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+Project Gutenberg's Das Leiden eines Knaben, by Conrad Ferdinand Meyer
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and most
+other parts of the world at no cost and with almost no restrictions
+whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it under the terms of
+the Project Gutenberg License included with this eBook or online at
+www.gutenberg.org. If you are not located in the United States, you'll have
+to check the laws of the country where you are located before using this ebook.
+
+Title: Das Leiden eines Knaben
+
+Author: Conrad Ferdinand Meyer
+
+Posting Date: October 3, 2014 [EBook #9496]
+Release Date: December, 2005
+First Posted: October 5, 2003
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEIDEN EINES KNABEN ***
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+Produced by Delphine Lettau and Gutenberg Projekt-DE
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+Das Leiden eines Knaben
+
+Conrad Ferdinand Meyer
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+Der König hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und,
+luftbedürftig und für die Witterung unempfindlich wie er war, ohne
+weiteres in seiner souveränen Art ein Fenster geöffnet, durch welches
+die feuchte Herbstluft so fühlbar eindrang, dass die zarte Frau sich
+fröstelnd in ihre drei oder vier Röcke schmiegte.
+
+Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine täglichen Besuche
+bei dem Weibe seines Alters zu verlängern begonnen, und er erschien
+oft schon zu früher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spättafel
+gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben
+seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren
+Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn
+die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft
+wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der
+Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden
+konnte. Die dreiste Muse Molières, die Zärtlichkeiten und Ohnmachten
+der Lavallière, die kühne Haltung und die originellen Witzworte der
+Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun
+gründlich vorüber, welk wie eine verblasste Tapete. Massvoll und fast
+genügsam wie er geworden, arbeitsam wie er immer gewesen, war der
+König auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau
+angelangt.
+
+Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie
+trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d'Aubigné einen
+lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autorität
+zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfräulein, die sie
+dort erzog, behaglich den Lauf liess, die aber vor dem Gebieter zu
+einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine höhere Weisheit wurde.
+Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders
+wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Königs, die Savoyardin,
+das ergötzlichste Geschöpf von der Welt, das überallhin Leben und
+Gelächter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden
+Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
+
+Frau von Maintenon, welche unter diesen Umständen die Schritte des
+Königs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich
+jetzt, da sie dem beschäftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke
+der ihr gründlich bekannten königlichen Züge entnahm: Ludwig selbst
+habe etwas zu erzählen, und zwar etwas Ergötzliches.
+
+Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einen Lehnstuhl
+niedergelassen. "Madame", sagte er, "heute mittag hat mir Père
+Lachaise seinen Nachfolger, den Père Tellier, gebracht."
+
+Père de Lachaise war der langjährige Beichtiger des Königs, welchen
+dieser, trotz der Taubheit und völligen Gebrechlichkeit des greisen
+Jesuiten, nicht fahrenlassen wollte und sozusagen bis zur
+Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewöhnt, und
+da er--es ist unglaublich zu sagen--aus unbestimmten, aber doch
+vorhandenen Befürchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden
+glaubte wählen zu dürfen, zog er diese Ruine eines immerhin
+ehrenwerten Mannes einem jüngern und strebsamen Mitgliede der
+Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Père Lachaise
+wankte sichtlich dem Grabe zu, und Ludwig wollte denn doch nicht an
+seinem geistlichen Vater zum Mörder werden.
+
+"Madame", fuhr der König fort, "mein neuer Beichtiger hat keine
+Schönheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht, und dann schielt er. Er
+ist eine geradezu abstossende Erscheinung, aber er wird mir als ein
+gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein
+Gewissen übergeben lässt. Das ist doch wohl die Hauptsache."
+
+"Je schlechter die Rinne, desto köstlicher das darin fliessende
+himmlische Wasser", bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die
+Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der
+Majestät entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament
+in diesem königlichen Falle für überflüssig erklärt hatten. So tat
+sie den frommen Vätern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie
+dieselben im stillen krallen konnte. Jetzt schwieg sie, und ihre
+dunklen mandelförmigen, sanft schwermütigen Augen hingen an dem Munde
+des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
+
+Der König kreuzte die Füsse, und den Demantblitz einer seiner
+Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: "Dieser Fagon! Er
+wird unerträglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!"
+
+Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Königs und der Schützling der
+Marquise. Beide lebten sie täglich in seiner Gesellschaft und hatten
+sich auf den Fall, dass er vor ihnen stürbe, Asyle gewählt, sie
+Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem
+Tode des Gebieters einzuschliessen und zu begraben.
+
+"Fagon ist Euch unendlich anhänglich", sagte die Marquise.
+
+"Gewiss, doch entschieden, er erlaubt sich zu viel", versetzte der
+König mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
+
+"Was gab es denn?"
+
+Der König erzählte und hatte bald zu Ende erzählt. Er habe bei der
+heutigen Audienz seinen neuen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit
+den Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt wären? Doch der
+demütige Père habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn
+eines Bauern in der untern Normandie bekannt. Fagon habe unweit in
+einer Fensterbrüstung gestanden, das Kinn auf sein Bambusrohr gestützt.
+Von dort, hinter dem gebückten Rücken des Jesuiten, habe er unter
+der Stimme, aber vernehmlich genug, hergeflüstert: "Du Nichtswürdiger!"
+"Ich hob den Finger gegen Fagon", sagte der König, "und drohte ihm."
+
+Die Marquise wunderte sich. "Wegen dieser ehrlichen Verneinung hat
+Fagon den Pater nicht schelten können, er muss einen andern Grund
+gehabt haben", sagte sie verständig.
+
+"Immerhin, Madame, war es eine Unschicklichkeit, um nicht mehr zu
+sagen. Der gute le Lachaise, taub wie er endlich doch geworden ist,
+hörte es freilich nicht, aber mein Ohr hat es deutlich vernommen,
+Silbe um Silbe. 'Niederträchtiger!' blies Fagon dem Pater zu, und der
+Misshandelte zuckte zusammen."
+
+Die Marquise schloss lächelnd aus dieser Variante, dass Fagon einen
+derbern Ausdruck gebraucht habe. Auch in den Mundwinkeln des Königs
+zuckte es. Er hatte sich von jung an zum Gesetze gemacht, wozu er
+übrigens schon von Natur neigte und was er dann bis an sein Lebensende
+hielt, niemals, auch nicht erzählungsweise, ein gemeines oder
+beschimpfendes, kurz ein unkönigliches Wort in den Mund zu nehmen.
+
+Der hohe Raum war eingedämmert, und wie der Bediente die traulichen
+zwei Armleuchter auf den Tisch setzte und sich rücklings schreitend
+verzog, siehe, da wurde ein leise eingetretener Lauscher sichtbar,
+eine wunderliche Erscheinung, eine ehrwürdige Missgestalt: ein
+schiefer, verwachsener, seltsam verkrümmter kleiner Greis, die
+entfleischten Hände unter dem gestreckten Kinn auf ein langes
+Bambusrohr mit goldenem Knopfe stützend, das feine Haupt vorgeneigt,
+ein weisses Antlitz mit geisterhaften blauen Augen. Es war Fagon.
+
+"'Du Lump, du Schuft!' habe ich kurzweg gesagt, Sire, und nur die
+Wahrheit gesprochen", liess sich jetzt seine schwache, vor Erregung
+zitternde Stimme vernehmen. Fagon verneigte sich ehrfürchtig vor dem
+Könige, galant gegen die Marquise. "Habe ich einen Geistlichen in
+Eurer Gegenwart, Sire, dergestalt behandelt, so bin ich entweder der
+Niedertracht gegenüber ein aufbrausender Jüngling geblieben, oder ein
+würdiges Alter berechtigt, die Wahrheit zu sagen. Brachte mich nur
+das Schauspiel auf, welches der Pater gab, da sich der vierschrötige
+und hartknochige Tölpel mit seiner Wolfsschnauze vor Euch, Sire,
+drehte und krümmte und auf Eure leutselige Frage nach seiner
+Verwandtschaft in dünkelhafter Selbsterniedrigung nicht Worte genug
+fand, sein Nichts zu beteuern? 'Was denkt die Majestät?'"--ahmte
+Fagon den Pater nach--, "'verwandt mit einem so vornehmen Herrn?
+Keineswegs? Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes! eines Bauern in
+der untern Normandie! eines ganz gemeinen Mannes!...' Schon dieses
+nichtswürdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende,
+heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gründliche
+Falschheit verdiente vollauf schuftig genannt zu werden. Aber die
+Frau Marquise hat recht: es war noch etwas anderes, etwas ganz
+Abscheuliches und Teuflisches, was ich gerächt habe, leider nur mit
+Worten: eine Missetat, ein Verbrechen, welches der unerwartete Anblick
+dieses tückischen Wolfes mir wieder so gegenwärtig vor das Auge
+stellte, dass die karge Neige meines Blutes zu kochen begann. Denn,
+Sire, dieser Bösewicht hat einen edeln Knaben gemordet!"
+
+"Ich bitte dich, Fagon", sagte der König, "welch ein Märchen!"
+
+"Sagen wir: er hat ihn unter den Boden gebracht", milderte der
+Leibarzt höhnisch seine Anklage.
+
+"Welchen Knaben denn?" fragte Ludwig in seiner sachlichen Art, die
+kurze Wege liebte.
+
+"Es war der junge Boufflers, der Sohn des Marschalls aus seiner ersten
+Ehe", antwortete Fagon traurig.
+
+"Julian Boufflers? Dieser starb, wenn mir recht ist", erinnerte sich
+der König, und sein Gedächtnis täuschte ihn selten, "17** im
+Jesuitencollegium an einer Gehirnentzündung, welche das arme Kind
+durch Überarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da Père Tellier
+in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings,
+sehr figürlich gesprochen", spottete der König, "den unbegabten, aber
+im Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat
+sich eben übernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst
+erzählt hat." Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte
+etwas Interessanteres erwartet.
+
+"Den unbegabten Knaben... ", wiederholte der Arzt nachdenklich.
+
+"Ja, Fagon", versetzte der König, "auffallend unbegabt, und dabei
+schüchtern und kleinmütig, wie kein Mädchen. Es war an einem
+Marly-Tage, dass der Marschall, welchem ich für dieses sein ältestes
+Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn
+vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Jüngling, über
+dessen Lippen schon der erste Flaum sprosste, war bewegt und wollte
+mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klägliches Stottern und
+peinliches Erröten, dass ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens
+in Ruhe zu lassen, mit einem 'Es ist gut' geschwinder, als mir um
+seines Vaters willen lieb war, mich wendete."
+
+"Auch mir ist jener Abend erinnerlich", ergänzte die Marquise. "Die
+verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin, und ich zog diesen
+nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber
+dankbar und liebenswert erwies, ohne, wenigstens äusserlich, die
+erlittene Demütigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar
+zu sprechen, das Alltägliche, das Gewöhnliche, mit einem
+herzgewinnenden Ton der Stimme, und--meine Nähe schaffte ihm Neider.
+Es war ein schlimmer Tag für das Kind, jener Marly. Ein Beiname, wie
+denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heisst, den seinigen tragen
+muss"--die feinfühlige Marquise wusste, dass ihr gerades Gegenteil,
+die brave und schreckliche Pfälzerin, die Herzogin-Mutter von Orléans,
+ihr den allergarstigsten gegeben hatte--, "einer jener gefährlichen
+Beinamen, die ein Leben vergiften können und deren Gebrauch ich meinen
+Mädchen in Saint-Cyr auf strengste untersagt habe, wurde für den
+bescheidenen Knaben gefunden, und da er von Mund zu Munde lief, ohne
+viel Arg selbst von unschuldigen und blühenden Lippen gewispert,
+welche sich wohl dem hübschen jungen nach wenigen Jahren nicht versagt
+haben würden."
+
+"Welcher Beiname?" fragte Fagon neugierig.
+
+"'Le bel idiot'... und das Zucken eines Paares hochmütiger Brauen
+verriet mir, wer ihn dem Knaben beschert hat."
+
+"Lauzun?" riet der König.
+
+"Saint-Simon", berichtigte die Marquise. "Ist er doch an unserem Hofe
+das lauschende Ohr, das spähende Auge, das uns alle beobachtet"--der
+König verfinsterte sich--, "und die geübte Hand, die nächtlicherweile
+hinter verriegelten Türen von uns allen leidenschaftliche Zerrbilder
+auf das Papier wirft! Dieser edle Herzog, Sire, hat es nicht
+verschmäht, den unschuldigsten Knaben mit einem seiner grausamen Worte
+zu zeichnen, weil ich Harmlose, die er verabscheut, an dem Kinde ein
+flüchtiges Wohlgefallen fand und ein gutes Wort an dasselbe wendete."
+So züngelte die sanfte Frau und reizte den König, ohne die Stirn zu
+falten und den Wohlklang ihrer Stimme zu verlieren.
+
+"Der schöne Stumpfsinnige", wiederholte Fagon langsam. "Nicht übel.
+Wenn aber der Herzog, der neben seinen schlimmen auch einige gute
+Eigenschaften besitzt, den Knaben gekannt hätte, wie ich ihn
+kennenlernte und er mir unvergesslich geblieben ist, meiner Treu! der
+gallichte Saint-Simon hätte Reue gefühlt. Und wäre er wie ich bei dem
+Ende des Kindes zugegen gewesen, wie es in der Illusion des Fiebers,
+den Namen seines Königs auf den Lippen, in das feindliche Feuer zu
+stürzen glaubte, der heimliche Höllenrichter unserer Zeit, wenn die
+Sage wahr redet, denn niemand hat ihn an seinem Schreibtische
+gesehen--hätte den Knaben bewundert und ihm eine Träne nachgeweint."
+
+"Nichts mehr von Saint-Simon, ich bitte dich, Fagon", sagte der König,
+die Brauen zuammenziehend. "Mag er verzeichnen, was ihm als die
+Wahrheit erscheint. Werde ich die Schreibtische belauern? Auch die
+grosse Geschichte führt ihren Griffel und wird mich in den Grenzen
+meiner Zeit und meines Wesens lässlich beurteilen. Nichts mehr von
+ihm. Aber viel und alles, was du weisst, von dem jungen Boufflers.
+Er mag ein braver Junge gewesen sein. Setze dich und erzähle!" Er
+deutete freundlich auf einen Stuhl und lehnte sich in den seinigen
+zurück.
+
+"Und erzähle hübsch bequem und gelassen, Fagon", bat die Marquise mit
+einem Blick auf die schmucken Zeiger ihrer Stockuhr, welche zum
+Verwundern schnell vorrückten.
+
+"Sire, ich gehorche", sagte Fagon, "und tue eine untertänige Bitte.
+Ich habe heute den Père Tellier in Eurer Gegenwart misshandelnd mir
+eine Freiheit genommen und weiss, wie ich mich aus Erfahrung kenne,
+dass ich, einmal auf diesen Weg geraten, an demselben Tage leicht
+rückfällig werde. Als Frau von Sablière den guten--oder auch nicht
+guten--Lafontaine, ihren Fabelbaum, wie sie ihn nannte, aus dem
+schlechten Boden, worein er seine Wurzeln gestreckt hatte, ausgrub und
+wieder in die gute Gesellschaft verpflanzte, willigte der Fabeldichter
+ein, noch einmal unter anständigen Menschen zu leben, unter der
+Bedingung jedoch, jeden Abend das Minimum von drei Freiheiten--was er
+so Freiheiten hiess--sich erlauben zu dürfen. In ähnlicher und
+verschiedener Weise bitte ich mir, soll ich meine Geschichte erzählen,
+drei Freiheiten aus... "
+
+"Welche ich dir gewähre", schloss der König.
+
+Drei Köpfe rückten zusammen: der bedeutende des Arztes, das olympische
+Lockenhaupt des Königs und das feine Profil seines Weibes mit der
+hohen Stirn, den reizenden Linien von Nase und Mund und dem leicht
+gezeichneten Doppelkinne.
+
+"In den Tagen, da die Majestät noch den grössten ihrer Dichter besass",
+begann der Leibarzt, "und dieser, während schon der Tod nach seiner
+kranken Brust zielte, sich belustigte, denselben auf der Bühne
+nachzuäffen, wurde das Meisterstück 'Der Kranke in der Einbildung'
+auch vor der Majestät hier in Versailles aufgeführt. Ich, der ich
+sonst eine würdige mit Homer oder Virgil verlebte Stunde und den
+Wellenschlag einer antiken Dichtung unter gestirntem Himmel den
+grellen Lampen und den verzerrten Gesichtern der auf die Bühne
+gebrachten Gegenwart vorziehe, ich durfte doch nicht wegbleiben, da wo
+mein Stand verspottet und vielleicht, wer wusste, ich selbst und meine
+Krücke"--er hob sein Bambusrohr, auf welches er auch sitzend sich zu
+stützen fortfuhr--, "abbildlich zu sehen waren. Es geschah nicht.
+Aber hätte Molière mich in einer seiner Possen verewigt, wahrlich, ich
+hätte es dem nicht verargen können, der sein eigenes schmerzlichstes
+Empfinden komisch betrachtet und verkörpert hat. Diese letzten Stücke
+Molières, nichts geht darüber! Das ist die souveräne Komödie, welche
+freilich nicht nur das Verkehrte, sondern in grausamer Lust auch das
+Menschlichste in ein höhnisches Licht rückt, dass es zu grinsen
+beginnt. Zum Beispiel, was ist verzeihlicher, als dass ein Vater auf
+sein Kind sich etwas einbilde, etwas eitel auf die Vorzüge und etwas
+blind für die Schwächen seines eigenen Fleisches und Blutes sei?
+Lächerlich freilich ist es und fordert den Spott heraus. So lobt denn
+auch im 'Kranken in der Einbildung' der alberne Diaforius seinen noch
+alberneren Sohn Thomas, einen vollständigen Dummkopf Doch die Majestät
+kennt die Stelle."
+
+"Mache mir das Vergnügen, Fagon, und rezitiere sie mir", sagte der
+König, welcher, seit Familienverluste und schwere öffentliche Unfälle
+sein Leben ernst gemacht, sich der komischen Muse zu enthalten pflegte,
+dem die Lachmuskeln aber unwillkürlich zuckten in Erinnerung des
+guten Gesellen, den er einst gern um sich gelitten und an dessen
+Masken er sich ergötzt hatte.
+
+"'Es ist nicht darum'", spielte Fagon den Doctor Diaforius, dessen
+Rolle er seltsamerweise auswendig wusste, "'weil ich der Vater bin,
+aber ich darf sagen, ich habe Grund, mit diesem meinem Sohne zufrieden
+zu sein, und alle, die ihn sehen, sprechen von ihm als von einem
+Jüngling ohne Falsch. Er hat nie eine sehr tätige Einbildungskraft,
+noch jenes Feuer besessen, welches man an einigen wahrnimmt. Als er
+klein war, ist er nie, was man so heisst, aufgeweckt und mutwillig
+gewesen. Man sah ihn immer sanft, friedselig und schweigsam. Er
+sprach nie ein Wort und beteiligte sich niemals an den sogenannten
+Knabenspielen. Man hatte schwere Mühe, ihn lesen zu lehren, und mit
+neun Jahren kannte er seine Buchstaben noch nicht. Gut', sprach ich
+zu mir, 'die späten Bäume tragen die besten Früchte, es gräbt sich in
+den Marmor schwerer als in den Sand'... und so fort. Dieser langsam
+geträufelte Spott wurde dann auf der Bühne zum gründlichen Hohn durch
+das unsäglich einfältige Gesicht des Belobten und zum
+unwiderstehlichen Gelächter in den Mienen der Zuschauer. Unter diesen
+fand mein Auge eine blonde Frau von rührender Schönheit und
+beschäftigte sich mit den langsam wechselnden Ausdrücken dieser
+einfachen Züge; zuerst demjenigen der Freude über die gerechte
+Belobung eines schwer, aber fleissig lernenden Kindes, so
+unvorteilhaft der Jüngling auf der Bühne sich ausnehmen mochte, dann
+dem andern Ausdrucke einer traurigen Enttäuschung, da die Schauende,
+ohne jedoch recht zu begreifen, inne wurde, dass der Dichter, der es
+mit seinen schlichten Worten ernst zu meinen schien, eigentlich nur
+seinen blutigen Spott hatte mit der väterlichen Selbstverblendung.
+Freilich hatte Molière, der grossartige Spötter, alles so naturwahr
+und sachlich dargestellt, dass mit ihm nicht zu zürnen war. Eine
+lange und mühsam verhaltene, tief schmerzliche Träne rollte endlich
+über die zarte Wange des bekümmerten Weibes. Ich wusste nun, dass sie
+Mutter war und einen unbegabten Sohn hatte. Das ergab sich für mich
+aus dem Geschauten und Beobachteten mit mathematischer Gewissheit.
+
+Es war die erste Frau des Marschalls Boufflers."
+
+"Auch wenn du sie nicht genannt hättest, Fagon, ich erkannte aus
+deiner Schilderung meine süsse Blondine", seufzte die Marquise. "Sie
+war ein Wunder der Unschuld und Herzenseinfalt, ohne Arg und Falsch,
+ja ohne den Begriff der List und Lüge.
+
+Die Freundschaft der zwei Frauen, welche der Marquise einen so
+rührenden Eindruck hinterliess, war eine wahre und für beide Teile
+wohltätige gewesen. Frau von Maintenon hatte nämlich in den langen
+und schweren Jahren ihres Emporkommens, da die still Ehrgeizige mit
+zähester Schmiegsamkeit und geduldigster Konsequenz, immer heiter,
+überall dienstfertig, sich einen König und den grössten König der Zeit
+eroberte, mit ihren klugen Augen die arglose Vornehme von den andern
+ihr missgünstigen und feindseligen Hofweibern unterschieden und sie
+mit ein paar herzlichen Worten und zutulichen Gefälligkeiten an sich
+gefesselt. Die beiden halfen sich aus und deckten sich einander mit
+ihrer Geburt und ihrem Verstand.
+
+"Die Marschallin hatte Tugend und Haltung", lobte der König, während
+er einen in seinem Gedächtnis auftauchenden anmutigen Wuchs, ein
+liebliches Gesicht und ein aschenblondes Ringelhaar betrachtete.
+
+"Die Marschallin war dumm", ergänzte Fagon knapp. "Aber wenn ich
+Krüppel je ein Weib geliebt habe--ausser meiner Gönnerin", er
+verneigte sich huldigend gegen die Marquise, "und für ein Weib mein
+Leben hingegeben hätte, so war es diese erste Herzogin Boufflers.
+
+Ich lernte sie dann bald näher kennen, leider als Arzt. Denn ihre
+Gesundheit war schwankend, und alle diese Lieblichkeit verlosch
+unversehens wie ein ausgeblasenes Licht. Wenige Tage vor ihrem
+letzten beschied sie mich zu sich und erklärte mir mit den einfachsten
+Worten von der Welt, sie werde sterben. Sie fühlte ihren Zustand, den
+meine Wissenschaft nicht erkannt hatte. Sie ergebe sich darein, sagte
+sie, und habe nur eine Sorge: die Zukunft und das Schicksal ihres
+Knaben. 'Er ist ein gutes Kind, aber völlig unbegabt, wie ich selbst
+es bin', klagte sie mir bekümmert, aber unbefangen. 'Mir ward ein
+leichtes Leben zuteil, da ich dem Marschall nur zu gehorchen brauchte,
+welcher nach seiner Art, die nichts aus den Händen gibt, auch wenn ich
+ein gescheites Weib gewesen wäre, ausser dem einfachsten Haushalte mir
+keine Verantwortung überlassen hätte--du kennst ihn ja, Fagon, er ist
+peinlich und regiert alles selber. Wenn ich in der Gesellschaft
+schwieg oder meine Rede auf das Nächste beschränkte, um nichts
+Unwissendes oder Verfängliches zu sagen, so war ihm das gerade recht,
+denn eine Witzige oder Glänzende hätte ihn nur beunruhigt. So bin ich
+gut durchgekommen. Aber mein Kind? Der Julian soll als der Sohn
+seines Vaters in der Welt eine Figur machen. Wird er das können? Er
+lernt so unglaublich schwer. An Eifer lässt er es nicht fehlen,
+wahrlich nicht, denn es ist ein tapferes Kind... Der Marschall wird
+sich wieder verheiraten, und irgendeine gescheite Frau wird ihm
+anstelligere Söhne geben. Nun möchte ich nicht, dass der Julian etwas
+Ausserordentliches würde, was ja auch unmöglich wäre, sondern nur,
+dass er nicht zu harte Demütigungen erleide, wenn er hinter seinen
+Geschwistern zurückbleibt. Das ist nun deine Sache, Fagon. Du wirst
+auch zusehen, dass er körperlich nicht übertrieben werde. Lass das
+nicht aus dem Auge, ich bitte dich! Denn der Marschall übersieht das.
+Du kennst ihn ja. Er hat den Krieg im Kopf, die Grenzen, die
+Festungen... Selbst über der Mahlzeit ist er in seine Geschäfte
+vertieft, der dem König und Frankreich unentbehrliche Mann, lässt sich
+plötzlich eine Karte holen, wenn er nicht selbst danach aufspringt,
+oder ärgert sich über irgendeine vormittags entdeckte Nachlässigkeit
+seiner Schreiber, welchen man bei der um sich greifenden
+Pflichtvergessenheit auch nicht das Geringste mehr überlassen dürfe.
+Geht dann durch einen Zufall ein Tässchen oder Schälchen entzwei,
+vergisst sich der Reizbare bis zum Schelten. Gewöhnlich sitzt er
+schweigend oder einsilbig zu Tische, mit gerunzelter Stirn, ohne sich
+mit dem Kinde abzugeben, das an jedem seiner Blicke hängt, ohne sich
+nach seinen kleinen Fortschritten zu erkundigen, denn er setzt voraus:
+ein Boufflers tue von selbst seine Pflicht. Und der Julian wird bis
+an die äussersten Grenzen seiner Kräfte gehen... Fagon, lass ihn
+keinen Schaden leiden! Nimm dich des Knaben an! Bring ihn heil
+hinweg über seine zarten Jahre! Mische dich nur ohne Bedenken ein.
+Der Marschall hält etwas auf dich und wird deinen Rat gelten lassen.
+Er nennt dich den redlichsten Mann von Frankreich... Also du
+versprichst es mir, bei dem Knaben meine Stelle zu vertreten... Du
+hältst Wort und darüber hinaus... '
+
+Ich gelobte es der Marschallin, und sie starb nicht schwer.
+
+Vor dem Bette, darauf sie lag, beobachtete ich den mir anvertrauten
+Knaben. Er war aufgelöst in Tränen, seine Brust arbeitete, aber er
+warf sich nicht verzweifelnd über die Tote, berührte den entseelten
+Mund nicht, sondern er kniete neben ihr, ergriff ihre Hand und küsste
+diese, wie er sonst zu tun pflegte. Sein Schmerz war tief, aber
+keusch und enthaltsam. Ich schloss auf männliches Naturell und früh
+geübte Selbstbeherrschung und betrog mich nicht. Im übrigen war
+Julian damals ein hübscher Knabe von etwa dreizehn Jahren, mit den
+seelenvollen Augen seiner Mutter, gewinnenden Zügen, wenig Stirn unter
+verworrenem blonden Ringelhaar und einem untadeligen Bau, der zur
+Meisterschaft in jeder Leibesübung befähigte.
+
+Nachdem der Marschall das Weib seiner Jugend beerdigt und ein Jahr
+später mit der jüngsten des Marschalls Grammont sich wiederverehlicht
+hatte, dem rührigen, grundgescheiten, olivenfarbigen, brennend magern
+Weibe, das wir kennen, beriet er aus freien Stücken mit mir die Schule,
+wohin wir Julian schicken sollten; denn seines Bleibens war nun nicht
+länger im väterlichen Hause.
+
+Ich besprach mich mit dem geistlichen Hauslehrer, welcher das Kind
+bisher beaufsichtigt und beschäftigt hatte. Er zeigte mir die Hefte
+des Knaben, die Zeugnis ablegten von einem rührenden Fleiss und einer
+tapfern Ausdauer, aber zugleich von einem unglaublich mittelmässigen
+Kopfe, einem völligen Mangel an Kombination und Dialektik, einer
+absoluten Geistlosigkeit. Was man im weitesten Sinne Witz nennt, jede
+leidenschaftliche--warme oder spottende--Beleuchtung der Rede, jede
+Überraschung des Scharfsinns, jedes Spiel der Einbildungskraft waren
+abwesend. Nur der einfachste Begriff und das ärmste Wort standen dem
+Knaben zu Gebote. Höchstens gefiel dann und wann eine Wendung durch
+ihre Unschuld oder brachte zum Lächeln durch ihre Naivität.
+Seltsamer- und traurigerweise sprach der Hausgeistliche von seinem
+Zögling unwissentlich in den Worten Molières: 'ein Knabe ohne Falsch,
+der alles auf Treu und Glauben nimmt, ohne Feuer und Einbildungskraft,
+sanft, friedfertig, schweigsam und'--setzte er hinzu--'mit den
+schönsten Herzenseigenschaften.'
+
+Der Marschall und ich wussten dann--die Wahl war nicht gross--keine
+bessere Schule für das Kind als ein Jesuitencollegium; und warum nicht
+das in Paris, wenn wir Julian nicht von seinen Standes und
+Altersgenossen sondern wollten? Man muss es den Vätern lassen: sie
+sind keine Pedanten, und man darf sie loben, dass sie angenehm
+unterrichten und freundlich behandeln. Mit einer Schule
+jansenistischer Färbung konnten wir uns nicht befreunden: der
+Marschall schon nicht als guter Untertan, der Euer Majestät Abneigung
+gegen die Sekte kannte und Euer Majestät Gnade nicht mutwillig
+verscherzen wollte, ich aus eben diesem Grunde"--Fagon lächelte--"und
+weil ich für den durch seine Talentlosigkeit schon überflüssig
+gedrückten Knaben die herbe Strenge und die finstern Voraussetzungen
+dieser Lehre ungeeignet, die leichte Erde und den zugänglichen Himmel
+der Jesuiten dagegen hier für zuträglich oder wenigstens völlig
+unschädlich hielt, denn ich wusste, das Grundgesetz dieser Knabenseele
+sei die Ehre.
+
+Dabei war auf meiner Seite die natürliche Voraussetzung, dass die
+frommen Väter nie von dem Marschalle beleidigt würden, und das war in
+keiner Weise zu befürchten, da der Marschall sich nicht um kirchliche
+Händel kümmerte und als Kriegsmann an der in diesem Orden streng
+durchgeführten Subordination sogar ein gewisses Wohlgefallen hatte.
+
+Wie sollte aber der von der Natur benachteiligte Knabe mit einer
+öffentlichen Klasse Schritt halten? Da zählten der Marschall und ich
+auf zwei verschiedene Hilfen. Der Marschall auf das Pflichtgefühl und
+den Ehrgeiz seines Kindes. Er selbst, der nur mittelmässig Begabte,
+hatte auf seinem Felde Rühmliches geleistet, aber kraft seiner
+sittlichen Eigenschaften, nicht durch eine geniale Anlage. Ohne zu
+wissen oder nicht wissen wollend, dass Julian jene mittlere Begabung,
+welche er selbst mit eisernem Fleisse verwertete, bei weitem nicht
+besitze, glaubte er, es gebe keine Unmöglichkeit für den
+Willenskräftigen und selbst die Natur lasse sich zwingen, wie ihn denn
+seine Galopins beschuldigen, er tadle einen während der Parade über
+die Stirn rollenden Schweisstropfen als ordonnanzwidrig, weil er
+selbst nie schwitze.
+
+Ich dagegen baute auf die allgemeine Menschenliebe der Jesuiten und
+insonderheit auf die Berücksichtigung und das Ansehen der Person,
+wodurch diese Väter sich auszeichnen. Ich beredete mich mit mehreren
+derselben und machte sie mit den Eigenschaften des Knaben vertraut.
+Um ihnen das Kind noch dringender an das Herz zu legen, sprach ich
+ihnen von der Stellung seines Vaters, sah aber gleich, dass sie sich
+daraus nichts machten. Der Marschall ist ausschliesslich ein
+Kriegsmann, dabei tugendhaft, ohne Intrige, und die Ehre folgt ihm
+nach wie sein Schatten. So hatten die Väter von ihm nichts zu hoffen
+und zu fürchten. Unter diesen Umständen glaubte ich Julian eine
+kräftigere Empfehlung verschaffen zu müssen und gab den frommen Vätern
+einen Wink... " Der Erzähler stockte.
+
+"Was vertuschest du, Fagon?" fragte der König.
+
+"Ich komme darauf zurück", stotterte Fagon verlegen, "und dann wirst
+du, Sire, mir etwas zu verzeihen haben. Genug, das Mittel wirkte.
+Die Väter wetteiferten, dem Knaben das Lernen zu erleichtern, dieser
+fühlte sich in einer warmen Atmosphäre, seine Erstarrung wich, seine
+kargen Gaben entfalteten sich, sein Mut wuchs, und er war gut
+aufgehoben. Da änderte sich alles gründlich in sein Gegenteil.
+
+Etwa ein halbes Jahr nach dem Eintritt Julians bei den Jesuiten
+ereignete sich zu Orléans, in dessen Weichbild die Väter Besitz und
+eine Schule hatten, welche beide sie zu vergrössern wünschten, eine
+schlimme Geschichte. Vier Brüder von kleinem Adel besassen dort ein
+Gut, welches an den Besitz der Jesuiten stiess und das sie ungeteilt
+bewirteten. Alle vier dienten in Eurem Heere, Sire, verzehrten, wie
+zu geschehen pflegte, für ihre Ausrüstung und mehr noch im Umgang mit
+reichen Kameraden ihre kurze Barschaft und verschuldeten ihre Felder.
+Nun fand es sich, dass jenes Jesuitenhaus durch Zusammenkauf dieser
+Pfandbriefe der einzige Gläubiger der vier Junker geworden war und
+ihnen aus freien Stücken darüber hinaus eine abrundende Summe
+vorschoss, drei Jahre fest, dann mit jähriger Kündigung. Daneben aber
+verpflichteten sich die Väter den Junkern gegenüber mündlich aufs
+feierlichste, die ganze Summe auf dem Edelgute stehenzulassen; es sei
+eben nur ein rein formales Gesetz ihrer Ordensökonomie, Geld nicht
+länger als auf drei Jahre auszutun.
+
+Da begab es sich, dass die Väter jenes Hauses unversehens in ihrer
+Vollzahl an das Ende der Welt geschickt wurden, wahrhaftig, ich glaube
+nach Japan, und die an ihre Stelle tretenden begreiflicherweise nichts
+von jenem mündlichen Versprechen ihrer Vorgänger wussten. Der
+dreijährige Termin erfüllte sich, die neuen Väter kündigten die Schuld,
+nach Jahresfrist konnten die Junker nicht zahlen, und es wurde gegen
+sie verfahren.
+
+Schon hatte sich das fromme Haus in den Besitz ihrer Felder gesetzt,
+da gab es Lärm. Die tapfern Brüder polterten an alle Türen, auch an
+die des Marschalls Boufflers, welcher sie als wackere Soldaten kannte
+und schätzte. Er untersuchte den Handel mit Ernst und Gründlichkeit
+nach seiner Weise. Der entscheidende Punkt war, dass die Brüder
+behaupteten, von den frommen Vätern nicht allein mündliche
+Beteuerungen, sondern, was sie völlig beruhigt und sorglos gemacht, zu
+wiederholten Malen auch gleichlautende Briefe erhalten zu haben.
+Diese Schriftstücke seien auf unerklärliche Weise verlorengegangen.
+Wohl fänden sich in Briefform gefaltete Papiere mit gebrochenen,
+übrigens leeren Siegeln, welche den Briefen der Väter zum Verwundern
+glichen, doch diese Papiere seien unbeschrieben und entbehren jedes
+Inhalts.
+
+Dergestalt fand ich, eines Tages das Kabinett des Marschalls betretend,
+denselben damit beschäftigt, in seiner genauen Weise jene blanken
+Quadrate umzuwenden und mit der Lupe vorn und hinten zu betrachten.
+Ich schlug ihm vor, mir die Blätter für eine Stunde anzuvertrauen, was
+er mir mit ernsten Augen bewilligte.
+
+Ihr schenktet, Sire, der Wissenschaft und mir einen botanischen Garten,
+der Euch Ehre macht, und bautet mir im Grünen einen stillen Sitz für
+mein Alter. Nicht weit davon, am Nordende, habe ich mir eine
+geräumige chemische Küche eingerichtet, die Ihr einmal zu besuchen mir
+versprachet. Dort unterwarf ich jene fragwürdigen Papiere wirksamen
+und den gelehrten Vätern vielleicht noch unbekannten Agentien. Siehe
+da, die erblichene Schrift trat schwarz an das Licht und offenbarte
+das Schelmstück der Väter Jesuiten.
+
+Der Marschall eilte mit den verklagenden Papieren stracks zu deiner
+Majestät"--König Ludwig strich sich langsam die Stirn--"und fand dort
+den Pater Lachaise, welcher aufs tiefste erstaunte über diese
+Verirrung seiner Ordensbrüder in der Provinz, zugleich aber deiner
+Majestät vorstellte, welche schreiende Ungerechtigkeit es wäre, die
+Gedankenlosigkeit weniger oder eines einzelnen eine so zahlreiche,
+wohltätige und sittenreine Gesellschaft entgelten zu lassen, und
+dieser einzelne, der frühere Vorsteher jenes Hauses, habe überdies,
+wie er aus verlässlichen Quellen wisse, kürzlich in Japan unter den
+Heiden das Martyrium durch den Pfahl erlitten.
+
+Wer am besten bei dieser Wendung der Dinge fuhr, das waren die vier
+Junker. Die Hälfte der Schuld erliessen ihnen die verblüfften Väter,
+die andere Hälfte tilgte ein Grossmütiger."
+
+Der König, der es gewesen sein mochte, veränderte keine Miene.
+
+"Dem Marschall dankte dann Père Lachaise insbesondere dafür, dass er
+in einer bemühenden Sache die Herstellung der Wahrheit unternommen und
+es seinem Orden erspart habe, sich mit ungerechtem Gute zu belasten.
+Dann bat er ihn, der Edelmann den Edelmann, den Vätern sein Wohlwollen
+nicht zu entziehen und ihnen das Geheimnis zu bewahren, was sich
+übrigens für einen Marschall Boufflers von selbst verstehe.
+
+Der geschmeichelte Marschall sagte zu, wollte aber wunderlicherweise
+nichts davon hören, die verräterischen Dokumente herauszugeben oder
+sie zu vernichten. Es fruchtete nichts, dass Père Lachaise ihn zuerst
+mit den zartesten Wendungen versuchte, dann mit den bestimmtesten
+Forderungen bestürmte. Nicht dass der Marschall im geringsten daran
+gedacht hätte, sich dieser gefährlichen Briefe gegen die frommen Väter
+zu bedienen; aber er hatte sie einmal zu seinen Papieren gelegt, mit
+deren Aufräumen und Registrieren er das Drittel seiner Zeit zubringt.
+In diesem Archive, wie er es nennt, bleibt vergraben, was einmal
+drinnen liegt. So schwebte kraft der Ordnungsliebe und der genauen
+Gewohnheiten des Marschalls eine immerwährende Drohung über dem Orden,
+die derselbe dem Unvorsichtigen nicht verzieh. Der Marschall hatte
+keine Ahnung davon und glaubte mit den von ihm geschonten Vätern auf
+dem besten Fusse zu stehn.
+
+Ich war anderer Meinung und liess es an dringenden Vorstellungen nicht
+fehlen. Hart setzte ich ihm zu, seinen Knaben ohne Zögerung den
+Jesuiten wegzunehmen, da der verbissene Hass und der verschluckte
+Groll, welchen getäuschte Habgier und entlarvte Schurkerei unfehlbar
+gegen ihren Entdecker empfinden, sich notwendigerweise über den Orden
+verbreiten, ein Opfer suchen und es vielleicht, ja wahrscheinlich in
+seinem unschuldigen Kinde finden würden. Er sah mich verwundert an,
+als ob ich irre rede und Fabeln erzähle. Geradeheraus: entweder hat
+der Marschall einen kurzen Verstand, oder er wollte sein gegebenes
+Wort mit Prunk und Glorie selbst auf Kosten seines Kindes halten.
+
+'Aber, Fagon', sagte er, 'was in aller Welt hat mein Julian mit dieser
+in der Provinz begegneten Geschichte zu schaffen? Wo ist da ein
+richtiger Zusammenhang? Wenn ihm übrigens die Väter ein bisschen
+strenger auf die Finger sehen, das kann nichts schaden. Sie haben ihn
+nicht übel verhätschelt. Ihnen jetzt den Knaben wegnehmen? Das wäre
+unedel. Man würde plaudern, Gründe suchen, vielleicht die unreinliche
+Geschichte ausgraben, und ich stünde da als ein Wortbrüchiger.' So sah
+der Marschall nur den Nimbus seiner Ehre, statt an sein Kind zu denken,
+das er vielleicht, solange es lebte, noch keines eingehenden Blickes
+gewürdigt hatte. Ich hätte ihn für seinen Edelmut mit dieser meiner
+Krücke prügeln können.
+
+Es ging dann, wie es nicht anders gehen konnte. Nicht in auffallender
+Weise, ohne Plötzlichkeit und ohne eigentliche Ungerechtigkeit liessen
+die Väter Professoren den Knaben sinken, in welchem sie den Sohn eines
+Mannes zu hassen begannen, der den Orden beleidigt habe. Nicht alle
+unter ihnen, die bessern am wenigsten, kannten die saubere Geschichte,
+aber alle wussten: Marschall Boufflers hat uns beschämt und geschädigt,
+und alle hassten ihn.
+
+Eine feine Giftluft schleichender Rache füllte die Säle des Collegiums.
+Nicht nur jedes Entgegenkommen, sondern auch jede gerechte
+Berücksichtigung hatten für Julian aufgehört. Das Kind litt. Täglich
+und stündlich fühlte es sich gedemütigt, nicht durch lauten Tadel, am
+wenigsten durch Scheltworte, welche nicht im Gebrauche der Väter sind,
+sondern fein und sachlich, einfach dadurch, dass sie die Armut des
+Blondkopfes nicht länger freundlich unterstützten und die geistige
+Dürftigkeit nach verweigertem Almosen beschämt in ihrer Blösse
+dastehen liessen. Jetzt begann das Kind, von einem verzweifelnden
+Ehrgeiz gestachelt, seine Wachen zu verlängern, seinen Schlummer
+gewalttätig abzukürzen, sein Gehirn zu martern, seine Gesundheit zu
+untergraben--ich mag davon nicht reden, es bringt mich auf..."
+
+Fagon machte eine Pause und schöpfte Atem.
+
+Der König füllte dieselbe, indem er ruhig bemerkte: "Ich frage mich,
+Fagon, wieviel Wirklichkeit alles dieses hat. Ich meine diese stille
+Verschwörung gelehrter und verständiger Männer zum Schaden eines
+Kindes und dieser brütende Hass einer ganzen Gesellschaft gegen einen
+im Grunde ihr so ungefährlichen Mann, wie der Marschall ist, der sie
+ja überdies ganz ritterlich behandelt hatte. Du siehst Gespenster,
+Fagon. Du bist hier Partei und hast vielleicht, wer weiss, gegen den
+verdienten Orden neben deinem ererbten Vorurteil noch irgendeine
+persönliche Feindschaft."
+
+"Wer weiss?" stammelte Fagon. Er hatte sich entfärbt, soweit er noch
+erblassen konnte, und seine Augen loderten. Die Marquise wurde
+ängstlich und berührte heimlich den Arm ihres Schützlings, ohne dass
+er die warnende Hand gefühlt hätte. Frau von Maintenon wusste, dass
+der heftige Alte, wenn er gereizt wurde, gänzlich ausser sich geriet
+und unglaubliche Worte wagte, selbst dem Könige gegenüber, welcher
+freilich dem langjährigen und tiefen Kenner seiner Leiblichkeit
+nachsah, was er keinem andern so leicht vergeben hätte. Fagon
+zitterte. Er stotterte unzusammenhängende Sätze, und seine Worte
+stürzten durcheinander, wie Krieger zu den Waffen.
+
+"Du glaubst es nicht, Majestät, Kenner der Menschenherzen, du glaubst
+es nicht, dass die Väter Jesuiten jeden, der sie wissentlich oder
+unwissentlich beleidigt, hassen bis zur Vernichtung? Du glaubst nicht,
+dass diese Väter weder wahr noch falsch, weder gut noch böse kennen,
+sondern nur ihre Gesellschaft?" Fagon schlug eine grimmige Lache auf.
+"Du willst es nicht glauben, Majestät!
+
+Sage mir, König, du Kenner der Wirklichkeit," raste Fagon abspringend
+weiter, "da die Rede ist von der Glaubwürdigkeit der Dinge, kannst du
+auch nicht glauben, dass in deinem Reiche bei der Bekehrung der
+Protestanten Gewalt angewendet wird?"
+
+"Diese Frage", erwiderte der König sehr ernsthaft, "ist die erste
+deiner heutigen drei Freiheiten. Ich beantworte sie. Nein, Fagon.
+Es wird, verschwindend wenige Fälle ausgenommen, bei diesen
+Bekehrungen keine Gewalt angewendet, weil ich es ein für allemal
+ausdrücklich untersagt habe und weil meinen Befehlen nachgelebt wird.
+Man zwingt die Gewissen nicht. Die wahre Religion siegt gegenwärtig
+in Frankreich über Hunderttausende durch ihre innere Überzeugungskraft."
+
+"Durch die Predigten des Père Bourdaloue!" höhnte Fagon mit gellender
+Stimme. Dann schwieg er. Entsetzen starrte aus seinen Augen über
+diesen Gipfel der Verblendung, diese Mauer des Vorurteils, diese
+gänzliche Vernichtung der Wahrheit. Er betrachtete den König und sein
+Weib eine Weile mit heimlichem Grauen.
+
+"Sire, meine nicht", fuhr er fort, "dass ich Partei bin und das Blut
+meiner protestantischen Vorfahren aus mir spreche. Ich bin von einer
+ehrwürdigen Kirche abgefallen. Warum? Weil ich, Gott vorbehalten,
+von dem ich nicht lasse und der in meinen alten Tagen mich nicht
+verlassen möge, über Religionen und Konfessionen samt und sonders
+denke, wie jener lucrezische Vers... "
+
+Weder der König noch Frau von Maintenon wussten von diesem Verse, aber
+sie konnten vermuten, Fagon meine nichts Frommes.
+
+"Kennt Ihr den Tod meines Vaters, Sire?" flüsterte Fagon. "Er ist ein
+Geheimnis geblieben, aber Euch will ich es anvertrauen. Er war ein
+sanfter Mann und nährte sich, sein Weib und seine Kinder, deren
+letztes und sechstes ich Verwachsener war, in Auxerre von dem Verkaufe
+seiner Latwergen redlich und kümmerlich; denn Auxerre hat eine gesunde
+Luft und ein Schock Apotheken. Die glaubenseifrigen Einwohner, die
+meinen Vater liebten, wollten ihm alles Gute und hätten ihn gern der
+Kirche zurückgegeben, aber nicht mit Gewalt, denn Ihr habet es gesagt,
+Sire, man zwingt die Gewissen nicht. Also verbrüderten sie sich, die
+calvinistische Apotheke zu meiden. Mein Vater verlor sein Brot, und
+wir hungerten. Die Väter Jesuiten taten dabei, wie überall, das Beste.
+Da wurde sein Gewissen in sich selbst uneins. Er schwur ab. Weil
+aber die scharfen calvinistischen Sätze ein Gehirn, dem sie in seiner
+Kindheit eingegraben wurden, nicht so leicht wieder verlassen,
+erschien sich der Ärmste bald als ein Judas, der den Herrn verriet,
+und er ging hin wie jener und tat desgleichen."
+
+"Fagon", sagte der König mit Würde, "du hast den armen Père Tellier
+wegen einer geschmacklosen Rede über seinen Vater beschimpft und
+redest selber so nackt und grausam von dem deinigen. Unselige Dinge
+verlangen einen Schleier!"
+
+"Sire", erwiderte der Arzt, "Ihr habet recht und seid für mich wie für
+jeden Franzosen das Gesetz in Dingen des Anstandes. Freilich kann man
+sich von gewissen Stimmungen hinreissen lassen, in dieser Welt der
+Unwahrheit und ihr zum Trotz von einer blutigen Tatsache, und wäre es
+die schmerzlichste, das verhüllende Tuch unversehens wegzuziehen...
+
+Aber, Sire, wie vorzeitig habe ich die erste meiner Freiheiten
+verbraucht, und wahrlich, mich gelüstet, gleich noch meine zweite zu
+verwenden."
+
+Die Marquise las in den veränderten Zügen des Arztes, dass sein Zorn
+vorüber und nach einem solchen Ausbruche an diesem Abend kein Rückfall
+mehr zu befürchten sei.
+
+"Sire", sagte Fagon fast leichtsinnig, "habt Ihr Euern Untertan, den
+Tiermaler Mouton, gekannt? Ihr schüttelt das Haupt. So nehme ich mir
+die grosse Freiheit, Euch den wenig hoffähigen, aber in diese
+Geschichte gehörenden Künstler vorzustellen, zwar nicht in Natur, mit
+seinem zerlöcherten Hut, den Pfeifenstummel zwischen den Zähnen--ich
+rieche seinen Knaster--, hemdärmelig und mit hangenden Strümpfen.
+Überdies liegt er im Grabe. Ihr liebet die Niederländer nicht,
+Sire, weder ihre Kirmessen auf der Leinwand noch ihre eigenen
+ungebundenen Personen. Wisset, Majestät: Ihr habt einen Maler
+besessen, einen Picarden, der sowohl durch die Sachlichkeit seines
+Pinsels als durch die Zwanglosigkeit seiner Manieren die Holländer bei
+weitem überholländerte.
+
+Dieser Mouton, Sire, hat unter uns gelebt, seine grasenden Kühe und
+seine in eine Staubwolke gedrängten Hammel malend, ohne eine blasse
+Ahnung alles Grossen und Erhabenen, was dein Zeitalter, Majestät,
+hervorgebracht hat. Kannte er deine Dichter? Nicht von ferne. Deine
+Bischöfe und Prediger? Nicht dem Namen nach. Mouton hatte kein
+Taufwasser gekostet. Deine Staatsmänner, Colbert, Lyonne und die
+andern? Darum hat sich Mouton nie geschoren. Deine Feldherrn, Condé
+mit dem Vogelgesicht, Turenne, Luxembourg und den Enkel der schönen
+Gabriele? Nur den letztern, welchem er in Anet einen Saal mit
+Hirschjagden von unglaublich frecher Mache füllte. Vendôme mochte
+Mouton, und dieser nannte seinen herzoglichen Gönner in rühmender
+Weise einen Viehkerl, wenn ich das Wort vor den Ohren der Majestät
+aussprechen darf. Hat Mouton die Sonne unserer Zeit gekannt? Wusste
+er von deinem Dasein, Majestät? Unglaublich zu sagen: den Namen,
+welcher die Welt und die Geschichte füllt--vielleicht hat er nicht
+einmal deinen Namen gewusst, wenn ihm auch, selten genug, deine
+Goldstücke durch die Hände laufen mochten. Denn Mouton konnte nicht
+lesen, so wenig als sein Liebling, der andere Mouton.
+
+Dieser zweite Mouton, ein weiser Pudel mit geräumigem Hirnkasten und
+sehr verständigen Augen, über welche ein schwarzzottiges Stirnhaar in
+verworrenen Büscheln niederhing, war ohne Zweifel--in den Schranken
+seiner Natur--der begabteste meiner drei Gäste: so sage ich, weil
+Julian Boufflers, von dem ich erzähle, Mouton der Mensch und Mouton
+der Pudel oft lange Stunden vergnügt bei mir zusammensassen.
+
+Ihr wisset, Sire, die Väter Jesuiten sind freigebige Ferienspender,
+weil ihre Schüler, den vornehmen, ja den höchsten Ständen angehörend,
+öfters zu Jagden, Komödien oder sonstigen Lustbarkeiten, freilich
+nicht alle, nach Hause oder anderswohin gebeten werden. So nahm ich
+denn Julian, welcher von seinem Vater, dem Marschall, grundsätzlich
+selten nach Hause verlangt wurde, zuweilen in Euern botanischen Garten
+mit, wo Mouton, der sich unter Pflanzen und Tieren heimisch fühlte,
+mich zeitweilig besuchte, irgendeine gelehrte Eule oder einen
+possierlichen Affen mit ein paar entschiedenen Kreidestrichen auf das
+Papier warf und wohl auch, wenn Fleiss und gute Laune vorhielten, mir
+ein stilles Zimmer mit seinen scheuenden Pferden oder saufenden Kühen
+bevölkerte. Ich hatte Mouton den Schlüssel einer Mansarde mit
+demjenigen des nächsten Mauerpförtchens eingehändigt, um dem
+Landstreicher eine Heimstätte zu geben, wo er seine Staffeleien und
+Mappen unterbringe. So erschien und verschwand er bei mir nach seinem
+Belieben.
+
+Einmal an einem jener kühlen und erquicklichen Regensommertage, jener
+Tage stillen, aber schnellen Wachstumes für Natur und Geist, sass ich
+in meiner Bibliothek und blickte durch das hohe Fenster derselben über
+einen aufgeschlagenen Folianten und meine Brille hinweg in die mir
+gegenüberliegende Mansarde des Nebengebäudes, das Nest Moutons. Dort
+sah ich einen blonden schmalen Knabenkopf in glücklicher Spannung
+gegen eine Staffelei sich neigen. Dahinter nickte der derbe Schädel
+Moutons, und eine behaarte Hand führte die schlanke des Jünglings.
