ist so etwas nicht +vorgesehen. Und was könnten denn das für Aufträge +sein?“ +</p> + +<p> +„Vielleicht ... so zur wissenschaftlichen Untersuchung +der Naturvorgänge an Ort und Stelle, mitten im Leben +sozusagen. Heutzutage ist doch Naturwissenschaft Trumpf +... Da könnte er denn dort leben und alles mitteilen ... +nun, gleichviel, sagen wir: wie die Verdauung vor sich +geht, so gewissermaßen den Prozeß des Verdauens beobachten, +oder sonst etwas Ähnliches. Um eben Tatsachenmaterial +zu sammeln ...“ +</p> + +<p> +„Das wäre also, sagen wir, etwas in der Art einer +<a id="page-350" class="pagenum" title="350"></a> +analytischen Statistik. Nun, was das betrifft, muß ich +sagen, daß ich nicht viel davon verstehe, ich bin kein Philosoph. +Sie sagen: Tatsachenmaterial, – wir sind doch +ohnehin schon mit Tatsachen überhäuft und wissen +nicht, was wir mit ihnen anfangen sollen. Hinzu kommt, +daß diese Statistik auch noch gefährlich ist ...“ +</p> + +<p> +„Inwiefern denn das?“ +</p> + +<p> +„Jawohl: gefährlich. Und zudem – das werden Sie +doch einsehen – würde er die Tatsachen mitteilen, indem +er auf der Seite liegt. Was ist aber das für ein +Dienst, der liegend verrichtet wird? Das wäre schon +wieder eine Neueinführung, die außerdem gefährlich +ist. Und weiter: es fehlt uns jegliches Beispiel. Tja, +wenn Sie uns nur ein einziges kleines Vorbild nennen +könnten, wenn auch nur ein einigermaßen ähnliches, so +ließe es sich, meiner Ansicht nach, eventuell noch +machen, daß man ihn dorthin abkommandiert.“ +</p> + +<p> +„Ja, aber bis hierzu ist doch noch kein lebendiges Krokodil +nach Rußland gebracht worden, Timofei Ssemjonytsch!“ +</p> + +<p> +„Hm! Ja ...“ Er überlegte. „Wenn Sie wollen, +ist diese Ihre Einwendung richtig und könnte sogar zur +Basis eines entsprechenden Verfahrens in dieser Angelegenheit +dienen. Aber andererseits müssen Sie auch wieder +in Betracht ziehen, daß mit dem Erscheinen lebender +Krokodile die Beamten anfangen würden zu verschwinden, +und bald würden sie alle verlangen, zumal es +dort warm und weich ist, abkommandiert zu werden, +um dann auf der Bärenhaut liegen zu können ... das +ist doch, nicht wahr, ein schlechtes Beispiel! So kann +<a id="page-351" class="pagenum" title="351"></a> +ja schließlich ein jeder dorthin wollen, um auf diese +Weise sein Gehalt ohne jede Mühe zu erhalten.“ +</p> + +<p> +„Nun, jedenfalls werden Sie doch ein gutes Wort +für ihn einlegen, Timofei Ssemjonytsch? Bei der Gelegenheit: +Iwan Matwejewitsch hat mich gebeten, Ihnen +eine kleine Kartenschuld zu übergeben, sieben Rubel waren +es, glaube ich.“ +</p> + +<p> +„Ach richtig, die verlor er letztens bei Nikifor Nikiforytsch. +Ich weiß. Und wie guter Laune er damals +war, er scherzte, lachte, und jetzt! ...“ +</p> + +<p> +Der alte Mann war aufrichtig gerührt. +</p> + +<p> +„Also Sie tun etwas für ihn, Timofei Ssemjonytsch?“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß. Ich werde mich so unter der Hand erkundigen, +nur um zu sondieren ... Aber übrigens – +könnten Sie nicht irgendwie, sagen wir, inoffiziell, so auf +Umwegen in Erfahrung bringen, wieviel der Besitzer nötigen +Falles für sein Krokodil verlangen würde?“ +</p> + +<p> +Timofei Ssemjonytsch war ersichtlich gütiger geworden. +</p> + +<p> +„O, unbedingt,“ versprach ich freudig, „und wenn Sie +erlauben, werde ich bei Ihnen vorsprechen, sobald ich es +erfahren habe.“ +</p> + +<p> +„Und seine Frau ... die ist jetzt wohl allein zu +Hause? Langweilt sich?“ +</p> + +<p> +„Würden Sie sie nicht besuchen, Timofei Ssemjonytsch?“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß. Ich dachte schon gestern daran, und +jetzt ist es ja eine so günstige Gelegenheit ... Tja, was +ihn nur geplagt haben mag, das Krokodil zu besehen. +Übrigens werde ich es mir doch auch einmal anschauen +müssen ...“ +</p> + +<p> +<a id="page-352" class="pagenum" title="352"></a> +„Ja, besuchen Sie doch den Armen.“ +</p> + +<p> +„Gewiß, gewiß. Natürlich will ich ihm durch diesen +meinen Schritt keine Hoffnung machen. Ich werde eben +nur als Privatperson hingehen ... Nun, auf Wiedersehen, +ich muß ja heute wieder zu Nikifor Nikiforytsch; +werden Sie dort sein?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich gehe jetzt zum Gefangenen.“ +</p> + +<p> +„Tja, jetzt muß man zum ‚Gefangenen‘ gehn! ’s ist +doch ein Leichtsinn, ein Leichtsinn!“ +</p> + +<p> +Ich verabschiedete mich von ihm. Verschiedene Gedanken +gingen mir durch den Kopf. Dieser Timofei +Ssemjonytsch war ja ein herzensguter und grundehrlicher +Mensch, als ich ihn aber verlassen hatte, freute ich mich +doch, daß er in diesem Jahr sein fünfzigjähriges Dienstjubiläum +feiern konnte und solche Timofei Ssemjonytschs +immerhin schon eine Seltenheit bei uns geworden sind. +</p> + +<p> +Ich begab mich eilig und geradenwegs in die Passage, +um dem armen Iwan Matwejewitsch das Ergebnis meiner +Unterredung mit unserem erfahrenen Kollegen mitzuteilen. +Ich muß aber sagen, daß mich auch meine Neugier +nicht wenig zu dieser Eile antrieb. Wie hatte er sich +dort im Krokodil eingerichtet und wie konnte ein Mensch +überhaupt in einem Krokodil leben? Wie war das möglich? +Mitunter schien es mir wahrlich nur ein ungeheuerlicher +Traum zu sein, um so mehr, als es sich um +ein Ungeheuer handelte ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-3"> +III. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">U</span><span class="postfirstchar">nd</span> doch war es kein Traum, sondern unanfechtbare +Wirklichkeit. Würde ich es denn sonst überhaupt erzählen! +Aber ich fahre fort ... +</p> + +<p> +<a id="page-353" class="pagenum" title="353"></a> +Es war schon ziemlich spät, gegen neun, als ich endlich +in der Passage anlangte. In die Menagerie konnte +ich nur durch eine Hintertür gelangen, da der Besitzer seine +„Ausstellung“ offiziell bereits geschlossen hatte. Er selbst +ging in einem alten schmierigen Rock, doch dreimal zufriedener +mit sich und der Welt, in seinen Räumen umher. +Man sah es ihm auf den ersten Blick an, daß er nichts +mehr befürchtete und das Publikum an diesem Nachmittage +sehr zahlreich herbeigeströmt war. Seine „Mutter“ erschien +erst später auf der Bildfläche, und zwar, wie es +schien, nur deshalb, um mich im Auge zu behalten. Sie +und ihr Gatte steckten oft die Köpfe zusammen und tuschelten +geschäftig. Obschon die „Ausstellung“ geschlossen +war, verlangte er von mir doch noch die üblichen fünfundzwanzig +Kopeken. Gott, nichts ist schrecklicher als übertriebene +Akkuratesse! +</p> + +<p> +„Sie werden jedesmal zahlen, wenn Sie kommen. +Das übrige Publikum zahlt jetzt einen Rubel pro Person, +von Ihnen aber nehme ich nur fünfundzwanzig Kopeken, +denn Sie sind ein guter Freund Ihres guten Freundes und +Freundschaft respektiere ich ...“ +</p> + +<p> +„Lebt er, lebt er noch, mein Freund?“ rief ich laut, +indem ich den Deutschen stehen ließ und zum Krokodil +eilte. Im geheimen hoffte ich, daß mein lauter Ruf bis +zu meinem Freunde dringen und seiner Eigenliebe schmeicheln +würde. +</p> + +<p> +Ich hatte mich nicht getäuscht. +</p> + +<p> +„Er lebt und ist gesund,“ tönte es sogleich wie aus der +Tiefe des Raumes zurück, oder wie unter einem Kissen +hervor, obwohl ich fast schon beim Krokodil angelangt +<a id="page-354" class="pagenum" title="354"></a> +war. „Er lebt und ist gesund, doch davon später ... +Wie steht es?“ +</p> + +<p> +Ich tat, als hätte ich die Frage nicht gehört und begann +ihn eilig und teilnahmsvoll mit meinen Fragen zu +überschütten: wie er sich fühle, wie es denn dort im Krokodil +aussehe und was dort im Magen noch außer ihm sei? +– wie es die gewöhnliche Höflichkeit und jedes Freundschaftsverhältnis +verlangt. Doch ärgerlich und eigensinnig +unterbrach er mich. +</p> + +<p> +„Wie es steht?“ schrie er kreischend, wie ein geärgerter +heiserer Kommandant, so daß er mir im Augenblick sehr +unsympathisch war. Übrigens hatte er sich mir gegenüber +oft genug diesen Befehlshaberton erlaubt. +</p> + +<p> +Ich unterdrückte meinen Groll und erzählte ihm mit +allen Details, was Timofei Ssemjonytsch gesagt hatte. +Übrigens bemühte ich mich doch, durch den Tonfall meiner +Stimme zu verstehen zu geben, daß ich mich gekränkt +fühlte. +</p> + +<p> +„Der Alte hat recht,“ entschied Iwan Matwejewitsch +kategorisch, wie er gewöhnlich mit mir zu sprechen pflegte. +„Liebe praktische Menschen und kann sentimentale Memmen +nicht ausstehen. Bin aber bereit, zuzugeben, daß auch +deine Idee, mich hierher abkommandieren zu lassen, nicht +ganz barer Unsinn ist. Vermag allerdings vieles mitzuteilen, +das sowohl wissenschaftlich wie sittlich neu ist. +Doch jetzt nimmt das alles eine andere, ganz unerwartete +Wendung und da lohnt es sich nicht wegen des Gehalts +zu streiten. Höre aufmerksam zu. Sitzt du?“ +</p> + +<p> +„Nein, ich stehe.“ +</p> + +<p> +„Setz’ dich auf irgend etwas, meinetwegen auf den +Fußboden, und höre aufmerksam zu.“ +</p> + +<p> +<a id="page-355" class="pagenum" title="355"></a> +Wütend nahm ich einen Stuhl und stellte ihn so nachdrücklich +hin, daß die Beine laut aufschlugen. +</p> + +<p> +„Höre,“ hub er im Befehlshaberton an, „Publikum +hat es heute eine Unmenge gegeben. Gegen Abend konnte +der Raum die Menschen gar nicht fassen, die eintreten wollten. +Der Ordnung halber erschien die Polizei. Gegen acht +Uhr, also früher als sonst, schloß der Deutsche die Ausstellung, +erstens um das viele Geld zu zählen und zweitens, um +sich besser für morgen vorbereiten zu können. Morgen wird +es hier ein ganzer Jahrmarkt werden. Es ist also anzunehmen, +daß mit der Zeit alle gebildeten Leute unserer +Hauptstadt, alle Damen der vornehmen Gesellschaft, alle +Gesandten und Botschafter, Legationsräte, Assessoren und +Juristen sich hier einfinden werden. Und nicht nur das: +man wird aus allen Provinzen unseres großen, neugierigen +Reiches herkommen, um das Wunder anzustaunen. Daraus +ergibt sich, daß ich, obgleich persönlich unsichtbar, doch +die erste Rolle spielen werde. Werde die müßige Masse +belehren, werde, selbst belehrt durch eigene Erfahrung, +mich als Beispiel der Demut vor dem Schicksal hinstellen! +Werde, um im Bilde zu reden, ein Katheder sein, von dem +herab ich die Menschheit unterweise. Schon allein die naturwissenschaftlichen +Aufschlüsse, die ich über das von mir +bewohnte Tier geben kann, sind unendlich wertvoll. Und +deshalb murre ich nicht nur nicht wider jenen Zufall, +der mich hierherbefördert hat, sondern hoffe, dank diesem +Zufall, die glänzendste Karriere zu machen.“ +</p> + +<p> +„Wenn’s nur nicht langweilig wird,“ bemerkte ich +trocken. +</p> + +<p> +Am meisten ärgerte mich, daß er, wenn er von sich +sprach, das persönliche Fürwort überhaupt nicht mehr +<a id="page-356" class="pagenum" title="356"></a> +gebrauchte, – so voll war er von sich! Nichtsdestoweniger +machte mich dieser Ton doch stutzig. „Was bildet sich +dieser dumme Kerl eigentlich ein!“ fragte ich mich geradezu +empört. „Weinen müßte er, aber nicht noch +großtun!“ +</p> + +<p> +„Nein, das wird es nicht!“ antwortete er schroff auf +meine Bemerkung, „denn ich bin durchdrungen von großen +Ideen. Kann erst jetzt zum erstenmal in Muße über +die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschheit +nachdenken. Aus diesem Krokodil soll fortan die Wahrheit +und das Licht hervorgehen! Werde unfehlbar eine +neue, meine eigene Theorie für die ökonomischen Verhältnisse +erfinden und stolz auf sie sein können – was mir +bisher infolge des Bureaudienstes und der flachen weltlichen +Zerstreuungen nicht möglich war. Werde alles widerlegen, +werde meine Gegenbeweise vorbringen und ein +neuer Charles Fourier werden. Hast du Timofei Ssemjonytsch +die sieben Rubel gegeben?“ +</p> + +<p> +„Ja, aus meiner Tasche,“ antwortete ich, und zwar so, +daß allein schon der Ton meiner Stimme sagte, daß ich +seine Schuld aus meiner Tasche bezahlt hatte. +</p> + +<p> +„Das wird dir bezahlt werden,“ sagte er hochmütig. +„Erwarte unbedingt eine Gehaltserhöhung, denn wem +sollte man sonst eine zusprechen, wenn nicht mir? Ich +bringe jetzt unendlichen Nutzen. Doch zur Sache. – +Meine Frau?“ +</p> + +<p> +„Du willst dich wohl nach dem Befinden Jelena +Iwanownas erkundigen?“ +</p> + +<p> +„Meine Frau?!“ schrie er gerader wie ein altes +Weib. +</p> + +<p> +Da war natürlich nichts zu machen. Gehorsam, doch +<a id="page-357" class="pagenum" title="357"></a> +innerlich knirschend erzählte ich, wie ich Jelena Iwanowna +nach Hause begleitet und verlassen hatte. Er unterbrach +mich jedoch, noch bevor ich zu Ende erzählt hatte. +</p> + +<p> +„Ich habe besondere Absichten mit ihr,“ sagte +er gereizt. „Werde ich <em>hier</em> berühmt, nun, so will ich, +daß sie <em>dort</em> berühmt werde. Alle Gelehrten, Dichter, +Philosophen, Zoologen, ausländische wie inländische, alle +Staatsmänner werden, nach ihrer Unterhaltung mit mir +am Vormittage, am Abend in ihrem Salon erscheinen. +In der nächsten Woche muß sie jeden Abend bei sich empfangen. +Mein verdoppeltes Gehalt wird ihr die Mittel +geben, die Kosten zu bestreiten, und da sich so etwas sehr +gut nur mit Tee und Lohndienern machen läßt, so brauchen +wir über den Kostenpunkt weiter kein Wort zu verlieren. +Hier wie dort wird man nur von mir reden. Habe +mich lange nach einer Gelegenheit gesehnt, die von mir +reden machen könnte, doch blieb mir die Erfüllung dieses +Wunsches versagt, da ich durch meinen Rang und meine +Bedeutung gebunden war. Jetzt ist alles dank dem einen +ingeniösen Einfall des Krokodils ohne weiteres erreicht. +Jedes meiner Worte wird jetzt niedergeschrieben, jeder +Ausspruch erörtert, weitergegeben, gedruckt werden. Werde +mich ihnen offenbaren! Sie werden begreifen, welche +Fähigkeiten sie im Eingeweide eines Krokodils fast haben +umkommen lassen. ‚Dieser Mann könnte ein Minister +sein und ein ganzes Königreich regieren!‘ werden sie sagen. +Inwiefern, sag’ doch selbst, inwiefern bin ich schlechter als +irgend solch ein Garnier-Pagès oder wie sie da heißen? +Meine Frau muß ein Pendant zu mir sein: ich glänze +durch meinen Verstand – sie durch Schönheit und Liebenswürdigkeit. +‚Sie ist entzückend, deshalb ist sie seine +<a id="page-358" class="pagenum" title="358"></a> +Frau,‘ werden die einen sagen. ‚Sie ist entzückend, +<em>weil sie seine Frau ist</em>,‘ werden die anderen den +Ausspruch verbessern. Jedenfalls sage ihr, daß sie sich +sogleich morgen das enzyklopädische Lexikon kaufen soll, +das von Andrei Krajewskij herausgegeben worden ist, +um über alles reden zu können. Doch soll sie vor allen +Dingen stets den Leitartikler in den ‚St. Petersburger +Nachrichten‘ lesen und täglich mit dem Leitartikel des +‚Woloß‘ vergleichen. Nehme an, daß der Besitzer einwilligen +wird, mich bisweilen mit dem Krokodil in den +Salon meiner Frau zu bringen. Werde dann auf dem +Boden dieses Blechkastens mitten im glänzenden Salon +stehen und mit Bonmots, die ich mir schon vom Morgen +an zurechtlegen kann, nur so um mich werfen. Dem +Staatsmanne werde ich meine Projekte vorlegen; mit dem +Dichter werde ich nur in Reimen reden; mit den Damen +werde ich unterhaltend und amüsant sein, – da ich ja +jetzt für ihre Männer ganz ungefährlich bin. Allen übrigen +werde ich als Vorbild dienen, als Beispiel demutvoller +Ergebung und Unterordnung meines Willens unter denjenigen +der Vorsehung. Meine Frau werde ich zu einer +glänzenden literarischen Erscheinung machen, ich werde sie +hervorheben und dem Publikum erklären; als meine Frau +muß sie die größten Vorzüge haben, und wenn man mit +Recht Andrei Alexandrowitsch unseren Alfred de Musset +nennt, so wird man sie mit noch größerem Recht unsere +Eugenie Tour nennen.“ +</p> + +<p> +Offen gestanden, mir kam der Gedanke, daß mein +Iwan Matwejewitsch, obschon dieser ganze Unsinn an den +ehemaligen Iwan Matwejewitsch erinnerte, zur Zeit, wenn +auch nicht gerade unheilbar erkrankt war, so doch hohes +<a id="page-359" class="pagenum" title="359"></a> +Fieber haben mußte und demzufolge phantasierte. Im +Grunde war es ja ganz derselbe alltägliche Iwan Matwejewitsch, +nur – wie soll ich sagen? – etwa durch ein +zwanzigfaches Vergrößerungsglas gesehen. +</p> + +<p> +„Mein Freund,“ begann ich möglichst sanft, „hoffst +du, bei diesem Leben ein hohes Alter zu erreichen? Und +überhaupt, sage doch: bist du gesund? Was ißt du, wie +schläfst du, wie atmest du? Ich bin dein Freund, und +du wirst doch zugeben, daß dieser Fall gar zu übernatürlich +ist, um mein Interesse nicht natürlich erscheinen zu +lassen.