+Ausser Zweifel, da wurde eine Malstunde gegeben. Mouton der Pudel
+sass auf einem hohen Stuhle mit rotem Kissen daneben, klug und
+einverstanden, als billige er höchlich diese gute Ergötzung. Ich
+markierte mein Buch und ging hinüber.
+
+In meinen Filzstiefeln wurde ich von den lustig Malenden nicht gehört
+und nur von Mouton dem Pudel wahrgenommen, der aber seinen Gruss, ohne
+das Kissen zu verlassen, auf ein heftiges Wedeln beschränkte. Ich
+liess mich still in einen Lehnstuhl nieder, um dem wunderlichsten
+Gespräche beizuwohnen, welches je in Euerm botanischen Garten, Sire,
+geführt wurde. Zuerst aber betrachtete ich aus meinem Winkel das Bild,
+welches auf der Staffelei stand, den Geruch einatmend, den die flott
+und freigebig gehandhabten Ölfarben verbreiteten. Was stellte es dar?
+Ein Nichts: eine Abendstimmung, eine Flussstille, darin die
+Spiegelung einiger aufgelöster roter Wölkchen und eines bemoosten
+Brückenbogens. Im Flusse standen zwei Kühe, die eine saufend, die
+andere, der auch noch das Wasser aus den Maulwinkeln troff beschaulich
+blickend. Natürlich tat Mouton das Beste daran. Aber auch der Knabe
+besass eine gewisse Pinselführung, welche nur das Ergebnis mancher
+ohne mein Wissen mit Mouton vermalten Stunde sein konnte. Wie viel
+oder wenig er gelernt haben mochte, schon die Illusion eines Erfolges,
+die Teilnahme an einer genialen Tätigkeit, einem mühelosen und
+glücklichen Entstehen, einer Kühnheit und Willkür der schöpferischen
+Hand, von welcher wohl der Phantasielose sich früher keinen Begriff
+gemacht hatte und die er als ein Wunder bestaunte, liess den Knaben
+nach so vielen Verlusten des Selbstgefühls eine grosse Glückseligkeit
+empfinden. Das wärmste Blut rötete seine keuschen Wangen, und ein
+Eifer beflügelte seine Hand, dass nichts darüber ging und auch ich
+eine helle väterliche Freude fühlte.
+
+Inzwischen erklärte Mouton dem Knaben die breiten Formen und schweren
+Gebärden einer wandelnden Kuh und schloss mit der Behauptung, es gehe
+nichts darüber als die Gestalt des Stieres.
+
+Diese sei der Gipfel der Schöpfung. Er sagte wohl, um genau zu sein,
+der Natur, nicht der Schöpfung, denn die letztere kannte er nicht,
+weder den Namen noch die Sache, da er verwahrlost und ohne Katechismus
+aufgewachsen war.
+
+Wenig Glück genügte, die angebotene Heiterkeit wie eine sprudelnde
+Quelle aus dem Knaben hervorzulocken. Die Achtung Moutons vor dem
+Hornvieh komisch findend, erzählte Julian unschuldig: 'Père Amiel hat
+uns heute morgen gelehrt, dass die alten Ägypter den Stier göttlich
+verehrten. Das finde ich drollig!'
+
+'Sapperment', versetzte der Maler leidenschaftlich, 'da taten sie
+recht. Gescheite Leute das, Viehkerle! Nicht wahr, Mouton? Wie?
+Ich frage dich, Julian, ist ein Stierhaupt in seiner Macht und
+drohenden Grösse nicht göttlicher--um das dumme Wort zu
+gebrauchen--als ein Dreieck oder ein Tauber oder gar ein schales
+Menschengesicht? Nicht wahr, Mouton? Das fühlst du doch selber,
+Julian? Wenn ich sage: fades Menschengesicht, so rede ich unbeschadet
+der Nase deines Père Amiel. Alle Achtung!' Mouton zeichnete, übrigens
+ohne jeden Spott, mit einem frechen Pinselzug auf das Tannenholz der
+Staffelei eine Nase, aber eine Nase, ein Ungeheuer von Nase, von
+fabelhafter Grösse und überwältigender Komik.
+
+'Man sieht', fuhr er dann in ganzem Ernste fort, 'die Natur bleibt
+nicht stehen. Es würde sie ergötzen, zeitweilig etwas Neues zu
+bringen. Doch das ist verspätet: die Vettel hat ihr Feuer verloren.'
+
+'Père Amiel', meinte der Knabe schüchtern, 'wird der Natur nicht für
+seine Nase danken, denn sie macht ihn lächerlich, und er hat
+ihrethalber viel von meinen Kameraden auszustehen.l
+
+'Das sind eben Buben', sagte Mouton grossmütig, 'denen der Sinn für
+das Erhabene mangelt. Aber beiläufig, wie kommt es, Julian, dass ich,
+neulich in deinem Schulhaus einen Besuch machend, um dir die Vorlagen
+zu bringen, dich unter lauter Kröten fand? dreizehn--und
+vierzehnjährigen Jüngelchen? Passt sich das für dich, dem der Flaum
+keimt und der ein Liebchen besitzt?'
+
+Dieser plötzliche Überfall rief den entgegengesetzten Ausdruck zweier
+Gefühle auf das Antlitz des Jünglings: eine glückliche, aber tiefe
+Scham und einen gründlichen Jammer, der überwog. Julian seufzte.
+'Ich bin zurückgeblieben', lispelte er mit unwillkürlichem Doppelsinne.
+
+'Dummheit!' schimpfte Mouton. 'Worin zurückgeblieben? Bist du nicht
+mit deinen Jahren gewachsen und ein schlanker und schöner Mensch?
+Wenn dir die Wissenschaften widerstehen, so beweist das deinen
+gesunden Verstand. Meiner Treu! ich hätte mich als ein Bärtiger oder
+wenigstens Flaumiger nicht unter die Buben setzen lassen und wäre auf
+der Stelle durchgebrannt.'
+
+'Aber Mouton', sagte der Knabe, 'der Marschall, mein Vater, hat es von
+mir verlangt, dass ich noch ein Jahr unter den Kleinen sitzen bleibe.
+Er hat mich darum gebeten, ihm diesen Gefallen zu tun.' Er sagte das
+mit einem zärtlichen Ausdruck von Gehorsam und ehrfürchtiger Liebe,
+der mich ergriff, obschon ich mich zu gleicher Zeit an dem die
+kindliche Verehrung missbrauchenden Marschall ärgerte und auch darüber
+höchst missmutig war, dass Julian, gegen mich und jedermann ein
+hartnäckiger Schweiger, einem Mouton Vertrauen bewies, einem
+Halbmenschen sich aufschloss. Mit Unrecht. Erzählen doch auch wir
+Erwachsenen einem treuen Tiere, welches uns die Pfoten auf die Knie
+legt, unsern tiefsten Kummer, und ist es nicht ein vernünftiger Trieb
+aller von der Natur Benachteiligten, ihre Gesellschaft eher unten zu
+suchen als bei ihresgleichen, wo sie sich als Geschonte und
+Bemitleidete empfinden?
+
+'Weisst du was', fuhr Mouton nach einer Pause fort, und der andere
+Mouton spitzte die Ohren dazu, 'du zeichnest dein Vieh schon jetzt
+nicht schlecht und lernst täglich hinzu. Ich nehme dich nach dem
+Süden als meinen Gesellen. Ich habe da eine Bestellung nach Schloss
+Grignan. Die Dingsda--wie heisst sie doch? das fette lustige
+Weibsbild? richtig: die Sévigné!--schickt mich ihrem Schwiegersohn,
+dem Gouverneur dort herum. Du gehst mit und nährst dich ausgiebig von
+Oliven, bist ein freier loser Vogel, der flattert und pickt, wo er
+will, blickst dein Lebtag in nichts Gedrucktes und auf nichts
+Geschriebenes mehr und lässest den Marschall Marschall sein. Auch
+dein blaues kühles vornehmes Liebchen bleibt dahinten. Meinst, ich
+hätte dich nicht gesehen, Spitzbube, erst vorgestern, da der alte
+Quacksalber in Versailles war, vor den Affen stehen, mit der alten
+Kräuterschachtel und der grossen blauen Puppe? Für diese wird sich
+schon ein brauner sonneverbrannter Ersatz finden.'
+
+Dieses letzte Wort, welches noch etwas zynischer lautete, empörte mich,
+wiewohl es den Knaben, wie ich ihn kannte, nicht beschädigen konnte.
+Jetzt räusperte ich mich kräftig, und Julian erhob sich in seiner
+ehrerbietigen Art, mich zu begrüssen, während Mouton, ohne irgendeine
+Verlegenheit blicken zu lassen, sich begnügte in den Bart zu murmeln:
+'Der' Mouton war von einer gründlichen Undankbarkeit.
+
+Ich nahm den Knaben, während Mouton lustig fortpinselte, mit mir in
+den Garten und fragte ihn, ob ihn wirklich der Zyniker in seinem
+Collège aufgesucht hätte, was mir aus naheliegenden Gründen unangenehm
+war. Julian bejahte. Es habe ihn etwas gekostet, sagte er aufrichtig,
+unter seinen Mitschülern im Hofraum den Händedruck Moutons zu
+erwidern, dem die nackten Ellbogen aus den Löchern seiner Ärmel und
+die Zehen aus den Schuhen geguckt hätten, 'Aber', sagte er, 'ich tat
+es und begleitete ihn auch noch über die Strasse; denn ich danke ihm
+Unterricht und heitere Stunden und habe ihn auch recht lieb, ohne
+seine Unreinlichkeit'.
+
+So redete der Knabe, ohne weiter etwas daraus zu machen, und erinnerte
+mich an eine Szene, die ich vor kurzem aus den obern, auf den
+Spielplatz blickenden Arkaden des Collège, wohin man mich zu einem
+kranken Schüler gerufen, beobachtet hatte und von welcher ich mich
+lange nicht hatte trennen können. Unten war Fechtstunde, und der
+Fechtmeister, ein alter benarbter Sergeant, der lange Jahre unter dem
+Marschall gedient hatte, behandelte den Sohn seines Feldherrn, welcher
+kurz vorher neben Kindern auf einer Schulbank gesessen, mit fast
+unterwürfiger Ehrerbietung, als erwarte er Befehl, statt ihn zu geben.
+
+Julian focht ausgezeichnet, ich hätte fast gesagt: er focht edel. Der
+Knabe pflegte in den langen Stunden des Auswendiglernens das
+Handgelenk mechanisch zu drehen, wodurch dasselbe ungewöhnlich
+geschmeidig wurde. Dazu hatte er genauen Blick und sichern Ausfall.
+So wurde er, wie gesagt, ein Fechter erster Klasse, wie er auch gut
+und verständig ritt. Es lag nahe, dass der überall Gedemütigte diese
+seine einzige Überlegenheit seine Kameraden fühlen liess, um ein
+Ansehen zu gewinnen. Aber nein, er verschmähte es. Die in dieser
+Körperübung Geschickten und Ungeschickten behandelte er, ihnen die
+Klinge in der Hand gegenüberstehend, mit der gleichen Courtoisie, ohne
+jemals mit jenen in eine hitzige Wette zu geraten oder sich über diese,
+von welchen er sich zuweilen zu ihrer Ermutigung grossmütig stechen
+liess, lustig zu machen. So stellte er auf dem Fechtboden in einer
+feinen und unauffälligen Weise jene Gleichheit her, deren er selbst in
+den Schulstunden schmerzlich entbehrte, und genoss unter seinen
+Kameraden zwar nicht einen durch die Faust eroberten Respekt, sondern
+eine mit Scheu verbundene Achtung seiner unerklärlichen Güte, die
+freilich in ein der Jugend sonst unbekanntes aufrichtiges Mitleid mit
+seiner übrigen Unbegabtheit verfloss. Die Ungunst des Glückes, welche
+so viele Seelen verbittert, erzog und adelte die seinige.
+
+Ich war mit Julian in Euerm Garten, Sire, lustwandelnd zu den Käfigen
+gelangt, wo Eure wilden Tiere hinter Eisenstäben verwahrt werden.
+Eben hatte man dort einen Wolf eingetan, der mit funkelnden Augen und
+in schrägem, hastigem Gange seinen Kerker durchmass. Ich zeigte ihn
+dem Knaben, welcher nach einem flüchtigen Blick auf die ruhelose
+Bestie sich leicht schaudernd abwendete. Der platte Schädel, die
+falschen Augen, die widrige Schnauze, die tückisch gefletschten Zähne
+konnten erschrecken. Doch ich war die Furcht an dem Knaben, der schon
+Jagden mitgemacht hatte, durchaus nicht gewohnt. 'Ei, Julian, was ist
+dir?' lächelte ich, und dieser erwiderte befangen: 'Das Tier mahnt
+mich an jemand--', liess dann aber die Rede fallen, denn wir
+erblickten auf geringe Entfernung ein vornehmes weibliches Paar, das
+unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: eine purzlige Alte und ein
+junges Mädchen, die erstere die Gräfin Mimeure--Ihr erinnert Euch
+ihrer, Sire, wenn sie auch seit Jahrzehnten den Hof meidet, nicht aus
+Nachlässigkeit, denn sie verehrt Euch grenzenlos, sondern weil sie,
+wie sie gesagt, mit ihren Runzeln Euern Schönheitssinn nicht
+beleidigen will. Garstig und witzig und wie ich an einem Krückenstock
+gehend, ein originelles und wackeres Geschöpf, war sie mir eine
+angenehme Erscheinung.
+
+'Guten Tag, Fagon!' rief sie mir entgegen. 'Ich betrachte deine
+Kräuter und komme dich um ein paar Rhabarbersträuche zu bitten für
+meinen Garten zu Neuilly; du weisst, ich bin ein Stück von einer
+Ärztin!', und sie nahm meinen Arm. 'Begrüsset euch, ihr Jugenden!
+Tun sie, als hätten sie sich nie gesehen!'
+
+Julian, der schüchterne, begrüsste das Mädchen, welches ihm die
+Fingerspitzen bot, ohne grosse Verlegenheit, was mich wunderte und
+freute. 'Mirabelle Miramion', nannte sie mir die Gräfin, 'ein
+prächtiger Name, nicht wahr, Fagon?' Ich betrachtete das schöne Kind,
+und mir fiel gleich jenes 'blaue Liebchen' ein, mit welchem Mouton den
+Knaben aufgezogen. In der Tat, sie hatte grosse blaue, flehende Augen,
+eine kühle, durchsichtige Farbe und einen kaum vollendeten Wuchs, der
+noch nichts als eine zärtliche Seele ausdrückte.
+
+Mit einer kindlichen, glockenhellen Stimme, welche zum Herzen ging,
+begann sie, da mich ihr die Gräfin als den Leibarzt des Königs
+vorstellte, folgendermassen: 'Erster der Ärzte und Naturforscher, ich
+verneige mich vor Euch in diesem weltberühmten Garten, welchen Euch
+die Huld des mächtigsten Herrschers, der dem Jahrhundert den Namen
+gibt, in seiner volkreichen und bewundernswerten Hauptstadt gebaut hat.'
+Ich wurde so verblüfft von dieser weitläufigen verblühten Rhetorik
+in diesem kleinen lenzfrischen Munde, dass ich der Alten das Wort
+liess, welche gutmütig verdriesslich zu schelten begann: 'Lass es gut
+sein, Bellchen. Fagon schenkt dir das übrige. Unter Freunden,
+Kind--denn Fagon ist es und kein Spötter--, wie oft hab' ich dich
+schon gebeten in den drei Wochen, da ich dich um mich habe, von diesem
+verwünschten gespreizten provinzialen Reden abzulassen. So spricht
+man nicht. Dieser hier ist nicht der erste der Ärzte, sondern
+schlechthin Herr Fagon. Der botanische Garten ist kurzweg der
+botanische Garten, oder der Kräutergarten, oder der königliche Garten.
+Paris ist Paris und nicht die Hauptstadt, und der König begnügt sich
+damit, der König zu sein. Merke dir das.' Der Mund des Mädchens
+öffnete sich schmerzlich, und ein Tränchen rieselte über die blühende
+Wange.
+
+Da wendete sich zu meinem Erstaunen Julian in grosser Erregung gegen
+die Alte. 'Um Vergebung, Frau Gräfin!' sprach er kühn und heftig.
+'Die Rhetorik ist eine geforderte, unentbehrliche Sache und schwierig
+zu lernen. Ich muss das Fräulein bewundern, wie reich sie redet, und
+Père Amiel, wenn er sie hörte--'
+
+'Père Amiel!'--die Gräfin brach in ein tolles Gelächter aus, bis sie
+das Zwerchfell schmerzte--, 'Père Amiel hat eine Nase! aber eine Nase!
+eine Weltnase! Stelle dir vor, Fagon, eine Nase, welche die des Abbé
+Genest beschämt! Was ich im Collège zu schaffen hatte? Ich holte
+dort meinen Neffen ab--du weisst, Fagon, ich habe die Kinder von zwei
+verstorbenen Geschwistern auf dem Halse--meinen Neffen, den
+Guntram--armer, armer Junge!--und wurde, bis Père Tellier, der
+Studienpräfekt, zurückkäme, in die Rhetorik des Père Amiel geführt. O
+Gott! o Gott!' Die Gräfin hielt sich den wackelnden Bauch. 'Hab' ich
+gelitten an verschlucktem Lachen! Zuerst das sich ermordende römische
+Weibsbild! Der Pater erdolchte sich mit dem Lineal. Dann verzog er
+süss das Maul und hauchte: 'Paete, es schmerzt nicht!' Aber was wollte
+das heissen gegen die sterbende Cleopatra mit der Viper! Der Père
+setzte sich das Lineal an die linke Brustwarze und liess die Äuglein
+brechen. Dass du das nicht gesehen hast, Fagon!... Ih!' kreischte
+sie plötzlich, dass es mir durch Mark und Bein ging, 'da ist ja auch
+Père Tellier!', und sie deutete auf den Wolf, von welchem wir uns
+nicht über zwanzig Schritte entfernt hatten. 'Wahrhaftig, Père
+Tellier, wie er leibt und lebt! Gehen wir weg von deinen garstigen
+Tieren, Fagon, zu deinen wohlriechenden Pflanzen! Gib mir den Arm,
+Julian!'
+
+'Frau Gräfin erlauben', fragte dieser, 'warum nanntet Ihr den Guntram
+einen armen Jungen, ihn, der jetzt den Lilien folgt, wenn er nicht
+schon die Ehre hat, die Fahne des Königs selbst zu tragen?'
+
+'Ach, ach!' stöhnte die Gräfin mit plötzlich verändertem Gesichte, und
+den Tränen des Gelächters folgten die gleichfarbigen des Jammers,
+'warum ich den Guntram einen armen Jungen nannte? Weil er gar nicht
+mehr vorhanden ist, Julian, weggeblasen! Dazu bin ich in den Garten
+gekommen, wo ich dich vermutete, um dir zu sagen, dass Guntram
+gefallen ist, denke dir, am Tag nach seiner Ankunft beim Heer. Er
+wurde gleich eingestellt und führte eine Patrouille so tollkühn und
+unnütz vor, dass ihn eine Stückkugel zerriss, nicht mehr nicht weniger
+als den weiland Marschall Turenne. Stelle dir vor, Fagon: der Junge
+hatte noch nicht sein sechzehntes erreicht, strebte aber aus dem
+Collège, wo er rasch und glücklich lernte, wachend und träumend nach
+der Muskete. Und dabei war er kurzsichtig, Fagon, du machst dir
+keinen Begriff. So kurzsichtig, dass er auf zwanzig Schritte nichts
+vor sich hatte als Nebel. Natürlich haben ich und alle Vernünftigen
+ihm den Degen ausgeredet--nutzte alles nichts, denn er ist ein
+Starrkopf erster Härte. Ich stritt mich mütterlich mit dem Jungen
+herum, aber eines schönen Tages entlief er und rannte zu deinem Vater,
+Julian, der eben in den Wagen stieg, um sein niederländisches Commando
+zu übernehmen. Dieser befragte das Kind, wie er mir jetzt selbst
+geschrieben hat, ob es unter einem väterlichen Willen stünde, und als
+der Junge verneinte, liess ihn der Marschall in seinem Reisezuge
+mitreiten. Nun fault der kecke Bube dortüben'--sie wies nördlich--'in
+einem belgischen Weiler. Aber die schmalen Erbteile seiner fünf
+Schwestern haben sich ein bisschen gebessert.'
+
+Ich las auf dem Gesichte Julians, wie tief und verschiedenartig ihn
+der Tod seines Gespielen bewegte. Jenen hatte der Marschall in den
+Krieg genommen und sein eigenes Kind auf einer ekeln Schulbank sitzen
+lassen. Doch der Knabe glaubte so blindlings an die Gerechtigkeit
+seines Vaters, auch wenn er sie nicht begriff, dass die Wolke rasch
+über die junge Stirn wegglitt und einem deutlichen Ausdruck der Freude
+Raum gab.
+
+'Du lachst, Julian?' schrie die Alte entsetzt.
+
+'Ich denke', sagte dieser bedächtig, als kostete er jedes Wort auf der
+Zunge, 'der Tod für den König ist in allen Fällen ein Glück.'
+
+Diese ritterliche, aber nicht lebenslustige Maxime und der unnatürlich
+glückliche Ton, in welchem der Knabe sie aussprach, beelendete die
+gute Gräfin. Ein halbverschluckter Seufzer bezeugte, dass sie das
+Leiden des Knaben und seine Mühe zu leben wohl verstand. 'Begleite
+Mirabellen, Julian', sagte sie, 'und geht uns voraus, dorthin nach den
+Palmen, nicht zu nahe, denn ich habe mit Fagon zu reden, nicht zu fern,
+damit ich euch hüte.'
+
+'Wie schlank sie schreiten!' flüsterte die Alte hinter den sich
+Entfernenden. 'Adam und Eva! Lache nicht, Fagon! Ob das Mädchen
+Puder und Reifrock trägt, wandeln sie doch im Paradiese, und auch
+unschuldig sind sie, weil eine leidenvolle Jugend auf ihnen liegt und
+sie die reine Liebe empfinden lässt, ohne den Stachel ihrer Jahre.
+Mich beleidigt nicht, was mir sonst missfällt, dass das Mädel ein paar
+Jahre und Zolle'--sie übertrieb--'mehr hat als der Junge. Wenn die
+nicht zusammengehören!
+
+Es ist eine lächerliche Sache mit dem Mädchen, Fagon, und ich sah, wie
+es dich verblüffte, da du von dem schönen Kinde so geschmacklos
+angeredet wurdest. Und doch ist dieser garstige Höcker ganz natürlich
+gewachsen. Meine Schwester, die Vicomtesse, Gott habe sie selig, sie
+war eine Kostbare, eine Précieuse, die sich um ein halbes Jahrhundert
+verspätet hatte, und erzog das Mädchen in Dijon, wo ihr Mann dem
+Parlamente und sie selbst einem poetischen Garten vorsass, mit den
+Umschreibungen und Redensarten des weiland Fräuleins von Scudéry. Es
+gelang ihr, dem armen folgsamen Kinde den Geschmack gründlich zu
+verderben. Ich wette'--und sie wies mit ihrer Krücke auf die zweie,
+welche, aus den sich einander zärtlich, aber bescheiden zuneigenden
+Gestalten zu schliessen, einen seligen Augenblick genossen--, 'jetzt
+plaudert sie ganz harmlos mit dem Knaben, denn sie hat eine einfache
+Seele und ein keusches Gemüt. Die Luft, die sie aushaucht, ist reiner
+als die, welche sie einatmet. Aber geht sie dann morgen mit mir in
+Gesellschaft und kommt neben ein grosses Tier, einen Erzbischof oder
+Herzog, zu sitzen, wird sie von einer tödlichen Furcht befallen, für
+albern oder nichtig zu gelten, und behängt ihre blanke Natur aus
+reiner Angst mit dem Lumpen einer geflickten Phrase. So wird die
+Liebliche unter uns, die wir klar und kurz reden, gerade zu dem, was
+sie fürchtet, zu einer lächerlichen Figur. Ist das ein Jammer, und
+werde ich Mühe haben, das Kind zurecht zu bringen! Und der Julian,
+der dumme Kerl, der sie noch darin bestärkt!
+
+Uff!' keuchte die Gräfin, die das Gehen an der Krücke ermüdete, und
+liess sich schwer auf die Steinbank nieder in dem Rondell von Myrten
+und Lorbeeren, wo, Sire, Eure Büste steht.
+
+'Von dem Knaben zu reden, Fagon', begann sie wieder, 'den musst du mir
+ohne Verzug von der Schulbank losmachen. Es war empörend, ich sage
+dir, empörend, Fagon, ihn unter den jungen sitzen zu sehen. Der
+Marschall, dieser schreckliche Pedant, würde ihn bei den Jesuiten
+verschimmeln lassen! Nur damit er seine Klassen beendige! Bei den
+Jesuiten, Fagon! Ich habe dem Père Amiel auf den Zahn gefühlt. Ich
+kitzelte ihn mit seiner Mimik. Er ist ein eitler Esel, aber er hat
+Gemüt. Er beklagte den Julian und liess dabei einfliessen, sehr
+behutsam, doch deutlich genug: der Knabe wäre bei den Vätern schlecht
+aufgehoben. Diese seien die besten Leute von der Welt, nur etwas
+empfindlich, und man dürfe sie nicht reizen. Der Marschall sei ihnen
+auf die Füsse getreten: der neue Studienpräfekt aber lasse mit der
+Ehre des Ordens nicht spassen und gebe dem Kinde die Schuld des Vaters
+zu kosten. Dann erschrak er über seine Aufrichtigkeit, blickte um
+sich und legte den Finger auf den Mund.
+
+Ich nahm die Knaben mit: den Guntram, unsern Julian, der mit ihm
+irgendein Geheimnis hatte, und noch einen dritten Freund, den Victor
+Argenson, diesen zu meiner eigenen Ergötzung, denn er ist voller
+Mutwille und Gelächter.
+
+An jenem Abend trieb er es zu toll. Er und Guntram quälten Mirabellen,
+die ich schon zu Mittag für eine ellenlange Phrase gezankt hatte, bis
+aufs Blut. 'Schön ausgedrückt, Fräulein Mirobolante', spotteten sie,
+'aber noch immer nicht schön genug! Noch eine Note höher!' und so
+fort. Julian verteidigte das Mädchen, so gut er konnte, und vermehrte
+nur das Gelächter. Plötzlich brach die Misshandelte in strömende
+Tränen aus, und ich trieb die Rangen in den grossen Saal, wo ich mit
+ihnen ein Ballspiel begann. Nach einer Weile Julian und Mirabellen
+suchend, fand ich sie im Garten, wo sie auf einer stillen Bank
+zusammensassen: Amor und Psyche. Sie erröteten, da ich sie
+überraschte, nicht allzusehr.
+
+Merke dir's, Fagon, der Julian ist jetzt mein Adoptivkind, und wenn du
+ihn nicht von den Vätern befreiest und ihm ein mögliches Leben
+verschaffst, meiner Treu! dann stelze ich an dieser Krücke nach
+Versailles und bringe trotz meiner Runzeln die Sache an den hier!',
+und sie wies auf deine lorbeerbekränzte Büste, Majestät.
+
+Die Alte plauderte mir noch hundert Dinge vor, während ich beschloss,
+sobald sie sich verabschiedet hätte, mit dem Knaben ein gründliches
+Wort zu reden.
+
+Er und das Mädchen erschienen dann wieder, still strahlend. Der Wagen
+der Gräfin wurde gemeldet, und Julian begleitete die Frauen an die
+Pforte, während ich meine Lieblingsbank vor der Orangerie aufsuchte.
+Ich labte mich an dem feinen Dufte. Mouton, einen lästerlichen
+Knaster dampfend und die Hände in den Taschen, schlenderte ohne Gruss
+an mir vorüber. Er pflegte seine Abende ausserhalb des Gartens in
+einer Schenke zu beschliessen. Mouton der Pudel dagegen empfahl sich
+mir heftig wedelnd. Ich bin gewiss, das kluge Tier erriet, dass ich
+seinen Meister gern dem Untergang entrissen hätte, denn Mouton der
+Mensch soff gebranntes Wasser, was zu berichten ich vergessen oder vor
+der Majestät mich geschämt habe.
+
+Der Knabe kam zurück, weich und glücklich. 'Lass mich einmal sehen,
+was du zeichnest und malst', sagte ich. 'Es liegt ja wohl alles auf
+der Kammer Moutons.' Er willfahrte und brachte mir eine volle Mappe.
+Ich besah Blatt um Blatt. Seltsamer Anblick, diese Mischung zweier
+ungleichen Hände: Moutons freche Würfe von der bescheidenen Hand des
+Knaben nachgestammelt und--leise geadelt! Lange hielt ich einen
+blauen Bogen, worauf Julian einige von Mouton in verschiedenen
+Flügelstellungen mit Hilfe der Lupe gezeichnete Bienen unglaublich
+sorgfältig wiedergegeben. Offenbar hatte der Knabe die Gestalt des
+Tierchens liebgewonnen. Wer mir gesagt hätte, dass die Zeichnung
+eines Bienchens den Knaben töten würde!
+
+Zuunterst in der Mappe lag noch ein unförmlicher Fetzen, worauf Mouton
+etwas gesudelt hatte, was meine Neugierde fesselte. 'Das ist nicht
+von mir, sagte Julian, 'es hat sich angehängt.' Ich studierte das
+Blatt, welches die wunderliche Parodie einer ovidischen Szene enthielt:
+jener, wo Pentheus rennt, von den Mänaden gejagt, und Bacchus, der
+grausame Gott, um den Flüchtenden zu verderben, ein senkrechtes
+Gebirge vor ihm in die Höhe wachsen lässt. Wahrscheinlich hatte
+Mouton den Knaben, der zuweilen seinen Aufgaben in der Malkammer oblag,
+die Verse Ovids mühselig genug übersetzen hören und daraus seinen
+Stoff geschöpft. Ein Jüngling, unverkennbar Julian in allen seinen
+Körperformen, welche Moutons Malerauge leichtlich besser kannte als
+der Knabe selbst, ein schlanker Renner, floh, den Kopf mit einem
+Ausdrucke tödlicher Angst nach ein paar ihm nachjagenden Gespenstern
+umgewendet. Keine Bacchantinnen, Weiber ohne Alter, verkörperte
+Vorstellungen, Ängstigungen, folternde Gedanken--eines dieser
+Scheusale trug einen langen Jesuitenhut auf dem geschorenen Schädel
+und einen Folianten in der Hand--und erst die Felswand, wüst und
+unerklimmbar, die vor dem Blicke zu wachsen schien, wie ein finsteres
+Schicksal!
+
+Ich sah den Knaben an. Dieser betrachtete das Blatt ohne Widerwillen,
+ohne eine Ahnung seiner möglichen Bedeutung. Auch Mouton mochte sich
+nicht klargemacht haben, welches schlimme Omen er in genialer
+Dumpfheit auf das Blatt hingeträumt hatte. Ich steckte dasselbe
+unwillkürlich, um es zu verbergen, in die Mitte der Blätterschicht,
+bevor ich diese in die Mappe schob.
+
+'Julian', begann ich freundlich, 'ich beklage mich bei dir, dass du
+mir Mouton vorgezogen hast, ihn zu deinem Vertrauten machend, während
+du dich gegen mein Wohlwollen, das du kennst, in ein unbegreifliches
+Schweigen verschlossest. Fürchtest du dich, mir dein Unglück zu sagen,
+weil ich imstande bin, dasselbe klar zu begrenzen und richtig zu
+beurteilen, und du vorziehst, in hoffnungslosem Brüten dich zu
+verzehren? Das ist nicht mutig.'
+
+Julian verzog schmerzlich die Brauen. Aber noch einmal spielte ein
+Strahl der heute genossenen Seligkeit über sein Antlitz. 'Herr Fagon',
+sagte er halb lächelnd, 'eigentlich habe ich meinen Gram nur dem
+Pudel Mouton erzählt.'
+
+Dieses artige Wort, welches ich ihm nicht zugetraut hätte, überraschte
+mich. Der Knabe deutete meine erstaune Miene falsch. Er glaubte sich
+missredet zu haben. 'Fraget mich, Herr Fagon', sagte er, 'ich
+antworte Euch die Wahrheit.'
+
+'Du hast Mühe zu leben?'
+
+'Ja, Herr Fagon.'
+
+'Man hält dich für beschränkt, und du bist es auch, doch vielleicht
+anders, als die Leute meinen.' Das harte Wort war gesprochen.
+
+Der Knabe versenkte den Blondkopf in die Hände und brach in
+schweigende Tränen aus, welche ich erst bemerkte, da sie zwischen
+seinen Fingern rannen. Nun war der Bann gebrochen.
+
+'Ich will Euch meine Kümmernis erzählen, Herr Fagon', schluchzte er,
+das Antlitz erhebend.
+
+'Tue das, mein Kind, und sei gewiss, dass ich dich jetzt, da wir
+Freunde sind, verteidigen werde wie mich selbst. Niemand wird dir
+künftig etwas anhaben, weder du noch ein anderer! Du wirst dich
+wieder an Luft und Sonne freuen und dein Tagewerk ohne Grauen beginnen.'
+
+Der Knabe glaubte an mich und fasste mit hoffenden Augen Vertrauen.
+Dann begann er sein Leid zu erzählen, halb schon wie ein vergangenes:
+'Einen schlimmen Tag habe ich gelebt, und die übrigen waren nicht viel
+besser. Es war an einem Herbsttage, dass ich mit Guntram zu seinem
+Ohm, dem Comtur, nach Compiègne fuhr. Wir wollten uns dort im
+Schiessen üben, für uns beide ein neues Vergnügen und eine Probe
+unserer Augen.
+
+Wir hatten ein leichtes Zweigespann, und Guntram unterhielt mich in
+einer Staubwolke von seiner Zukunft. Diese könne nur eine
+militärische sein. Zu anderem habe er keine Lust. Der Comtur empfing
+uns weitläufig, aber Guntram hielt nicht Ruhe, bis wir auf Distanz vor
+der Scheibe standen. Keinen einzigen Schuss brachte er hinein. Denn
+er ist kurzsichtig wie niemand. Er biss sich in die Lippe und regte
+sich schrecklich auf. Dadurch wurde auch seine Hand unsicher, während
+ich ins Schwarze traf, weil ich sah und zielte. Der Comtur wurde
+abgerufen, und Guntram schickte den Bedienten nach Wein. Er leerte
+einige Gläser, und seine Hand fing an zu zittern. Mit
+hervorquellenden Augen und verzerrtem Gesichte schleuderte er seine
+Pistole auf den Rasen, hob sie dann wieder auf, lud sie, lud auch die
+meinige und verlor sich mit mir in das Dickicht des Parkes.
+
+Auf einer Lichtung hob er die eine und bot mir die andere. 'Ich mache
+ein Ende!' schrie er verzweifelt. Ich bin ein Blinder, und die taugen
+nicht ins Feld, und wenn ich nicht ins Feld tauge, will ich nicht
+leben! Du begleitest mich! Auch du taugst nicht ins Leben, obwohl du
+beneidenswert schiessest, denn du bist der grösste Dummkopf, das
+Gespötte der Welt!' 'Und Gott?' fragte ich. 'Ein hübscher Gott',
+hohnlachte er und zeigte dem Himmel die Faust, 'der mir Kriegslust und
+Blindheit und dir einen Körper ohne Geist gegeben hat!' Wir rangen,
+ich entwaffnete ihn, und er schlug sich in die Büsche.
+
+Seit jenem Tage war ich ein Unglücklicher, denn Guntram hatte
+ausgesprochen, was ich wusste, aber mir selbst verhehlte, so gut es
+gehen wollte. Stets hörte ich das Wort Dummkopf hinter mir flüstern,
+auf der Strasse wie in der Schule, und meine Ohren schärften sich, das
+grausame Wort zu vernehmen. Es mag auch sein, dass meine Mitschüler,
+über welche ich sonst nicht zu klagen habe, wenn sie sich ausser dem
+Bereiche meines Ohres glauben, kürzehalber mich so nennen. Sogar das
+Semmelweib mit den verschmitzten Runzeln, die Lisette, welche vor dem
+Collège ihre Ware vertreibt, sucht mich zu betrügen, oft recht plump,
+und glaubt es zu dürfen, weil sie mich einen Dummen nennen hört. Und
+doch hangt an der Mauer des Collège Gott der Heiland, der in die Welt
+gekommen ist, um Gerechtigkeit gegen alle und Milde gegen die
+Schwachen zu lehren.' Er schwieg und schien nachzudenken.
+
+Dann fuhr er fort: 'Ich will mich nicht besser machen, Herr Fagon, als
+ich bin. Auch ich habe meine bösen Stunden. Bei keinem Spiele würde
+ich Sonne und Schatten ungerecht verteilen, und wie kann Gott bei dem
+irdischen Wettspiel einem einzelnen Bleigewichte anhängen und ihm dann
+zurufen: 'Dort ist das Ziel: lauf mit den andern!' Oft, Herr Fagon,
+habe ich vor dem Einschlafen die Hände gefaltet und den lieben Gott
+brünstig angefleht, er möge, was ich eben mühselig erlernt, während
+des Schlafes in meinem Kopfe wachsen und erstarken lassen, was ja die
+blosse Natur den andern gewährt. Ich wachte auf und hatte alles
+vergessen, und die Sonne erschreckte mich.
+
+'Vielleicht', flüsterte er scheu, 'tue ich dem lieben Gott Unrecht.
+Er hülfe gern, gütig wie er ist, aber er hat wohl nicht immer die
+Macht. Wäre das nicht möglich, Herr Fagon? Wurde es dann allzu arg,
+besuchte mich die Mutter im Traum und sagte mir: 'Halt aus, Julian! Es
+wird noch gut!'
+
+Diese unglaublichen Nativitäten und kindischen Widersprüche zwangen
+mich zu einem Lächeln, welches ein Grinsen sein mochte. Der Knabe
+erschrak über sich selbst und über mich. Dann sagte er, als hätte er
+schon zu lange gesprochen, hastig, nicht ohne einige Bitterkeit, denn
+die Zuversicht hatte ihn im Laufe seiner Erzählung wieder verlassen:
+'Nun weiss jedermann, dass ich dumm bin, selbst der König, und diesem
+hätte ich es so gerne verheimlicht'--Julian mochte auf jenen Marly
+anspielen--, 'einzig meinen Vater ausgenommen, der nicht daran glauben
+will.'
+
+'Mein Sohn', sagte ich und legte die Hand auf seine schlanke Schulter,
+'ich philosophiere nicht mit dir, Willst du mir aber glauben, so trage
+ich dich durch die Wellen. Wie du bist, ich werde dich in den Port
+bringen. Zwar du wirst trotz deines schönen Namens kein Heer und
+keine Flotte führen, aber du wirst auch keine Schlacht leichtsinnig
+verlieren zum Schaden deines Königs und deines Vaterlandes. Dein Name
+wird nicht wie der deines Vaters in unsern Annalen stehen, aber im
+Buche der Gerechten, denn du kennst die erste Seligpreisung, dass das
+Himmelreich den Armen im Geiste gehört.
+
+Merk auf! Der erste Punkt ist: du gehst ins Feld und kämpfst in
+unsern Reihen für den König und das jetzt so schwer bedrohte
+Frankreich. Im Kugelregen wirst du erfahren, ob du leben darfst.
+Dass du bald hineinkommst, dafür sorge ich. Du bleibst oder du kehrst
+heim mit dem Selbstvertrauen eines Braven. Ohne Selbstvertrauen kein
+Mann. Niemand wird dir leicht ins Angesicht spotten. Dann wirst du
+ein einfacher Diener deines Königs und erfüllst deine Pflicht aufs
+strengste, wie es in dir liegt. Du hast Ehre und Treue, und deren
+bedarf die Majestät. Unter denen, die sie umgeben, ist kein Überfluss
+daran. Marstall, Jagd oder Wache, ein Dienst wird sich finden, wie du
+ihn zu verrichten verstehst. Deine Geburt wird dich statt des eigenen
+Verdienstes vor andern begünstigen: das mache dich demütig. Die
+Majestät, wenn sie sich im Rate müde gearbeitet hat, liebt es, ein
+zwangloses Wort an einen Schweigsamen und unbedingt Getreuen zu
+richten. Du bist zu einfach, um dich in eine Intrige zu mischen;
+dafür wird dich keine Intrige zugrunde richten. Man wird, wie die
+Welt ist, hinter deinem Rücken höhnen und spotten, aber du blickst
+nicht um. Du wirst gütig und gerecht sein mit deinen Knechten und
+keinen Tag beendigen ohne eine Wohltat. Im übrigen: verzichte!'
+
+Der Knabe blickte mich mit gläubigen Augen an. 'Das sind Worte des
+Evangeliums', sagte er.
+
+'Verzichtet nicht jedermann', scherzte ich, 'selbst deine Gönnerin,
+Frau von Maintenon, selbst der König auf einen Schmuck oder eine
+Provinz? Habe ich, Fagon, nicht ebenfalls verzichtet, vielleicht
+bitterer als du, wenn auch auf meine eigene Weise? Verwaist, arm, mit
+einem elenden Körper, der sich gerade in deinen Jahren von Tag zu Tag
+verwuchs und verbog, habe ich nicht eine strenge Muse gewählt, die
+Wissenschaft? Glaubst du, ich hatte kein Herz, keine Sinne? Ein
+zärtliches Herzchen, Julian!--und entsagte ein für allemal dem
+grössten Reiz des Daseins, der Liebe, welche deinem schlanken Wuchse
+und deinem leeren Blondkopf nur so angeworfen wird!'"
+
+Fagon trug, was ihn vielleicht in seiner Jugend schwer bedrängt hatte,
+mit einem so komischen Pathos vor, dass es den König belustigte und
+der Marquise schmeichelte.
+
+"Ich begleitete Julian bis an die Pforte und zog ihn mit Mirabellen
+auf. 'Ihr habt rasch gemacht', sagte ich, 'Es ist so gekommen',
+antwortete er unbefangen. 'Man hat sie mit dem Geiste gequält, sie
+weinte, und da fasste ich ein Vertrauen. Auch gleicht sie meiner
+Mutter.'
+
+Eine Arie aus irgendeiner verschollenen Oper meiner Jugendzeit
+trällernd, die einzige, deren ich mächtig bin, kehrte ich zu meiner
+Bank vor der Orangerie zurück. 'Er muss gleich ins Feld', sagte ich
+mir. Wenig fehlte, ich schlug ihm vor: ohne weiteres eines meiner
+Rosse zu satteln und stracks an die Grenze zum Heere zu jagen; aber
+dieser kühne Ungehorsam hätte den Knaben nicht gekleidet. Überdies
+wusste man, dass der Marschall für einmal nur die Grenzen sicherte und
+die Festungen in Flandern instand setzte, um vor einer entscheidenden
+Schlacht nach Versailles zurückzukehren und die endgültigen Befehle
+deiner Majestät zu empfangen. Dann wollte ich ihn fassen.
+
+Als ich, die liegengebliebene Mappe noch einmal öffnend, den Inhalt
+zurechtschüttelte, da, siehe! lag der Pentheus mit der grausigen
+Felswand obenauf, den ich geschworen hätte in die Mitte der Blätter
+geschoben zu haben...
+
+Wenig später begab es sich, dass Mouton der Pudel, in dem Gedränge der
+Rue Saint-Honoré seinen Herrn suchend, verkarrt wurde. Er schläft in
+deinem Garten, Majestät, wo ihn Mouton der Mensch unter einer Catalpa
+beerdigte und mit seinem Taschenmesser in die Rinde des Baumes schnitt:
+'II Moutons'.
+
+Und wirklich lag er bald neben seinem Pudel. Es war Zeit. Der Trunk
+hatte ihn unterhöhlt, und sein Verstand begann zu schwanken. Ich
+beobachtete ihn mitunter aus meinem Bibliothekfenster, wie er in
+seiner Kammer vor der Staffelei sass und nicht nur vernehmlich mit dem
+Geiste seines Pudels plauderte, sondern auch mit hündischer Miene
+gähnte oder schnellen Maules nach Fliegen schnappte, ganz in der Art
+seines abgeschiedenen Freundes. Eine Wassersucht zog ihn danieder.
+Es ging rasch, und als ich eines Tages an sein Lager trat, in der Hand
+einen Löffel voll Medizin, drehte er seinem Wohltäter mit einem
+unaussprechlichen Worte den Rücken, kehrte das Gesicht gegen die Wand
+und war fertig.
+
+Es begab sich ferner, dass der Marschall aus dem Felde nach Versailles
+zurückkehrte. Da sein Aufenthalt kein langer sein konnte, ergriff ich
+den Augenblick. Ich war entschlossen, Julian an der Hand, vor ihn zu
+treten und ihm die ganze Wahrheit zu sagen.
+
+Ich fuhr bei den Jesuiten vor. In der Nähe der Hauptpforte hielt das
+von den Dienern kaum gebändigte feurige Viergespann des Marschalls,
+Julian erwartend, um den Knaben rasch nach Versailles zu bringen. Das
+Tor des Jesuitenhauses öffnete sich, und Julian wankte heraus, in
+welchem Zustande! Das Haupt vorfallend, den Rücken gebrochen, die
+Gestalt geknickt, auf unsichern Füssen, den Blick erloschen, während
+die Augen Victor Argensons, welcher den Freund führte, loderten wie
+Fackeln. Die verblüfften Diener in ihren reichen Livreen beeiferten
+sich, ihren jungen Herrn rasch und behutsam in den Wagen zu heben.
+Ich sprang aus dem meinigen, den Knaben von einer tückischen Seuche
+ergriffen glaubend.
+
+'Um Gottes willen, Julian', schrie ich, 'was ist mit dir?' Keine
+Antwort. Der Knabe starrte mich mit abwesendem Geiste an. Ich weiss
+nicht, ob er mich kannte. Ich begriff, dass der sonst schon
+Verschlossene jetzt nicht reden werde, und da überdies der
+Stallmeister drängte: 'Hinein, Herr, oder zurück!', denn die
+ungeduldigen Rosse bäumten sich, so liess ich das Kind fahren, mir
+versprechend, ihm bald nach Versailles zu folgen. Schon hatte sich um
+die aufregende Szene vor dem Jesuitenhause ein Zusammenlauf gebildet,
+dessen Neugierde ich zu entrinnen wünschte, und Victor erblickend,
+welcher mit leidenschaftlicher Gebärde dem im Sturm davongetragenen
+Gespielen nachrief. 'Mut, Julian! Ich werde dich rächen!', stiess
+ich den Knaben vor mich in meinen Wagen und stieg ihm nach. 'Wohin,
+Herr?' fragte mein Kutscher. Bevor ich antwortete, schrie das
+geistesgegenwärtige Kind: 'Ins Kloster Faubourg Saint-Antoine!'
+
+In dem genannten Kloster hat sich, wie Ihr wisset, Sire, Euer Ideal
+von Polizeiminister einen stillen Winkel eingerichtet, wo er nicht
+überlaufen wird und heimlich für die öffentliche Sicherheit von Paris
+sorgen kann. 'Victor', fragte ich durch das Geräusch der Räder, 'was
+ist? was hat sich begeben?'
+
+'Ein riesiges Unrecht!' wütete der Knabe. 'Père Tellier, der Wolf,
+hat Julian mit Riemen gezüchtigt, und er ist unschuldig! Ich bin der
+Anstifter! Ich bin der Täter! Aber ich will dem Julian Gerechtigkeit
+verschaffen, ich fordere den Pater auf Pistolen!' Diese Absurdität,
+mit dem Geständnisse Victors, das Unglück verschuldet zu haben,
+brachte mich dergestalt auf, dass ich ihm ohne weiteres eine salzige
+Ohrfeige zog. 'Sehr gut!' sagte er. 'Kutscher, du schleichst wie
+eine Schnecke!' Er steckte ihm sein volles Beutelchen zu. 'Rasch!
+peitsche! jage! Herr Fagon, seid gewiss, der Vater wird dem Julian
+Gerechtigkeit verschaffen! Oh, er kennt die Jesuiten, diese Schurken,
+diese Schufte, und ihre schmutzige Wäsche! Ihn aber fürchten sie wie
+den Teufel!' Ich hielt es für unnötig, das rasende Kind weiter zu
+fragen, da er ja seine Beichte vor dem Vater ablegen würde und die
+fliegenden Rosse schon das schlechte Pflaster der Vorstadt mit ihren
+Hufen schlugen, dass die Funken spritzten. Wir waren angelangt und
+wurden sogleich vorgelassen.
+
+Argenson blätterte in einem Aktenstoss. 'Wir überfallen, Argenson!'
+entschuldigte ich.
+
+'Nicht, nicht, Fagon', antwortete er mir die Hand schüttelnd und
+rückte mir einen Stuhl. 'Was ist denn mit dem Jungen? Er glüht ja
+wie ein Ofen,' 'Vater--' 'Halt das Maul! Herr Fagon redet.'
+
+'Argenson', begann ich, 'ein schwerer Unfall, vielleicht ein grosses
+Unglück hat sich zugetragen. Julian Boufflers'--ich blickte den
+Minister fragend an--"Weiss von dem armen Knaben", sagte er--'wurde
+bei den Jesuiten geschlagen, und der Knabe fuhr nach Versailles in
+einem Zustande, der, wenn ich richtig sah, der Anfang einer
+gefährlichen Krankheit ist. Victor kennt den Hergang.'
+
+'Erzähle!' gebot der Vater. 'Klar, ruhig, umständlich. Auch der
+kleinste Punkt ist wichtig. Und lüge nicht!'
+
+'Lügen?' rief der empörte Knabe, 'werde ich da lügen, wo nur die
+Wahrheit hilft? Diese Schufte, die Jesuiten--'
+
+'Die Tatsachen!' befahl der Minister mit einer Rhadamanthusmiene.
+Victor nahm sich zusammen und erzählte mit erstaunlicher Klarheit.
+
+'Es war vor der Rhetorik des Père Amiel, und wir steckten die Köpfe
+zusammen, welchen Possen wir dem Nasigen spielen würden. 'Etwas Neues!
+' rief man von allen Seiten, 'etwas noch nicht Dagewesenes! eine
+Erfindung!' Da fiel uns ein--'
+
+'Da fiel mir ein', verbesserte der Vater.
+
+'--Mir ein, Julian, der so hübsch zeichnet, zu bitten, uns etwas mit
+der Kreide an die schwarze Tafel zu malen. Ich legte ihm, der auf
+seiner Bank über den Büchern sass, eine Lektion einlernend--er lernt
+so unglaublich schwer--, den Arm um den Hals. Zeichne uns etwas!'
+schmeichelte ich. 'Ein Rhinoceros!' Er schüttelte den Kopf. 'Ich
+merke', sagte er, 'ihr wollt damit nur den guten Pater ärgern, und da
+tue ich nicht mit. Es ist eine Grausamkeit. Ich zeichne euch keine
+Nase!'
+
+'Aber einen Schnabel, eine Schleiereule, du machst die Eulen so
+komisch!'
+
+'Auch keinen Schnabel, Victor.'
+
+Da sann ich ein wenig und hatte einen Einfall.' Der Minister runzelte
+seine pechschwarze Braue. Victor fuhr mit dem Mute der Verzweiflung
+fort: ''Zeichne uns ein Bienchen, Julian', sagte ich, du kannst das so
+allerliebst!' 'Warum nicht?' antwortete er dienstfertig und zeichnete
+mit sorgfältigen Zügen ein nettes Bienchen auf die Tafel.
+
+'Schreibe etwas bei!'
+
+'Nun ja, wenn du willst', sagte er und schrieb mit der Kreide:
+'abeille.'
+
+'Ach, du hast doch gar keine Einbildungskraft, Julian! Das lautet
+trocken.'
+
+'Wie soll ich denn schreiben, Victor?'
+
+'Wenigstens das Honigtierchen, bête à miel.''
+
+Der Minister begriff sofort das alberne Wortspiel: bête à miel und
+bête Amiel. 'Da hast du etwas dafür!' rief er empört und gab dem
+Erfinder des Calembourgs eine Ohrfeige, gegen welche die meinige eine
+Liebkosung gewesen war.
+
+'Sehr gut!' sagte der Knabe, dem das Ohr blutete.
+
+'Weiter! und mach es kurz!' befahl der Vater, 'damit du mir aus den
+Augen kommst!'
+
+'--In diesem Augenblick trat Père Amiel ein, schritt auf und nieder,
+beschnüffelte die Tafel, verstand und tat dergleichen, der Schäker,
+als ob er nicht verstünde. Aber: 'Bête Amiel! dummer Amiel!'scholl es
+erst vereinzelt, dann aus mehreren Bänken, dann vollstimmig, 'bête
+Amiel! dummer Amiel!'
+
+Da--Schrecken--wurde die Tür aufgerissen. Es war der reissende Wolf,
+der Père Tellier. Er hatte durch die Korridore spioniert und zeigte
+jetzt seine teuflische Fratze.
+
+'Wer hat das gezeichnet?'
+
+'Ich', antwortete Julian fest. Er hatte sich die Ohren verhalten,
+seine Lektion zu studieren fortfahrend, und verstand und begriff, wie
+er ja überhaupt so schwer begreift, nichts von nichts.
+
+'Wer hat das geschrieben?'