“ +</p> + +<p> +„Es ist nur müßige Neugier von dir und nichts weiter,“ +widersprach er ärgerlich. „Doch ich will sie trotzdem +befriedigen. Du fragst, wie ich mich hier im Leibe +des Krokodils eingerichtet habe? Erstens hat sich das +Krokodil zu meiner Überraschung als etwas vollkommen +Leeres erwiesen. Sein Inneres besteht gleichsam aus +einem großen leeren Sack, der an jene Gummigegenstände +erinnert, die man in den Schaufenstern der großen Kaufläden +an der Morskaja, Gorochowaja und, wenn ich nicht +irre, auch auf dem Wosnessenskij Prospekt ausgestellt +sieht. Denn – sage es dir doch selbst – wie könnte ich +mich sonst hier aufhalten?“ +</p> + +<p> +„Ist’s möglich!“ rief ich in begreiflicher Verwunderung +aus. „Ist das Krokodil wirklich ganz leer?“ +</p> + +<p> +„Vollkommen leer,“ bestätigte Iwan Matwejewitsch +streng und nachdrücklich. „Und aller Wahrscheinlichkeit +nach ist es das gemäß den Gesetzen seiner Natur. Das +Krokodil setzt sich zusammen aus einem großen Rachen, der +mit scharfen Zähnen versehen ist, und außerdem einem langen +Schwanze, – und das ist das ganze Krokodil, genau +<a id="page-360" class="pagenum" title="360"></a> +genommen. In der Mitte aber zwischen diesen zwei +Extremitäten ist ein leerer Raum, der von einer kautschukartigen +Masse umfaßt wird – wahrscheinlich ist es +wirklicher Kautschuk ...“ +</p> + +<p> +„Aber die Rippen, der Magen, die Gedärme, die Leber, +das Herz?“ unterbrach ich ihn fast persönlich gekränkt. +</p> + +<p> +„Davon gibt’s hier n–<em>nichts</em>, absolut nichts, und +aller Wahrscheinlichkeit nach hat’s davon auch niemals etwas +hier gegeben. Alles das ist nur eine freie Erfindung +der müßigen Phantasie leichtsinniger Reisender. Wie man +ein aus Gummi hergestelltes Sitzkissen aufbläst, so kann ich +jetzt mein Krokodil aufblasen. Sein Inneres ist bis zur +Unglaublichkeit dehnbar. Selbst du könntest noch als +Hausfreund hier Platz finden, wenn du so großmütig +wärest, mir Gesellschaft leisten zu wollen. Ich habe sogar +daran gedacht, im äußersten Fall Jelena Iwanowna hierher +zu beordern. Übrigens stimmt diese leere Beschaffenheit +des Krokodils vollkommen mit den wissenschaftlichen +Angaben überein. Denn, nehmen wir zum Beispiel an, +daß dir der Auftrag zuteil würde, ein neues Krokodil zu +schaffen, so würde sich vor dir doch unwillkürlich die +Frage erheben: welches ist der Lebenszweck eines Krokodils? +Die Antwort liegt auf der Hand: Menschen zu +verschlingen. – Wie nun das Innere des Krokodils zweckmäßig +schaffen, damit es ohne eigene Lebensgefahr Menschen +verschlingen kann? Auf diese Frage ist die Antwort +noch leichter: man läßt es – leer sein. Wie du weißt, +hat die Physik bewiesen, daß die Natur keine Leere duldet. +Infolgedessen wird durch diese Leere, die die Natur +nicht duldet, die Funktion des Krokodils hervorgerufen, +<a id="page-361" class="pagenum" title="361"></a> +denn die Leere, die erwiesenermaßen nicht leer bleiben kann, +muß sich nach dem einfachen Gesetz der Natur füllen, und +folglich greift sie ganz naturgemäß nach allem, was sich in +ihrem Bereich befindet. Damit hast du den Grund, weshalb +alle Krokodile Menschen verschlingen. Das ist das +Gesetz von der funktionierenden Leere. Doch gilt es +selbstverständlich nicht für alle Lebewesen. Ganz anders +ist zum Beispiel der Mensch beschaffen: je leerer zum Beispiel +der Kopf eines Menschen ist, um so weniger hat er +das Bedürfnis, sich zu füllen, doch ist das wiederum nur +als eine Ausnahme aus der allgemeinen Regel zu betrachten. +Alles dieses ist mir jetzt so klar wie der Tag, und +alles, was ich dir hier sage, hat mir mein eigener Verstand +erschlossen, durch eigene Anschauung, während ich +mich im Eingeweide der Natur selbst befand, an der +Quelle ihrer Geheimnisse, kann sagen, ihrem Pulsschlag +lauschend. Sogar die Ethymologie stimmt mit mir überein, +denn allein schon der Name des Tieres bedeutet Gesprächigkeit. +Krokodil – Crocodillo – ist zweifellos ein +italienisches Wort, das vielleicht aus der Zeit stammt, in +der in Ägypten die alten Pharaonen herrschten, ein Wort, +das offenbar das französische Wort <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">croquer</span> zur Wurzel +hat. Was ich dir soeben gesagt habe, gedenke ich als +erste Lektion zu lesen, vor dem Publikum, versteht sich, +das sich in Jelena Iwanownas Salon versammeln wird, +wenn man mich in diesem Kasten hinbringt.“ +</p> + +<p> +„Lieber Freund, sag’ mal, würdest du nicht irgend eine +erleichternde Arznei einnehmen wollen?“ fragte ich unwillkürlich. +„Er hat Fieber, er fiebert, er muß hochgradiges +Fieber haben!“ dachte ich angstvoll. +</p> + +<p> +„Unsinn!“ sagte er verächtlich. „Und außerdem wäre +<a id="page-362" class="pagenum" title="362"></a> +eine Purganz in meinem gegenwärtigen Logis nicht ganz +angebracht. Übrigens konnte ich es mir denken, daß du +unfehlbar mit so etwas kommen würdest.“ +</p> + +<p> +„Aber, Freund, wie ... wie wirst du denn jetzt überhaupt +etwas zu dir nehmen? Hast du heute zu Mittag +gespeist?“ +</p> + +<p> +„Nein, das nicht, aber ich bin vollkommen satt und +werde höchstwahrscheinlich überhaupt nichts mehr genießen. +Doch auch dieses ist durchaus erklärlich: indem ich +das ganze Innere des Krokodils erfülle, mache ich es auf +ewig satt. Jetzt braucht man es jahrelang nicht zu füttern. +Und andererseits: indem das Krokodil durch mich +satt ist, gibt es wiederum mir alle Lebenssäfte aus seinem +Körper. Das ist ungefähr dieselbe Ernährungsmethode, +die raffinierte Schönheiten anwenden, wenn sie zur Nacht +ihren ganzen Körper mit rohen Koteletts bedecken, und +dann am nächsten Morgen nach einem duftenden Bade wieder +frisch, kräftig, geschmeidig und verführerisch sind. So +erhalte ich, indem ich das Krokodil ernähre, von ihm alle +Nahrungssäfte zurück, folglich ernähren wir uns gegenseitig. +Da es aber selbst einem Krokodil schwer fallen +dürfte, einen Menschen von meiner Konstitution zu verdauen, +so ist anzunehmen, daß es eine gewisse Schwere +im Magen empfindet – obwohl es keinen Magen hat. +Doch das tut nichts zur Sache. Deshalb bewege ich mich +hier so wenig als möglich, obschon mich nichts hindern +würde, doch unterlasse ich es einfach aus Humanität. +Diese geringe Bewegungsmöglichkeit wäre das einzige, +was ich an meinem gegenwärtigen Zustande auszusetzen +hätte, und im allegorischen Sinne hat Timofei Ssemjonytsch +durchaus recht, wenn er sagt, ich läge auf der Bärenhaut. +<a id="page-363" class="pagenum" title="363"></a> +Ich werde aber beweisen, daß man auch liegend +das Schicksal der Menschheit umstürzen kann. Alle +großen Ideen und alle neuen Tendenzen unserer Zeitungen +und Zeitschriften stammen augenscheinlich von Leuten, die +auf der Bärenhaut liegen; das ist auch der Grund, weshalb +man sie Kabinettideen nennt ... Doch übrigens – +gleichviel wie man sie nennt! Ich werde jetzt ein ganz +spezielles System erfinden, – du ahnst nicht, wie leicht +das ist! Man braucht sich nur irgendwohin in die Einsamkeit +zurückzuziehen oder auch in ein Krokodil hineinzugeraten, +die Augen zu schließen, und im Nu hat man ein +ganzes Paradies für die Menschheit erfunden. Vorhin, +als ihr mich verließt, machte ich mich sogleich daran, zu +erfinden, und an diesem einen Nachmittage habe ich ganze +drei Systeme erfunden und soeben bin ich beim vierten. +Es ist wahr, zuerst muß man alles Bestehende verwerfen, +man muß einfach alles umstürzen; aber aus dem Krokodil +heraus ist das so leicht; ja aus dem Krokodil gesehen +wird alles gleichsam sichtbarer ... Übrigens gibt es +hier doch noch einiges zu bemängeln, freilich nur Nebensächliches: +es ist hier zum Beispiel etwas feucht und wie +mit Schleim bedeckt und außerdem riecht es nach Gummi, +ganz genau so wie meine alten Galoschen vom vorigen +Jahr. Aber das ist auch alles, was es hier zu bemängeln +gibt ...“ +</p> + +<p> +„Iwan Matwejewitsch,“ unterbrach ich ihn, „was +du da redest, erscheint mir so wunderlich, daß ich kaum +meinen Ohren traue. Aber sage mir doch wenigstens das +eine: hast du wirklich die Absicht, überhaupt nicht mehr +zu essen?“ +</p> + +<p> +„Du oberflächlicher, müßiger Mensch, um was du +<a id="page-364" class="pagenum" title="364"></a> +dich sorgst! Ich rede von großen Ideen, du aber ... So +höre denn, daß mich die großen Ideen sättigen und die +Nacht, die mich umgibt, taghell erleuchten. Übrigens hat +der gutmütige Deutsche, der Eigentümer des Krokodils, +sich mit seiner herzensguten Mutter beraten und da haben +sie beide beschlossen, mir jeden Morgen durch den Rachen +des Krokodils ein gebogenes Metallröhrchen zuzustecken, +damit ich durch dasselbe Kaffee, Tee oder Bouillon mit +aufgeweichtem Zwieback genießen könne. Die Röhre ist +bereits bestellt, gleichfalls bei einem Deutschen hier in der +Nachbarschaft, doch ist sie, glaube ich, nur unnützer Luxus. +Zu leben aber hoffe ich mindestens tausend Jahre, wenn +es wahr ist, daß ein Krokodil so lange leben kann ... +Jawohl! gut, daß ich das nicht vergessen habe: sieh doch +morgen in einer Naturgeschichte nach und teile mir dann +mit, wie lange ein Krokodil lebt, denn es ist möglich, daß +ich es mit irgend einem anderen vorsintflutlichen Tiere +verwechsle. Nur eines erregt mein Bedenken: wie du +weißt, bin ich angekleidet und zwar ist mein Anzug aus +russischem Tuch und an den Füßen habe ich Stiefel, daher +kann das Krokodil mich offenbar nicht verdauen. Hinzu +kommt, daß ich lebendig bin, mich deshalb der Verdauung +mit meiner ganzen Willenskraft widersetze, denn begreiflicherweise +will ich mich nicht in das verwandeln, in was +sich schließlich jede Speise verwandelt, da ein solches Ende +gar zu erniedrigend für mich wäre. Nun fürchte ich aber, +daß der Stoff meines Anzuges einer tausendjährigen Frist +nicht standhalten wird; er kann, als minderwertige russische +Ware, früher verwesen und dann würde ich ohne diesen +äußeren Schutz trotz meines ganzen Unwillens oder Willens, +vielleicht doch verdaut werden, denn wenn ich es +<a id="page-365" class="pagenum" title="365"></a> +auch tagsüber unter keiner Bedingung zulassen werde, +so kann mich doch in der Nacht, wenn der Wille mich im +Schlaf verläßt, das gewöhnliche Schicksal einer genossenen +Kartoffel oder Fleischpastete ereilen. Diese Möglichkeit, +oder auch nur der bloße Gedanke an diese Möglichkeit +macht mich rasend. Allein schon aus diesem Grunde +müßte man den Zolltarif ändern und den Import englischer +Stoffe begünstigen, denn da sie fester sind, würden sie +den zersetzenden Einflüssen der Natur länger Widerstand +bieten, falls jemand in einem solchen Anzug in ein Krokodil +hineingerät. Jedenfalls werde ich mein diesbezügliches +Projekt bei nächster Gelegenheit einem Staatsmanne +vorlegen und gleichzeitig auch den Berichterstattern +unserer Tageszeitungen. Mögen sie es erörtern! Hoffe +aber, daß sie nicht nur diese Idee von mir annehmen werden. +Ich sehe voraus, daß jeden Morgen eine ganze +Schar dieser Leute sich um mich drängen wird, um diesen +Blechkasten, um meine Beurteilungen der neuesten Telegramme +zu vernehmen und jedes Wort, das ich fallen lasse, +gierig zu erhaschen. Mit einem Wort – ich sehe die +Zukunft im rosigsten Licht ...“ +</p> + +<p> +„Delirium, Delirium!“ dachte ich bei mir. +</p> + +<p> +„Freund, aber die Freiheit?“ fragte ich, um seine +Ansichten kennen zu lernen. „Du bist doch jetzt geradezu +ein Gefangener in einem dunklen Verließ, während der +wahre Mensch sich der Freiheit erfreuen soll.“ +</p> + +<p> +„Du bist dumm,“ war seine, für mich etwas unerwartete +Antwort. „Nur die Wilden lieben Unabhängigkeit, +weise Leute lieben dagegen Ordnung, wenn es aber +keine Ordnung gibt ...“ +</p> + +<p> +„Iwan Matwejewitsch!“ rief ich aus. +</p> + +<p> +<a id="page-366" class="pagenum" title="366"></a> +„Schweig’ und höre!“ kreischte er, ärgerlich darüber, +daß ich ihn unterbrochen hatte. „Noch niemals hat sich +mein Geist so hoch emporgeschwungen wie jetzt. In meiner +engen Wohnung fürchte ich augenblicklich nur – die +literarische Kritik unserer dicken Tageszeitungen und den +Spott unserer satirischen Blätter. Ich fürchte, daß die +leichtsinnigen Elemente unter den Besuchern der Ausstellung, +die Dummköpfe und Neider und überhaupt die Nihilisten, +mich werden lächerlich machen wollen. Doch ich +werde Maßregeln zu ergreifen wissen. Erwarte nur mit +Ungeduld die Meinungsäußerungen des Publikums, doch +hauptsächlich – die Besprechungen der Zeitungen. Bringe +morgen alle Zeitungen mit, wenn du kommst!“ +</p> + +<p> +„Gut, ich werde einen ganzen Stoß mitbringen.“ +</p> + +<p> +„Eigentlich ist es aber noch zu früh, morgen schon +Besprechungen zu erwarten, gewöhnlich werden bei uns +Neuigkeiten erst nach vier Tagen besprochen. Doch von +nun an komme jeden Abend durch den Hofeingang zu +mir, denn ich beabsichtige, dich als meinen Sekretär zu +benutzen. Du wirst mir die Zeitungen vorlesen und ich +werde dir meine Gedanken diktieren und Aufträge geben. +Vor allen Dingen aber vergiß nicht die neuesten Telegramme. +Daß du mir jeden Tag die letzten europäischen +Drahtnachrichten bringst! Doch nun genug: du wirst +jetzt schlafen wollen. Geh also nach Hause und denke +darüber nach, was ich dir soeben über die Kritik gesagt +habe: ich fürchte sie nicht, denn sie befindet sich selbst +in einer kritischen Lage. Man braucht nur weise und +tugendhaft zu sein und man wird unfehlbar auf ein Piedestal +gehoben. Wenn nicht ein Sokrates, dann ein Diogenes, +<a id="page-367" class="pagenum" title="367"></a> +oder dieser und jener zugleich – das wird meine +zukünftige Rolle in der Menschheit sein.“ +</p> + +<p> +So leichtsinnig und aufdringlich – bei Gott, er mußte +hohes Fieber haben! – beeilte sich mein Freund Iwan +Matwejewitsch, mich seine Ansichten wissen zu lassen, jenen +charakterschwachen alten Frauenzimmern nicht unähnlich, +von denen behauptet wird, daß sie kein Geheimnis bewahren +können. Ich aber muß gestehen, daß mir alles, was +er da von der inneren Beschaffenheit des Krokodils gesagt +hatte, äußerst verdächtig erschien. Wie war es möglich, +daß ein Krokodil keinen Magen, kein Herz, keine Lungen +hatte? Ich könnte wetten, daß er alles das einzig aus +Prahlerei frei erfunden hatte, zum Teil vielleicht auch +nur, um mich zu kränken, zu erniedrigen. Freilich war er +krank, und zu einem Kranken muß man gut sein, doch wenn +ich anstatt gut offen sein will, so muß ich sagen, daß ich +meinen Freund Iwan Matwejewitsch niemals habe ausstehen +können. Mein ganzes Leben hindurch, von Kindheit +an, habe ich mich von seiner Vormundschaft nicht +befreien können. Tausendmal wollte ich ihm den Laufpaß +geben, doch immer wieder zog es mich zu ihm, als +hätte ich im geheimen immer noch gehofft, ihm irgend +etwas beweisen oder irgend etwas heimzahlen zu können. +Ein wunderliches Ding war diese Freundschaft! Ich +kann ganz ehrlich sagen, daß meine Freundschaft zu neun +Zehnteln aus Wut bestand. +</p> + +<p> +Doch an jenem Abend verabschiedeten wir uns fast +gefühlvoll. +</p> + +<p> +„Ihr Freund ist ein sehr kluger Mensch!“ sagte mir +halblaut der Deutsche, als er sich zu mir gesellte, um +<a id="page-368" class="pagenum" title="368"></a> +mich hinauszugeleiten. Er hatte die ganze Zeit aufmerksam +unserem Gespräch zugehört. +</p> + +<p> +„Apropos!“ unterbrach ich ihn, „damit ich es nicht +vergesse: wieviel würden Sie für Ihr Krokodil verlangen, +im Fall man es von Ihnen kaufen wollte?“ +</p> + +<p> +Iwan Matwejewitsch, der meine Frage gehört haben +mußte, schien mit besonderer Spannung auf die Antwort +zu warten. Offenbar wollte er nicht, daß der Deutsche +wenig für dasselbe verlange; jedenfalls vernahmen wir +nach meiner Frage ein eigentümliches Räuspern, das +entfernt an ein Grunzen erinnerte. +</p> + +<p> +Zuerst wollte der Deutsche überhaupt nichts davon +hören, ja er wurde sogar ärgerlich. +</p> + +<p> +„Niemand darf mein Eigentum ohne meine Einwilligung +kaufen!“ schrie er, im Jähzorn rot wie ein gekochter +Krebs. „Ich will mein Krokodil überhaupt nicht verkaufen! +Geben Sie mir eine Million Taler – ich verkauf’ +es nicht! Ich habe heute hundertunddreißig Taler +vom Publikum eingenommen und morgen werde ich zehntausend +Taler einnehmen und dann hunderttausend Taler +Tag für Tag! Nein! Ich will es überhaupt nicht verkaufen!