+
+'Ich', sagte Julian.
+
+Der Wolf tat einen Sprung gegen ihn, riss den Verblüfften empor,
+presste ihn an sich, ergriff einen Bücherriemen und--' Dem Erzählenden
+versagte das Wort.
+
+'Und du hast geschwiegen, elende Memme?' donnerte der Minister. 'Ich
+verachte dich! Du bist ein Lump!'
+
+'Geschrieen habe ich wie einer, den sie morden', rief der Knabe, ''ich
+war es! ich! ich!' Auch Père Amiel hat sich an den Wolf geklammert,
+die Unschuld Julians beteuernd. Er hörte es wohl, der Wolf! Aber mir
+krümmte er kein Haar, weil ich dein Sohn bin und dich die Jesuiten
+fürchten und achten. Den Marschall aber hassen sie und fürchten ihn
+nicht. Da musste der Julian herhalten. Aber ich will dem Wolf mein
+Messer'--der Knabe langte in die Tasche--'zwischen die Rippen stossen,
+wenn er nicht--'
+
+Der gestrenge Vater ergriff ihn am Kragen, schleppte ihn gegen die
+Türe, öffnete sie, warf ihn hinaus und riegelte. Im nächsten
+Augenblicke schon wurde draussen mit Fäusten gehämmert, und der Knabe
+schrie: 'Ich gehe mit zum Père Tellier! Ich trete als Zeuge auf und
+sage ihm: 'Du bist ein Ungeheuer!''
+
+'Im Grunde, Fagon', wendete sich der Minister kaltblütig gegen mich,
+ohne sich an das Gepolter zu kehren, 'hat der Junge recht: wir beide
+suchen den Pater auf, ohne Verzug, fallen ihn mit der nackten Wahrheit
+an, breiten sie wie auf ein Tuch vor ihm aus und nötigen ihn, mit uns
+zu Julian zu gehen, heute noch, sogleich, und in unsrer Gegenwart dem
+Misshandelten Abbitte zu tun.' Er blickte nach einer Stockuhr. 'Halb
+zwölf. Père Tellier hält seine Bauerzeiten fest. Er speist Punkt
+Mittag mit Schwarzbrot und Käse. Wir finden ihn.'
+
+Argenson zog mich mit sich fort. Wir stiegen ein und rollten.
+
+'Ich kenne den Knaben', wiederholte der Minister. 'Nur eines ist mir
+in seiner Geschichte unklar. Es ist Tatsache, dass die Väter damit
+anfingen, ihn zu hätscheln und in Baumwolle einzuwickeln. Seine
+Kameraden, auch mein Halunke, haben sich oft darüber aufgehalten. Ich
+begreife, dass die Väter, wie sie beschaffen sind, das Kind hassen,
+seit der Marschall das Missgeschick hatte, sie zu entlarven. Aber
+warum sie, denen der Marschall gleichgültig war, einen Vorteil darin
+fanden, das Kind zuerst über die dem Schwachen gebührende Schonung
+hinaus zu begünstigen, das entgeht mir.'
+
+'Hm', machte ich.
+
+'Und gerade das muss ich wissen, Fagon.'
+
+'Nun denn, Argenson', begann ich mein Bekenntnis--auch dir, Majestät,
+lege ich es ab, denn dich zumeist habe ich beleidigt--, 'da ich Julian
+bei den Vätern um jeden Preis warm betten wollte und ihm keine
+durchschlagende Empfehlung wusste--man plaudert ja zuweilen ein
+bisschen, und so erzählte ich den Vätern Rapin und Bouhours, die ich
+in einer Damengesellschaft fand, Julians Mutter sei dir, dem Könige,
+eine angenehme Erscheinung gewesen. Die reine Wahrheit. Kein Wort
+darüber hinaus, bei meiner Ehre, Argenson!' Dieser verzog das Gesicht.
+
+Du, Majestät, zeigest mir ein finsteres und ungnädiges. Aber, Sire,
+trage ich die Schuld, wenn die Einbildungskraft der Väter Jesuiten das
+Reinste ins Zweideutige umarbeitet?
+
+'Als sie dann', fuhr ich fort, 'den Marschall zu hassen und sich für
+ihn zu interessieren begannen, lauschten und forschten sie nach ihrer
+Weise, erfuhren aber nichts, als dass Julians Mutter das reinste
+Geschöpf der Erde war, bevor sie der Engel wurde, der jetzt über die
+Erde lächelt. Leider kamen die Väter zur Überzeugung ihres Irrtums
+gerade, da das Kind desselben am meisten bedurft hätte.' Argenson
+nickte."
+
+"Fagon", sagte der König fast strenge, "das war deine dritte und
+grösste Freiheit. Spieltest du so leichtsinnig mit meinem Namen und
+dem Rufe eines von dir angebeteten Weibes, hättest du mir wenigstens
+diesen Frevel verschweigen sollen, selbst wenn deine Geschichte
+dadurch unverständlicher geworden wäre. Und sage mir, Fagon: hast du
+da nicht nach dem verrufenen Satze gehandelt, dass der Zweck die
+Mittel heilige? Bist du in den Orden getreten?"
+
+"Wir alle sind es ein bisschen, Majestät", lächelte Fagon und fuhr
+fort: "Mitte Weges begegneten wir dem Père Amiel, der wie ein
+Unglücklicher umherirrte und, meinen Wagen erkennend, sich so
+verzweifelt gebärdete, dass ich halten liess. Am Kutschenschlage
+entwickelte er seine närrische Mimik und war im Augenblicke von einem
+Kreise toll lachender Gassenjungen umgeben. Ich hiess ihn einsteigen.
+
+'Der Mutter Gottes sei gedankt, dass ich Euch finde, Herr Fagon! Dem
+Julian, welchen Ihr beschützet, ist ein Leid geschehen, und unschuldig
+ist er, wie der zerschmetterte kleine Astyanax!' deklamierte der
+Nasige. 'Wenn Ihr, Herr Fagon, den seltsamen Blick gesehen hättet,
+welchen der Knabe gegen seinen Henker erhob, diesen Blick des Grauens
+und der Todesangst!' Père Amiel schöpfte Atem. 'Flöhe ich über Meer,
+mich verfolgte dieser Blick! Begrübe ich mich in einen finstern Turm,
+er dränge durch die Mauer! Verkröche ich mich--'
+
+'Wenn Ihr Euch nur nicht verkriechet, Professor', unterbrach ihn der
+Minister, 'jetzt, da es gilt, dem Père Tellier--denn zu diesem fahren
+wir, und Ihr fahret mit--ins Angesicht Zeugnis abzulegen! Habt Ihr
+den Mut?'
+
+'Gewiss, gewiss!' beteuerte Père Amiel, der aber merklich erblasste
+und in seiner Soutane zu schlottern begann. Père Tellier ist selbst
+in seinem feinen Orden als ein Roher und Gewaltsamer gefürchtet.
+
+Da wir am Professhause ausstiegen, Père Amiel den Vortritt gebend,
+sprang Victor vom Wagenbrett, wo er neben dem Bedienten die Fahrt
+aufrecht mitgemacht hatte. 'Ich gehe mit!' trotzte er. Argenson
+runzelte die Stirn, liess es aber zu, nicht unzufrieden, einen zweiten
+Zeugen mitzubringen.
+
+Père Tellier verleugnete sich nicht. Argenson bedeutete den Pater und
+den Knaben, im Vorzimmer zurückzubleiben. Sie gehorchten, jener
+erleichtert, dieser unmutig. Der Pater Rektor bewohnte eine dürftige,
+ja armselige Kammer, wie er auch eine verbrauchte Soutane trug, Tag
+und Nacht dieselbe. Er empfing uns mit gekrümmtem Rücken und einem
+falschen Lächeln in den ungeschlachten und wilden Zügen. 'Womit diene
+ich meinen Herren?' fragte er süsslich grinsend.
+
+'Hochwürden', antwortete Argenson und wies den gebotenen Stuhl, der
+mit Staub bedeckt war und eine zerbrochene Lehne hatte, zurück, 'ein
+Leben steht auf dem Spiel. Wir müssen eilen, es zu retten. Heute
+wurde der junge Boufflers im Collegium irrtümlich gezüchtigt.
+Irrtümlich. Ein durchtriebener Range hat den beschränkten Knaben
+etwas auf die Tafel zeichnen und schreiben lassen, das sich zu einer
+albernen Verspottung des Père Amiel gestaltete, ohne dass Julian
+Boufflers die leiseste Ahnung hatte, wozu er missbraucht wurde. Es
+ist leicht zu beweisen, dass er der einzige seiner Klasse war, der
+solche Possen tadelte und nach Kräften verhinderte. Hätte er den
+fraglichen Streich in seinem Blondkopfe ersonnen, dann war die
+Züchtigung eine zweifellos verdiente. So aber ist sie eine
+fürchterliche Ungerechtigkeit, die nicht schnell und nicht voll genug
+gesühnt werden kann. Dazu kommt noch etwas unendlich Schweres. Der
+missverständlich Gezüchtigte, ein Kind an Geist, hatte die Seele eines
+Mannes. Man glaubte einen Jungen zu strafen und hat einen Edelmann
+misshandelt.'
+
+'Ei, ei', erstaunte der Pater, 'was Exzellenz nicht alles sagen! Kann
+eine einfache Sache so verdreht werden? Ich gehe durch die Korridore.
+Das ist meine Pflicht. Ich höre Lärm in der Rhetorik. Père Amiel
+ist ein Gelehrter, der den Orden ziert, aber er weiss sich nicht in
+Respekt zu setzen. Unsre Väter lieben es nicht, körperlich zu
+züchtigen, aber das konnte nicht länger gehn, ein Exempel musste
+statuiert werden. Ich trete ein. Eine Sottise steht auf der Tafel.
+Ich untersuche. Boufflers bekennt. Das übrige verstand sich.
+
+Unbegabt? beschränkt? Im Gegenteil, durchtrieben ist er, ein
+Duckmäuser. Stille Wasser sind tief. Was ihm mangelt, ist die
+Aufrichtigkeit, er ist ein Heuchler und Gleisner. Hat's geschmerzt?
+O die zarte Haut! Ein Herrensöhnchen, wie? Tut mir leid, wir Väter
+Jesu kennen kein Ansehn der Person. Auch hat uns der Marschall selbst
+gebeten, sein Kind nicht zu verziehn. Ich war älter als jener, da ich
+meine letzten und besten Streiche erhielt, im Seminar, vierzig weniger
+einen wie Sankt Paulus, der auch ein Edelmann war. Bin ich
+draufgegangen? Ich rieb mir die Stelle, mit Züchten geredet, und mir
+war wohler als zuvor. Und ich war unschuldig, von der Unschuld dieses
+Verstockten aber überzeugt mich niemand!'
+
+'Vielleicht doch, Hochwürden!' sagte Argenson und rief die zwei
+Harrenden herein.
+
+'Victor', bleckte der Jesuit den eintretenden Knaben an, 'du hast es
+nicht getan! Für dich stehe ich. Du bist ein gutartiges Kind. Ein
+Dummkopf wärest du, dich für schuldig zu erklären, den niemand anklagt.'
+
+Victor, der in trotzigster Haltung nahte, schaute dem Unhold tapfer
+ins Gesicht, aber der Mut sank ihm. Sein Herz erbebte vor der
+wachsenden Wildheit dieser Züge und den funkelnden Wolfsaugen.
+
+Er machte rasch. 'Ich habe den Julian verleitet, der nichts davon
+verstand', sagte er. 'Das schrie ich Euch in die Ohren, aber Ihr
+wolltet nicht hören, weil Ihr ein Bösewicht seid!'
+
+'Genug!' befahl Argenson und wies ihm die Türe. Er ging nicht ungern.
+Er begann sich zu fürchten.
+
+'Père Amiel', wandte sich der Minister gegen diesen, 'Hand aufs Herz,
+konnte Julian das Wortspiel erfinden?'
+
+Der Pater zauderte, mit einem bangen Blick auf den Rektor. 'Mut,
+Pater', flüsterte ich, 'Ihr seid ein Ehrenmann!'
+
+'Unmöglich, Exzellenz, wenn nicht Achill eine Memme und Thersites ein
+Held war!' beteuerte Père Amiel, sich mit seiner Rhetorik ermutigend.
+'Julian ist schuldlos wie der Heiland.'
+
+Das erdfarbene Gesicht des Rektors verzerrte sich vor Wut. Er war
+gewohnt, im Collegium blinden Gehorsam zu finden, und ertrug nicht den
+geringsten Widerspruch.
+
+'Wollt Ihr kritisieren, Bruder?' schäumte er.
+
+'Kritisiert zuerst Euer tolles Fratzenspiel, das Euch dem Dümmsten zum
+Spotte macht! Ich habe den Knaben gerecht behandelt!'
+
+Diese Herabwürdigung seiner Mimik brachte den Pater gänzlich ausser
+sich und liess ihn für einen Augenblick alle Furcht vergessen.
+'Gerecht?' jammerte er. 'Dass Gott erbarm'! Wie oft hab' ich Euch
+gebeten, dem Unvermögen des Knaben Rechnung zu tragen und ihn nicht zu
+zerstören! Wer antwortete mir: Meinethalben gehe er drauf!', wer hat
+das gesprochen?'
+
+'Mentiris impudenter!' heulte der Wolf.
+
+'Mentiris impudentissime, pater reverende!' überschrie ihn der Nasige,
+an allen Gliedern zitternd.
+
+'Mir aus den Augen!' herrschte der Rektor, mit dem Finger nach der
+Türe weisend, und der kleine Pater rettete sich, so geschwind er
+konnte.
+
+Da wir wieder zu dreien waren: 'Hochwürden', sprach der Minister ernst,
+'es wurde der Vorwurf gegen Euch erhoben, den Knaben zu hassen. Eine
+schwere Anklage! Widerlegt und beschämt dieselbe, indem Ihr mit uns
+geht und Julian Abbitte tut. Niemand wird dabei zugegen sein als wir
+zwei.' Er deutete auf mich. 'Das genügt. Dieser Herr ist der
+Leibarzt des Königs und um die Gesundheit des Knaben in schwerer Sorge.
+Ihr entfärbet Euch? Lasst es Euch kosten und bedenket: der, dessen
+Namen Ihr traget, gebietet, die Sonne nicht über einem Zorne
+untergehen zu lassen, wieviel weniger über einer Ungerechtigkeit!'
+
+Ein Unrecht bekennen und sühnen! Der Jesuit knirschte vor Ingrimm.
+
+'Was habe ich mit dem Nazarener zu schaffen?' lästerte er, in
+verwundetem Stolze sich aufbäumend, und der Hässliche schien gegen die
+Decke zu wachsen wie ein Dämon. 'Ich bin der Kirche! Nein, des
+Ordens!... Und was habe ich mit dem Knaben zu schaffen? Nicht ihn
+hasse ich, sondern seinen Vater, der uns verleumdet hat! verleumdet!
+schändlich verleumdet!'
+
+'Nicht der Marschall', sagte ich verdutzt, 'sondern mein Laboratorium
+hat die Väter--verleumdet.'
+
+'Fälschung! Fälschung!' tobte der Rektor. 'Jene Briefe wurden nie
+geschrieben! Ein teuflischer Betrüger hat sie untergeschoben!', und
+er warf mir einen mörderischen Blick zu.
+
+Ich war betroffen, ich gestehe es, über diese Macht und Gewalt:
+Tatsachen zu vernichten, Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit zu
+verwandeln.
+
+Père Tellier rieb sich die eiserne Stirn. Dann veränderte er das
+Gesicht und beugte sich vor dem Minister halb kriechend, halb
+spöttisch: 'Exzellenz, ich bin Euer gehorsamer Diener, aber Ihr
+begreift: ich kann die Gesellschaft nicht so tief erniedrigen, einem
+Knaben Abbitte zu leisten.'
+
+Argenson wechselte den Ton nicht minder gewandt. Er stellte sich
+neben Tellier mit einem unmerklichen Lächeln der Verachtung in den
+Mundwinkeln. Der Pater bot das Ohr.
+
+'Seid Ihr gewiss', wisperte der Minister, 'dass Ihr den Sohn des
+Marschalls gegeisselt habt, und nicht das edelste Blut Frankreichs?'
+
+Der Pater zuckte zusammen. 'Es ist nichts daran', wisperte er zurück.
+'Ihr narrt mich, Argenson.'
+
+'Ich habe keine Gewissheit. In solchen Dingen gibt es keine. Aber
+die blosse Möglichkeit würde Euch als--Ihr wisst, was ich meine und
+wozu Ihr vorgeschlagen seid--unmöglich machen.'
+
+Ich glaubte zu sehen, Sire, wie Hochmut und Ehrgeiz sich in den
+düstern Zügen Eures Beichtvaters bekämpften, aber ich konnte den
+Sieger nicht erraten.
+
+'Ich denke, ich gehe mit den Herren', sagte Père Tellier.
+
+'Kommt, Pater!' drängte der Minister und streckte die Hand gegen ihn
+aus.
+
+'Aber ich muss die Soutane wechseln. Ihr seht, diese ist geflickt,
+und ich könnte in Versailles der Majestät begegnen.' Er öffnete ein
+Nebenzimmer.
+
+Argenson blickte ihm über die Schulter und sah in einen niedern
+Verschlag mit einem nackten Schragen und einem wurmstichigen Schreine.
+
+'Mit Vergunst, Herren', lispelte der Jesuit schämig, 'ich habe mich
+noch nie vor weltlichen Augen umgekleidet.'
+
+Argenson fasste ihn an der Soutane. 'Ihr haltet Wort?'
+
+Père Tellier streckte drei schmutzige Finger gegen etwas Heiliges, das
+im Dunkel einer Ecke klebte, entschlüpfte und schloss die Tür bis auf
+eine kleine Spalte, welche Argenson mit der Fussspitze offenhielt.
+
+Wir hörten den Schrank öffnen und schliessen. Zwei stille Minuten
+verstrichen. Argenson stiess die Türe auf. Weg war Père Tellier.
+Hatte er der Einflüsterung Argensons nicht geglaubt und nur die
+Gelegenheit ergriffen, aus unserer Gegenwart zu entrinnen? Oder hatte
+er sie geglaubt, der eine Dämon seines Ordens aber den andern, der
+Stolz den Ehrgeiz überwältigt? Wer blickt in den Abgrund dieser
+finstern Seele?
+
+'Meineidiger!' fluchte der Minister, öffnete den Schrein, erblickte
+eine Treppe und stürzte sich hinab. Ich stolperte und fiel mit meiner
+Krücke nach. Unten standen wir vor den höchlich erstaunten Mienen
+eines vornehmen Novizen mit den feinsten Manieren, welcher auf unsre
+Frage nach dem Pater bescheiden erwiderte, seines Wissens sei derselbe
+vor einer Viertelstunde in Geschäften nach Rouen verreist.
+
+Argenson gab jede Verfolgung auf. 'Eher schleppte ich den Cerberus
+aus der Hölle, als dieses Ungeheuer nach Versailles!... Überdies,
+wo ihn finden in den hundert Schlupfwinkeln der Gesellschaft? Ich
+gehe. Schickt nach frischen Pferden, Fagon, und eilet nach Versailles.
+Erzählt alles der Majestät. Sie wird Julian die Hand geben und zu
+ihm sprechen: 'Der König achtet dich, dir geschah zu viel!' Und der
+Knabe ist ungegeisselt.' Ich gab ihm recht. Das war das Beste, das
+einzig gründlich Heilsame, wenn es nicht zu spät kam."
+
+Fagon betrachtete den König unter seinen buschigen greisen Brauen
+hervor, welchen Eindruck auf diesen die ihm entgegengehaltene Larve
+seines Beichtigers gemacht hätte. Nicht dass er sich schmeichelte,
+Ludwig werde seine Wahl widerrufen. Warnen aber hatte er den König
+wollen vor diesem Feinde der Menschheit, der mit seinen Dämonenflügeln
+das Ende einer glänzenden Regierung verschatten sollte. Allein Fagon
+las in den Zügen des Allerchristlichsten nichts als ein natürliches
+Mitleid mit dem Lose des Sohnes einer Frau, die dem Gebieter flüchtig
+gefallen hatte, und das Behagen an einer Erzählung, deren Wege wie die
+eines Gartens in einen und denselben Mittelpunkt zusammenliefen: der
+König, immer wieder der König!
+
+"Weiter, Fagon", bat die Majestät, und dieser gehorchte, gereizt und
+in verschärfter Laune.
+
+"Da die Pferde vor einer Viertelstunde nicht anlangen konnten, trat
+ich bei einem dem Professhause gegenüber wohnenden Bader, meinem
+Klienten, ein und bestellte ein laues Bad, denn ich war angegriffen.
+Während das Wasser meine Lebensgeister erfrischte, machte ich mir die
+herbsten Vorwürfe, den mir anvertrauten Knaben vernachlässigt und
+seine Befreiung verschoben zu haben. Nach einer Weile störte mich
+durch die dünne Wand ein unmässiges Geplauder. Zwei Mädchen aus dem
+untern Bürgerstande badeten nebenan. 'Ich bin so unglücklich!'
+schwatzte die eine und kramte ein dummes Liebesgeschichtchen aus, 'so
+unglücklich!' Eine Minute später kicherten sie zusammen. Während ich
+meine Lässigkeit verklagte und eine zentnerschwere Last auf dem
+Gewissen trug, schäkerten und bespritzten sich neben mir zwei
+leichtfertige Nymphen.
+
+In Versailles--"
+
+König Ludwig wendete sich jetzt gegen Dubois, den Kammerdiener der
+Marquise, der, leise eingetreten, flüsterte: "Die Tafel der Majestät
+ist gedeckt." "Du störst, Dubois", sagte der König, und der alte
+Diener zog sich zurück mit einem leisen Ausdrucke des Erstaunens in
+den geschulten Mienen, denn der König war die Pünktlichkeit selber.
+
+"In Versailles", wiederholte Fagon, "fand ich den Marschall tafelnd
+mit einigen seiner Standesgenossen. Da war Villars, jeder Zoll ein
+Prahler, ein Heros, wie man behauptet und ich nicht widerspreche, und
+der unverschämteste Bettler, wie du ihn kennst, Majestät; da war
+Villeroy, der Schlachtenverlierer, der nichtigste der Sterblichen, der
+von den Abfällen deiner Gnade lebt, mit seinem unzerstörlichen Dünkel
+und seinen grossartigen Manieren; Grammont mit dem vornehmen Kopfe,
+der mich gestern in deinem Saale, Majestät, und an deinen Spieltischen
+mit gezeichneten Karten betrogen hat, und Lauzun, der unter seiner
+sanften Miene gründlich Verbitterte und Boshafte. Vergib, ich sah
+deine Höflinge verzerrt im grellen Lichte meiner Herzensangst. Auch
+die Gräfin Mimeure war geladen und Mirabelle, die neben Villeroy sass,
+welcher dem armen Kinde mit seinen siebzigjährigen Geckereien angst
+und bange machte.
+
+Julian war von seinem Vater zur Tafel befohlen und bleich wie der Tod.
+Ich sah, wie ihn der Frost schüttelte, und betrachtete unverwandt das
+Opfer mit heiliger Scheu.
+
+Das Gespräch--gibt es beschleunigende Dämonen, die den Steigenden
+stürmisch emporheben und den Gleitenden mit grausamen Füssen in die
+Tiefe stossen?--das Gespräch wurde über die Disziplinarstrafen im
+Heere geführt. Man war verschiedener Meinung. Es wurde gestritten,
+ob überhaupt körperlich gezüchtigt werden solle, und wenn ja, mit
+welchem Gegenstande, mit Stock, Riemen oder flacher Klinge. Der
+Marschall, menschlich wie er ist, entschied sich gegen jede
+körperliche Strafe, ausser bei unbedingt entehrenden Vergehen, und
+Grammont, der falsche Spieler, stimmte ihm bei, da die Ehre, wie
+Boileau sage, eine Insel mit schroffen Borden sei, welche, einmal
+verlassen, nicht mehr erklommen werden könne. Villars gebärdete sich,
+wenn ich es sagen soll, wie ein Halbnarr und erzählte, einer seiner
+Grenadiere habe, wahrscheinlich ungerechterweise gezüchtigt, sich mit
+einem Schusse entleibt, und er--Marschall Villars--habe in den
+Tagesbefehl gesetzt: Lafleur hätte Ehre besessen auf seine Weise. Das
+Gespräch kreuzte sich. Der Knabe folgte ihm mit irren Augen.
+'Schläge', 'Ehre', 'Ehre', 'Streiche' scholl es hin- und herüber. Ich
+flüsterte dem Marschall ins Ohr: 'Julian ist leidend, er soll zu Bette.'
+'Julian darf sich nicht verwöhnen', erwiderte er. 'Der Knabe wird
+sich zusammennehmen. Auch wird die Tafel gleich aufgehoben.' Jetzt
+wendete sich der galante Villeroy gegen seine schüchterne Nachbarin.
+'Gnädiges Fräulein', näselte er und spreizte sich, 'Sprecht, und wir
+werden ein Orakel vernehmen!' Mirabelle, schon auf Kohlen sitzend,
+überdies geängstigt durch das entsetzliche Aussehen Julians, verfiel
+natürlich in ihre Gewöhnung und antwortete: 'Körperliche Gewalttat
+erträgt kein Untertan des stolzesten der Könige: ein so Gebrandmarkter
+lebt nicht länger!' Villeroy klatschte Beifall und küsste ihr den
+Nagel des kleinen Fingers. Ich erhob mich, fasste Julian und riss ihn
+weg. Dieser Aufbruch blieb fast unbemerkt. Der Marschall mag
+denselben bei seinen Gästen entschuldigt haben.
+
+Während ich den Knaben entkleidete--er selbst kam nicht mehr damit
+zustande--, sagte er: 'Herr Fagon, mir ist wunderlich zumute. Meine
+Sinne verwirren sich. Ich sehe Gestalten. Ich bin wohl krank. Wenn
+ich stürbe--' Er lächelte. 'Wisset Ihr, Herr Fagon, was heute bei den
+Jesuiten geschehen ist? Lasset meinen Vater nichts davon wissen! nie!
+nie! Es würde ihn töten!' Ich versprach es ihm und hielt Wort,
+obgleich es mich kostete. Noch zur Stunde ahnt der Marschall nichts
+davon.
+
+Den Kopf schon im Kissen, bot mir Julian die glühende Hand. 'Ich
+danke Euch, Herr Fagon... für alles... Ich bin nicht undankbar wie
+Mouton.'
+
+Deine Majestät zu bemühen, war jetzt überflüssig. In der nächsten
+Viertelstunde schon redete Julian irre. Prozess und Urteil lagen in
+den Händen der Natur. Die Fieber wurden heftig, der Puls jagte. Ich
+liess mir ein Feldbett in der geräumigen Kammer aufschlagen und blieb
+auf dem Posten. In das anstossende Zimmer hatte der Marschall seine
+Mappen und Karten tragen lassen. Er verliess seinen Arbeitstisch
+stündlich, um nach dem Knaben zu sehen, welcher ihn nicht erkannte,
+Ich warf ihm feindselige Blicke zu. 'Fagon, was hast du gegen mich?'
+fragte er. Ich mochte ihm nur nicht antworten.
+
+Der Knabe phantasierte viel, aber im Bereiche seines lodernden Blickes
+schwebten nur freundliche und aus dem Leben entschwundene Gestalten.
+Mouton erschien, und auch Mouton der Pudel sprang auf das Bette. Am
+dritten Tage sass die Mutter neben Julian.
+
+Drei Besuche hat er erhalten. Victor kratzte an die Türe und brach,
+von mir eingelassen, in ein so erschütterndes Wehgeschrei aus, dass
+ich ihn wegschaffen musste. Dann klopfte der Finger Mirabellens. Sie
+trat an das Lager Julians, der eben in einem unruhigen Halbschlummer
+lag, und betrachtete ihn. Sie weinte wenig, sondern drückte ihm einen
+brünstigen Kuss auf den dürren Mund. Julian fühlte weder den Freund
+noch die Geliebte.
+
+Unversehens meldete sich auch Père Amiel, den ich nicht abwies. Da
+ihn der Kranke mit fremden Augen anstarrte, sprang er possierlich vor
+dem Bette herum und rief. 'Kennst du mich nicht mehr, Julian, deinen
+Père Amiel, den kleinen Amiel, den Nasen-Amiel? Sage mir nur mit
+einem Wörtchen, dass du mich lieb hast' Der Knabe blieb gleichgültig.
+Gibt es elysische Gefilde, denke ich dort den Père zu finden, ohne
+langen Hut, mit proportionierter Nase, und Hand in Hand mit ihm einen
+Gang durch die himmlischen Gärten zu tun.
+
+Am vierten Abende ging der Puls rasend. Ein Gehirnschlag konnte jeden
+Augenblick eintreten. Ich trat hinüber zum Marschall.
+
+'Wie steht es?'
+
+'Schlecht.'
+
+'Wird Julian leben?'
+
+'Nein. Sein Gehirn ist erschöpft. Der Knabe hat sich überarbeitet.'
+
+'Das wundert mich', sagte der Marschall, 'ich wusste das nicht.' In
+der Tat, ich glaube, dass er es nicht wusste. Meine Langmut war zu
+Ende. Ich sagte ihm schonungslos die Wahrheit und warf ihm vor, sein
+Kind vernachlässigt und zu dessen Tode geholfen zu haben. Das
+Golgatha bei den Jesuiten verschwieg ich. Der Marschall hörte mich
+schweigend an, den Kopf nach seiner Art etwas auf die rechte Seite
+geneigt. Seine Wimper zuckte, und ich sah eine Träne. Endlich
+erkannte er sein Unrecht. Er fasste sich mit der Selbstbeherrschung
+des Kriegers und trat in das Krankenzimmer.
+
+Der Vater setzte sich neben seinen Knaben, der jetzt unter dem Druck
+entsetzlicher Träume lag. 'Ich will ihm wenigstens', murmelte der
+Marschall, 'das Sterben erleichtern, was an mir liegt. Julian!'
+sprach er in seiner bestimmten Art. Das Kind erkannte ihn.
+
+'Julian, du musst mir schon das Opfer bringen, deine Studien zu
+unterbrechen. Wir gehen miteinander zum Heere ab. Der König hat an
+der Grenze Verluste erlitten, und auch der Jüngste muss jetzt seine
+Pflicht tun.' Diese Rede verdoppelte die Reiselust eines Sterbenden...
+Einkauf von Rossen... Aufbruch... Ankunft im Lager... Eintritt in
+die Schlachtlinie... Das Auge leuchtete, aber die Brust begann zu
+röcheln. 'Die Agonie!' flüsterte ich dem Marschall zu.
+
+'Dort die englische Fahne! Nimm sie!' befahl der Vater. Der
+sterbende Knabe griff in die Luft. 'Vive le roi!' schrie er und sank
+zurück wie von einer Kugel durchbohrt."
+
+Fagon hatte geendet und erhob sich. Die Marquise war gerührt. "Armes
+Kind!" seufzte der König und erhob sich gleichfalls.
+
+"Warum arm", fragte Fagon heiter, "da er hingegangen ist als ein Held?"
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Das Leiden eines Knaben, von
+Conrad Ferdinand Meyer.
+
+
+
+
+
+
+
+
+
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+Project Gutenberg's Das Leiden eines Knaben, by Conrad Ferdinand Meyer
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+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Das Leiden eines Knaben
+
+Author: Conrad Ferdinand Meyer
+
+Release Date: December, 2005 [EBook #9496]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on October 5, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ASCII
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEIDEN EINES KNABEN ***
+
+
+
+
+Produced by Delphine Lettau
+
+
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+Das Leiden eines Knaben
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+Conrad Ferdinand Meyer
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+Der Koenig hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und,
+luftbeduerftig und fuer die Witterung unempfindlich wie er war, ohne
+weiteres in seiner souveraenen Art ein Fenster geoeffnet, durch welches
+die feuchte Herbstluft so fuehlbar eindrang, dass die zarte Frau sich
+froestelnd in ihre drei oder vier Roecke schmiegte.
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+Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine taeglichen Besuche
+bei dem Weibe seines Alters zu verlaengern begonnen, und er erschien
+oft schon zu frueher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spaettafel
+gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben
+seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren
+Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn
+die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft
+wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der
+Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden
+konnte. Die dreiste Muse Molieres, die Zaertlichkeiten und Ohnmachten
+der Lavalliere, die kuehne Haltung und die originellen Witzworte der
+Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun
+gruendlich vorueber, welk wie eine verblasste Tapete. Massvoll und fast
+genuegsam wie er geworden, arbeitsam wie er immer gewesen, war der
+Koenig auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau
+angelangt.
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+Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie
+trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d'Aubigne einen
+lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autoritaet
+zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfraeulein, die sie
+dort erzog, behaglich den Lauf liess, die aber vor dem Gebieter zu
+einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine hoehere Weisheit wurde.
+Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders
+wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Koenigs, die Savoyardin,
+das ergoetzlichste Geschoepf von der Welt, das ueberallhin Leben und
+Gelaechter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden
+Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
+
+Frau von Maintenon, welche unter diesen Umstaenden die Schritte des
+Koenigs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich
+jetzt, da sie dem beschaeftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke
+der ihr gruendlich bekannten koeniglichen Zuege entnahm: Ludwig selbst
+habe etwas zu erzaehlen, und zwar etwas Ergoetzliches.
+
+Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einen Lehnstuhl
+niedergelassen. "Madame", sagte er, "heute mittag hat mir Pere
+Lachaise seinen Nachfolger, den Pere Tellier, gebracht."
+
+Pere de Lachaise war der langjaehrige Beichtiger des Koenigs, welchen
+dieser, trotz der Taubheit und voelligen Gebrechlichkeit des greisen
+Jesuiten, nicht fahrenlassen wollte und sozusagen bis zur
+Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewoehnt, und
+da er--es ist unglaublich zu sagen--aus unbestimmten, aber doch
+vorhandenen Befuerchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden
+glaubte waehlen zu duerfen, zog er diese Ruine eines immerhin
+ehrenwerten Mannes einem juengern und strebsamen Mitgliede der
+Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Pere Lachaise
+wankte sichtlich dem Grabe zu, und Ludwig wollte denn doch nicht an
+seinem geistlichen Vater zum Moerder werden.
+
+"Madame", fuhr der Koenig fort, "mein neuer Beichtiger hat keine
+Schoenheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht, und dann schielt er. Er
+ist eine geradezu abstossende Erscheinung, aber er wird mir als ein
+gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein
+Gewissen uebergeben laesst. Das ist doch wohl die Hauptsache."
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+"Je schlechter die Rinne, desto koestlicher das darin fliessende
+himmlische Wasser", bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die
+Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der
+Majestaet entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament
+in diesem koeniglichen Falle fuer ueberfluessig erklaert hatten. So tat
+sie den frommen Vaetern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie
+dieselben im stillen krallen konnte. Jetzt schwieg sie, und ihre
+dunklen mandelfoermigen, sanft schwermuetigen Augen hingen an dem Munde
+des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
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+Der Koenig kreuzte die Fuesse, und den Demantblitz einer seiner
+Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: "Dieser Fagon! Er
+wird unertraeglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!"
+
+Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Koenigs und der Schuetzling der
+Marquise. Beide lebten sie taeglich in seiner Gesellschaft und hatten
+sich auf den Fall, dass er vor ihnen stuerbe, Asyle gewaehlt, sie
+Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem
+Tode des Gebieters einzuschliessen und zu begraben.
+
+"Fagon ist Euch unendlich anhaenglich", sagte die Marquise.
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+"Gewiss, doch entschieden, er erlaubt sich zu viel", versetzte der
+Koenig mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
+
+"Was gab es denn?"
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+Der Koenig erzaehlte und hatte bald zu Ende erzaehlt. Er habe bei der
+heutigen Audienz seinen neuen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit
+den Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt waeren? Doch der
+demuetige Pere habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn
+eines Bauern in der untern Normandie bekannt. Fagon habe unweit in
+einer Fensterbruestung gestanden, das Kinn auf sein Bambusrohr gestuetzt.
+Von dort, hinter dem gebueckten Ruecken des Jesuiten, habe er unter
+der Stimme, aber vernehmlich genug, hergefluestert: "Du Nichtswuerdiger!"
+"Ich hob den Finger gegen Fagon", sagte der Koenig, "und drohte ihm."
+
+Die Marquise wunderte sich. "Wegen dieser ehrlichen Verneinung hat
+Fagon den Pater nicht schelten koennen, er muss einen andern Grund
+gehabt haben", sagte sie verstaendig.
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+"Immerhin, Madame, war es eine Unschicklichkeit, um nicht mehr zu
+sagen. Der gute le Lachaise, taub wie er endlich doch geworden ist,
+hoerte es freilich nicht, aber mein Ohr hat es deutlich vernommen,
+Silbe um Silbe. 'Niedertraechtiger!' blies Fagon dem Pater zu, und der
+Misshandelte zuckte zusammen."
+
+Die Marquise schloss laechelnd aus dieser Variante, dass Fagon einen
+derbern Ausdruck gebraucht habe. Auch in den Mundwinkeln des Koenigs
+zuckte es. Er hatte sich von jung an zum Gesetze gemacht, wozu er
+uebrigens schon von Natur neigte und was er dann bis an sein Lebensende
+hielt, niemals, auch nicht erzaehlungsweise, ein gemeines oder
+beschimpfendes, kurz ein unkoenigliches Wort in den Mund zu nehmen.
+
+Der hohe Raum war eingedaemmert, und wie der Bediente die traulichen
+zwei Armleuchter auf den Tisch setzte und sich ruecklings schreitend
+verzog, siehe, da wurde ein leise eingetretener Lauscher sichtbar,
+eine wunderliche Erscheinung, eine ehrwuerdige Missgestalt: ein
+schiefer, verwachsener, seltsam verkruemmter kleiner Greis, die
+entfleischten Haende unter dem gestreckten Kinn auf ein langes
+Bambusrohr mit goldenem Knopfe stuetzend, das feine Haupt vorgeneigt,
+ein weisses Antlitz mit geisterhaften blauen Augen. Es war Fagon.
+
+"'Du Lump, du Schuft!' habe ich kurzweg gesagt, Sire, und nur die
+Wahrheit gesprochen", liess sich jetzt seine schwache, vor Erregung
+zitternde Stimme vernehmen. Fagon verneigte sich ehrfuerchtig vor dem
+Koenige, galant gegen die Marquise. "Habe ich einen Geistlichen in
+Eurer Gegenwart, Sire, dergestalt behandelt, so bin ich entweder der
+Niedertracht gegenueber ein aufbrausender Juengling geblieben, oder ein
+wuerdiges Alter berechtigt, die Wahrheit zu sagen. Brachte mich nur
+das Schauspiel auf, welches der Pater gab, da sich der vierschroetige
+und hartknochige Toelpel mit seiner Wolfsschnauze vor Euch, Sire,
+drehte und kruemmte und auf Eure leutselige Frage nach seiner
+Verwandtschaft in duenkelhafter Selbsterniedrigung nicht Worte genug
+fand, sein Nichts zu beteuern? 'Was denkt die Majestaet?'"--ahmte
+Fagon den Pater nach--, "'verwandt mit einem so vornehmen Herrn?
+Keineswegs? Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes! eines Bauern in
+der untern Normandie! eines ganz gemeinen Mannes!...' Schon dieses
+nichtswuerdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende,
+heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gruendliche
+Falschheit verdiente vollauf schuftig genannt zu werden. Aber die
+Frau Marquise hat recht: es war noch etwas anderes, etwas ganz
+Abscheuliches und Teuflisches, was ich geraecht habe, leider nur mit
+Worten: eine Missetat, ein Verbrechen, welches der unerwartete Anblick
+dieses tueckischen Wolfes mir wieder so gegenwaertig vor das Auge
+stellte, dass die karge Neige meines Blutes zu kochen begann. Denn,
+Sire, dieser Boesewicht hat einen edeln Knaben gemordet!"
+
+"Ich bitte dich, Fagon", sagte der Koenig, "welch ein Maerchen!"
+
+"Sagen wir: er hat ihn unter den Boden gebracht", milderte der
+Leibarzt hoehnisch seine Anklage.
+
+"Welchen Knaben denn?" fragte Ludwig in seiner sachlichen Art, die
+kurze Wege liebte.
+
+"Es war der junge Boufflers, der Sohn des Marschalls aus seiner ersten
+Ehe", antwortete Fagon traurig.
+
+"Julian Boufflers? Dieser starb, wenn mir recht ist", erinnerte sich
+der Koenig, und sein Gedaechtnis taeuschte ihn selten, "17** im
+Jesuitencollegium an einer Gehirnentzuendung, welche das arme Kind
+durch Ueberarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da Pere Tellier
+in jenen Jahren dort Studienpraefekt sein konnte, hat er allerdings,
+sehr figuerlich gesprochen", spottete der Koenig, "den unbegabten, aber
+im Lernen hartnaeckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat
+sich eben uebernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst
+erzaehlt hat." Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte
+etwas Interessanteres erwartet.
+
+"Den unbegabten Knaben... ", wiederholte der Arzt nachdenklich.
+
+"Ja, Fagon", versetzte der Koenig, "auffallend unbegabt, und dabei
+schuechtern und kleinmuetig, wie kein Maedchen. Es war an einem
+Marly-Tage, dass der Marschall, welchem ich fuer dieses sein aeltestes
+Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn
+vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Juengling, ueber
+dessen Lippen schon der erste Flaum sprosste, war bewegt und wollte
+mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klaegliches Stottern und
+peinliches Erroeten, dass ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens
+in Ruhe zu lassen, mit einem 'Es ist gut' geschwinder, als mir um
+seines Vaters willen lieb war, mich wendete."
+
+"Auch mir ist jener Abend erinnerlich", ergaenzte die Marquise. "Die
+verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin, und ich zog diesen
+nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber
+dankbar und liebenswert erwies, ohne, wenigstens aeusserlich, die
+erlittene Demuetigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar
+zu sprechen, das Alltaegliche, das Gewoehnliche, mit einem
+herzgewinnenden Ton der Stimme, und--meine Naehe schaffte ihm Neider.
+Es war ein schlimmer Tag fuer das Kind, jener Marly. Ein Beiname, wie
+denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heisst, den seinigen tragen
+muss"--die feinfuehlige Marquise wusste, dass ihr gerades Gegenteil,
+die brave und schreckliche Pfaelzerin, die Herzogin-Mutter von Orleans,
+ihr den allergarstigsten gegeben hatte--, "einer jener gefaehrlichen
+Beinamen, die ein Leben vergiften koennen und deren Gebrauch ich meinen
+Maedchen in Saint-Cyr auf strengste untersagt habe, wurde fuer den
+bescheidenen Knaben gefunden, und da er von Mund zu Munde lief, ohne
+viel Arg selbst von unschuldigen und bluehenden Lippen gewispert,
+welche sich wohl dem huebschen jungen nach wenigen Jahren nicht versagt
+haben wuerden."
+
+"Welcher Beiname?" fragte Fagon neugierig.
+
+"'Le bel idiot'... und das Zucken eines Paares hochmuetiger Brauen
+verriet mir, wer ihn dem Knaben beschert hat."
+
+"Lauzun?" riet der Koenig.
+
+"Saint-Simon", berichtigte die Marquise. "Ist er doch an unserem Hofe
+das lauschende Ohr, das spaehende Auge, das uns alle beobachtet"--der
+Koenig verfinsterte sich--, "und die geuebte Hand, die naechtlicherweile
+hinter verriegelten Tueren von uns allen leidenschaftliche Zerrbilder
+auf das Papier wirft! Dieser edle Herzog, Sire, hat es nicht
+verschmaeht, den unschuldigsten Knaben mit einem seiner grausamen Worte
+zu zeichnen, weil ich Harmlose, die er verabscheut, an dem Kinde ein
+fluechtiges Wohlgefallen fand und ein gutes Wort an dasselbe wendete."
+So zuengelte die sanfte Frau und reizte den Koenig, ohne die Stirn zu
+falten und den Wohlklang ihrer Stimme zu verlieren.
+
+"Der schoene Stumpfsinnige", wiederholte Fagon langsam. "Nicht uebel.
+Wenn aber der Herzog, der neben seinen schlimmen auch einige gute
+Eigenschaften besitzt, den Knaben gekannt haette, wie ich ihn
+kennenlernte und er mir unvergesslich geblieben ist, meiner Treu! der
+gallichte Saint-Simon haette Reue gefuehlt. Und waere er wie ich bei dem
+Ende des Kindes zugegen gewesen, wie es in der Illusion des Fiebers,
+den Namen seines Koenigs auf den Lippen, in das feindliche Feuer zu
+stuerzen glaubte, der heimliche Hoellenrichter unserer Zeit, wenn die
+Sage wahr redet, denn niemand hat ihn an seinem Schreibtische
+gesehen--haette den Knaben bewundert und ihm eine Traene nachgeweint."
+
+"Nichts mehr von Saint-Simon, ich bitte dich, Fagon", sagte der Koenig,
+die Brauen zuammenziehend. "Mag er verzeichnen, was ihm als die
+Wahrheit erscheint. Werde ich die Schreibtische belauern? Auch die
+grosse Geschichte fuehrt ihren Griffel und wird mich in den Grenzen
+meiner Zeit und meines Wesens laesslich beurteilen. Nichts mehr von
+ihm. Aber viel und alles, was du weisst, von dem jungen Boufflers.
+Er mag ein braver Junge gewesen sein. Setze dich und erzaehle!" Er
+deutete freundlich auf einen Stuhl und lehnte sich in den seinigen
+zurueck.
+
+"Und erzaehle huebsch bequem und gelassen, Fagon", bat die Marquise mit
+einem Blick auf die schmucken Zeiger ihrer Stockuhr, welche zum
+Verwundern schnell vorrueckten.
+
+"Sire, ich gehorche", sagte Fagon, "und tue eine untertaenige Bitte.
+Ich habe heute den Pere Tellier in Eurer Gegenwart misshandelnd mir
+eine Freiheit genommen und weiss, wie ich mich aus Erfahrung kenne,
+dass ich, einmal auf diesen Weg geraten, an demselben Tage leicht
+rueckfaellig werde. Als Frau von Sabliere den guten--oder auch nicht
+guten--Lafontaine, ihren Fabelbaum, wie sie ihn nannte, aus dem
+schlechten Boden, worein er seine Wurzeln gestreckt hatte, ausgrub und
+wieder in die gute Gesellschaft verpflanzte, willigte der Fabeldichter
+ein, noch einmal unter anstaendigen Menschen zu leben, unter der
+Bedingung jedoch, jeden Abend das Minimum von drei Freiheiten--was er
+so Freiheiten hiess--sich erlauben zu duerfen. In aehnlicher und
+verschiedener Weise bitte ich mir, soll ich meine Geschichte erzaehlen,
+drei Freiheiten aus... "
+
+"Welche ich dir gewaehre", schloss der Koenig.
+
+Drei Koepfe rueckten zusammen: der bedeutende des Arztes, das olympische
+Lockenhaupt des Koenigs und das feine Profil seines Weibes mit der
+hohen Stirn, den reizenden Linien von Nase und Mund und dem leicht
+gezeichneten Doppelkinne.
+
+"In den Tagen, da die Majestaet noch den groessten ihrer Dichter besass",
+begann der Leibarzt, "und dieser, waehrend schon der Tod nach seiner
+kranken Brust zielte, sich belustigte, denselben auf der Buehne
+nachzuaeffen, wurde das Meisterstueck 'Der Kranke in der Einbildung'
+auch vor der Majestaet hier in Versailles aufgefuehrt. Ich, der ich
+sonst eine wuerdige mit Homer oder Virgil verlebte Stunde und den
+Wellenschlag einer antiken Dichtung unter gestirntem Himmel den
+grellen Lampen und den verzerrten Gesichtern der auf die Buehne
+gebrachten Gegenwart vorziehe, ich durfte doch nicht wegbleiben, da wo
+mein Stand verspottet und vielleicht, wer wusste, ich selbst und meine
+Kruecke"--er hob sein Bambusrohr, auf welches er auch sitzend sich zu
+stuetzen fortfuhr--, "abbildlich zu sehen waren. Es geschah nicht.
+Aber haette Moliere mich in einer seiner Possen verewigt, wahrlich, ich
+haette es dem nicht verargen koennen, der sein eigenes schmerzlichstes
+Empfinden komisch betrachtet und verkoerpert hat. Diese letzten Stuecke
+Molieres, nichts geht darueber! Das ist die souveraene Komoedie, welche
+freilich nicht nur das Verkehrte, sondern in grausamer Lust auch das
+Menschlichste in ein hoehnisches Licht rueckt, dass es zu grinsen
+beginnt. Zum Beispiel, was ist verzeihlicher, als dass ein Vater auf
+sein Kind sich etwas einbilde, etwas eitel auf die Vorzuege und etwas
+blind fuer die Schwaechen seines eigenen Fleisches und Blutes sei?
+Laecherlich freilich ist es und fordert den Spott heraus. So lobt denn
+auch im 'Kranken in der Einbildung' der alberne Diaforius seinen noch
+alberneren Sohn Thomas, einen vollstaendigen Dummkopf Doch die Majestaet
+kennt die Stelle."
+
+"Mache mir das Vergnuegen, Fagon, und rezitiere sie mir", sagte der
+Koenig, welcher, seit Familienverluste und schwere oeffentliche Unfaelle
+sein Leben ernst gemacht, sich der komischen Muse zu enthalten pflegte,
+dem die Lachmuskeln aber unwillkuerlich zuckten in Erinnerung des
+guten Gesellen, den er einst gern um sich gelitten und an dessen
+Masken er sich ergoetzt hatte.
+
+"'Es ist nicht darum'", spielte Fagon den Doctor Diaforius, dessen
+Rolle er seltsamerweise auswendig wusste, "'weil ich der Vater bin,
+aber ich darf sagen, ich habe Grund, mit diesem meinem Sohne zufrieden
+zu sein, und alle, die ihn sehen, sprechen von ihm als von einem
+Juengling ohne Falsch. Er hat nie eine sehr taetige Einbildungskraft,
+noch jenes Feuer besessen, welches man an einigen wahrnimmt. Als er
+klein war, ist er nie, was man so heisst, aufgeweckt und mutwillig
+gewesen. Man sah ihn immer sanft, friedselig und schweigsam. Er
+sprach nie ein Wort und beteiligte sich niemals an den sogenannten
+Knabenspielen. Man hatte schwere Muehe, ihn lesen zu lehren, und mit
+neun Jahren kannte er seine Buchstaben noch nicht. Gut', sprach ich
+zu mir, 'die spaeten Baeume tragen die besten Fruechte, es graebt sich in
+den Marmor schwerer als in den Sand'... und so fort. Dieser langsam
+getraeufelte Spott wurde dann auf der Buehne zum gruendlichen Hohn durch
+das unsaeglich einfaeltige Gesicht des Belobten und zum
+unwiderstehlichen Gelaechter in den Mienen der Zuschauer. Unter diesen
+fand mein Auge eine blonde Frau von ruehrender Schoenheit und
+beschaeftigte sich mit den langsam wechselnden Ausdruecken dieser
+einfachen Zuege; zuerst demjenigen der Freude ueber die gerechte
+Belobung eines schwer, aber fleissig lernenden Kindes, so
+unvorteilhaft der Juengling auf der Buehne sich ausnehmen mochte, dann
+dem andern Ausdrucke einer traurigen Enttaeuschung, da die Schauende,
+ohne jedoch recht zu begreifen, inne wurde, dass der Dichter, der es
+mit seinen schlichten Worten ernst zu meinen schien, eigentlich nur
+seinen blutigen Spott hatte mit der vaeterlichen Selbstverblendung.
+Freilich hatte Moliere, der grossartige Spoetter, alles so naturwahr
+und sachlich dargestellt, dass mit ihm nicht zu zuernen war. Eine
+lange und muehsam verhaltene, tief schmerzliche Traene rollte endlich
+ueber die zarte Wange des bekuemmerten Weibes. Ich wusste nun, dass sie
+Mutter war und einen unbegabten Sohn hatte. Das ergab sich fuer mich
+aus dem Geschauten und Beobachteten mit mathematischer Gewissheit.
+
+Es war die erste Frau des Marschalls Boufflers."
+
+"Auch wenn du sie nicht genannt haettest, Fagon, ich erkannte aus
+deiner Schilderung meine suesse Blondine", seufzte die Marquise. "Sie
+war ein Wunder der Unschuld und Herzenseinfalt, ohne Arg und Falsch,
+ja ohne den Begriff der List und Luege.
+
+Die Freundschaft der zwei Frauen, welche der Marquise einen so
+ruehrenden Eindruck hinterliess, war eine wahre und fuer beide Teile
+wohltaetige gewesen. Frau von Maintenon hatte naemlich in den langen
+und schweren Jahren ihres Emporkommens, da die still Ehrgeizige mit
+zaehester Schmiegsamkeit und geduldigster Konsequenz, immer heiter,
+ueberall dienstfertig, sich einen Koenig und den groessten Koenig der Zeit
+eroberte, mit ihren klugen Augen die arglose Vornehme von den andern
+ihr missguenstigen und feindseligen Hofweibern unterschieden und sie
+mit ein paar herzlichen Worten und zutulichen Gefaelligkeiten an sich
+gefesselt. Die beiden halfen sich aus und deckten sich einander mit
+ihrer Geburt und ihrem Verstand.
+
+"Die Marschallin hatte Tugend und Haltung", lobte der Koenig, waehrend
+er einen in seinem Gedaechtnis auftauchenden anmutigen Wuchs, ein
+liebliches Gesicht und ein aschenblondes Ringelhaar betrachtete.