“ +</p> + +<p> +Iwan Matwejewitsch begann zu lachen vor Vergnügen. +</p> + +<p> +Ich bezwang mich nach Möglichkeit und bat den übergeschnappten +Deutschen scheinbar ganz kaltblütig, sich die +Sache zu überlegen, zumal seine Berechnungen meiner +Meinung nach nicht genügend mit der Wirklichkeit übereinstimmten, +daß zum Beispiel wenn er hunderttausend täglich +einnähme, in vier Tagen ganz Petersburg bei ihm gewesen +sein müsse, und damit wäre dann die Einnahmequelle versiegt. +Und außerdem stehe unser aller Leben und Tod in +<a id="page-369" class="pagenum" title="369"></a> +Gottes Hand, das Krokodil könne vielleicht doch noch +irgendwie platzen oder Iwan Matwejewitsch erkranken +und sogar sterben usw. usw. +</p> + +<p> +Der Deutsche wurde nachdenklich. +</p> + +<p> +„Ich werde ihm Tropfen aus der Apotheke geben,“ +meinte er dann schließlich nach reiflicher Überlegung, +„dann wird er nicht sterben.“ +</p> + +<p> +„Tropfen hin, Tropfen her,“ meinte ich, „aber haben +Sie auch das in Erwägung gezogen, daß Sie es mit der +Polizei und dem Gericht zu tun bekommen können? Die +Gattin Iwan Matwejewitschs kann zum Beispiel ihren +gesetzmäßig ihr angetrauten Gatten zurückverlangen. Sie +haben nun die Absicht, reich zu werden, haben Sie aber +auch die Absicht, seiner Frau eine Entschädigung, etwa +eine Pension zu zahlen?“ +</p> + +<p> +„Nein, die habe ich nicht!“ antwortete streng und entschlossen +der Deutsche. +</p> + +<p> +„Nein, die haben wir nicht!“ bestätigte sogar mit +merklicher Bosheit die Mutter. +</p> + +<p> +„Nun denn – wäre es für Sie da nicht ratsamer, +jetzt sogleich und mit einemmal eine zwar geringere, doch +dafür sichere Summe zu empfangen, als sich der Ungewißheit +anzuvertrauen? Übrigens erachte ich es als +meine Pflicht, Ihnen zu sagen, daß ich Sie nur aus +persönlicher Neugier frage.“ +</p> + +<p> +Der Deutsche nahm seine Mutter beiseite und begab +sich mit ihr in den fernsten Winkel, wo ein Käfig mit dem +größten und widerlichsten aller Affen stand, um sich dort +flüsternd mit ihr zu beraten. +</p> + +<p> +„Du wirst sehen!“ sagte Iwan Matwejewitsch in +vielsagendem Tone zu mir. +</p> + +<p> +<a id="page-370" class="pagenum" title="370"></a> +Was mich betrifft, so muß ich sagen, daß ich ein unbändiges +Verlangen verspürte, erstens den Deutschen +gründlich zu verprügeln, zweitens, noch gründlicher seine +Frau; und drittens – am gründlichsten und schmerzhaftesten +meinen Freund Iwan Matwejewitsch selbst wegen +seiner unverschämten Eigenliebe. Doch alles das war noch +nichts im Vergleich zu der Antwort des habgierigen Deutschen. +</p> + +<p> +Der verlangte, nachdem er sich genugsam mit seiner +besseren Hälfte beraten, für sein Krokodil fünfzigtausend +Rubel, zahlbar in Papieren der jüngsten inneren Anleihe, +außerdem ein steinernes Haus an der Gorochowaja, und +zwar eines mit einer dazugehörigen Apotheke, und +außerdem noch den Rang eines russischen Obersten. +</p> + +<p> +„Siehst du!“ triumphierte Iwan Matwejewitsch, „ich +sagte es dir! Ausgenommen den letzten unbegründeten +Wunsch, hat er vollkommen recht, denn wie du siehst, versteht +er den Wert seines Eigentums richtig zu schätzen. +Das ökonomische Prinzip geht allem voran!“ +</p> + +<p> +„Aber so sagen Sie doch,“ rief ich zornig dem Deutschen +zu, „so sagen Sie mir doch, wozu Sie den Rang +und Titel eines Obersten brauchen? Was für eine Heldentat +haben Sie denn ausgeführt, wenn man fragen darf, +welch einen Dienst Rußland erwiesen, welchen Ruhm sich +auf dem Schlachtfelde erworben? Sind Sie nach alledem +nicht einfach verrückt?“ +</p> + +<p> +„Ich – verrückt?“ rief der Deutsche mit gekränkter +Würde aus. „Nein, nicht verrückt, sondern sehr vernünftig, +Sie aber sind das Gegenteil! Ich habe den +Rang eines Obersten verdient, weil ich ein Krokodil zeigen +kann, in dem ein lebendiger Hofrat sitzt, ein Russe aber +<a id="page-371" class="pagenum" title="371"></a> +kann ein solches Krokodil, das mit einem lebendigen Hofrat +gefüllt ist, der Welt nicht zeigen! Ich bin ein sehr +kluger Mensch und deshalb will ich ein Oberst sein!“ +</p> + +<p> +„Leb wohl, Iwan Matwejewitsch!“ rief ich zornbebend +meinem Freunde zu und eilte aus dem Ausstellungsraum. +</p> + +<p> +Ich fühlte, daß meine Selbstbeherrschung nur noch +an einem Haar hing. Die hirnverbrannten Hoffnungen +dieser beiden Dummköpfe konnten einen aus der Haut +bringen! Doch die kalte Abendluft erfrischte mich wohltuend +und meine Empörung legte sich. Ich spie schließlich +aus, rief energisch eine Droschke heran, fuhr nach Haus, +kleidete mich aus und ging zu Bett. Am meisten ärgerte +mich, daß ich gewissermaßen eingewilligt hatte, sein Sekretär +zu sein. Jetzt konnte ich mich dort allabendlich langweilen +und mich noch über das erhebende Gefühl, nur die +Pflicht eines aufrichtigen Freundes zu erfüllen, freuen! +Ich hätte mich selbst prügeln mögen vor Ärger über mich, +und in der Tat: nachdem ich schon das Licht ausgelöscht +und mich zugedeckt hatte, schlug ich mir mehrmals mit der +Faust auf den Kopf und noch auf andere Teile meines +Körpers. Dieses verschaffte mir bedeutende Erleichterung +und endlich schlief ich ein, schlief sogar ziemlich fest, denn +ich war sehr müde. Im Traum sah ich unendlich viele +Affen, die alle wild umhersprangen, gegen Morgen aber +träumte mir von Jelena Iwanowna ... +</p> + +<div class="chapter"> + +<h3 class="chapter" id="chapter-5-4"> +IV. +</h3> + +</div> + +<p class="first"> +<span class="firstchar">D</span><span class="postfirstchar">ie</span> Affen hatten mich, wie ich zu erraten glaube, nur +deshalb im Traum belästigt, weil ich sie tags zuvor im +<a id="page-372" class="pagenum" title="372"></a> +Käfig beim Krokodilbesitzer gesehen hatte; doch Jelena +Iwanowna war ein besonderes Kapitel. +</p> + +<p> +Ich will es nicht mehr verheimlichen: ich liebte diese +Dame; doch ich beeile mich, einem Mißverständnis vorzubeugen: +ich liebte sie wie ein Vater, nicht mehr und nicht +weniger. Daß ich sie liebte – ersehe ich daraus, daß +ich oft genug Lust verspürt habe, ihr Köpfchen zu küssen +oder ihre zarten rosa Wangen. Und obschon ich das nie +getan habe, so hätte ich doch – wenn man einmal alles +beichten soll! – ganz sicherlich mich nicht geweigert, sie +sogar fest auf die Lippen zu küssen. Denn ihre Lippen +waren gar zu süß und verstanden es vorzüglich, die Zähnchen +bloßzulegen, die dann, wie zwei Reihen ausgesuchter +Perlen, zwischen dem Rot der Lippen schimmerten, wenn +sie lachte. Und sie lachte sehr oft. Iwan Matwejewitsch +nannte sie bisweilen liebkosend seine „liebe süße Absurdität“ +– was man als eine durchaus gerechte und charakteristische +Benennung bezeichnen muß. Sie war ein Bonbon +und nichts weiter. Deshalb blieb es mir auch unerklärlich, +weshalb nun dieser selbe Iwan Matwejewitsch in +seiner Frau plötzlich eine russische Eugenie Tour zu sehen +begann. Doch wie dem nun sein mochte, jedenfalls hinterließ +mein Traum – abgesehen von den Affen – den +angenehmsten Eindruck in mir, und so beschloß ich, während +ich bei meinem Morgenkaffee die Erlebnisse des letzten +Tages gedankenvoll an mir vorüberziehen ließ, auf +dem Wege in die Kanzlei bei Jelena Iwanowna vorzusprechen, +was ja übrigens in meiner Eigenschaft als +Hausfreund auch meine Pflicht war. +</p> + +<p> +In dem kleinen Zimmer vor dem ehelichen Schlafgemach, +das von ihnen „der kleine Salon“ genannt wurde, +<a id="page-373" class="pagenum" title="373"></a> +obwohl auch der große Salon nur ein kleines Zimmer war, +saß auf einer kleinen Chaiselongue vor einem kleinen Teetischchen +in einem duftig-luftigen Negligee Jelena Iwanowna +und trank aus einem kleinen Täßchen, in das sie ein +kleines Biskuitplätzchen bröckelte, ihren Morgenkaffee. Sie +war verführerisch anzusehen, doch schien sie mir etwas +nachdenklich gestimmt zu sein. +</p> + +<p> +„Ach, Sie sind es, Sie Ungezogener!“ empfing sie +mich mit zerstreutem Lächeln. „Setzen Sie sich, trinken +Sie ein Täßchen. Nun, wo waren Sie gestern? Wie +haben Sie den Abend verbracht? Waren Sie auf dem +Maskenball?“ +</p> + +<p> +„Waren <em>Sie</em> denn gestern auf dem Maskenball? ... +Ich ... ich pflege keine Bälle zu besuchen ... zudem +habe ich den Abend bei unserem Gefangenen verbracht ...“ +</p> + +<p> +Ich seufzte und empfing mit betrübter Miene das +Täßchen. +</p> + +<p> +„Wo? ... Bei wem? Bei welch einem Gefangenen? +... Ach, so! ... Ja, der Arme! ... Nun, +was tut er – langweilt er sich? Aber wissen Sie ... +ich wollte Sie etwas fragen ... Sagen Sie, ich kann +doch jetzt eine Scheidung verlangen?“ +</p> + +<p> +„Scheidung?!“ Mir wäre die Tasse fast aus der +Hand gefallen. „Dahinter steckt der Brünette!“ dachte ich +empört bei mir. +</p> + +<p> +Es gab nämlich einen gewissen Brünetten mit einem +dunklen Schnurrbärtchen, einen Beamten der Bauabteilung, +der sie in letzter Zeit auffallend oft besucht hatte +und Jelena Iwanowna allem Anscheine nach zu gefallen +verstand. Ich muß gestehen, daß ich aufrichtigen Haß für +ihn empfand, denn ich zweifelte nicht daran, daß er gestern +<a id="page-374" class="pagenum" title="374"></a> +abend entweder mit ihr auf dem Maskenball oder vielleicht +sogar hier in ihrer Wohnung gewesen war und ihr +bei der Gelegenheit, versteht sich, manches in den Kopf gesetzt +hatte! +</p> + +<p> +„Ja, aber wie denn,“ begann Jelena Iwanowna +plötzlich ungeduldig, und alles, was sie sagte, schien ihr ein +anderer gesagt zu haben, „wie wird denn das sein, er +wird dort im Krokodil sitzen und vielleicht sein ganzes +Leben lang nicht zurückkommen, und ich soll dann hier +sitzen und vergeblich auf ihn warten! Ein Ehemann muß +zu Hause wohnen, aber nicht in einem Krokodil ...“ +</p> + +<p> +„Das ist doch ein unvorhergesehener Zufall ...“ begann +ich in begreiflicher Erregung zu widersprechen. +</p> + +<p> +„Ach nein, schweigen Sie, schweigen Sie, ich will +nichts hören, nichts, nichts, nichts!“ wehrte sie ärgerlich +jeden weiteren Einwand ab. „Sie sind unausstehlich, ewig +müssen Sie mir widersprechen! Mit Ihnen kann man +wirklich kein vernünftiges Wort reden, nie verstehen Sie +einem zu raten! Mir sagen sogar fremde Menschen, daß +ich vollauf genügenden Scheidungsgrund hätte, allein schon +deshalb, weil doch Iwan Matwejewitsch jetzt kein Gehalt +mehr bekommen wird.“ +</p> + +<p> +„Jelena Iwanowna! Sind Sie es, die ich höre!“ rief +ich fast pathetisch aus. „Welcher Schurke hat Ihnen diese +Gedanken eingeflüstert? Und übrigens wird ein so nichtssagender +Vorwand, wie die Einbuße des Gehalts, nicht +als Scheidungsgrund anerkannt. Und der arme, arme +Iwan Matwejewitsch vergeht dort inzwischen fast vor Liebesgram! +Noch gestern abend, während Sie sich auf dem +Maskenball ihres Lebens freuten, sprach er davon, daß er +sich im äußersten Fall entschließen würde, Sie als seine +<a id="page-375" class="pagenum" title="375"></a> +rechtmäßige Gattin aufzufordern, in das Innere des Krokodils +zu kommen, um so mehr, als sich dieses Tier als sehr +geräumig erwiesen hat, so daß nicht nur zwei, sondern +sogar drei Menschen Raum in ihm hätten ...“ +</p> + +<p> +Und ich erzählte ihr zugleich diesen interessantesten Teil +meiner letzten Unterredung mit Iwan Matwejewitsch. +</p> + +<p> +„Wie! was!“ rief sie ganz starr vor Verwunderung +aus. „Sie wollen, daß ich gleichfalls dorthin krieche! zu +Iwan Matwejewitsch? Das fehlte noch! Ja und wie +sollte ich denn überhaupt das? – so, mit dem Hut und +der ganzen Krinoline? Gott, welch eine Dummheit! Und +wonach wird denn das aussehen, wenn ich hineinkrieche +und ... und jemand womöglich noch zusieht? ... +Pfui! Und was werde ich dort essen? ... Und ... +und wie ist denn das, wenn ich ... Ach, mein Gott, +was Sie sich nicht ausgedacht haben! ... Und was gibt +es denn dort für Zerstreuungen? ... Sie sagen, es rieche +dort nach Gummi? ... Und wie wird es denn sein, +wenn wir beide in Streit geraten? Da müssen wir doch +beieinander liegen bleiben? Pfui, wie widerlich das ist!“ +</p> + +<p> +„Einverstanden, ich bin vollkommen einverstanden mit +Ihnen, meine teuerste Jelena Iwanowna,“ unterbrach ich +sie mit jenem begreiflichen Eifer, der einen stets erfaßt, +wenn man fühlt, daß man im Recht ist, „nur haben Sie +eines ganz außer acht gelassen, und das ist: daß er doch +wohl nicht mehr ohne Sie leben kann, wenn er Sie zu +sich ruft; folglich handelt es sich hier um Liebe, um leidenschaftliche, +treue, sehnsüchtige Liebe ... Sie haben +die Liebe nicht berücksichtigt, teuerste Jelena Iwanowna, +die Liebe!“ +</p> + +<p> +„Nein, ich will nicht, will nicht, will nicht! Ich will +<a id="page-376" class="pagenum" title="376"></a> +davon überhaupt nichts hören!“ wehrte sie mit ihrer kleinen, +reizenden Hand, an der die soeben gebürsteten und +polierten Nägel rosa schimmerten, ganz entsetzt ab. „Pfui, +wie widerlich Sie sind! Sie bringen mich noch zum +Weinen. So kriechen Sie doch selbst zu ihm, wenn es +Ihnen dort so angenehm zu sein scheint! Sie sind doch +sein Freund, nun, so legen Sie sich denn aus Freundschaft +neben ihn hin und streiten Sie Ihr Leben lang über irgend +eine langweilige Wissenschaft ...“ +</p> + +<p> +„Sie machen sich ganz unnütz über diesen Gedanken +lustig,“ unterbrach ich würdevoll das leichtsinnige Weibchen, +„Iwan Matwejewitsch hat mich bereits zu sich eingeladen. +<em>Sie</em> würde die Pflicht hinführen, mich dagegen +nur Großmut. Übrigens hat mir Iwan Matwejewitsch, +als er mir gestern von der ungeheuren Dehnbarkeit des +Krokodils erzählte, deutlich zu verstehen gegeben, daß er, +da nicht nur zwei, sondern ganze drei Menschen bequem +dort Platz fänden, sowohl Sie wie mich, als Hausfreund, +erwartet, und deshalb ...“ +</p> + +<p> +„Wie das, ganze drei?“ wunderte sich Jelena Iwanowna +und ihre Augen blickten mich fragend an. „Ja, +wie werden wir denn ... so alle drei dort beisammen +sein? Hahaha! Gott, wie Sie beide dumm sind! Hahaha! +Ich würde Sie die ganze Zeit nur kneifen, Sie +Taugenichts, hahaha! Hahaha!“ +</p> + +<p> +Und sie bog sich vor Lachen und lachte bis zu Tränen. +Doch dieses Lachen und diese Tränen waren so bezaubernd, +daß ich nicht lange widerstehen konnte und ganz begeistert +nach ihrem Händchen griff, um es mit Küssen zu bedecken, +was sie widerspruchslos geschehen ließ. Nur zupfte sie +mich, zum Zeichen unserer Aussöhnung, am Ohr. +</p> + +<p> +<a id="page-377" class="pagenum" title="377"></a> +Damit hatten wir unsere gute Laune wiedergewonnen, +und ich schickte mich an, ihr ausführlich alle ihre Person +betreffenden Pläne Iwan Matwejewitschs zu erzählen. Der +Gedanke, in einem glänzenden Salon eine auserlesene Gesellschaft +zu empfangen, sagte ihr sehr zu. +</p> + +<p> +„Nur brauche ich dann sehr viele neue Toiletten,“ +bemerkte sie lebhaft. „Sagen Sie ihm deshalb, daß er mir +möglichst bald und möglichst viel Geld senden soll ... +Nur ... nur, wie wird denn das sein,“ fuhr sie nachdenklich +fort, „wie wird man ihn denn im Blechkasten in +meinen Salon bringen? Das ... das wäre doch lächerlich! +Ich will nicht, daß man meinen Mann in einem +solchen Kasten in meinen Salon trägt! Ich würde mich +ja dann ganz entsetzlich schämen vor meinen Gästen ... +Nein, ich will nicht, ich will nicht ...“ +</p> + +<p> +„Übrigens, um es nicht zu vergessen: war gestern +Timofei Ssemjonytsch bei Ihnen?“ +</p> + +<p> +„Ach, ja, er war bei mir; er kam, um mich zu trösten, +und denken Sie sich, wir haben die ganze Zeit Karten +gespielt. Wenn er verlor, hatte ich eine Bonbonniere gewonnen, +wenn ich verlor, durfte er mir die Hände küssen. +Solch ein Plagegeist, wirklich! Und was glauben Sie +wohl: – fast wäre er mit mir auf den Maskenball gefahren, +– nein, wirklich!“ +</p> + +<p> +„Weil er bezaubert war,“ bemerkte ich, „denn – +wen bezaubern Sie nicht, Sie Zauberin!“ +</p> + +<p> +„Ach, nun, jetzt kommen Sie mit Ihren Schmeicheleien! +Warten Sie, dafür werde ich Sie zum Abschied +einmal kneifen – das verstehe ich nämlich vorzüglich. +Nun, was, wie war’s? Ach ja, sagen Sie doch, Sie +<a id="page-378" class="pagenum" title="378"></a> +sagten vorhin, Iwan Matwejewitsch habe gestern viel von +mir gesprochen?“ +</p> + +<p> +„N–n–nein, nicht gerade <em>sehr</em> viel ... Ich muß +gestehen, daß er jetzt eigentlich mehr an das Schicksal der +ganzen Menschheit denkt und die Absicht hat ...“ +</p> + +<p> +„Ach, nun, mag er, reden Sie nicht weiter! Sicherlich +langweilt er sich entsetzlich. Ich werde ihn einmal +besuchen. Morgen vielleicht. Heute geht es nicht: ich +habe Migräne und dort wird gewiß viel Publikum sein ... +Da wird man womöglich noch sagen: das ist seine Frau, +und mit den Fingern auf mich weisen ... Schrecklich! +Nun, leben Sie wohl. Am Abend werden Sie doch ... +dort sein, bei ihm?