+
+"Die Marschallin war dumm", ergaenzte Fagon knapp. "Aber wenn ich
+Krueppel je ein Weib geliebt habe--ausser meiner Goennerin", er
+verneigte sich huldigend gegen die Marquise, "und fuer ein Weib mein
+Leben hingegeben haette, so war es diese erste Herzogin Boufflers.
+
+Ich lernte sie dann bald naeher kennen, leider als Arzt. Denn ihre
+Gesundheit war schwankend, und alle diese Lieblichkeit verlosch
+unversehens wie ein ausgeblasenes Licht. Wenige Tage vor ihrem
+letzten beschied sie mich zu sich und erklaerte mir mit den einfachsten
+Worten von der Welt, sie werde sterben. Sie fuehlte ihren Zustand, den
+meine Wissenschaft nicht erkannt hatte. Sie ergebe sich darein, sagte
+sie, und habe nur eine Sorge: die Zukunft und das Schicksal ihres
+Knaben. 'Er ist ein gutes Kind, aber voellig unbegabt, wie ich selbst
+es bin', klagte sie mir bekuemmert, aber unbefangen. 'Mir ward ein
+leichtes Leben zuteil, da ich dem Marschall nur zu gehorchen brauchte,
+welcher nach seiner Art, die nichts aus den Haenden gibt, auch wenn ich
+ein gescheites Weib gewesen waere, ausser dem einfachsten Haushalte mir
+keine Verantwortung ueberlassen haette--du kennst ihn ja, Fagon, er ist
+peinlich und regiert alles selber. Wenn ich in der Gesellschaft
+schwieg oder meine Rede auf das Naechste beschraenkte, um nichts
+Unwissendes oder Verfaengliches zu sagen, so war ihm das gerade recht,
+denn eine Witzige oder Glaenzende haette ihn nur beunruhigt. So bin ich
+gut durchgekommen. Aber mein Kind? Der Julian soll als der Sohn
+seines Vaters in der Welt eine Figur machen. Wird er das koennen? Er
+lernt so unglaublich schwer. An Eifer laesst er es nicht fehlen,
+wahrlich nicht, denn es ist ein tapferes Kind... Der Marschall wird
+sich wieder verheiraten, und irgendeine gescheite Frau wird ihm
+anstelligere Soehne geben. Nun moechte ich nicht, dass der Julian etwas
+Ausserordentliches wuerde, was ja auch unmoeglich waere, sondern nur,
+dass er nicht zu harte Demuetigungen erleide, wenn er hinter seinen
+Geschwistern zurueckbleibt. Das ist nun deine Sache, Fagon. Du wirst
+auch zusehen, dass er koerperlich nicht uebertrieben werde. Lass das
+nicht aus dem Auge, ich bitte dich! Denn der Marschall uebersieht das.
+Du kennst ihn ja. Er hat den Krieg im Kopf, die Grenzen, die
+Festungen... Selbst ueber der Mahlzeit ist er in seine Geschaefte
+vertieft, der dem Koenig und Frankreich unentbehrliche Mann, laesst sich
+ploetzlich eine Karte holen, wenn er nicht selbst danach aufspringt,
+oder aergert sich ueber irgendeine vormittags entdeckte Nachlaessigkeit
+seiner Schreiber, welchen man bei der um sich greifenden
+Pflichtvergessenheit auch nicht das Geringste mehr ueberlassen duerfe.
+Geht dann durch einen Zufall ein Taesschen oder Schaelchen entzwei,
+vergisst sich der Reizbare bis zum Schelten. Gewoehnlich sitzt er
+schweigend oder einsilbig zu Tische, mit gerunzelter Stirn, ohne sich
+mit dem Kinde abzugeben, das an jedem seiner Blicke haengt, ohne sich
+nach seinen kleinen Fortschritten zu erkundigen, denn er setzt voraus:
+ein Boufflers tue von selbst seine Pflicht. Und der Julian wird bis
+an die aeussersten Grenzen seiner Kraefte gehen... Fagon, lass ihn
+keinen Schaden leiden! Nimm dich des Knaben an! Bring ihn heil
+hinweg ueber seine zarten Jahre! Mische dich nur ohne Bedenken ein.
+Der Marschall haelt etwas auf dich und wird deinen Rat gelten lassen.
+Er nennt dich den redlichsten Mann von Frankreich... Also du
+versprichst es mir, bei dem Knaben meine Stelle zu vertreten... Du
+haeltst Wort und darueber hinaus... '
+
+Ich gelobte es der Marschallin, und sie starb nicht schwer.
+
+Vor dem Bette, darauf sie lag, beobachtete ich den mir anvertrauten
+Knaben. Er war aufgeloest in Traenen, seine Brust arbeitete, aber er
+warf sich nicht verzweifelnd ueber die Tote, beruehrte den entseelten
+Mund nicht, sondern er kniete neben ihr, ergriff ihre Hand und kuesste
+diese, wie er sonst zu tun pflegte. Sein Schmerz war tief, aber
+keusch und enthaltsam. Ich schloss auf maennliches Naturell und frueh
+geuebte Selbstbeherrschung und betrog mich nicht. Im uebrigen war
+Julian damals ein huebscher Knabe von etwa dreizehn Jahren, mit den
+seelenvollen Augen seiner Mutter, gewinnenden Zuegen, wenig Stirn unter
+verworrenem blonden Ringelhaar und einem untadeligen Bau, der zur
+Meisterschaft in jeder Leibesuebung befaehigte.
+
+Nachdem der Marschall das Weib seiner Jugend beerdigt und ein Jahr
+spaeter mit der juengsten des Marschalls Grammont sich wiederverehlicht
+hatte, dem ruehrigen, grundgescheiten, olivenfarbigen, brennend magern
+Weibe, das wir kennen, beriet er aus freien Stuecken mit mir die Schule,
+wohin wir Julian schicken sollten; denn seines Bleibens war nun nicht
+laenger im vaeterlichen Hause.
+
+Ich besprach mich mit dem geistlichen Hauslehrer, welcher das Kind
+bisher beaufsichtigt und beschaeftigt hatte. Er zeigte mir die Hefte
+des Knaben, die Zeugnis ablegten von einem ruehrenden Fleiss und einer
+tapfern Ausdauer, aber zugleich von einem unglaublich mittelmaessigen
+Kopfe, einem voelligen Mangel an Kombination und Dialektik, einer
+absoluten Geistlosigkeit. Was man im weitesten Sinne Witz nennt, jede
+leidenschaftliche--warme oder spottende--Beleuchtung der Rede, jede
+Ueberraschung des Scharfsinns, jedes Spiel der Einbildungskraft waren
+abwesend. Nur der einfachste Begriff und das aermste Wort standen dem
+Knaben zu Gebote. Hoechstens gefiel dann und wann eine Wendung durch
+ihre Unschuld oder brachte zum Laecheln durch ihre Naivitaet.
+Seltsamer- und traurigerweise sprach der Hausgeistliche von seinem
+Zoegling unwissentlich in den Worten Molieres: 'ein Knabe ohne Falsch,
+der alles auf Treu und Glauben nimmt, ohne Feuer und Einbildungskraft,
+sanft, friedfertig, schweigsam und'--setzte er hinzu--'mit den
+schoensten Herzenseigenschaften.'
+
+Der Marschall und ich wussten dann--die Wahl war nicht gross--keine
+bessere Schule fuer das Kind als ein Jesuitencollegium; und warum nicht
+das in Paris, wenn wir Julian nicht von seinen Standes und
+Altersgenossen sondern wollten? Man muss es den Vaetern lassen: sie
+sind keine Pedanten, und man darf sie loben, dass sie angenehm
+unterrichten und freundlich behandeln. Mit einer Schule
+jansenistischer Faerbung konnten wir uns nicht befreunden: der
+Marschall schon nicht als guter Untertan, der Euer Majestaet Abneigung
+gegen die Sekte kannte und Euer Majestaet Gnade nicht mutwillig
+verscherzen wollte, ich aus eben diesem Grunde"--Fagon laechelte--"und
+weil ich fuer den durch seine Talentlosigkeit schon ueberfluessig
+gedrueckten Knaben die herbe Strenge und die finstern Voraussetzungen
+dieser Lehre ungeeignet, die leichte Erde und den zugaenglichen Himmel
+der Jesuiten dagegen hier fuer zutraeglich oder wenigstens voellig
+unschaedlich hielt, denn ich wusste, das Grundgesetz dieser Knabenseele
+sei die Ehre.
+
+Dabei war auf meiner Seite die natuerliche Voraussetzung, dass die
+frommen Vaeter nie von dem Marschalle beleidigt wuerden, und das war in
+keiner Weise zu befuerchten, da der Marschall sich nicht um kirchliche
+Haendel kuemmerte und als Kriegsmann an der in diesem Orden streng
+durchgefuehrten Subordination sogar ein gewisses Wohlgefallen hatte.
+
+Wie sollte aber der von der Natur benachteiligte Knabe mit einer
+oeffentlichen Klasse Schritt halten? Da zaehlten der Marschall und ich
+auf zwei verschiedene Hilfen. Der Marschall auf das Pflichtgefuehl und
+den Ehrgeiz seines Kindes. Er selbst, der nur mittelmaessig Begabte,
+hatte auf seinem Felde Ruehmliches geleistet, aber kraft seiner
+sittlichen Eigenschaften, nicht durch eine geniale Anlage. Ohne zu
+wissen oder nicht wissen wollend, dass Julian jene mittlere Begabung,
+welche er selbst mit eisernem Fleisse verwertete, bei weitem nicht
+besitze, glaubte er, es gebe keine Unmoeglichkeit fuer den
+Willenskraeftigen und selbst die Natur lasse sich zwingen, wie ihn denn
+seine Galopins beschuldigen, er tadle einen waehrend der Parade ueber
+die Stirn rollenden Schweisstropfen als ordonnanzwidrig, weil er
+selbst nie schwitze.
+
+Ich dagegen baute auf die allgemeine Menschenliebe der Jesuiten und
+insonderheit auf die Beruecksichtigung und das Ansehen der Person,
+wodurch diese Vaeter sich auszeichnen. Ich beredete mich mit mehreren
+derselben und machte sie mit den Eigenschaften des Knaben vertraut.
+Um ihnen das Kind noch dringender an das Herz zu legen, sprach ich
+ihnen von der Stellung seines Vaters, sah aber gleich, dass sie sich
+daraus nichts machten. Der Marschall ist ausschliesslich ein
+Kriegsmann, dabei tugendhaft, ohne Intrige, und die Ehre folgt ihm
+nach wie sein Schatten. So hatten die Vaeter von ihm nichts zu hoffen
+und zu fuerchten. Unter diesen Umstaenden glaubte ich Julian eine
+kraeftigere Empfehlung verschaffen zu muessen und gab den frommen Vaetern
+einen Wink... " Der Erzaehler stockte.
+
+"Was vertuschest du, Fagon?" fragte der Koenig.
+
+"Ich komme darauf zurueck", stotterte Fagon verlegen, "und dann wirst
+du, Sire, mir etwas zu verzeihen haben. Genug, das Mittel wirkte.
+Die Vaeter wetteiferten, dem Knaben das Lernen zu erleichtern, dieser
+fuehlte sich in einer warmen Atmosphaere, seine Erstarrung wich, seine
+kargen Gaben entfalteten sich, sein Mut wuchs, und er war gut
+aufgehoben. Da aenderte sich alles gruendlich in sein Gegenteil.
+
+Etwa ein halbes Jahr nach dem Eintritt Julians bei den Jesuiten
+ereignete sich zu Orleans, in dessen Weichbild die Vaeter Besitz und
+eine Schule hatten, welche beide sie zu vergroessern wuenschten, eine
+schlimme Geschichte. Vier Brueder von kleinem Adel besassen dort ein
+Gut, welches an den Besitz der Jesuiten stiess und das sie ungeteilt
+bewirteten. Alle vier dienten in Eurem Heere, Sire, verzehrten, wie
+zu geschehen pflegte, fuer ihre Ausruestung und mehr noch im Umgang mit
+reichen Kameraden ihre kurze Barschaft und verschuldeten ihre Felder.
+Nun fand es sich, dass jenes Jesuitenhaus durch Zusammenkauf dieser
+Pfandbriefe der einzige Glaeubiger der vier Junker geworden war und
+ihnen aus freien Stuecken darueber hinaus eine abrundende Summe
+vorschoss, drei Jahre fest, dann mit jaehriger Kuendigung. Daneben aber
+verpflichteten sich die Vaeter den Junkern gegenueber muendlich aufs
+feierlichste, die ganze Summe auf dem Edelgute stehenzulassen; es sei
+eben nur ein rein formales Gesetz ihrer Ordensoekonomie, Geld nicht
+laenger als auf drei Jahre auszutun.
+
+Da begab es sich, dass die Vaeter jenes Hauses unversehens in ihrer
+Vollzahl an das Ende der Welt geschickt wurden, wahrhaftig, ich glaube
+nach Japan, und die an ihre Stelle tretenden begreiflicherweise nichts
+von jenem muendlichen Versprechen ihrer Vorgaenger wussten. Der
+dreijaehrige Termin erfuellte sich, die neuen Vaeter kuendigten die Schuld,
+nach Jahresfrist konnten die Junker nicht zahlen, und es wurde gegen
+sie verfahren.
+
+Schon hatte sich das fromme Haus in den Besitz ihrer Felder gesetzt,
+da gab es Laerm. Die tapfern Brueder polterten an alle Tueren, auch an
+die des Marschalls Boufflers, welcher sie als wackere Soldaten kannte
+und schaetzte. Er untersuchte den Handel mit Ernst und Gruendlichkeit
+nach seiner Weise. Der entscheidende Punkt war, dass die Brueder
+behaupteten, von den frommen Vaetern nicht allein muendliche
+Beteuerungen, sondern, was sie voellig beruhigt und sorglos gemacht, zu
+wiederholten Malen auch gleichlautende Briefe erhalten zu haben.
+Diese Schriftstuecke seien auf unerklaerliche Weise verlorengegangen.
+Wohl faenden sich in Briefform gefaltete Papiere mit gebrochenen,
+uebrigens leeren Siegeln, welche den Briefen der Vaeter zum Verwundern
+glichen, doch diese Papiere seien unbeschrieben und entbehren jedes
+Inhalts.
+
+Dergestalt fand ich, eines Tages das Kabinett des Marschalls betretend,
+denselben damit beschaeftigt, in seiner genauen Weise jene blanken
+Quadrate umzuwenden und mit der Lupe vorn und hinten zu betrachten.
+Ich schlug ihm vor, mir die Blaetter fuer eine Stunde anzuvertrauen, was
+er mir mit ernsten Augen bewilligte.
+
+Ihr schenktet, Sire, der Wissenschaft und mir einen botanischen Garten,
+der Euch Ehre macht, und bautet mir im Gruenen einen stillen Sitz fuer
+mein Alter. Nicht weit davon, am Nordende, habe ich mir eine
+geraeumige chemische Kueche eingerichtet, die Ihr einmal zu besuchen mir
+versprachet. Dort unterwarf ich jene fragwuerdigen Papiere wirksamen
+und den gelehrten Vaetern vielleicht noch unbekannten Agentien. Siehe
+da, die erblichene Schrift trat schwarz an das Licht und offenbarte
+das Schelmstueck der Vaeter Jesuiten.
+
+Der Marschall eilte mit den verklagenden Papieren stracks zu deiner
+Majestaet"--Koenig Ludwig strich sich langsam die Stirn--"und fand dort
+den Pater Lachaise, welcher aufs tiefste erstaunte ueber diese
+Verirrung seiner Ordensbrueder in der Provinz, zugleich aber deiner
+Majestaet vorstellte, welche schreiende Ungerechtigkeit es waere, die
+Gedankenlosigkeit weniger oder eines einzelnen eine so zahlreiche,
+wohltaetige und sittenreine Gesellschaft entgelten zu lassen, und
+dieser einzelne, der fruehere Vorsteher jenes Hauses, habe ueberdies,
+wie er aus verlaesslichen Quellen wisse, kuerzlich in Japan unter den
+Heiden das Martyrium durch den Pfahl erlitten.
+
+Wer am besten bei dieser Wendung der Dinge fuhr, das waren die vier
+Junker. Die Haelfte der Schuld erliessen ihnen die verbluefften Vaeter,
+die andere Haelfte tilgte ein Grossmuetiger."
+
+Der Koenig, der es gewesen sein mochte, veraenderte keine Miene.
+
+"Dem Marschall dankte dann Pere Lachaise insbesondere dafuer, dass er
+in einer bemuehenden Sache die Herstellung der Wahrheit unternommen und
+es seinem Orden erspart habe, sich mit ungerechtem Gute zu belasten.
+Dann bat er ihn, der Edelmann den Edelmann, den Vaetern sein Wohlwollen
+nicht zu entziehen und ihnen das Geheimnis zu bewahren, was sich
+uebrigens fuer einen Marschall Boufflers von selbst verstehe.
+
+Der geschmeichelte Marschall sagte zu, wollte aber wunderlicherweise
+nichts davon hoeren, die verraeterischen Dokumente herauszugeben oder
+sie zu vernichten. Es fruchtete nichts, dass Pere Lachaise ihn zuerst
+mit den zartesten Wendungen versuchte, dann mit den bestimmtesten
+Forderungen bestuermte. Nicht dass der Marschall im geringsten daran
+gedacht haette, sich dieser gefaehrlichen Briefe gegen die frommen Vaeter
+zu bedienen; aber er hatte sie einmal zu seinen Papieren gelegt, mit
+deren Aufraeumen und Registrieren er das Drittel seiner Zeit zubringt.
+In diesem Archive, wie er es nennt, bleibt vergraben, was einmal
+drinnen liegt. So schwebte kraft der Ordnungsliebe und der genauen
+Gewohnheiten des Marschalls eine immerwaehrende Drohung ueber dem Orden,
+die derselbe dem Unvorsichtigen nicht verzieh. Der Marschall hatte
+keine Ahnung davon und glaubte mit den von ihm geschonten Vaetern auf
+dem besten Fusse zu stehn.
+
+Ich war anderer Meinung und liess es an dringenden Vorstellungen nicht
+fehlen. Hart setzte ich ihm zu, seinen Knaben ohne Zoegerung den
+Jesuiten wegzunehmen, da der verbissene Hass und der verschluckte
+Groll, welchen getaeuschte Habgier und entlarvte Schurkerei unfehlbar
+gegen ihren Entdecker empfinden, sich notwendigerweise ueber den Orden
+verbreiten, ein Opfer suchen und es vielleicht, ja wahrscheinlich in
+seinem unschuldigen Kinde finden wuerden. Er sah mich verwundert an,
+als ob ich irre rede und Fabeln erzaehle. Geradeheraus: entweder hat
+der Marschall einen kurzen Verstand, oder er wollte sein gegebenes
+Wort mit Prunk und Glorie selbst auf Kosten seines Kindes halten.
+
+'Aber, Fagon', sagte er, 'was in aller Welt hat mein Julian mit dieser
+in der Provinz begegneten Geschichte zu schaffen? Wo ist da ein
+richtiger Zusammenhang? Wenn ihm uebrigens die Vaeter ein bisschen
+strenger auf die Finger sehen, das kann nichts schaden. Sie haben ihn
+nicht uebel verhaetschelt. Ihnen jetzt den Knaben wegnehmen? Das waere
+unedel. Man wuerde plaudern, Gruende suchen, vielleicht die unreinliche
+Geschichte ausgraben, und ich stuende da als ein Wortbruechiger.' So sah
+der Marschall nur den Nimbus seiner Ehre, statt an sein Kind zu denken,
+das er vielleicht, solange es lebte, noch keines eingehenden Blickes
+gewuerdigt hatte. Ich haette ihn fuer seinen Edelmut mit dieser meiner
+Kruecke pruegeln koennen.
+
+Es ging dann, wie es nicht anders gehen konnte. Nicht in auffallender
+Weise, ohne Ploetzlichkeit und ohne eigentliche Ungerechtigkeit liessen
+die Vaeter Professoren den Knaben sinken, in welchem sie den Sohn eines
+Mannes zu hassen begannen, der den Orden beleidigt habe. Nicht alle
+unter ihnen, die bessern am wenigsten, kannten die saubere Geschichte,
+aber alle wussten: Marschall Boufflers hat uns beschaemt und geschaedigt,
+und alle hassten ihn.
+
+Eine feine Giftluft schleichender Rache fuellte die Saele des Collegiums.
+Nicht nur jedes Entgegenkommen, sondern auch jede gerechte
+Beruecksichtigung hatten fuer Julian aufgehoert. Das Kind litt. Taeglich
+und stuendlich fuehlte es sich gedemuetigt, nicht durch lauten Tadel, am
+wenigsten durch Scheltworte, welche nicht im Gebrauche der Vaeter sind,
+sondern fein und sachlich, einfach dadurch, dass sie die Armut des
+Blondkopfes nicht laenger freundlich unterstuetzten und die geistige
+Duerftigkeit nach verweigertem Almosen beschaemt in ihrer Bloesse
+dastehen liessen. Jetzt begann das Kind, von einem verzweifelnden
+Ehrgeiz gestachelt, seine Wachen zu verlaengern, seinen Schlummer
+gewalttaetig abzukuerzen, sein Gehirn zu martern, seine Gesundheit zu
+untergraben--ich mag davon nicht reden, es bringt mich auf..."
+
+Fagon machte eine Pause und schoepfte Atem.
+
+Der Koenig fuellte dieselbe, indem er ruhig bemerkte: "Ich frage mich,
+Fagon, wieviel Wirklichkeit alles dieses hat. Ich meine diese stille
+Verschwoerung gelehrter und verstaendiger Maenner zum Schaden eines
+Kindes und dieser bruetende Hass einer ganzen Gesellschaft gegen einen
+im Grunde ihr so ungefaehrlichen Mann, wie der Marschall ist, der sie
+ja ueberdies ganz ritterlich behandelt hatte. Du siehst Gespenster,
+Fagon. Du bist hier Partei und hast vielleicht, wer weiss, gegen den
+verdienten Orden neben deinem ererbten Vorurteil noch irgendeine
+persoenliche Feindschaft."
+
+"Wer weiss?" stammelte Fagon. Er hatte sich entfaerbt, soweit er noch
+erblassen konnte, und seine Augen loderten. Die Marquise wurde
+aengstlich und beruehrte heimlich den Arm ihres Schuetzlings, ohne dass
+er die warnende Hand gefuehlt haette. Frau von Maintenon wusste, dass
+der heftige Alte, wenn er gereizt wurde, gaenzlich ausser sich geriet
+und unglaubliche Worte wagte, selbst dem Koenige gegenueber, welcher
+freilich dem langjaehrigen und tiefen Kenner seiner Leiblichkeit
+nachsah, was er keinem andern so leicht vergeben haette. Fagon
+zitterte. Er stotterte unzusammenhaengende Saetze, und seine Worte
+stuerzten durcheinander, wie Krieger zu den Waffen.
+
+"Du glaubst es nicht, Majestaet, Kenner der Menschenherzen, du glaubst
+es nicht, dass die Vaeter Jesuiten jeden, der sie wissentlich oder
+unwissentlich beleidigt, hassen bis zur Vernichtung? Du glaubst nicht,
+dass diese Vaeter weder wahr noch falsch, weder gut noch boese kennen,
+sondern nur ihre Gesellschaft?" Fagon schlug eine grimmige Lache auf.
+"Du willst es nicht glauben, Majestaet!
+
+Sage mir, Koenig, du Kenner der Wirklichkeit," raste Fagon abspringend
+weiter, "da die Rede ist von der Glaubwuerdigkeit der Dinge, kannst du
+auch nicht glauben, dass in deinem Reiche bei der Bekehrung der
+Protestanten Gewalt angewendet wird?"
+
+"Diese Frage", erwiderte der Koenig sehr ernsthaft, "ist die erste
+deiner heutigen drei Freiheiten. Ich beantworte sie. Nein, Fagon.
+Es wird, verschwindend wenige Faelle ausgenommen, bei diesen
+Bekehrungen keine Gewalt angewendet, weil ich es ein fuer allemal
+ausdruecklich untersagt habe und weil meinen Befehlen nachgelebt wird.
+Man zwingt die Gewissen nicht. Die wahre Religion siegt gegenwaertig
+in Frankreich ueber Hunderttausende durch ihre innere Ueberzeugungskraft."
+
+"Durch die Predigten des Pere Bourdaloue!" hoehnte Fagon mit gellender
+Stimme. Dann schwieg er. Entsetzen starrte aus seinen Augen ueber
+diesen Gipfel der Verblendung, diese Mauer des Vorurteils, diese
+gaenzliche Vernichtung der Wahrheit. Er betrachtete den Koenig und sein
+Weib eine Weile mit heimlichem Grauen.
+
+"Sire, meine nicht", fuhr er fort, "dass ich Partei bin und das Blut
+meiner protestantischen Vorfahren aus mir spreche. Ich bin von einer
+ehrwuerdigen Kirche abgefallen. Warum? Weil ich, Gott vorbehalten,
+von dem ich nicht lasse und der in meinen alten Tagen mich nicht
+verlassen moege, ueber Religionen und Konfessionen samt und sonders
+denke, wie jener lucrezische Vers... "
+
+Weder der Koenig noch Frau von Maintenon wussten von diesem Verse, aber
+sie konnten vermuten, Fagon meine nichts Frommes.
+
+"Kennt Ihr den Tod meines Vaters, Sire?" fluesterte Fagon. "Er ist ein
+Geheimnis geblieben, aber Euch will ich es anvertrauen. Er war ein
+sanfter Mann und naehrte sich, sein Weib und seine Kinder, deren
+letztes und sechstes ich Verwachsener war, in Auxerre von dem Verkaufe
+seiner Latwergen redlich und kuemmerlich; denn Auxerre hat eine gesunde
+Luft und ein Schock Apotheken. Die glaubenseifrigen Einwohner, die
+meinen Vater liebten, wollten ihm alles Gute und haetten ihn gern der
+Kirche zurueckgegeben, aber nicht mit Gewalt, denn Ihr habet es gesagt,
+Sire, man zwingt die Gewissen nicht. Also verbruederten sie sich, die
+calvinistische Apotheke zu meiden. Mein Vater verlor sein Brot, und
+wir hungerten. Die Vaeter Jesuiten taten dabei, wie ueberall, das Beste.
+Da wurde sein Gewissen in sich selbst uneins. Er schwur ab. Weil
+aber die scharfen calvinistischen Saetze ein Gehirn, dem sie in seiner
+Kindheit eingegraben wurden, nicht so leicht wieder verlassen,
+erschien sich der Aermste bald als ein Judas, der den Herrn verriet,
+und er ging hin wie jener und tat desgleichen."
+
+"Fagon", sagte der Koenig mit Wuerde, "du hast den armen Pere Tellier
+wegen einer geschmacklosen Rede ueber seinen Vater beschimpft und
+redest selber so nackt und grausam von dem deinigen. Unselige Dinge
+verlangen einen Schleier!"
+
+"Sire", erwiderte der Arzt, "Ihr habet recht und seid fuer mich wie fuer
+jeden Franzosen das Gesetz in Dingen des Anstandes. Freilich kann man
+sich von gewissen Stimmungen hinreissen lassen, in dieser Welt der
+Unwahrheit und ihr zum Trotz von einer blutigen Tatsache, und waere es
+die schmerzlichste, das verhuellende Tuch unversehens wegzuziehen...
+
+Aber, Sire, wie vorzeitig habe ich die erste meiner Freiheiten
+verbraucht, und wahrlich, mich geluestet, gleich noch meine zweite zu
+verwenden."
+
+Die Marquise las in den veraenderten Zuegen des Arztes, dass sein Zorn
+vorueber und nach einem solchen Ausbruche an diesem Abend kein Rueckfall
+mehr zu befuerchten sei.
+
+"Sire", sagte Fagon fast leichtsinnig, "habt Ihr Euern Untertan, den
+Tiermaler Mouton, gekannt? Ihr schuettelt das Haupt. So nehme ich mir
+die grosse Freiheit, Euch den wenig hoffaehigen, aber in diese
+Geschichte gehoerenden Kuenstler vorzustellen, zwar nicht in Natur, mit
+seinem zerloecherten Hut, den Pfeifenstummel zwischen den Zaehnen--ich
+rieche seinen Knaster--, hemdaermelig und mit hangenden Struempfen.
+Ueberdies liegt er im Grabe. Ihr liebet die Niederlaender nicht,
+Sire, weder ihre Kirmessen auf der Leinwand noch ihre eigenen
+ungebundenen Personen. Wisset, Majestaet: Ihr habt einen Maler
+besessen, einen Picarden, der sowohl durch die Sachlichkeit seines
+Pinsels als durch die Zwanglosigkeit seiner Manieren die Hollaender bei
+weitem ueberhollaenderte.
+
+Dieser Mouton, Sire, hat unter uns gelebt, seine grasenden Kuehe und
+seine in eine Staubwolke gedraengten Hammel malend, ohne eine blasse
+Ahnung alles Grossen und Erhabenen, was dein Zeitalter, Majestaet,
+hervorgebracht hat. Kannte er deine Dichter? Nicht von ferne. Deine
+Bischoefe und Prediger? Nicht dem Namen nach. Mouton hatte kein
+Taufwasser gekostet. Deine Staatsmaenner, Colbert, Lyonne und die
+andern? Darum hat sich Mouton nie geschoren. Deine Feldherrn, Conde
+mit dem Vogelgesicht, Turenne, Luxembourg und den Enkel der schoenen
+Gabriele? Nur den letztern, welchem er in Anet einen Saal mit
+Hirschjagden von unglaublich frecher Mache fuellte. Vendome mochte
+Mouton, und dieser nannte seinen herzoglichen Goenner in ruehmender
+Weise einen Viehkerl, wenn ich das Wort vor den Ohren der Majestaet
+aussprechen darf. Hat Mouton die Sonne unserer Zeit gekannt? Wusste
+er von deinem Dasein, Majestaet? Unglaublich zu sagen: den Namen,
+welcher die Welt und die Geschichte fuellt--vielleicht hat er nicht
+einmal deinen Namen gewusst, wenn ihm auch, selten genug, deine
+Goldstuecke durch die Haende laufen mochten. Denn Mouton konnte nicht
+lesen, so wenig als sein Liebling, der andere Mouton.
+
+Dieser zweite Mouton, ein weiser Pudel mit geraeumigem Hirnkasten und
+sehr verstaendigen Augen, ueber welche ein schwarzzottiges Stirnhaar in
+verworrenen Buescheln niederhing, war ohne Zweifel--in den Schranken
+seiner Natur--der begabteste meiner drei Gaeste: so sage ich, weil
+Julian Boufflers, von dem ich erzaehle, Mouton der Mensch und Mouton
+der Pudel oft lange Stunden vergnuegt bei mir zusammensassen.
+
+Ihr wisset, Sire, die Vaeter Jesuiten sind freigebige Ferienspender,
+weil ihre Schueler, den vornehmen, ja den hoechsten Staenden angehoerend,
+oefters zu Jagden, Komoedien oder sonstigen Lustbarkeiten, freilich
+nicht alle, nach Hause oder anderswohin gebeten werden. So nahm ich
+denn Julian, welcher von seinem Vater, dem Marschall, grundsaetzlich
+selten nach Hause verlangt wurde, zuweilen in Euern botanischen Garten
+mit, wo Mouton, der sich unter Pflanzen und Tieren heimisch fuehlte,
+mich zeitweilig besuchte, irgendeine gelehrte Eule oder einen
+possierlichen Affen mit ein paar entschiedenen Kreidestrichen auf das
+Papier warf und wohl auch, wenn Fleiss und gute Laune vorhielten, mir
+ein stilles Zimmer mit seinen scheuenden Pferden oder saufenden Kuehen
+bevoelkerte. Ich hatte Mouton den Schluessel einer Mansarde mit
+demjenigen des naechsten Mauerpfoertchens eingehaendigt, um dem
+Landstreicher eine Heimstaette zu geben, wo er seine Staffeleien und
+Mappen unterbringe. So erschien und verschwand er bei mir nach seinem
+Belieben.
+
+Einmal an einem jener kuehlen und erquicklichen Regensommertage, jener
+Tage stillen, aber schnellen Wachstumes fuer Natur und Geist, sass ich
+in meiner Bibliothek und blickte durch das hohe Fenster derselben ueber
+einen aufgeschlagenen Folianten und meine Brille hinweg in die mir
+gegenueberliegende Mansarde des Nebengebaeudes, das Nest Moutons. Dort
+sah ich einen blonden schmalen Knabenkopf in gluecklicher Spannung
+gegen eine Staffelei sich neigen. Dahinter nickte der derbe Schaedel
+Moutons, und eine behaarte Hand fuehrte die schlanke des Juenglings.
+Ausser Zweifel, da wurde eine Malstunde gegeben. Mouton der Pudel
+sass auf einem hohen Stuhle mit rotem Kissen daneben, klug und
+einverstanden, als billige er hoechlich diese gute Ergoetzung. Ich
+markierte mein Buch und ging hinueber.
+
+In meinen Filzstiefeln wurde ich von den lustig Malenden nicht gehoert
+und nur von Mouton dem Pudel wahrgenommen, der aber seinen Gruss, ohne
+das Kissen zu verlassen, auf ein heftiges Wedeln beschraenkte. Ich
+liess mich still in einen Lehnstuhl nieder, um dem wunderlichsten
+Gespraeche beizuwohnen, welches je in Euerm botanischen Garten, Sire,
+gefuehrt wurde. Zuerst aber betrachtete ich aus meinem Winkel das Bild,
+welches auf der Staffelei stand, den Geruch einatmend, den die flott
+und freigebig gehandhabten Oelfarben verbreiteten. Was stellte es dar?
+Ein Nichts: eine Abendstimmung, eine Flussstille, darin die
+Spiegelung einiger aufgeloester roter Woelkchen und eines bemoosten
+Brueckenbogens. Im Flusse standen zwei Kuehe, die eine saufend, die
+andere, der auch noch das Wasser aus den Maulwinkeln troff beschaulich
+blickend. Natuerlich tat Mouton das Beste daran. Aber auch der Knabe
+besass eine gewisse Pinselfuehrung, welche nur das Ergebnis mancher
+ohne mein Wissen mit Mouton vermalten Stunde sein konnte. Wie viel
+oder wenig er gelernt haben mochte, schon die Illusion eines Erfolges,
+die Teilnahme an einer genialen Taetigkeit, einem muehelosen und
+gluecklichen Entstehen, einer Kuehnheit und Willkuer der schoepferischen
+Hand, von welcher wohl der Phantasielose sich frueher keinen Begriff
+gemacht hatte und die er als ein Wunder bestaunte, liess den Knaben
+nach so vielen Verlusten des Selbstgefuehls eine grosse Glueckseligkeit
+empfinden. Das waermste Blut roetete seine keuschen Wangen, und ein
+Eifer befluegelte seine Hand, dass nichts darueber ging und auch ich
+eine helle vaeterliche Freude fuehlte.
+
+Inzwischen erklaerte Mouton dem Knaben die breiten Formen und schweren
+Gebaerden einer wandelnden Kuh und schloss mit der Behauptung, es gehe
+nichts darueber als die Gestalt des Stieres.
+
+Diese sei der Gipfel der Schoepfung. Er sagte wohl, um genau zu sein,
+der Natur, nicht der Schoepfung, denn die letztere kannte er nicht,
+weder den Namen noch die Sache, da er verwahrlost und ohne Katechismus
+aufgewachsen war.
+
+Wenig Glueck genuegte, die angebotene Heiterkeit wie eine sprudelnde
+Quelle aus dem Knaben hervorzulocken. Die Achtung Moutons vor dem
+Hornvieh komisch findend, erzaehlte Julian unschuldig: 'Pere Amiel hat
+uns heute morgen gelehrt, dass die alten Aegypter den Stier goettlich
+verehrten. Das finde ich drollig!'
+
+'Sapperment', versetzte der Maler leidenschaftlich, 'da taten sie
+recht. Gescheite Leute das, Viehkerle! Nicht wahr, Mouton? Wie?
+Ich frage dich, Julian, ist ein Stierhaupt in seiner Macht und
+drohenden Groesse nicht goettlicher--um das dumme Wort zu
+gebrauchen--als ein Dreieck oder ein Tauber oder gar ein schales
+Menschengesicht? Nicht wahr, Mouton? Das fuehlst du doch selber,
+Julian? Wenn ich sage: fades Menschengesicht, so rede ich unbeschadet
+der Nase deines Pere Amiel. Alle Achtung!' Mouton zeichnete, uebrigens
+ohne jeden Spott, mit einem frechen Pinselzug auf das Tannenholz der
+Staffelei eine Nase, aber eine Nase, ein Ungeheuer von Nase, von
+fabelhafter Groesse und ueberwaeltigender Komik.
+
+'Man sieht', fuhr er dann in ganzem Ernste fort, 'die Natur bleibt
+nicht stehen. Es wuerde sie ergoetzen, zeitweilig etwas Neues zu
+bringen. Doch das ist verspaetet: die Vettel hat ihr Feuer verloren.'
+
+'Pere Amiel', meinte der Knabe schuechtern, 'wird der Natur nicht fuer
+seine Nase danken, denn sie macht ihn laecherlich, und er hat
+ihrethalber viel von meinen Kameraden auszustehen.l
+
+'Das sind eben Buben', sagte Mouton grossmuetig, 'denen der Sinn fuer
+das Erhabene mangelt. Aber beilaeufig, wie kommt es, Julian, dass ich,
+neulich in deinem Schulhaus einen Besuch machend, um dir die Vorlagen
+zu bringen, dich unter lauter Kroeten fand? dreizehn--und
+vierzehnjaehrigen Juengelchen? Passt sich das fuer dich, dem der Flaum
+keimt und der ein Liebchen besitzt?'
+
+Dieser ploetzliche Ueberfall rief den entgegengesetzten Ausdruck zweier
+Gefuehle auf das Antlitz des Juenglings: eine glueckliche, aber tiefe
+Scham und einen gruendlichen Jammer, der ueberwog. Julian seufzte.
+'Ich bin zurueckgeblieben', lispelte er mit unwillkuerlichem Doppelsinne.
+
+'Dummheit!' schimpfte Mouton. 'Worin zurueckgeblieben? Bist du nicht
+mit deinen Jahren gewachsen und ein schlanker und schoener Mensch?
+Wenn dir die Wissenschaften widerstehen, so beweist das deinen
+gesunden Verstand. Meiner Treu! ich haette mich als ein Baertiger oder
+wenigstens Flaumiger nicht unter die Buben setzen lassen und waere auf
+der Stelle durchgebrannt.'
+
+'Aber Mouton', sagte der Knabe, 'der Marschall, mein Vater, hat es von
+mir verlangt, dass ich noch ein Jahr unter den Kleinen sitzen bleibe.
+Er hat mich darum gebeten, ihm diesen Gefallen zu tun.' Er sagte das
+mit einem zaertlichen Ausdruck von Gehorsam und ehrfuerchtiger Liebe,
+der mich ergriff, obschon ich mich zu gleicher Zeit an dem die
+kindliche Verehrung missbrauchenden Marschall aergerte und auch darueber
+hoechst missmutig war, dass Julian, gegen mich und jedermann ein
+hartnaeckiger Schweiger, einem Mouton Vertrauen bewies, einem
+Halbmenschen sich aufschloss. Mit Unrecht. Erzaehlen doch auch wir
+Erwachsenen einem treuen Tiere, welches uns die Pfoten auf die Knie
+legt, unsern tiefsten Kummer, und ist es nicht ein vernuenftiger Trieb
+aller von der Natur Benachteiligten, ihre Gesellschaft eher unten zu
+suchen als bei ihresgleichen, wo sie sich als Geschonte und
+Bemitleidete empfinden?
+
+'Weisst du was', fuhr Mouton nach einer Pause fort, und der andere
+Mouton spitzte die Ohren dazu, 'du zeichnest dein Vieh schon jetzt
+nicht schlecht und lernst taeglich hinzu. Ich nehme dich nach dem
+Sueden als meinen Gesellen. Ich habe da eine Bestellung nach Schloss
+Grignan. Die Dingsda--wie heisst sie doch? das fette lustige
+Weibsbild? richtig: die Sevigne!--schickt mich ihrem Schwiegersohn,
+dem Gouverneur dort herum. Du gehst mit und naehrst dich ausgiebig von
+Oliven, bist ein freier loser Vogel, der flattert und pickt, wo er
+will, blickst dein Lebtag in nichts Gedrucktes und auf nichts
+Geschriebenes mehr und laessest den Marschall Marschall sein. Auch
+dein blaues kuehles vornehmes Liebchen bleibt dahinten. Meinst, ich
+haette dich nicht gesehen, Spitzbube, erst vorgestern, da der alte
+Quacksalber in Versailles war, vor den Affen stehen, mit der alten
+Kraeuterschachtel und der grossen blauen Puppe? Fuer diese wird sich
+schon ein brauner sonneverbrannter Ersatz finden.'
+
+Dieses letzte Wort, welches noch etwas zynischer lautete, empoerte mich,
+wiewohl es den Knaben, wie ich ihn kannte, nicht beschaedigen konnte.
+Jetzt raeusperte ich mich kraeftig, und Julian erhob sich in seiner
+ehrerbietigen Art, mich zu begruessen, waehrend Mouton, ohne irgendeine
+Verlegenheit blicken zu lassen, sich begnuegte in den Bart zu murmeln:
+'Der' Mouton war von einer gruendlichen Undankbarkeit.
+
+Ich nahm den Knaben, waehrend Mouton lustig fortpinselte, mit mir in
+den Garten und fragte ihn, ob ihn wirklich der Zyniker in seinem
+College aufgesucht haette, was mir aus naheliegenden Gruenden unangenehm
+war. Julian bejahte. Es habe ihn etwas gekostet, sagte er aufrichtig,
+unter seinen Mitschuelern im Hofraum den Haendedruck Moutons zu
+erwidern, dem die nackten Ellbogen aus den Loechern seiner Aermel und
+die Zehen aus den Schuhen geguckt haetten, 'Aber', sagte er, 'ich tat
+es und begleitete ihn auch noch ueber die Strasse; denn ich danke ihm
+Unterricht und heitere Stunden und habe ihn auch recht lieb, ohne
+seine Unreinlichkeit'.
+
+So redete der Knabe, ohne weiter etwas daraus zu machen, und erinnerte
+mich an eine Szene, die ich vor kurzem aus den obern, auf den
+Spielplatz blickenden Arkaden des College, wohin man mich zu einem
+kranken Schueler gerufen, beobachtet hatte und von welcher ich mich
+lange nicht hatte trennen koennen. Unten war Fechtstunde, und der
+Fechtmeister, ein alter benarbter Sergeant, der lange Jahre unter dem
+Marschall gedient hatte, behandelte den Sohn seines Feldherrn, welcher
+kurz vorher neben Kindern auf einer Schulbank gesessen, mit fast
+unterwuerfiger Ehrerbietung, als erwarte er Befehl, statt ihn zu geben.
+
+Julian focht ausgezeichnet, ich haette fast gesagt: er focht edel. Der
+Knabe pflegte in den langen Stunden des Auswendiglernens das
+Handgelenk mechanisch zu drehen, wodurch dasselbe ungewoehnlich
+geschmeidig wurde. Dazu hatte er genauen Blick und sichern Ausfall.
+So wurde er, wie gesagt, ein Fechter erster Klasse, wie er auch gut
+und verstaendig ritt. Es lag nahe, dass der ueberall Gedemuetigte diese
+seine einzige Ueberlegenheit seine Kameraden fuehlen liess, um ein
+Ansehen zu gewinnen. Aber nein, er verschmaehte es. Die in dieser
+Koerperuebung Geschickten und Ungeschickten behandelte er, ihnen die
+Klinge in der Hand gegenueberstehend, mit der gleichen Courtoisie, ohne
+jemals mit jenen in eine hitzige Wette zu geraten oder sich ueber diese,
+von welchen er sich zuweilen zu ihrer Ermutigung grossmuetig stechen
+liess, lustig zu machen. So stellte er auf dem Fechtboden in einer
+feinen und unauffaelligen Weise jene Gleichheit her, deren er selbst in
+den Schulstunden schmerzlich entbehrte, und genoss unter seinen
+Kameraden zwar nicht einen durch die Faust eroberten Respekt, sondern
+eine mit Scheu verbundene Achtung seiner unerklaerlichen Guete, die
+freilich in ein der Jugend sonst unbekanntes aufrichtiges Mitleid mit
+seiner uebrigen Unbegabtheit verfloss. Die Ungunst des Glueckes, welche
+so viele Seelen verbittert, erzog und adelte die seinige.
+
+Ich war mit Julian in Euerm Garten, Sire, lustwandelnd zu den Kaefigen
+gelangt, wo Eure wilden Tiere hinter Eisenstaeben verwahrt werden.
+Eben hatte man dort einen Wolf eingetan, der mit funkelnden Augen und
+in schraegem, hastigem Gange seinen Kerker durchmass. Ich zeigte ihn
+dem Knaben, welcher nach einem fluechtigen Blick auf die ruhelose
+Bestie sich leicht schaudernd abwendete. Der platte Schaedel, die
+falschen Augen, die widrige Schnauze, die tueckisch gefletschten Zaehne
+konnten erschrecken. Doch ich war die Furcht an dem Knaben, der schon
+Jagden mitgemacht hatte, durchaus nicht gewohnt. 'Ei, Julian, was ist
+dir?' laechelte ich, und dieser erwiderte befangen: 'Das Tier mahnt
+mich an jemand--', liess dann aber die Rede fallen, denn wir
+erblickten auf geringe Entfernung ein vornehmes weibliches Paar, das
+unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: eine purzlige Alte und ein
+junges Maedchen, die erstere die Graefin Mimeure--Ihr erinnert Euch
+ihrer, Sire, wenn sie auch seit Jahrzehnten den Hof meidet, nicht aus
+Nachlaessigkeit, denn sie verehrt Euch grenzenlos, sondern weil sie,
+wie sie gesagt, mit ihren Runzeln Euern Schoenheitssinn nicht
+beleidigen will. Garstig und witzig und wie ich an einem Krueckenstock
+gehend, ein originelles und wackeres Geschoepf, war sie mir eine
+angenehme Erscheinung.
+
+'Guten Tag, Fagon!' rief sie mir entgegen. 'Ich betrachte deine
+Kraeuter und komme dich um ein paar Rhabarberstraeuche zu bitten fuer
+meinen Garten zu Neuilly; du weisst, ich bin ein Stueck von einer
+Aerztin!', und sie nahm meinen Arm. 'Begruesset euch, ihr Jugenden!
+Tun sie, als haetten sie sich nie gesehen!'
+
+Julian, der schuechterne, begruesste das Maedchen, welches ihm die
+Fingerspitzen bot, ohne grosse Verlegenheit, was mich wunderte und
+freute. 'Mirabelle Miramion', nannte sie mir die Graefin, 'ein
+praechtiger Name, nicht wahr, Fagon?' Ich betrachtete das schoene Kind,
+und mir fiel gleich jenes 'blaue Liebchen' ein, mit welchem Mouton den
+Knaben aufgezogen. In der Tat, sie hatte grosse blaue, flehende Augen,
+eine kuehle, durchsichtige Farbe und einen kaum vollendeten Wuchs, der
+noch nichts als eine zaertliche Seele ausdrueckte.
+
+Mit einer kindlichen, glockenhellen Stimme, welche zum Herzen ging,
+begann sie, da mich ihr die Graefin als den Leibarzt des Koenigs
+vorstellte, folgendermassen: 'Erster der Aerzte und Naturforscher, ich
+verneige mich vor Euch in diesem weltberuehmten Garten, welchen Euch
+die Huld des maechtigsten Herrschers, der dem Jahrhundert den Namen
+gibt, in seiner volkreichen und bewundernswerten Hauptstadt gebaut hat.'
+Ich wurde so verbluefft von dieser weitlaeufigen verbluehten Rhetorik
+in diesem kleinen lenzfrischen Munde, dass ich der Alten das Wort
+liess, welche gutmuetig verdriesslich zu schelten begann: 'Lass es gut
+sein, Bellchen. Fagon schenkt dir das uebrige. Unter Freunden,
+Kind--denn Fagon ist es und kein Spoetter--, wie oft hab' ich dich
+schon gebeten in den drei Wochen, da ich dich um mich habe, von diesem
+verwuenschten gespreizten provinzialen Reden abzulassen. So spricht
+man nicht. Dieser hier ist nicht der erste der Aerzte, sondern
+schlechthin Herr Fagon. Der botanische Garten ist kurzweg der
+botanische Garten, oder der Kraeutergarten, oder der koenigliche Garten.
+Paris ist Paris und nicht die Hauptstadt, und der Koenig begnuegt sich
+damit, der Koenig zu sein. Merke dir das.' Der Mund des Maedchens
+oeffnete sich schmerzlich, und ein Traenchen rieselte ueber die bluehende
+Wange.
+
+Da wendete sich zu meinem Erstaunen Julian in grosser Erregung gegen
+die Alte. 'Um Vergebung, Frau Graefin!' sprach er kuehn und heftig.
+'Die Rhetorik ist eine geforderte, unentbehrliche Sache und schwierig
+zu lernen. Ich muss das Fraeulein bewundern, wie reich sie redet, und
+Pere Amiel, wenn er sie hoerte--'
+
+'Pere Amiel!'--die Graefin brach in ein tolles Gelaechter aus, bis sie
+das Zwerchfell schmerzte--, 'Pere Amiel hat eine Nase! aber eine Nase!
+eine Weltnase! Stelle dir vor, Fagon, eine Nase, welche die des Abbe
+Genest beschaemt! Was ich im College zu schaffen hatte? Ich holte
+dort meinen Neffen ab--du weisst, Fagon, ich habe die Kinder von zwei
+verstorbenen Geschwistern auf dem Halse--meinen Neffen, den
+Guntram--armer, armer Junge!--und wurde, bis Pere Tellier, der
+Studienpraefekt, zurueckkaeme, in die Rhetorik des Pere Amiel gefuehrt. O
+Gott! o Gott!' Die Graefin hielt sich den wackelnden Bauch. 'Hab' ich
+gelitten an verschlucktem Lachen! Zuerst das sich ermordende roemische
+Weibsbild! Der Pater erdolchte sich mit dem Lineal. Dann verzog er
+suess das Maul und hauchte: 'Paete, es schmerzt nicht!' Aber was wollte
+das heissen gegen die sterbende Cleopatra mit der Viper! Der Pere
+setzte sich das Lineal an die linke Brustwarze und liess die Aeuglein
+brechen. Dass du das nicht gesehen hast, Fagon!... Ih!' kreischte
+sie ploetzlich, dass es mir durch Mark und Bein ging, 'da ist ja auch
+Pere Tellier!', und sie deutete auf den Wolf, von welchem wir uns
+nicht ueber zwanzig Schritte entfernt hatten. 'Wahrhaftig, Pere
+Tellier, wie er leibt und lebt! Gehen wir weg von deinen garstigen
+Tieren, Fagon, zu deinen wohlriechenden Pflanzen! Gib mir den Arm,
+Julian!'
+
+'Frau Graefin erlauben', fragte dieser, 'warum nanntet Ihr den Guntram
+einen armen Jungen, ihn, der jetzt den Lilien folgt, wenn er nicht
+schon die Ehre hat, die Fahne des Koenigs selbst zu tragen?'
+
+'Ach, ach!' stoehnte die Graefin mit ploetzlich veraendertem Gesichte, und
+den Traenen des Gelaechters folgten die gleichfarbigen des Jammers,
+'warum ich den Guntram einen armen Jungen nannte? Weil er gar nicht
+mehr vorhanden ist, Julian, weggeblasen! Dazu bin ich in den Garten
+gekommen, wo ich dich vermutete, um dir zu sagen, dass Guntram
+gefallen ist, denke dir, am Tag nach seiner Ankunft beim Heer. Er
+wurde gleich eingestellt und fuehrte eine Patrouille so tollkuehn und
+unnuetz vor, dass ihn eine Stueckkugel zerriss, nicht mehr nicht weniger
+als den weiland Marschall Turenne. Stelle dir vor, Fagon: der Junge
+hatte noch nicht sein sechzehntes erreicht, strebte aber aus dem
+College, wo er rasch und gluecklich lernte, wachend und traeumend nach
+der Muskete. Und dabei war er kurzsichtig, Fagon, du machst dir
+keinen Begriff. So kurzsichtig, dass er auf zwanzig Schritte nichts
+vor sich hatte als Nebel. Natuerlich haben ich und alle Vernuenftigen
+ihm den Degen ausgeredet--nutzte alles nichts, denn er ist ein
+Starrkopf erster Haerte. Ich stritt mich muetterlich mit dem Jungen
+herum, aber eines schoenen Tages entlief er und rannte zu deinem Vater,
+Julian, der eben in den Wagen stieg, um sein niederlaendisches Commando
+zu uebernehmen. Dieser befragte das Kind, wie er mir jetzt selbst
+geschrieben hat, ob es unter einem vaeterlichen Willen stuende, und als
+der Junge verneinte, liess ihn der Marschall in seinem Reisezuge
+mitreiten. Nun fault der kecke Bube dortueben'--sie wies noerdlich--'in
+einem belgischen Weiler. Aber die schmalen Erbteile seiner fuenf
+Schwestern haben sich ein bisschen gebessert.'