“ +</p> + +<p> +„Versteht sich. Ich muß ihm die Zeitungen bringen.“ +</p> + +<p> +„Nun, das ist sehr nett von Ihnen. Bleiben Sie bei +ihm und lesen Sie ihm die Zeitungen vor. Zu mir aber +kommen Sie heute nicht mehr. Ich bin nicht ganz wohl, +oder vielleicht werde ich auch meine Bekannten besuchen, +ich weiß noch nicht. Nun, leben Sie wohl, Sie +Schwerenöter.“ +</p> + +<p> +„Aha, der Brünette wird heute abend bei ihr sein!“ +dachte ich bei mir. +</p> + +<p> +In der Kanzlei ließ ich mir natürlich nicht das geringste +merken. Ich tat, als wüßte ich überhaupt nicht, +was Sorgen sind. Doch bald fiel es mir auf, daß einige +unserer fortschrittlichen Blätter an diesem Vormittage +auffallend schnell von Hand zu Hand gingen und meine +Kollegen sich mit unheimlich ernsten Mienen in die Lektüre +vertieften. Die erste Zeitung, die ich erhielt, war +der „Listok“, ein kleines Blättchen ohne jede besondere +<a id="page-379" class="pagenum" title="379"></a> +Richtung, einfach nur so allgemein menschlich-human, weshalb +es bei uns auch allgemein verachtet, nichtsdestoweniger +aber doch gelesen wurde. +</p> + +<p> +Nicht ohne Verwunderung las ich in ihm folgendes: +</p> + +<p> +„Gestern verbreitete sich in unserer großen, schönen +Hauptstadt ein äußerst seltsames Gerücht, das sich inzwischen +bestätigt hat. Ein gewisser Gastronom, der +zu unserer vornehmen Lebewelt gehört, und den die kulinarischen +Genüsse, die die Küche des –schen Klubs zu +bieten vermag, offenbar nicht mehr befriedigten, erschien +am Nachmittage in der Menagerie unserer Passage, wo +zurzeit ein großes, soeben erst hier eingetroffenes Krokodil +zu sehen ist, und machte sich nach einer kurzen Rücksprache +mit dem Eigentümer ohne weiteres daran, das Riesenkrokodil +zu verzehren. Zuerst schnitt er dem lebendigen +Wassertier nur die besten Stücke seiner saftigsten Körperteile +– d. h. der Körperteile des Krokodils – mit einem +Taschenmesser ab, doch allmählich verschwand das ganze +Tier in seinem umfangreichen Leibe, und es hätte nicht +viel gefehlt, so wäre dem Krokodil auch noch sein ständiger +Begleiter, der Ichneumon, gefolgt, denn weshalb +sollte dieser nicht ebenso gut schmecken? Wir haben natürlich +gegen dieses neue Nahrungsmittel, das den ausländischen +Feinschmeckern schon seit Jahren bekannt ist, +nichts einzuwenden. Wir können uns sogar schmeicheln, +die bevorstehende größere Einfuhr dieses Leckerbissens vorausgesehen +zu haben. Die englischen Lords und Reisenden +fangen die Krokodile in Ägypten wie man hierzulande +etwa Bären fängt: sie tun sich zu ganzen Jagdgesellschaften +zusammen und verzehren dann das <span class="antiqua" lang="fr" xml:lang="fr">à la</span> Beefsteak zubereitete +Rückenfleisch der Beute mit Senf, Sauce und +<a id="page-380" class="pagenum" title="380"></a> +Kartoffeln. Die Franzosen, die mit Lesseps ins Land +gekommen sind, ziehen die kurzen, stämmigen Beine dem +Rückenfleisch vor – vielleicht nur den Engländern zum +Trotz, die ein mitleidiges Lächeln nicht verbergen können, +wenn sie sehen, wie diese die Krokodilbeine in heißer Asche +backen. Bei uns wird man, aller Voraussicht nach, sowohl +die Beine wie den Rücken zu schätzen wissen, und +können wir daher von uns aus nur freudig diesen neuen +Erwerbszweig begrüßen, denn gerade an einem solchen +fehlt es in unserem großen, so verschieden gearteten Vaterlande. +Nach der Vertilgung dieses ersten Krokodils dürfte +es wohl kaum ein Jahr dauern, bis man Krokodile zu +Hunderten importieren wird. Weshalb sollte man sie übrigens +nicht in Rußland akklimatisieren? Falls das Newawasser +für diese südlichen Lebewesen zu kalt sein sollte, so +gibt es doch in der Stadt unzählige Teiche und außerhalb +der Stadt noch andere Flüsse und Seen, die in Frage kämen. +Weshalb sollten sie nicht z. B. in Pawlowsk oder Pargolowo +leben können, oder in Moskau, wo doch die Pressnenskischen +Teiche sind? Ganz abgesehen davon, daß sie für +unsere Feinschmecker ein angenehmes und gesundes Nahrungsmittel +wären, würden sie den an den Teichen spazierenden +Damen eine interessante Zerstreuung bieten und +die Kinder mit der tropischen Tierwelt schon in jungen +Jahren bekannt machen. Aus der Haut der verzehrten +Krokodile lassen sich zudem die verschiedensten Gegenstände +herstellen, wie z. B. Futterale, Reisekoffer, Zigarettenetuis, +Brieftaschen usw., und vielleicht wird noch so +manch ein russischer Tausendrubelschein von der ältesten +Sorte – wie sie namentlich unsere Kaufleute bevorzugen +– in Krokodilshaut aufbewahrt werden. Hoffen wir, +<a id="page-381" class="pagenum" title="381"></a> +daß uns noch öfter Gelegenheit geboten werden wird, +auf dieses Thema zurückzukommen.“ +</p> + +<p> +Ich war auf vieles gefaßt gewesen, doch trotzdem verwirrte +mich dieser Artikel nicht wenig. Da niemand neben +mir saß, mit dem ein Meinungsaustausch möglich +gewesen wäre, wandte ich mich an den mir gegenübersitzenden +Prochor Ssawitsch. Zu meiner Verwunderung saß +dieser müßig auf seinem Platz und schien mich schon +längere Zeit beobachtet zu haben, die Zeitung „Woloß“ +zur Herübergabe bereithaltend. Wortlos nahm er von mir +den „Listok“ in Empfang und reichte mir seinen „Woloß“, +indem er mit dem Nagel nachdrücklich einen Artikel bezeichnete, +auf den er mich ersichtlich aufmerksam machen +wollte. Dieser Prochor Ssawitsch war ein sehr eigentümlicher +Mensch: ein schweigsamer alter Junggeselle, der +sich keinem von uns anschloß, so gut wie nie ein Wort +sprach – obschon sich das Sprechen in einer Kanzlei unter +Kollegen schwer vermeiden läßt – ein Mensch, der immer +seine eigenen Ansichten hatte, doch fast niemals einem +anderen diese Ansichten mitteilte. In seiner Wohnung ist +bisher noch keiner von uns gewesen. Wir wissen nur, daß +er ein einsames Leben führt. +</p> + +<p> +Der Artikel, auf den er mich aufmerksam gemacht +hatte, lautete wie folgt: +</p> + +<p> +„Es dürfte wohl allen bekannt sein, daß wir uns mit +Recht fortschrittlich gesinnt und human nennen können und +daß wir Europa in dieser Beziehung nicht nachstehen wollen. +Doch ungeachtet aller Wünsche und der Bemühungen +unseres Blattes scheinen wir noch längst nicht ‚reif‘ zu +sein, was folgendes empörende Ereignis, das sich gestern +in der Passage zugetragen hat, wieder einmal anschaulich +<a id="page-382" class="pagenum" title="382"></a> +beweist. (Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, daß +wir es bereits vorausgesagt haben.) +</p> + +<p> +Vor nicht langer Zeit traf in der Hauptstadt ein Ausländer +ein, der ein lebendiges Krokodil mit sich führte, das +jetzt in der Passage ausgestellt ist. Wir beeilten uns sogleich, +den ausländischen Vertreter dieses neuen, nützlichen +und belehrenden Gewerbezweiges, der unserem großen Vaterlande +zugute kommt, hier in der Hauptstadt willkommen +zu heißen. Da erschien plötzlich, eines Nachmittags +gegen fünf Uhr, wie uns gestern gemeldet wurde, ein +außergewöhnlich dicker Herr in nicht ganz nüchternem Zustande +(gelinde ausgedrückt!), zahlte den Eintrittspreis, und +kaum war das geschehen, so ging er zum Behälter und kroch +dem Riesentier ganz einfach in den Rachen, ohne jemandem +vorher etwas gesagt zu haben. Das Krokodil war durch +seinen natürlichen Selbsterhaltungstrieb gezwungen, den +Menschen zu verschlingen, da es doch wohl nicht ersticken +wollte. Doch der verschlungene Unbekannte richtet sich im +Magen des Ungeheuers sogleich häuslich ein. Weder die +Bitten des verzweifelten Besitzers, noch das Geschrei seiner +zahlreichen, unglücklichen Familie vermögen jetzt auf +den Unbekannten Eindruck zu machen. Selbst der Ruf, +man werde die Polizei holen, bleibt erfolglos. Aus +dem Innern des Krokodils hört man nur Gelächter und +die Drohung, die Bestie aufzuschneiden. (<span class="antiqua">Sic!