+
+Ich las auf dem Gesichte Julians, wie tief und verschiedenartig ihn
+der Tod seines Gespielen bewegte. Jenen hatte der Marschall in den
+Krieg genommen und sein eigenes Kind auf einer ekeln Schulbank sitzen
+lassen. Doch der Knabe glaubte so blindlings an die Gerechtigkeit
+seines Vaters, auch wenn er sie nicht begriff, dass die Wolke rasch
+ueber die junge Stirn wegglitt und einem deutlichen Ausdruck der Freude
+Raum gab.
+
+'Du lachst, Julian?' schrie die Alte entsetzt.
+
+'Ich denke', sagte dieser bedaechtig, als kostete er jedes Wort auf der
+Zunge, 'der Tod fuer den Koenig ist in allen Faellen ein Glueck.'
+
+Diese ritterliche, aber nicht lebenslustige Maxime und der unnatuerlich
+glueckliche Ton, in welchem der Knabe sie aussprach, beelendete die
+gute Graefin. Ein halbverschluckter Seufzer bezeugte, dass sie das
+Leiden des Knaben und seine Muehe zu leben wohl verstand. 'Begleite
+Mirabellen, Julian', sagte sie, 'und geht uns voraus, dorthin nach den
+Palmen, nicht zu nahe, denn ich habe mit Fagon zu reden, nicht zu fern,
+damit ich euch huete.'
+
+'Wie schlank sie schreiten!' fluesterte die Alte hinter den sich
+Entfernenden. 'Adam und Eva! Lache nicht, Fagon! Ob das Maedchen
+Puder und Reifrock traegt, wandeln sie doch im Paradiese, und auch
+unschuldig sind sie, weil eine leidenvolle Jugend auf ihnen liegt und
+sie die reine Liebe empfinden laesst, ohne den Stachel ihrer Jahre.
+Mich beleidigt nicht, was mir sonst missfaellt, dass das Maedel ein paar
+Jahre und Zolle'--sie uebertrieb--'mehr hat als der Junge. Wenn die
+nicht zusammengehoeren!
+
+Es ist eine laecherliche Sache mit dem Maedchen, Fagon, und ich sah, wie
+es dich verblueffte, da du von dem schoenen Kinde so geschmacklos
+angeredet wurdest. Und doch ist dieser garstige Hoecker ganz natuerlich
+gewachsen. Meine Schwester, die Vicomtesse, Gott habe sie selig, sie
+war eine Kostbare, eine Precieuse, die sich um ein halbes Jahrhundert
+verspaetet hatte, und erzog das Maedchen in Dijon, wo ihr Mann dem
+Parlamente und sie selbst einem poetischen Garten vorsass, mit den
+Umschreibungen und Redensarten des weiland Fraeuleins von Scudery. Es
+gelang ihr, dem armen folgsamen Kinde den Geschmack gruendlich zu
+verderben. Ich wette'--und sie wies mit ihrer Kruecke auf die zweie,
+welche, aus den sich einander zaertlich, aber bescheiden zuneigenden
+Gestalten zu schliessen, einen seligen Augenblick genossen--, 'jetzt
+plaudert sie ganz harmlos mit dem Knaben, denn sie hat eine einfache
+Seele und ein keusches Gemuet. Die Luft, die sie aushaucht, ist reiner
+als die, welche sie einatmet. Aber geht sie dann morgen mit mir in
+Gesellschaft und kommt neben ein grosses Tier, einen Erzbischof oder
+Herzog, zu sitzen, wird sie von einer toedlichen Furcht befallen, fuer
+albern oder nichtig zu gelten, und behaengt ihre blanke Natur aus
+reiner Angst mit dem Lumpen einer geflickten Phrase. So wird die
+Liebliche unter uns, die wir klar und kurz reden, gerade zu dem, was
+sie fuerchtet, zu einer laecherlichen Figur. Ist das ein Jammer, und
+werde ich Muehe haben, das Kind zurecht zu bringen! Und der Julian,
+der dumme Kerl, der sie noch darin bestaerkt!
+
+Uff!' keuchte die Graefin, die das Gehen an der Kruecke ermuedete, und
+liess sich schwer auf die Steinbank nieder in dem Rondell von Myrten
+und Lorbeeren, wo, Sire, Eure Bueste steht.
+
+'Von dem Knaben zu reden, Fagon', begann sie wieder, 'den musst du mir
+ohne Verzug von der Schulbank losmachen. Es war empoerend, ich sage
+dir, empoerend, Fagon, ihn unter den jungen sitzen zu sehen. Der
+Marschall, dieser schreckliche Pedant, wuerde ihn bei den Jesuiten
+verschimmeln lassen! Nur damit er seine Klassen beendige! Bei den
+Jesuiten, Fagon! Ich habe dem Pere Amiel auf den Zahn gefuehlt. Ich
+kitzelte ihn mit seiner Mimik. Er ist ein eitler Esel, aber er hat
+Gemuet. Er beklagte den Julian und liess dabei einfliessen, sehr
+behutsam, doch deutlich genug: der Knabe waere bei den Vaetern schlecht
+aufgehoben. Diese seien die besten Leute von der Welt, nur etwas
+empfindlich, und man duerfe sie nicht reizen. Der Marschall sei ihnen
+auf die Fuesse getreten: der neue Studienpraefekt aber lasse mit der
+Ehre des Ordens nicht spassen und gebe dem Kinde die Schuld des Vaters
+zu kosten. Dann erschrak er ueber seine Aufrichtigkeit, blickte um
+sich und legte den Finger auf den Mund.
+
+Ich nahm die Knaben mit: den Guntram, unsern Julian, der mit ihm
+irgendein Geheimnis hatte, und noch einen dritten Freund, den Victor
+Argenson, diesen zu meiner eigenen Ergoetzung, denn er ist voller
+Mutwille und Gelaechter.
+
+An jenem Abend trieb er es zu toll. Er und Guntram quaelten Mirabellen,
+die ich schon zu Mittag fuer eine ellenlange Phrase gezankt hatte, bis
+aufs Blut. 'Schoen ausgedrueckt, Fraeulein Mirobolante', spotteten sie,
+'aber noch immer nicht schoen genug! Noch eine Note hoeher!' und so
+fort. Julian verteidigte das Maedchen, so gut er konnte, und vermehrte
+nur das Gelaechter. Ploetzlich brach die Misshandelte in stroemende
+Traenen aus, und ich trieb die Rangen in den grossen Saal, wo ich mit
+ihnen ein Ballspiel begann. Nach einer Weile Julian und Mirabellen
+suchend, fand ich sie im Garten, wo sie auf einer stillen Bank
+zusammensassen: Amor und Psyche. Sie erroeteten, da ich sie
+ueberraschte, nicht allzusehr.
+
+Merke dir's, Fagon, der Julian ist jetzt mein Adoptivkind, und wenn du
+ihn nicht von den Vaetern befreiest und ihm ein moegliches Leben
+verschaffst, meiner Treu! dann stelze ich an dieser Kruecke nach
+Versailles und bringe trotz meiner Runzeln die Sache an den hier!',
+und sie wies auf deine lorbeerbekraenzte Bueste, Majestaet.
+
+Die Alte plauderte mir noch hundert Dinge vor, waehrend ich beschloss,
+sobald sie sich verabschiedet haette, mit dem Knaben ein gruendliches
+Wort zu reden.
+
+Er und das Maedchen erschienen dann wieder, still strahlend. Der Wagen
+der Graefin wurde gemeldet, und Julian begleitete die Frauen an die
+Pforte, waehrend ich meine Lieblingsbank vor der Orangerie aufsuchte.
+Ich labte mich an dem feinen Dufte. Mouton, einen laesterlichen
+Knaster dampfend und die Haende in den Taschen, schlenderte ohne Gruss
+an mir vorueber. Er pflegte seine Abende ausserhalb des Gartens in
+einer Schenke zu beschliessen. Mouton der Pudel dagegen empfahl sich
+mir heftig wedelnd. Ich bin gewiss, das kluge Tier erriet, dass ich
+seinen Meister gern dem Untergang entrissen haette, denn Mouton der
+Mensch soff gebranntes Wasser, was zu berichten ich vergessen oder vor
+der Majestaet mich geschaemt habe.
+
+Der Knabe kam zurueck, weich und gluecklich. 'Lass mich einmal sehen,
+was du zeichnest und malst', sagte ich. 'Es liegt ja wohl alles auf
+der Kammer Moutons.' Er willfahrte und brachte mir eine volle Mappe.
+Ich besah Blatt um Blatt. Seltsamer Anblick, diese Mischung zweier
+ungleichen Haende: Moutons freche Wuerfe von der bescheidenen Hand des
+Knaben nachgestammelt und--leise geadelt! Lange hielt ich einen
+blauen Bogen, worauf Julian einige von Mouton in verschiedenen
+Fluegelstellungen mit Hilfe der Lupe gezeichnete Bienen unglaublich
+sorgfaeltig wiedergegeben. Offenbar hatte der Knabe die Gestalt des
+Tierchens liebgewonnen. Wer mir gesagt haette, dass die Zeichnung
+eines Bienchens den Knaben toeten wuerde!
+
+Zuunterst in der Mappe lag noch ein unfoermlicher Fetzen, worauf Mouton
+etwas gesudelt hatte, was meine Neugierde fesselte. 'Das ist nicht
+von mir, sagte Julian, 'es hat sich angehaengt.' Ich studierte das
+Blatt, welches die wunderliche Parodie einer ovidischen Szene enthielt:
+jener, wo Pentheus rennt, von den Maenaden gejagt, und Bacchus, der
+grausame Gott, um den Fluechtenden zu verderben, ein senkrechtes
+Gebirge vor ihm in die Hoehe wachsen laesst. Wahrscheinlich hatte
+Mouton den Knaben, der zuweilen seinen Aufgaben in der Malkammer oblag,
+die Verse Ovids muehselig genug uebersetzen hoeren und daraus seinen
+Stoff geschoepft. Ein Juengling, unverkennbar Julian in allen seinen
+Koerperformen, welche Moutons Malerauge leichtlich besser kannte als
+der Knabe selbst, ein schlanker Renner, floh, den Kopf mit einem
+Ausdrucke toedlicher Angst nach ein paar ihm nachjagenden Gespenstern
+umgewendet. Keine Bacchantinnen, Weiber ohne Alter, verkoerperte
+Vorstellungen, Aengstigungen, folternde Gedanken--eines dieser
+Scheusale trug einen langen Jesuitenhut auf dem geschorenen Schaedel
+und einen Folianten in der Hand--und erst die Felswand, wuest und
+unerklimmbar, die vor dem Blicke zu wachsen schien, wie ein finsteres
+Schicksal!
+
+Ich sah den Knaben an. Dieser betrachtete das Blatt ohne Widerwillen,
+ohne eine Ahnung seiner moeglichen Bedeutung. Auch Mouton mochte sich
+nicht klargemacht haben, welches schlimme Omen er in genialer
+Dumpfheit auf das Blatt hingetraeumt hatte. Ich steckte dasselbe
+unwillkuerlich, um es zu verbergen, in die Mitte der Blaetterschicht,
+bevor ich diese in die Mappe schob.
+
+'Julian', begann ich freundlich, 'ich beklage mich bei dir, dass du
+mir Mouton vorgezogen hast, ihn zu deinem Vertrauten machend, waehrend
+du dich gegen mein Wohlwollen, das du kennst, in ein unbegreifliches
+Schweigen verschlossest. Fuerchtest du dich, mir dein Unglueck zu sagen,
+weil ich imstande bin, dasselbe klar zu begrenzen und richtig zu
+beurteilen, und du vorziehst, in hoffnungslosem Brueten dich zu
+verzehren? Das ist nicht mutig.'
+
+Julian verzog schmerzlich die Brauen. Aber noch einmal spielte ein
+Strahl der heute genossenen Seligkeit ueber sein Antlitz. 'Herr Fagon',
+sagte er halb laechelnd, 'eigentlich habe ich meinen Gram nur dem
+Pudel Mouton erzaehlt.'
+
+Dieses artige Wort, welches ich ihm nicht zugetraut haette, ueberraschte
+mich. Der Knabe deutete meine erstaune Miene falsch. Er glaubte sich
+missredet zu haben. 'Fraget mich, Herr Fagon', sagte er, 'ich
+antworte Euch die Wahrheit.'
+
+'Du hast Muehe zu leben?'
+
+'Ja, Herr Fagon.'
+
+'Man haelt dich fuer beschraenkt, und du bist es auch, doch vielleicht
+anders, als die Leute meinen.' Das harte Wort war gesprochen.
+
+Der Knabe versenkte den Blondkopf in die Haende und brach in
+schweigende Traenen aus, welche ich erst bemerkte, da sie zwischen
+seinen Fingern rannen. Nun war der Bann gebrochen.
+
+'Ich will Euch meine Kuemmernis erzaehlen, Herr Fagon', schluchzte er,
+das Antlitz erhebend.
+
+'Tue das, mein Kind, und sei gewiss, dass ich dich jetzt, da wir
+Freunde sind, verteidigen werde wie mich selbst. Niemand wird dir
+kuenftig etwas anhaben, weder du noch ein anderer! Du wirst dich
+wieder an Luft und Sonne freuen und dein Tagewerk ohne Grauen beginnen.'
+
+Der Knabe glaubte an mich und fasste mit hoffenden Augen Vertrauen.
+Dann begann er sein Leid zu erzaehlen, halb schon wie ein vergangenes:
+'Einen schlimmen Tag habe ich gelebt, und die uebrigen waren nicht viel
+besser. Es war an einem Herbsttage, dass ich mit Guntram zu seinem
+Ohm, dem Comtur, nach Compiegne fuhr. Wir wollten uns dort im
+Schiessen ueben, fuer uns beide ein neues Vergnuegen und eine Probe
+unserer Augen.
+
+Wir hatten ein leichtes Zweigespann, und Guntram unterhielt mich in
+einer Staubwolke von seiner Zukunft. Diese koenne nur eine
+militaerische sein. Zu anderem habe er keine Lust. Der Comtur empfing
+uns weitlaeufig, aber Guntram hielt nicht Ruhe, bis wir auf Distanz vor
+der Scheibe standen. Keinen einzigen Schuss brachte er hinein. Denn
+er ist kurzsichtig wie niemand. Er biss sich in die Lippe und regte
+sich schrecklich auf. Dadurch wurde auch seine Hand unsicher, waehrend
+ich ins Schwarze traf, weil ich sah und zielte. Der Comtur wurde
+abgerufen, und Guntram schickte den Bedienten nach Wein. Er leerte
+einige Glaeser, und seine Hand fing an zu zittern. Mit
+hervorquellenden Augen und verzerrtem Gesichte schleuderte er seine
+Pistole auf den Rasen, hob sie dann wieder auf, lud sie, lud auch die
+meinige und verlor sich mit mir in das Dickicht des Parkes.
+
+Auf einer Lichtung hob er die eine und bot mir die andere. 'Ich mache
+ein Ende!' schrie er verzweifelt. Ich bin ein Blinder, und die taugen
+nicht ins Feld, und wenn ich nicht ins Feld tauge, will ich nicht
+leben! Du begleitest mich! Auch du taugst nicht ins Leben, obwohl du
+beneidenswert schiessest, denn du bist der groesste Dummkopf, das
+Gespoette der Welt!' 'Und Gott?' fragte ich. 'Ein huebscher Gott',
+hohnlachte er und zeigte dem Himmel die Faust, 'der mir Kriegslust und
+Blindheit und dir einen Koerper ohne Geist gegeben hat!' Wir rangen,
+ich entwaffnete ihn, und er schlug sich in die Buesche.
+
+Seit jenem Tage war ich ein Ungluecklicher, denn Guntram hatte
+ausgesprochen, was ich wusste, aber mir selbst verhehlte, so gut es
+gehen wollte. Stets hoerte ich das Wort Dummkopf hinter mir fluestern,
+auf der Strasse wie in der Schule, und meine Ohren schaerften sich, das
+grausame Wort zu vernehmen. Es mag auch sein, dass meine Mitschueler,
+ueber welche ich sonst nicht zu klagen habe, wenn sie sich ausser dem
+Bereiche meines Ohres glauben, kuerzehalber mich so nennen. Sogar das
+Semmelweib mit den verschmitzten Runzeln, die Lisette, welche vor dem
+College ihre Ware vertreibt, sucht mich zu betruegen, oft recht plump,
+und glaubt es zu duerfen, weil sie mich einen Dummen nennen hoert. Und
+doch hangt an der Mauer des College Gott der Heiland, der in die Welt
+gekommen ist, um Gerechtigkeit gegen alle und Milde gegen die
+Schwachen zu lehren.' Er schwieg und schien nachzudenken.
+
+Dann fuhr er fort: 'Ich will mich nicht besser machen, Herr Fagon, als
+ich bin. Auch ich habe meine boesen Stunden. Bei keinem Spiele wuerde
+ich Sonne und Schatten ungerecht verteilen, und wie kann Gott bei dem
+irdischen Wettspiel einem einzelnen Bleigewichte anhaengen und ihm dann
+zurufen: 'Dort ist das Ziel: lauf mit den andern!' Oft, Herr Fagon,
+habe ich vor dem Einschlafen die Haende gefaltet und den lieben Gott
+bruenstig angefleht, er moege, was ich eben muehselig erlernt, waehrend
+des Schlafes in meinem Kopfe wachsen und erstarken lassen, was ja die
+blosse Natur den andern gewaehrt. Ich wachte auf und hatte alles
+vergessen, und die Sonne erschreckte mich.
+
+'Vielleicht', fluesterte er scheu, 'tue ich dem lieben Gott Unrecht.
+Er huelfe gern, guetig wie er ist, aber er hat wohl nicht immer die
+Macht. Waere das nicht moeglich, Herr Fagon? Wurde es dann allzu arg,
+besuchte mich die Mutter im Traum und sagte mir: 'Halt aus, Julian! Es
+wird noch gut!'
+
+Diese unglaublichen Nativitaeten und kindischen Widersprueche zwangen
+mich zu einem Laecheln, welches ein Grinsen sein mochte. Der Knabe
+erschrak ueber sich selbst und ueber mich. Dann sagte er, als haette er
+schon zu lange gesprochen, hastig, nicht ohne einige Bitterkeit, denn
+die Zuversicht hatte ihn im Laufe seiner Erzaehlung wieder verlassen:
+'Nun weiss jedermann, dass ich dumm bin, selbst der Koenig, und diesem
+haette ich es so gerne verheimlicht'--Julian mochte auf jenen Marly
+anspielen--, 'einzig meinen Vater ausgenommen, der nicht daran glauben
+will.'
+
+'Mein Sohn', sagte ich und legte die Hand auf seine schlanke Schulter,
+'ich philosophiere nicht mit dir, Willst du mir aber glauben, so trage
+ich dich durch die Wellen. Wie du bist, ich werde dich in den Port
+bringen. Zwar du wirst trotz deines schoenen Namens kein Heer und
+keine Flotte fuehren, aber du wirst auch keine Schlacht leichtsinnig
+verlieren zum Schaden deines Koenigs und deines Vaterlandes. Dein Name
+wird nicht wie der deines Vaters in unsern Annalen stehen, aber im
+Buche der Gerechten, denn du kennst die erste Seligpreisung, dass das
+Himmelreich den Armen im Geiste gehoert.
+
+Merk auf! Der erste Punkt ist: du gehst ins Feld und kaempfst in
+unsern Reihen fuer den Koenig und das jetzt so schwer bedrohte
+Frankreich. Im Kugelregen wirst du erfahren, ob du leben darfst.
+Dass du bald hineinkommst, dafuer sorge ich. Du bleibst oder du kehrst
+heim mit dem Selbstvertrauen eines Braven. Ohne Selbstvertrauen kein
+Mann. Niemand wird dir leicht ins Angesicht spotten. Dann wirst du
+ein einfacher Diener deines Koenigs und erfuellst deine Pflicht aufs
+strengste, wie es in dir liegt. Du hast Ehre und Treue, und deren
+bedarf die Majestaet. Unter denen, die sie umgeben, ist kein Ueberfluss
+daran. Marstall, Jagd oder Wache, ein Dienst wird sich finden, wie du
+ihn zu verrichten verstehst. Deine Geburt wird dich statt des eigenen
+Verdienstes vor andern beguenstigen: das mache dich demuetig. Die
+Majestaet, wenn sie sich im Rate muede gearbeitet hat, liebt es, ein
+zwangloses Wort an einen Schweigsamen und unbedingt Getreuen zu
+richten. Du bist zu einfach, um dich in eine Intrige zu mischen;
+dafuer wird dich keine Intrige zugrunde richten. Man wird, wie die
+Welt ist, hinter deinem Ruecken hoehnen und spotten, aber du blickst
+nicht um. Du wirst guetig und gerecht sein mit deinen Knechten und
+keinen Tag beendigen ohne eine Wohltat. Im uebrigen: verzichte!'
+
+Der Knabe blickte mich mit glaeubigen Augen an. 'Das sind Worte des
+Evangeliums', sagte er.
+
+'Verzichtet nicht jedermann', scherzte ich, 'selbst deine Goennerin,
+Frau von Maintenon, selbst der Koenig auf einen Schmuck oder eine
+Provinz? Habe ich, Fagon, nicht ebenfalls verzichtet, vielleicht
+bitterer als du, wenn auch auf meine eigene Weise? Verwaist, arm, mit
+einem elenden Koerper, der sich gerade in deinen Jahren von Tag zu Tag
+verwuchs und verbog, habe ich nicht eine strenge Muse gewaehlt, die
+Wissenschaft? Glaubst du, ich hatte kein Herz, keine Sinne? Ein
+zaertliches Herzchen, Julian!--und entsagte ein fuer allemal dem
+groessten Reiz des Daseins, der Liebe, welche deinem schlanken Wuchse
+und deinem leeren Blondkopf nur so angeworfen wird!'"
+
+Fagon trug, was ihn vielleicht in seiner Jugend schwer bedraengt hatte,
+mit einem so komischen Pathos vor, dass es den Koenig belustigte und
+der Marquise schmeichelte.
+
+"Ich begleitete Julian bis an die Pforte und zog ihn mit Mirabellen
+auf. 'Ihr habt rasch gemacht', sagte ich, 'Es ist so gekommen',
+antwortete er unbefangen. 'Man hat sie mit dem Geiste gequaelt, sie
+weinte, und da fasste ich ein Vertrauen. Auch gleicht sie meiner
+Mutter.'
+
+Eine Arie aus irgendeiner verschollenen Oper meiner Jugendzeit
+traellernd, die einzige, deren ich maechtig bin, kehrte ich zu meiner
+Bank vor der Orangerie zurueck. 'Er muss gleich ins Feld', sagte ich
+mir. Wenig fehlte, ich schlug ihm vor: ohne weiteres eines meiner
+Rosse zu satteln und stracks an die Grenze zum Heere zu jagen; aber
+dieser kuehne Ungehorsam haette den Knaben nicht gekleidet. Ueberdies
+wusste man, dass der Marschall fuer einmal nur die Grenzen sicherte und
+die Festungen in Flandern instand setzte, um vor einer entscheidenden
+Schlacht nach Versailles zurueckzukehren und die endgueltigen Befehle
+deiner Majestaet zu empfangen. Dann wollte ich ihn fassen.
+
+Als ich, die liegengebliebene Mappe noch einmal oeffnend, den Inhalt
+zurechtschuettelte, da, siehe! lag der Pentheus mit der grausigen
+Felswand obenauf, den ich geschworen haette in die Mitte der Blaetter
+geschoben zu haben...
+
+Wenig spaeter begab es sich, dass Mouton der Pudel, in dem Gedraenge der
+Rue Saint-Honore seinen Herrn suchend, verkarrt wurde. Er schlaeft in
+deinem Garten, Majestaet, wo ihn Mouton der Mensch unter einer Catalpa
+beerdigte und mit seinem Taschenmesser in die Rinde des Baumes schnitt:
+'II Moutons'.
+
+Und wirklich lag er bald neben seinem Pudel. Es war Zeit. Der Trunk
+hatte ihn unterhoehlt, und sein Verstand begann zu schwanken. Ich
+beobachtete ihn mitunter aus meinem Bibliothekfenster, wie er in
+seiner Kammer vor der Staffelei sass und nicht nur vernehmlich mit dem
+Geiste seines Pudels plauderte, sondern auch mit huendischer Miene
+gaehnte oder schnellen Maules nach Fliegen schnappte, ganz in der Art
+seines abgeschiedenen Freundes. Eine Wassersucht zog ihn danieder.
+Es ging rasch, und als ich eines Tages an sein Lager trat, in der Hand
+einen Loeffel voll Medizin, drehte er seinem Wohltaeter mit einem
+unaussprechlichen Worte den Ruecken, kehrte das Gesicht gegen die Wand
+und war fertig.
+
+Es begab sich ferner, dass der Marschall aus dem Felde nach Versailles
+zurueckkehrte. Da sein Aufenthalt kein langer sein konnte, ergriff ich
+den Augenblick. Ich war entschlossen, Julian an der Hand, vor ihn zu
+treten und ihm die ganze Wahrheit zu sagen.
+
+Ich fuhr bei den Jesuiten vor. In der Naehe der Hauptpforte hielt das
+von den Dienern kaum gebaendigte feurige Viergespann des Marschalls,
+Julian erwartend, um den Knaben rasch nach Versailles zu bringen. Das
+Tor des Jesuitenhauses oeffnete sich, und Julian wankte heraus, in
+welchem Zustande! Das Haupt vorfallend, den Ruecken gebrochen, die
+Gestalt geknickt, auf unsichern Fuessen, den Blick erloschen, waehrend
+die Augen Victor Argensons, welcher den Freund fuehrte, loderten wie
+Fackeln. Die verbluefften Diener in ihren reichen Livreen beeiferten
+sich, ihren jungen Herrn rasch und behutsam in den Wagen zu heben.
+Ich sprang aus dem meinigen, den Knaben von einer tueckischen Seuche
+ergriffen glaubend.
+
+'Um Gottes willen, Julian', schrie ich, 'was ist mit dir?' Keine
+Antwort. Der Knabe starrte mich mit abwesendem Geiste an. Ich weiss
+nicht, ob er mich kannte. Ich begriff, dass der sonst schon
+Verschlossene jetzt nicht reden werde, und da ueberdies der
+Stallmeister draengte: 'Hinein, Herr, oder zurueck!', denn die
+ungeduldigen Rosse baeumten sich, so liess ich das Kind fahren, mir
+versprechend, ihm bald nach Versailles zu folgen. Schon hatte sich um
+die aufregende Szene vor dem Jesuitenhause ein Zusammenlauf gebildet,
+dessen Neugierde ich zu entrinnen wuenschte, und Victor erblickend,
+welcher mit leidenschaftlicher Gebaerde dem im Sturm davongetragenen
+Gespielen nachrief. 'Mut, Julian! Ich werde dich raechen!', stiess
+ich den Knaben vor mich in meinen Wagen und stieg ihm nach. 'Wohin,
+Herr?' fragte mein Kutscher. Bevor ich antwortete, schrie das
+geistesgegenwaertige Kind: 'Ins Kloster Faubourg Saint-Antoine!'
+
+In dem genannten Kloster hat sich, wie Ihr wisset, Sire, Euer Ideal
+von Polizeiminister einen stillen Winkel eingerichtet, wo er nicht
+ueberlaufen wird und heimlich fuer die oeffentliche Sicherheit von Paris
+sorgen kann. 'Victor', fragte ich durch das Geraeusch der Raeder, 'was
+ist? was hat sich begeben?'
+
+'Ein riesiges Unrecht!' wuetete der Knabe. 'Pere Tellier, der Wolf,
+hat Julian mit Riemen gezuechtigt, und er ist unschuldig! Ich bin der
+Anstifter! Ich bin der Taeter! Aber ich will dem Julian Gerechtigkeit
+verschaffen, ich fordere den Pater auf Pistolen!' Diese Absurditaet,
+mit dem Gestaendnisse Victors, das Unglueck verschuldet zu haben,
+brachte mich dergestalt auf, dass ich ihm ohne weiteres eine salzige
+Ohrfeige zog. 'Sehr gut!' sagte er. 'Kutscher, du schleichst wie
+eine Schnecke!' Er steckte ihm sein volles Beutelchen zu. 'Rasch!
+peitsche! jage! Herr Fagon, seid gewiss, der Vater wird dem Julian
+Gerechtigkeit verschaffen! Oh, er kennt die Jesuiten, diese Schurken,
+diese Schufte, und ihre schmutzige Waesche! Ihn aber fuerchten sie wie
+den Teufel!' Ich hielt es fuer unnoetig, das rasende Kind weiter zu
+fragen, da er ja seine Beichte vor dem Vater ablegen wuerde und die
+fliegenden Rosse schon das schlechte Pflaster der Vorstadt mit ihren
+Hufen schlugen, dass die Funken spritzten. Wir waren angelangt und
+wurden sogleich vorgelassen.
+
+Argenson blaetterte in einem Aktenstoss. 'Wir ueberfallen, Argenson!'
+entschuldigte ich.
+
+'Nicht, nicht, Fagon', antwortete er mir die Hand schuettelnd und
+rueckte mir einen Stuhl. 'Was ist denn mit dem Jungen? Er glueht ja
+wie ein Ofen,' 'Vater--' 'Halt das Maul! Herr Fagon redet.'
+
+'Argenson', begann ich, 'ein schwerer Unfall, vielleicht ein grosses
+Unglueck hat sich zugetragen. Julian Boufflers'--ich blickte den
+Minister fragend an--"Weiss von dem armen Knaben", sagte er--'wurde
+bei den Jesuiten geschlagen, und der Knabe fuhr nach Versailles in
+einem Zustande, der, wenn ich richtig sah, der Anfang einer
+gefaehrlichen Krankheit ist. Victor kennt den Hergang.'
+
+'Erzaehle!' gebot der Vater. 'Klar, ruhig, umstaendlich. Auch der
+kleinste Punkt ist wichtig. Und luege nicht!'
+
+'Luegen?' rief der empoerte Knabe, 'werde ich da luegen, wo nur die
+Wahrheit hilft? Diese Schufte, die Jesuiten--'
+
+'Die Tatsachen!' befahl der Minister mit einer Rhadamanthusmiene.
+Victor nahm sich zusammen und erzaehlte mit erstaunlicher Klarheit.
+
+'Es war vor der Rhetorik des Pere Amiel, und wir steckten die Koepfe
+zusammen, welchen Possen wir dem Nasigen spielen wuerden. 'Etwas Neues!
+' rief man von allen Seiten, 'etwas noch nicht Dagewesenes! eine
+Erfindung!' Da fiel uns ein--'
+
+'Da fiel mir ein', verbesserte der Vater.
+
+'--Mir ein, Julian, der so huebsch zeichnet, zu bitten, uns etwas mit
+der Kreide an die schwarze Tafel zu malen. Ich legte ihm, der auf
+seiner Bank ueber den Buechern sass, eine Lektion einlernend--er lernt
+so unglaublich schwer--, den Arm um den Hals. Zeichne uns etwas!'
+schmeichelte ich. 'Ein Rhinoceros!' Er schuettelte den Kopf. 'Ich
+merke', sagte er, 'ihr wollt damit nur den guten Pater aergern, und da
+tue ich nicht mit. Es ist eine Grausamkeit. Ich zeichne euch keine
+Nase!'
+
+'Aber einen Schnabel, eine Schleiereule, du machst die Eulen so
+komisch!'
+
+'Auch keinen Schnabel, Victor.'
+
+Da sann ich ein wenig und hatte einen Einfall.' Der Minister runzelte
+seine pechschwarze Braue. Victor fuhr mit dem Mute der Verzweiflung
+fort: ''Zeichne uns ein Bienchen, Julian', sagte ich, du kannst das so
+allerliebst!' 'Warum nicht?' antwortete er dienstfertig und zeichnete
+mit sorgfaeltigen Zuegen ein nettes Bienchen auf die Tafel.
+
+'Schreibe etwas bei!'
+
+'Nun ja, wenn du willst', sagte er und schrieb mit der Kreide:
+'abeille.'
+
+'Ach, du hast doch gar keine Einbildungskraft, Julian! Das lautet
+trocken.'
+
+'Wie soll ich denn schreiben, Victor?'
+
+'Wenigstens das Honigtierchen, bete a miel.''
+
+Der Minister begriff sofort das alberne Wortspiel: bete a miel und
+bete Amiel. 'Da hast du etwas dafuer!' rief er empoert und gab dem
+Erfinder des Calembourgs eine Ohrfeige, gegen welche die meinige eine
+Liebkosung gewesen war.
+
+'Sehr gut!' sagte der Knabe, dem das Ohr blutete.
+
+'Weiter! und mach es kurz!' befahl der Vater, 'damit du mir aus den
+Augen kommst!'
+
+'--In diesem Augenblick trat Pere Amiel ein, schritt auf und nieder,
+beschnueffelte die Tafel, verstand und tat dergleichen, der Schaeker,
+als ob er nicht verstuende. Aber: 'Bete Amiel! dummer Amiel!'scholl es
+erst vereinzelt, dann aus mehreren Baenken, dann vollstimmig, 'bete
+Amiel! dummer Amiel!'
+
+Da--Schrecken--wurde die Tuer aufgerissen. Es war der reissende Wolf,
+der Pere Tellier. Er hatte durch die Korridore spioniert und zeigte
+jetzt seine teuflische Fratze.
+
+'Wer hat das gezeichnet?'
+
+'Ich', antwortete Julian fest. Er hatte sich die Ohren verhalten,
+seine Lektion zu studieren fortfahrend, und verstand und begriff, wie
+er ja ueberhaupt so schwer begreift, nichts von nichts.
+
+'Wer hat das geschrieben?'
+
+'Ich', sagte Julian.
+
+Der Wolf tat einen Sprung gegen ihn, riss den Verbluefften empor,
+presste ihn an sich, ergriff einen Buecherriemen und--' Dem Erzaehlenden
+versagte das Wort.
+
+'Und du hast geschwiegen, elende Memme?' donnerte der Minister. 'Ich
+verachte dich! Du bist ein Lump!'
+
+'Geschrieen habe ich wie einer, den sie morden', rief der Knabe, ''ich
+war es! ich! ich!' Auch Pere Amiel hat sich an den Wolf geklammert,
+die Unschuld Julians beteuernd. Er hoerte es wohl, der Wolf! Aber mir
+kruemmte er kein Haar, weil ich dein Sohn bin und dich die Jesuiten
+fuerchten und achten. Den Marschall aber hassen sie und fuerchten ihn
+nicht. Da musste der Julian herhalten. Aber ich will dem Wolf mein
+Messer'--der Knabe langte in die Tasche--'zwischen die Rippen stossen,
+wenn er nicht--'
+
+Der gestrenge Vater ergriff ihn am Kragen, schleppte ihn gegen die
+Tuere, oeffnete sie, warf ihn hinaus und riegelte. Im naechsten
+Augenblicke schon wurde draussen mit Faeusten gehaemmert, und der Knabe
+schrie: 'Ich gehe mit zum Pere Tellier! Ich trete als Zeuge auf und
+sage ihm: 'Du bist ein Ungeheuer!''
+
+'Im Grunde, Fagon', wendete sich der Minister kaltbluetig gegen mich,
+ohne sich an das Gepolter zu kehren, 'hat der Junge recht: wir beide
+suchen den Pater auf, ohne Verzug, fallen ihn mit der nackten Wahrheit
+an, breiten sie wie auf ein Tuch vor ihm aus und noetigen ihn, mit uns
+zu Julian zu gehen, heute noch, sogleich, und in unsrer Gegenwart dem
+Misshandelten Abbitte zu tun.' Er blickte nach einer Stockuhr. 'Halb
+zwoelf. Pere Tellier haelt seine Bauerzeiten fest. Er speist Punkt
+Mittag mit Schwarzbrot und Kaese. Wir finden ihn.'
+
+Argenson zog mich mit sich fort. Wir stiegen ein und rollten.
+
+'Ich kenne den Knaben', wiederholte der Minister. 'Nur eines ist mir
+in seiner Geschichte unklar. Es ist Tatsache, dass die Vaeter damit
+anfingen, ihn zu haetscheln und in Baumwolle einzuwickeln. Seine
+Kameraden, auch mein Halunke, haben sich oft darueber aufgehalten. Ich
+begreife, dass die Vaeter, wie sie beschaffen sind, das Kind hassen,
+seit der Marschall das Missgeschick hatte, sie zu entlarven. Aber
+warum sie, denen der Marschall gleichgueltig war, einen Vorteil darin
+fanden, das Kind zuerst ueber die dem Schwachen gebuehrende Schonung
+hinaus zu beguenstigen, das entgeht mir.'
+
+'Hm', machte ich.
+
+'Und gerade das muss ich wissen, Fagon.'
+
+'Nun denn, Argenson', begann ich mein Bekenntnis--auch dir, Majestaet,
+lege ich es ab, denn dich zumeist habe ich beleidigt--, 'da ich Julian
+bei den Vaetern um jeden Preis warm betten wollte und ihm keine
+durchschlagende Empfehlung wusste--man plaudert ja zuweilen ein
+bisschen, und so erzaehlte ich den Vaetern Rapin und Bouhours, die ich
+in einer Damengesellschaft fand, Julians Mutter sei dir, dem Koenige,
+eine angenehme Erscheinung gewesen. Die reine Wahrheit. Kein Wort
+darueber hinaus, bei meiner Ehre, Argenson!' Dieser verzog das Gesicht.
+
+Du, Majestaet, zeigest mir ein finsteres und ungnaediges. Aber, Sire,
+trage ich die Schuld, wenn die Einbildungskraft der Vaeter Jesuiten das
+Reinste ins Zweideutige umarbeitet?
+
+'Als sie dann', fuhr ich fort, 'den Marschall zu hassen und sich fuer
+ihn zu interessieren begannen, lauschten und forschten sie nach ihrer
+Weise, erfuhren aber nichts, als dass Julians Mutter das reinste
+Geschoepf der Erde war, bevor sie der Engel wurde, der jetzt ueber die
+Erde laechelt. Leider kamen die Vaeter zur Ueberzeugung ihres Irrtums
+gerade, da das Kind desselben am meisten bedurft haette.' Argenson
+nickte."
+
+"Fagon", sagte der Koenig fast strenge, "das war deine dritte und
+groesste Freiheit. Spieltest du so leichtsinnig mit meinem Namen und
+dem Rufe eines von dir angebeteten Weibes, haettest du mir wenigstens
+diesen Frevel verschweigen sollen, selbst wenn deine Geschichte
+dadurch unverstaendlicher geworden waere. Und sage mir, Fagon: hast du
+da nicht nach dem verrufenen Satze gehandelt, dass der Zweck die
+Mittel heilige? Bist du in den Orden getreten?"
+
+"Wir alle sind es ein bisschen, Majestaet", laechelte Fagon und fuhr
+fort: "Mitte Weges begegneten wir dem Pere Amiel, der wie ein
+Ungluecklicher umherirrte und, meinen Wagen erkennend, sich so
+verzweifelt gebaerdete, dass ich halten liess. Am Kutschenschlage
+entwickelte er seine naerrische Mimik und war im Augenblicke von einem
+Kreise toll lachender Gassenjungen umgeben. Ich hiess ihn einsteigen.
+
+'Der Mutter Gottes sei gedankt, dass ich Euch finde, Herr Fagon! Dem
+Julian, welchen Ihr beschuetzet, ist ein Leid geschehen, und unschuldig
+ist er, wie der zerschmetterte kleine Astyanax!' deklamierte der
+Nasige. 'Wenn Ihr, Herr Fagon, den seltsamen Blick gesehen haettet,
+welchen der Knabe gegen seinen Henker erhob, diesen Blick des Grauens
+und der Todesangst!' Pere Amiel schoepfte Atem. 'Floehe ich ueber Meer,
+mich verfolgte dieser Blick! Begruebe ich mich in einen finstern Turm,
+er draenge durch die Mauer! Verkroeche ich mich--'
+
+'Wenn Ihr Euch nur nicht verkriechet, Professor', unterbrach ihn der
+Minister, 'jetzt, da es gilt, dem Pere Tellier--denn zu diesem fahren
+wir, und Ihr fahret mit--ins Angesicht Zeugnis abzulegen! Habt Ihr
+den Mut?'
+
+'Gewiss, gewiss!' beteuerte Pere Amiel, der aber merklich erblasste
+und in seiner Soutane zu schlottern begann. Pere Tellier ist selbst
+in seinem feinen Orden als ein Roher und Gewaltsamer gefuerchtet.
+
+Da wir am Professhause ausstiegen, Pere Amiel den Vortritt gebend,
+sprang Victor vom Wagenbrett, wo er neben dem Bedienten die Fahrt
+aufrecht mitgemacht hatte. 'Ich gehe mit!' trotzte er. Argenson
+runzelte die Stirn, liess es aber zu, nicht unzufrieden, einen zweiten
+Zeugen mitzubringen.
+
+Pere Tellier verleugnete sich nicht. Argenson bedeutete den Pater und
+den Knaben, im Vorzimmer zurueckzubleiben. Sie gehorchten, jener
+erleichtert, dieser unmutig. Der Pater Rektor bewohnte eine duerftige,
+ja armselige Kammer, wie er auch eine verbrauchte Soutane trug, Tag
+und Nacht dieselbe. Er empfing uns mit gekruemmtem Ruecken und einem
+falschen Laecheln in den ungeschlachten und wilden Zuegen. 'Womit diene
+ich meinen Herren?' fragte er suesslich grinsend.
+
+'Hochwuerden', antwortete Argenson und wies den gebotenen Stuhl, der
+mit Staub bedeckt war und eine zerbrochene Lehne hatte, zurueck, 'ein
+Leben steht auf dem Spiel. Wir muessen eilen, es zu retten. Heute
+wurde der junge Boufflers im Collegium irrtuemlich gezuechtigt.
+Irrtuemlich. Ein durchtriebener Range hat den beschraenkten Knaben
+etwas auf die Tafel zeichnen und schreiben lassen, das sich zu einer
+albernen Verspottung des Pere Amiel gestaltete, ohne dass Julian
+Boufflers die leiseste Ahnung hatte, wozu er missbraucht wurde. Es
+ist leicht zu beweisen, dass er der einzige seiner Klasse war, der
+solche Possen tadelte und nach Kraeften verhinderte. Haette er den
+fraglichen Streich in seinem Blondkopfe ersonnen, dann war die
+Zuechtigung eine zweifellos verdiente. So aber ist sie eine
+fuerchterliche Ungerechtigkeit, die nicht schnell und nicht voll genug
+gesuehnt werden kann. Dazu kommt noch etwas unendlich Schweres. Der
+missverstaendlich Gezuechtigte, ein Kind an Geist, hatte die Seele eines
+Mannes. Man glaubte einen Jungen zu strafen und hat einen Edelmann
+misshandelt.'
+
+'Ei, ei', erstaunte der Pater, 'was Exzellenz nicht alles sagen! Kann
+eine einfache Sache so verdreht werden? Ich gehe durch die Korridore.
+Das ist meine Pflicht. Ich hoere Laerm in der Rhetorik. Pere Amiel
+ist ein Gelehrter, der den Orden ziert, aber er weiss sich nicht in
+Respekt zu setzen. Unsre Vaeter lieben es nicht, koerperlich zu
+zuechtigen, aber das konnte nicht laenger gehn, ein Exempel musste
+statuiert werden. Ich trete ein. Eine Sottise steht auf der Tafel.
+Ich untersuche. Boufflers bekennt. Das uebrige verstand sich.
+
+Unbegabt? beschraenkt? Im Gegenteil, durchtrieben ist er, ein
+Duckmaeuser. Stille Wasser sind tief. Was ihm mangelt, ist die
+Aufrichtigkeit, er ist ein Heuchler und Gleisner. Hat's geschmerzt?
+O die zarte Haut! Ein Herrensoehnchen, wie? Tut mir leid, wir Vaeter
+Jesu kennen kein Ansehn der Person. Auch hat uns der Marschall selbst
+gebeten, sein Kind nicht zu verziehn. Ich war aelter als jener, da ich
+meine letzten und besten Streiche erhielt, im Seminar, vierzig weniger
+einen wie Sankt Paulus, der auch ein Edelmann war. Bin ich
+draufgegangen? Ich rieb mir die Stelle, mit Zuechten geredet, und mir
+war wohler als zuvor. Und ich war unschuldig, von der Unschuld dieses
+Verstockten aber ueberzeugt mich niemand!'
+
+'Vielleicht doch, Hochwuerden!' sagte Argenson und rief die zwei
+Harrenden herein.
+
+'Victor', bleckte der Jesuit den eintretenden Knaben an, 'du hast es
+nicht getan! Fuer dich stehe ich. Du bist ein gutartiges Kind. Ein
+Dummkopf waerest du, dich fuer schuldig zu erklaeren, den niemand anklagt.'
+
+Victor, der in trotzigster Haltung nahte, schaute dem Unhold tapfer
+ins Gesicht, aber der Mut sank ihm. Sein Herz erbebte vor der
+wachsenden Wildheit dieser Zuege und den funkelnden Wolfsaugen.
+
+Er machte rasch. 'Ich habe den Julian verleitet, der nichts davon
+verstand', sagte er. 'Das schrie ich Euch in die Ohren, aber Ihr
+wolltet nicht hoeren, weil Ihr ein Boesewicht seid!'
+
+'Genug!' befahl Argenson und wies ihm die Tuere. Er ging nicht ungern.
+Er begann sich zu fuerchten.
+
+'Pere Amiel', wandte sich der Minister gegen diesen, 'Hand aufs Herz,
+konnte Julian das Wortspiel erfinden?'
+
+Der Pater zauderte, mit einem bangen Blick auf den Rektor. 'Mut,
+Pater', fluesterte ich, 'Ihr seid ein Ehrenmann!'
+
+'Unmoeglich, Exzellenz, wenn nicht Achill eine Memme und Thersites ein
+Held war!' beteuerte Pere Amiel, sich mit seiner Rhetorik ermutigend.
+'Julian ist schuldlos wie der Heiland.'
+
+Das erdfarbene Gesicht des Rektors verzerrte sich vor Wut. Er war
+gewohnt, im Collegium blinden Gehorsam zu finden, und ertrug nicht den
+geringsten Widerspruch.
+
+'Wollt Ihr kritisieren, Bruder?' schaeumte er.
+
+'Kritisiert zuerst Euer tolles Fratzenspiel, das Euch dem Duemmsten zum
+Spotte macht! Ich habe den Knaben gerecht behandelt!'
+
+Diese Herabwuerdigung seiner Mimik brachte den Pater gaenzlich ausser
+sich und liess ihn fuer einen Augenblick alle Furcht vergessen.
+'Gerecht?' jammerte er. 'Dass Gott erbarm'! Wie oft hab' ich Euch
+gebeten, dem Unvermoegen des Knaben Rechnung zu tragen und ihn nicht zu
+zerstoeren! Wer antwortete mir: Meinethalben gehe er drauf!', wer hat
+das gesprochen?'
+
+'Mentiris impudenter!' heulte der Wolf.
+
+'Mentiris impudentissime, pater reverende!' ueberschrie ihn der Nasige,
+an allen Gliedern zitternd.
+
+'Mir aus den Augen!' herrschte der Rektor, mit dem Finger nach der
+Tuere weisend, und der kleine Pater rettete sich, so geschwind er
+konnte.
+
+Da wir wieder zu dreien waren: 'Hochwuerden', sprach der Minister ernst,
+'es wurde der Vorwurf gegen Euch erhoben, den Knaben zu hassen. Eine
+schwere Anklage! Widerlegt und beschaemt dieselbe, indem Ihr mit uns
+geht und Julian Abbitte tut. Niemand wird dabei zugegen sein als wir
+zwei.' Er deutete auf mich. 'Das genuegt. Dieser Herr ist der
+Leibarzt des Koenigs und um die Gesundheit des Knaben in schwerer Sorge.
+Ihr entfaerbet Euch? Lasst es Euch kosten und bedenket: der, dessen
+Namen Ihr traget, gebietet, die Sonne nicht ueber einem Zorne
+untergehen zu lassen, wieviel weniger ueber einer Ungerechtigkeit!'
+
+Ein Unrecht bekennen und suehnen! Der Jesuit knirschte vor Ingrimm.
+
+'Was habe ich mit dem Nazarener zu schaffen?' laesterte er, in
+verwundetem Stolze sich aufbaeumend, und der Haessliche schien gegen die
+Decke zu wachsen wie ein Daemon. 'Ich bin der Kirche! Nein, des
+Ordens!... Und was habe ich mit dem Knaben zu schaffen? Nicht ihn
+hasse ich, sondern seinen Vater, der uns verleumdet hat! verleumdet!
+schaendlich verleumdet!'
+
+'Nicht der Marschall', sagte ich verdutzt, 'sondern mein Laboratorium
+hat die Vaeter--verleumdet.'
+
+'Faelschung! Faelschung!' tobte der Rektor. 'Jene Briefe wurden nie
+geschrieben! Ein teuflischer Betrueger hat sie untergeschoben!', und
+er warf mir einen moerderischen Blick zu.
+
+Ich war betroffen, ich gestehe es, ueber diese Macht und Gewalt:
+Tatsachen zu vernichten, Wahrheit in Luege und Luege in Wahrheit zu
+verwandeln.
+
+Pere Tellier rieb sich die eiserne Stirn. Dann veraenderte er das
+Gesicht und beugte sich vor dem Minister halb kriechend, halb
+spoettisch: 'Exzellenz, ich bin Euer gehorsamer Diener, aber Ihr
+begreift: ich kann die Gesellschaft nicht so tief erniedrigen, einem
+Knaben Abbitte zu leisten.'
+
+Argenson wechselte den Ton nicht minder gewandt. Er stellte sich
+neben Tellier mit einem unmerklichen Laecheln der Verachtung in den
+Mundwinkeln. Der Pater bot das Ohr.
+
+'Seid Ihr gewiss', wisperte der Minister, 'dass Ihr den Sohn des
+Marschalls gegeisselt habt, und nicht das edelste Blut Frankreichs?'
+
+Der Pater zuckte zusammen. 'Es ist nichts daran', wisperte er zurueck.
+'Ihr narrt mich, Argenson.'
+
+'Ich habe keine Gewissheit. In solchen Dingen gibt es keine. Aber
+die blosse Moeglichkeit wuerde Euch als--Ihr wisst, was ich meine und
+wozu Ihr vorgeschlagen seid--unmoeglich machen.'
+
+Ich glaubte zu sehen, Sire, wie Hochmut und Ehrgeiz sich in den
+duestern Zuegen Eures Beichtvaters bekaempften, aber ich konnte den
+Sieger nicht erraten.
+
+'Ich denke, ich gehe mit den Herren', sagte Pere Tellier.
+
+'Kommt, Pater!' draengte der Minister und streckte die Hand gegen ihn
+aus.
+
+'Aber ich muss die Soutane wechseln. Ihr seht, diese ist geflickt,
+und ich koennte in Versailles der Majestaet begegnen.' Er oeffnete ein
+Nebenzimmer.
+
+Argenson blickte ihm ueber die Schulter und sah in einen niedern
+Verschlag mit einem nackten Schragen und einem wurmstichigen Schreine.
+
+'Mit Vergunst, Herren', lispelte der Jesuit schaemig, 'ich habe mich
+noch nie vor weltlichen Augen umgekleidet.'
+
+Argenson fasste ihn an der Soutane. 'Ihr haltet Wort?'
+
+Pere Tellier streckte drei schmutzige Finger gegen etwas Heiliges, das
+im Dunkel einer Ecke klebte, entschluepfte und schloss die Tuer bis auf
+eine kleine Spalte, welche Argenson mit der Fussspitze offenhielt.
+
+Wir hoerten den Schrank oeffnen und schliessen. Zwei stille Minuten
+verstrichen. Argenson stiess die Tuere auf. Weg war Pere Tellier.
+Hatte er der Einfluesterung Argensons nicht geglaubt und nur die
+Gelegenheit ergriffen, aus unserer Gegenwart zu entrinnen? Oder hatte
+er sie geglaubt, der eine Daemon seines Ordens aber den andern, der
+Stolz den Ehrgeiz ueberwaeltigt? Wer blickt in den Abgrund dieser
+finstern Seele?
+
+'Meineidiger!' fluchte der Minister, oeffnete den Schrein, erblickte
+eine Treppe und stuerzte sich hinab. Ich stolperte und fiel mit meiner
+Kruecke nach. Unten standen wir vor den hoechlich erstaunten Mienen
+eines vornehmen Novizen mit den feinsten Manieren, welcher auf unsre
+Frage nach dem Pater bescheiden erwiderte, seines Wissens sei derselbe
+vor einer Viertelstunde in Geschaeften nach Rouen verreist.
+
+Argenson gab jede Verfolgung auf. 'Eher schleppte ich den Cerberus
+aus der Hoelle, als dieses Ungeheuer nach Versailles!... Ueberdies,
+wo ihn finden in den hundert Schlupfwinkeln der Gesellschaft? Ich
+gehe. Schickt nach frischen Pferden, Fagon, und eilet nach Versailles.
+Erzaehlt alles der Majestaet. Sie wird Julian die Hand geben und zu
+ihm sprechen: 'Der Koenig achtet dich, dir geschah zu viel!' Und der
+Knabe ist ungegeisselt.' Ich gab ihm recht. Das war das Beste, das
+einzig gruendlich Heilsame, wenn es nicht zu spaet kam."
+
+Fagon betrachtete den Koenig unter seinen buschigen greisen Brauen
+hervor, welchen Eindruck auf diesen die ihm entgegengehaltene Larve
+seines Beichtigers gemacht haette. Nicht dass er sich schmeichelte,
+Ludwig werde seine Wahl widerrufen. Warnen aber hatte er den Koenig
+wollen vor diesem Feinde der Menschheit, der mit seinen Daemonenfluegeln
+das Ende einer glaenzenden Regierung verschatten sollte. Allein Fagon
+las in den Zuegen des Allerchristlichsten nichts als ein natuerliches
+Mitleid mit dem Lose des Sohnes einer Frau, die dem Gebieter fluechtig
+gefallen hatte, und das Behagen an einer Erzaehlung, deren Wege wie die
+eines Gartens in einen und denselben Mittelpunkt zusammenliefen: der
+Koenig, immer wieder der Koenig!
+
+"Weiter, Fagon", bat die Majestaet, und dieser gehorchte, gereizt und
+in verschaerfter Laune.
+
+"Da die Pferde vor einer Viertelstunde nicht anlangen konnten, trat
+ich bei einem dem Professhause gegenueber wohnenden Bader, meinem
+Klienten, ein und bestellte ein laues Bad, denn ich war angegriffen.
+Waehrend das Wasser meine Lebensgeister erfrischte, machte ich mir die
+herbsten Vorwuerfe, den mir anvertrauten Knaben vernachlaessigt und
+seine Befreiung verschoben zu haben. Nach einer Weile stoerte mich
+durch die duenne Wand ein unmaessiges Geplauder. Zwei Maedchen aus dem
+untern Buergerstande badeten nebenan. 'Ich bin so ungluecklich!'
+schwatzte die eine und kramte ein dummes Liebesgeschichtchen aus, 'so
+ungluecklich!' Eine Minute spaeter kicherten sie zusammen. Waehrend ich
+meine Laessigkeit verklagte und eine zentnerschwere Last auf dem
+Gewissen trug, schaekerten und bespritzten sich neben mir zwei
+leichtfertige Nymphen.
+
+In Versailles--"
+
+Koenig Ludwig wendete sich jetzt gegen Dubois, den Kammerdiener der
+Marquise, der, leise eingetreten, fluesterte: "Die Tafel der Majestaet
+ist gedeckt." "Du stoerst, Dubois", sagte der Koenig, und der alte
+Diener zog sich zurueck mit einem leisen Ausdrucke des Erstaunens in
+den geschulten Mienen, denn der Koenig war die Puenktlichkeit selber.
+
+"In Versailles", wiederholte Fagon, "fand ich den Marschall tafelnd
+mit einigen seiner Standesgenossen. Da war Villars, jeder Zoll ein
+Prahler, ein Heros, wie man behauptet und ich nicht widerspreche, und
+der unverschaemteste Bettler, wie du ihn kennst, Majestaet; da war
+Villeroy, der Schlachtenverlierer, der nichtigste der Sterblichen, der
+von den Abfaellen deiner Gnade lebt, mit seinem unzerstoerlichen Duenkel
+und seinen grossartigen Manieren; Grammont mit dem vornehmen Kopfe,
+der mich gestern in deinem Saale, Majestaet, und an deinen Spieltischen
+mit gezeichneten Karten betrogen hat, und Lauzun, der unter seiner
+sanften Miene gruendlich Verbitterte und Boshafte. Vergib, ich sah
+deine Hoeflinge verzerrt im grellen Lichte meiner Herzensangst. Auch
+die Graefin Mimeure war geladen und Mirabelle, die neben Villeroy sass,
+welcher dem armen Kinde mit seinen siebzigjaehrigen Geckereien angst
+und bange machte.
+
+Julian war von seinem Vater zur Tafel befohlen und bleich wie der Tod.
+Ich sah, wie ihn der Frost schuettelte, und betrachtete unverwandt das
+Opfer mit heiliger Scheu.
+
+Das Gespraech--gibt es beschleunigende Daemonen, die den Steigenden
+stuermisch emporheben und den Gleitenden mit grausamen Fuessen in die
+Tiefe stossen?--das Gespraech wurde ueber die Disziplinarstrafen im
+Heere gefuehrt. Man war verschiedener Meinung. Es wurde gestritten,
+ob ueberhaupt koerperlich gezuechtigt werden solle, und wenn ja, mit
+welchem Gegenstande, mit Stock, Riemen oder flacher Klinge. Der
+Marschall, menschlich wie er ist, entschied sich gegen jede
+koerperliche Strafe, ausser bei unbedingt entehrenden Vergehen, und
+Grammont, der falsche Spieler, stimmte ihm bei, da die Ehre, wie
+Boileau sage, eine Insel mit schroffen Borden sei, welche, einmal
+verlassen, nicht mehr erklommen werden koenne. Villars gebaerdete sich,
+wenn ich es sagen soll, wie ein Halbnarr und erzaehlte, einer seiner
+Grenadiere habe, wahrscheinlich ungerechterweise gezuechtigt, sich mit
+einem Schusse entleibt, und er--Marschall Villars--habe in den
+Tagesbefehl gesetzt: Lafleur haette Ehre besessen auf seine Weise. Das
+Gespraech kreuzte sich. Der Knabe folgte ihm mit irren Augen.
+'Schlaege', 'Ehre', 'Ehre', 'Streiche' scholl es hin- und herueber. Ich
+fluesterte dem Marschall ins Ohr: 'Julian ist leidend, er soll zu Bette.'
+'Julian darf sich nicht verwoehnen', erwiderte er. 'Der Knabe wird
+sich zusammennehmen. Auch wird die Tafel gleich aufgehoben.' Jetzt
+wendete sich der galante Villeroy gegen seine schuechterne Nachbarin.
+'Gnaediges Fraeulein', naeselte er und spreizte sich, 'Sprecht, und wir
+werden ein Orakel vernehmen!' Mirabelle, schon auf Kohlen sitzend,
+ueberdies geaengstigt durch das entsetzliche Aussehen Julians, verfiel
+natuerlich in ihre Gewoehnung und antwortete: 'Koerperliche Gewalttat
+ertraegt kein Untertan des stolzesten der Koenige: ein so Gebrandmarkter
+lebt nicht laenger!' Villeroy klatschte Beifall und kuesste ihr den
+Nagel des kleinen Fingers. Ich erhob mich, fasste Julian und riss ihn
+weg. Dieser Aufbruch blieb fast unbemerkt. Der Marschall mag
+denselben bei seinen Gaesten entschuldigt haben.
+
+Waehrend ich den Knaben entkleidete--er selbst kam nicht mehr damit
+zustande--, sagte er: 'Herr Fagon, mir ist wunderlich zumute. Meine
+Sinne verwirren sich. Ich sehe Gestalten. Ich bin wohl krank. Wenn
+ich stuerbe--' Er laechelte. 'Wisset Ihr, Herr Fagon, was heute bei den
+Jesuiten geschehen ist? Lasset meinen Vater nichts davon wissen! nie!
+nie! Es wuerde ihn toeten!' Ich versprach es ihm und hielt Wort,
+obgleich es mich kostete. Noch zur Stunde ahnt der Marschall nichts
+davon.
+
+Den Kopf schon im Kissen, bot mir Julian die gluehende Hand. 'Ich
+danke Euch, Herr Fagon... fuer alles... Ich bin nicht undankbar wie
+Mouton.'
+
+Deine Majestaet zu bemuehen, war jetzt ueberfluessig. In der naechsten
+Viertelstunde schon redete Julian irre. Prozess und Urteil lagen in
+den Haenden der Natur. Die Fieber wurden heftig, der Puls jagte. Ich
+liess mir ein Feldbett in der geraeumigen Kammer aufschlagen und blieb
+auf dem Posten. In das anstossende Zimmer hatte der Marschall seine
+Mappen und Karten tragen lassen. Er verliess seinen Arbeitstisch
+stuendlich, um nach dem Knaben zu sehen, welcher ihn nicht erkannte,
+Ich warf ihm feindselige Blicke zu. 'Fagon, was hast du gegen mich?'
+fragte er. Ich mochte ihm nur nicht antworten.
+
+Der Knabe phantasierte viel, aber im Bereiche seines lodernden Blickes
+schwebten nur freundliche und aus dem Leben entschwundene Gestalten.
+Mouton erschien, und auch Mouton der Pudel sprang auf das Bette. Am
+dritten Tage sass die Mutter neben Julian.
+
+Drei Besuche hat er erhalten. Victor kratzte an die Tuere und brach,
+von mir eingelassen, in ein so erschuetterndes Wehgeschrei aus, dass
+ich ihn wegschaffen musste. Dann klopfte der Finger Mirabellens. Sie
+trat an das Lager Julians, der eben in einem unruhigen Halbschlummer
+lag, und betrachtete ihn. Sie weinte wenig, sondern drueckte ihm einen
+bruenstigen Kuss auf den duerren Mund. Julian fuehlte weder den Freund
+noch die Geliebte.
+
+Unversehens meldete sich auch Pere Amiel, den ich nicht abwies. Da
+ihn der Kranke mit fremden Augen anstarrte, sprang er possierlich vor
+dem Bette herum und rief. 'Kennst du mich nicht mehr, Julian, deinen
+Pere Amiel, den kleinen Amiel, den Nasen-Amiel? Sage mir nur mit
+einem Woertchen, dass du mich lieb hast' Der Knabe blieb gleichgueltig.
+Gibt es elysische Gefilde, denke ich dort den Pere zu finden, ohne
+langen Hut, mit proportionierter Nase, und Hand in Hand mit ihm einen
+Gang durch die himmlischen Gaerten zu tun.
+
+Am vierten Abende ging der Puls rasend. Ein Gehirnschlag konnte jeden
+Augenblick eintreten. Ich trat hinueber zum Marschall.
+
+'Wie steht es?'
+
+'Schlecht.'
+
+'Wird Julian leben?'
+
+'Nein. Sein Gehirn ist erschoepft. Der Knabe hat sich ueberarbeitet.'
+
+'Das wundert mich', sagte der Marschall, 'ich wusste das nicht.' In
+der Tat, ich glaube, dass er es nicht wusste. Meine Langmut war zu
+Ende. Ich sagte ihm schonungslos die Wahrheit und warf ihm vor, sein
+Kind vernachlaessigt und zu dessen Tode geholfen zu haben. Das
+Golgatha bei den Jesuiten verschwieg ich. Der Marschall hoerte mich
+schweigend an, den Kopf nach seiner Art etwas auf die rechte Seite
+geneigt. Seine Wimper zuckte, und ich sah eine Traene. Endlich
+erkannte er sein Unrecht. Er fasste sich mit der Selbstbeherrschung
+des Kriegers und trat in das Krankenzimmer.
+
+Der Vater setzte sich neben seinen Knaben, der jetzt unter dem Druck
+entsetzlicher Traeume lag. 'Ich will ihm wenigstens', murmelte der
+Marschall, 'das Sterben erleichtern, was an mir liegt. Julian!'
+sprach er in seiner bestimmten Art. Das Kind erkannte ihn.
+
+'Julian, du musst mir schon das Opfer bringen, deine Studien zu
+unterbrechen. Wir gehen miteinander zum Heere ab. Der Koenig hat an
+der Grenze Verluste erlitten, und auch der Juengste muss jetzt seine
+Pflicht tun.' Diese Rede verdoppelte die Reiselust eines Sterbenden...
+Einkauf von Rossen... Aufbruch... Ankunft im Lager... Eintritt in
+die Schlachtlinie... Das Auge leuchtete, aber die Brust begann zu
+roecheln. 'Die Agonie!' fluesterte ich dem Marschall zu.
+
+'Dort die englische Fahne! Nimm sie!' befahl der Vater. Der
+sterbende Knabe griff in die Luft. 'Vive le roi!' schrie er und sank
+zurueck wie von einer Kugel durchbohrt."
+
+Fagon hatte geendet und erhob sich. Die Marquise war geruehrt. "Armes
+Kind!" seufzte der Koenig und erhob sich gleichfalls.
+
+"Warum arm", fragte Fagon heiter, "da er hingegangen ist als ein Held?"
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Das Leiden eines Knaben, von
+Conrad Ferdinand Meyer.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Das Leiden eines Knaben,
+by Conrad Ferdinand Meyer
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEIDEN EINES KNABEN ***
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+Produced by Delphine Lettau
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+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
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+*END THE SMALL PRINT! FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS*Ver.02/11/02*END*
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@@ -0,0 +1,2454 @@
+Project Gutenberg's Das Leiden eines Knaben, by Conrad Ferdinand Meyer
+
+Copyright laws are changing all over the world. Be sure to check the
+copyright laws for your country before downloading or redistributing
+this or any other Project Gutenberg eBook.
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+This header should be the first thing seen when viewing this Project
+Gutenberg file. Please do not remove it. Do not change or edit the
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+
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+eBook and Project Gutenberg at the bottom of this file. Included is
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+how the file may be used. You can also find out about how to make a
+donation to Project Gutenberg, and how to get involved.
+
+
+**Welcome To The World of Free Plain Vanilla Electronic Texts**
+
+**eBooks Readable By Both Humans and By Computers, Since 1971**
+
+*****These eBooks Were Prepared By Thousands of Volunteers!*****
+
+
+Title: Das Leiden eines Knaben
+
+Author: Conrad Ferdinand Meyer
+
+Release Date: December, 2005 [EBook #9496]
+[Yes, we are more than one year ahead of schedule]
+[This file was first posted on October 5, 2003]
+
+Edition: 10
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEIDEN EINES KNABEN ***
+
+
+
+
+Produced by Delphine Lettau
+
+
+
+
+This book content was graciously contributed by the Gutenberg Projekt-DE.
+That project is reachable at the web site http://gutenberg.spiegel.de/.
+
+Dieses Buch wurde uns freundlicherweise vom "Gutenberg Projekt-DE"
+zur Verfügung gestellt. Das Projekt ist unter der Internet-Adresse
+http://gutenberg.spiegel.de/ erreichbar.
+
+
+
+
+Das Leiden eines Knaben
+
+Conrad Ferdinand Meyer
+
+
+
+Der König hatte das Zimmer der Frau von Maintenon betreten und,
+luftbedürftig und für die Witterung unempfindlich wie er war, ohne
+weiteres in seiner souveränen Art ein Fenster geöffnet, durch welches
+die feuchte Herbstluft so fühlbar eindrang, dass die zarte Frau sich
+fröstelnd in ihre drei oder vier Röcke schmiegte.
+
+Seit einiger Zeit hatte Ludwig der Vierzehnte seine täglichen Besuche
+bei dem Weibe seines Alters zu verlängern begonnen, und er erschien
+oft schon zu früher Abendstunde, um zu bleiben, bis seine Spättafel
+gedeckt war. Wenn er dann nicht mit seinen Ministern arbeitete, neben
+seiner diskreten Freundin, die sich aufmerksam und schweigend in ihren
+Fauteuil begrub; wenn das Wetter Jagd oder Spaziergang verbot; wenn
+die Konzerte, meist oder immer geistliche Musik, sich zu oft
+wiederholt hatten, dann war guter Rat teuer, welchergestalt der
+Monarch vier Glockenstunden lang unterhalten oder zerstreut werden
+konnte. Die dreiste Muse Molières, die Zärtlichkeiten und Ohnmachten
+der Lavallière, die kühne Haltung und die originellen Witzworte der
+Montespan und so manches andere hatte seine Zeit gehabt und war nun
+gründlich vorüber, welk wie eine verblasste Tapete. Massvoll und fast
+genügsam wie er geworden, arbeitsam wie er immer gewesen, war der
+König auch bei einer die Schranke und das Halbdunkel liebenden Frau
+angelangt.
+
+Dienstfertig, einschmeichelnd, unentbehrlich, dabei voller Grazie
+trotz ihrer Jahre, hatte die Enkelin des Agrippa d'Aubigné einen
+lehrhaften Gouvernantenzug, eine Neigung, die Gewissen mit Autorität
+zu beraten, der sie in ihrem Saint-Cyr unter den Edelfräulein, die sie
+dort erzog, behaglich den Lauf liess, die aber vor dem Gebieter zu
+einem bescheidenen Sichanschmiegen an seine höhere Weisheit wurde.
+Dergestalt hatte, wann Ludwig schwieg, auch sie ausgeredet, besonders
+wenn etwa, wie heute, die junge Enkelfrau des Königs, die Savoyardin,
+das ergötzlichste Geschöpf von der Welt, das überallhin Leben und
+Gelächter brachte, mit ihren Kindereien und ihren trippelnden
+Schmeichelworten aus irgendeinem Grunde wegblieb.
+
+Frau von Maintenon, welche unter diesen Umständen die Schritte des
+Königs nicht ohne eine leichte Sorge vernommen hatte, beruhigte sich
+jetzt, da sie dem beschäftigten und unmerklich belustigten Ausdrucke
+der ihr gründlich bekannten königlichen Züge entnahm: Ludwig selbst
+habe etwas zu erzählen, und zwar etwas Ergötzliches.
+
+Dieser hatte das Fenster geschlossen und sich in einen Lehnstuhl
+niedergelassen. "Madame", sagte er, "heute mittag hat mir Père
+Lachaise seinen Nachfolger, den Père Tellier, gebracht."
+
+Père de Lachaise war der langjährige Beichtiger des Königs, welchen
+dieser, trotz der Taubheit und völligen Gebrechlichkeit des greisen
+Jesuiten, nicht fahrenlassen wollte und sozusagen bis zur
+Fadenscheinigkeit aufbrauchte; denn er hatte sich an ihn gewöhnt, und
+da er--es ist unglaublich zu sagen--aus unbestimmten, aber doch
+vorhandenen Befürchtungen seinen Beichtiger in keinem andern Orden
+glaubte wählen zu dürfen, zog er diese Ruine eines immerhin
+ehrenwerten Mannes einem jüngern und strebsamen Mitgliede der
+Gesellschaft Jesu vor. Aber alles hat seine Grenzen. Père Lachaise
+wankte sichtlich dem Grabe zu, und Ludwig wollte denn doch nicht an
+seinem geistlichen Vater zum Mörder werden.
+
+"Madame", fuhr der König fort, "mein neuer Beichtiger hat keine
+Schönheit und Gestalt: eine Art Wolfsgesicht, und dann schielt er. Er
+ist eine geradezu abstossende Erscheinung, aber er wird mir als ein
+gegen sich und andere strenger Mann empfohlen, welchem sich ein
+Gewissen übergeben lässt. Das ist doch wohl die Hauptsache."
+
+"Je schlechter die Rinne, desto köstlicher das darin fliessende
+himmlische Wasser", bemerkte die Marquise erbaulich. Sie liebte die
+Jesuiten nicht, welche dem Ehebunde der Witwe Scarrons mit der
+Majestät entgegengearbeitet und kraft ihrer weiten Moral das Sakrament
+in diesem königlichen Falle für überflüssig erklärt hatten. So tat
+sie den frommen Vätern gelegentlich gern etwas zuleide, wenn sie
+dieselben im stillen krallen konnte. Jetzt schwieg sie, und ihre
+dunklen mandelförmigen, sanft schwermütigen Augen hingen an dem Munde
+des Gemahls mit einer bescheidenen Aufmerksamkeit.
+
+Der König kreuzte die Füsse, und den Demantblitz einer seiner
+Schuhschnallen betrachtend, sagte er leichthin: "Dieser Fagon! Er
+wird unerträglich! Was er sich nicht alles herausnimmt!"
+
+Fagon war der hochbetagte Leibarzt des Königs und der Schützling der
+Marquise. Beide lebten sie täglich in seiner Gesellschaft und hatten
+sich auf den Fall, dass er vor ihnen stürbe, Asyle gewählt, sie
+Saint-Cyr, er den botanischen Garten, um sich hier und dort nach dem
+Tode des Gebieters einzuschliessen und zu begraben.
+
+"Fagon ist Euch unendlich anhänglich", sagte die Marquise.
+
+"Gewiss, doch entschieden, er erlaubt sich zu viel", versetzte der
+König mit einem leichten halb komischen Stirnrunzeln.
+
+"Was gab es denn?"
+
+Der König erzählte und hatte bald zu Ende erzählt. Er habe bei der
+heutigen Audienz seinen neuen Beichtiger gefragt, ob die Tellier mit
+den Le Tellier, der Familie des Kanzlers, verwandt wären? Doch der
+demütige Père habe dieses schnell verneint und sich frank als den Sohn
+eines Bauern in der untern Normandie bekannt. Fagon habe unweit in
+einer Fensterbrüstung gestanden, das Kinn auf sein Bambusrohr gestützt.
+Von dort, hinter dem gebückten Rücken des Jesuiten, habe er unter
+der Stimme, aber vernehmlich genug, hergeflüstert: "Du Nichtswürdiger!"
+"Ich hob den Finger gegen Fagon", sagte der König, "und drohte ihm."
+
+Die Marquise wunderte sich. "Wegen dieser ehrlichen Verneinung hat
+Fagon den Pater nicht schelten können, er muss einen andern Grund
+gehabt haben", sagte sie verständig.
+
+"Immerhin, Madame, war es eine Unschicklichkeit, um nicht mehr zu
+sagen. Der gute le Lachaise, taub wie er endlich doch geworden ist,
+hörte es freilich nicht, aber mein Ohr hat es deutlich vernommen,
+Silbe um Silbe. 'Niederträchtiger!' blies Fagon dem Pater zu, und der
+Misshandelte zuckte zusammen."
+
+Die Marquise schloss lächelnd aus dieser Variante, dass Fagon einen
+derbern Ausdruck gebraucht habe. Auch in den Mundwinkeln des Königs
+zuckte es. Er hatte sich von jung an zum Gesetze gemacht, wozu er
+übrigens schon von Natur neigte und was er dann bis an sein Lebensende
+hielt, niemals, auch nicht erzählungsweise, ein gemeines oder
+beschimpfendes, kurz ein unkönigliches Wort in den Mund zu nehmen.
+
+Der hohe Raum war eingedämmert, und wie der Bediente die traulichen
+zwei Armleuchter auf den Tisch setzte und sich rücklings schreitend
+verzog, siehe, da wurde ein leise eingetretener Lauscher sichtbar,
+eine wunderliche Erscheinung, eine ehrwürdige Missgestalt: ein
+schiefer, verwachsener, seltsam verkrümmter kleiner Greis, die
+entfleischten Hände unter dem gestreckten Kinn auf ein langes
+Bambusrohr mit goldenem Knopfe stützend, das feine Haupt vorgeneigt,
+ein weisses Antlitz mit geisterhaften blauen Augen. Es war Fagon.
+
+"'Du Lump, du Schuft!' habe ich kurzweg gesagt, Sire, und nur die
+Wahrheit gesprochen", liess sich jetzt seine schwache, vor Erregung
+zitternde Stimme vernehmen. Fagon verneigte sich ehrfürchtig vor dem
+Könige, galant gegen die Marquise. "Habe ich einen Geistlichen in
+Eurer Gegenwart, Sire, dergestalt behandelt, so bin ich entweder der
+Niedertracht gegenüber ein aufbrausender Jüngling geblieben, oder ein
+würdiges Alter berechtigt, die Wahrheit zu sagen. Brachte mich nur
+das Schauspiel auf, welches der Pater gab, da sich der vierschrötige
+und hartknochige Tölpel mit seiner Wolfsschnauze vor Euch, Sire,
+drehte und krümmte und auf Eure leutselige Frage nach seiner
+Verwandtschaft in dünkelhafter Selbsterniedrigung nicht Worte genug
+fand, sein Nichts zu beteuern? 'Was denkt die Majestät?'"--ahmte
+Fagon den Pater nach--, "'verwandt mit einem so vornehmen Herrn?
+Keineswegs? Ich bin der Sohn eines gemeinen Mannes! eines Bauern in
+der untern Normandie! eines ganz gemeinen Mannes!...' Schon dieses
+nichtswürdige Reden von dem eigenen Vater, diese kriechende,
+heuchlerische, durch und durch unwahre Demut, diese gründliche
+Falschheit verdiente vollauf schuftig genannt zu werden. Aber die
+Frau Marquise hat recht: es war noch etwas anderes, etwas ganz
+Abscheuliches und Teuflisches, was ich gerächt habe, leider nur mit
+Worten: eine Missetat, ein Verbrechen, welches der unerwartete Anblick
+dieses tückischen Wolfes mir wieder so gegenwärtig vor das Auge
+stellte, dass die karge Neige meines Blutes zu kochen begann. Denn,
+Sire, dieser Bösewicht hat einen edeln Knaben gemordet!"
+
+"Ich bitte dich, Fagon", sagte der König, "welch ein Märchen!"
+
+"Sagen wir: er hat ihn unter den Boden gebracht", milderte der
+Leibarzt höhnisch seine Anklage.
+
+"Welchen Knaben denn?" fragte Ludwig in seiner sachlichen Art, die
+kurze Wege liebte.
+
+"Es war der junge Boufflers, der Sohn des Marschalls aus seiner ersten
+Ehe", antwortete Fagon traurig.
+
+"Julian Boufflers? Dieser starb, wenn mir recht ist", erinnerte sich
+der König, und sein Gedächtnis täuschte ihn selten, "17** im
+Jesuitencollegium an einer Gehirnentzündung, welche das arme Kind
+durch Überarbeitung sich mochte zugezogen haben, und da Père Tellier
+in jenen Jahren dort Studienpräfekt sein konnte, hat er allerdings,
+sehr figürlich gesprochen", spottete der König, "den unbegabten, aber
+im Lernen hartnäckigen Knaben in das Grab gebracht. Der Knabe hat
+sich eben übernommen, wie mir sein Vater, der Marschall, selbst
+erzählt hat." Ludwig zuckte die Achseln. Nichts weiter. Er hatte
+etwas Interessanteres erwartet.
+
+"Den unbegabten Knaben... ", wiederholte der Arzt nachdenklich.
+
+"Ja, Fagon", versetzte der König, "auffallend unbegabt, und dabei
+schüchtern und kleinmütig, wie kein Mädchen. Es war an einem
+Marly-Tage, dass der Marschall, welchem ich für dieses sein ältestes
+Kind die Anwartschaft auf sein Gouvernement gegeben hatte, mir ihn
+vorstellte. Ich sah, der schmucke und wohlgebildete Jüngling, über
+dessen Lippen schon der erste Flaum sprosste, war bewegt und wollte
+mir herzlich danken, aber er geriet in ein so klägliches Stottern und
+peinliches Erröten, dass ich, um ihn nur zu beruhigen oder wenigstens
+in Ruhe zu lassen, mit einem 'Es ist gut' geschwinder, als mir um
+seines Vaters willen lieb war, mich wendete."
+
+"Auch mir ist jener Abend erinnerlich", ergänzte die Marquise. "Die
+verewigte Mutter des Knaben war meine Freundin, und ich zog diesen
+nach seiner Niederlage zu mir, wo er sich still und traurig, aber
+dankbar und liebenswert erwies, ohne, wenigstens äusserlich, die
+erlittene Demütigung allzu tief zu empfinden. Er ermutigte sich sogar
+zu sprechen, das Alltägliche, das Gewöhnliche, mit einem
+herzgewinnenden Ton der Stimme, und--meine Nähe schaffte ihm Neider.
+Es war ein schlimmer Tag für das Kind, jener Marly. Ein Beiname, wie
+denn am Hofe alles, was nicht Ludwig heisst, den seinigen tragen
+muss"--die feinfühlige Marquise wusste, dass ihr gerades Gegenteil,
+die brave und schreckliche Pfälzerin, die Herzogin-Mutter von Orléans,
+ihr den allergarstigsten gegeben hatte--, "einer jener gefährlichen
+Beinamen, die ein Leben vergiften können und deren Gebrauch ich meinen
+Mädchen in Saint-Cyr auf strengste untersagt habe, wurde für den
+bescheidenen Knaben gefunden, und da er von Mund zu Munde lief, ohne
+viel Arg selbst von unschuldigen und blühenden Lippen gewispert,
+welche sich wohl dem hübschen jungen nach wenigen Jahren nicht versagt
+haben würden."
+
+"Welcher Beiname?" fragte Fagon neugierig.
+
+"'Le bel idiot'... und das Zucken eines Paares hochmütiger Brauen
+verriet mir, wer ihn dem Knaben beschert hat."
+
+"Lauzun?" riet der König.
+
+"Saint-Simon", berichtigte die Marquise. "Ist er doch an unserem Hofe
+das lauschende Ohr, das spähende Auge, das uns alle beobachtet"--der
+König verfinsterte sich--, "und die geübte Hand, die nächtlicherweile
+hinter verriegelten Türen von uns allen leidenschaftliche Zerrbilder
+auf das Papier wirft! Dieser edle Herzog, Sire, hat es nicht
+verschmäht, den unschuldigsten Knaben mit einem seiner grausamen Worte
+zu zeichnen, weil ich Harmlose, die er verabscheut, an dem Kinde ein
+flüchtiges Wohlgefallen fand und ein gutes Wort an dasselbe wendete."
+So züngelte die sanfte Frau und reizte den König, ohne die Stirn zu
+falten und den Wohlklang ihrer Stimme zu verlieren.
+
+"Der schöne Stumpfsinnige", wiederholte Fagon langsam. "Nicht übel.
+Wenn aber der Herzog, der neben seinen schlimmen auch einige gute
+Eigenschaften besitzt, den Knaben gekannt hätte, wie ich ihn
+kennenlernte und er mir unvergesslich geblieben ist, meiner Treu! der
+gallichte Saint-Simon hätte Reue gefühlt. Und wäre er wie ich bei dem
+Ende des Kindes zugegen gewesen, wie es in der Illusion des Fiebers,
+den Namen seines Königs auf den Lippen, in das feindliche Feuer zu
+stürzen glaubte, der heimliche Höllenrichter unserer Zeit, wenn die
+Sage wahr redet, denn niemand hat ihn an seinem Schreibtische
+gesehen--hätte den Knaben bewundert und ihm eine Träne nachgeweint."
+
+"Nichts mehr von Saint-Simon, ich bitte dich, Fagon", sagte der König,
+die Brauen zuammenziehend. "Mag er verzeichnen, was ihm als die
+Wahrheit erscheint. Werde ich die Schreibtische belauern? Auch die
+grosse Geschichte führt ihren Griffel und wird mich in den Grenzen
+meiner Zeit und meines Wesens lässlich beurteilen. Nichts mehr von
+ihm. Aber viel und alles, was du weisst, von dem jungen Boufflers.
+Er mag ein braver Junge gewesen sein. Setze dich und erzähle!" Er
+deutete freundlich auf einen Stuhl und lehnte sich in den seinigen
+zurück.
+
+"Und erzähle hübsch bequem und gelassen, Fagon", bat die Marquise mit
+einem Blick auf die schmucken Zeiger ihrer Stockuhr, welche zum
+Verwundern schnell vorrückten.
+
+"Sire, ich gehorche", sagte Fagon, "und tue eine untertänige Bitte.
+Ich habe heute den Père Tellier in Eurer Gegenwart misshandelnd mir
+eine Freiheit genommen und weiss, wie ich mich aus Erfahrung kenne,
+dass ich, einmal auf diesen Weg geraten, an demselben Tage leicht
+rückfällig werde. Als Frau von Sablière den guten--oder auch nicht
+guten--Lafontaine, ihren Fabelbaum, wie sie ihn nannte, aus dem
+schlechten Boden, worein er seine Wurzeln gestreckt hatte, ausgrub und
+wieder in die gute Gesellschaft verpflanzte, willigte der Fabeldichter
+ein, noch einmal unter anständigen Menschen zu leben, unter der
+Bedingung jedoch, jeden Abend das Minimum von drei Freiheiten--was er
+so Freiheiten hiess--sich erlauben zu dürfen. In ähnlicher und
+verschiedener Weise bitte ich mir, soll ich meine Geschichte erzählen,
+drei Freiheiten aus... "
+
+"Welche ich dir gewähre", schloss der König.
+
+Drei Köpfe rückten zusammen: der bedeutende des Arztes, das olympische
+Lockenhaupt des Königs und das feine Profil seines Weibes mit der
+hohen Stirn, den reizenden Linien von Nase und Mund und dem leicht
+gezeichneten Doppelkinne.
+
+"In den Tagen, da die Majestät noch den grössten ihrer Dichter besass",
+begann der Leibarzt, "und dieser, während schon der Tod nach seiner
+kranken Brust zielte, sich belustigte, denselben auf der Bühne
+nachzuäffen, wurde das Meisterstück 'Der Kranke in der Einbildung'
+auch vor der Majestät hier in Versailles aufgeführt. Ich, der ich
+sonst eine würdige mit Homer oder Virgil verlebte Stunde und den
+Wellenschlag einer antiken Dichtung unter gestirntem Himmel den
+grellen Lampen und den verzerrten Gesichtern der auf die Bühne
+gebrachten Gegenwart vorziehe, ich durfte doch nicht wegbleiben, da wo
+mein Stand verspottet und vielleicht, wer wusste, ich selbst und meine
+Krücke"--er hob sein Bambusrohr, auf welches er auch sitzend sich zu
+stützen fortfuhr--, "abbildlich zu sehen waren. Es geschah nicht.
+Aber hätte Molière mich in einer seiner Possen verewigt, wahrlich, ich
+hätte es dem nicht verargen können, der sein eigenes schmerzlichstes
+Empfinden komisch betrachtet und verkörpert hat. Diese letzten Stücke
+Molières, nichts geht darüber! Das ist die souveräne Komödie, welche
+freilich nicht nur das Verkehrte, sondern in grausamer Lust auch das
+Menschlichste in ein höhnisches Licht rückt, dass es zu grinsen
+beginnt. Zum Beispiel, was ist verzeihlicher, als dass ein Vater auf
+sein Kind sich etwas einbilde, etwas eitel auf die Vorzüge und etwas
+blind für die Schwächen seines eigenen Fleisches und Blutes sei?
+Lächerlich freilich ist es und fordert den Spott heraus. So lobt denn
+auch im 'Kranken in der Einbildung' der alberne Diaforius seinen noch
+alberneren Sohn Thomas, einen vollständigen Dummkopf Doch die Majestät
+kennt die Stelle."
+
+"Mache mir das Vergnügen, Fagon, und rezitiere sie mir", sagte der
+König, welcher, seit Familienverluste und schwere öffentliche Unfälle
+sein Leben ernst gemacht, sich der komischen Muse zu enthalten pflegte,
+dem die Lachmuskeln aber unwillkürlich zuckten in Erinnerung des
+guten Gesellen, den er einst gern um sich gelitten und an dessen
+Masken er sich ergötzt hatte.
+
+"'Es ist nicht darum'", spielte Fagon den Doctor Diaforius, dessen
+Rolle er seltsamerweise auswendig wusste, "'weil ich der Vater bin,
+aber ich darf sagen, ich habe Grund, mit diesem meinem Sohne zufrieden
+zu sein, und alle, die ihn sehen, sprechen von ihm als von einem
+Jüngling ohne Falsch. Er hat nie eine sehr tätige Einbildungskraft,
+noch jenes Feuer besessen, welches man an einigen wahrnimmt. Als er
+klein war, ist er nie, was man so heisst, aufgeweckt und mutwillig
+gewesen. Man sah ihn immer sanft, friedselig und schweigsam. Er
+sprach nie ein Wort und beteiligte sich niemals an den sogenannten
+Knabenspielen. Man hatte schwere Mühe, ihn lesen zu lehren, und mit
+neun Jahren kannte er seine Buchstaben noch nicht. Gut', sprach ich
+zu mir, 'die späten Bäume tragen die besten Früchte, es gräbt sich in
+den Marmor schwerer als in den Sand'... und so fort. Dieser langsam
+geträufelte Spott wurde dann auf der Bühne zum gründlichen Hohn durch
+das unsäglich einfältige Gesicht des Belobten und zum
+unwiderstehlichen Gelächter in den Mienen der Zuschauer. Unter diesen
+fand mein Auge eine blonde Frau von rührender Schönheit und
+beschäftigte sich mit den langsam wechselnden Ausdrücken dieser
+einfachen Züge; zuerst demjenigen der Freude über die gerechte
+Belobung eines schwer, aber fleissig lernenden Kindes, so
+unvorteilhaft der Jüngling auf der Bühne sich ausnehmen mochte, dann
+dem andern Ausdrucke einer traurigen Enttäuschung, da die Schauende,
+ohne jedoch recht zu begreifen, inne wurde, dass der Dichter, der es
+mit seinen schlichten Worten ernst zu meinen schien, eigentlich nur
+seinen blutigen Spott hatte mit der väterlichen Selbstverblendung.
+Freilich hatte Molière, der grossartige Spötter, alles so naturwahr
+und sachlich dargestellt, dass mit ihm nicht zu zürnen war. Eine
+lange und mühsam verhaltene, tief schmerzliche Träne rollte endlich
+über die zarte Wange des bekümmerten Weibes. Ich wusste nun, dass sie
+Mutter war und einen unbegabten Sohn hatte. Das ergab sich für mich
+aus dem Geschauten und Beobachteten mit mathematischer Gewissheit.
+
+Es war die erste Frau des Marschalls Boufflers."
+
+"Auch wenn du sie nicht genannt hättest, Fagon, ich erkannte aus
+deiner Schilderung meine süsse Blondine", seufzte die Marquise. "Sie
+war ein Wunder der Unschuld und Herzenseinfalt, ohne Arg und Falsch,
+ja ohne den Begriff der List und Lüge.
+
+Die Freundschaft der zwei Frauen, welche der Marquise einen so
+rührenden Eindruck hinterliess, war eine wahre und für beide Teile
+wohltätige gewesen. Frau von Maintenon hatte nämlich in den langen
+und schweren Jahren ihres Emporkommens, da die still Ehrgeizige mit
+zähester Schmiegsamkeit und geduldigster Konsequenz, immer heiter,
+überall dienstfertig, sich einen König und den grössten König der Zeit
+eroberte, mit ihren klugen Augen die arglose Vornehme von den andern
+ihr missgünstigen und feindseligen Hofweibern unterschieden und sie
+mit ein paar herzlichen Worten und zutulichen Gefälligkeiten an sich
+gefesselt. Die beiden halfen sich aus und deckten sich einander mit
+ihrer Geburt und ihrem Verstand.
+
+"Die Marschallin hatte Tugend und Haltung", lobte der König, während
+er einen in seinem Gedächtnis auftauchenden anmutigen Wuchs, ein
+liebliches Gesicht und ein aschenblondes Ringelhaar betrachtete.
+
+"Die Marschallin war dumm", ergänzte Fagon knapp. "Aber wenn ich
+Krüppel je ein Weib geliebt habe--ausser meiner Gönnerin", er
+verneigte sich huldigend gegen die Marquise, "und für ein Weib mein
+Leben hingegeben hätte, so war es diese erste Herzogin Boufflers.
+
+Ich lernte sie dann bald näher kennen, leider als Arzt. Denn ihre
+Gesundheit war schwankend, und alle diese Lieblichkeit verlosch
+unversehens wie ein ausgeblasenes Licht. Wenige Tage vor ihrem
+letzten beschied sie mich zu sich und erklärte mir mit den einfachsten
+Worten von der Welt, sie werde sterben. Sie fühlte ihren Zustand, den
+meine Wissenschaft nicht erkannt hatte. Sie ergebe sich darein, sagte
+sie, und habe nur eine Sorge: die Zukunft und das Schicksal ihres
+Knaben. 'Er ist ein gutes Kind, aber völlig unbegabt, wie ich selbst
+es bin', klagte sie mir bekümmert, aber unbefangen. 'Mir ward ein
+leichtes Leben zuteil, da ich dem Marschall nur zu gehorchen brauchte,
+welcher nach seiner Art, die nichts aus den Händen gibt, auch wenn ich
+ein gescheites Weib gewesen wäre, ausser dem einfachsten Haushalte mir
+keine Verantwortung überlassen hätte--du kennst ihn ja, Fagon, er ist
+peinlich und regiert alles selber. Wenn ich in der Gesellschaft
+schwieg oder meine Rede auf das Nächste beschränkte, um nichts
+Unwissendes oder Verfängliches zu sagen, so war ihm das gerade recht,
+denn eine Witzige oder Glänzende hätte ihn nur beunruhigt. So bin ich
+gut durchgekommen. Aber mein Kind? Der Julian soll als der Sohn
+seines Vaters in der Welt eine Figur machen. Wird er das können? Er
+lernt so unglaublich schwer. An Eifer lässt er es nicht fehlen,
+wahrlich nicht, denn es ist ein tapferes Kind... Der Marschall wird
+sich wieder verheiraten, und irgendeine gescheite Frau wird ihm
+anstelligere Söhne geben. Nun möchte ich nicht, dass der Julian etwas
+Ausserordentliches würde, was ja auch unmöglich wäre, sondern nur,
+dass er nicht zu harte Demütigungen erleide, wenn er hinter seinen
+Geschwistern zurückbleibt. Das ist nun deine Sache, Fagon. Du wirst
+auch zusehen, dass er körperlich nicht übertrieben werde. Lass das
+nicht aus dem Auge, ich bitte dich! Denn der Marschall übersieht das.
+Du kennst ihn ja. Er hat den Krieg im Kopf, die Grenzen, die
+Festungen... Selbst über der Mahlzeit ist er in seine Geschäfte
+vertieft, der dem König und Frankreich unentbehrliche Mann, lässt sich
+plötzlich eine Karte holen, wenn er nicht selbst danach aufspringt,
+oder ärgert sich über irgendeine vormittags entdeckte Nachlässigkeit
+seiner Schreiber, welchen man bei der um sich greifenden
+Pflichtvergessenheit auch nicht das Geringste mehr überlassen dürfe.
+Geht dann durch einen Zufall ein Tässchen oder Schälchen entzwei,
+vergisst sich der Reizbare bis zum Schelten. Gewöhnlich sitzt er
+schweigend oder einsilbig zu Tische, mit gerunzelter Stirn, ohne sich
+mit dem Kinde abzugeben, das an jedem seiner Blicke hängt, ohne sich
+nach seinen kleinen Fortschritten zu erkundigen, denn er setzt voraus:
+ein Boufflers tue von selbst seine Pflicht. Und der Julian wird bis
+an die äussersten Grenzen seiner Kräfte gehen... Fagon, lass ihn
+keinen Schaden leiden! Nimm dich des Knaben an! Bring ihn heil
+hinweg über seine zarten Jahre! Mische dich nur ohne Bedenken ein.
+Der Marschall hält etwas auf dich und wird deinen Rat gelten lassen.
+Er nennt dich den redlichsten Mann von Frankreich... Also du
+versprichst es mir, bei dem Knaben meine Stelle zu vertreten... Du
+hältst Wort und darüber hinaus... '
+
+Ich gelobte es der Marschallin, und sie starb nicht schwer.
+
+Vor dem Bette, darauf sie lag, beobachtete ich den mir anvertrauten
+Knaben. Er war aufgelöst in Tränen, seine Brust arbeitete, aber er
+warf sich nicht verzweifelnd über die Tote, berührte den entseelten
+Mund nicht, sondern er kniete neben ihr, ergriff ihre Hand und küsste
+diese, wie er sonst zu tun pflegte. Sein Schmerz war tief, aber
+keusch und enthaltsam. Ich schloss auf männliches Naturell und früh
+geübte Selbstbeherrschung und betrog mich nicht. Im übrigen war
+Julian damals ein hübscher Knabe von etwa dreizehn Jahren, mit den
+seelenvollen Augen seiner Mutter, gewinnenden Zügen, wenig Stirn unter
+verworrenem blonden Ringelhaar und einem untadeligen Bau, der zur
+Meisterschaft in jeder Leibesübung befähigte.
+
+Nachdem der Marschall das Weib seiner Jugend beerdigt und ein Jahr
+später mit der jüngsten des Marschalls Grammont sich wiederverehlicht
+hatte, dem rührigen, grundgescheiten, olivenfarbigen, brennend magern
+Weibe, das wir kennen, beriet er aus freien Stücken mit mir die Schule,
+wohin wir Julian schicken sollten; denn seines Bleibens war nun nicht
+länger im väterlichen Hause.
+
+Ich besprach mich mit dem geistlichen Hauslehrer, welcher das Kind
+bisher beaufsichtigt und beschäftigt hatte. Er zeigte mir die Hefte
+des Knaben, die Zeugnis ablegten von einem rührenden Fleiss und einer
+tapfern Ausdauer, aber zugleich von einem unglaublich mittelmässigen
+Kopfe, einem völligen Mangel an Kombination und Dialektik, einer
+absoluten Geistlosigkeit. Was man im weitesten Sinne Witz nennt, jede
+leidenschaftliche--warme oder spottende--Beleuchtung der Rede, jede
+Überraschung des Scharfsinns, jedes Spiel der Einbildungskraft waren
+abwesend. Nur der einfachste Begriff und das ärmste Wort standen dem
+Knaben zu Gebote. Höchstens gefiel dann und wann eine Wendung durch
+ihre Unschuld oder brachte zum Lächeln durch ihre Naivität.
+Seltsamer- und traurigerweise sprach der Hausgeistliche von seinem
+Zögling unwissentlich in den Worten Molières: 'ein Knabe ohne Falsch,
+der alles auf Treu und Glauben nimmt, ohne Feuer und Einbildungskraft,
+sanft, friedfertig, schweigsam und'--setzte er hinzu--'mit den
+schönsten Herzenseigenschaften.'
+
+Der Marschall und ich wussten dann--die Wahl war nicht gross--keine
+bessere Schule für das Kind als ein Jesuitencollegium; und warum nicht
+das in Paris, wenn wir Julian nicht von seinen Standes und
+Altersgenossen sondern wollten? Man muss es den Vätern lassen: sie
+sind keine Pedanten, und man darf sie loben, dass sie angenehm
+unterrichten und freundlich behandeln. Mit einer Schule
+jansenistischer Färbung konnten wir uns nicht befreunden: der
+Marschall schon nicht als guter Untertan, der Euer Majestät Abneigung
+gegen die Sekte kannte und Euer Majestät Gnade nicht mutwillig
+verscherzen wollte, ich aus eben diesem Grunde"--Fagon lächelte--"und
+weil ich für den durch seine Talentlosigkeit schon überflüssig
+gedrückten Knaben die herbe Strenge und die finstern Voraussetzungen
+dieser Lehre ungeeignet, die leichte Erde und den zugänglichen Himmel
+der Jesuiten dagegen hier für zuträglich oder wenigstens völlig
+unschädlich hielt, denn ich wusste, das Grundgesetz dieser Knabenseele
+sei die Ehre.
+
+Dabei war auf meiner Seite die natürliche Voraussetzung, dass die
+frommen Väter nie von dem Marschalle beleidigt würden, und das war in
+keiner Weise zu befürchten, da der Marschall sich nicht um kirchliche
+Händel kümmerte und als Kriegsmann an der in diesem Orden streng
+durchgeführten Subordination sogar ein gewisses Wohlgefallen hatte.
+
+Wie sollte aber der von der Natur benachteiligte Knabe mit einer
+öffentlichen Klasse Schritt halten? Da zählten der Marschall und ich
+auf zwei verschiedene Hilfen. Der Marschall auf das Pflichtgefühl und
+den Ehrgeiz seines Kindes. Er selbst, der nur mittelmässig Begabte,
+hatte auf seinem Felde Rühmliches geleistet, aber kraft seiner
+sittlichen Eigenschaften, nicht durch eine geniale Anlage. Ohne zu
+wissen oder nicht wissen wollend, dass Julian jene mittlere Begabung,
+welche er selbst mit eisernem Fleisse verwertete, bei weitem nicht
+besitze, glaubte er, es gebe keine Unmöglichkeit für den
+Willenskräftigen und selbst die Natur lasse sich zwingen, wie ihn denn
+seine Galopins beschuldigen, er tadle einen während der Parade über
+die Stirn rollenden Schweisstropfen als ordonnanzwidrig, weil er
+selbst nie schwitze.
+
+Ich dagegen baute auf die allgemeine Menschenliebe der Jesuiten und
+insonderheit auf die Berücksichtigung und das Ansehen der Person,
+wodurch diese Väter sich auszeichnen. Ich beredete mich mit mehreren
+derselben und machte sie mit den Eigenschaften des Knaben vertraut.
+Um ihnen das Kind noch dringender an das Herz zu legen, sprach ich
+ihnen von der Stellung seines Vaters, sah aber gleich, dass sie sich
+daraus nichts machten. Der Marschall ist ausschliesslich ein
+Kriegsmann, dabei tugendhaft, ohne Intrige, und die Ehre folgt ihm
+nach wie sein Schatten. So hatten die Väter von ihm nichts zu hoffen
+und zu fürchten. Unter diesen Umständen glaubte ich Julian eine
+kräftigere Empfehlung verschaffen zu müssen und gab den frommen Vätern
+einen Wink... " Der Erzähler stockte.
+
+"Was vertuschest du, Fagon?" fragte der König.
+
+"Ich komme darauf zurück", stotterte Fagon verlegen, "und dann wirst
+du, Sire, mir etwas zu verzeihen haben. Genug, das Mittel wirkte.
+Die Väter wetteiferten, dem Knaben das Lernen zu erleichtern, dieser
+fühlte sich in einer warmen Atmosphäre, seine Erstarrung wich, seine
+kargen Gaben entfalteten sich, sein Mut wuchs, und er war gut
+aufgehoben. Da änderte sich alles gründlich in sein Gegenteil.
+
+Etwa ein halbes Jahr nach dem Eintritt Julians bei den Jesuiten
+ereignete sich zu Orléans, in dessen Weichbild die Väter Besitz und
+eine Schule hatten, welche beide sie zu vergrössern wünschten, eine
+schlimme Geschichte. Vier Brüder von kleinem Adel besassen dort ein
+Gut, welches an den Besitz der Jesuiten stiess und das sie ungeteilt
+bewirteten. Alle vier dienten in Eurem Heere, Sire, verzehrten, wie
+zu geschehen pflegte, für ihre Ausrüstung und mehr noch im Umgang mit
+reichen Kameraden ihre kurze Barschaft und verschuldeten ihre Felder.
+Nun fand es sich, dass jenes Jesuitenhaus durch Zusammenkauf dieser
+Pfandbriefe der einzige Gläubiger der vier Junker geworden war und
+ihnen aus freien Stücken darüber hinaus eine abrundende Summe
+vorschoss, drei Jahre fest, dann mit jähriger Kündigung. Daneben aber
+verpflichteten sich die Väter den Junkern gegenüber mündlich aufs
+feierlichste, die ganze Summe auf dem Edelgute stehenzulassen; es sei
+eben nur ein rein formales Gesetz ihrer Ordensökonomie, Geld nicht
+länger als auf drei Jahre auszutun.
+
+Da begab es sich, dass die Väter jenes Hauses unversehens in ihrer
+Vollzahl an das Ende der Welt geschickt wurden, wahrhaftig, ich glaube
+nach Japan, und die an ihre Stelle tretenden begreiflicherweise nichts
+von jenem mündlichen Versprechen ihrer Vorgänger wussten. Der
+dreijährige Termin erfüllte sich, die neuen Väter kündigten die Schuld,
+nach Jahresfrist konnten die Junker nicht zahlen, und es wurde gegen
+sie verfahren.
+
+Schon hatte sich das fromme Haus in den Besitz ihrer Felder gesetzt,
+da gab es Lärm. Die tapfern Brüder polterten an alle Türen, auch an
+die des Marschalls Boufflers, welcher sie als wackere Soldaten kannte
+und schätzte. Er untersuchte den Handel mit Ernst und Gründlichkeit
+nach seiner Weise. Der entscheidende Punkt war, dass die Brüder
+behaupteten, von den frommen Vätern nicht allein mündliche
+Beteuerungen, sondern, was sie völlig beruhigt und sorglos gemacht, zu
+wiederholten Malen auch gleichlautende Briefe erhalten zu haben.
+Diese Schriftstücke seien auf unerklärliche Weise verlorengegangen.
+Wohl fänden sich in Briefform gefaltete Papiere mit gebrochenen,
+übrigens leeren Siegeln, welche den Briefen der Väter zum Verwundern
+glichen, doch diese Papiere seien unbeschrieben und entbehren jedes
+Inhalts.
+
+Dergestalt fand ich, eines Tages das Kabinett des Marschalls betretend,
+denselben damit beschäftigt, in seiner genauen Weise jene blanken
+Quadrate umzuwenden und mit der Lupe vorn und hinten zu betrachten.
+Ich schlug ihm vor, mir die Blätter für eine Stunde anzuvertrauen, was
+er mir mit ernsten Augen bewilligte.
+
+Ihr schenktet, Sire, der Wissenschaft und mir einen botanischen Garten,
+der Euch Ehre macht, und bautet mir im Grünen einen stillen Sitz für
+mein Alter. Nicht weit davon, am Nordende, habe ich mir eine
+geräumige chemische Küche eingerichtet, die Ihr einmal zu besuchen mir
+versprachet. Dort unterwarf ich jene fragwürdigen Papiere wirksamen
+und den gelehrten Vätern vielleicht noch unbekannten Agentien. Siehe
+da, die erblichene Schrift trat schwarz an das Licht und offenbarte
+das Schelmstück der Väter Jesuiten.
+
+Der Marschall eilte mit den verklagenden Papieren stracks zu deiner
+Majestät"--König Ludwig strich sich langsam die Stirn--"und fand dort
+den Pater Lachaise, welcher aufs tiefste erstaunte über diese
+Verirrung seiner Ordensbrüder in der Provinz, zugleich aber deiner
+Majestät vorstellte, welche schreiende Ungerechtigkeit es wäre, die
+Gedankenlosigkeit weniger oder eines einzelnen eine so zahlreiche,
+wohltätige und sittenreine Gesellschaft entgelten zu lassen, und
+dieser einzelne, der frühere Vorsteher jenes Hauses, habe überdies,
+wie er aus verlässlichen Quellen wisse, kürzlich in Japan unter den
+Heiden das Martyrium durch den Pfahl erlitten.