</span>) Währenddem +vergießt das arme Tier, das gezwungen war, eine +solche Masse zu verschlingen, ganz vergeblich seine Tränen. +„Ein ungebetener Gast,“ sagt ein altes russisches Sprichwort, +„ist schlimmer als ein Tatar,“ und alle Tränen des +Krokodils können an der Lage nichts ändern: der freche +Mensch will seinen Aufenthaltsort nicht wieder verlassen. +<a id="page-383" class="pagenum" title="383"></a> +Wir wissen nicht, wie wir eine so barbarische Handlungsweise +erklären sollen, was uns um so peinlicher ist, als +sie, wie gesagt, unsere Unreife bezeugt und uns in den +Augen aller Ausländer herabzieht. Damit haben wir wieder +ein glänzendes Beispiel der Zügellosigkeit der russischen +Natur. Jetzt fragt es sich nur: was wollte der ungebetene +Gast damit erreichen? Etwa einen warmen und +luxuriösen Aufenthaltsraum suchen? Aber es gibt doch +unzählige schöne Häuser in der Stadt, die vorzüglich eingerichtet +sind: sie haben billige und sehr bequeme Wohnungen, +eine Wasserleitung, die die Mieter mit Newawasser +versorgt, eine mit Gas erleuchtete Treppe, und +nicht selten hält der Hausbesitzer auch noch einen Portier. +Doch lenken wir bei der Gelegenheit die Aufmerksamkeit +unserer Leser auch noch auf die rohe Behandlung des importierten +Tieres. Natürlich wird es dem Krokodil schwer +fallen, ein so großes Quantum zu verdauen; und so liegt +es denn jetzt dort unbeweglich in seinem Behälter, hoch +aufgeblasen von der übergroßen verschlungenen Portion, +und erwartet unter unerträglichen Qualen den Tod. In +Europa wird jede einem Tiere angetane Qual gesetzlich +bestraft. Doch ungeachtet unserer ausländischen Erleuchtung, +unserer neuen Trottoirs und neuen Häuser, sind +<em>wir</em> noch immer in Unwissenheit und Roheit befangen. +</p> + +<p> +‚Die Häuser sind zwar neu, doch unsere Vorurteile +alt‘, um Gribojedoff zu zitieren. Leider entspricht nicht +einmal dieses vollkommen der Wahrheit, denn auch die +Häuser sind alt, wenn auch die Treppen neu sind. Jedenfalls +erwähnen wir es in unserem Blatte nicht zum ersten +Mal, daß im Hause des Kaufmanns Lukjanoff auf der +Petersburger Seite die Treppenstufen, die aus der Küche +<a id="page-384" class="pagenum" title="384"></a> +in die Wohnung führen, schon seit langer Zeit verfault +sind, und können heute nur hinzufügen, daß sie jetzt endlich +eingefallen sind und daß die Soldatenfrau Afimja Skapidarowa, +die die Bedienung übernommen hatte und stets +Gefahr lief, von der Treppe zu fallen – namentlich wenn +sie Wasser oder Holz hineintrug – gestern abend gegen +halb neun Uhr tatsächlich mit der Suppenterrine gefallen +ist und sich ein Bein gebrochen hat. Leider wissen wir noch +nicht, ob Herr Lukjanoff jetzt endlich eine neue Treppe +bauen lassen wird. Der Verstand eines Russen ist schwerfällig, +doch können wir mitteilen, daß das Opfer dieser +Schwerfälligkeit bereits ins Hospital gebracht worden ist. +Desgleichen ermüden wir nicht, darauf aufmerksam zu machen, +daß die Hausknechte, die auf der Wyburger Seite von +den hölzernen Trottoirs den Schmutz fegen, den Vorübergehenden +deshalb nicht die Stiefel zu beschmutzen brauchen, +zumal es nur geringe Mühe kosten würde, den Schmutz, +wie man es im Auslande tut, zu Haufen zusammenzufegen,“ +usw. usw. ... +</p> + +<p> +„Was bedeutet das?“ fragte ich, verständnislos Prochor +Ssawitsch anblickend. „Was soll das alles?“ +</p> + +<p> +„Was?“ +</p> + +<p> +„Aber ich bitte Sie, anstatt unseren Iwan Matwejewitsch +zu bedauern, bemitleiden sie hier das Krokodil!“ +</p> + +<p> +„Ja, was denn? Damit haben sie doch sogar ein +Tier, ein unvernünftiges Tier bemitleidet. Inwiefern stehen +sie jetzt noch Europa nach? Dort tut man es doch +ebenfalls. Hi-hi-hi!“ kicherte der alte Sonderling, wandte +sich jedoch sogleich wieder seinen Schriften zu und sprach +kein Wort weiter. +</p> + +<p> +Ich nahm die beiden Zeitungen, schob sie in die Tasche +<a id="page-385" class="pagenum" title="385"></a> +und versorgte mich außerdem noch mit mehreren alten +Nummern der „Nachrichten“ und des „Woloß“. An +diesem Tage verließ ich die Kanzlei früher als sonst. +Zwar war bis zum Abend noch viel Zeit, doch wollte ich +früher in die Passage gehen, um wenigstens von weitem zu +sehen, was dort vorging, um Meinungsäußerungen des +Publikums aufzufangen und die Menschen kennen zu lernen. +Ich sagte mir, daß ich dort unfehlbar in ein großes +Gedränge geraten würde und schlug deshalb auf alle Fälle +den Mantelkragen hoch, denn aus irgend einem Grunde +schämte ich mich, gesehen zu werden – so wenig haben +wir uns an die „Öffentlichkeit“ gewöhnt! Doch ich +fühle, daß ich kein Recht habe, im Hinblick auf dieses +außergewöhnliche Ereignis, meine eigenen prosaischen Gefühle +zum Ausdruck zu bringen. +</p> + +<div class="chapter"> + +<h2 class="footnotes" id="part-6"> +Fußnoten +</h2> + +</div> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-1" id="footnote-1">[1]</a> Bekannter Musiker und Dirigent. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<p class="footnote"> +<a class="footnote" href="#fnote-2" id="footnote-2">[2]</a> In Rußland tragen die Lehrer der öffentlichen Schulen +Uniform. <span class="ekr">E. K. R.</span> +</p> + +<div class="trnote chapter"> +<p class="transnote"> +Anmerkungen zur Transkription +</p> + +<p> +Die „Sämtlichen Werke“ erschienen in der hier verwendeten ursprünglichen Fassung +der Übersetzung von E. K. Rahsin in mehreren +Auflagen und Ausgaben 1906–1922 im Piper-Verlag. Dieses Buch wurde +transkribiert nach: +</p> + +<p class="nowrap center"> +F. M. Dostojewski: Sämtliche Werke.<br> +Zweite Abteilung: Siebzehnter Band<br> +R. Piper & Co. Verlag, München und Leipzig, 1918. +</p> + +<p class="skip_in_txt"> +Das Cover wurde von den Bearbeitern den ursprünglichen +Bucheinbänden nachempfunden und der <em>public domain</em> zur Verfügung gestellt. +</p> + +<p> +Die Anordnung der Titelinformationen wurde innerhalb der „Sämtlichen Werke“ +vereinheitlicht und entspricht nicht der Anordnung in den ursprünglichen +Ausgaben. Alle editionsspezifischen Angaben wie Jahr, Copyright, Auflage usw. +sind aber erhalten und wurden gesammelt direkt nach der Titelseite eingefügt. +</p> + +<p> +Fußnoten wurden am Ende des Buches gesammelt. +</p> + +<p> +Das Inhaltsverzeichnis wurde an den Anfang des Bandes verschoben. +Inhaltsverzeichnis und Überschriften im Text wurden harmonisiert. +</p> + +<p> +Zu den Anführungszeichen: Gespräche wurden in doppelte Anführungszeichen („“) +eingeschlossen. Die Wiedergabe von Äußerungen anderer innerhalb von Gesprächen +wurde in einfache Anführungszeichen (‚‘) eingeschlossen. +</p> + +<p> +Besonderheiten der Transliteration russischer Begriffe und Namen: +Der Buchstabe „ä“ (oder auch „jä“) steht für den kyrillischen Buchstaben „ja“. +Die Schreibweise häufig vorkommender Namen und Begriffe +wurde vereinheitlicht (nicht verwendete Varianten in Klammern): +</p> + +<p class="list"> +Ssamowar (Samowar) +</p> + +<p> +Offensichtliche Fehler wurden stillschweigend korrigiert. +Weitere Änderungen, zum Teil unter Verwendung späterer Ausgaben, +sind hier aufgeführt (vorher/nachher): +</p> + + + +<ul> + +<li> +... <span class="underline">Lebemannsleben</span> fleißig geübt hat. Übrigens, ...<br> +... <a href="#corr-6"><span class="underline">Lebemannslebens</span></a> fleißig geübt hat. Übrigens, ...<br> +</li> + +<li> +... Zimmer eintretend<span class="underline">!</span> „Es ist er–staunlich, cher ami, ...<br> +... Zimmer eintretend<a href="#corr-11"><span class="underline">.</span></a> „Es ist er–staunlich, cher ami, ...<br> +</li> + +<li> +... dann nur ein einziges Mal Leben ... aber ...<br> +... dann nur ein einziges Mal <a href="#corr-15"><span class="underline">im</span></a> Leben ... aber ...<br> +</li> +</ul> +</div> + + +<div style='text-align:center'>*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK 76110 ***</div> +</body> +</html> + diff --git a/76110-h/images/cover.jpg b/76110-h/images/cover.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..bf6c6ad --- /dev/null +++ b/76110-h/images/cover.jpg diff --git a/76110-h/images/logo.jpg b/76110-h/images/logo.jpg Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..e569b5e --- /dev/null +++ b/76110-h/images/logo.jpg diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..b5dba15 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This book, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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