+
+Wer am besten bei dieser Wendung der Dinge fuhr, das waren die vier
+Junker. Die Hälfte der Schuld erliessen ihnen die verblüfften Väter,
+die andere Hälfte tilgte ein Grossmütiger."
+
+Der König, der es gewesen sein mochte, veränderte keine Miene.
+
+"Dem Marschall dankte dann Père Lachaise insbesondere dafür, dass er
+in einer bemühenden Sache die Herstellung der Wahrheit unternommen und
+es seinem Orden erspart habe, sich mit ungerechtem Gute zu belasten.
+Dann bat er ihn, der Edelmann den Edelmann, den Vätern sein Wohlwollen
+nicht zu entziehen und ihnen das Geheimnis zu bewahren, was sich
+übrigens für einen Marschall Boufflers von selbst verstehe.
+
+Der geschmeichelte Marschall sagte zu, wollte aber wunderlicherweise
+nichts davon hören, die verräterischen Dokumente herauszugeben oder
+sie zu vernichten. Es fruchtete nichts, dass Père Lachaise ihn zuerst
+mit den zartesten Wendungen versuchte, dann mit den bestimmtesten
+Forderungen bestürmte. Nicht dass der Marschall im geringsten daran
+gedacht hätte, sich dieser gefährlichen Briefe gegen die frommen Väter
+zu bedienen; aber er hatte sie einmal zu seinen Papieren gelegt, mit
+deren Aufräumen und Registrieren er das Drittel seiner Zeit zubringt.
+In diesem Archive, wie er es nennt, bleibt vergraben, was einmal
+drinnen liegt. So schwebte kraft der Ordnungsliebe und der genauen
+Gewohnheiten des Marschalls eine immerwährende Drohung über dem Orden,
+die derselbe dem Unvorsichtigen nicht verzieh. Der Marschall hatte
+keine Ahnung davon und glaubte mit den von ihm geschonten Vätern auf
+dem besten Fusse zu stehn.
+
+Ich war anderer Meinung und liess es an dringenden Vorstellungen nicht
+fehlen. Hart setzte ich ihm zu, seinen Knaben ohne Zögerung den
+Jesuiten wegzunehmen, da der verbissene Hass und der verschluckte
+Groll, welchen getäuschte Habgier und entlarvte Schurkerei unfehlbar
+gegen ihren Entdecker empfinden, sich notwendigerweise über den Orden
+verbreiten, ein Opfer suchen und es vielleicht, ja wahrscheinlich in
+seinem unschuldigen Kinde finden würden. Er sah mich verwundert an,
+als ob ich irre rede und Fabeln erzähle. Geradeheraus: entweder hat
+der Marschall einen kurzen Verstand, oder er wollte sein gegebenes
+Wort mit Prunk und Glorie selbst auf Kosten seines Kindes halten.
+
+'Aber, Fagon', sagte er, 'was in aller Welt hat mein Julian mit dieser
+in der Provinz begegneten Geschichte zu schaffen? Wo ist da ein
+richtiger Zusammenhang? Wenn ihm übrigens die Väter ein bisschen
+strenger auf die Finger sehen, das kann nichts schaden. Sie haben ihn
+nicht übel verhätschelt. Ihnen jetzt den Knaben wegnehmen? Das wäre
+unedel. Man würde plaudern, Gründe suchen, vielleicht die unreinliche
+Geschichte ausgraben, und ich stünde da als ein Wortbrüchiger.' So sah
+der Marschall nur den Nimbus seiner Ehre, statt an sein Kind zu denken,
+das er vielleicht, solange es lebte, noch keines eingehenden Blickes
+gewürdigt hatte. Ich hätte ihn für seinen Edelmut mit dieser meiner
+Krücke prügeln können.
+
+Es ging dann, wie es nicht anders gehen konnte. Nicht in auffallender
+Weise, ohne Plötzlichkeit und ohne eigentliche Ungerechtigkeit liessen
+die Väter Professoren den Knaben sinken, in welchem sie den Sohn eines
+Mannes zu hassen begannen, der den Orden beleidigt habe. Nicht alle
+unter ihnen, die bessern am wenigsten, kannten die saubere Geschichte,
+aber alle wussten: Marschall Boufflers hat uns beschämt und geschädigt,
+und alle hassten ihn.
+
+Eine feine Giftluft schleichender Rache füllte die Säle des Collegiums.
+Nicht nur jedes Entgegenkommen, sondern auch jede gerechte
+Berücksichtigung hatten für Julian aufgehört. Das Kind litt. Täglich
+und stündlich fühlte es sich gedemütigt, nicht durch lauten Tadel, am
+wenigsten durch Scheltworte, welche nicht im Gebrauche der Väter sind,
+sondern fein und sachlich, einfach dadurch, dass sie die Armut des
+Blondkopfes nicht länger freundlich unterstützten und die geistige
+Dürftigkeit nach verweigertem Almosen beschämt in ihrer Blösse
+dastehen liessen. Jetzt begann das Kind, von einem verzweifelnden
+Ehrgeiz gestachelt, seine Wachen zu verlängern, seinen Schlummer
+gewalttätig abzukürzen, sein Gehirn zu martern, seine Gesundheit zu
+untergraben--ich mag davon nicht reden, es bringt mich auf..."
+
+Fagon machte eine Pause und schöpfte Atem.
+
+Der König füllte dieselbe, indem er ruhig bemerkte: "Ich frage mich,
+Fagon, wieviel Wirklichkeit alles dieses hat. Ich meine diese stille
+Verschwörung gelehrter und verständiger Männer zum Schaden eines
+Kindes und dieser brütende Hass einer ganzen Gesellschaft gegen einen
+im Grunde ihr so ungefährlichen Mann, wie der Marschall ist, der sie
+ja überdies ganz ritterlich behandelt hatte. Du siehst Gespenster,
+Fagon. Du bist hier Partei und hast vielleicht, wer weiss, gegen den
+verdienten Orden neben deinem ererbten Vorurteil noch irgendeine
+persönliche Feindschaft."
+
+"Wer weiss?" stammelte Fagon. Er hatte sich entfärbt, soweit er noch
+erblassen konnte, und seine Augen loderten. Die Marquise wurde
+ängstlich und berührte heimlich den Arm ihres Schützlings, ohne dass
+er die warnende Hand gefühlt hätte. Frau von Maintenon wusste, dass
+der heftige Alte, wenn er gereizt wurde, gänzlich ausser sich geriet
+und unglaubliche Worte wagte, selbst dem Könige gegenüber, welcher
+freilich dem langjährigen und tiefen Kenner seiner Leiblichkeit
+nachsah, was er keinem andern so leicht vergeben hätte. Fagon
+zitterte. Er stotterte unzusammenhängende Sätze, und seine Worte
+stürzten durcheinander, wie Krieger zu den Waffen.
+
+"Du glaubst es nicht, Majestät, Kenner der Menschenherzen, du glaubst
+es nicht, dass die Väter Jesuiten jeden, der sie wissentlich oder
+unwissentlich beleidigt, hassen bis zur Vernichtung? Du glaubst nicht,
+dass diese Väter weder wahr noch falsch, weder gut noch böse kennen,
+sondern nur ihre Gesellschaft?" Fagon schlug eine grimmige Lache auf.
+"Du willst es nicht glauben, Majestät!
+
+Sage mir, König, du Kenner der Wirklichkeit," raste Fagon abspringend
+weiter, "da die Rede ist von der Glaubwürdigkeit der Dinge, kannst du
+auch nicht glauben, dass in deinem Reiche bei der Bekehrung der
+Protestanten Gewalt angewendet wird?"
+
+"Diese Frage", erwiderte der König sehr ernsthaft, "ist die erste
+deiner heutigen drei Freiheiten. Ich beantworte sie. Nein, Fagon.
+Es wird, verschwindend wenige Fälle ausgenommen, bei diesen
+Bekehrungen keine Gewalt angewendet, weil ich es ein für allemal
+ausdrücklich untersagt habe und weil meinen Befehlen nachgelebt wird.
+Man zwingt die Gewissen nicht. Die wahre Religion siegt gegenwärtig
+in Frankreich über Hunderttausende durch ihre innere Überzeugungskraft."
+
+"Durch die Predigten des Père Bourdaloue!" höhnte Fagon mit gellender
+Stimme. Dann schwieg er. Entsetzen starrte aus seinen Augen über
+diesen Gipfel der Verblendung, diese Mauer des Vorurteils, diese
+gänzliche Vernichtung der Wahrheit. Er betrachtete den König und sein
+Weib eine Weile mit heimlichem Grauen.
+
+"Sire, meine nicht", fuhr er fort, "dass ich Partei bin und das Blut
+meiner protestantischen Vorfahren aus mir spreche. Ich bin von einer
+ehrwürdigen Kirche abgefallen. Warum? Weil ich, Gott vorbehalten,
+von dem ich nicht lasse und der in meinen alten Tagen mich nicht
+verlassen möge, über Religionen und Konfessionen samt und sonders
+denke, wie jener lucrezische Vers... "
+
+Weder der König noch Frau von Maintenon wussten von diesem Verse, aber
+sie konnten vermuten, Fagon meine nichts Frommes.
+
+"Kennt Ihr den Tod meines Vaters, Sire?" flüsterte Fagon. "Er ist ein
+Geheimnis geblieben, aber Euch will ich es anvertrauen. Er war ein
+sanfter Mann und nährte sich, sein Weib und seine Kinder, deren
+letztes und sechstes ich Verwachsener war, in Auxerre von dem Verkaufe
+seiner Latwergen redlich und kümmerlich; denn Auxerre hat eine gesunde
+Luft und ein Schock Apotheken. Die glaubenseifrigen Einwohner, die
+meinen Vater liebten, wollten ihm alles Gute und hätten ihn gern der
+Kirche zurückgegeben, aber nicht mit Gewalt, denn Ihr habet es gesagt,
+Sire, man zwingt die Gewissen nicht. Also verbrüderten sie sich, die
+calvinistische Apotheke zu meiden. Mein Vater verlor sein Brot, und
+wir hungerten. Die Väter Jesuiten taten dabei, wie überall, das Beste.
+Da wurde sein Gewissen in sich selbst uneins. Er schwur ab. Weil
+aber die scharfen calvinistischen Sätze ein Gehirn, dem sie in seiner
+Kindheit eingegraben wurden, nicht so leicht wieder verlassen,
+erschien sich der Ärmste bald als ein Judas, der den Herrn verriet,
+und er ging hin wie jener und tat desgleichen."
+
+"Fagon", sagte der König mit Würde, "du hast den armen Père Tellier
+wegen einer geschmacklosen Rede über seinen Vater beschimpft und
+redest selber so nackt und grausam von dem deinigen. Unselige Dinge
+verlangen einen Schleier!"
+
+"Sire", erwiderte der Arzt, "Ihr habet recht und seid für mich wie für
+jeden Franzosen das Gesetz in Dingen des Anstandes. Freilich kann man
+sich von gewissen Stimmungen hinreissen lassen, in dieser Welt der
+Unwahrheit und ihr zum Trotz von einer blutigen Tatsache, und wäre es
+die schmerzlichste, das verhüllende Tuch unversehens wegzuziehen...
+
+Aber, Sire, wie vorzeitig habe ich die erste meiner Freiheiten
+verbraucht, und wahrlich, mich gelüstet, gleich noch meine zweite zu
+verwenden."
+
+Die Marquise las in den veränderten Zügen des Arztes, dass sein Zorn
+vorüber und nach einem solchen Ausbruche an diesem Abend kein Rückfall
+mehr zu befürchten sei.
+
+"Sire", sagte Fagon fast leichtsinnig, "habt Ihr Euern Untertan, den
+Tiermaler Mouton, gekannt? Ihr schüttelt das Haupt. So nehme ich mir
+die grosse Freiheit, Euch den wenig hoffähigen, aber in diese
+Geschichte gehörenden Künstler vorzustellen, zwar nicht in Natur, mit
+seinem zerlöcherten Hut, den Pfeifenstummel zwischen den Zähnen--ich
+rieche seinen Knaster--, hemdärmelig und mit hangenden Strümpfen.
+Überdies liegt er im Grabe. Ihr liebet die Niederländer nicht,
+Sire, weder ihre Kirmessen auf der Leinwand noch ihre eigenen
+ungebundenen Personen. Wisset, Majestät: Ihr habt einen Maler
+besessen, einen Picarden, der sowohl durch die Sachlichkeit seines
+Pinsels als durch die Zwanglosigkeit seiner Manieren die Holländer bei
+weitem überholländerte.
+
+Dieser Mouton, Sire, hat unter uns gelebt, seine grasenden Kühe und
+seine in eine Staubwolke gedrängten Hammel malend, ohne eine blasse
+Ahnung alles Grossen und Erhabenen, was dein Zeitalter, Majestät,
+hervorgebracht hat. Kannte er deine Dichter? Nicht von ferne. Deine
+Bischöfe und Prediger? Nicht dem Namen nach. Mouton hatte kein
+Taufwasser gekostet. Deine Staatsmänner, Colbert, Lyonne und die
+andern? Darum hat sich Mouton nie geschoren. Deine Feldherrn, Condé
+mit dem Vogelgesicht, Turenne, Luxembourg und den Enkel der schönen
+Gabriele? Nur den letztern, welchem er in Anet einen Saal mit
+Hirschjagden von unglaublich frecher Mache füllte. Vendôme mochte
+Mouton, und dieser nannte seinen herzoglichen Gönner in rühmender
+Weise einen Viehkerl, wenn ich das Wort vor den Ohren der Majestät
+aussprechen darf. Hat Mouton die Sonne unserer Zeit gekannt? Wusste
+er von deinem Dasein, Majestät? Unglaublich zu sagen: den Namen,
+welcher die Welt und die Geschichte füllt--vielleicht hat er nicht
+einmal deinen Namen gewusst, wenn ihm auch, selten genug, deine
+Goldstücke durch die Hände laufen mochten. Denn Mouton konnte nicht
+lesen, so wenig als sein Liebling, der andere Mouton.
+
+Dieser zweite Mouton, ein weiser Pudel mit geräumigem Hirnkasten und
+sehr verständigen Augen, über welche ein schwarzzottiges Stirnhaar in
+verworrenen Büscheln niederhing, war ohne Zweifel--in den Schranken
+seiner Natur--der begabteste meiner drei Gäste: so sage ich, weil
+Julian Boufflers, von dem ich erzähle, Mouton der Mensch und Mouton
+der Pudel oft lange Stunden vergnügt bei mir zusammensassen.
+
+Ihr wisset, Sire, die Väter Jesuiten sind freigebige Ferienspender,
+weil ihre Schüler, den vornehmen, ja den höchsten Ständen angehörend,
+öfters zu Jagden, Komödien oder sonstigen Lustbarkeiten, freilich
+nicht alle, nach Hause oder anderswohin gebeten werden. So nahm ich
+denn Julian, welcher von seinem Vater, dem Marschall, grundsätzlich
+selten nach Hause verlangt wurde, zuweilen in Euern botanischen Garten
+mit, wo Mouton, der sich unter Pflanzen und Tieren heimisch fühlte,
+mich zeitweilig besuchte, irgendeine gelehrte Eule oder einen
+possierlichen Affen mit ein paar entschiedenen Kreidestrichen auf das
+Papier warf und wohl auch, wenn Fleiss und gute Laune vorhielten, mir
+ein stilles Zimmer mit seinen scheuenden Pferden oder saufenden Kühen
+bevölkerte. Ich hatte Mouton den Schlüssel einer Mansarde mit
+demjenigen des nächsten Mauerpförtchens eingehändigt, um dem
+Landstreicher eine Heimstätte zu geben, wo er seine Staffeleien und
+Mappen unterbringe. So erschien und verschwand er bei mir nach seinem
+Belieben.
+
+Einmal an einem jener kühlen und erquicklichen Regensommertage, jener
+Tage stillen, aber schnellen Wachstumes für Natur und Geist, sass ich
+in meiner Bibliothek und blickte durch das hohe Fenster derselben über
+einen aufgeschlagenen Folianten und meine Brille hinweg in die mir
+gegenüberliegende Mansarde des Nebengebäudes, das Nest Moutons. Dort
+sah ich einen blonden schmalen Knabenkopf in glücklicher Spannung
+gegen eine Staffelei sich neigen. Dahinter nickte der derbe Schädel
+Moutons, und eine behaarte Hand führte die schlanke des Jünglings.
+Ausser Zweifel, da wurde eine Malstunde gegeben. Mouton der Pudel
+sass auf einem hohen Stuhle mit rotem Kissen daneben, klug und
+einverstanden, als billige er höchlich diese gute Ergötzung. Ich
+markierte mein Buch und ging hinüber.
+
+In meinen Filzstiefeln wurde ich von den lustig Malenden nicht gehört
+und nur von Mouton dem Pudel wahrgenommen, der aber seinen Gruss, ohne
+das Kissen zu verlassen, auf ein heftiges Wedeln beschränkte. Ich
+liess mich still in einen Lehnstuhl nieder, um dem wunderlichsten
+Gespräche beizuwohnen, welches je in Euerm botanischen Garten, Sire,
+geführt wurde. Zuerst aber betrachtete ich aus meinem Winkel das Bild,
+welches auf der Staffelei stand, den Geruch einatmend, den die flott
+und freigebig gehandhabten Ölfarben verbreiteten. Was stellte es dar?
+Ein Nichts: eine Abendstimmung, eine Flussstille, darin die
+Spiegelung einiger aufgelöster roter Wölkchen und eines bemoosten
+Brückenbogens. Im Flusse standen zwei Kühe, die eine saufend, die
+andere, der auch noch das Wasser aus den Maulwinkeln troff beschaulich
+blickend. Natürlich tat Mouton das Beste daran. Aber auch der Knabe
+besass eine gewisse Pinselführung, welche nur das Ergebnis mancher
+ohne mein Wissen mit Mouton vermalten Stunde sein konnte. Wie viel
+oder wenig er gelernt haben mochte, schon die Illusion eines Erfolges,
+die Teilnahme an einer genialen Tätigkeit, einem mühelosen und
+glücklichen Entstehen, einer Kühnheit und Willkür der schöpferischen
+Hand, von welcher wohl der Phantasielose sich früher keinen Begriff
+gemacht hatte und die er als ein Wunder bestaunte, liess den Knaben
+nach so vielen Verlusten des Selbstgefühls eine grosse Glückseligkeit
+empfinden. Das wärmste Blut rötete seine keuschen Wangen, und ein
+Eifer beflügelte seine Hand, dass nichts darüber ging und auch ich
+eine helle väterliche Freude fühlte.
+
+Inzwischen erklärte Mouton dem Knaben die breiten Formen und schweren
+Gebärden einer wandelnden Kuh und schloss mit der Behauptung, es gehe
+nichts darüber als die Gestalt des Stieres.
+
+Diese sei der Gipfel der Schöpfung. Er sagte wohl, um genau zu sein,
+der Natur, nicht der Schöpfung, denn die letztere kannte er nicht,
+weder den Namen noch die Sache, da er verwahrlost und ohne Katechismus
+aufgewachsen war.
+
+Wenig Glück genügte, die angebotene Heiterkeit wie eine sprudelnde
+Quelle aus dem Knaben hervorzulocken. Die Achtung Moutons vor dem
+Hornvieh komisch findend, erzählte Julian unschuldig: 'Père Amiel hat
+uns heute morgen gelehrt, dass die alten Ägypter den Stier göttlich
+verehrten. Das finde ich drollig!'
+
+'Sapperment', versetzte der Maler leidenschaftlich, 'da taten sie
+recht. Gescheite Leute das, Viehkerle! Nicht wahr, Mouton? Wie?
+Ich frage dich, Julian, ist ein Stierhaupt in seiner Macht und
+drohenden Grösse nicht göttlicher--um das dumme Wort zu
+gebrauchen--als ein Dreieck oder ein Tauber oder gar ein schales
+Menschengesicht? Nicht wahr, Mouton? Das fühlst du doch selber,
+Julian? Wenn ich sage: fades Menschengesicht, so rede ich unbeschadet
+der Nase deines Père Amiel. Alle Achtung!' Mouton zeichnete, übrigens
+ohne jeden Spott, mit einem frechen Pinselzug auf das Tannenholz der
+Staffelei eine Nase, aber eine Nase, ein Ungeheuer von Nase, von
+fabelhafter Grösse und überwältigender Komik.
+
+'Man sieht', fuhr er dann in ganzem Ernste fort, 'die Natur bleibt
+nicht stehen. Es würde sie ergötzen, zeitweilig etwas Neues zu
+bringen. Doch das ist verspätet: die Vettel hat ihr Feuer verloren.'
+
+'Père Amiel', meinte der Knabe schüchtern, 'wird der Natur nicht für
+seine Nase danken, denn sie macht ihn lächerlich, und er hat
+ihrethalber viel von meinen Kameraden auszustehen.l
+
+'Das sind eben Buben', sagte Mouton grossmütig, 'denen der Sinn für
+das Erhabene mangelt. Aber beiläufig, wie kommt es, Julian, dass ich,
+neulich in deinem Schulhaus einen Besuch machend, um dir die Vorlagen
+zu bringen, dich unter lauter Kröten fand? dreizehn--und
+vierzehnjährigen Jüngelchen? Passt sich das für dich, dem der Flaum
+keimt und der ein Liebchen besitzt?'
+
+Dieser plötzliche Überfall rief den entgegengesetzten Ausdruck zweier
+Gefühle auf das Antlitz des Jünglings: eine glückliche, aber tiefe
+Scham und einen gründlichen Jammer, der überwog. Julian seufzte.
+'Ich bin zurückgeblieben', lispelte er mit unwillkürlichem Doppelsinne.
+
+'Dummheit!' schimpfte Mouton. 'Worin zurückgeblieben? Bist du nicht
+mit deinen Jahren gewachsen und ein schlanker und schöner Mensch?
+Wenn dir die Wissenschaften widerstehen, so beweist das deinen
+gesunden Verstand. Meiner Treu! ich hätte mich als ein Bärtiger oder
+wenigstens Flaumiger nicht unter die Buben setzen lassen und wäre auf
+der Stelle durchgebrannt.'
+
+'Aber Mouton', sagte der Knabe, 'der Marschall, mein Vater, hat es von
+mir verlangt, dass ich noch ein Jahr unter den Kleinen sitzen bleibe.
+Er hat mich darum gebeten, ihm diesen Gefallen zu tun.' Er sagte das
+mit einem zärtlichen Ausdruck von Gehorsam und ehrfürchtiger Liebe,
+der mich ergriff, obschon ich mich zu gleicher Zeit an dem die
+kindliche Verehrung missbrauchenden Marschall ärgerte und auch darüber
+höchst missmutig war, dass Julian, gegen mich und jedermann ein
+hartnäckiger Schweiger, einem Mouton Vertrauen bewies, einem
+Halbmenschen sich aufschloss. Mit Unrecht. Erzählen doch auch wir
+Erwachsenen einem treuen Tiere, welches uns die Pfoten auf die Knie
+legt, unsern tiefsten Kummer, und ist es nicht ein vernünftiger Trieb
+aller von der Natur Benachteiligten, ihre Gesellschaft eher unten zu
+suchen als bei ihresgleichen, wo sie sich als Geschonte und
+Bemitleidete empfinden?
+
+'Weisst du was', fuhr Mouton nach einer Pause fort, und der andere
+Mouton spitzte die Ohren dazu, 'du zeichnest dein Vieh schon jetzt
+nicht schlecht und lernst täglich hinzu. Ich nehme dich nach dem
+Süden als meinen Gesellen. Ich habe da eine Bestellung nach Schloss
+Grignan. Die Dingsda--wie heisst sie doch? das fette lustige
+Weibsbild? richtig: die Sévigné!--schickt mich ihrem Schwiegersohn,
+dem Gouverneur dort herum. Du gehst mit und nährst dich ausgiebig von
+Oliven, bist ein freier loser Vogel, der flattert und pickt, wo er
+will, blickst dein Lebtag in nichts Gedrucktes und auf nichts
+Geschriebenes mehr und lässest den Marschall Marschall sein. Auch
+dein blaues kühles vornehmes Liebchen bleibt dahinten. Meinst, ich
+hätte dich nicht gesehen, Spitzbube, erst vorgestern, da der alte
+Quacksalber in Versailles war, vor den Affen stehen, mit der alten
+Kräuterschachtel und der grossen blauen Puppe? Für diese wird sich
+schon ein brauner sonneverbrannter Ersatz finden.'
+
+Dieses letzte Wort, welches noch etwas zynischer lautete, empörte mich,
+wiewohl es den Knaben, wie ich ihn kannte, nicht beschädigen konnte.
+Jetzt räusperte ich mich kräftig, und Julian erhob sich in seiner
+ehrerbietigen Art, mich zu begrüssen, während Mouton, ohne irgendeine
+Verlegenheit blicken zu lassen, sich begnügte in den Bart zu murmeln:
+'Der' Mouton war von einer gründlichen Undankbarkeit.
+
+Ich nahm den Knaben, während Mouton lustig fortpinselte, mit mir in
+den Garten und fragte ihn, ob ihn wirklich der Zyniker in seinem
+Collège aufgesucht hätte, was mir aus naheliegenden Gründen unangenehm
+war. Julian bejahte. Es habe ihn etwas gekostet, sagte er aufrichtig,
+unter seinen Mitschülern im Hofraum den Händedruck Moutons zu
+erwidern, dem die nackten Ellbogen aus den Löchern seiner Ärmel und
+die Zehen aus den Schuhen geguckt hätten, 'Aber', sagte er, 'ich tat
+es und begleitete ihn auch noch über die Strasse; denn ich danke ihm
+Unterricht und heitere Stunden und habe ihn auch recht lieb, ohne
+seine Unreinlichkeit'.
+
+So redete der Knabe, ohne weiter etwas daraus zu machen, und erinnerte
+mich an eine Szene, die ich vor kurzem aus den obern, auf den
+Spielplatz blickenden Arkaden des Collège, wohin man mich zu einem
+kranken Schüler gerufen, beobachtet hatte und von welcher ich mich
+lange nicht hatte trennen können. Unten war Fechtstunde, und der
+Fechtmeister, ein alter benarbter Sergeant, der lange Jahre unter dem
+Marschall gedient hatte, behandelte den Sohn seines Feldherrn, welcher
+kurz vorher neben Kindern auf einer Schulbank gesessen, mit fast
+unterwürfiger Ehrerbietung, als erwarte er Befehl, statt ihn zu geben.
+
+Julian focht ausgezeichnet, ich hätte fast gesagt: er focht edel. Der
+Knabe pflegte in den langen Stunden des Auswendiglernens das
+Handgelenk mechanisch zu drehen, wodurch dasselbe ungewöhnlich
+geschmeidig wurde. Dazu hatte er genauen Blick und sichern Ausfall.
+So wurde er, wie gesagt, ein Fechter erster Klasse, wie er auch gut
+und verständig ritt. Es lag nahe, dass der überall Gedemütigte diese
+seine einzige Überlegenheit seine Kameraden fühlen liess, um ein
+Ansehen zu gewinnen. Aber nein, er verschmähte es. Die in dieser
+Körperübung Geschickten und Ungeschickten behandelte er, ihnen die
+Klinge in der Hand gegenüberstehend, mit der gleichen Courtoisie, ohne
+jemals mit jenen in eine hitzige Wette zu geraten oder sich über diese,
+von welchen er sich zuweilen zu ihrer Ermutigung grossmütig stechen
+liess, lustig zu machen. So stellte er auf dem Fechtboden in einer
+feinen und unauffälligen Weise jene Gleichheit her, deren er selbst in
+den Schulstunden schmerzlich entbehrte, und genoss unter seinen
+Kameraden zwar nicht einen durch die Faust eroberten Respekt, sondern
+eine mit Scheu verbundene Achtung seiner unerklärlichen Güte, die
+freilich in ein der Jugend sonst unbekanntes aufrichtiges Mitleid mit
+seiner übrigen Unbegabtheit verfloss. Die Ungunst des Glückes, welche
+so viele Seelen verbittert, erzog und adelte die seinige.
+
+Ich war mit Julian in Euerm Garten, Sire, lustwandelnd zu den Käfigen
+gelangt, wo Eure wilden Tiere hinter Eisenstäben verwahrt werden.
+Eben hatte man dort einen Wolf eingetan, der mit funkelnden Augen und
+in schrägem, hastigem Gange seinen Kerker durchmass. Ich zeigte ihn
+dem Knaben, welcher nach einem flüchtigen Blick auf die ruhelose
+Bestie sich leicht schaudernd abwendete. Der platte Schädel, die
+falschen Augen, die widrige Schnauze, die tückisch gefletschten Zähne
+konnten erschrecken. Doch ich war die Furcht an dem Knaben, der schon
+Jagden mitgemacht hatte, durchaus nicht gewohnt. 'Ei, Julian, was ist
+dir?' lächelte ich, und dieser erwiderte befangen: 'Das Tier mahnt
+mich an jemand--', liess dann aber die Rede fallen, denn wir
+erblickten auf geringe Entfernung ein vornehmes weibliches Paar, das
+unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: eine purzlige Alte und ein
+junges Mädchen, die erstere die Gräfin Mimeure--Ihr erinnert Euch
+ihrer, Sire, wenn sie auch seit Jahrzehnten den Hof meidet, nicht aus
+Nachlässigkeit, denn sie verehrt Euch grenzenlos, sondern weil sie,
+wie sie gesagt, mit ihren Runzeln Euern Schönheitssinn nicht
+beleidigen will. Garstig und witzig und wie ich an einem Krückenstock
+gehend, ein originelles und wackeres Geschöpf, war sie mir eine
+angenehme Erscheinung.
+
+'Guten Tag, Fagon!' rief sie mir entgegen. 'Ich betrachte deine
+Kräuter und komme dich um ein paar Rhabarbersträuche zu bitten für
+meinen Garten zu Neuilly; du weisst, ich bin ein Stück von einer
+Ärztin!', und sie nahm meinen Arm. 'Begrüsset euch, ihr Jugenden!
+Tun sie, als hätten sie sich nie gesehen!'
+
+Julian, der schüchterne, begrüsste das Mädchen, welches ihm die
+Fingerspitzen bot, ohne grosse Verlegenheit, was mich wunderte und
+freute. 'Mirabelle Miramion', nannte sie mir die Gräfin, 'ein
+prächtiger Name, nicht wahr, Fagon?' Ich betrachtete das schöne Kind,
+und mir fiel gleich jenes 'blaue Liebchen' ein, mit welchem Mouton den
+Knaben aufgezogen. In der Tat, sie hatte grosse blaue, flehende Augen,
+eine kühle, durchsichtige Farbe und einen kaum vollendeten Wuchs, der
+noch nichts als eine zärtliche Seele ausdrückte.
+
+Mit einer kindlichen, glockenhellen Stimme, welche zum Herzen ging,
+begann sie, da mich ihr die Gräfin als den Leibarzt des Königs
+vorstellte, folgendermassen: 'Erster der Ärzte und Naturforscher, ich
+verneige mich vor Euch in diesem weltberühmten Garten, welchen Euch
+die Huld des mächtigsten Herrschers, der dem Jahrhundert den Namen
+gibt, in seiner volkreichen und bewundernswerten Hauptstadt gebaut hat.'
+Ich wurde so verblüfft von dieser weitläufigen verblühten Rhetorik
+in diesem kleinen lenzfrischen Munde, dass ich der Alten das Wort
+liess, welche gutmütig verdriesslich zu schelten begann: 'Lass es gut
+sein, Bellchen. Fagon schenkt dir das übrige. Unter Freunden,
+Kind--denn Fagon ist es und kein Spötter--, wie oft hab' ich dich
+schon gebeten in den drei Wochen, da ich dich um mich habe, von diesem
+verwünschten gespreizten provinzialen Reden abzulassen. So spricht
+man nicht. Dieser hier ist nicht der erste der Ärzte, sondern
+schlechthin Herr Fagon. Der botanische Garten ist kurzweg der
+botanische Garten, oder der Kräutergarten, oder der königliche Garten.
+Paris ist Paris und nicht die Hauptstadt, und der König begnügt sich
+damit, der König zu sein. Merke dir das.' Der Mund des Mädchens
+öffnete sich schmerzlich, und ein Tränchen rieselte über die blühende
+Wange.
+
+Da wendete sich zu meinem Erstaunen Julian in grosser Erregung gegen
+die Alte. 'Um Vergebung, Frau Gräfin!' sprach er kühn und heftig.
+'Die Rhetorik ist eine geforderte, unentbehrliche Sache und schwierig
+zu lernen. Ich muss das Fräulein bewundern, wie reich sie redet, und
+Père Amiel, wenn er sie hörte--'
+
+'Père Amiel!'--die Gräfin brach in ein tolles Gelächter aus, bis sie
+das Zwerchfell schmerzte--, 'Père Amiel hat eine Nase! aber eine Nase!
+eine Weltnase! Stelle dir vor, Fagon, eine Nase, welche die des Abbé
+Genest beschämt! Was ich im Collège zu schaffen hatte? Ich holte
+dort meinen Neffen ab--du weisst, Fagon, ich habe die Kinder von zwei
+verstorbenen Geschwistern auf dem Halse--meinen Neffen, den
+Guntram--armer, armer Junge!--und wurde, bis Père Tellier, der
+Studienpräfekt, zurückkäme, in die Rhetorik des Père Amiel geführt. O
+Gott! o Gott!' Die Gräfin hielt sich den wackelnden Bauch. 'Hab' ich
+gelitten an verschlucktem Lachen! Zuerst das sich ermordende römische
+Weibsbild! Der Pater erdolchte sich mit dem Lineal. Dann verzog er
+süss das Maul und hauchte: 'Paete, es schmerzt nicht!' Aber was wollte
+das heissen gegen die sterbende Cleopatra mit der Viper! Der Père
+setzte sich das Lineal an die linke Brustwarze und liess die Äuglein
+brechen. Dass du das nicht gesehen hast, Fagon!... Ih!' kreischte
+sie plötzlich, dass es mir durch Mark und Bein ging, 'da ist ja auch
+Père Tellier!', und sie deutete auf den Wolf, von welchem wir uns
+nicht über zwanzig Schritte entfernt hatten. 'Wahrhaftig, Père
+Tellier, wie er leibt und lebt! Gehen wir weg von deinen garstigen
+Tieren, Fagon, zu deinen wohlriechenden Pflanzen! Gib mir den Arm,
+Julian!'
+
+'Frau Gräfin erlauben', fragte dieser, 'warum nanntet Ihr den Guntram
+einen armen Jungen, ihn, der jetzt den Lilien folgt, wenn er nicht
+schon die Ehre hat, die Fahne des Königs selbst zu tragen?'
+
+'Ach, ach!' stöhnte die Gräfin mit plötzlich verändertem Gesichte, und
+den Tränen des Gelächters folgten die gleichfarbigen des Jammers,
+'warum ich den Guntram einen armen Jungen nannte? Weil er gar nicht
+mehr vorhanden ist, Julian, weggeblasen! Dazu bin ich in den Garten
+gekommen, wo ich dich vermutete, um dir zu sagen, dass Guntram
+gefallen ist, denke dir, am Tag nach seiner Ankunft beim Heer. Er
+wurde gleich eingestellt und führte eine Patrouille so tollkühn und
+unnütz vor, dass ihn eine Stückkugel zerriss, nicht mehr nicht weniger
+als den weiland Marschall Turenne. Stelle dir vor, Fagon: der Junge
+hatte noch nicht sein sechzehntes erreicht, strebte aber aus dem
+Collège, wo er rasch und glücklich lernte, wachend und träumend nach
+der Muskete. Und dabei war er kurzsichtig, Fagon, du machst dir
+keinen Begriff. So kurzsichtig, dass er auf zwanzig Schritte nichts
+vor sich hatte als Nebel. Natürlich haben ich und alle Vernünftigen
+ihm den Degen ausgeredet--nutzte alles nichts, denn er ist ein
+Starrkopf erster Härte. Ich stritt mich mütterlich mit dem Jungen
+herum, aber eines schönen Tages entlief er und rannte zu deinem Vater,
+Julian, der eben in den Wagen stieg, um sein niederländisches Commando
+zu übernehmen. Dieser befragte das Kind, wie er mir jetzt selbst
+geschrieben hat, ob es unter einem väterlichen Willen stünde, und als
+der Junge verneinte, liess ihn der Marschall in seinem Reisezuge
+mitreiten. Nun fault der kecke Bube dortüben'--sie wies nördlich--'in
+einem belgischen Weiler. Aber die schmalen Erbteile seiner fünf
+Schwestern haben sich ein bisschen gebessert.'
+
+Ich las auf dem Gesichte Julians, wie tief und verschiedenartig ihn
+der Tod seines Gespielen bewegte. Jenen hatte der Marschall in den
+Krieg genommen und sein eigenes Kind auf einer ekeln Schulbank sitzen
+lassen. Doch der Knabe glaubte so blindlings an die Gerechtigkeit
+seines Vaters, auch wenn er sie nicht begriff, dass die Wolke rasch
+über die junge Stirn wegglitt und einem deutlichen Ausdruck der Freude
+Raum gab.
+
+'Du lachst, Julian?' schrie die Alte entsetzt.
+
+'Ich denke', sagte dieser bedächtig, als kostete er jedes Wort auf der
+Zunge, 'der Tod für den König ist in allen Fällen ein Glück.'
+
+Diese ritterliche, aber nicht lebenslustige Maxime und der unnatürlich
+glückliche Ton, in welchem der Knabe sie aussprach, beelendete die
+gute Gräfin. Ein halbverschluckter Seufzer bezeugte, dass sie das
+Leiden des Knaben und seine Mühe zu leben wohl verstand. 'Begleite
+Mirabellen, Julian', sagte sie, 'und geht uns voraus, dorthin nach den
+Palmen, nicht zu nahe, denn ich habe mit Fagon zu reden, nicht zu fern,
+damit ich euch hüte.'
+
+'Wie schlank sie schreiten!' flüsterte die Alte hinter den sich
+Entfernenden. 'Adam und Eva! Lache nicht, Fagon! Ob das Mädchen
+Puder und Reifrock trägt, wandeln sie doch im Paradiese, und auch
+unschuldig sind sie, weil eine leidenvolle Jugend auf ihnen liegt und
+sie die reine Liebe empfinden lässt, ohne den Stachel ihrer Jahre.
+Mich beleidigt nicht, was mir sonst missfällt, dass das Mädel ein paar
+Jahre und Zolle'--sie übertrieb--'mehr hat als der Junge. Wenn die
+nicht zusammengehören!
+
+Es ist eine lächerliche Sache mit dem Mädchen, Fagon, und ich sah, wie
+es dich verblüffte, da du von dem schönen Kinde so geschmacklos
+angeredet wurdest. Und doch ist dieser garstige Höcker ganz natürlich
+gewachsen. Meine Schwester, die Vicomtesse, Gott habe sie selig, sie
+war eine Kostbare, eine Précieuse, die sich um ein halbes Jahrhundert
+verspätet hatte, und erzog das Mädchen in Dijon, wo ihr Mann dem
+Parlamente und sie selbst einem poetischen Garten vorsass, mit den
+Umschreibungen und Redensarten des weiland Fräuleins von Scudéry. Es
+gelang ihr, dem armen folgsamen Kinde den Geschmack gründlich zu
+verderben. Ich wette'--und sie wies mit ihrer Krücke auf die zweie,
+welche, aus den sich einander zärtlich, aber bescheiden zuneigenden
+Gestalten zu schliessen, einen seligen Augenblick genossen--, 'jetzt
+plaudert sie ganz harmlos mit dem Knaben, denn sie hat eine einfache
+Seele und ein keusches Gemüt. Die Luft, die sie aushaucht, ist reiner
+als die, welche sie einatmet. Aber geht sie dann morgen mit mir in
+Gesellschaft und kommt neben ein grosses Tier, einen Erzbischof oder
+Herzog, zu sitzen, wird sie von einer tödlichen Furcht befallen, für
+albern oder nichtig zu gelten, und behängt ihre blanke Natur aus
+reiner Angst mit dem Lumpen einer geflickten Phrase. So wird die
+Liebliche unter uns, die wir klar und kurz reden, gerade zu dem, was
+sie fürchtet, zu einer lächerlichen Figur. Ist das ein Jammer, und
+werde ich Mühe haben, das Kind zurecht zu bringen! Und der Julian,
+der dumme Kerl, der sie noch darin bestärkt!
+
+Uff!' keuchte die Gräfin, die das Gehen an der Krücke ermüdete, und
+liess sich schwer auf die Steinbank nieder in dem Rondell von Myrten
+und Lorbeeren, wo, Sire, Eure Büste steht.
+
+'Von dem Knaben zu reden, Fagon', begann sie wieder, 'den musst du mir
+ohne Verzug von der Schulbank losmachen. Es war empörend, ich sage
+dir, empörend, Fagon, ihn unter den jungen sitzen zu sehen. Der
+Marschall, dieser schreckliche Pedant, würde ihn bei den Jesuiten
+verschimmeln lassen! Nur damit er seine Klassen beendige! Bei den
+Jesuiten, Fagon! Ich habe dem Père Amiel auf den Zahn gefühlt. Ich
+kitzelte ihn mit seiner Mimik. Er ist ein eitler Esel, aber er hat
+Gemüt. Er beklagte den Julian und liess dabei einfliessen, sehr
+behutsam, doch deutlich genug: der Knabe wäre bei den Vätern schlecht
+aufgehoben. Diese seien die besten Leute von der Welt, nur etwas
+empfindlich, und man dürfe sie nicht reizen. Der Marschall sei ihnen
+auf die Füsse getreten: der neue Studienpräfekt aber lasse mit der
+Ehre des Ordens nicht spassen und gebe dem Kinde die Schuld des Vaters
+zu kosten. Dann erschrak er über seine Aufrichtigkeit, blickte um
+sich und legte den Finger auf den Mund.
+
+Ich nahm die Knaben mit: den Guntram, unsern Julian, der mit ihm
+irgendein Geheimnis hatte, und noch einen dritten Freund, den Victor
+Argenson, diesen zu meiner eigenen Ergötzung, denn er ist voller
+Mutwille und Gelächter.
+
+An jenem Abend trieb er es zu toll. Er und Guntram quälten Mirabellen,
+die ich schon zu Mittag für eine ellenlange Phrase gezankt hatte, bis
+aufs Blut. 'Schön ausgedrückt, Fräulein Mirobolante', spotteten sie,
+'aber noch immer nicht schön genug! Noch eine Note höher!' und so
+fort. Julian verteidigte das Mädchen, so gut er konnte, und vermehrte
+nur das Gelächter. Plötzlich brach die Misshandelte in strömende
+Tränen aus, und ich trieb die Rangen in den grossen Saal, wo ich mit
+ihnen ein Ballspiel begann. Nach einer Weile Julian und Mirabellen
+suchend, fand ich sie im Garten, wo sie auf einer stillen Bank
+zusammensassen: Amor und Psyche. Sie erröteten, da ich sie
+überraschte, nicht allzusehr.
+
+Merke dir's, Fagon, der Julian ist jetzt mein Adoptivkind, und wenn du
+ihn nicht von den Vätern befreiest und ihm ein mögliches Leben
+verschaffst, meiner Treu! dann stelze ich an dieser Krücke nach
+Versailles und bringe trotz meiner Runzeln die Sache an den hier!',
+und sie wies auf deine lorbeerbekränzte Büste, Majestät.
+
+Die Alte plauderte mir noch hundert Dinge vor, während ich beschloss,
+sobald sie sich verabschiedet hätte, mit dem Knaben ein gründliches
+Wort zu reden.
+
+Er und das Mädchen erschienen dann wieder, still strahlend. Der Wagen
+der Gräfin wurde gemeldet, und Julian begleitete die Frauen an die
+Pforte, während ich meine Lieblingsbank vor der Orangerie aufsuchte.
+Ich labte mich an dem feinen Dufte. Mouton, einen lästerlichen
+Knaster dampfend und die Hände in den Taschen, schlenderte ohne Gruss
+an mir vorüber. Er pflegte seine Abende ausserhalb des Gartens in
+einer Schenke zu beschliessen. Mouton der Pudel dagegen empfahl sich
+mir heftig wedelnd. Ich bin gewiss, das kluge Tier erriet, dass ich
+seinen Meister gern dem Untergang entrissen hätte, denn Mouton der
+Mensch soff gebranntes Wasser, was zu berichten ich vergessen oder vor
+der Majestät mich geschämt habe.
+
+Der Knabe kam zurück, weich und glücklich. 'Lass mich einmal sehen,
+was du zeichnest und malst', sagte ich. 'Es liegt ja wohl alles auf
+der Kammer Moutons.' Er willfahrte und brachte mir eine volle Mappe.
+Ich besah Blatt um Blatt. Seltsamer Anblick, diese Mischung zweier
+ungleichen Hände: Moutons freche Würfe von der bescheidenen Hand des
+Knaben nachgestammelt und--leise geadelt! Lange hielt ich einen
+blauen Bogen, worauf Julian einige von Mouton in verschiedenen
+Flügelstellungen mit Hilfe der Lupe gezeichnete Bienen unglaublich
+sorgfältig wiedergegeben. Offenbar hatte der Knabe die Gestalt des
+Tierchens liebgewonnen. Wer mir gesagt hätte, dass die Zeichnung
+eines Bienchens den Knaben töten würde!
+
+Zuunterst in der Mappe lag noch ein unförmlicher Fetzen, worauf Mouton
+etwas gesudelt hatte, was meine Neugierde fesselte. 'Das ist nicht
+von mir, sagte Julian, 'es hat sich angehängt.' Ich studierte das
+Blatt, welches die wunderliche Parodie einer ovidischen Szene enthielt:
+jener, wo Pentheus rennt, von den Mänaden gejagt, und Bacchus, der
+grausame Gott, um den Flüchtenden zu verderben, ein senkrechtes
+Gebirge vor ihm in die Höhe wachsen lässt. Wahrscheinlich hatte
+Mouton den Knaben, der zuweilen seinen Aufgaben in der Malkammer oblag,
+die Verse Ovids mühselig genug übersetzen hören und daraus seinen
+Stoff geschöpft. Ein Jüngling, unverkennbar Julian in allen seinen
+Körperformen, welche Moutons Malerauge leichtlich besser kannte als
+der Knabe selbst, ein schlanker Renner, floh, den Kopf mit einem
+Ausdrucke tödlicher Angst nach ein paar ihm nachjagenden Gespenstern
+umgewendet. Keine Bacchantinnen, Weiber ohne Alter, verkörperte
+Vorstellungen, Ängstigungen, folternde Gedanken--eines dieser
+Scheusale trug einen langen Jesuitenhut auf dem geschorenen Schädel
+und einen Folianten in der Hand--und erst die Felswand, wüst und
+unerklimmbar, die vor dem Blicke zu wachsen schien, wie ein finsteres
+Schicksal!
+
+Ich sah den Knaben an. Dieser betrachtete das Blatt ohne Widerwillen,
+ohne eine Ahnung seiner möglichen Bedeutung. Auch Mouton mochte sich
+nicht klargemacht haben, welches schlimme Omen er in genialer
+Dumpfheit auf das Blatt hingeträumt hatte. Ich steckte dasselbe
+unwillkürlich, um es zu verbergen, in die Mitte der Blätterschicht,
+bevor ich diese in die Mappe schob.
+
+'Julian', begann ich freundlich, 'ich beklage mich bei dir, dass du
+mir Mouton vorgezogen hast, ihn zu deinem Vertrauten machend, während
+du dich gegen mein Wohlwollen, das du kennst, in ein unbegreifliches
+Schweigen verschlossest. Fürchtest du dich, mir dein Unglück zu sagen,
+weil ich imstande bin, dasselbe klar zu begrenzen und richtig zu
+beurteilen, und du vorziehst, in hoffnungslosem Brüten dich zu
+verzehren? Das ist nicht mutig.'
+
+Julian verzog schmerzlich die Brauen. Aber noch einmal spielte ein
+Strahl der heute genossenen Seligkeit über sein Antlitz. 'Herr Fagon',
+sagte er halb lächelnd, 'eigentlich habe ich meinen Gram nur dem
+Pudel Mouton erzählt.'
+
+Dieses artige Wort, welches ich ihm nicht zugetraut hätte, überraschte
+mich. Der Knabe deutete meine erstaune Miene falsch. Er glaubte sich
+missredet zu haben. 'Fraget mich, Herr Fagon', sagte er, 'ich
+antworte Euch die Wahrheit.'
+
+'Du hast Mühe zu leben?'
+
+'Ja, Herr Fagon.'
+
+'Man hält dich für beschränkt, und du bist es auch, doch vielleicht
+anders, als die Leute meinen.' Das harte Wort war gesprochen.
+
+Der Knabe versenkte den Blondkopf in die Hände und brach in
+schweigende Tränen aus, welche ich erst bemerkte, da sie zwischen
+seinen Fingern rannen. Nun war der Bann gebrochen.
+
+'Ich will Euch meine Kümmernis erzählen, Herr Fagon', schluchzte er,
+das Antlitz erhebend.
+
+'Tue das, mein Kind, und sei gewiss, dass ich dich jetzt, da wir
+Freunde sind, verteidigen werde wie mich selbst. Niemand wird dir
+künftig etwas anhaben, weder du noch ein anderer! Du wirst dich
+wieder an Luft und Sonne freuen und dein Tagewerk ohne Grauen beginnen.'
+
+Der Knabe glaubte an mich und fasste mit hoffenden Augen Vertrauen.
+Dann begann er sein Leid zu erzählen, halb schon wie ein vergangenes:
+'Einen schlimmen Tag habe ich gelebt, und die übrigen waren nicht viel
+besser. Es war an einem Herbsttage, dass ich mit Guntram zu seinem
+Ohm, dem Comtur, nach Compiègne fuhr. Wir wollten uns dort im
+Schiessen üben, für uns beide ein neues Vergnügen und eine Probe
+unserer Augen.
+
+Wir hatten ein leichtes Zweigespann, und Guntram unterhielt mich in
+einer Staubwolke von seiner Zukunft. Diese könne nur eine
+militärische sein. Zu anderem habe er keine Lust. Der Comtur empfing
+uns weitläufig, aber Guntram hielt nicht Ruhe, bis wir auf Distanz vor
+der Scheibe standen. Keinen einzigen Schuss brachte er hinein. Denn
+er ist kurzsichtig wie niemand. Er biss sich in die Lippe und regte
+sich schrecklich auf. Dadurch wurde auch seine Hand unsicher, während
+ich ins Schwarze traf, weil ich sah und zielte. Der Comtur wurde
+abgerufen, und Guntram schickte den Bedienten nach Wein. Er leerte
+einige Gläser, und seine Hand fing an zu zittern. Mit
+hervorquellenden Augen und verzerrtem Gesichte schleuderte er seine
+Pistole auf den Rasen, hob sie dann wieder auf, lud sie, lud auch die
+meinige und verlor sich mit mir in das Dickicht des Parkes.
+
+Auf einer Lichtung hob er die eine und bot mir die andere. 'Ich mache
+ein Ende!' schrie er verzweifelt. Ich bin ein Blinder, und die taugen
+nicht ins Feld, und wenn ich nicht ins Feld tauge, will ich nicht
+leben! Du begleitest mich! Auch du taugst nicht ins Leben, obwohl du
+beneidenswert schiessest, denn du bist der grösste Dummkopf, das
+Gespötte der Welt!' 'Und Gott?' fragte ich. 'Ein hübscher Gott',
+hohnlachte er und zeigte dem Himmel die Faust, 'der mir Kriegslust und
+Blindheit und dir einen Körper ohne Geist gegeben hat!' Wir rangen,
+ich entwaffnete ihn, und er schlug sich in die Büsche.
+
+Seit jenem Tage war ich ein Unglücklicher, denn Guntram hatte
+ausgesprochen, was ich wusste, aber mir selbst verhehlte, so gut es
+gehen wollte. Stets hörte ich das Wort Dummkopf hinter mir flüstern,
+auf der Strasse wie in der Schule, und meine Ohren schärften sich, das
+grausame Wort zu vernehmen. Es mag auch sein, dass meine Mitschüler,
+über welche ich sonst nicht zu klagen habe, wenn sie sich ausser dem
+Bereiche meines Ohres glauben, kürzehalber mich so nennen. Sogar das
+Semmelweib mit den verschmitzten Runzeln, die Lisette, welche vor dem
+Collège ihre Ware vertreibt, sucht mich zu betrügen, oft recht plump,
+und glaubt es zu dürfen, weil sie mich einen Dummen nennen hört. Und
+doch hangt an der Mauer des Collège Gott der Heiland, der in die Welt
+gekommen ist, um Gerechtigkeit gegen alle und Milde gegen die
+Schwachen zu lehren.' Er schwieg und schien nachzudenken.
+
+Dann fuhr er fort: 'Ich will mich nicht besser machen, Herr Fagon, als
+ich bin. Auch ich habe meine bösen Stunden. Bei keinem Spiele würde
+ich Sonne und Schatten ungerecht verteilen, und wie kann Gott bei dem
+irdischen Wettspiel einem einzelnen Bleigewichte anhängen und ihm dann
+zurufen: 'Dort ist das Ziel: lauf mit den andern!' Oft, Herr Fagon,
+habe ich vor dem Einschlafen die Hände gefaltet und den lieben Gott
+brünstig angefleht, er möge, was ich eben mühselig erlernt, während
+des Schlafes in meinem Kopfe wachsen und erstarken lassen, was ja die
+blosse Natur den andern gewährt. Ich wachte auf und hatte alles
+vergessen, und die Sonne erschreckte mich.
+
+'Vielleicht', flüsterte er scheu, 'tue ich dem lieben Gott Unrecht.
+Er hülfe gern, gütig wie er ist, aber er hat wohl nicht immer die
+Macht. Wäre das nicht möglich, Herr Fagon? Wurde es dann allzu arg,
+besuchte mich die Mutter im Traum und sagte mir: 'Halt aus, Julian! Es
+wird noch gut!'
+
+Diese unglaublichen Nativitäten und kindischen Widersprüche zwangen
+mich zu einem Lächeln, welches ein Grinsen sein mochte. Der Knabe
+erschrak über sich selbst und über mich. Dann sagte er, als hätte er
+schon zu lange gesprochen, hastig, nicht ohne einige Bitterkeit, denn
+die Zuversicht hatte ihn im Laufe seiner Erzählung wieder verlassen:
+'Nun weiss jedermann, dass ich dumm bin, selbst der König, und diesem
+hätte ich es so gerne verheimlicht'--Julian mochte auf jenen Marly
+anspielen--, 'einzig meinen Vater ausgenommen, der nicht daran glauben
+will.'
+
+'Mein Sohn', sagte ich und legte die Hand auf seine schlanke Schulter,
+'ich philosophiere nicht mit dir, Willst du mir aber glauben, so trage
+ich dich durch die Wellen. Wie du bist, ich werde dich in den Port
+bringen. Zwar du wirst trotz deines schönen Namens kein Heer und
+keine Flotte führen, aber du wirst auch keine Schlacht leichtsinnig
+verlieren zum Schaden deines Königs und deines Vaterlandes. Dein Name
+wird nicht wie der deines Vaters in unsern Annalen stehen, aber im
+Buche der Gerechten, denn du kennst die erste Seligpreisung, dass das
+Himmelreich den Armen im Geiste gehört.
+
+Merk auf! Der erste Punkt ist: du gehst ins Feld und kämpfst in
+unsern Reihen für den König und das jetzt so schwer bedrohte
+Frankreich. Im Kugelregen wirst du erfahren, ob du leben darfst.
+Dass du bald hineinkommst, dafür sorge ich. Du bleibst oder du kehrst
+heim mit dem Selbstvertrauen eines Braven. Ohne Selbstvertrauen kein
+Mann. Niemand wird dir leicht ins Angesicht spotten. Dann wirst du
+ein einfacher Diener deines Königs und erfüllst deine Pflicht aufs
+strengste, wie es in dir liegt. Du hast Ehre und Treue, und deren
+bedarf die Majestät. Unter denen, die sie umgeben, ist kein Überfluss
+daran. Marstall, Jagd oder Wache, ein Dienst wird sich finden, wie du
+ihn zu verrichten verstehst. Deine Geburt wird dich statt des eigenen
+Verdienstes vor andern begünstigen: das mache dich demütig. Die
+Majestät, wenn sie sich im Rate müde gearbeitet hat, liebt es, ein
+zwangloses Wort an einen Schweigsamen und unbedingt Getreuen zu
+richten. Du bist zu einfach, um dich in eine Intrige zu mischen;
+dafür wird dich keine Intrige zugrunde richten. Man wird, wie die
+Welt ist, hinter deinem Rücken höhnen und spotten, aber du blickst
+nicht um. Du wirst gütig und gerecht sein mit deinen Knechten und
+keinen Tag beendigen ohne eine Wohltat. Im übrigen: verzichte!'
+
+Der Knabe blickte mich mit gläubigen Augen an. 'Das sind Worte des
+Evangeliums', sagte er.
+
+'Verzichtet nicht jedermann', scherzte ich, 'selbst deine Gönnerin,
+Frau von Maintenon, selbst der König auf einen Schmuck oder eine
+Provinz? Habe ich, Fagon, nicht ebenfalls verzichtet, vielleicht
+bitterer als du, wenn auch auf meine eigene Weise? Verwaist, arm, mit
+einem elenden Körper, der sich gerade in deinen Jahren von Tag zu Tag
+verwuchs und verbog, habe ich nicht eine strenge Muse gewählt, die
+Wissenschaft? Glaubst du, ich hatte kein Herz, keine Sinne? Ein
+zärtliches Herzchen, Julian!--und entsagte ein für allemal dem
+grössten Reiz des Daseins, der Liebe, welche deinem schlanken Wuchse
+und deinem leeren Blondkopf nur so angeworfen wird!'"
+
+Fagon trug, was ihn vielleicht in seiner Jugend schwer bedrängt hatte,
+mit einem so komischen Pathos vor, dass es den König belustigte und
+der Marquise schmeichelte.
+
+"Ich begleitete Julian bis an die Pforte und zog ihn mit Mirabellen
+auf. 'Ihr habt rasch gemacht', sagte ich, 'Es ist so gekommen',
+antwortete er unbefangen. 'Man hat sie mit dem Geiste gequält, sie
+weinte, und da fasste ich ein Vertrauen. Auch gleicht sie meiner
+Mutter.'
+
+Eine Arie aus irgendeiner verschollenen Oper meiner Jugendzeit
+trällernd, die einzige, deren ich mächtig bin, kehrte ich zu meiner
+Bank vor der Orangerie zurück. 'Er muss gleich ins Feld', sagte ich
+mir. Wenig fehlte, ich schlug ihm vor: ohne weiteres eines meiner
+Rosse zu satteln und stracks an die Grenze zum Heere zu jagen; aber
+dieser kühne Ungehorsam hätte den Knaben nicht gekleidet. Überdies
+wusste man, dass der Marschall für einmal nur die Grenzen sicherte und
+die Festungen in Flandern instand setzte, um vor einer entscheidenden
+Schlacht nach Versailles zurückzukehren und die endgültigen Befehle
+deiner Majestät zu empfangen. Dann wollte ich ihn fassen.
+
+Als ich, die liegengebliebene Mappe noch einmal öffnend, den Inhalt
+zurechtschüttelte, da, siehe! lag der Pentheus mit der grausigen
+Felswand obenauf, den ich geschworen hätte in die Mitte der Blätter
+geschoben zu haben...
+
+Wenig später begab es sich, dass Mouton der Pudel, in dem Gedränge der
+Rue Saint-Honoré seinen Herrn suchend, verkarrt wurde. Er schläft in
+deinem Garten, Majestät, wo ihn Mouton der Mensch unter einer Catalpa
+beerdigte und mit seinem Taschenmesser in die Rinde des Baumes schnitt:
+'II Moutons'.
+
+Und wirklich lag er bald neben seinem Pudel. Es war Zeit. Der Trunk
+hatte ihn unterhöhlt, und sein Verstand begann zu schwanken. Ich
+beobachtete ihn mitunter aus meinem Bibliothekfenster, wie er in
+seiner Kammer vor der Staffelei sass und nicht nur vernehmlich mit dem
+Geiste seines Pudels plauderte, sondern auch mit hündischer Miene
+gähnte oder schnellen Maules nach Fliegen schnappte, ganz in der Art
+seines abgeschiedenen Freundes. Eine Wassersucht zog ihn danieder.
+Es ging rasch, und als ich eines Tages an sein Lager trat, in der Hand
+einen Löffel voll Medizin, drehte er seinem Wohltäter mit einem
+unaussprechlichen Worte den Rücken, kehrte das Gesicht gegen die Wand
+und war fertig.
+
+Es begab sich ferner, dass der Marschall aus dem Felde nach Versailles
+zurückkehrte. Da sein Aufenthalt kein langer sein konnte, ergriff ich
+den Augenblick. Ich war entschlossen, Julian an der Hand, vor ihn zu
+treten und ihm die ganze Wahrheit zu sagen.
+
+Ich fuhr bei den Jesuiten vor. In der Nähe der Hauptpforte hielt das
+von den Dienern kaum gebändigte feurige Viergespann des Marschalls,
+Julian erwartend, um den Knaben rasch nach Versailles zu bringen. Das
+Tor des Jesuitenhauses öffnete sich, und Julian wankte heraus, in
+welchem Zustande! Das Haupt vorfallend, den Rücken gebrochen, die
+Gestalt geknickt, auf unsichern Füssen, den Blick erloschen, während
+die Augen Victor Argensons, welcher den Freund führte, loderten wie
+Fackeln. Die verblüfften Diener in ihren reichen Livreen beeiferten
+sich, ihren jungen Herrn rasch und behutsam in den Wagen zu heben.
+Ich sprang aus dem meinigen, den Knaben von einer tückischen Seuche
+ergriffen glaubend.
+
+'Um Gottes willen, Julian', schrie ich, 'was ist mit dir?' Keine
+Antwort. Der Knabe starrte mich mit abwesendem Geiste an. Ich weiss
+nicht, ob er mich kannte. Ich begriff, dass der sonst schon
+Verschlossene jetzt nicht reden werde, und da überdies der
+Stallmeister drängte: 'Hinein, Herr, oder zurück!', denn die
+ungeduldigen Rosse bäumten sich, so liess ich das Kind fahren, mir
+versprechend, ihm bald nach Versailles zu folgen. Schon hatte sich um
+die aufregende Szene vor dem Jesuitenhause ein Zusammenlauf gebildet,
+dessen Neugierde ich zu entrinnen wünschte, und Victor erblickend,
+welcher mit leidenschaftlicher Gebärde dem im Sturm davongetragenen
+Gespielen nachrief. 'Mut, Julian! Ich werde dich rächen!', stiess
+ich den Knaben vor mich in meinen Wagen und stieg ihm nach. 'Wohin,
+Herr?' fragte mein Kutscher. Bevor ich antwortete, schrie das
+geistesgegenwärtige Kind: 'Ins Kloster Faubourg Saint-Antoine!'
+
+In dem genannten Kloster hat sich, wie Ihr wisset, Sire, Euer Ideal
+von Polizeiminister einen stillen Winkel eingerichtet, wo er nicht
+überlaufen wird und heimlich für die öffentliche Sicherheit von Paris
+sorgen kann. 'Victor', fragte ich durch das Geräusch der Räder, 'was
+ist? was hat sich begeben?'
+
+'Ein riesiges Unrecht!' wütete der Knabe. 'Père Tellier, der Wolf,
+hat Julian mit Riemen gezüchtigt, und er ist unschuldig! Ich bin der
+Anstifter! Ich bin der Täter! Aber ich will dem Julian Gerechtigkeit
+verschaffen, ich fordere den Pater auf Pistolen!' Diese Absurdität,
+mit dem Geständnisse Victors, das Unglück verschuldet zu haben,
+brachte mich dergestalt auf, dass ich ihm ohne weiteres eine salzige
+Ohrfeige zog. 'Sehr gut!' sagte er. 'Kutscher, du schleichst wie
+eine Schnecke!' Er steckte ihm sein volles Beutelchen zu. 'Rasch!
+peitsche! jage! Herr Fagon, seid gewiss, der Vater wird dem Julian
+Gerechtigkeit verschaffen! Oh, er kennt die Jesuiten, diese Schurken,
+diese Schufte, und ihre schmutzige Wäsche! Ihn aber fürchten sie wie
+den Teufel!' Ich hielt es für unnötig, das rasende Kind weiter zu
+fragen, da er ja seine Beichte vor dem Vater ablegen würde und die
+fliegenden Rosse schon das schlechte Pflaster der Vorstadt mit ihren
+Hufen schlugen, dass die Funken spritzten. Wir waren angelangt und
+wurden sogleich vorgelassen.
+
+Argenson blätterte in einem Aktenstoss. 'Wir überfallen, Argenson!'
+entschuldigte ich.
+
+'Nicht, nicht, Fagon', antwortete er mir die Hand schüttelnd und
+rückte mir einen Stuhl. 'Was ist denn mit dem Jungen? Er glüht ja
+wie ein Ofen,' 'Vater--' 'Halt das Maul! Herr Fagon redet.'
+
+'Argenson', begann ich, 'ein schwerer Unfall, vielleicht ein grosses
+Unglück hat sich zugetragen. Julian Boufflers'--ich blickte den
+Minister fragend an--"Weiss von dem armen Knaben", sagte er--'wurde
+bei den Jesuiten geschlagen, und der Knabe fuhr nach Versailles in
+einem Zustande, der, wenn ich richtig sah, der Anfang einer
+gefährlichen Krankheit ist. Victor kennt den Hergang.'
+
+'Erzähle!' gebot der Vater. 'Klar, ruhig, umständlich. Auch der
+kleinste Punkt ist wichtig. Und lüge nicht!'
+
+'Lügen?' rief der empörte Knabe, 'werde ich da lügen, wo nur die
+Wahrheit hilft? Diese Schufte, die Jesuiten--'
+
+'Die Tatsachen!' befahl der Minister mit einer Rhadamanthusmiene.
+Victor nahm sich zusammen und erzählte mit erstaunlicher Klarheit.
+
+'Es war vor der Rhetorik des Père Amiel, und wir steckten die Köpfe
+zusammen, welchen Possen wir dem Nasigen spielen würden. 'Etwas Neues!
+' rief man von allen Seiten, 'etwas noch nicht Dagewesenes! eine
+Erfindung!' Da fiel uns ein--'
+
+'Da fiel mir ein', verbesserte der Vater.
+
+'--Mir ein, Julian, der so hübsch zeichnet, zu bitten, uns etwas mit
+der Kreide an die schwarze Tafel zu malen. Ich legte ihm, der auf
+seiner Bank über den Büchern sass, eine Lektion einlernend--er lernt
+so unglaublich schwer--, den Arm um den Hals. Zeichne uns etwas!'
+schmeichelte ich. 'Ein Rhinoceros!' Er schüttelte den Kopf. 'Ich
+merke', sagte er, 'ihr wollt damit nur den guten Pater ärgern, und da
+tue ich nicht mit. Es ist eine Grausamkeit. Ich zeichne euch keine
+Nase!'
+
+'Aber einen Schnabel, eine Schleiereule, du machst die Eulen so
+komisch!'
+
+'Auch keinen Schnabel, Victor.'
+
+Da sann ich ein wenig und hatte einen Einfall.' Der Minister runzelte
+seine pechschwarze Braue. Victor fuhr mit dem Mute der Verzweiflung
+fort: ''Zeichne uns ein Bienchen, Julian', sagte ich, du kannst das so
+allerliebst!' 'Warum nicht?' antwortete er dienstfertig und zeichnete
+mit sorgfältigen Zügen ein nettes Bienchen auf die Tafel.
+
+'Schreibe etwas bei!'
+
+'Nun ja, wenn du willst', sagte er und schrieb mit der Kreide:
+'abeille.'
+
+'Ach, du hast doch gar keine Einbildungskraft, Julian! Das lautet
+trocken.'
+
+'Wie soll ich denn schreiben, Victor?'
+
+'Wenigstens das Honigtierchen, bête à miel.''
+
+Der Minister begriff sofort das alberne Wortspiel: bête à miel und
+bête Amiel. 'Da hast du etwas dafür!' rief er empört und gab dem
+Erfinder des Calembourgs eine Ohrfeige, gegen welche die meinige eine
+Liebkosung gewesen war.
+
+'Sehr gut!' sagte der Knabe, dem das Ohr blutete.
+
+'Weiter! und mach es kurz!' befahl der Vater, 'damit du mir aus den
+Augen kommst!'
+
+'--In diesem Augenblick trat Père Amiel ein, schritt auf und nieder,
+beschnüffelte die Tafel, verstand und tat dergleichen, der Schäker,
+als ob er nicht verstünde. Aber: 'Bête Amiel! dummer Amiel!'scholl es
+erst vereinzelt, dann aus mehreren Bänken, dann vollstimmig, 'bête
+Amiel! dummer Amiel!'
+
+Da--Schrecken--wurde die Tür aufgerissen. Es war der reissende Wolf,
+der Père Tellier. Er hatte durch die Korridore spioniert und zeigte
+jetzt seine teuflische Fratze.
+
+'Wer hat das gezeichnet?'
+
+'Ich', antwortete Julian fest. Er hatte sich die Ohren verhalten,
+seine Lektion zu studieren fortfahrend, und verstand und begriff, wie
+er ja überhaupt so schwer begreift, nichts von nichts.
+
+'Wer hat das geschrieben?'
+
+'Ich', sagte Julian.
+
+Der Wolf tat einen Sprung gegen ihn, riss den Verblüfften empor,
+presste ihn an sich, ergriff einen Bücherriemen und--' Dem Erzählenden
+versagte das Wort.
+
+'Und du hast geschwiegen, elende Memme?' donnerte der Minister. 'Ich
+verachte dich! Du bist ein Lump!'
+
+'Geschrieen habe ich wie einer, den sie morden', rief der Knabe, ''ich
+war es! ich! ich!' Auch Père Amiel hat sich an den Wolf geklammert,
+die Unschuld Julians beteuernd. Er hörte es wohl, der Wolf! Aber mir
+krümmte er kein Haar, weil ich dein Sohn bin und dich die Jesuiten
+fürchten und achten. Den Marschall aber hassen sie und fürchten ihn
+nicht. Da musste der Julian herhalten. Aber ich will dem Wolf mein
+Messer'--der Knabe langte in die Tasche--'zwischen die Rippen stossen,
+wenn er nicht--'
+
+Der gestrenge Vater ergriff ihn am Kragen, schleppte ihn gegen die
+Türe, öffnete sie, warf ihn hinaus und riegelte. Im nächsten
+Augenblicke schon wurde draussen mit Fäusten gehämmert, und der Knabe
+schrie: 'Ich gehe mit zum Père Tellier! Ich trete als Zeuge auf und
+sage ihm: 'Du bist ein Ungeheuer!''
+
+'Im Grunde, Fagon', wendete sich der Minister kaltblütig gegen mich,
+ohne sich an das Gepolter zu kehren, 'hat der Junge recht: wir beide
+suchen den Pater auf, ohne Verzug, fallen ihn mit der nackten Wahrheit
+an, breiten sie wie auf ein Tuch vor ihm aus und nötigen ihn, mit uns
+zu Julian zu gehen, heute noch, sogleich, und in unsrer Gegenwart dem
+Misshandelten Abbitte zu tun.' Er blickte nach einer Stockuhr. 'Halb
+zwölf. Père Tellier hält seine Bauerzeiten fest. Er speist Punkt
+Mittag mit Schwarzbrot und Käse. Wir finden ihn.'
+
+Argenson zog mich mit sich fort. Wir stiegen ein und rollten.
+
+'Ich kenne den Knaben', wiederholte der Minister. 'Nur eines ist mir
+in seiner Geschichte unklar. Es ist Tatsache, dass die Väter damit
+anfingen, ihn zu hätscheln und in Baumwolle einzuwickeln. Seine
+Kameraden, auch mein Halunke, haben sich oft darüber aufgehalten. Ich
+begreife, dass die Väter, wie sie beschaffen sind, das Kind hassen,
+seit der Marschall das Missgeschick hatte, sie zu entlarven. Aber
+warum sie, denen der Marschall gleichgültig war, einen Vorteil darin
+fanden, das Kind zuerst über die dem Schwachen gebührende Schonung
+hinaus zu begünstigen, das entgeht mir.'
+
+'Hm', machte ich.
+
+'Und gerade das muss ich wissen, Fagon.'
+
+'Nun denn, Argenson', begann ich mein Bekenntnis--auch dir, Majestät,
+lege ich es ab, denn dich zumeist habe ich beleidigt--, 'da ich Julian
+bei den Vätern um jeden Preis warm betten wollte und ihm keine
+durchschlagende Empfehlung wusste--man plaudert ja zuweilen ein
+bisschen, und so erzählte ich den Vätern Rapin und Bouhours, die ich
+in einer Damengesellschaft fand, Julians Mutter sei dir, dem Könige,
+eine angenehme Erscheinung gewesen. Die reine Wahrheit. Kein Wort
+darüber hinaus, bei meiner Ehre, Argenson!' Dieser verzog das Gesicht.
+
+Du, Majestät, zeigest mir ein finsteres und ungnädiges. Aber, Sire,
+trage ich die Schuld, wenn die Einbildungskraft der Väter Jesuiten das
+Reinste ins Zweideutige umarbeitet?
+
+'Als sie dann', fuhr ich fort, 'den Marschall zu hassen und sich für
+ihn zu interessieren begannen, lauschten und forschten sie nach ihrer
+Weise, erfuhren aber nichts, als dass Julians Mutter das reinste
+Geschöpf der Erde war, bevor sie der Engel wurde, der jetzt über die
+Erde lächelt. Leider kamen die Väter zur Überzeugung ihres Irrtums
+gerade, da das Kind desselben am meisten bedurft hätte.' Argenson
+nickte."
+
+"Fagon", sagte der König fast strenge, "das war deine dritte und
+grösste Freiheit. Spieltest du so leichtsinnig mit meinem Namen und
+dem Rufe eines von dir angebeteten Weibes, hättest du mir wenigstens
+diesen Frevel verschweigen sollen, selbst wenn deine Geschichte
+dadurch unverständlicher geworden wäre. Und sage mir, Fagon: hast du
+da nicht nach dem verrufenen Satze gehandelt, dass der Zweck die
+Mittel heilige? Bist du in den Orden getreten?"
+
+"Wir alle sind es ein bisschen, Majestät", lächelte Fagon und fuhr
+fort: "Mitte Weges begegneten wir dem Père Amiel, der wie ein
+Unglücklicher umherirrte und, meinen Wagen erkennend, sich so
+verzweifelt gebärdete, dass ich halten liess. Am Kutschenschlage
+entwickelte er seine närrische Mimik und war im Augenblicke von einem
+Kreise toll lachender Gassenjungen umgeben. Ich hiess ihn einsteigen.
+
+'Der Mutter Gottes sei gedankt, dass ich Euch finde, Herr Fagon! Dem
+Julian, welchen Ihr beschützet, ist ein Leid geschehen, und unschuldig
+ist er, wie der zerschmetterte kleine Astyanax!' deklamierte der
+Nasige. 'Wenn Ihr, Herr Fagon, den seltsamen Blick gesehen hättet,
+welchen der Knabe gegen seinen Henker erhob, diesen Blick des Grauens
+und der Todesangst!' Père Amiel schöpfte Atem. 'Flöhe ich über Meer,
+mich verfolgte dieser Blick! Begrübe ich mich in einen finstern Turm,
+er dränge durch die Mauer! Verkröche ich mich--'
+
+'Wenn Ihr Euch nur nicht verkriechet, Professor', unterbrach ihn der
+Minister, 'jetzt, da es gilt, dem Père Tellier--denn zu diesem fahren
+wir, und Ihr fahret mit--ins Angesicht Zeugnis abzulegen! Habt Ihr
+den Mut?'
+
+'Gewiss, gewiss!' beteuerte Père Amiel, der aber merklich erblasste
+und in seiner Soutane zu schlottern begann. Père Tellier ist selbst
+in seinem feinen Orden als ein Roher und Gewaltsamer gefürchtet.
+
+Da wir am Professhause ausstiegen, Père Amiel den Vortritt gebend,
+sprang Victor vom Wagenbrett, wo er neben dem Bedienten die Fahrt
+aufrecht mitgemacht hatte. 'Ich gehe mit!' trotzte er. Argenson
+runzelte die Stirn, liess es aber zu, nicht unzufrieden, einen zweiten
+Zeugen mitzubringen.
+
+Père Tellier verleugnete sich nicht. Argenson bedeutete den Pater und
+den Knaben, im Vorzimmer zurückzubleiben. Sie gehorchten, jener
+erleichtert, dieser unmutig. Der Pater Rektor bewohnte eine dürftige,
+ja armselige Kammer, wie er auch eine verbrauchte Soutane trug, Tag
+und Nacht dieselbe. Er empfing uns mit gekrümmtem Rücken und einem
+falschen Lächeln in den ungeschlachten und wilden Zügen. 'Womit diene
+ich meinen Herren?' fragte er süsslich grinsend.
+
+'Hochwürden', antwortete Argenson und wies den gebotenen Stuhl, der
+mit Staub bedeckt war und eine zerbrochene Lehne hatte, zurück, 'ein
+Leben steht auf dem Spiel. Wir müssen eilen, es zu retten. Heute
+wurde der junge Boufflers im Collegium irrtümlich gezüchtigt.
+Irrtümlich. Ein durchtriebener Range hat den beschränkten Knaben
+etwas auf die Tafel zeichnen und schreiben lassen, das sich zu einer
+albernen Verspottung des Père Amiel gestaltete, ohne dass Julian
+Boufflers die leiseste Ahnung hatte, wozu er missbraucht wurde. Es
+ist leicht zu beweisen, dass er der einzige seiner Klasse war, der
+solche Possen tadelte und nach Kräften verhinderte. Hätte er den
+fraglichen Streich in seinem Blondkopfe ersonnen, dann war die
+Züchtigung eine zweifellos verdiente. So aber ist sie eine
+fürchterliche Ungerechtigkeit, die nicht schnell und nicht voll genug
+gesühnt werden kann. Dazu kommt noch etwas unendlich Schweres. Der
+missverständlich Gezüchtigte, ein Kind an Geist, hatte die Seele eines
+Mannes. Man glaubte einen Jungen zu strafen und hat einen Edelmann
+misshandelt.'
+
+'Ei, ei', erstaunte der Pater, 'was Exzellenz nicht alles sagen! Kann
+eine einfache Sache so verdreht werden? Ich gehe durch die Korridore.
+Das ist meine Pflicht. Ich höre Lärm in der Rhetorik. Père Amiel
+ist ein Gelehrter, der den Orden ziert, aber er weiss sich nicht in
+Respekt zu setzen. Unsre Väter lieben es nicht, körperlich zu
+züchtigen, aber das konnte nicht länger gehn, ein Exempel musste
+statuiert werden. Ich trete ein. Eine Sottise steht auf der Tafel.
+Ich untersuche. Boufflers bekennt. Das übrige verstand sich.
+
+Unbegabt? beschränkt? Im Gegenteil, durchtrieben ist er, ein
+Duckmäuser. Stille Wasser sind tief. Was ihm mangelt, ist die
+Aufrichtigkeit, er ist ein Heuchler und Gleisner. Hat's geschmerzt?
+O die zarte Haut! Ein Herrensöhnchen, wie? Tut mir leid, wir Väter
+Jesu kennen kein Ansehn der Person. Auch hat uns der Marschall selbst
+gebeten, sein Kind nicht zu verziehn. Ich war älter als jener, da ich
+meine letzten und besten Streiche erhielt, im Seminar, vierzig weniger
+einen wie Sankt Paulus, der auch ein Edelmann war. Bin ich
+draufgegangen? Ich rieb mir die Stelle, mit Züchten geredet, und mir
+war wohler als zuvor. Und ich war unschuldig, von der Unschuld dieses
+Verstockten aber überzeugt mich niemand!'
+
+'Vielleicht doch, Hochwürden!' sagte Argenson und rief die zwei
+Harrenden herein.
+
+'Victor', bleckte der Jesuit den eintretenden Knaben an, 'du hast es
+nicht getan! Für dich stehe ich. Du bist ein gutartiges Kind. Ein
+Dummkopf wärest du, dich für schuldig zu erklären, den niemand anklagt.'
+
+Victor, der in trotzigster Haltung nahte, schaute dem Unhold tapfer
+ins Gesicht, aber der Mut sank ihm. Sein Herz erbebte vor der
+wachsenden Wildheit dieser Züge und den funkelnden Wolfsaugen.
+
+Er machte rasch. 'Ich habe den Julian verleitet, der nichts davon
+verstand', sagte er. 'Das schrie ich Euch in die Ohren, aber Ihr
+wolltet nicht hören, weil Ihr ein Bösewicht seid!'
+
+'Genug!' befahl Argenson und wies ihm die Türe. Er ging nicht ungern.
+Er begann sich zu fürchten.
+
+'Père Amiel', wandte sich der Minister gegen diesen, 'Hand aufs Herz,
+konnte Julian das Wortspiel erfinden?'
+
+Der Pater zauderte, mit einem bangen Blick auf den Rektor. 'Mut,
+Pater', flüsterte ich, 'Ihr seid ein Ehrenmann!'
+
+'Unmöglich, Exzellenz, wenn nicht Achill eine Memme und Thersites ein
+Held war!' beteuerte Père Amiel, sich mit seiner Rhetorik ermutigend.
+'Julian ist schuldlos wie der Heiland.'
+
+Das erdfarbene Gesicht des Rektors verzerrte sich vor Wut. Er war
+gewohnt, im Collegium blinden Gehorsam zu finden, und ertrug nicht den
+geringsten Widerspruch.
+
+'Wollt Ihr kritisieren, Bruder?' schäumte er.
+
+'Kritisiert zuerst Euer tolles Fratzenspiel, das Euch dem Dümmsten zum
+Spotte macht! Ich habe den Knaben gerecht behandelt!'
+
+Diese Herabwürdigung seiner Mimik brachte den Pater gänzlich ausser
+sich und liess ihn für einen Augenblick alle Furcht vergessen.
+'Gerecht?' jammerte er. 'Dass Gott erbarm'! Wie oft hab' ich Euch
+gebeten, dem Unvermögen des Knaben Rechnung zu tragen und ihn nicht zu
+zerstören! Wer antwortete mir: Meinethalben gehe er drauf!', wer hat
+das gesprochen?'
+
+'Mentiris impudenter!' heulte der Wolf.
+
+'Mentiris impudentissime, pater reverende!' überschrie ihn der Nasige,
+an allen Gliedern zitternd.
+
+'Mir aus den Augen!' herrschte der Rektor, mit dem Finger nach der
+Türe weisend, und der kleine Pater rettete sich, so geschwind er
+konnte.
+
+Da wir wieder zu dreien waren: 'Hochwürden', sprach der Minister ernst,
+'es wurde der Vorwurf gegen Euch erhoben, den Knaben zu hassen. Eine
+schwere Anklage! Widerlegt und beschämt dieselbe, indem Ihr mit uns
+geht und Julian Abbitte tut. Niemand wird dabei zugegen sein als wir
+zwei.' Er deutete auf mich. 'Das genügt. Dieser Herr ist der
+Leibarzt des Königs und um die Gesundheit des Knaben in schwerer Sorge.
+Ihr entfärbet Euch? Lasst es Euch kosten und bedenket: der, dessen
+Namen Ihr traget, gebietet, die Sonne nicht über einem Zorne
+untergehen zu lassen, wieviel weniger über einer Ungerechtigkeit!'
+
+Ein Unrecht bekennen und sühnen! Der Jesuit knirschte vor Ingrimm.
+
+'Was habe ich mit dem Nazarener zu schaffen?' lästerte er, in
+verwundetem Stolze sich aufbäumend, und der Hässliche schien gegen die
+Decke zu wachsen wie ein Dämon. 'Ich bin der Kirche! Nein, des
+Ordens!... Und was habe ich mit dem Knaben zu schaffen? Nicht ihn
+hasse ich, sondern seinen Vater, der uns verleumdet hat! verleumdet!
+schändlich verleumdet!'
+
+'Nicht der Marschall', sagte ich verdutzt, 'sondern mein Laboratorium
+hat die Väter--verleumdet.'
+
+'Fälschung! Fälschung!' tobte der Rektor. 'Jene Briefe wurden nie
+geschrieben! Ein teuflischer Betrüger hat sie untergeschoben!', und
+er warf mir einen mörderischen Blick zu.
+
+Ich war betroffen, ich gestehe es, über diese Macht und Gewalt:
+Tatsachen zu vernichten, Wahrheit in Lüge und Lüge in Wahrheit zu
+verwandeln.
+
+Père Tellier rieb sich die eiserne Stirn. Dann veränderte er das
+Gesicht und beugte sich vor dem Minister halb kriechend, halb
+spöttisch: 'Exzellenz, ich bin Euer gehorsamer Diener, aber Ihr
+begreift: ich kann die Gesellschaft nicht so tief erniedrigen, einem
+Knaben Abbitte zu leisten.'
+
+Argenson wechselte den Ton nicht minder gewandt. Er stellte sich
+neben Tellier mit einem unmerklichen Lächeln der Verachtung in den
+Mundwinkeln. Der Pater bot das Ohr.
+
+'Seid Ihr gewiss', wisperte der Minister, 'dass Ihr den Sohn des
+Marschalls gegeisselt habt, und nicht das edelste Blut Frankreichs?'
+
+Der Pater zuckte zusammen. 'Es ist nichts daran', wisperte er zurück.
+'Ihr narrt mich, Argenson.'
+
+'Ich habe keine Gewissheit. In solchen Dingen gibt es keine. Aber
+die blosse Möglichkeit würde Euch als--Ihr wisst, was ich meine und
+wozu Ihr vorgeschlagen seid--unmöglich machen.'
+
+Ich glaubte zu sehen, Sire, wie Hochmut und Ehrgeiz sich in den
+düstern Zügen Eures Beichtvaters bekämpften, aber ich konnte den
+Sieger nicht erraten.
+
+'Ich denke, ich gehe mit den Herren', sagte Père Tellier.
+
+'Kommt, Pater!' drängte der Minister und streckte die Hand gegen ihn
+aus.
+
+'Aber ich muss die Soutane wechseln. Ihr seht, diese ist geflickt,
+und ich könnte in Versailles der Majestät begegnen.' Er öffnete ein
+Nebenzimmer.
+
+Argenson blickte ihm über die Schulter und sah in einen niedern
+Verschlag mit einem nackten Schragen und einem wurmstichigen Schreine.
+
+'Mit Vergunst, Herren', lispelte der Jesuit schämig, 'ich habe mich
+noch nie vor weltlichen Augen umgekleidet.'
+
+Argenson fasste ihn an der Soutane. 'Ihr haltet Wort?'
+
+Père Tellier streckte drei schmutzige Finger gegen etwas Heiliges, das
+im Dunkel einer Ecke klebte, entschlüpfte und schloss die Tür bis auf
+eine kleine Spalte, welche Argenson mit der Fussspitze offenhielt.
+
+Wir hörten den Schrank öffnen und schliessen. Zwei stille Minuten
+verstrichen. Argenson stiess die Türe auf. Weg war Père Tellier.
+Hatte er der Einflüsterung Argensons nicht geglaubt und nur die
+Gelegenheit ergriffen, aus unserer Gegenwart zu entrinnen? Oder hatte
+er sie geglaubt, der eine Dämon seines Ordens aber den andern, der
+Stolz den Ehrgeiz überwältigt? Wer blickt in den Abgrund dieser
+finstern Seele?
+
+'Meineidiger!' fluchte der Minister, öffnete den Schrein, erblickte
+eine Treppe und stürzte sich hinab. Ich stolperte und fiel mit meiner
+Krücke nach. Unten standen wir vor den höchlich erstaunten Mienen
+eines vornehmen Novizen mit den feinsten Manieren, welcher auf unsre
+Frage nach dem Pater bescheiden erwiderte, seines Wissens sei derselbe
+vor einer Viertelstunde in Geschäften nach Rouen verreist.
+
+Argenson gab jede Verfolgung auf. 'Eher schleppte ich den Cerberus
+aus der Hölle, als dieses Ungeheuer nach Versailles!... Überdies,
+wo ihn finden in den hundert Schlupfwinkeln der Gesellschaft? Ich
+gehe. Schickt nach frischen Pferden, Fagon, und eilet nach Versailles.
+Erzählt alles der Majestät. Sie wird Julian die Hand geben und zu
+ihm sprechen: 'Der König achtet dich, dir geschah zu viel!' Und der
+Knabe ist ungegeisselt.' Ich gab ihm recht. Das war das Beste, das
+einzig gründlich Heilsame, wenn es nicht zu spät kam."
+
+Fagon betrachtete den König unter seinen buschigen greisen Brauen
+hervor, welchen Eindruck auf diesen die ihm entgegengehaltene Larve
+seines Beichtigers gemacht hätte. Nicht dass er sich schmeichelte,
+Ludwig werde seine Wahl widerrufen. Warnen aber hatte er den König
+wollen vor diesem Feinde der Menschheit, der mit seinen Dämonenflügeln
+das Ende einer glänzenden Regierung verschatten sollte. Allein Fagon
+las in den Zügen des Allerchristlichsten nichts als ein natürliches
+Mitleid mit dem Lose des Sohnes einer Frau, die dem Gebieter flüchtig
+gefallen hatte, und das Behagen an einer Erzählung, deren Wege wie die
+eines Gartens in einen und denselben Mittelpunkt zusammenliefen: der
+König, immer wieder der König!
+
+"Weiter, Fagon", bat die Majestät, und dieser gehorchte, gereizt und
+in verschärfter Laune.
+
+"Da die Pferde vor einer Viertelstunde nicht anlangen konnten, trat
+ich bei einem dem Professhause gegenüber wohnenden Bader, meinem
+Klienten, ein und bestellte ein laues Bad, denn ich war angegriffen.
+Während das Wasser meine Lebensgeister erfrischte, machte ich mir die
+herbsten Vorwürfe, den mir anvertrauten Knaben vernachlässigt und
+seine Befreiung verschoben zu haben. Nach einer Weile störte mich
+durch die dünne Wand ein unmässiges Geplauder. Zwei Mädchen aus dem
+untern Bürgerstande badeten nebenan. 'Ich bin so unglücklich!'
+schwatzte die eine und kramte ein dummes Liebesgeschichtchen aus, 'so
+unglücklich!' Eine Minute später kicherten sie zusammen. Während ich
+meine Lässigkeit verklagte und eine zentnerschwere Last auf dem
+Gewissen trug, schäkerten und bespritzten sich neben mir zwei
+leichtfertige Nymphen.
+
+In Versailles--"
+
+König Ludwig wendete sich jetzt gegen Dubois, den Kammerdiener der
+Marquise, der, leise eingetreten, flüsterte: "Die Tafel der Majestät
+ist gedeckt." "Du störst, Dubois", sagte der König, und der alte
+Diener zog sich zurück mit einem leisen Ausdrucke des Erstaunens in
+den geschulten Mienen, denn der König war die Pünktlichkeit selber.
+
+"In Versailles", wiederholte Fagon, "fand ich den Marschall tafelnd
+mit einigen seiner Standesgenossen. Da war Villars, jeder Zoll ein
+Prahler, ein Heros, wie man behauptet und ich nicht widerspreche, und
+der unverschämteste Bettler, wie du ihn kennst, Majestät; da war
+Villeroy, der Schlachtenverlierer, der nichtigste der Sterblichen, der
+von den Abfällen deiner Gnade lebt, mit seinem unzerstörlichen Dünkel
+und seinen grossartigen Manieren; Grammont mit dem vornehmen Kopfe,
+der mich gestern in deinem Saale, Majestät, und an deinen Spieltischen
+mit gezeichneten Karten betrogen hat, und Lauzun, der unter seiner
+sanften Miene gründlich Verbitterte und Boshafte. Vergib, ich sah
+deine Höflinge verzerrt im grellen Lichte meiner Herzensangst. Auch
+die Gräfin Mimeure war geladen und Mirabelle, die neben Villeroy sass,
+welcher dem armen Kinde mit seinen siebzigjährigen Geckereien angst
+und bange machte.
+
+Julian war von seinem Vater zur Tafel befohlen und bleich wie der Tod.
+Ich sah, wie ihn der Frost schüttelte, und betrachtete unverwandt das
+Opfer mit heiliger Scheu.
+
+Das Gespräch--gibt es beschleunigende Dämonen, die den Steigenden
+stürmisch emporheben und den Gleitenden mit grausamen Füssen in die
+Tiefe stossen?--das Gespräch wurde über die Disziplinarstrafen im
+Heere geführt. Man war verschiedener Meinung. Es wurde gestritten,
+ob überhaupt körperlich gezüchtigt werden solle, und wenn ja, mit
+welchem Gegenstande, mit Stock, Riemen oder flacher Klinge. Der
+Marschall, menschlich wie er ist, entschied sich gegen jede
+körperliche Strafe, ausser bei unbedingt entehrenden Vergehen, und
+Grammont, der falsche Spieler, stimmte ihm bei, da die Ehre, wie
+Boileau sage, eine Insel mit schroffen Borden sei, welche, einmal
+verlassen, nicht mehr erklommen werden könne. Villars gebärdete sich,
+wenn ich es sagen soll, wie ein Halbnarr und erzählte, einer seiner
+Grenadiere habe, wahrscheinlich ungerechterweise gezüchtigt, sich mit
+einem Schusse entleibt, und er--Marschall Villars--habe in den
+Tagesbefehl gesetzt: Lafleur hätte Ehre besessen auf seine Weise. Das
+Gespräch kreuzte sich. Der Knabe folgte ihm mit irren Augen.
+'Schläge', 'Ehre', 'Ehre', 'Streiche' scholl es hin- und herüber. Ich
+flüsterte dem Marschall ins Ohr: 'Julian ist leidend, er soll zu Bette.'
+'Julian darf sich nicht verwöhnen', erwiderte er. 'Der Knabe wird
+sich zusammennehmen. Auch wird die Tafel gleich aufgehoben.' Jetzt
+wendete sich der galante Villeroy gegen seine schüchterne Nachbarin.
+'Gnädiges Fräulein', näselte er und spreizte sich, 'Sprecht, und wir
+werden ein Orakel vernehmen!' Mirabelle, schon auf Kohlen sitzend,
+überdies geängstigt durch das entsetzliche Aussehen Julians, verfiel
+natürlich in ihre Gewöhnung und antwortete: 'Körperliche Gewalttat
+erträgt kein Untertan des stolzesten der Könige: ein so Gebrandmarkter
+lebt nicht länger!' Villeroy klatschte Beifall und küsste ihr den
+Nagel des kleinen Fingers. Ich erhob mich, fasste Julian und riss ihn
+weg. Dieser Aufbruch blieb fast unbemerkt. Der Marschall mag
+denselben bei seinen Gästen entschuldigt haben.
+
+Während ich den Knaben entkleidete--er selbst kam nicht mehr damit
+zustande--, sagte er: 'Herr Fagon, mir ist wunderlich zumute. Meine
+Sinne verwirren sich. Ich sehe Gestalten. Ich bin wohl krank. Wenn
+ich stürbe--' Er lächelte. 'Wisset Ihr, Herr Fagon, was heute bei den
+Jesuiten geschehen ist? Lasset meinen Vater nichts davon wissen! nie!
+nie! Es würde ihn töten!' Ich versprach es ihm und hielt Wort,
+obgleich es mich kostete. Noch zur Stunde ahnt der Marschall nichts
+davon.
+
+Den Kopf schon im Kissen, bot mir Julian die glühende Hand. 'Ich
+danke Euch, Herr Fagon... für alles... Ich bin nicht undankbar wie
+Mouton.'
+
+Deine Majestät zu bemühen, war jetzt überflüssig. In der nächsten
+Viertelstunde schon redete Julian irre. Prozess und Urteil lagen in
+den Händen der Natur. Die Fieber wurden heftig, der Puls jagte. Ich
+liess mir ein Feldbett in der geräumigen Kammer aufschlagen und blieb
+auf dem Posten. In das anstossende Zimmer hatte der Marschall seine
+Mappen und Karten tragen lassen. Er verliess seinen Arbeitstisch
+stündlich, um nach dem Knaben zu sehen, welcher ihn nicht erkannte,
+Ich warf ihm feindselige Blicke zu. 'Fagon, was hast du gegen mich?'
+fragte er. Ich mochte ihm nur nicht antworten.
+
+Der Knabe phantasierte viel, aber im Bereiche seines lodernden Blickes
+schwebten nur freundliche und aus dem Leben entschwundene Gestalten.
+Mouton erschien, und auch Mouton der Pudel sprang auf das Bette. Am
+dritten Tage sass die Mutter neben Julian.
+
+Drei Besuche hat er erhalten. Victor kratzte an die Türe und brach,
+von mir eingelassen, in ein so erschütterndes Wehgeschrei aus, dass
+ich ihn wegschaffen musste. Dann klopfte der Finger Mirabellens. Sie
+trat an das Lager Julians, der eben in einem unruhigen Halbschlummer
+lag, und betrachtete ihn. Sie weinte wenig, sondern drückte ihm einen
+brünstigen Kuss auf den dürren Mund. Julian fühlte weder den Freund
+noch die Geliebte.
+
+Unversehens meldete sich auch Père Amiel, den ich nicht abwies. Da
+ihn der Kranke mit fremden Augen anstarrte, sprang er possierlich vor
+dem Bette herum und rief. 'Kennst du mich nicht mehr, Julian, deinen
+Père Amiel, den kleinen Amiel, den Nasen-Amiel? Sage mir nur mit
+einem Wörtchen, dass du mich lieb hast' Der Knabe blieb gleichgültig.
+Gibt es elysische Gefilde, denke ich dort den Père zu finden, ohne
+langen Hut, mit proportionierter Nase, und Hand in Hand mit ihm einen
+Gang durch die himmlischen Gärten zu tun.
+
+Am vierten Abende ging der Puls rasend. Ein Gehirnschlag konnte jeden
+Augenblick eintreten. Ich trat hinüber zum Marschall.
+
+'Wie steht es?'
+
+'Schlecht.'
+
+'Wird Julian leben?'
+
+'Nein. Sein Gehirn ist erschöpft. Der Knabe hat sich überarbeitet.'
+
+'Das wundert mich', sagte der Marschall, 'ich wusste das nicht.' In
+der Tat, ich glaube, dass er es nicht wusste. Meine Langmut war zu
+Ende. Ich sagte ihm schonungslos die Wahrheit und warf ihm vor, sein
+Kind vernachlässigt und zu dessen Tode geholfen zu haben. Das
+Golgatha bei den Jesuiten verschwieg ich. Der Marschall hörte mich
+schweigend an, den Kopf nach seiner Art etwas auf die rechte Seite
+geneigt. Seine Wimper zuckte, und ich sah eine Träne. Endlich
+erkannte er sein Unrecht. Er fasste sich mit der Selbstbeherrschung
+des Kriegers und trat in das Krankenzimmer.
+
+Der Vater setzte sich neben seinen Knaben, der jetzt unter dem Druck
+entsetzlicher Träume lag. 'Ich will ihm wenigstens', murmelte der
+Marschall, 'das Sterben erleichtern, was an mir liegt. Julian!'
+sprach er in seiner bestimmten Art. Das Kind erkannte ihn.
+
+'Julian, du musst mir schon das Opfer bringen, deine Studien zu
+unterbrechen. Wir gehen miteinander zum Heere ab. Der König hat an
+der Grenze Verluste erlitten, und auch der Jüngste muss jetzt seine
+Pflicht tun.' Diese Rede verdoppelte die Reiselust eines Sterbenden...
+Einkauf von Rossen... Aufbruch... Ankunft im Lager... Eintritt in
+die Schlachtlinie... Das Auge leuchtete, aber die Brust begann zu
+röcheln. 'Die Agonie!' flüsterte ich dem Marschall zu.
+
+'Dort die englische Fahne! Nimm sie!' befahl der Vater. Der
+sterbende Knabe griff in die Luft. 'Vive le roi!' schrie er und sank
+zurück wie von einer Kugel durchbohrt."
+
+Fagon hatte geendet und erhob sich. Die Marquise war gerührt. "Armes
+Kind!" seufzte der König und erhob sich gleichfalls.
+
+"Warum arm", fragte Fagon heiter, "da er hingegangen ist als ein Held?"
+
+
+Ende dieses Projekt Gutenberg Etextes Das Leiden eines Knaben, von
+Conrad Ferdinand Meyer.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Das Leiden eines Knaben,
+by Conrad Ferdinand Meyer
+
+*** END OF THE PROJECT GUTENBERG EBOOK DAS LEIDEN EINES KNABEN ***
+
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+Produced by Delphine Lettau
+
+Project Gutenberg eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the US
+unless a copyright notice is included. Thus, we usually do not
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+We are now trying to release all our eBooks one year in advance
+of the official release dates, leaving time for better editing.
+Please be encouraged to tell us about any error or corrections,
+even years after the official publication date.
+
+Please note neither this listing nor its contents are final til
+midnight of the last day of the month of any such announcement.
+The official release date of all Project Gutenberg eBooks is at
+Midnight, Central Time, of the last day of the stated month. A
+preliminary version may often be posted for suggestion, comment
+and editing by those who wish to do so.
+
+Most people start at our Web sites at:
+http://gutenberg.net or
+http://promo.net/pg
+
+These Web sites include award-winning information about Project
+Gutenberg, including how to donate, how to help produce our new
+eBooks, and how to subscribe to our email newsletter (free!).
+
+
+Those of you who want to download any eBook before announcement
+can get to them as follows, and just download by date. This is
+also a good way to get them instantly upon announcement, as the
+indexes our cataloguers produce obviously take a while after an
+announcement goes out in the Project Gutenberg Newsletter.
+
+http://www.ibiblio.org/gutenberg/etext03 or
+ftp://ftp.ibiblio.org/pub/docs/books/gutenberg/etext03
+
+Or /etext02, 01, 00, 99, 98, 97, 96, 95, 94, 93, 92, 92, 91 or 90
+
+Just search by the first five letters of the filename you want,
+as it appears in our Newsletters.
+
+
+Information about Project Gutenberg (one page)
+
+We produce about two million dollars for each hour we work. The
+time it takes us, a rather conservative estimate, is fifty hours
+to get any eBook selected, entered, proofread, edited, copyright
+searched and analyzed, the copyright letters written, etc. Our
+projected audience is one hundred million readers. If the value
+per text is nominally estimated at one dollar then we produce $2
+million dollars per hour in 2002 as we release over 100 new text
+files per month: 1240 more eBooks in 2001 for a total of 4000+
+We are already on our way to trying for 2000 more eBooks in 2002
+If they reach just 1-2% of the world's population then the total
+will reach over half a trillion eBooks given away by year's end.
+
+The Goal of Project Gutenberg is to Give Away 1 Trillion eBooks!
+This is ten thousand titles each to one hundred million readers,
+which is only about 4% of the present number of computer users.
+
+Here is the briefest record of our progress (* means estimated):
+
+eBooks Year Month
+
+ 1 1971 July
+ 10 1991 January
+ 100 1994 January
+ 1000 1997 August
+ 1500 1998 October
+ 2000 1999 December
+ 2500 2000 December
+ 3000 2001 November
+ 4000 2001 October/November
+ 6000 2002 December*
+ 9000 2003 November*
+10000 2004 January*
+
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been created
+to secure a future for Project Gutenberg into the next millennium.
+
+We need your donations more than ever!
+
+As of February, 2002, contributions are being solicited from people
+and organizations in: Alabama, Alaska, Arkansas, Connecticut,
+Delaware, District of Columbia, Florida, Georgia, Hawaii, Illinois,
+Indiana, Iowa, Kansas, Kentucky, Louisiana, Maine, Massachusetts,
+Michigan, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, Nevada, New
+Hampshire, New Jersey, New Mexico, New York, North Carolina, Ohio,
+Oklahoma, Oregon, Pennsylvania, Rhode Island, South Carolina, South
+Dakota, Tennessee, Texas, Utah, Vermont, Virginia, Washington, West
+Virginia, Wisconsin, and Wyoming.
+
+We have filed in all 50 states now, but these are the only ones
+that have responded.
+
+As the requirements for other states are met, additions to this list
+will be made and fund raising will begin in the additional states.
+Please feel free to ask to check the status of your state.
+
+In answer to various questions we have received on this:
+
+We are constantly working on finishing the paperwork to legally
+request donations in all 50 states. If your state is not listed and
+you would like to know if we have added it since the list you have,
+just ask.
+
+While we cannot solicit donations from people in states where we are
+not yet registered, we know of no prohibition against accepting
+donations from donors in these states who approach us with an offer to
+donate.
+
+International donations are accepted, but we don't know ANYTHING about
+how to make them tax-deductible, or even if they CAN be made
+deductible, and don't have the staff to handle it even if there are
+ways.
+
+Donations by check or money order may be sent to:
+
+Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+PMB 113
+1739 University Ave.
+Oxford, MS 38655-4109
+
+Contact us if you want to arrange for a wire transfer or payment
+method other than by check or money order.
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation has been approved by
+the US Internal Revenue Service as a 501(c)(3) organization with EIN
+[Employee Identification Number] 64-622154. Donations are
+tax-deductible to the maximum extent permitted by law. As fund-raising
+requirements for other states are met, additions to this list will be
+made and fund-raising will begin in the additional states.
+
+We need your donations more than ever!
+
+You can get up to date donation information online at:
+
+http://www.gutenberg.net/donation.html
+
+
+***
+
+If you can't reach Project Gutenberg,
+you can always email directly to:
+
+Michael S. Hart <hart@pobox.com>
+
+Prof. Hart will answer or forward your message.
+
+We would prefer to send you information by email.
+
+
+**The Legal Small Print**
+
+
+(Three Pages)
+
+***START**THE SMALL PRINT!**FOR PUBLIC DOMAIN EBOOKS**START***
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+your copy of this eBook, even if you got it for free from
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+fault. So, among other things, this "Small Print!" statement
+disclaims most of our liability to you. It also tells you how
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+ [*] The eBook, when displayed, is clearly readable, and
+ does *not* contain characters other than those
+ intended by the author of the work, although tilde
+ (~), asterisk (*) and underline (_) characters may
+ be used to convey punctuation intended by the
+ author, and additional characters may be used to
+ indicate hypertext links; OR
+
+ [*] The eBook may be readily converted by the reader at
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+ form by the program that displays the eBook (as is
+ the case, for instance, with most word processors);
+ OR
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+in machine readable form.
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